HANDBOUND
AT THE
UN1VERS1TY OF
TORONTO PRESS
f/o
ARCHIV
FÜR DAS
STUDIUM DER NEUEREN SPRACHEN
UND LITERATUREN
BEGRÜNDET VON LUDWIG HERRIG
HERAUSGEGEBEN
VON
ALOIS BRANDL UND HEINRICH MORF
LIX JAHRGANG, CXV. BAND 0 /- ^
DER NEUEN SERIE XV. BAND
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BRAÜNSCHWEIG
DRÜCK UND VERLAG VON GEORGE WESTERMANN
1905
3
e^ ns
Inhalts-Verzeichnis des CXV. Bandes,
der neuen Serie XV. Bandes.
Abhandlungen. Seite
Zur Entstehung des Märchens. Von Friedrich von der Leyen. III. (Fort-
setzung) 1
Niklas Praun und Pandolfo Collenuccio. Von Adolf Hauffen .... 22
Volkslied-Miszellen. IL Von E. K. Blüm ml 30
Zur Entstehung des Märchens. Von Friedrich von der Leyen. IV. (Fort-
setzung) 273
Wielands 'Metamorphose' in seiner eigenen Beurteilung. Von Julius Stein-
herger 290
Über den Hymnus Csedmons. Von A. Schröer 67
Noch einmal die Quelle des 'Monk'. Von Georg Herzfeld 70
Die Burghsche Cato-Paraphrase. Von Max Förster. 1 298
Zur englischen Wortgeschichte. Von W. Hörn 324
Zur letzten Londoner Theaterseason. Von R. Fischer 329
Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez. Von AdolfTobler . . . 74
Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung. Von E. Tappolet 101
Beiträge zur französischen Stilistik und Syntax. Von Emil Mackel . . 124
Cyrano de Bergerac (1619 — 1655), sein Leben und seine Werke. Ein Ver-
such. Von H. Dübi. IV. (Scblufs) 133
Studien zur fränkischen Sagengeschichte. H. Von LeoJordan. . . . 354
Note sul Boccaccio in Ispagna nell'Etä Media. Di Arturo Farinelli. II.
(Fortsetzung) 368
Kleinere Mitteilungen ■
n Zur Quellenkunde und Textkritik der altengl. Exodus. (F. Holthausen) . 162
/ Zum ae. gerefa. (Otto Ritter) 163
Eine verlorene Handschrift der Sprüche Hendings. (Max Förster). . . 165
Die Bibliothek des Dan Michael von Northgate. (Max Förster) . . . 167
Zu Lydgates Secreta secretorum. (Max Förster) 169
Die mittelenglische Version von Claudians De consulatu Stilichonis. (Max
Förster) 169
IV
Seite
Miszellen zur englischen Wortkunde. (Otto Ritter) 172
Byrons Gedichte To Mr. Murray. (Otto Ritter) 176
Eine Shakespearesche Redewendung bei Annette von Droste - HülshofF.
(R. Sprenger) 176
Kentisch hionne. Hirnhaut. (F. Liebermann) 177
Bemerkungen zum Beowulf. (Fr. Klaeber) 178
Das Mätznersche Wörterbuch 182
Ags. rihthamscyld: echtes Hoftor. (F. Liebermann) 389
Zum 90. angelsächsischen Rätsel. (Fritz Erlemann) 391
Ein altenglisches Prosarätsel. (Max Förster) 392
Das Englisch des städtischen Rechts im 15. Jahrhundert. (F. Liebermann) 393
Ein neuentdecktes Manuskript Thomas Chattertons. (Helene Richter) . 393
Zu Archiv CXII, 190 ff. (Anzeige). (A. J. Barnouw) 397
Zu Archiv CXIV, 474 (Bibliogr.) 397
Mundartgrenzen. (C. Haag) 182
Die Societe des Textes franc,ais modernes. (H. M.) 189
Elex oder lllex? (W. Meyer-Lübke) 397
Notes sur la prononciation francaise du nom de Shakespeare. (Fernand
Baldensperger) 399
Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Max Batt, The treatment of nature in German literature from Günther to
the appearance of Goethe's Werther. (R. Woerner) 405
K. Berger, Schiller. (Robert Petsch) 211
Goethe, Iphigenie auf Tauris. Ed. by K. Breul. (R. M. M.) 194
Schiller, Geschichte des Dreifsig jährigen Krieges, abridged and edited by Karl
Breul. (Robert Petsch) 212
Franz Deibel, Dorothea Schlegel als Schriftstellerin im Zusammenhang mit
der romantischen Schule. (Richard M. Meyer) 213
Kuno Fischer, Schillerschriften. (Robert Petsch) 212
Th. Fontanes Briefe an seine Familie. (Richard M. Meyer) 410
L. Fulda, Schiller und die neue Generation. (Robert Petsch) 195
Ludwig Geiger, Goethes Leben und Werke. (R. Woerner) 404
O. Harnack, Schiller. (Robert Petsch) 209
Julius Hartmann, Schillers Jugendfreunde. (Robert Petsch) 211
Schillers Sämtliche Werke, herausgegeben von Eduard von der Hellen.
(Robert Petsch) 198
Andreas Heusler, Lied und Epos in germanischer Sagendichtung. (Richard
M. Meyer) 403
Marbacher Schillerbuch, herausgeg. vom Schwäbischen Schillerverein. (Robert
Petsch) 202
Ernst Martin, Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel. Zweiter
Teil: Kommentar. (Joseph Seemüller) 190
R. Petsch, Vorträge über Goethes 'Faust'. (Richard M. Meyer) .... 405
V
Seite
N. Lenau, Poete lyrique. Par L. Reynaud. (Helene Herrmann) . . . 406
Jan v. Rozwadowski, Wortbildung und Wortbedeutung. (W. Franz) . 216
Die Gedicbte Oswalds von Wolkenstein, herausgeg. von J. Schatz. Zweite
verbesserte Ausgabe. (Hermann Michel) 192
Fr. Stahl, Wie sah Goethe aus? (Richard M. Meyer) 193
Fritz Stahl, Wie sah Bismarck aus? (Richard M. Meyer) 216
Emil Sulger-Gebing, Hugo v. Hofmannsthal. (Richard M. Meyer) . . 217
Pantheon -Ausgabe: Schillers Gedichte, ed. Weifsenfeis. (Robert Petsch) 199
Franz Zinkernagel, Die Grundlagen der Hebbelschen Tragödie. (Theodor
Poppe) 213
Oskar Boerner, Die Sprache Robert Mannings of Brunne und ihr Verhältnis
zur neuenglischen Mundart. (Erik Björkman) 223
Henry Bradley, The making of English. (K. Luick) 414
George Masons Grammaire Angloise nach den Drucken von 1622 und 1633
herausgegeben von Rudolf Brotanek. (Wilhelm Dibelius) .... 425
Bruno Busse, Wie studiert man neuere Sprachen? (M. Konrath) . . . 218
Theodor Eichhoff, Die beiden ältesten Ausgaben von Romeo and Juliet.
(Ernst Kroger) 423
John Erskine, The Elizabethan lyric. (Wilhelm Bolle) 227
C. J. M. Fant, Engelskt uttal. (Erik Björkman) 426
R. Hall, Lehrbuch der englischen Sprache. Für Mädchenschulen bearbeitet
in zwei Teilen. I. Teil, 2. Aufl. ; II. Teil, 1. Aufl. (Willi Splettstöfser) 429
Alexander Gills Logonomia Anglica, herausgegeben von Otto L. Jiriczek.
(K. Luick) 230
Oscar Wilde, De profundis, herausgegeben und eingeleitet von Max Meyer-
feld. (A. Brandl) 235
Ernst Otto, Typische Motive in dem weltlichen Epos der Angelsachsen.
(Heinrich Spies) 222
W. Sattler, Deutsch-englisches Sachwörterbuch. (W. Franz) 236
W. Sattler, Deutsch-Englisches Sa ch Wörterbuch. (W. Franz) 429
Levin Ludwig Schücking, Beowulfs Rückkehr, eine kritische Studie.
(A. Brandl) 421
Eimer Edgar St oll, John Webster; the periods of his work as determined
by his relations to the drama of his day. (A. Brandl) 229
Grace Fleming Swearingen, Die englische Schriftsprache bei Coverdale.
(Erik Björkman) 226
Wilhelm Swoboda, Lehrbuch der englischen Sprache für Realschulen.
1. Teil : Elementarbuch der englischen Sprache für Realschulen. —
2. Teil: English Reader (Lehr- und Lesebuch für die 6. Klasse). —
3. Teil: Literary Reader (Lehr- und Lesebuch für die 7. Klasse). —
4. Teil: Schulgrammatik der modernen englischen Sprache. (Willi
Splettstöfser) 427
Moritz Trautmann, Das Beowulflied, als Anhang das Finn-Bruchstück und
die Waldhere-Bruchstücke, bearbeiteter Text und deutsche Übersetzung.
(Levin Ludwig Schücking) 417
VI
Sftitf>
The nation's need. Chapters on education. Edited by Spenser Wilkinson.
(W. Milnch) 411
Martin Wolf, Walter Scotts Kenilworth. (Georg Herzfeld) 234
Leonhard Wroblewski, Über die altenglischen Gesetze des Königs Knut.
(Heinrich Spies) 222
Aus romanischen Sprachen und Literaturen. Festschrift Heinrich Morf zur
Feier seiner fÜDfundzwanzigjährigen Lehrtätigkeit von seinen Schülern
dargebracht. (H. M.) 430
Amalia Cesano, Hans Sachs ed i suoi rapporti con la Letteratura Italiana.
(Arthur Ludwig Stiefel) 253
Festschrift, Adolf Tobler zum siebzigsten Geburtstage dargebracht von der
Berliner Gesellschaft für das Studium der neueren Sprachen. (Adolf Tobler) 238
I. Giorgi ed E. Sicardi, Abbozzi di rime edite ed inedite di Francesco
Petrarca. (C. Appel) 464
O. Hecker, Neues deutsch-italienisches Wörterbuch. Teil II: Deutsch-Ita-
lienisch. (Berthold Wiese) 468
Otto Knörk et Gabriel Puy-Fourcat, Le francais pratique pour la jeu-
nesse commercjante et industrielle. löre partie. (Keesebiter) .... 463
Wilhelm Münch, Didaktik und Methodik des französischen Unterrichts.
2. umgearbeitete Auflage. (Theodor Engwer) 246
George N. Oleott, Thesaurus linguae latinae epigraphicae. Band I, Liefe-
rung 1. (Max Niedermann) 245
Gabriel Puy-Fourcat, s. Otto Knörk.
Bernhard Schädel, Mundartliches aus Mallorca. (H. M.) 256
Arnold Schröer, Die Fortbildung der neusprachlichen Oberlehrer und das
Englische und Französische Seminar an der Handels-Hochschule in Köln.
(Theodor Engwer) 251
E. Sicardi, s. I. Giorgi.
A. Walde, Lateinisches etymologisches Wörterbuch. Lief. 1. (Max Niedermann) 246
Verzeichnis der vom 13. Juni bis zum 1. Oktober 1905 bei der Redaktion
eingelaufenen Druckschriften 259
Verzeichnis der vom 2. Oktober bis zum 28. November 1905 bei der Re-
daktion eingelaufenen Druckschriften 470
Zur Entstehung des Märchens.
(Fortsetzung.)
III. Märchen bei alten Kulturvölkern.
Eine umfassende Sammlung und Beschreibung der Märchen
bei alten Kulturvölkern dürfte heute sogar unseren theologischen
Gelehrten, unseren Orientalisten und klassischen Philologen kaum
gelingen. Die Forschung, die solche Märchenmotive nachweist
und erkennt, steht, soweit ich sehe, noch in den Anfängen, sie
kam an vielen einzelnen Stellen zu schönen und verheifsungs-
reichen Erfolgen, doch konnten diese Ergebnisse noch nicht ver-
einigt und die Arbeit noch nicht in gröfserem Zusammenhang
geleistet werden. Um so weniger darf man von mir verlangen,
dafs ich etwa die Ergebnisse der Fachgelehrten überhole und
hier die Übersichten biete, die sie uns noch nicht zu bieten ver-
mochten: ich versuche im Gegenteil, dankbar das zu benutzen,
was jene Gelehrten erkannten und feststellten, und ich möchte
nur durch Beispiele zeigen, dafs Märchenmotive und Märchen bei
diesen Völkern bestanden, und dafs sie sich aus jenen primitiven
Vorstellungen entwickelten, die wir eben betrachtet; alsdann
möchte ich schildern, welche künstlerischen und organischen Be-
sonderheiten diese Märchen besitzen.
Die babylonische Sage von Izdubar Nimrod1 hat mit dem
Märchen manche Eigentümlichkeiten gemeinsam. 'Die Handlung
wird durch schier unzählige Träume in Bewegung gesetzt, durch
welche die Götter den Menschen die Zukunft zeigen und Rat
erteilen. Diese Anschauung ist ein charakteristischer Bestandteil
der religiösen Anschauung der Babylonier und Assyrer. Ein
babylonischer Eigenname bedeutet "Vertraue auf Träume"/-
Das darf uns als neuer Beweis für die oben vorgetragene An-
schauung gelten, dafs viele Sagen und Märchen sich aus Traumon
heraushoben. — Jäger und Bauern gehören zu den führenden Per-
sonen in dieser babylonischen Sage, Menschen leben mit den
Tieren, als seien diese ihresgleichen, 'mit Gazellen fril'st Eabani
Kräuter, mit dem Vieh des Feldes erfrischt er sich an der
1 Vgl. Alfred Jercmias, Ixdubar Nimrod, in Rosckers Lexikon II, TT I f.
- Jereoiias a. a. 0. [I, 781.
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 1
2 Zur Entstellung des Märchens.
Tranke, mit dem Getier des Wassers ergötzt sich sein Herz/
Eine Göttin verwandelt einen Menschen in einen Tiger, Bäume
werden redend eingeführt, der Geist eines Verstorbenen kommt
wie ein Windhauch aus der Erde: das sind alles Vorstellungen,
die uns bei den Naturvölkern oft entgegentraten, und die aus
primitiven Vergangenheiten auch in unser Märchen herüber-
wanderten. Der Held Izdubar geht dann auf die Reise zu Sit-
napistim, um den verstorbenen Ea zu erwecken; auf dieser Reise
kommt er zuerst zu einem Gebirge, das schreckliche Skorpionen-
menschen bewachen; diese warnen ihn, und trotzdem wagt er
sich weiter, durch eine dicke Finsternis hindurch, zum Gestade
des Meeres hin. Dort sieht er einen herrlichen Baum, der Edel-
steine als Früchte trägt, an dem prächtige Äste hangen, dessen
Zweige Kristall tragen: die Königin des Meeres warnt ihn noch-
mals, und er überschreitet das Meer doch; endlich gelangt er
über den Totenflufs (den Wassergürtel des Meeres) hinüber, zur
Insel der Seligen. Er wird durch eine Zauberspeise gestärkt,
zum Lebensquell geführt, erhält auch eine Lebenspflanze, die er
aber aus Furcht vor einer Schlange in einen Brunnen fallen läfst.
Man hat die Übereinstimmungen dieser Izdubarsage mit der
vom Herakles betont,1 beide Helden sind berühmte Jäger und
Löwentöter, beide kämpfen mit Riesen, steigen in die Hölle,
überwinden den Tod, fahren zum Göttergarten und erwerben die
Unsterblichkeit.
Und ebensowenig lassen sich die Ähnlichkeiten der Er-
eignisse dieses Izdubarepos mit den Abenteuern und Gefahren
leugnen, die Alexander auf seiner Reise ins Jenseits im Roman
des Pseudo-Kallisthenes zu bestehen hat: auch ihn führt der Weg
durch Schluchten und Wüsten zu einem Flufs, in dem Wunder-
bäume wachsen und verschwinden, zu abenteuerlichen Tieren, zu
mehrtägiger Finsternis, dann zur Meeresküste und, durch eine
Taucherfahrt, ins Land der Seligen. Auf dem Wege dorthin
findet er das Wasser des Lebens, und Vögel warnen ihn, von
seinem gefährlichen Vorhaben abzustehen. Aber er überwindet
alle Gefahren und kehrt erst dann zurück.2
Gleich überraschend aber ist, dafs sich diese uralte baby-
lonische Sage in vielen Teilen liest wie die Märchen unserer
Tage, die vom Wasser des Lebens oder vom Reisen zum Teufel
erzählen. Es ist die Eigentümlichkeit dieser Märchen und der
uralten Sage, dafs die Helden aus einer Gefahr in eine schlimmere
geraten, dafs einer nach dem anderen sie warnt, sie möchten doch
1 Jeremias 822.
2 Vgl. F. Kanipers, Alexander der Orofse und die Idee des Weltimperiums,
Freiburg 1901, S. 86 f., und die dort angegebene Literatur; Wilhelm Hertz,
Gesammelte Abhandlungen, bes. S. 90 Anm. 1.
Zur Entstehung; des Märchens. 3
von ihrem überkühnen Wagnis abstehen, noch jeder sei dabei
zugrunde gegangen; dafs das Ziel der Reise in immer weitere
Ferne rückt;1 in den Märchen werden hier und da zuerst die
Tiere des Waldes, dann die Fische des Meeres oder die Vögel
der Luft zusammenberufen, keiner weifs den Ort, wo das Wasser
des Lebens verborgen liegt, bis endlich ein uralter Vogel oder
ein uralter Fisch sich erinnert und den Helden auf seinem
Rücken über das Meer an den Ort seiner Sehnsucht trägt. Es
geschieht auch wohl, dafs die Helden infolge von Verzauberungen
fast das verlieren oder verscherzen, um dessentwillen sie doch
alle Gefahr und Mühsal auf sich nahmen.
Es würde mir nun als verfehlt erscheinen, wollte man aus
diesen Ähnlichkeiten schliefsen, das Izdubarepos habe einen
ganz unvergleichlichen, bis heute nachwirkenden Einflufs auf die
Sagen und Märchen der ganzen Welt gehabt. Denn jede der
von mir vorgeführten Ähnlichkeiten oder Übereinstimmungen
läfst sich wieder auf Vorstellungen zurückleiten, die wir schon
kennen, und die wir primitive nannten. Die Gleichartigkeit
von Izdubarepos, Heraklessage, Alexanderroman und modernem
Märchen findet also in diesem Fall ihre recht einfache Erklärung
darin, dafs eben die Vorstellungen, auf denen sie beruhen, uralt,
überall verbreitet und einander sehr ähnlich waren. Einige der
Izdubarmotive, vor allem wohl die schreckhaften Gefahren, kom-
men aus dem Traumleben, die Vorstellung, dafs die Seele eines
Menschen, namentlich eines Zauberers, sich auf lange, unendlich
mühselige und gefahrvolle Reisen begibt, bis sie endlich zum
höchsten Himmelsgott oder ins Reich der Toten eindringt, ist
uns auch nicht fremd,2 ebensowenig der Glaube an ein Land
der Seligen jenseit des Meeres, in kaum zu erreichender Ferne.
Und das Merkwürdige und Unschätzbare an der Izdubarsage
wäre also für uns, dafs sie den, ich möchte sagen ehrwürdigsten,
Beweis für die These gibt, dafs unsere Märchen, Märchen vom
Wasser des Lebens und der Unterwelt, schon vor manchem Jahr-
tausend erzählt wurden, dafs diese Märchen im engsten Zu-
sammenhange stehen mit den primitiven Vorstellungen, die sich
die Naturvölker bewahrten. — Die Lebenskraft und Eindring-
lichkeit dieser Vorstellungen ist heute so frisch und stark wie
in der ältesten Vergangenheit: diese Kraft verspürten auch die
Herakles- und Alexandersage und haben sie dichterisch erhöht.
Die religiösen Vorstellungen der alten Ägypter, die ich hier
zu nennen habe, unterscheiden sich gleichfalls kaum von denen
1 Vgl. Hermann Usener, Rheinisches Museum, N. F. 56 (1901), 485 l.:
R. Köhler, Kleinere Schriften I, 186. 562; II, :!:5'2; Ders., Zu Laura Gonxen-
bach Nr. 64; Cosquin I, 217; Chauvin, Bibliographie VI, "<3.
2 Vgl. oben Archiv 0X1 V, S. 2.
1*
4 Zur Entstehung des Märchens.
der primitiven Völker.1 Die Seele des Menschen erscheint in
seinem Bilde, in seinem Schatten, sie lebte im Herzen und im
Blute, sie flattert als Vogel in der Luft und konnte . in Bäume
eingehen. Wer den Namen eines anderen wnfete, erlangte auch
dessen Kraft, wer ein Tor richtig nannte, dem mufste sich dies
Tor öffnen - — und das ist doch eine ganz frappante Überein-
stimmung mit dem Hauptmotiv des berühmten Märchens ans
1001 Nacht: Sesam, öffne dich! — Der des Zaubers Mächtige
verwandelte sich in viele Gestalten, in einen Reiher, in eine
Schwalbe, eine Schlange, ein Krokodil, einen Gott. — Den Toten
suchte man die mühselige Reise ins Jenseits mit aller Klugheit
und allen Künsten zu erleichtern und ihnen die Rückkehr ins
Diesseits mit derselben Energie zu verwehren, man gab dem
Toten Früchte und Tiere, seine Diener und seine ganze Häus-
lichkeit, alles, was er im Leben besessen, in Abbildern ins Grab
mit, damit er sich weiter daran erfreuen möchte: denn man
meinte, er könne alle diese Bilder in das Leben zurückerwecken
und mit ihnen das Dasein fortsetzen, an dem er auf der Erde
gehangen. Auch Märchen wie unsere vom Rübezahl waren also,
wie uns dieser berühmteste, für die Kulturgeschichte so unver-
gleichlich bedeutsame ägyptische Brauch zeigt, vor Jahrtausenden
Wirklichkeit: wie Rübezahl die Prinzessin, indem er ihr aus
Rüben Abbilder ihrer Gespielinnen schuf und alles des Hofstaats,
ohne den sie nicht sein wollte, und diesen Abbildern Leben ein-
hauchte: so wollten schon die Ägypter ihre Verschiedenen über
den Verlust dieses Lebens forttäuschen und trösten. — Es scheint,
dals die Ägypter sich an Märchen gern erfreuten und viele Mär-
chen kannten und erzählten, von diesem Reichtum sind uns nur
wenige Reste geblieben. Möglicherweise verbergen sich unter den
Märchen von 1001 Nacht manches alte ägyptische Motiv und man-
ches alte ägyptische Märchen, ohne dals sie sich heute mit Sicher-
heit herausfinden lassen. Wir besitzen einige Zaubergeschichten:
von einem Krokodil aus Wachs, das, wie es ins Wasser geworfen
wird, sich in ein wirkliches Krokodil verwandelt und einen Ehe-
brecher verschlingt — wie der Verwandler es packt, bildet sich
das unheimliche Tier in eine Wachsfigur zurück. Dies Märchen
ist also unmittelbar aus dem Glauben erwachsen, dafs im Bilde
eines Wesens auch dessen Seele wirksam ist. Ein anderer Zau-
berer kann die Hälfte eines Sees auf die andere legen, die eine
erreicht die doppelte Wasserhöhe, die andere wird wasserleer, der
1 Vgl. Maspero, Les contes populaires de l'Egypte aneienne, traduits et
commentes, deuxieme 6d., Paris 1889; Wiedemann, Die Unterhaltungslite-
ratur der alten Ägypter (Der alte Orient III, 101 f.), Leipzig 1902; Ders.,
Die Toten und ihre Reiche im Glauben der alten Ägypter (Der alte Orient
II, 38 f.), Leipzig 1901.
- Wiedemaim a. a. O. II, 62. — Chauvin V, 82 Anm. 1.
Zur Entstehung des Märchens. 5
Grund des Sees deckt sich auf: da darf man immerhin an das
Rote Meer erinnern, das mit göttlicher Kraft von der Stelle fort-
gezaubert wurde, an der es die Kinder Israels durchschritten.1 —
Wieder ein anderer Zauberer köpft Tiere und setzt den Kopf
richtig auf den Rumpf, schenkt ihnen dadurch auch ihr Leben
wieder: eine Kunst, die im Märchen nicht Zauberern allein, die
Aposteln und sogar dem Heiland nachgerühmt wird. Wir haben
noch davon zu reden. — Von Kindern wurde prophezeit, sie
würden die ruhmreichsten Herrscher; und so erfüllte es sich:
diese Kinder entgingen wirklich allen feindlichen Nachstellungen
des Königs, der fürchtete, sie würden ihm seine Macht rauben,
das Schicksal war stärker als die kleinen Ränke der Menschen.
Hier fällt uns Moses ein und dann die überaus reiche Zahl von
Märchen, die, vielleicht unter dem Einflufs der Mosesgeschichte,
ihre Helden als Schützlinge göttlicher Vorsehung hinstellten. -
Diese späteren Geschichten erzählten, der Held sei, kaum ge-
boren, in einem Kästchen auf einen Flufs ausgesetzt und dann
in wunderbarer Weise gerettet worden. Ein viel späteres ägyp-
tisches Märchen weifs gar von einem Wettkampf zwischen Zau-
berern, einem äthiopischen und einem ägyptischen: beide konnten
einen König nachts aus seinem Palast holen, ihn von Ägypten
nach Äthiopien — oder umgekehrt — und wieder zurückbringen
und ihm aufserdem 500 Stockschläge versetzen, so dafs der König
am Morgen seinen Hofleuten voll Entrüstung den zerbläuten
Rücken zeigte. Wir erinnern uns, dafs die Beschützer des Aladdin
in 1001 Nacht und dafs die Beschützer von Andersens standhaftem
Zinnsoldaten desselben Zaubers mächtig sind.3 — Verwegene und
wunderbare Reiseabenteuer haben sich die Ägypter gleichfalls
gern erdacht: wir besitzen die Erzählungen eines Schiffbrüchigen:
er habe, als sein Schiff unterging, sich an einen Balken geklam-
mert, sei an eine Insel verschlagen worden: dort hörte er von
einer mächtigen Schlange — sie war dreifsig Ellen lang und hatte
einen zwei Ellen langen Bart — , er sei auf der Seeleninsel, dort
lebten aufser ihr, der Schlange, noch ihre 75 Verwandten und
ein Mädchen. In vier Monaten werde ein Schiff kommen und
ihn abholen. So geschah es, und die Schlange gab dem Schiff-
1 W. Hertz in seinen Kolleläaneen notiert ein ähnliches Motiv aus der
Alexandersage: das Pamphilische Meer wich vor Alexander zurück and
liefs ihn mit seinem Heer vorbeiziehen. Plutarch, ed. Reiskc IV, 10 1.
Carraroli, Leggenda d'Atessandro (Mandovi 92) 35. 29 ! I. Hertz verweist auch
auf die japanische Sa<ie von Nitta, der zum Gott des Meeres betete, sein
Schwert in die See warf, und am anderen Morgen war das Wasser zurück-
gewichen, so dafs er trockenen Fufses nach Kamakura marschieren und s<
Mikado Hilfe bringen konnte. — Junker von Landegg, Midxuhogusa III. 14.
a Vgl. etwa Grimm, K11M 29; Ernsl Kuhn, Byzantinische Zuschrift
IV, 241, und oben Archiv CXIV, S. 12 Anni. 2.
3 Grimm, KHM 116 (Das blaue Lichtj. Chauvin V, 66 f.
6 Zur Entstehung des Märchens.
brüchigen, als er zurückfuhr, eine Fülle erlesenster Geschenke.1 —
Andere Abenteuer, die des Sinouhit, haben für den Märchen-
forscher kaum Interesse. Eine Kriegslist des Thutia wäre noch
zu erwähnen, weil sich die alten Griechen von Troja, die Araber
von Ali Baba sehr ähnliche ersannen: dafs Thutia nämlich seine
kühnsten Helden und sich selber, in Krüge verbargen, in die zu er-
obernde Stadt tragen liefsen und sich dann der Stadt bemächtigten.2
Ausführlicher als alle die genannten, aufschlufsreicher und
vielfältiger, ist das berühmte alte Märchen von den zwei Brü-
dern Anupu und Bitiu. 3 Sie lebten in der brüderlichsten Ein-
tracht, bis die Frau des älteren nach dem jüngeren Bruder be-
gehrlich wurde; als er sich ihr sträubte, verleumdete sie ihn, er
habe sich an ihr vergreifen wollen, und sie habe ihn mit Mühe
zurückgestofsen. Anupu glaubte das und wollte den Bitiu töten,
diesen warnte mit menschlicher Stimme seine Kuh. Er floh,
wurde von seinem Bruder verfolgt, aber ein Gott, der sich seiner
erbarmte, warf zwischen ihn und den nachfolgenden Bruder einen
Strom voll Krokodile. Anupu bereute seine Tat, und Bitiu zog
sich in das Tal der Akazien zurück, einer Akazienblüte vertraute
er sein Leben an und sagte zugleich dem älteren Bruder, wenn
das Wasser, das er trinke, sich trübe, so sei er, Bitiu, in Gefahr,
Dem Bitiu wurde die schönste der Frauen geschenkt, ihre Locke
trug der Strom zum Pharao, der berauschte sich an ihrem Duft
und ruhte nicht, bis die Trägerin der Locke seine Frau wurde.
Die Treulose liefs den Akazienbaum fällen, unter dem Bitiu
lebte, und die Blume abschneiden, in der sein Herz war: dem
Anupu wurde gleichzeitig das Wasser trübe, das er trinken wollte.
Er zog dem Bitiu nach und fand nach vier Jahren sein Herz
in einer Beere, gab sie im Wasser dem Bruder zu trinken, und
dieser belebte sich. Er wurde zum Stier, erschien der treulosen
Frau und warnte sie; sie liefs den Stier töten. Zwei Blutstropfen
fielen aus ihm nieder, und aus diesen entstanden zwei Persea-
bäume. Die Frau liefs sie umhauen, da flog ihr ein Span in den
Mund, und sie gebar einen Knaben, der war wieder Bitiu, der die
Mutter tötete und sich und den Bruder zum Herrscher einsetzte.
Man kann diesem Märchen ansehen, dafs es nicht ein Mär-
chen ist, es besteht aus verschiedenen Märchen, die in- und durch-
einander gerieten, wobei sie nicht unversehrt blieben. Der Anfang
war wohl ein Märchen für sich und verlief wie die Potiphar-
geschichte in der Bibel auch: ein Unschuldiger wird vor seinem
Freunde von dessen Frau verleumdet und von dem erzürnten
Gatten verfolgt, bis seine Unschuld sich offenbart und die Schul-
1 Vgl. auch Erwin Rohde, Der griechische Roman 180 Anm. 1 (-' 196).
s Chauvin V, 79. 83 Anm. 3.
3 Magere S. 5 f. und XLIV f. Cosquin I, LVII f.
Zur Entstehung des Märchens. 7
dige ihre Strafe findet. — Dafs ein Mensch vor einem anderen
flieht und der Beschützer des Fliehenden vor dem Verfolgenden
unüberschreitbare Hindernisse auftürmt, kennen wir als Motiv
aus anderen Märchen.1 — Der dritte Bestandteil des ägyptischen
Märchens ist dann das wirkliche Brüdermärchen, dessen ältester
Inhalt wohl dieser war: Zwei Brüder trennen sich; wenn der eine
in Gefahr gerät, soll der andere helfen, und das Wahrzeichen, dafs
das Leben bedroht wird, ist etwa ein in einen Baum gestecktes
Messer, das rostet, oder eine Pflanze, die verwelkt, hier bei uns
ein Trank, der sich trübt.- Solche Brüdermärchen reichten, das
scheint mir wenigstens nicht unmöglich,3 in die indogermanische
Urzeit: es gehört zu den verbreitetsten, 4 hat manche Heldensage,
des Altertums wie des Mittelalters, entscheidend beeinflufst und
umgestaltet;5 einer der Gewinne aus der Betrachtung der ägyp-
tischen Märchen wird für uns nun, dafs wir für die Brüdermär-
chen ein nachweisbares Alter von 4000 Jahren feststellen können ;
das wirkliche Alter ist natürlich gröfser. — Ob das Märchen von
den Ägyptern und Indogermanen erfunden wurde, oder ob es
von den Ägyptern zu den Indogermanen kam, mufs unentschie-
den bleiben, solange wir uns nicht in das Reich vagester Mög-
lichkeiten begeben wollen.
Wir kehren nun zur Analyse unseres Märchens zurück. Der
jüngere Bruder, Bitiu, wird von seiner Frau betrogen, und sie ver-
läfst ihn um des Königs willen und sucht ihn zu vernichten. Das
war wohl auch einmal eine Erzählung für sich, in ihrem Verlauf
der Anfangserzählung von dem älteren Bruder und seiner Frau
recht ähnlich, sie wirkt auf uns wie eine etwas abschwächende
Wiederholung der Anfangsgeschichte. Aber gerade diese in
künstlerischem Sinne nachteilige Ähnlichkeit wird für uns ein
Fingerzeig, sobald wir die Entstehung des Märchens erkennen
wollen: ursprünglich bestanden gewifs zwei unabhängige und
selbständige Erzählungen von der Untreue einer Frau an einem
Manne, der dies nicht verdiente. — Weil die Geschichten ein-
ander verwandt waren, gerieten sie auch nahe zusammen, und
ihre Helden wurden zu Menschen, die ebenfalls nahe verwandt
sind, zu Brüdern. Diese Doppelerzählung von Brüdern wurde
dann durch ein Brüdermärchen erweitert, und dies Märchen bot
sich um so eher dar, als es eine Art Zusammenhang zwischen
den beiden Geschichten von der treulosen Frau schaffen konnte:
der eine Bruder, der sich schuldig machte, weil er an die Schuld
1 Oben Archiv CX1II, 266 Anm. 4.
2 Cosquin LXV. Chauvin V, 87 Anm. 1.
3 Vgl. auch Kretschmer, Einleitimg in die Geschichte der griechischen
Sprache, Göttingen 1896, S. 85 Anm. 1.
4 Sydney Hartland, Legend of Perseus I, 28 I.
5 Voretzsch, Epische Studien 349.
8 Zur Entstehung des Märchens.
des anderen so leicht glaubte, und weil er ihn verfolgte, machte
nun diese Schuld wieder gut, indem er die Rache für das Un-
recht, das dem Bruder dessen Frau angetan, erst ermöglichte.
Die Fortsetzung unseres Märchens sagt nun, dafs das Herz
des Bruders zuerst in einer Akazienblüte, dann in einer Beere
war, dafs er sich darauf in einen Stier verwandelte; in zwei
Blutstropfen, die dieser vergofs, war wieder seine Seele, sie ver-
barg sich nunmehr in Perseabäume und in einen ihrer Späne. —
Wir müssen uns hier besinnen, dafs bei den Naturvölkern viele
Vorstellungen von der Erscheinung und dem Aufenthaltsort
der Seele nebeneinander lebten, ohne sich zu stören, oder
ohne dafs die eine als Widerspruch gegen die andere empfun-
den wurde. Es hiefs: die Seele lebt im Blute, sie kann in
eine Pflanze schlüpfen, sie kann auch in einen Tierleib ver-
schwinden usw. Verwandelt man dies Nebeneinander in ein
Nacheinander, so ist sofort ein Märchen fertig, eben ein Mär-
ehen unserer Art: die Seele eines Menschen verbirgt sich in
einen Baum, verwandelt sich dann in einen Stier usw. Solch ein
Märchen lebte gewifs einmal allein und für sich, das kann man
mit Sicherheit daraus schliefsen, dafs auch heute noch, in Serbien,
Ungarn, Rufsland, Griechenland, Deutschland und Frankreich,
ganz ähnliche Märchen für sich bestehen. ' Ein walachisches z. B.
weifs von zwei Kindern, die eine Stiefmutter tötet, und deren
Seelen in zwei Apfelbäumen emporwachsen, dann in zwei Lämmer
und schliefslich wieder in zwei goldene Knaben übergehen. Man
mufs nur hier wieder nicht annehmen, dafs unsere gegenwärtigen
abendländischen Märchen von den ägyptischen abhängen, man
mufs vielmehr der Gegenwart dasselbe Vermögen zutrauen wie
den alten Ägyptern, dafs sie imstande sind, ein Nebeneinander
von Vorstellungen in ein Nacheinander umzusetzen.2 Ganz
Verwandtes läfst sich, wie ich bei anderer Gelegenheit zeigte,3 bei
den Märchen und Mythen vom Wasser des Lebens beobachten:
verschiedene Berichte von der Herkunft des Wassers wurden
1 Cosquin LIX f. Erwin Rohde, Der griechische Roman 158 Anm. 2.
2 Es kann aus dem Nebeneinander auch ein Ineinander wer-
den : z. B. das von uns schon berührte Märchen (Archiv CXIV, S. 5
Anm. 3) von der Seele des Riesen sagt aus, diese Seele sei in einem Ei,
dies in einem Vogel, der Vogel wieder in einem Ochsen versteckt ge-
wesen. Ich verweise hier mit Erwin Rohde a. a. 0. auf ein analoges
Motiv in einer späteren ägyptischen Erzählung (Maspero S. 177): ein
Zauberbuch liegt in einer Kiste von Eisen, diese in einer von Kupfer, diese
in einer von Maulbeerbaumholz, diese in einer von Elfenbein und Eben-
holz, diese in einer von Silber und diese in einer von Gold, und um das
Ganze windet sich eine unsterbliche Schlange. Solches Einschachtelungs-
raffinemeut ist wohl vor allem orientalische Liebhaberei. — Vgl. auch
Grilfith, Stories oftke High Priests oj Memphis etc., Oxford 1900, S. 21. 63.
Dazu Maspero, Journal des Savants, aoüt 1901.
3 Germanist. Abhandlungen für Paul S. 146 f.
Zur Entstehung des Märchens. 9
nebeneinander erzählt: die einen sagten, es sei in Töpfen oder
Flaschen verborgen, die anderen, ein Wassertier habe es ver-
schluckt und wolle es nicht hergeben, die dritten, es sei in Bergen
versteckt, die vierten, man müsse es aus dem Himmel holen:
reiht man einige dieser Motive nacheinander auf, so ergibt sich
das Märchen: ein Held wandert, unter vieler Mühsal und Ge-
fahr, zu dem Wasser, das im Berge verborgen wird, er spaltet
den Berg, findet das Wasser in Flaschen oder Töpfen, ver-
schluckt es und gibt es nachher wieder von sich.
Nun begeben wir uns noch einmal zu unserem Brüdermär-
chen selbst: sein Motiv am Schlufs, die wunderbare Geburt des
Helden (aus einem Span, den die Mutter verschluckt), ' hat sich
das Märchen gern, ebenso oder ähnlich, erdacht. Am ähnlichsten
unserem Märchen ist seltsamerweise ein Motiv aus einer Ge-
schichte der nordamerikanischen Tlinkits. 2 Ich erwähne dies
Motiv gerade hier, weil die Brüdermärchen gern damit beginnen
und es in unserem ägyptischen Märchen wohl auch zu dem eigent-
lichen Brüdermärchen gehörte, aber von seiner ihm gebührenden
Stelle fortgeriet.
Über ein letztes Motiv habe ich schon früher gesprochen : 3
dafs den König ein unbezwingliches Verlangen nach der Frau
erfafst, sobald er eine Locke von ihr besitzt. Er hatte eben mit
ihrer Locke einen Teil ihrer Seele, und darum mufste die Trägerin
der Locke ihm gehören. Das ist ja die Anschauung, der unser
Motiv entsprang. Etwas sehr Ähnliches geschieht — ich erlaube
mir nochmals darauf hinzuweisen — in einer späteren ägyptischen
Erzählung: einem König wirft ein Adler den Schuh eines Mäd-
chens in den Schofs, und er kann nun von diesem Mädchen nicht
lassen. — Im Mittelalter wurde seltsamerweise fast dasselbe Motiv
wie das alte ägyptische durch die Tristansage berühmt:4 zwei
Schwalben liefsen ein Frauenhaar vor König Marke fallen, und
nun konnte er nicht ruhen, bevor er Isolde, der dies Haar ge-
hörte, sein eigen nannte.
Das ägyptische Märchen führt uns also von vielen Seiten
in die bunte Welt der Märchenmotive, und es schenkt uns auch
einen Einblick in das Werden des Märchens. Es gibt uns, in
unserer Untersuchung das erste Mal, eine Anschauung, wie ein
Märchen sich aus verschiedenen Motiven und Bestandteilen zu-
sammensetzt. Verwandte Geschichten nähern sich, eine Geschichte
von Verwandten tritt dazu, und diese Vielheit hat das Bestreben,
immer vielfältiger zu werden; die alten, längst bekannten Vor-
1 Vgl. bes. Sidney Hartland, Legend of Perseus I, Tl f.
2 Aurel Krause, Die Tlinkit-Indianer 261.
3 Oben Archiv CXIV, S. 10 Amn. ] ; dazu Cosquin LXVI. Reinhold
Köhler I, 511. II. 328.
4 Reinhold Köhler, Kl. Schriften II, 328.
10 Zur Entstehung des Märchens.
Stellungen von der Seele, lose aneinandergefügt, setzen das Mär-
chen fort. Es sind die Motive des Märchens ausnahmslos alt
und primitiv, in ihrer Zusammensetzung unbeholfen und kunst-
los, ohne rechten Anfang und ohne rechtes Ende, die Erzählungs-
kunst erhebt sich nicht viel über die Kunst der sogenannten
Naturvölker. Was aus der ersten schuldigen Frau wird, hören
wir gar nicht; weshalb sich der Bruder so vielfältig verwandelt,
und warum er nicht gleich seine Rache nimmt, wird uns ebenso-
wenig aufgeklärt, und aufser diesen Defekten könnte man noch
manchen anderen nennen. Aber gerade dies Zwecklose und Un-
verständige wirkt auf uns als echt märchenhaft und ist ja auch
Freude am Erzählen um des Erzählens willen. Man wird aufser-
dem zugestehen, dafs ein Gedanke, den wir einen sittlichen nennen
würden, trotz allem zur Geltung kommt: dafs der Schuldige seiner
Strafe nicht entgeht, dafs sie in vielfältiger Verwandlung ihn
immer von neuem bedroht, und dafs den Gerechten die Götter
schützen.
Sie schützen aber mit derselben Kraft den verschlagenen
und rücksichtslosen Räuber. Denn das bleibt doch der Sinn des
Märchens vom Meisterdieb.1 Herodot erzählt diese, von den
Griechen auch an anderer Stelle erwähnte Geschichte als ägyp-
tisches Märchen, und es liegt kaum ein Grund vor, ihre ägyp-
tische Herkunft zu bezweifeln. Zwei Diebe, Vater und Sohn,
bestehlen das Schatzhaus des Königs, das der Vater selbst er-
baute; er hat in der Mauer einen Stein locker eingesetzt, diesen
nimmt er jedesmal heraus und setzt ihn nach vollbrachtem Dieb-
stahl wieder ein. Als die beiden ertappt werden, schlägt der
Sohn dem Vater den Kopf ab, der Rumpf wird ausgestellt, der
Dieb stiehlt ihn den Wächtern, nachdem er sie zuerst betrunken
machte und ihnen den Kopf schor. Der König befiehlt, seiner
Tochter solle jeder seinen verwegensten Streich erzählen, der Dieb
berichtet von seiner Tat, als man aber nach ihm greifen will,
läfst er der Prinzessin die tote Hand seines Vaters. Nun ver-
spricht man ihm sie selbst, und er erhält sie wirklich zur Frau
und wird zum Lohn für seine kühnen Streiche gar noch Prinz.
Dies Märchen lebt noch heute in Europa als gern gehörtes
Volksmärchen und weicht von dem alten Märchen bei Herodot
nur in Einzelheiten ab.2 Nun ist merkwürdig, dafs in einem
Motiv alle diese Märchen sich gleich sind und gegen Herodot
übereinstimmen: nachdem nämlich der Dieb den Leichnam ge-
stohlen, zeigt der König seine Tochter allem Volke, in der Mei-
nung, nur der Kühnste, eben der Dieb, werde ihr nahen: und
1 Alfred Wiedemann, Das vweite Buch des Herodot 447 f.
2 Reinhold Köhler, A7. Schriften I, 198 f. — Ralston, Tibetan Tales,
derived from Indian Sources S. XL VII, S. 87. 43. — Somadeva, übersetzt
von Tawney II, 93.
Zur Entstehung des Märchens. 11
so geschieht es. Dem Dieb wird nun ein Strich oder sonst ein
Merkmal beigebracht, aber er wird dessen gewahr und bringt
das gleiche Merkmal allen anderen Anwesenden ebenfalls bei, so
dafs er wieder nicht aus den anderen heraus erkannt werden
kann. Darauf erhält er dann des Königs Tochter. Es sind nun
zwei Annahmen möglich: die erste wäre die, dafs die Form bei
Herodot das Ursprüngliche bietet und das 'Strichmotiv' später
in unser Märchen geriet. Es taucht ja auch in anderem, wenn
auch ähnlichem Zusammenhang auf: man denke nur an die
Sage bei Paulus Diaconus, von dem kühnen Liebhaber, der sich
die Gunst seiner Königin erschlich und in ihr Gemach drang,
nachdem er das zwischen ihr und dem Gemahl verabredete Er-
kennungszeichen nachahmte : * der König, der nach ihm kommt,
merkt, dafs jemand bei seiner Frau war, begibt sich unter das
schlafende Gefolge und erkennt den Übeltäter am klopfenden
Herzen; er schneidet ihm die Locke ab, aber der Verwegene
trennt auch allen seinen schlafenden Genossen die Locke vom
Haupte und wird schliefslich, da man ihn nicht herausfinden
kann, auch nicht bestraft.'2 — Es ist jedoch zu bedenken, dafs
alle europäischen Varianten das Strichmotiv kennen, während es
nur bei Herodot fehlt, und dadurch wird die zweite Annahme
wahrscheinlicher, dafs die Geschichte schon vor Herodot in der
Form erzählt wurde, in der sie noch heute besteht, und dafs
Herodot oder sein Gewährsmann diese Form änderte. Ein sol-
cher Vorgang wäre nichts Ungewöhnliches, in der Edda z. B.
erscheinen Märchenmotive viel gewaltsamer umgestaltet und ge-
ändert als im gegenwärtigen Volksmärchen. — Das Märchen vom
Meisterdieb kam auch nach Indien, wurde dort erweitert, und
diese Erweiterung blieb nicht ohne Rückwirkung auf einige euro-
päische Varianten: darüber nachher.
Dies Märchen hat nun einen wirkungsvollen Abschlufs und
steigert auch die Taten des Diebes nicht ohne Geschick: auch
aus diesem Grunde, nicht allein wegen der überkühuen Diebes-
taten, die es vermeldet, behauptete es sich durch die Jahrhun-
derte. Es stammt gewifs aus einer Periode der Erzählungskunst,
die der früheren, in der das Brüdermärchen sich zusammensetzte,
weit überlegen war.
Wir beklagen jetzt, nachdem uns die wenigen erhaltenen ägyp-
tischen Märchen recht deutlich gezeigt, wieviel Verwandtschaft «ur-
alte Märchen mit unseren gegenwärtigen hat, und wie tief es uns
in die Erkenntnis der Märchen führt, um so lebhafter den Verlust
der vielen anderen Märchen. Es hat sich uns — ich wiederhole
1 Erwin Rohde, Kleine Schrillen II, 193.
2 Agilulf und Theudelind, Grimm, DS 104; vgl. auch KHM LH
blaue Licht). Chauvin V, 83 Anni. 2.
12 Zur Entstehung des Märchens.
das mit einer gewissen Pedanterie, denn diese Tatsache ist für
unsere späteren Beobachtungen grundlegend — zu wiederholten
Malen bestätigt, dafs diese Märchen, sofern ihnen nicht einfache
Erlebnisse zugrunde liegen, aus Vorstellungen primitiver Völker
hervorgehen. Diese Vorstellungen sind die Märchenmotive, oder
sie erzeugen diese. Und die Motive werden verdoppelt, ähnliche
verbinden sich; solche Zusammensetzung ist dann ein Märchen.
Die Handlung schreitet nicht geradeaus fort, besinnt sich auch
nicht immer auf das Vorher und Nachher; aber wir beobachteten,
dafs der Darstellung beherrschende Ideen zugrunde liegen, und dafs
später kühne und wirksame Motive geschickt gesteigert werden.
Von den Erzählungen der Bibel sind manche aus Babylon,
manche aus Ägypten herübergenommen und veredelt. Die be-
rühmteste biblische Sage babylonischer Herkunft, die Sintflut-
sage, hat nur wenige Berührungen mit dem Märchen. Die Sage
vom Paradiese stammt vielleicht auch aus Babylon, persische und
griechische Mythen stehen, um das zu wiederholen, ihrem Inhalt
recht nahe,1 und die Vermutung, dafs alle diese Sagen aus Träu-
men sich bildeten, kann man wenigstens nicht ausschliefsen.2 Die
Heimat der meisten Geschichten von Jakob und Joseph war gewifs
Ägypten. — Anklänge an das Märchen lassen sich hier wieder
leicht herausfühlen: dafs eine Frau lange Zeit unfruchtbar bleibt
und ihr dann ein Trank oder Apfel oder andere Früchte die
ersehnte Fruchtbarkeit schenken, von diesem beliebten Motiv gibt
uns die Bibel in ihrer Erzählung von Rahel das erste Beispiel.3
Der Anfang der Geschichte von Joseph ist wieder ein Brüder-
märchen, freilich nur in Umrissen, kein ausgeführtes.4 Das ägyp-
tische Märchen zeigt die treuen, das biblische die treulosen Brü-
der, die Frauen in den Märchen beider Länder erscheinen als
treulos, hier in unserer Josephgeschichte und offenbarer und ab-
scheulicher noch in der Geschichte von Simson. Zu den Erleb-
nissen der Wirklichkeit, die das Märchen in sich aufnahm, steigerte
und verbreitete, gehörten also aufser den früher genannten die
Geschichten von treulosen und treuen Brüdern und von treulosen
Frauen. — Joseph wird von seinen neidischen Brüdern, weil der
Vater ihn mehr liebt als sie, verleumdet, mifshandelt und als
Sklave verkauft, dem Vater sagen die Brüder, wilde Tiere hätten
1 Vgl. jetzt noch Hermann Gunkel, Deutsche Rundschau Januar 1905.
- Vgl. auch nochmals Eoscher, Ephialtes 38; oben Archiv CXIII, 261.
1 Vgl. Sidney Hartland a. a. O. 71 f.; W. Hertz, Gesammelte Abhand-
lungen 275 ; Hermann Gunkel, Genesis 298 f.
4 Die Geschichte von Joseph wird in manchen Märchensammlungen
als Märchen erzählt, vgl. z. B. Laura Gonzenbach, Sixilianische Märchen
Nr. 89. 91. — Prym und Socin, Der neuaramäische Dialekt von Tür' Ahdht,
Hattingen 1881, I, XIX. II, 26. — Traumdeutungen, die denen des Joseph
vergleichbar sind, in den Jütaka, übers, v. Cowell, Nr. 77.
Zur Entstehung des Märchens. 13
ihn zerrissen: gerade dieser Joseph aber kommt zu den gröfsten
Ehren, beschämt seine Brüder und verzeiht ihnen grofsmütig.
Dieser Kontrast zwischen den älteren, verlogenen und heimtücki-
schen und doch erfolglosen, und dem jüngsten, mifshandelten,
hochsinnigen und erfolgreichen Bruder bleibt das Grundmotiv in
allen späteren Märchen von treulosen Brüdern und Genossen.
Der Verlauf und das Ende dieser Märchen ist nicht so freund-
lich wie der unserer Josephgeschichte: die Genossen und Brüder
des Märchens wollen, trotzdem ihnen verziehen, nicht von ihrer
Heimtücke lassen, sie verleumden den jüngsten von neuem oder
schaffen ihn ganz beiseite, und erst ein wundertätiges Wirken
des Schicksals enthüllt Schuld und Unschuld, belohnt den Ge-
rechten und straft die Bösewichter.1
Joseph, erzählt uns die Bibel weiter, erfreut sich der beson-
deren Gunst des Königs; weil das nach ihm lüsterne Weib des
Potiphar, dessen Werben er zurückweist, ihn verleumdet, wirft man
ihn in den Kerker; später gerät der König inieine schwere Lage,
aus der ihm keiner seiner Räte zu helfen weifs; nun erinnert er
sich seines früheren klugen Beraters, der, wie er glaubt, verurteilt
und getötet ist. Er hört, dieser lebe noch, aber schmachte im
Kerker: darauf läfst der Pharao ihn sofort befreien, schenkt ihm
die alte Stellung wieder, hört seinen Rat, rettet dadurch das
Land und überhäuft ihn mit neuen Ehren.
Solche Schicksale werden einem treuen Fürstendiener öfter
beschieden sein, dem ersten Blick zeigen sie kaum etwas Beson-
deres. Wer näher zusieht, erkennt, dafs sie viele und immanente
Schäden orientalischen Staatslebens sozusagen auf eine kurze, er-
schöpfende Formel bringen, die das Leben dann immer neu be-
weist. Die Willkür und die Launen des orientalischen Despoten,
der jähe Wechsel der Fürstengunst, die Verleumdung und Intrige
am königlichen Hofe, die heimliche Eigenmacht dieser, die Klug-
heit und Bedeutung jeuer Diener, das Hilflose und die Ohnmacht
des Herrschers, sobald er sich selbst helfen und selbst handeln
soll: all dies zeigt die kurze Geschichte in scharfer und heller
Beleuchtung, und darum ist sie sehr oft erzählt worden. In der
Bibel selbst noch einmal — das Buch Tobias spielt darauf an —
vom weisen Heikar, und im Indischen gleichfalls, in einer Samm-
lung, die sich auch über die ganze Welt verbreitete, in der Cuka-
saptati. Ihre Betrachtung werden wir also fortsetzen, wenn wir
beim Indischen angelangt sind.
Wenn im Märchen ein Mann einem Geist oder dem Teufel,
zum Lohn, dafs er ihm geholfen, das erste verspricht, was ihm
' Zum Märchen vom 'Jüngsten Bruder' vgl. noch Hermann üsener,
Rhein. Museum N. F. 58 (1903), S. 8. 329, zu den 'Treulosen Brüdern'
Et. Köhler, KL Schriften I, 292. 537. 543; Cosquiu I, 212 f. 9 f.
14 Zur Entstellung des Märchens.
begegnet, und ihm begegnet dann sein Kind, so denken wir
sofort an die Bibel, denn dies Motiv erscheint dort als das
Gelübde Jephthas.1 — Oder wenn, namentlich im nordischen
Märchen, eine Verfolgte ruft: 'Hinter mir Nacht und vor mir
Tag' und sich hinter ihr dichte Nebel zusammenballen, in denen
sich ihre Verfolger verlieren, sie aber entkommt in hellem
Tag,- so wiederholt sich die Sage vom Durchzug der Kinder
Israels durchs Rote Meer. — Und man wird in diesen Fällen
und ähnlichen, etwa bei der Geschichte von Moses' Aussetzung,
es für das Wahrscheinliche halten, dafs die Wirkungen der Bibel
bis in unser Märchen hineinreichen. Für uns bleibt die Haupt-
sache, dafs diese Motive als märchenhaft empfunden werden, und
man darf sich nicht gegen die Möglichkeit sträuben, dafs die
Bibel sie ihrerseits alten Märchen entnahm.
Moses ist dumpf und stumpf in der Jugend, und er, von
dem es die wenigsten glaubten, wird später der Führer seines
Volkes: die germanische Sage schildert uns ihre Helden gern
ebenso, und im Märchen löst der verachtete DummHng alle Auf-
gaben und verrichtet alle Heldentaten, an denen seine klügeren
und stärkeren Brüder scheitern. — Für die Zaubertaten des Moses :
dafs er Wasser aus dem Felsen schlägt, dafs er einen Stab in
eine Schlange verwandelt und mit ägyptischen Zauberern Wett-
kämpfe besteht, bieten Sage und Märchen gleichfalls Parallelen.
Simsons Schicksale: seine Kraft liegt in seinen Haaren,3
sein Weib lauscht ihm dies Geheimnis ab, fesselt ihn verräterisch
und überliefert den Kraftlosen seinen Feinden, leben seltsamerweise
auch in Indien als Märchen. Ein bei den Slawen und im Nor-
den verbreitetes Märchen von der treulosen Schwester oder Mutter
des Starken 4 hat mit der Sage von Simson auch auffallende Ver-
wandtschaft. — Die Geschichte vom Kampf Davids mit Goliath
ist wohl kaum etwas anderes als eins der vielen hübschen Mär-
chen vom Wettkampf eines klugen, kecken und schwachen Mensch-
leins mit einem grofsen, ungefügen, dummen Riesen, in dem der
Riese trotz seiner ungeheuren Stärke der Klugheit des Mensch-
leins unterliegt.
Salomo bleibt, wie man weifs, die für den Märchenforscher
1 Vgl. etwa Grimm, KHM Nr. 88, mit Anmerkungen; Chauvin V, 176
Anm. 1, und Cosquin Nr. 63 (II, 215 f.); auch Grundtvig, Oamle Danske
Minder II, 49. Wilhelm Hertz in seinen Kollektaneen verweist auf Servius
zu JEneis III, 121: Idomeneus gelobt in einem Sturm dem Poseidon zu
opfern, was bei der Landung ihm zuerst entgegenkomme, und ihm be-
gegnet sein Sohn. — Ahnliche Sage bei Pseudo-Plutarch, Plutarch ed. Reiske
X, 744, und in China: Journal Asiatique VI, 159.
2 Z. B. Grundtvig a. a. O. II, 30 und in anderen Märchen des Allerlei-
rauh-Tvpus, vgl. oben S. 5 Anm. 1 und Bd. CXIII, S. 268 Anm. 2.
3 Archiv CXIV, S. 8 Anm. 3. Frazer III, 352 Anm. 1. 390.
4 von der Leyen, Märchen in Edda 28. 29.
Zur Entstehung des Märchens. 15
merkwürdigste und auch rätselhafteste Gestalt der Bibel. Die
Geschichten von seiner Macht und seinem Glanz, seiner Zauber-
gewalt und Herrschaft über die Geister haben später die Araber,
die Geschichten von seinen dämonischen Kräften und Helfern
und seinem Trotz gegen Gott hat die spätere Literatur der Juden
verbreitet. Und durch diese fabelhaften Kunden von Salomo
wurde die Dichtung und Phantasie des ganzen Mittelalters be-
fruchtet. — Oft erscheint Salomo als Richter und Rätsellöser
von unübertrefflicher Weisheit, und da bleibt nun höchst selt-
sam, dafs gerade die Inder ganz ähnliche oder sogar dieselben
Weisheitsproben und -sagen von ihren Weisen mitteilen. Welches
Volk hier das andere beeinflufste, wissen wir nicht; mir scheint
aber — warum, habe ich später zu begründen — , dafs hier die
Juden die Gebenden, die Inder die Nehmenden waren.
Ich erwähne von den Übereinstimmungen zuerst die, die mit
Recht die Forscher am stärksten überraschte: das weise Urteil
des Salomo zwischen zwei Müttern, die jede dasselbe eine Kind
als das ihre beanspruchten; dies gleiche Urteil überträgt eine alte
buddhistische Legende auf Buddha.1
In einer späteren Legende soll Salomo auf Wunsch der
Königin von Saba Mädchen und Knaben, die beide ganz gleich
gekleidet sind, voneinander unterscheiden.'- Die Inder verlangen,
dafs ein Kluger von zwei ganz gleichen Pferden aussage, welches
die Mutterstute und welches das Fohlen sei.3 Der Thron des
Salomo war nach jüdischer Legende von märchenhafter Pracht
und entdeckte das Unrecht und verwehrte dem Unwürdigen den
Zutritt. Die Inder erzählten von einem solchen Thron, den man
ausgrub, gleich einen ganzen Zyklus von Geschichten, in dem
sich der Scharfsinn des Königs offenbarte, dem dieser Thron
früher zu eigen war.4
Das sind alles kurze Hinweise, und es wäre nicht zu schwer,
auch diese noch wesentlich zu vermehren. Doch mufs die gründ-
liche Behandlung dieser Probleme Berufeneren überlassen bleiben.
Für uns genügt die Erkenntnis, dafs die Bibel auch für den
Märchenforscher eine reiche Fundgrube ist. Was sie uns bietet,
sind einzelne Motive oder die Anfänge und Grundrisse zu Mär-
chen : so ausführliche und zusammengesetzte Märchen wie bei den
Ägyptern entdecken wir hier nicht. Für den gelehrten Theo-
logen, der die Entstehung und Zusammensetzung der Bibel er-
kennen will, wird der Nachweis von Märchenmotiven darin viel-
1 Oldenberg, Literatur des alten Indien S. IM. 291 (Gaidoz, Melusine
Bd. IV, 17).
2 Wilhelm Hertz, Gesammelte Abhandlungen 41/ f.
3 Culcasaptati, übers, v. Richard Schmidt, t. s. 48 t. o. 58.
4 Albrecht Weber, Über die Sinhäscma dvätrmcilcä, Indisch Studien
XV, 185 f.
16 Zur Entstehung des Märchens.
leicht von grösserer Bedeutung werden als für den Märchenfor-
scher, die vergleichende Märchenkunde wird ihm möglicherweise
ganz neue Aufschlüsse und Erleuchtungen schenken und ihn in
Zeiten und Schichten führen, die älter sind als alle, bis zu denen
er bisher vordrang.
Die Odyssee wurde von mir das alte Märchenbuch der
Griechen genannt. Denn wir haben aus ihr eine Fülle von Mär-
chenmotiven herausgehoben : die Geschichten von Tantalos, Sisy-
phos, den Danaiden deuteten wir als Traummärchen, und auch
die rührende Geschichte von Odysseus' Erwachen bei den Phäaken
scheint aus einem Traum emporgeblüht. x Ein andere Gruppe
von Märchen darf man als Zaubermärchen bezeichnen, z. B. das
oben berührte Märchen von Proteus2 und ebenso das von der
Kirke, die, wie die Zauberinnen im Märchen so oft — es sei
nur auf das Brüdermärchen verwiesen 3 — , die Menschen in Tiere
verwandelt, bis auf einen, den die Götter schützen, vor dem ihre
Kunst machtlos wird, und auf dessen Drohungen sie auch den
verwandelten Tieren die menschliche Gestalt zurückgeben mufs.
Wie die Kirke den Odysseus, so schickt im Märchen oft eine
böse Zauberin ein Mädchen oder ein furchtsamer und heimtücki-
scher König einen Helden in die Unterwelt, ursprünglich, um
ihn zu vernichten: die nächsten Beispiele bieten die antiken Sagen
von Herakles und Theseus und das Märchen von Eros und Psyche.
Für wieder andere Märchen bei Homer ist Reisemärchen der
zutreffendste Name. Man hat seit langem erkannt, dafs diesen
Reisemärchen sich die Märchen namentlich orientalischer Völker
vergleichen: die Fahrt des Odysseus zu den Phäaken und seine
Erlebnisse bei ihnen haben eine auffallende, auch in Einzelheiten
bemerkbare Ähnlichkeit mit dem indischen Märchen von Sakti-
vega,4 andere verwegene Abenteuer und märchenhafte Rettungen
des Odysseus sind ungefähr die gleichen wie die, deren Sindbad
in 1001 Nacht sich rühmt.5 Die Symplegaden kennen schon Reise-
und Traumschilderungen der Naturvölker;6 die List, die Odysseus
und seine Gefährten vor dem übermächtigen Gesänge der Sirenen
schützt, ist anderen Märchen nicht fremd,7 die märchenhafteste
Geschichte der Odyssee aber bleibt die vom Polyphem. Sie kehrt
unter den Abenteuern des Sindbad wieder und gehört gewifs in
den Kreis der Raubsagen und Raubmärchen: ein Mensch über-
1 Archiv CXIII, 258. 2 Archiv CXIV, 2.
3 Sidney Hartland, Legend of Perseus III, 17 f. 105 f. Erwin Rohde,
Der griechische Roman 173 Anm. 2.
4 Gerland, Altgriechische Märchen in der Odyssee (Magdeburg 1869) 18.
5 Erwin Rohde, Der griechisclie Roman 173 Anm. 2. 180 Anm. 1.
''' Vgl. von der Leyen, Germanist. Abh. für Paul S. 150 Anm. 1 ; dazu
Reinhold Köhler, Kl. Schriften I, 397; Cosquin II, 242.
7 Reinhold Köhler I, 125. JätaJca, übers, v. Cowell, Nr. 96.
Zur Entstehung des Märchens. 17
listet einen Riesen und raubt ihm seine kostbarsten Besitztümer.
Der Kontrast zwischen dem schwachen, klugen Menschen und
dem ungeheuren, dummen und plumpen Riesen klingt in diese
Sage auch hinein. Die List selbst, dafs Odysseus sich niemand
nennt, erscheint sogar in Schwänken von Völkern, die nie etwas
von Homer und der Odyssee hören konnten: es wurde hier
ein uralter Schwank auf Odysseus übertragen.1 Auch das ganze
Beiwerk: die Einäugigkeit des Polyphem, das Entkommen des
Odysseus und seiner Gefährten unter den Widdern des Riesen,
die verspätete, furchtbare und vergebliche Rache des Unholdes,
das ist alles echt märchenhaft und abenteuerlich.
Odysseus wird von einer himmlischen Nymphe geliebt und
verzehrt sich in Sehnsucht zu der fernen irdischen Gemahlin,
Achilleus ist das Kind einer himmlischen Nymphe, die einem
sterblichen Manne sich hingab, den Herakles will ein feiger König
verderben, er besiegt Ungeheuer, befreit von ihnen Jungfrauen,
wandert zum Paradies und erbeutet die Äpfel der Hesperiden und
schleppt den Kerberus aus der Hölle; Perseus wird von Danae
geboren, die ein Gott durch ein Wunder befruchtet, und man
hatte diese Danae eingeschlossen, damit sie kein Kind gebären
könne, den Knaben Perseus sucht ein König, wieder ein feiger und
schwacher König, zu vernichten, weil die Prophezeiung war, dafs
dieser Knabe ihm, dem König, Unheil bringen werde. Und so
erfüllt es sich: Perseus raubt den drei Graien ihr eines Auge, sie
zeigen ihm den WTeg zu den Gorgonen, und er gewinnt den ver-
steinernden Schild der Medusa, er befreit Andromeda vom Drachen
und erringt ihre Hand: das sind alles alte griechische Sagen, und
sie klingen uns doch, als hörten wir eins unserer Märchen.2 —
Die Forschung hat aus der griechischen und römischen Literatur
schon eine Fülle von Märchenmotiven zutage gefördert, die ich
hier nicht noch einmal ausbreiten will, 3 gewils läfst sich die Aus-
beute leicht vermehren, und eine Übersicht über die griechischen
Märchenmotive und Märchen würde für die Entwickelung der
griechischen Dichtkunst, die Herkunft und den Ursprung ihrer
Stoffe, das Gestaltungsvermögen ihrer Dichter manche neue und
schöne Aufklärungen geben. Ich vermerke hier im Interesse un-
serer späteren Betrachtungen noch einmal das Märchen vom klugen
1 W. Grimm, Abhandlungen der Berliner Akademie., 1857, S. 1 — 30. —
Erwin Rohde, Der griechische Roman 173 Anm. 2.
- Ich verweise nochmals auf die ausführliche Parallelensammlung zu
den Perseus-Motiven bei Sidney Hartland in seinem hier oft genannten
Werke. — Vgl. ferner Kretschmer, Einleitung (1896) S. 85 f.
3 Eine schöne Übersicht gibt Friedländer, Sittengeschichte* I, 468 f. —
Die Verdienste und Forschungen von Mannhardt (Antike Wald- und Feld-
kulte), Erwin Rohde (Der griechische Roman; Psyche; Kleinere Schriften),
Marx (Griechische Märchen von dankbaren Tieren, 1889), Crusius (in
Roschers Lexikon und im Philologus) u. a. sind bekannt.
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 2
18 Zur Entstehung des Märebens.
Richter, dessen Urteile und Entscheidungen sich durch Scharfsinn
überbieten,1 und das Märchen von den empfindlichen Menschen,
das die späte griechische Kunst sich ersann: groteske und ko-
mische Übertreibungen, die die renommistische Empfindlichkeit
der Genüfslinge verspotten sollte.2
Ein griechisches Volksmärchen blieb uns noch erhalten aus
dem späten Altertum, nicht rein und frisch, sondern fast zu-
gedeckt von künstlicher und steifer Allegorie, Eros und Psyche
des Apulejus. Wie unserem 18. Jahrhundert z. B. dem Musaeus
die Märchen als etwas Kindliches und Albernes erschienen, ein
Ammengeschwätz, auf das man mitleidig herabblickte und nur
durch eigene tiefe und wertvolle, vernünftige und aufklärende
Bemerkungen literaturfähig und geniefsbar machen konnte, so
etwa erschienen sie auch dem Apulejus: er hat sein altes Mär-
chen durch Allegorie und Philosophie zu vertiefen sich bemüht:
uns erscheinen seine Zutaten als frostig, steif, aufdringlich und
die Einfalt der Geschichte schwer schädigend. Aber unsere Volks-
märchen gestatten uns überall, das Ursprüngliche und Echte her-
auszulösen. 3
Ein König hat drei Töchter, die jüngste soll in die Gewalt
eines Ungeheuers kommen. Unter Trauern begleitet man sie zu
dem Felsen, unter dem das Ungeheuer haust, und sie stürzt sich
hinab, aber ein sanfter Windhauch trägt sie in ein blühendes
Tal, sie sieht darin einen Hain und eine Quelle, und das Unge-
heuer, bei Tag eine Schlange mit ungeheurem Rachen, gifttropfend,
ist bei Nacht ein schöner Jüngling. Psyche, die Jungfrau, lebt
in einem märchenhaften Palast, die Gemächer glänzen so von
Gold, dafs es auch in der Nacht hell bleibt, eine unsichtbare
Dienerschaft erfüllt alle ihre Wünsche. Ihr Gemahl warnt sie:
sie solle sich von den Schwestern nicht ausfragen lassen und nie
nach seiner Gestalt forschen, sie widersteht auch eine Zeit dem
neugierigen Drängen dieser Neidischen, schliefslich fragt sie den
Gemahl doch, und da entschwindet er ihr, und sie wandert ihm
nach. Die neidischen Schwestern stürzen sich auch vom Fels,
aber zerschellen dabei, Psyche wandert weiter: sie wird von Venus
gepeinigt, von Traurigkeit und Sorge, ihren Dienerinnen, ge-
geifselt, sie mufs durcheinander geworfene Garben, Kränze und
Sicheln wieder in Ordnung bringen, sie mufs Gerste, Weizen,
Hirse, Mohn, Erbsen, Linsen, Bohnen auseinanderlesen: dabei
helfen ihr die Ameisen; sie mufs Wolle von bösen, wilden Schafen
mit goldenen Vliefsen bringen, das Schilf flüstert ihr zu, sie solle
warten, bis die Tiere es sich selbst abstreiften; sie mufs Wasser
1 Vgl. oben Archiv CXIV, 22 Anm. 3.
2 Erwin Robde, Der griechische Romano 588/9.
3 Friedländer, Sittengeschichte I, 407. 468 f. (mit Beiträgen von Adal-
bert und Ernst Kuhn). Cosquin II, 217 f.
Zur Entstehung des Märchens. 19
aus einer Quelle holen, die von Drachen bewacht wird, ein Adler
füllt das Gefäfs für sie.
Zum Schlufs soll sie in die Unterwelt steigen und Schöu-
heitssalbe von der Totengöttin holen, dabei trägt sie in einer
Hand Kuchen und Mehlbrei, in der anderen Honig und Wein,
im Mund eine Kupfermünze. Dreimal wird sie versucht, es fallen
zu lassen: zuerst begegnet ihr ein lahmer, mit Holz beladener
Esel, der lahme Treiber bittet sie, die Holzscheite aufzunehmen,
dann schwimmt ein alter Mann ihrem Kahne nach, man möge
ihn auch hineinziehen, und alte Weiber am Webstuhl bitten sie,
auch Hand anzulegen. Sie widersteht den Versuchungen allen,
sie nimmt dann vom Mahl nur ein Stück Brot, das sie, auf der
Erde sitzend, zu verzehren hat, erhält die Büchse und öffnet sie
schon unterwegs, ein betäubender Dampf steigt hervor, aber sie
ist erlöst und mit dem Geliebten wieder vereint.
Man darf auch hier kaum von einem einheitlichen Märchen
reden: es sind wieder verschiedene Märchen und Märchenfrag-
mente, die im Wesen sich freilich berührten oder ähnlich waren,
lose aneinandergefügt, nicht organisch verbunden. Etwa das Mär-
chen von der Jungfrau, die nicht nach der Gestalt des Mannes
fragen darf und den Mann verliert, als sie das Gebot übertritt;
das Märchen von neidischen Schwestern, die der jüngsten ihr
Glück nicht gönnen und schliefslich bestraft werden, das Mär-
chen von den unlösbaren Aufgaben, die ein Liebender doch löst,
um sich die Geliebte zu erringen (in anderen Märchen gewöhn-
lich durch die Hilfe dankbarer Tiere, die er vorher gutmütig vom
Tode rettete), das Märchen vom Wasser des Lebens und der
Hexe, die einen anderen dadurch beiseite schaffen will, dafs sie
ihn in die Hölle schickt und ihm Aufgaben gibt, die eigentlich
kein Mensch lösen kann.1
Das Motiv von der Jungfrau, die unter der Trauer der ganzen
Stadt einem Drachen geopfert wird, gehört in einen anderen Kreis;
und die ihm gebührende Fortsetzung ist die, dafs ein Held die
Jungfrau erlöst, nachdem er den Drachen besiegt und getötet.
Die meisten europäischen Volksmärchen, die dem Apulejus
ähnlich sind und meist wohl auch von ihm abhängen,2 nehmen,
nachdem der Geliebte entschwunden, eine andere Wendung als
ihr antikes Vorbild : die Braut wandert durch die Welt, dem Ent-
schwundenen nach, findet mitleidige Helfer, die ihr Geschenke
geben; als sie den Geliebten endlich wiederfindet, will er sich
gerade mit einer anderen Braut vermählen, sie erwirkt sich vou
dieser mit Hilfe ihrer Geschenke die Erlaubnis, in drei Nächten
bei dem Geliebten zu schlafen, und weifs endlich seine Erinue-
1 Vgl. Cosquin II, 237 f.
2 Vgl. das Verzeichnis von Kuhn bei Friedländer 1, 497.
2*
20 Zur Entstellung des Märchens.
rung zu wecken, so dafs sie sieh mit ihm wieder vereinigt. ' —
Das bestätigt uns, was wir schon sagten: die Geschichte des
Apulejus ist keine einheitliche, sondern besteht aus verschiedenen,
einander verwandten Märchen. Sie entspricht darin durchaus un-
seren modernen Volksmärchen, deren Wandlungsfähigkeit ja darum
eine so unbegrenzte ist, weil sich die einzelnen Märchenmotive
und Märchenteile immer neu und anders miteinander verbinden
und schon ganz leise Ähnlichkeiten und Anklänge solche Verbin-
dungen bewirken. Es liegt im Wesen dieser Märchenmotive, dafs
sie immer etwas unbestimmt bleiben, sich Veränderungen leicht
fügen und darum in immer anderen Zusammenhängen erscheinen.
Diese Eigentümlichkeit des Märchens führt meines Erachteus
auch zur Erkenntnis des wirklichen Unterscheidungsmerkmales,
das Märchen, Mythus und Sage voneinander trennt. Im ersten
Ursprung sind diese gleich, Mythus und Sage stammen, ebenso
wie das Märchen, aus Leben, Sitten, Anschauungen der primi-
tiven Völker. Mit der Einschränkung freilich, dafs der Mythus,
sofern er nicht Göttersage ist," auf dem Kultus beruht, der seiner-
seits wieder auf uralte religiöse Vorstellungen zurückführt, und
dafs die Heldensage in ihre rein sagenhafte Erzählung geschicht-
liche Erinnerungen an Taten und Helden der Vergangenheit ver-
webt. Das Grundverschiedene von Märchen und Sage ist aber
ihre Eutwickelung: Die Sage verweilt viel länger und liebevoller
bei dem einzelnen Motiv, dem einzelnen Ereignis und der ein-
zelnen Person als das Märchen; das einzelne zieht sie stärker an,
während der Reiz des Märchens gerade in der immer wechseln-
den Verbindung oder in der Anhäufung der Motive besteht,
das Motiv für sich gilt ihm nicht so viel. Diese einzelnen Motive
gewinnen bei der Sage eine immer neue künstlerische Mannig-
faltigkeit, weil immer neue Dichter sich an den gleichen Mo-
tiven und Stoffen versuchen, dadurch vertieft sich auch deren
Bedeutung. In ähnlicher Art wachsen die Helden der Sage, ein
Dichter nach dem anderen gibt ihnen von seinem Besten, und so
steigert sich ihr Heroentum, und sie erheben sich ins Überirdische.
Die Motive verlieren dabei oft ihren selbständigen Wert und
dienen nur zur Charakterisierung des Helden. Weil die Sage
sich so entwickelt, haben ihre Helden Namen, während die des
Märchens, die ganz in der Fülle immer wechselnder Begeben-
heiten verschwinden und, weil sie sich selbst dabei immer ändern,
zu keiner bestimmten Wesenheit gelangen können, ohne Namen
sind. Auch bleibt die Sage gern bei bestimmten Orten und ver-
klärt diese, das Märchen verbreitet sich über die ganze Welt.
Die Märchenmotive fügen sich leicht und willig zusammen, die
Sagenmotive schwer, die Entwickelung der Sage ist langsam, eins
1 Vgl. noch ß. Köhler, Kl. Schriften I, 318 Anm. 1.
Zur Entstehung des Märchens. 21
ihrer Motive widerstreitet oft dem anderen, und auch in den
vollendetsten Sagen sind solche Konflikte noch nicht ganz über-
wunden; man fühlt, dafs eine frühere Anschauung eines Ereig-
nisses oder eines Helden, die der späteren widerspricht, noch nicht
ganz beseitigt wurde: man denke etwa an die Sintflutsage oder
an die nordischen Sagen vom Ende der Welt oder an unsere
Nibelungen. Die Sage ist viel ernster als das Manchen, künst-
lerisch uieist viel durchbildeter, sie wendet sich nur an einen er-
lesenen Kreis von Hörern und bleibt innerhalb nationaler Grenzen.
Damit steht in Zusammenhang, dafs, wenn Sagen in das Volk
dringen, meist gerade das Tiefste an ihnen, ihre Tragik und ihr
Adel, nicht verstanden oder mifshandelt wird — man erinnere
sich an unsere Sagen von Wieland dem Schmied, Hetel und
Hilde, Hildebrand und Hadubrand — , statt dessen wird sie mit
märchenhaftem Beiwerk überladen. Denn das Märchen bleibt
dem Volke verständlich und gehört zu ihm auf der ganzen Welt,
die kunstlose Aneinanderfügung von Märchenmotiven bedarf nicht
des Dichters und kann sich jederzeit im Volke abseits der höheren
Poesie entwickeln. Diese Bemerkungen wollen nur als vorläu-
fige gelten, ich hoffe sie später auszuführen und zu vertiefen
und habe sie hier nur darum nicht unterdrückt, weil ich glaube,
dafs sie zur Klärung unklarer Fragen behilflich sein können. ' —
Wir haben nun bei der Betrachtung der Märchen der antiken
Völker einen recht stattlichen Keichtum von Märchenmotiven
überblickt und es oft bestätigt gefunden, dafs diese Motive aufs
engste mit dem Leben und dem Wähnen primitiver Völker zu-
sammenhängen. Außerdem war es uns möglich, zu beobachten,
wie aus einer Vielheit von Märchenmotiven Märchen entstehen.
Nun dürfen wir den letzten wichtigsten Schritt tun, den zum
indischen Märchen hinüber, und die Art unserer Betrachtung
läfst sich nun leicht erraten, wir vergleichen die alten Märchen-
motive mit dem indischen Märchen, die auf ihnen beruhen, ebenso
die antiken Märchen, die vom Meisterdieb, von den Empfindlich-
keitsprobeu, von klugen Richtern u. a., mit den ihnen entsprechen-
den indischen, wir verfolgen aufserdem die Entwickelung der in-
dischen Märchen in Indien selbst, und auf der Erkenntnis fufsend,
die wir derart vom indischen Märchen gewannen, suchen wir
die Frage vom Einflufs der indischen Märchen auf die Märchen
der anderen Völker nochmals zu beantworten.
1 Ich verweise auf die sehr fördernden Bemerkungen von Hermann
Usener in seinen Sintflutsagen und Axel Olrik, Om Ragnarok, Kopen-
hagen 190:!. Namentlich die letztgenannte Schrift sollte von Philologen
aller Disziplinen gelesen werden.
München. Friedrich von der Leyen.
(Fortsetzung folgf.)
Mklas Praun und Pandolfo Collenuccio.
In der Festschrift 'Hans Sachs-Forschungen , herausgegeben
von A. L. Stiefel'; Nürnberg 1894, 8. 13—32, hat V. Michels
aus einer Handschrift der Berliner Königlichen Bibliothek einen
Dialog von Niklas Praun 'Das pieret vnd der Kopff' (vollen-
det 1542) veröffentlicht und die ihm bekannt gewordenen Daten
über den bis dahin unbekannten Verfasser mitgeteilt. Die
(mehrere Arbeiten Prauns enthaltende) Handschrift ist nur zum
kleineren Teile von Praun selbst geschrieben. Nach seinem Tode
hat Freund Hans Sachs nach losen Blättern des Verstorbenen
die Handschrift zu Ende geführt — der genannte Dialog ist
ganz von Sachs abgeschrieben — und mit einer sehr aufschlufs-
reichen hübschen Vorrede versehen worden.
Es ist sehr dankenswert, dafs Michels das ganze Gespräch
zwischen dem Barett und dem Kopf abgedruckt hat. Der Dia-
log ist gewifs die beste literarische Leistung Prauns. Ein aller-
dings seltsamer Gedanke — als 'wunderlich' bezeichnet Praun
selbst am Schlufs sein Gespräch — wird geistreich und witzig
durchgeführt, die bitterste Ironie über die unvernünftige Welt-
anschauung und Handlungsweise der grofsen Masse wird in
humorvollen Reden ausgegossen. Barett1 und Kopf stehen zu-
einander in einem scharfen, gut charakterisierten Gegensatz.
Das Barett ist klug, hochgebildet, welterfahren, von sittlichen
Grundsätzen erfüllt. Der Kopf ist hohl, dumm, ungebildet und
richtet sich 'nach der weit prauch', sieht nur auf den äufseren
Schein und nicht auf die innere Tüchtigkeit.
Das Barett eröffnet das Gespräch mit der Klage über sein
unglückliches Los, das ihn gerade auf einen so närrischen Kopf
gesetzt hat. Es tadelt den Kopf (ihn vom Anfang bis zu Ende
mit den ärgsten Scheltworten belegend), dafs der Träger seine
Kopibedeckung durch sein 'wankelmuetig vurnemen', durch Hin-
und Herrücken, durch ewigen Wechsel der Form und der
1 Sachs schreibt nebeneinander: 'pieret' und 'piret', es ist im 16. Jahr-
hundert eine häufige Nebenform (nach mittellateinisch birretum) neben
'baret' für Mütze überhaupt und im engeren Sinn für das Barett der
Doktoren.
Niklas Praun und Pandolfo Collenuccio. 23
Ausschmückung unerträglich quäle. Aus den Auseinander-
setzungen darüber entwickelt sich zwischen beiden ein theore-
tisches Gespräch über Schönheit, Gewalt, Ehrerbietung usw.
Immer gibt zuerst der Kopf ganz unsinnige und verworrene Er-
klärungen, behauptet aber dann, wenn das Barett klar und
weise die Streitfrage zu Ende bringt, er hätte von Anfang ganz
dieselbe Meinung gehabt. Der Träger des Baretts geht nun
auf die Strafse, wo es zu neuen Streitgesprächen kommt, weil
der Träger mehrere Vorübergehende, einen Edelmann mit gol-
dener Kette, einen Arzt, einen Advokaten, einen reichen Kauf-
mann, einen Hauptmann ehrfurchtsvoll begrüfst. Das Barett
aber, empört über die fortwährende Störung aus seiner Ruhe,
beweist dem Kopfe, dafs alle die Gegrüfsten nur dem äufseren
Ansehen nach stattlich, in Wirklichkeit aber unlautere, ja laster-
hafte Persönlichkeiten seien. Der Kopf entschuldigt sich mit
der notwendigen Rücksicht auf die allgemeine Meinung und mit
der Redensart, dafs 'man dem dewffel ein lichtlein aufzunden'1
müsse. Das Barett beschliefst das Gespräch mit einer längeren
Rede, in der es alle seine Beschwerden über den Kopf noch-
mals zusammenfafst (in ethischen Ausführungen, die gewifs die
persönliche Überzeugung des Verfassers wiedergeben), und spricht
endlich den "Wunsch aus, von Motten verzehrt zu werden, um
des Jammers ledig zu gehen. In einem kurzen Nachwort gibt
der Verfasser als die Summe des Gespräches an, dafs 'darin
die heuchlersich Ererpiettung fein hofflich gestochen wirt.'
Mit Recht wundert sich Michels über diese auffallende und
eigenartige literarische Leistung des sonst doch nicht hervor-
ragenden Autors. Er vermutet im allgemeinen Einflufs von
Dialogen Hans Sachsens, Lukians oder deutscher Humanisten.
wie Eobanus Hessus. Von diesen konnte er die Form der Dia-
loge und die Führung der Gespräche lernen, aber 'woher kom-
men bei Praun solche Ansätze zu individueller Charakteristik?"
fragt Michels.
Diese Frage erlaube ich mir zu beantworten: Von dem ita-
lienischen Humanisten Pandolfo Collenuccio, dessen Gespräch
'La beretta e la testa' Praun unmittelbar als Vorlage benutzt
hat, Collenuccio'2 ist als Verfasser zahlreicher lateinischer und
1 Vgl. Thom. Murner, Narrenbesehwörung. Überschrift des 64. Ka-
pitels: 'Dem tilfel zwei Hecht anzünden', und oft.
2 Vgl. Biographie universelle 8, 588 f. Die hier gegebenen Daten wer-
den wesentlich ergänzt und berichtigt durch die abschließende Monogra-
phie: A. Saviotti, P. Collenuccio, umanista pesarese, Pisa 1888 (Estratto
dagli Annali della real scuola normale superiora di Pisa), welche die Ge-
burts- und Todesdaten und aktenmäfsig den Lebensgang feststellt und
die Schriften gründlich beschreibt. (Auf diese Monographie hat mich
Prof. E. Freymond freundlichst aufmerksam gemacht.)
24 Niklas Praun und Pandolfo Collenuccio.
italienischer Werke, als Dichter, Gelehrter und Staatsmann be-
kannt. Geboren am 7. Januar 1444 zu Pesaro in Oberitalien
(Umbrien), tritt er 1491 als Consigliere ducale in die Dienste
des Herzogs von Ferrara, Herkules I.1 Dieser kunstliebende
Fürst veranstaltete an seinem glänzenden Hofe häufige Auffüh-
rungen humanistischer Schauspiele. Viele Humanisten widmen
ihm ihre Werke und preisen ihn als Gönner. Ercole verwendet
Collenuccio auch als Gesandten, so zweimal 1494 und 1497
nach Innsbruck an Kaiser Maximilian, und ernennt ihn 1500 zu
seinem Capitano di giustizia. Einer heuchlerischen Einladung
folgend reist Collenuccio in seine Heimat und wird in Pesaro
auf ttefehl Giovanni Sforzas am 11. Juli 1504 ermordet. Colle-
nuccio übersetzte den Amphitryon von Plautus ins Italienische,
schrieb das Schauspiel 'Jakob und Joseph', italienische Gedichte,
einen Erziehungstraktat und einen Abrifs der Geschichte des
Königreiches Neapel in Latein, endlich mehrere lateinische und
italienische Dialoge. In allen diesen Dialogen läfst er zum
Schlufs die 'erhabene' Gestalt seines fürstlichen Gönners er-
scheinen. Er nimmt förmlich Zuflucht zu Ercole, der wie ein
gütiger Deus ex machina erscheint, um mit seiner Weisheit alle
aus den Streitgesprächen erwachsenen Gegensätze aufzuheben,
alle Schwierigkeiten zu ebnen und mit einem gerechten Urteil
würdevoll den Dialog zu beschliefsen.
Von Collenuccios italienischen Gesprächen ist eines der be-
kanntesten 'II Philotimo. La testa e la beretta' 2 mit einem eigen-
artigen, genial erfundenen Motiv, das geistvoll und mit über-
sprudelndem Witz durchgeführt wird.
Diesen Dialog nun hat Niklas Praun verdeutscht, aber nur
die erste Hälfte davon und diese nicht in durchaus gleichmäfsi-
ger Weise. Mit Ausnahme der letzten Blätter hält sich Praun
ziemlich wörtlich an Collenuccio, abgesehen davon, dafs er eine
breitere Ausdrucksweise hat und so den italienischen Wortlaut
sprachlich erweitert. Auch kleinere oder gröfsere Zusätze mit
sachlichen Erweiterungen kommen oft vor. Seltener sind Aus-
lassungen aus dem Texte der Vorlage. Diese Art der nur
einigermafsen freien Übersetzung übt Praun von Anfang an bis
eiuschliefslich S. 28 des Michelschen Abdruckes. S. 29 und 30
1 Über Ercole von Ferrara vgl. man W. Creizenach, Geschichte des
neueren Dramas 2, 217 und 204 ff.
2 Saviotti bezeichnet als älteste bekannte Ausgabe: Venezia 1517.
Die Abfassungszeit und allenfallsige ältere Drucke sind nicbt bekannt.
Ich benutze ein Exemplar der Berliner Königlichen Bibliothek, Bergamo
1594, mit dem Titel: // filotimo. Dialogo di M. P. Collenuccio. Apologia
contro gli abusi dello sberettare (Mifsbrauch des Grüfsens). Interlocutori :
Testa et Beretta. — In der Biog. im. lautet der Titel: la beretta contro i
cortigiani (Höflinge), was nur für einen Teil des Dialoges stimmt. — Die
Ausgabe Venedig 1836 ebenfalls in Berlin.
Niklas Praun und Panel olfo Collenuccio.
25
weichen dann sehr stark ab von den betreffenden Abschnitten
des Italieners. Praun folgt hier nur im allgemeinen den aus
Collenuccio gewonnenen Anregungen, und mit S. 31 Z. 6 bricht
er überhaupt die Übertragung ab, läfst die ganze zweite Hälfte
des italienischen Dialoges unübersetzt und fügt (S. 31 und 32)
den schon oben gewürdigten, ganz selbständigen Schlufsabsatz
hinzu.
Zu diesen allgemeinen Bemerkungen über das Verhältnis
des italienischen Dialoges und des deutschen Gespräches seien
einige Beispiele angefügt.
Zunächst Proben der fast wörtlichen Übereinstimmung, so
gleich der Anfang:1
B. Fortuna iniquissima dispensa-
trice partiale de' luoghi. Maledetta
sia cosi iniqua sorte, che sopra di
te mi pose.
T. Che hai tu, poi che da molti
giorni in qua, altro eiarnai che la-
menti e querele da te si sentono?
B. Jo vorrei, che quella pecora,
che produsse la lana, della quäle io
nacqui, fusse stata dal lupo diuorata,
o che pur fusee area la lana fra le
dita di quella sordida ferninella,
che la filö.
T. Che ti manca? che vorrestu?
da nie non hai ingiuria aleuna.
B. Anzi da te sola ogni mio
male procede, ogni mio torto nasce:
tu d'ogni mio lamento sei cagione:
perche di me ogni iniquo porta-
mento tu fai.
Und weitere Beispiele:
T. Tu mi fai per certo parer un'
altra, che io non sono: io non me
P. Dw Schalckhafftigs vnd
petrueglichs glueck, Ein Austaillerin
vber pos vnd guet, verfluecht Sey
mein vngelueck, vnd der So mich
auf dich nerrischen kopff ge-
setzet hat!
K. Ach, was ist dir mein liebes
piret? Ein lange Zeit her, darin
dw nichs anders gethon hast, Den
dich zw peclagen, ist mir peschwer-
lich, Solichs von dir an zw hören,
vnd zw verneinen.
P. ich wolt, das die wollen dar-
aus ich gemachet pin worden, mit
Sampt dem schaff das die wollen
getragen hat vnd herfuer pracht Ein
wuetiger Wolff zerissen vnd ge-
fressen het, oeler das ich dem armen
weib, So mich gezaufset, kem-
met oder gespunen hat, zwischen
den vingern verprunen oder ver-
schwunden wer!
K. Ach mein piret, was wer dein
pegeren? was hastw fuer mangel
von mir? hastw Etwan ein
schmach oder vnEr von mir
entpf angen ?
P. ja, allain von dir, dw holer
kopff, Entspringet Alles uebels vnd
elw allein pist meiner clag Ein vr-
sach; den dw geprauchst dich mein
gancz petrueglich, in vil stuecken.
K. Dw machest frey, das ich
mich pedunck, ich Sey nit «1er, der
1 Abkürzungen: B. = Beretta, T. = Testa, P. = Piret, K. = Kopf.
Die gesperrten Worte bedeuten Zusätze des deutschen Textes.
26 Niklas Praun und Pandolfo Collenuccio.
medema, o pure forsi puo essere, ich doch pin, als ob ich mich Selb
che io non intenda te: parla piu nit versten mueg, oder Aber das
chiaro. mocht sein, das ich verstunt dich
nicht, red ein wenig clarer; vnd
lewter von der meinung, auf daa
ich dich auch versten rnueg.
B ... Belezza e una atta e P. Neinlich Schone ist einer ge-
uiusta proportione di tutte le rechte proports in allen glidern des
membra, insieme con graude aspetto. menschen, wo die Selbig mit einem
grofsen vnd Erwirdigen Anscha-
wen pegabet ist.
armata d'ignoranza. wol gewappnet mit vnwizzenheit.
Genaue, wenn auch ungeschickte Übertragung liegt auch
vor an der Stelle, wo Michels beabsichtigte Unklarheit annimmt.
Ich möchte gegen diese Vermutung nur einwenden, dafs das
Barett sich gerade immer sehr klar auszudrücken pflegt. Es
handelt sich um den folgenden Satz (S. 24 Z. 8—11): ,Er er-
zaigen oder Er erpieten ist ain zaichen, [ist ein zaichen], Au-
spundig genaigte (r) Er vnd hochwirdigkeit, von wegen des aus-
gdruecten geErten erhochte thuegent?' Das ist die Überset-
zung des im Italienischen völlig klaren Satzes: Honore e una
essibitione di riuerenza in segno di eccellente virtu dell hono-
rato d. h. 'die Ehrbezeugung ist ein Ausdruck der Ehrfurcht im
Zeichen' ('zur Anzeigung' oder einfach 'vor') 'der ausgezeich-
neten Tüchtigkeit des Geehrten' (gemeint ist: 'des Gegrüfsten').
Praun hat in segno ungeschickt mit 'ausgdruecten' wiedergegeben
und dadurch, sowie durch versehentliche Wiederholung ('ist ain
zaichen') und das Fehlen des r bei 'genaigter' den Satz unwill-
kürlich unklar gemacht.
Sprachliche Erweiterungen werden von Praun dadurch
hauptsächlich hervorgerufen, dafs er gern, wie das bei den mei-
sten deutschen Übersetzern des 16. Jahrhunderts der Fall ist,
für einen Ausdruck der Vorlage zwei oder mehr Synonyme ver-
wendet und auch mit weiteren Ergänzungen vermehrt. Z. B.
für vacua testa: ,holer vnd doller köpf — giustamente: 'aus
rechtem grund vnd manigfaltig vrsach' — huomo de valore:
'von guetem adel oder Erlich, tugentreich, verdienet lewt' —
le corone: 'pedeckung des hauptes kaiserlicher kuncklich und
pebstlicher krön, Cardinelisch vnd herzogisch huet, pischofflich
und eptisch inffel'. — Erweiterungen ergeben sich auch durch
derbere Umschreibungen der Vorlage. So für un terribile: 'ein
waidlicher Eisenfrefser', für hai pure una volta detto una buona
parola: 'das ist vurwar ein wunder, das einmal aus deinem
holen, dollen kopff ein guet vrtail kumpt'. Und durch eine
gewisse pedantische Weitschweifigkeit. Für Chi est luif 'wes
geschlechts oder Adels ist dieser Edelmann? ist er ritter oder
Auch thurniers genos, das dw im Solich reverenz thuest?'
Niklas Praun und Pandolfo Collenuccio. 27
Kleinere Zusätze ergeben sich durch die Einfügung von
Scherzen, Redensarten, Vergleichen, z. B. 'dafs dw ein lawter
doctor in Narribus pist'. — Wo die Rede von goldenen Ketten
der Edelleute und den eisernen Ketten der Tollen ist, macht
Praun die Bemerkung: 'vnd wie die Eifsren ketten die Narren
Still vnd ruwig helt, Also die gülden ketten machen Die narren
erst lawffen vnd juchzen.' Dieses Bestreben führt dann hei Be-
richten und Beschreibungen zu grofsen Erweiterungen gegenüber
der Quelle. Nur ein Beispiel für viele:
T. Jo tel dirö bene, e presto: K. Ich wil dirs pald Sagen vnd
belezza e lo haver una bella zazara, wol : N einrieb die schon ist ein
con la Beretta in foggia, sopra uno schöner glatter kelbcter kopff, dar-
ciglio: la calza tirata: la scarpa auf Dw wolgestalt pist, mit Säumet
stretta, con lo andare vago e leg- oder perlein geschmuecket oder mit
giadro della persona. porten, knebeln oder steften ge-
ziret, Ein wenig auf ein Aug oder
or gedruecket, mit wolrichenden
pifsen durch krochen, Darzw ein
güldene ketten mit einem gehenk am
hals, es Sei verdeckt oder offenlich,
Ein Spanische kappn mit Samut
oder gestickt verpremet, ein par
hosen vnd wamas von Samuet, mit
glaten strumpffen, an die geraden
pain gezogen, Spanische schuch von
Samuet oder Duech, glat am fues
angelegen, oder ein mardren rock
mit ainem Samueten schlepplein,
Sunst mit oberen klaidern nach
auslendischer art gemacht mancher
tracht vnd newer Sitten ; Doch das
Solchs alles mit ainem prechtigen
gang geziret Sey : Sunst wer Solichs
alles kein Schönheit noch stewr zw
der Schönheit.
Kleine oder gröfsere Streichungen sind (mit Ausnahme des
letzten Teiles) selten, und wenn Praun streicht, so tut er es
meist aus dem Gesichtspunkt, spezifisch Italienisches zu ver-
meiden, so bleiben die 'creanze nel vero' Napolitane weg und
der Vergleich 'come la stanga per il mastello'. Ferner fehlt im
deutschen Text (zwischen S. 22 und 23) ein grofses Stück (über
5 Quartseiten) des Originals ganz, Praun bemäntelt diese Lücke
nur durch einen kurzen Abschnitt (S. 22, Z. 1 — 8 v. u.). Die
fallen gelassene Stelle Collenuccios bandelt nämlich von der ga-
lantaria und damit zusammenhängenden durchaus italienischen
Verhältnissen.
Zu den grofsen Streichungen kann man auch die schon
obenerwähnte Weglassung des ganzen zweiten Teiles v»m Colle-
nuccios Dialog (in dem mir vorliegenden Exemplar Bl. L2
also genau die Hälfte) rechnen, wo sich das Gespräch in höhere
28 Nikhs Praun und Pandolfo Collenuccio.
geistige Sphären erbebt. Wir befinden uns ganz im Rahmen der
italienischen Kultur am Ausgange des 15. Jahrhunderts. Nament-
lich durch das Dazwischentreten von Ercole. Denn wie in den
übrigen Dialogen von Collenuccio, so wird auch hier schliefslich
von den Streitenden Ercole angerufen, um deren widersprechende
Meinungen durch seine Entscheidung zu einigen. Das ganze
letzte1 Drittel des Dialoges wird von dem Herzog beherrscht,
der in breiten humanistischen Ausführungen die Streitenden dar-
über belehrt, was wahre Tugend und was wahre Ehre sei, und
diejenigen, die wahre Tugend besitzen und wahre Ehre anstre-
ben, als Filotimi (nach dem griechischen (ptloTifiog, ehrliebend,
nach Ehre strebend) bezeichnet. Den Beschlufs macht die
Mütze, die den Kopf, spöttisch mit: zucca mia salata (mein ge-
salzener Kürbis = Dickschädel) ansprechend, auffordert, dem
grofsen Herkules zu danken, che ti ha fatto conoscere, che cosa
sia il vero honore, e che vuol dir Filotimo ('und was Filotimo
besagen soll'). Dieses Schlufswort, das nur auf den letzten
Blättern des Dialoges einige Male erwähnt wird, bildet auch den
Obertitel des Dialoges. Es ist wahrscheinlich, dafs Collenuccio
mit der Überschrift 'II Filotimo' geradezu seinen fürstlichen
Herrn gemeint hat. 1
Praun hat mit sicherem Gefühl und literarischem Takt ge-
handelt, als er diesen zweiten Teil wegliefs, der zu seiner bi-
derben Verdeutschung des ersten Teiles gar nicht gepafst und
bei den Lesern, an die er denken mochte, wenig Verständnis
gefunden hätte. Durch seine Enthaltsamkeit hat sich Praun
einen einheitlichen Stil in Form und Inhalt bewahrt und so ein
abgerundetes, heimisch anmutendes Werkchen geschaffen, das
die italienische Vorlage trotz der teilweise engen Anlehnung
nicht mehr durchschimmern läfst. Aus dem Werkchen allein
hätte man nicht ohne weiteres aut eine italienische Quelle
schliefsen können. Ich habe ja diese auch nur gelegentlich ge-
funden, bei den Studien für mein Kolleg: Geschichte des Hu-
manismus.
Ein Bedenken will ich am Schlüsse nicht verschweigen.
Kann man Praun die Kenntnis des Italienischen zumuten? Aus
den geringen über ihn bekannten Daten ergibt sich nur, dafs
Praun, der einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie entstammt,
eine gute Schulbildung sich erworben hatte und des Lateinischen
mächtig war. Um das Italienische zu lernen, brauchte er nicht
1 Soweit ich aus den wenigen Proben, die Saviotti von dem Philo-
timo gibt, urteilen kann, scheint es, dafs seine 1864 gedruckte Fassung
im allgemeinen mit der mir vorliegenden Ausgabe (1594) übereinstimmt.
Der Schlufs des Neudrucks aber weicht von der oben gegebenen Fassung
ab: che cosa il vero onore sia, te ha fatto intendere, e tu per male avere
non vogli se da qui inanti ti chiamo filotimo.
Niklas Praun und Pandolfo Collenuccio. 29
nach Italien zu fahren. Nürnberg hatte damals rege wissen-
schaftliche und Handelsbeziehungen zu Italien und manche des
Italienischen kundige Männer in seinen Mauern.
Freilich könnte man an die Möglichkeit einer Zwischen-
übersetzung denken. Eine französische Fassung liegt vor von
A. Geuffroy, Dialogue de In teste et du bonneb, traduit d'ita-
Jien en francois. Paris 1543. * Sie kommt aber für Praun
nicht in Betracht, weil sie erst ein Jahr nach der Abfassung
des Praunschen Gespräches erschienen ist. Eine lateinische
Übersetzung konnte ich nicht ermitteln, obwohl ich in zahl-
reichen gröfseren Bibliotheken darnach gesucht oder angelragt
habe. Fände sich noch eine lateinische Übersetzung, die vor
das Jahr 1542 fällt, würde das Bild, das ich von dem Verhält-
nis zwischen Praun und Collenuccio entworfen habe, nur in
unwesentlichen Zügen verschoben werden. Die stellenweise wört-
liche Übersetzung des italienischen Wortlautes spricht ohnehin
dafür, dafs Collenuccios Dialog im Original Praun vorgelegen hat.
1 Vgl. British Museum. Catalogue of Printed Books. 14, 111 — 113.
(Hier keine lateinische Übersetzung des Filotimo.) In dem grofsen
Bücherkatalog Gesneri Bibliotheca amplificata per Frisium, Tiguri .1583,
sind viele Schriften Collenuccios verzeichnet, aber keine lateinische Über-
setzung des Filotimo.
Prag-Smichow. Adolf Hauffen.
Volkslied-Miszellen.
n.
1. Zur 'Markgräfin und dem Zinlnlergesellen^
Ein weitverbreitetes Volkslied (s. Erk-Böhrae, Deutscher Lieder-
hort I [1893] 446 ff. Nr. 129a~d, und O. Schade, Deutsche Hand-
werkslieder [1865] 199 ff.; zu der dort verzeichneten Literatur
kommt noch: Bender-Poinnier, Ober schefflenzer Volkslieder und volks-
tümliche Gesänge [1902] 56 f. Nr. 49; H. Ostwald, Lieder aus dem
Rinnstein II [1904] 8 ff.) ist jenes, das von den Beziehungen einer
Markgräfin zu einem Handwerker (Zimmermann, Schuster, Schnei-
der etc.) oder Soldaten berichtet. Diese Beziehungen gereichen
dem Handwerker jedoch zum Unheil, denn nachdem sie ertappt
wurden, wird er zum Galgen verurteilt, doch später begnadigt.
Schade (a. a. O. 205 f.) führt eine Fassung an, die in Studenten-
kreisen zu Halle, Leipzig und Jena in den vierziger Jahren des
19. Jahrhunderts gern gesungen wurde und die mit den Worten:
'War einst ein jung, jung Zimmergesell' beginnt. (Aus Studenten-
kreisen auch bei H. Pröhle, Weltliche und geistliche Volkslieder und
Volksschauspiele [1855] 13 f. Nr. 7 und 267 f. = °- [1863] 13 f.
Nr. 7 und 267 f.) Auf dieses Lied bezieht sich nun die vierte
Strophe im 'Lied Giraudet des Roten an Emmeline Darnai' (erster
Druck: Deutsche Dichtung, hg. von K. E. Franzos, V Nr. 11 [1889]
S. 254) von Richard Leander (Pseudonvrn für R. von Volkmann
[1830—1889], der seit 1843 bis zu seinem Ende in Halle lebte),
wo es heifst, wäre ich noch so jung wie du:
Wir setzten uns an des Flusses Raud,
Wir schauten hinab in die Wellen
Und sängen das Lied von der Lorelei
Und dem jung, jung Zimmergesellen!
Jedenfalls lernte R. Leander, der auch sonst in seinen Gedichten
durch das Volkslied beeinflufst ist (s. O. Härtung, Deutsche Dich-
tung IV [1888] 21 8 a), dieses Lied in Halle, wo er in den fünf-
ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts studierte, in Studenten-
kreisen kennen. Bekanntlich hat auch Gerhart Hauptmann in
'Schluck und Jau' das Lied von der Markgräfin und dem Zimmer-
gesellen verwendet (s.. Blümml, Ärch. f. n. Spr. CXIII [1904] 286).
Volkslied-Miszellen. II. 31
2. Zu 'Wer hat vom Petrus das gedacht'.
A. Hruschka und W. Toischer {Deutsche Volkslieder aus Böh-
men [1891] 63 Nr. 95) teilen ein sehr humoristisches Lied auf
den hl. Petrus aus Plan in Westböhmen mit, ohne zu ahnen, dafs
dessen Verfasser Karl Waldemar von Neumann1 ist. Das
Lied findet sich zuerst in dessen mit Heinrich Reder zusammen
verfafstem Buche: Soldatenlieder von zwei deutschen Offizieren
(Frankfurt a. M. 1854) S. 9. Es ist das ein Buch, in dem viele
Lieder mit Volksliedton stehen (vgl. R. Prutz, Deutsches Museum
IV. 1 [1854] S. 951 f.). Ich gebe hier den Originaltext und dazu
die Varianten des deutschböhmischen Liedes:
Wer hätt' vorn Petrus das gedacht.
1. Wer hätt' vom Petrus das ge- 3. Doch wann wir wieder zieh'n
dacht, nach Haus,
Dafs er so tolles Wetter macht? Ist's mit dem hübschen Wetter aus!
Das ist ein ganz langweiliger, ü so ein Heil'ger ist gar fein, —
Ganz sonderbarer Heiliger I Der braucht ja nicht dabei zu sein !
2. Wann wir zum Exerciren geh'n, 4. O Petrus ! denk' an Malchus Ohr
Läßt er die Sonn' am Himmel steh'n ! Und stell' dir unser Elend vor.
Da wird dann hin und her marschirt, Geh, heil'ger Petrus, sei gescheit,
Dafs man die Lust gar bald verliert. Laß regnen doch zur rechten Zeit !
Varianten: 1,1 hat; — 1,2 tolles Wetter; — 1,3 ganz fehlt; — 1,4
ganz fehlt; dafür steht ein; — 2, l wenn; — 2,3 dann fehlt; — 2,4 dafs
man bald die Lust verliert; — 3, l wenn wir gehn . . .; — ;i, 2 schönen; —
3, 3 ist so ein Heiliger ja recht fein ; — 3, 4 Er braucht gar nicht . . . ; —
4,1 Petrus, denk' noch an das Ohr; — 4,2 dieses Elend; — 4,4 Gib
Sonn' und Reg'n zur rechten Zeit.
Strophe 3 zeigt in der mündlichen Überlieferung in Z. 3
und 4 eine Verdunkelung des ursprünglichen Sinnes, ebenso be-
deutet 4, l eine Verschlechterung, alle übrigen Varianten ver-
ändern den ursprünglichen Text wenig.
3. 'Ich klopf schon lang an deiner Pfort\
Ein geistliches Lied mit solchem Anfang findet sich aus
Franken nach mündlicher Überlieferung bei Ditfurth, Fränkische
Volkslieder I (1855) 12 Nr. 17, aus Steiermark, eingelegt in das
Vordernberger Paradiesspiel, bei K. Weinhold, Weihnachtsspiele
und Lieder aus Süddeutschland und Schlesien 2 (1875) 334 f., aus
Bayern bei A. Hartmann, Weihnachtslied und Weihnachtspiel in
Oberbayern (1875) 103 ff. Nr. 132 (vgl. auch S. 46 f.), und Hart-
mann-Abele, Volkslieder, I. Volksthümliehe Weihnachtlieder (1884)
218 f. Nr. 134, und nach einem fliegenden Blatte bei F. L. Mittler,
1 Über K.W. von Neumann (1830-1888) vgl. Fr. Brummer, Lexikon
der deutschen Dichter und Prosaisten des 19. Jahrhunderts III- 140.
32
Volksliod-Miszellen. TT.
Deutsche Volkslieder2 (1865) •'>>.'1>'_) Nr. 428. Eine nicht uninteressante
Variante dazu enthält das Manuskript Nr. 980 der Innsbrucker
k. k. Universitätsbibliothek, das aus ca. 1760 stammt und von einem
Geistlichen, der in der Gegend von Ingolstadt, wie mehrere Stellen
in den Liedern beweisen, lebte, zusammengeschrieben wurde.
Ode pastoritia.
[lla] 1. Ich klopf schon lang vor
dein port,
ach freindin, mach mir auf!
in diser au find sonst kein orth,
schon laug ich herumblauff;
ich bin ganz math, glaub sicherlich,
die herberg mir abschlage nit,
ich bitt herzinniglich.
2. wer da, wer klopft vor meiner
thir?
wer will zu mir herein?
mein hüttlein ich eröffne nit,
ich laß niemand herein,
allhier ich mich allein befindt,
vil leicht mechts sein ein loses kind,
nein, nein, lafs dich nit 'rein.
f.. Ich bin ein kind von hochen
stam,
o werthe schäfferin,
und hab niemand kein leyd gethan,
ganz from ich alzeit bin ;
ein schäfflein ich verlohren hab,
so ich muel} suechen tag und nacht,
forthin, bis ich es find.
Ein Vergleich der einzelnen Lieder untereinander ergibt:
1=1 D., M., H.; 2 W.; — 2 = teilweise 2 D., M., H.; — 3 =
3 D., M., W., H.;-4 = 4D,M,H.;-5 = 5 D., M., H.; 4 W.; —
6 6 D., M., H. Die meiste Abweichung von allen bisher be-
kannten Texten zeigt 2 i_ 4.
4. glaub schwärlich, das(s) in
meiner au
sich ein frembds schaff befind(t),
bevor ich aber d'thir mach auf,
sag an, wer bist mein kindt?
oder wer ist der vatter dein,
das(s) du iezt schon ein hirt must
sein,
so klein, so zart und fein?
5. mein vatter ist von ewikheit
und ewig ist sein reich,
sein eingbohrner söhn zugleich
ich ewig bey ihm bleib,
dein arme seel von dir begehr,
so ich mues suechen hin und her,
drum bin ich hier, schenckhs mir.
[llbJ 6. o Jesu, was hab ich ge-
dacht,
o edler seelenschaz,
das(s) ich nit eh hab aufgemacht ?
bey mir solst finden blaz.
mein seel ich dir ergeben thue,
darin wolst nemen deine ruhe1,
ich bitt, versags mir nit.
4. Itzunder ist die Zeit, erhebt sich Krieg und Streit.
L. Erk hat in der von ihm besorgten Ausgabe von Des
Knaben Wnnderhorn IV (1854) 335 ff. ein Kriegslied aus ca. 1630
nach einer Handschrift mitgeteilt, das bei F. L. Mittler, Deutsche
Volkslieder2 (1865) 871 f., und Hoff mann von Fallersleben, Die
deutschen Gesellschaftslieder des 16. u. 17. Jahrhunderts II2 (1860) 50 ff.
Nr. 287 (vgl. auch K. Jauicke, Das deutsche Kriegslied [1871] S. 21),
wieder abgedruckt wurde. Das Lied war jedoch schon 1603 be-
kannt, wie das Manuskript M. 297 der kgl. öffentlichen Biblio-
thek in Dresden lehrt, worin das Lied auf S. 152 f. (Str. 1—6
1 Einsilbig zu lesen, also: nie (= rüa).
Volkslied-Miszellen. IT. 33
auf S. 152, Str. 7-10 auf S. 153) unter der Aufschrift: 'Sol-
daten Liedlein' zu finden ist. Ich gebe hier nur die Varianten
gegenüber dem Erkschen Druck, wobei jedoch orthographische
Varianten nicht berücksichtigt sind.
1, 2 erhebt sich mancher streit; - 3 das hertz; — 5 kom; — 7 nach einß
jeden guten kauft.
2,2 alda sich; — 3 prave; — 6 dem; — 7 Soldat da erscheint.
3. 1 keinen ; — 7 seinem.
4, 1 Dann muß mancher; — 2 seinen; — 5 davon; — 7 einen andern.
5.2 Heiden; — 4 dan ; — 6 bescheren; — 7 doch fehlt; allen Ehren.
6, 2 da klagt; — 4 thue; — 5 dennoch; — 7 ein ander vberkomme baldt.
7, 1 da hebt sich klagen an; — 3 den.
8. 1 praver ; — 2 gweßen ; — 3 vorn feinde ; — 7 gnadt ihm Gott.
9. 2 theilt man auß gute beut ; — 3 manchem Soldaten das hertz ; —
5 ander krigt gelt; — 6 wie es den feit; — 7 zu fehlt.
10,2 kriegt allezeit; — 4 Gottf ürchtig ; — 5 sag ich dir frey.
5. Auf, auf ihr Hirten, nicht schlafet so lang.
Die Handschrift 980 (aus ca. 1760) der Universitätsbiblio-
thek in Innsbruck enthält von diesem Liede eine Fassung aus
Bayern, die von allen bisher bekannten Fassungen durch eine
Zusatzstrophe und auch sonst abweicht.
[43 aJ De Christo nascente.
1. Auf, auf ihr hirten, nicht schlaf fet so lang!
Die nacht ist vergangen, es scheinet die sonn.
ein kindlein klein, •)•
das unser erlöser und heyland soll sein.
2. zu Betlehem drunten geht nider der schein,
es mues ja was himlisches verborgen drunten sein.
• | ■ ein alter stall • | •
erglänzet und scheinet als wie ein Cristall.
3. ein selzame music in wolckhen erklingt,
das gloria in xcelsis ein Engl vorsingt.
• |- los nur grad zue, |-
gelt urbel, es gfalt dir, i glaub dirs. mei bue.
4. so geh nu mei Frizl und bsin di nit lang,
stich ab mei feins kizl und wag halt ein gang.
•J- buckh dich fein schön • •
und ruckh flux dein hietl, wan d'eini wüst gehn.
5. zwischen zwey thieren, den es l und rind,
do ligt ganz erstarret das liebreiche kind.
•j- 0 großer gott, -|-
ich trau mirs nicht z'sagen, ich schäm mich zu todt.
6. ein uraltejr] tattl in eisgrauen barth
den liebreichen kindlein ganz fleißig aufwarth.
• | • auf bloßer erd ■ j •
ein zartes jungfreilein den heiland verehrt.
7. o göttliches kindlein, verschmech es doch nit,
wir opfern ein lämmlein, erhör unser bitt.
•|- o gotteslamm, • ■
nimm hin unsre sinden, es ist ja dein nam.
Archiv f. 11. .Sprachen. CXV. ',)
3) Volkslied-Miszellen. II.
Die nächste Verwandtschaft zu diesem Text zeigt ein sechs-
strophiger Text aus Oberösterreich (W. Pailler, Weihnachtlieder
und Krippenspüle aus Oherösterreich und Tirol I [1881] 189 f. Nr. 180)
und der zu diesem nahe verwandte sechsstrophige aus Nieder-
österreich (A. Hof er, Weihnachtslieder aus Niederösterreich, Programm
[1890] 27 Nr. XVII). Das Verhältnis zueinander stellt folgende
Übersicht dar:
1 = 1P.,H.; — 2 = 3P.,H.; — 3 = 2 P., H.; — 4 = 4P.,H.; —
5 = 6P, H.; — 6 = 5P.,H.
Entferntere Verwandtschaft zeigen ein vierstrophiger Text aus
Niederösterreich (F. Ziska und J. M. Schottky, Österreichische Volks-
lieder mit ihren Singeweisen [1819] 44 f.; danach abgedruckt bei
J. M. Firmenich, Germaniens Völker stimmen II [1846] 800):
1 = teilweise 1 Z., F.; -- 2 = 2 Z., F.; — 4 = gröfstenteils 3
und 4 Z., F.,
und eine sechsstrophige Aufzeichnung aus dem Erzgebirge (J. Stock-
löw, Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böh-
men HI [1865] 120):
1 = teilweise 1 St.; — 2 = 4 St.; — 4 = 3 St.; — 5 12 =
5 12 St.; 5 34 = 6 34 St.; — 6 12 = 6 12 St.; — 6 :u = 5 34 St.
Bruchstücke des Liedes enthält das Weihnachtslied aus Käsmark
(Oberungarn) im Gesang des Engels (K. J. Schröer, Deutsche Weih-
nachtsspiele aus Ungern [1862] 15920—29):
1 1—3 = 159 20—23 Seh.; — 2 2—4 = 159 24—27 Seh.; —
6 12 = 159 28 f. Seh.
Durch den Anfang ist das Lied auch für eine sechsstrophige
bayerische Fassung belegt (A. Hartmann, Weihnachtlied und Weih-
nachtspiel in Oberbayern [1875] 105 Nr. 135). Auch eine füuf-
strophige bayerische Fassung ist bekannt (Hartmann-Abele, Volks-
scJiauspiele [1880] 7 f.):
1 = 1 H.-A.; — 2 = 2 H.-A.; — 4 = 5 H.-A.; —
5 12 + 6 34 = 3 H.-A.; — 6 12 = 4 12 H.-A.
6. Zu 'Heissa! lustig ohne Sorgen'.
Das Lied 'Heissa! lustig ohne Sorgen leb' ich in den Tag
hinein', dessen Verfasser Ferdinand Raimund ist (Hoffmann von F.,
Unsere volksthümlichen Lieder 3 [1869] 67 Nr. 415; 4 besorgt von
K. H. Prahl [1900] 115 Nr. 540), und das sich zuerst in dessen
< Sämm fliehe Werke', hg. von Joh. N. Vogl, IV (Wien 1837) 168 f.,
gedruckt findet, ist, wie bisher allen entgangen ist, im Elsafs als
Volkslied aufgezeichnet worden (Curt Mündel, Elsässische Volks-
lieder [1884] 280 f. Nr. 249). Das Lied stammt aus dem 'Ver-
schwender' (1. Aufzug, 6. Szene), entstand 1833 und ist eine Ver-
Volkslied-Miszellen. II. 35
herrlichung des Bedientenlebens. Ich gebe hier den Originaltext
und die Mündeischen Varianten.
[1G8] 1. Heissa! lustig ohne Sorgen Drittens kann ich prächtig singen,
Leb' ich in den Tag hinein, Meine Stimme gibt so aus:
Niemand braucht mir was zu Denn kaum laß ich sie erklingen,
borgen, Laufen's Alle gleich hinaus.
Schön ist's, ein Bedienter z'seyn. „ T,. : . . , , .
Erstens bin ich zart gewachsen, 3" Viertens ka™ icb- schrei-
Wie der schönste Mann der Welt: „ u> d u • oD'
Alle Sack' hab' ich voll Maxen J*ab .vom. Rechnen eine Spur,
Was den Mädeln so gefällt. ?Tin, el? T^chlerg seil gewesen -
6 Und ein Mann von Politur.
2. Zweitens kann ich viel er- [169] Fünftens, sechstens, sieb'ntens,
tragen, achtens
Hab' ein lampelfrommen Sinn; Fallt mir wirklich nichts mehr
Vom Verstand will ich nichts ein;
sagen, Darum muß meines Erachtens
Weil ich zu bescheiden bin! Auch das Lied zu Ende seyn!
Was das Strophen Verhältnis betrifft, ist: 1 i— 4 = IM.; -
1 5-8 = 3 M.; - 2i-4 = 4M.;-2 5-8 = 5M.; — 3 i-4
= 6 M.; — 3 5—8 = 7 M. Die dritte Strophe Mündels ist ein Ein-
schiebsel ohne Entsprechung. Die Varianten sind nicht unbe-
deutend:
1 1 Ei so lustig; — 1 4 Es ist ja schön ein Herr zu sein; — 1 5 groß
gewachsen ; — 1 6 schöner als ein Mann der Welt ; — 1 7 f. alle Sach' hab'
ich erfahren, die den Mädchen wohlgefällt; — 2 2 Mein Leben hat einen
frohen Sinn; — 2 5 f. Drittens kann ich tanzen und singen, Meine Stimme
geht mir's aus ; — 2 7 Denn fehlt ; — 2 s Schauen alle Leut' heraus ; —
3i lesen und schreiben; — 33 Dichtersg'sell ; — 3g Endlich fällt mir
nichts . . .; — 3 7 Ei so muß bei meiner Ehre; — 3 s Dieses Lied.
Das Lied hat sich im Elsafs aus einem Bedientenliede zu
einem Herrenliede entwickelt, das gleichzeitig alles spezifisch
Wienerische (vgl. besonders 1 i und 2 2) abstreifte. Interessant
ist die Umwandlung des Tischlergesellen (3 3) in einen Dichter-
gesellen, denn ersterer hat dem Volke jedenfalls nicht für einen
Herrn gepafst. In 2 6 setzt der Text aus dem Volksmunde an
die Stelle von Verständlichem einen Unsinn.
7. Kapuzinerlied aus ca. 1760.
Die Handschrift 980 der k. k. Innsbrucker Universitäts-
bibliothek enthält ein aus Bayern stammendes Kapuzinerlied aus
ca. 1760, das in derbkomischer Weise, etwa in der bekannten
Art Blumauers, das Leben der Kapuziner schildert.
j-4a-j Capucini.
1. unser leben war schon recht, 2. die kutten war uns a nit
wans no nit war gar so schlecht. z 'schwär,
auwe, wie blats ' mi, auwe, wie wans nur nit so lausig war.
blats mi. auwe (etc.).
1 bläht es mich
36
Volkslied-Miszellen. II.
8. a rauche winterkutten hab nia do,
das einer'« kaum derleiden kon.
auwe (etc.).
4. in garten mieß ma a graben
und dabey wenig z'nagen.
auwe (etc.).
5. und wan ma haben auch gra-
ben gnue,
krieg ma kam [a] bitschen2 bier
dazue.
auwe (etc.).
j4bj 6. die bitschen bier, die war
schon recht,
die kost ist halt zimla schlecht,
auwehe (etc.).
7. öpfl, birn, gersten, reis
ist fast unser täglich speis,
auwe (etc.).
8. alleweil collation,
der magen will halt a nit dran,
auwehe (etc.).
9. und dabey kein dröpfn wein,
kint den a was schlechters sein.
auwehe (etc.).
10. Der Quardian ist zimli stolz,
bständig soll ma tragen holz,
auwe (etc.).
11. wan ma holz haben tragen
gnue,
krieg ma no a bues dazue.
[auwe etc.].
12. beyn dag mieß ma schwizen,
bey der nacht auf den boden sitzen.
auwehe (etc.).
13. und kein dropfa bier dabey;
ist nit dis a lauserey?
auwe (etc.).
11. wassa trinckha no dazue,
war uns ['s] boden sitzen gnue.
auwe (etc.).
15. an brockha brod, den gibt ma
her,
freß aina offt 8 mahl mehr,
auwe (etc.).
16. drauf f soll ma schlaffen gehen,
kan ainer kaum aufn bainern stehen,
auwe (etc.).
17. es garzt3 da bauch a no damit,
er gibt die ganze nacht kain fried.
auwe (etc.).
18. da strosackh, der ist unsa
bett,
i wolt, das ['s] grad der Wunder '
b.ätt,
auwe (etc.).
19. und kein duckhnt no dabey,
da wickhla ma uns in d'kutten ein.
auwe (etc.).
20. und was das örgist no dazue,
so habma offt die nacht kein ruhe,
auweh (etc.).
21. wan d 'nacht ist in vollen
lauff,
da heissts, brüder gehts, stehts auf.
(auwe etc.).
[5a] 22. in chor da mieß ma singa.
das ma mechta daspringa.
aus wehe (etc.).
23. singa war uns a nit zschwar,
wans nu nit so trenzet5 war.
auwehe (etc.).
24. fangt ainer. a wenig früer an,
da schreit der P. Quardian.
auwehe (etc.).
25. gehts iezt, brieder, gehts nachhaus,
gott sey lob, da chor ist aus.
Auwe (etc.).
2 Hs. bischten 3 knarrt, knirscht 4 euphem. für Teufel
zusammenhängend
abgesetzt, nicht
Ein anderes Lied auf den Kapuziner, das im Gegensatze
zu unserem, welches subjektiv ist, die Glückseligkeit dieses
Standes preist, liegt aus Steiermark vor (A. Schlossar, Deutsche
Volkslieder aas Steiermark [1881] 260 Nr. 235), noch ein anderes
aus Schwaben (E. Meier, Schwäbische Volkslieder [1855] 165
Nr. 74).
Volkslied-Miszellen. II. 87
8. Der Bauer und der Knecht zur Lichtmefszeit.
Joh. Wurth teilte aus Niederösterreich ein Lied mit {Die deut-
schen Mundarten IV [1857] 528 ff.), welches das Verhältnis zwi-
schen Bauer und Knecht zur Zeit um Lichtmefs, der Wanderzeit
der Dienstboten, behandelt. Dieses und ein steirisches Lied
(R. Fischer, Oststeirisches Bauernleben [1903] S. 153 f.) stellen Aus-
läufer eines Liedes dar, das sich in der Hs. 980 der Innsbrucker
Universitätsbibliothek findet, aus ca. 1760 stammt und in Bayern
zu Hause war. In diesem Liede tritt der Knecht noch selbst-
bewuister auf wie in dem niederösterreichischen und ist auch in
seinen Drohungen durchaus nicht zurückhaltend.
[89a] 'S schlengl1 lied (Tempus mutationis servorum).
1. es kam wohl um die liechtmeß zeit,
die kriecht, die werden frisch,
ein ieder legt sein braxen2 on,
stehtn bauer fürn tisch.
2. der jüngste kund3 aus all gottsam1,
a köckha, frischa bue,
der fangt vor alle zu reden an,
sprichtn baurn aft zue.
3. 'baur, i sag dirs, zahl mi aus,
[89 h] mein lidlon mustma geben,
i schlag di sonst zum schwindaling 5,
das di d' bäurin mus aufheben.'
4. schlägst du mi zum scbwinderling,
das mi [d'j bäurin mus aufheben,
dawischtdi gwilj mein dochtaman,
der knarschtü di bis aufs leben.
5. derwischt di nu7 mein dochtamo,
der knarscht di bis aufs leben.
'bau i 2 gstuzlte8 hund dahaim,
was gilts, sie wem di heben 9.'
6. hast du 2 gstuzlte hund dahaim,
was gilts, sie wem mi heben,
han i a gutte kuglbix,
dein hunden 'n rest kan geben.
7. 'was frag i nach der kuglbix,
sie ko ma schlets nix than,
i und mei hund seind mitenand
weit fester als a bam.'
8. beürin trag ma'n geldsackh rein,
das i den narrn zahln kan aus,
er fangt sonst a unglickh an,
bringn dauerst10 nit ausn haus.
1 schlenkeln vb. — einen Dienst verlassen und einen anderen suchen 2 ver-
ächtlich für: Schwert (vgl. Schmollet-- Frommann, B. Wb. I 344) :l junge, unver-
heiratete Person ' aus allen zusammen 5 Kopf; zum schwinderling = auf den
Kopf (vgl. auch Schm.-Fr., B. Wh. II 637) 6 quetscht dich (Schm.-Fr., B. Wb.
I 1.153 s. v. knarrezen; Grimm, I>. Wb. V 1493 s. v. knorzen 1) 7 nur 8 Hunde
luit gestutztem Schweif 9 in die Höhe bringen, wegbringen 10 dennoch
88 Volkslied-Miszellen. IL
9. 'baur, dös war a anders körn,
wan [s d'] amahl von gelt was siegst!'
90 a] kundt, gib ma iezt no guette worth,
sinst, meinais ", kein kreüzer kriegst.
10. So, da hast an görgls thala 12,
konst warli schniozen13 dazue,
ist a weisser schimmel drauff,
a scheena gsteiffte14 bue.
11. 'baur, a, i ho an den nit gnue,
der filt ma 'nsöckhl nit ein,
hat gmait, i will schlets15 gelt auswerffa,
wan i den lidlon nim ain.'
12. hast gmait, du wilst schlets gelt auswerffen,
wan du den lidlon nimbst ein,
hast aba mießen bessa zur arbeith greiffen
und um a guets fleißiger sein.
13. 'hast mir offt a suppen geben,
di mi nit feindtli16 gfreüt!'
i han di offt an d'arweith gschafft,
hast a nit feindli geilt.
14. 'baur, rupf17 ma dös nit für,
dös is guet teütsch dalogen,
i ha ja troschen, gmat und gsat,
das i bin no einbogen 18.'
15. dös ist ma wohl a bazete 19,
schau, gehst do körzenkrad
[90 b] und bist so schein20 und röselet,
als wan gwest warst praelat.
16. 'bey roggabrod und hobamues
waxt warli nit vil schmer,
i bin no von natur so hibsch,
als wan i war a her.'
17. 3 mahl die wochn knödl und fleisch
han i dir gebn gnue
und mit den bösten bier angfilt
den anderhalbmaßigen krueg.
18. 'Sey dem iezund wie ihm will,
i mues amahl halt fort,
bey dir bleib i halt nimamehr,
bekhim schon a onders orth.'
19. 'bhüet nu gott, mei beürin
und habt ma nichts für übl,
schitt als guts und bös zusam
in eurn buttakibl.'
20. 'bhüet di gott, mein lippl,
und halt di nur fein schein20,
hab got alzeit vor augna,
dem bäum fleißig dien.'
21. 'bhüet di gott, mei oxenbue,
nim du die Joppen hin,
11 wohl verschrieben für mainaid n Georgstaler ,3 lächeln 14 Bursche
commo il fallt K gemein; gewöhnliche, kleine Münze 16 sehr I7 vorrupfen =
vorwerfen 18 gebückt ,9 Protziger w schön
Volkslied -Miszellen. II.
39
[9la] die droma[t] in meina kama ligt
und denckh halt a an mi.'
22. 'bhüet di gott, mei diern,
wans äfften gschechen solt,
das d'amahl zur hex solst wem,
thue mier nix, merkhsmas31 wohl.'
23. 'bhiet nu gott iezt alle sambt,
was wölts um mi vil rehren22,
i geh halt fort in gottes nam
und suech ma an andern hern.'
21 wohl: merkhdas ■=■ merke es dir, oder merlchmas = merke es mir ^ Ge-
schrei machen
9. Zu 'Weil du, o Philidor'.
Ditfurth (Deutsche Volks- und Gesellschaftslieder des 17. und
18. Jahrhunderts [1872] 19 f. Nr. 18) teilte nach einer alten Hand-
schrift ein Schäferlied auf Philidor mit, das sich auch in der
Handschrift 980 der Innsbrucker Universitätsbibliothek findet
und zwar in einer reineren, ursprünglicheren Fassung.
Slb]
In amicum minus fidelem.
1. weill du, o Philidor,
mich nunmehr verlassen,
so wandere deine straßen;
das sag ich dir bevor:
eh die Donau wird fließen
die hegst berg hinauf,
ehe du wirst ohne hießen
vollenden deinen lauf f.
52 a] 2. ist dir dan nit bekhant,
wie das actseon gefunden
zerrißen von den hunden,
nit wegen unbestandt,
mehr sein vorwizigs sehen
hat ihn so zugericht;
wie wirds dan dem erst ergehen,
der' treu und glauben bricht!
3. falt dir dan nit mehr ein,
wie du bey deinen ehren
mir öffter thättest schweren,
kein ander soll es sein.
wie bald hat sich2 verkheret
dein gestelte3 liebesbrunst!
hat länger nit gewehret
als nebl, rauch und dunst.
4. mein alzuleichter glaub,
in den ich tausend leben
vor deine treu hätt geben,
beforhte keinen raub.
du bringst mich in das leiden,
dan wie ich hör von dir,
wilst du iezt von mir scheiden,
dis fallet schmerzlich mir.
5. Versteh es zwar gar wohl,
das meine schäfferssitten
mit deines Stands meriten
ich nit vergleichen soll,
doch seinddis lehre fausen4,
dan, wo die liebe rast,
kan man aus einer clausen
bald machen ein bailast.
6. untreyes herz, gedult!
ich wills den himml klagen,
will ihm mein noth fürtragen,
villeicht find ich noch huld.
glaub mir, der donnerstrahlen
gnugsam noch gibt ab,
villeicht sie auf den fahlen,
der mir bereith das grab.
7. adieu, o Philidor,
ich gehe zu meinen schüfen,
du wirst mich nit mer äffen,
vor dir schließ ich das thor.
doch winsch ich dir von herzen
nichts, als nur glickh und heil,
wilst du uns nur ausscherzen,
so lach ich meinen theil.
1 Ms. das 2 Hs. dich 3 so beschaffene, so aussehende * so die Hb., s^ll
wohl heifsen : flau seil
Die Strophenfolge ist bis auf eine kleine Umstellung (2 = 3 D.;
— 3=2 D.) dieselbe.
40 Volkslied-Miszellen. II.
10. Die Wallfahrt der Pinzgauer.
Die zwei bisher bekannten Fassungen dieses Liedes (älterer
und jüngerer Text) finden sich in Erk-Böhme, Deutscher Lieder-
Juni III (1893) 547 ff. Nr. 1761 f., eine Literaturzusammenstel-
lung bringt Joh. Bolte, Der Bauer im deutschen Liede in Acta ger-
manica I (1890) S. 300 Nr. 210, beiden entging jedoch die Fas-
sung aus Salzburg bei M. V. Süfs, Sahburgische Volkslieder (1865)
103 ff. Nr. 3 (Melodie S. 333 f. Nr. 26), und 'Die Wallfahrt der
Binsgauer zum hl. Rock nach Trier' (Ditfurth, Die historischen
Volkslieder von der Verbannung Napoleons nach St. Helena 1815 bis
zur Gründung des Nordbundes 1866 [1872] 80 f. Nr. 56). Zwei be-
merkenswerte Varianten enthält die bayerische Hs. 980 der Inns-
brucker Universitätsbibliothek aus ca. 1760.
[25a] a) Pinzgenis.
1. Die pinzger, die wolten kirchf arten gehen,
kyri widäre steleyson!
der S. Salvator am bergl thuet stehen,
Christi widäre steleyson!
sie gangen umb d' kirchen und schrien von ehe
Juhe! Kyri widäre!
gelobt sey Christi und Salome!
2. o Sanct Salvator, du guldner mo,
kyri etc.
schau uns nur für recht guette a,
Cristi etc.
pinzga seind wir, das weist von ehe,
Juhe! etc.
gelobt etc.
3. gehts voran mit der hopfastanga',
kyri etc.
gehts gschwind, thuets den Salvator mit branga2,
Cristi etc.
opferts ein pfening und schmazts3 fein von ehe,
Juhe etc.
[gelobt etc.]
1. schickh uns kühe und schickh uns rinda,
kyri etc.
und darzue nit gar vil kinda,
Christi etc.
ein duzet ist gnue, das weist ja von eh,
Juhe etc.
gelobt etc.
5. laß unsern pflega von teüffl bald holla,
kyri etc.
so derffen wir fein khein steür mer zohla,
Christi etc.
er schindt uns gar feindla, das weist ja von eh,
Juhe etc.
gelobt etc.
1 Fahne 2 tut den Salvator damit schmücken 3 bringt einen schallenden
Laut hervor
Volkslied-Miszellen. II. 41
6. wir bitten endtlich um ein seliges endt,
kyri etc.
das keinen die höll sein hosen verbrent,
Christi etc.
in himmel ists besser, das weist ja von ehe,
Juhe etc.
gelobt etc.
[72b] b) Peregrinatio Pinzgerorum.
1. Pünsga, d' woltn khürhfahrta gehen,
khüri widiwe leison!
aufn berg, wo S. Salvator thuet stehn,
Christi etc.
Pünsga sarna, das weist schon von eh,
juhe! hedi widi weh,
globt sey Christi und Salome.
2. o S. Salvata, du güettige man,
küri etc.
gaff uns bönsga fein freindli an,
Christi etc.
Rents um die kürhn und schreits als von eh,
juhe etc.
globt etc.
3. schickh uns a waid und schickh uns hey,
khüri etc.
und nim ein ieden sein altes wei,
Christi etc.
sonst thue rnas verwirgen 2, dis sogn ma dir von eh;
juhe etc.
globt etc.
4. Schickh uns khüe und schickh uns rinda,
küri etc.
dazue fein a gesteiffta3 kinda,
Christi etc.
a duzet ist gnue, das waist schon von eh,
juhe etc.
globt sey etc.
5. unsern richta lass den teüffl nu holln,
küri etc.
so derff ma ihm kain stair nit zohln,
Christi etc.
[73 a] a schert uns ga greüli, das waist schon von eh,
juhe etc.
globt etc.
6. buema, iez mießma in stockh4 wos legen,
kiri etc.
das ma fein kain sau nit aufheben 5,
Christe etc.
so renna ma umb d' kirha und schreyn al von eh,
juhe etc.
globt etc.
1 schaue 2 erwürgen s Kinder, wie sie sein sollen 4 Opferstock 5 Gegen-
satz zu: sich eine Eine einlegen, also 'dafs wir keine Dummheit machen'
42 Volkslied-Miszellen. II.
7. buema, iezt gehts zu da kircha hinaus,
kiri etc.
und fein schnuergrad ins wirthshaus,
Christi etc.
trinckhts Salvators gsundheit fein von eh,
juhe etc.
globt etc.
8. und wans Salvators gsundheit trunckha habt,
kiri etc.
und an ieda sein kröpf vol an thanH hat,
Christi etc.
so renna ma haim und schreyen von ehe,
juhe etc.
globt etc.
6 sich vollgegessen hat, sich das Kröpflein gefüllt hat
11. Gerhards 'Spinnerin' und ihr Verhältnis
zum Volkslied.
Ein weit verbreitetes Lied (Arnim -Brentano, Des Knaben
Wunderhorn III [1808] 40 f., danach Erlach, Die Volkslieder der
Deutschen IV [1835] 152 f.; A. Kretzschmer, Deutsche Volkslieder
I [1840] 209 f. Nr. 119; K. Simrock, Die deutschen Volkslieder
[1851] 408 f. Nr. 266; G. Scherer, Jungbrunnen [1875] 298 f.
Nr. 159; Kuhländchen: J. G. Meinert, Alte deutsche Volkslieder in
der Mundart des Kuhländchens I [1817] 21 f., danach Fr. L. Mittler,
Deutsche Volkslieder2 [1865] 584 f. Nr. 834; Böhmen: A. W. von
Zuccalmaglio, Deutsche Volkslieder II [1840] 434 f. Nr. 229, da-
nach Fr. L. Mittler a. a. O. 586 f. Nr. 838, A. Hruschka und
W. Toischer, Deutsche Volkslieder aus Böhmen [1891] 206 f. Nr. 190;
Steiermark: A. Schlossar, Zeitschrift für österr. Volkskunde I [1895]
136 f. Nr. 8; Schlesien: Hoff mann von Fallersleben und E. Richter,
Schlesische Volkslieder [1842] 144 Nr. 119, danach Fr. L. Mittler
a. a. O. 586 Nr. 837; Provinz Sachsen: L. Erk, Neue Sammlung
deutscher Volkslieder, 3. Heft [1842] 46 f. Nr. 43, danach J. M.
Firmenich, Germaniens Völkerstimmen I [1846] 155 f.; Franken:
Ditfurth, Fränkische Volkslieder II [1855] 128 Nr. 171; Schwaben:
E. Meier, Schwäbische Volkslieder [1855] 151 f. Nr. 66; A. Birlinger,
Schwäbische Volkslieder [1864] 11 f. Nr. 11: Baden: A. Bender und
J. Pommer, Oberschefflenxer Volkslieder und volkstümliche Gesänge
[1902] 155 f. Nr. 136; Cleve und Berg: L. Erk und W. Irmer, Die
deutschen Volkslieder mit ihren Singweisen, 3. Heft [1839] 47 Nr. 51,
Erk-Böhme, Deutscher Liederhort II [1893] 640 Nr. 838 a; Schles-
wig-Holstein : K. Müllenhof f, Sagen, Märchen und Lieder der Herzog-
thümer Schleswig, Holstein und Lauenburg [1845] 610 Nr. 22 und
H. Pröhle, Weltliche und geistliche Lieder und Volksschauspiele [1855]
157 f. Nr. 88; Braunschweig: R. Andree, Braunschweiger Volkskunde
[1896] S. 348 f.; Siebenbürgen: F. W. Schuster, Siebenbürgisch-
sächsische Volkslieder [1865] 135 Nr. 68) ist das Spinnerlied, worin
Volkslied-Miszellen. II. 43
die Mutter ihre Tochter durch mancherlei Geschenke zum Spinnen
aufmuntern will, doch kann dieselbe nicht spinnen, weil ihr die
Finger weh tun. Endlich verspricht ihr die Mutter einen Mann,
und nun geht das Spinnen flott. Eine Variante dieses Liedes,
die uns nicht überliefert ist und etwa der schwäbischen bei Meier
entsprochen haben wird, ist die Grundlage des Gedichtes 'Die
Spinnerin' von Wilhelm Gerhard (1780—1858), der zu Wei-
mar geboren wurde, jedoch schon frühzeitig in das Königreich
Sachsen kam, so dafs wir an eine sächsische Variante denken
können. Das Gedicht findet sich in dessen Gedichte I (Leipzig
1826) S. 101 f. und hat folgenden Wortlaut:
[101] Die Spinnerin.
1. Spinn', spinne, liebes Töchter- [102] 4. Und spinn' das Fädchen glatt
lein! und rund,
Ich kaufe dir ein Kleid. Ich kauf dir einen Hut.
Von Seide, Mutter, laßt es seyn, Ja, Mütterchen, doch nicht zu bunt;
Die Kante bunt und breit! Ein gelber steht mir gut;
Ich will auch gleich beginnen, Ich war', ihn zu gewinnen,
Seht nur wie flink ich dreh. Wohl flinker als ein Reh.
Doch nein, ich kann nicht spinnen, Doch kann ich heut nicht spinnen,
Die Finger thun mir weh! Die Finger thun mir weh!
2. Spinn', liebe Tochter, spinne 5. Spinn', liebe Tochter, spinne
fein ! flink,
Ein Hemde kauf ich dir. Ein Kettiein kauf ich dir.
Das Hemde, Mutter, wird mich freun, Das Kettlein und der goldne Ring
Mit Spitzen wünsch ich's mir. Sind schöner Bräute Zier.
Doch wär's vom feinsten Linnen Wie schmeichelt ihr den Sinnen
Und weißer als der Schnee, Vom Kopf bis auf die Zeh !
Kann, Mutterchen, nicht spinnen, Erlaßt mir nur das Spinnen,
Die Finger thun mir weh! Die Finger thun mir weh!
3. Spinn, Tochter, du bekömmst 6. Spinn', Töchterchen, spinn' flink
ein Paar und fein,
Ganz nagelneue Schuh. Ich kauf dir einen Mann.
O kauft, mit Zwickeln fein und klar, Ein Mann, ey! liebes Mütterlein,
Auch Strümpfe mir dazu. Der stände mir wohl an.
Mich neiden Nachbarinnen, Er soll mich zärtlich minnen,
Wenn ich zu Tanze geh. Wenn ich mein Kädchen dreh',
Doch spinnen ? nur nicht spinnen ! Und seht ! ich kann wohl spinnen,
Die Finger thun mir weh! Thut mir kein Finger weh!
W. Gerhard behält, wenn auch etwas variiert, das 'ich kann
nicht spinnen, die Finger tun mir weh' aus dem Volksliede bei,
ebenso die Eingangszeile 'Spinn', spinn' liebe Tochter'. Im Volks-
liede wird, ebenso wie bei Gerhard, von der Mutter der Gegen-
stand genannt, den sie der Tochter kaufen will, worauf im Volks-
liede die kurze Erklärung der Tochter folgt, die Gerhard in den
Zeilen 5 und 6 weiter ausspinnt, Die in dem Gedichte genannten
Gegenstände, Avelche von der Mutter der Tochter gekauft werden
sollen, finden sich auch in den überlieferten Varianten; die Ant-
worten der Tochter sind meist abweichend. Ein vollständiges
I I Volkslied-Miszellen. II.
Verzeichnis wird dies lehren, wobei jedoch Ditfurth und Schuster,
da nur das angegeben ist, was die Mutter kauft, eine Antwort
der Tochter jedoch fehlt, und Müllenhoff, da er nur die zwei
ersten Zeilen des Liedes angibt, auszuschalten sind:
Kleid: nicht zu eng und nicht zu weit (Erk-Böhme II 640: 3; Hoff-
mann-Richter 144: 2 = Mittler 586: 2; Bender-Pommer
156: 2; Scherer 298 f.: 3).
nicht zu weit (Meier 152: 5).
es wäre Zeit (Simrock 409: 2; Erk-Irmer 3, 47: 2).
Hemd: mit dem Namen (Meier 151: 3).
Schuhe: mit Schnallen {Wunderhom III 40: 1 = Erlach IV 152: 1
Erk-Böhme II 640: 1; Kretzschmer I 210: 1; Zuccal
magho II 435: 1 = Mittler 586: 1; Meier 151: 1
Hruschka-Toischer 206 : 1 ; Simrock 408 : 1 ; Hoffmann-
Richter 144: 1 = Mittler 586: 1 ; Bender-Pommer 156: 3
Scherer 298: 1; Pröhle 157: 2).
die lasse ich ruhen (Meinert 22: 4 r = Mittler 585: 4).
tun mir kein gut (Erk 3, 47: 5 = Firmenich I 156: 5).
Pantoffeln dazu (Erk-Irmer 3, 47: 1).
Ringlein dazu (Birlinger 11: 1).
Strümpfe: mit Zwickeln (Wunderhom III 40: 2 = Erlach IV 152: 2;
Erk-Böhme II 640: 2; Kretzschmer 1210: 2; Zuccalmaglio
II 435: 2 = Mittler 586: 2; Meier 151: 2; Hruschka-
Toischer 206: 2; Scherer 298: 2; Birlinger 11: 2).
komme nicht drum (Meinert 21 : 3 = Mittler 585: 3).
Hut: tut mir nicht gut (Erk 3, 46 f.: 1 = Firmenich I 155: 1).
stünde mir gut (Schlossar I 136: 1).
Haube: tat mir taugen (Zuccalmaglio II 435: 3 = Mittler 586: 3;
Hruschka-Toischer 206: 3; Schlossar I 136: 2).
mit Florspitzen (Meier 152: 7).
Sammt darauf (Birlinger 12: 6).
Mütze: ist mir nichts nütz (Erk 3, 47: 2 = Firmenich I 155: 2;
Pröhle 157: 1).
Halsband: zur Zier (Meier 152: 8).
Rock: hab mirs gedacht (Meinert 21: 2 = Mittler 585: 2).
wird mir zu kurz (Erk 3, 47: 4 = Firmenich I 156: 4).
bin dann wie a Dock (Meier 151 f.: 4; Birlinger 11 : 3).
nicht zu kurz (Pröhle 157 f.: 3).
hab' ich zehn Schock (Andree 348: 1).
Tuch: ist mir nicht gut (Erk 3, 47: 3 = Firmenich I 155: o).
hab' ich genug (Andree 318: 2).
Schürze: ist mir was nütz (Meinert 21 : 1 = Mittler 584 f.: 1).
nicht zu kurz (Meier 152: 6).
nicht zu lang, nicht zu kurz (Bender-Pommer 156: 1; Bir-
linger 12: 4).
Mieder. Schnüre darauf (Birlinger 12: 5).
Haus: mit schönen Schindeln (Zuccalmaglio II 435: 4 = Mittler
586: 4; Hruschka-Toischer 206: 4).
Bräutigam: steht mir wohl an (Andree 349: 3).
Mann: steht mir wohl an (Wunderhorn III 40: 3 = Erlach IV
152 f.: 3; Erk-Böhme II 640: 4; Zuccalmaglio II 435: 5
= Mittler 587: 5; Hruschka-Toischer 206 f. : 5 ; Schlossar
I 137: 3; Simrock 409: 3; Erk-Irmer 3, 47: 3; Scherer
299: I; Pröhle 158: 4).
will ich haben (Meinert 22: 5 = Mittler 585: 5; Erk 3, 47: 6
= Firmenich I 156: 6).
Volkslied-Miszellen. II. 45
möcht ich gern haben (Hoffmann-Eichter 14 1 : 3 = Mittler
586: 3).
du bist recht dran (Meier 152: 9; Birlinger 12: 7).
strenge mich fleißig an (Kretzschmer I 210: 3).
der's tanzen kann (Bender- Pommer 156: 4).
Vergleichen wir mit dieser Übersicht Gerhards Gedicht, so
ergibt sich: Str. 1, das Kleid ist belegt, die Antwort der Tochter
nicht belegt; Str. 2 das Hemd ist belegt, die Antwort nicht zu
belegen; Str. 3 enthält zwei Motive: in der Frage den Schuh (be-
legt), in der Antwort die Strümpfe mit Zwickeln (belegt), Motive,
die im Volkslied in zwei Strophen auftreten; Str. 4 der Hut ist
belegt, die Antwort ebenfalls, wenn auch nicht in dieser Ausführ-
lichkeit; Str. 5 das Kettlein samt Antwort nicht belegt; Str. 6 der
Mann samt Antwort belegt. Die Gerhard vorgelegene Fassung
enthielt daher einiges, was uns nicht erhalten ist.
12. Weihnachtslied: De nativitate Domini.
In Arnim-Brentano, Des Knaben Wunderhorn IH (1808) An-
hang S. 29 f., und bei F. M. Böhme, Deutsches Kinderlied und
Kinderspiel (1897) 322 Nr. 1585 (Ingolstadt 1758), steht ein Weih-
nachtslied, das in erweiterter Fassung bei K. Simrock, Deutsche
Weihnachtslieder (1865) 131 ff. zu finden ist. Aus Oberösterreich
brachte dann W. Pailler, Weihnachtlieder und Krippenspiele aus
Oberösterreich und Tirol I (1881) 219 f. Nr. 210, eine Variante bei,
wahrend A. Schlossar, Deutsche Volkslieder aus Steiermark (1881)
88 Nr. 65, eine solche aus Steiermark und A. Hof er, Weihnachts-
lieder aus Niederösterreich (1890) 29 Nr. XX, eine solche aus Nieder-
österreich mitteilte. Nach einem fliegenden Blatte aus Graz
druckte es K. Weinhold, Weihnachtspiele und Lieder aus Süddeutsch-
land und Schlesien (1875) 401 ff. Nr. III, ab. Dieses Lied ist in
der Hs. 980 der Innsbrucker Universitätsbibliothek in einer er-
weiterten bayerischen Fassung aus ca. 1760 erhalten, die auch
dadurch interessant ist, dafs sich deren sechste Strophe, die in
den übrigen Texten, aufser in dem aus der Iglauer Sprachinsel
(J. Stibitz, Das deutsche Volkslied VI [1904] 162 f.), nicht enthalten
ist, als zweite Strophe in einem gleich beginnenden oberbayeri-
schen Liede findet (A. Hartmann und H. Abele, Volkslieder I.
Volksthümliche Weihnachtlieder [1884] 220 Nr. 135), das sonst die
Erscheinung der heiligen drei Könige behandelt; diese sechste
Strophe pafst organisch nicht recht in unser Lied und scheint
zu beweisen, dafs schon um 1760 zwei Lieder gleichen Anfanges
existierten, wovon das eine die Erscheinung der Engel (unsere
Fassungen), das andere die heil, drei Könige und ihre Aubetung
(Text Hartnianns) behandelte. Da das Lied auch sonst beachtens-
werte Varianten bietet, so möge es einen Abdruck finden.
46
Volkslied-Miszellen. IL
[83a] De pastoritia (de
1. boz hundert, liebe bue,
mein, los a wenig zue,
wa i da will verzehlen,
das heut in aller frue
ist gschehen auf der haid;
wie i d' schaff han gweid,
da kom in hui a bot hergrent,
den i mein lebta ha nit kent.
boz hundert etc.
2. Er hat a botschafft bracht,
das mir das herz hat glacht,
das unsa hergott sey,
zunagst drinna in da stodt
a klaina bue sey worn,
äff dise weit gebohrn;
droff sein ma alle hingrent
auf betlhaim, so hat ers gnent.
boz etc.
3. ma suechten überall,
in ain orth offt 2 mohl,
wies umadum ist kema,
so lag er in an stall
in aina alten pfaidt,
ist nur 3 spana braith;
a klaina bue, a großer gott
ligt in an stall, ist schier a spott.
boz etc.
4. dort ligt er afn heü,
2 thier seind a dabey;
den ochsen ken i wohl,
wais nit, was anda sey.
es ist wie a ros,
nativitate Domini).
ist aba nit so gros,
steht dorten, wo die muetta sizt
und hat 2 lange ohrn gspizt.
boz etc.
[83 h] 5. der alte zimamo,
der schaut uns alle on,
wie er den klainen kind
so herzli schein hat thon,
a hatas ja dabust,
das grad ist gwest a lust;
schafft ihms brod, ist selba mit,
ist do kain rechta votta nit.
boz etc.
6. ma sagt, es sey a fest
in himmel heüt nacht gwest;
mei bue, dös war a gspaß
und war nos alleböst,
glei wie i haim wolt gehen,
so sachi a liecht angehen,
wie a große wunderstern
oder gar ain, 2 latern.
boz etc.
7. und wars uu nit so weith,
i that dirs zaigen glei!
war i nit gwösen dort,
gar offt hatts mi schon greit.
hatt i nu eh dran denckht,
i hattn kind was gschenckht,
2 öpfl han i gschenckht mit brodt,
das kind hat glacht, es gfiell magrad.
boz hundert, lieba bue,
die höll ist iezt schon zue.
13. Volkslieder in Heyses 'Weltuntergang*.
Paul Heyses fünfaktiges Volksschauspiel 'Weltuntergang*
(erster Druck : Deutsche Dichtung, hg. von K. . E. Franzos, V
[1888/89] 81—93, 120—123, 141-146, 163—167) spielt in einer
kleinen rheinisch-westfälischen Stadt, wo die Spaltung in zwei
Lager (Katholiken und Protestanten) streng durchgeführt ist, zur
Zeit der Glaubenskämpfe (1649). Mitten in diese Gegensätze
tritt Rochus, der früher in dieser Stadt als Mediziner gewirkt
hatte, dann bei den schwedischen Reitern diente, ein, der nach
Beendigung des Dreifsigj ährigen Krieges wieder in seine Heimat
in der Uniform eines schwedischen Reiters zurückkehrt und ein
keckes Reiterliedlein vor sich hinsingt (I. Akt, 2. Szene, S. 82 b):
Und komm' ich wieder ins alte Quartier,
Feinsliebchen schaut aus dem Fenster herfür.
'Wer da?'
Ein schwedischer Reiter. —
'So reit' Er nur weiter!
Der Riegel ist fest an der Kammerthür.'
Volkslied-Miszellen. II. 47
Das Vorbild für dieses Lied ist in 'Es ritten drei Reiter zum
Tore hinaus, ade!' (F. L. Mittler, Deutsehe Volkslieder2 [1865] 604 f.
Nr. 878) zu suchen.
Ein feuriger Komet, der am Himmel sichtbar ist, erregt bei
den Leuten Besorgnis und auf Befragen eines Bauern verkündet
der gelehrte Arzt Cornelius, dafs der Jüngste Tag nahe sei, wobei
er von der Ansicht ausgeht, dafs er durch diese Verkündigung
eine Aussöhnung der beiden feindlichen Lager bewirken könne.
Nun gebärden sich, der menschlichen Natur gemäfs, einige ver-
zweifelt, während andere, darunter auch der erste Bürger, des
Lebens Lust noch auskostend, im Wirtshause trinken. Für sie
singt der erste Bürger (I. Akt, 8. Szene, S. 88 b):
'Wir haben ein Schiff mit Wein beladen,
Damit woll'n wir nach Engelland fahren — '
und trotzdem er unterbrochen und an ein christliches Ende ge-
mahnt wird, singt er ruhig weiter:
'Lafst uns fahren, fahren, fahren, fahren
Nach Engelland und in den Himmel hinein!'
Diese vier Zeilen sind bekanntlich die erste Strophe des aus dem
17. Jahrhundert stammenden Volksliedes 'Das Schiff lein' (Mittler
a. a. O. 839 Nr. 1373 Str. 1), wobei der Dichter gemäfs der
Situation in die vierte Zeile 'und in den Himmel hinein' einschob,
wodurch dieselbe metrisch zu lang wurde, daher er von der Volks-
liedzeile 'Last vns fahrn nach Engelland zu' nur, weil das übrige
schon in der dritten Zeile zu finden ist, 'nach Engelland' beibehielt.
Diese Spaltung in Nachtschwärmer, die das Leben noch aus-
kosten wollen, und in Andächtige, die Reue und Leid erwecken,
kommt auch noch später (H. Akt, 9. Szene, S. 93) zum Aus-
druck; die Nachtschwärmer singen die zweite Strophe des obigen
Volksliedes (Mittler 839 Nr. 1373 Str. 2) mit der schon bemerkten
Abweichung in der letzten Zeile und Einschiebung der zweiten
Zeile der ersten Strophe als dritte Zeile:
'Der Wein ist aus der Mafsen gut,
Er macht uns frischen, freien Mut,
Damit woll'n wir nach Engelland fahren —
Lafst uns fahren, fahren, fahren
Nach Engelland und in den Himmel hinein!' (S. 93 a),
worauf der Chor der Andächtigen erklingt:
'Ich hab' mein' Sach' auf Gott gestellt,
Der wird's wohl machen, wie'.s ihm gefällt,
Dem thu' ich mich befehlen.
Mein Leib und Seel', mein Ehr' und Gut,
Das hält er stets in seiner Hut,
Hie und im ewigen Leben.' (S. 93 a.)
Dies ist die erste Strophe eines schon im 16. Jahrhundert be-
kannten geistlichen Volksliedes (Goedeke-Tittmann, Liederbuch aus
48 Volkslied-Miszellen. IT.
dem sechzehnten Jahrhundert- [1881] 234 Nr. 29 Str. 1; Mittler
763 Nr. 1256 Str. 1). Die Trinker singen sofort darauf die vierte
Strophe (Mittler 839 Nr. 1373 Str. 4) des 'Schiffleius':
'Schenk ein, schenk ein den kühlen Wein !
Das Gütlein mufs verschlemmet sein.
Lafst uns fahren' usw. (S. 93 b),
worauf die Andächtigen mit der zweiten Strophe des geistlichen
Liedes (Goedeke - Tittmann 234 f. Nr. 29 Str. 2; Mittler 763
Nr. 1256 Str. 2) einsetzen:
'Was alle Welt verloren acht't,
Das hält Gott stets in seiner Macht,
Wenn's ihm gefällt zu wenden.
Ich geb' mich in den Willen sein,
Er führt mich als der Vater mein
Zu meinem seligen Ende.' (S. 93 b.)
Eine andere Wirkung der Prophezeiung des Doktor Cornelius
kommt in der alten, blinden Bettlerin Barbe zum Ausbruch. Ihr
Geist verwirrt sich, und sie gibt sich selbst den Tod. Als sie
mit ihrer Führerin Lisbeth über den Platz, wo der Marienbrunnen
steht, zieht, singt sie eintönig das Lied vom Jüngsten Tage vor
sich hin (IV. Akt, 1. Szene, S. 141):
1. Wenn der jüngste Tag will wer- 3. Ihr sollt treten auf die Spitzen,
den, Wo die lieben Englein sitzen.
Fallen die Sternlein auf die Erden, Ihr sollt treten auf die Bahn,
Beugen sich die Bäumelein, Unsern Herrn Jesus beten an!
Schweigen die lieben Waldvögelein. 4 Ich bin von Gott, ich willzuGott.
2. Kommt der liebe Gott gezogen Der liebe Gott hat mir ein Licht be-
Mit dem schönen Regenbogen, schert,
Spricht: Ihr Toten sollt auferstehn, Das wird mir leuchten
Sollt vor Gottes Gerichte gehn. Bis in die ewigen Himmelsfreuden.
Bruchstücke dieses Liedes kehren auch in der Beschreibung wieder,
welche Laurentia dem Doktor Cornelius vom Tode der Barbe
gibt, als man diese auf einer Bahre daherträgt (IV. Akt, 10. Szene,
o. 145 a): \yer (jber die niedere Mauer [des Friedhofs] schaut,
Sieht unten grad in den Flufs [Rhein] hinein
Und droben safs die Barbe und rief:
'Ihr sollt treten auf die Spitzen,
Wo die lieben Englein sitzen — '
Eiu Schauer mir durchs Gebeine lief.
Mutter Barbe, sagt' ich, was fällt Ihr ein?
Erst morgen kommt ja das jüngste Gericht.
Da schüttelte sie den Kopf: 'Nein, neinl
Hört Ihr denn die Posaunen nicht?
Der Himmel ist so blutig rot —
Ich bin von Gott — ich will zu Gott —
Hab gute Nacht, du arme Welt!' —
Und eh das letzte Wort verklungen,
Hatt' sie sich schon hinabgeschwungen
Kopfüber auf die Kiesel am Strand
Volkslied-Miszellen. II.
49
Auch dieses Lied ist bei Mittler 371 Nr. 474 aus Kurhessen
überliefert und entsprechen die obigen vier Strophen, wenn auch
nicht ganz genau, der ersten, zweiten, dritten und sechsten Strophe
Mittlers. Bekanntlich legte auch Cl. Brentano dieses Lied in seine
'Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen AnnerF ein
(s. R. Sprenger, Zeitschrift für den deutschen Unterricht XVI [1902]
253). Die Vorstellungen, die darin zum Ausdruck kommen, sind
uralte (vgl. G. Nölle, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache
und Literatur VI [1879] 413 ff., besonders 432—34, 441 f., 448).
14. Die Schindershochzeit.
Die Handschrift 980 der Innsbrucker Universitätsbibliothek
enthält ein bisher nicht bekanntes bayerisches Volkslied aus
ca. 1760, das in launiger Weise über die Hochzeit eines Schin-
ders zu Nürnberg berichtet.
[63 b]
Schindershochzeitlied.
1 . wo wird des Schinders hochzeit
. . , . . werden ?
schenckh frisch ein!
zu Niernberg beyn schwarzen bärn,
da wird des Schinders hozeit warn,
schenckh frisch ein !
2. wo gibt man sie zusamen?
schenckh etc.
zu Niernberg auf den branga,
da gibt man [sie zusama].
schenckh etc.
3. wer gibt sie dan zusama?
schenckh etc.
ein prasdicant in grauem har,
er ist a schelm und ist a nar.
schenckh etc.
4. was hat der schinder für hoch-
zeitleith ?
schenckh etc.
schergen, schinder und bett[l]leith
seind des schinters hochzeitleith.
schenckh etc.
5. was gibt ma ihnen für die erste
rieht?
schenckh etc.
kutteldreckh und schnepfeufleckh,
fressen d' naren alles weckh.
schenckh etc.
6. was gibt ma ihnen für die ander
rieht?
schenckh etc.
[64 a] fleh, leiss und wanzen,
da kennen d' schelmen danzen.
schenckh etc.
7. was gibt ma für die dritte rieht?
schenckh etc.
hundsköpf und oxengrind
seind für dises lumpengsind.
schenckh etc.
8. was gibt man für die vierte
rieht?
schenckh etc.
rossbeigl ', kazenschlögl
ist guet gnue für dise flegl.
schenckh etc.
9. was gibt man für die lezte rieht?
schenckh etc.
kraut für d' narn sezt man auf,
legt an gselchten fuxen drauff.
schenckh etc.
1 0. was haben sie aber zu trinckhen ?
schenckh etc.
bier, most und blemplbier2
ist der Sauköpf Malvasier.
schenckh etc.
11. So sauffns dan wies liebe vieh,
schenckh etc.
sie gBchwelln auf wie d'brozen3,
bald fressens, bald wider kozens.
schenckh etc.
1 Haufen Roftdreck 2 schlechtes Bier 3 Hände; wenn man sich dieselben
erfriert, so schwellen sie auf
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 4
50 Volkslied-Miszellen. II.
12. was gibt es für ein daflmusic? die heüt beysam wohl geigen,
schenckh etc. den zeigt man morgen die feigen4,
der Schinder nam den sauschneider [schenckh etc.]
, , , i- , , ' , [64b] 14. wan khern d' hochzeitleith
da sprach der hiessl, a sey kan nar! L J , , 9
uii „*„ , nacn naus l
schenckh etc. schenckh etc.
LS. so fangen sie an zu musi- gegn abend kimbt der schinderkarrn,
eieren. da wirfft ma drauff die volln narrn.
schenckh etc. schenckh etc.
4 man macht die Feige, damit man nicht verschrien werden kann, damit
einem kein Unglück zustöfst
15. Mörike und das Nachtwächterlied.
Ed. Mörikes Gelegenheitsgedicht 'An Gretchen' (erster Druck :
Deutsche Dichtung, hg. von K. E. Franzos, X [1891] 265), das er
am 10. Juni 1852 morgens 3 Uhr dichtete, beginnt mit den Worten :
'Wohlauf im Namen Jesu Christ!
Der helle Tag erschienen ist!'
So hört' ich um die Dämmerzeit
Den Wächter unten singen heut.
Dies ist der Anfang eines nur aus alemannischem Sprachgebiet
zu belegenden Tagansingeliedes des Nachtwächters, für welches
Jos. Wichner, Stundenrufe und Lieder der deutscfien Nachtwächter,
1897, eine grofse Anzahl von Belegen bietet (Baden: Beuren bei
Meersburg S. 31; Elsafs: Ammerschweier, Dammerkirch,
Orschweier und Westhalteu S. 66; Dorlisheim S. 67; — ■ Schweiz:
Mayenfeld in Graubünden S. 221; — Vorarlberg: Bregenz S. 161;
Dornbirn S. 165; ■ — Württemberg: Balingen S. 114; Binsdorf
S. 118; Bühl a. d. Rottenburg S. 121; Endingen S. 127; Ostdorf
S. 146). Dieses Tagansingelied kann Mörike wirklich 1852 in
Stuttgart, wo er sich damals aufhielt, gehört haben oder noch aus
einer seiner Pfarrgemeinden (Oberboihingen, Möhringeu, Köngen
am Neckar, Pflummern, Plattenhardt, Owen bei Kirchheim, El-
tingen bei Leonberg, Ochsenwang, Weilheim, Othlingen und Clever-
sulzbach) in Erinnerung gehabt haben.
16. Der Italiener.
Alfred Tobler (Das Volkslied im Appenzellerlande [1903] S. 18 ff.)
teilte einige 'Tschinggelieder' (Lieder auf die Italiener) mit, die
sich an italienische Melodien anschlielsen und das Wesen des
Deutsch sprechenden Italieners zur Anschauung bringen wollen.
Ein solches Lied aus Bayern enthält auch die Handschrift 980
der Innsbrucker Universitätsbibliothek aus ca. 1760. Darin wird
ein mit Drahtwaren hausierender Italiener und sein deutscher
Kauderwelsch zur Darstellung gebracht.
Volksüed-Miszellen. II. 51
[48b] Italus.
1 . I bin si braff kerl, bin warb kein narr,
I bring si ans welschland vil hübsch und schön wahr,
gut hacherl1, mausfall, der welschen kunst, dran
der Teutschland nit kan.
2. I bin si braff kerl, kan handwerckh wohl fein,
hab glehret 3 wochen, bis i han ergriffen;
er macht dir, last geld und ist dir schön kunst;
lehr niemand umbsunst.
3. Du hast dir daheimb beym teüffl vil meus,
sie stilt dir vil körn und frißt dir vil speil2,
gauff nur den mausfall und bsin dir nit lang;
wirst warb maus fang.
4. du thust ihr darein ein bisserl speckh,
kombt nacher der maus, macht alleweil schmeckh,
gröbl3 über, gröbl ummer, bis endli kombt drein;
nacher ist er schon dein.
5. und wan wir dein weib will teüfflbös sein,
kanst machen der fozen', in mausfall spör ein,
gib nacher zu frei] nicht, das hunger leiden thuet;
wird warb bald guet.
1 Hechel 2 Splitter, Späne 3 zu g rappeln, greifen, tasten, auch groppen
in gleicher Bedeutung (vgl. Sehinpller-Frommann, B. Wb. I 1006 und 1007) 4 fig.
für Frau (s. Schmeller-Frommann. B. Wb. I 782 s. v. fotzen 4)
17. Ein Gedicht von Fr. Kind und seine Beziehung
zum Volksliede.
Friedrich Kind hat in seiner Novelle 'Die Jägersbräute' (erster
Druck: Becker* Taschenbuch zum geselligen Vergnügen für 1811,
Leipzig [1810], S. 1 — 52) das 'Waidmannslied vom ungetreuen
Mädchen, das nach dem Junker äugelte' eingelegt. Dasselbe wird
in der Krähenhütte vom Greise zur Harfe gesungen und hat
folgenden Wortlaut:
[37] 1. Es thät ein Jäger wohl jagen
Zwei Stündelein vor dem Tagen
Einen Hirsch, einen Hasen, ein Reh.
Er jagte auf rosiger Haide
Ein Mägdlein im fliegenden Kleide,
Das wollt' er nehmen zur Eh.
2. Er zog sie mit flüchtigen Schritten.
Er zog sie zur Tannenreißhütten,
Ließ all seine Hündlein los;
Sie saßen mit stillem Verlangen,
Mit schneeweißen Armen umfangen,
Auf Klee und duftendem Moos.
3. Und als nun dahin eine Stunde,
Da bolleu die spürenden Hunde;
Es blies ein Schäfer ins Rohr.
52 Volkslied-Miszellen. II.
[38] 'Zieh hin, zieh hin mit den Schaafen,
Mein Jäger, du hast es verschlafen;
Ich bin noch Jungfrau, wie vor!'
1. Sie thät den Jäger wohl fragen,
Ob sie ein Perl-Kränzlein dürft' tragen
In ihrem schwarzbraunen Haar?
'Feines Mägdelein ! laß dir sagen,
Ein grün Hütlein mußt du tragen,
Wie andre Jägersfrau'n gar!'
5. 'So will ich meine Haare lassen fliegen,
Einen schmucken Junker zu kriegen,
Dem Jäger zu Spott und Schand!'
Das thät den Jäger verdrießen;
Er lud die Flinte zum Schieben ;
Sie starb von des Liebsten Hand.
Inhaltlich gehört dieses Gedicht zu den von Arnim und
Brentano, Des Knaben Wunderhorn I (1806) 292 f., und Büsching
und von der Hagen, Sammlung deutscher Volkslieder (1807) 134 ff.
Nr. 51, veröffentlichten Volksliedern, doch sind dieselben nicht
die Quellen, aus denen Kind schöpfte. Das Wunderhornlied ist
zu kurz, enthält daher vieles nicht. Das Lied bei Büsching und
von der Hagen enthält ebenfalls einiges wichtige nicht, so fehlt
die entsprechende Schilderung zu Kind 2 4—6 und 5 1—3. Kinds
Quelle, wohl eine mündliche Fassung, die er wahrscheinlich
irgendwo in Sachsen vernahm, stand jedoch dem Liede aus dem
Kuhlandchen (J. G. Meinert, Alte deutsehe Volkslieder in der Mund-
art des Kuhländchens I [1817] 203 f., danach F. L. Mittler, Deutsche
Volkslieder'2 [1865] 179 f. Nr. 201) sehr nahe, was die Überein-
stimmungen zeigen. So entsprechen sich ziemlich genau: 1 K. =
1, 2 M.; 2 K. = 3, 4 M.; 3 4-6 K. 5 M.; 4 K. = 8, 9 M.;
5 i—3 K. = 10 M.; 5 4-6 K. = 6 M, Ganz durch Kind hinein-
gebracht ist 3 1—3 samt den sich daraus ergebenden Schafen (3 4),
ebenso sind 2 3 und 2 6 Kindsche Ausschmückungen. 5 4— 6 K.
wurde von Kind zum Abschlufs genommen, das Volkslied kennt
diesen Schlufs nicht, denn dort will der Jäger das Mädchen er-
schiefsen, als sie ihm sagt, dafs sie noch Jungfrau ist, unterläfst
es jedoch auf ihre Bitte hin. Im Volkslied währt der Schlaf
vom Abend bis zum Morgen, bei Kind ist der Zeitraum von
einer Stunde angenommen.
18. Der Torwart.
Die Handschrift 980 der Innsbrucker Universitätsbibliothek
aus ca. 1760 enthält ein aus Bayern stammendes, sehr frisches
Lied auf den Flurwächter und Gutsaufseher, der seine alten
Tage als Torwart verbringen will. Das Lied ist sehr humorvoll
gehalten und verdient, da es bisher nicht bekannt war, einen
Abdruck.
Volkslied-Miszellen. II. 53
[23a] Officialis militaris.
1. Kent ihr nit den bluethund, drumb heist man ihn hans friderich,
wie er nicht1 turniert2, in ganzer weit bekhant.
wie er mit den steckhen, . , , „ ,..-,,
den bauern tribuliert3. °- be\m Mageren8 ist er so kockh
und steht an d' mauer on,
2. er hat a bissl pulver, statt9 offen und stuehlweißenburg
er hat a bissl a bley, dei10 reden no dervon.
ein rostigen carbiner'4, „ , , ,
kein pfanner5 ist dabey. '■ em offna h,elm als ntter
tragt er mit si herum,
[23 b] 8. er tragt an seiner seithen zerrißnes hemet und wames
deu spratspiß6 doli7 daher, verlumpet um und dum.
vors Hannibals sein Zeiten . .
und etli jähr no mehr. 8- ie^ w}1} <F si begeben
ganz gloreich m die ruhe
4. mit disen feindla meßer und kinfftig als thorwartl
schlagt er dapfer drein sein leben bringen zue.
und masacriert vil 1U00, n ' .,,,,,
das no lebendi seyn. 9- braunegg und buechhorne ,2,
che streitten umb die ehr,
5. er ist ein braffer officier, wer immer ihn bekhema thuet,
wans frid ist in dem land, hat umb ein narren mehr.
1 liier keine Verneinung, sondern, dem bayerischen Dialekt gemäfs, etwas
Fragendes ausdrückend 2 lärmt 3 neckt, sekiert 4 Karabiner 5 Pulverpfanne
6 für pratepieß = Säbel (verächtlich) 7 zum Verwundern schön 8 belagern 9 Stadt
10 dö — die " Brauneck, eine Einöde der Pfarre Harsdorf im Bezirksamt Kulm-
bach, Oberfranken ,2 vielleicht Buchschorn, ein Weiler der Pfarre Hokenpeifsen-
berg im Bezirksamt Schongau, Oberbayern
19. Die drei Röslein in Linggs 'Marodeure'.
Die Ballade 'Die Marodeure' von Hermann Lingg (erster
Druck: Deutsche Dichtung, hg. von K. E. Franzos, IX [1891] 162),
im Ton eines echten Landsknechtliedes, worin vier Landsknechte,
anstatt an der Schlacht teilzunehmen, sich mit Tanz unterhalten,
wofür sie gehangt werden, spricht in der dritten Strophe:
Die Knöchel, Krug' und Karten
Sind aller Landsknecht' Not,
Drei Röslein rot
Blühn drunten in dem Garten,
Dahinter steht der Tod —
von drei Röslein, hinter denen der Tod lauert. Die Röslein sym-
bolisieren die lebenslustigen Landsknechte. Der Dichter hat über-
sehen, dafs eigentlich vier Röslein entsprechend den vier Lands-
knechten nötig gewesen waren, doch hat er, da das Volk die
ungeraden Zahlen besonders liebt (O. Weise, Zeitschrift für hoch-
deutsche Mundarten I [1900] 34 f.), die Dreizahl beibehalten. Das
Motiv der drei Röslein hat er aus dem Volkslied entlehnt (vgl.
M. E. Marriage, Alemannia XXVI [1898] 11 i und 117).
54 Volkslied-Mißzellen. II.
20. Das Fest der Schneider.
Von den Schneidern, die einen Schmaus halten und dabei
echt schneidermiifsige Heldentaten verrichten, berichten eine grofse
Anzahl von Liedern (vgl. die Literaturzusammenstellung bei Köhler-
Meier, Volkslieder von der Mosel und Saar I [1896] 453 Nr. 331).
Eine bemerkenswerte bayerische Variante, die der leider bei Erk-
Böhme, Deutscher Liederhort III (1894) 450, nicht vollständig mit-
geteilten Berliner Fassung aus 1855 sehr nahe zu stehen scheint,
bietet die Handschrift 980 der Innsbrucker Universitätsbiblio-
thek aus ca. 1760.
[4Pa] Festuin sartorum.
1. Die Schneider fügeten ein dinzltag1,
S. Florian mit nam
und körnen nein und neinzig
neinmahl nein und neinzig
der schneiderböckh zusam.
2. und als sie nun beysamen waren,
da hieltens einen schmaus
und assen nein und neinzig
neinmahl nein und neinzig
zusam ein braten laus.
3. und als sie dis geessen hatten,
so hattens no nit gnue
und frassen nein und neinzig
neinmahl nein und neinzig
ein mugenfuei} darzue.
!. und als sie schon ersöttiget waren,
da warens voller mueth
und trankhen nein und neinzig
neinmahl nein und neinzig
aus einen fingerhuet.
5. und da sie gnue gesoffen hatten,
da stig der wein in köpf
und danzten nein und neinzig
neinmahl nein und neinzig
auf einen glessern knöpf.
6. und als sie ausgedanzet hatten,
da warens voller hiz
und hupfen nein und neinzig
neinmahl nein und neinzig
auf einen nadlspiz.
[46 b] 7. und als sie dort geschlaffen hatten,
da kam ein sießer wind
und bliese nein und neinzig
neinmahl nein und neinzig
[in] ein spinengweb dahint.
1 Tag der feierlichen Zusammenkunft der Genossenschaft
Volkslied-Miszellen. II.
55
'2 erdrückt
und als sie dran gehangen waren,
hätts bald ein spinne verschluckht,
wan nit all nein und neinzig
neinmahl nein und neinzig
ein fliegen hätt verdruckht 2.
Gegenüber allen übrigen Fassungen bieten die Strophen 3,
5, 7 und 8 Neues.
21. Henneke Knecht.
Von diesem niederdeutschen Liede des 16. Jahrhunderts sind
bisher zwei Übersetzungen ins Lateinische bekannt geworden.
Eine steht bei Dan. Eberh. Baringius in dessen Descriptio Salae
principatus Calenbergici, Lemgo 1744, II p. 155 — 157 (danach ab-
gedruckt bei O. L. B. Wolff, Sammlung historischer Volkslieder und
Gedichte der Deutschen [1830] 767 ff.), die andere aus 1646 bei
Hoffmann von Fallersleben, Henneke Knecht. Ein altes niederdeut-
sches Volkslied, Berlin 1872. Eine dritte lateinische Übersetzung
aus 1679 erwähnt F. M. Böhme, Altdeutsches Liederbuch (1877)
S. 580. Dazu kommt noch eine vierte aus 1603, welche die
Handschrift M. 297 der kgl. öffentlichen Bibliothek in Dresden
aufbewahrt, und die einiger Abweichungen wegen hier abgedruckt
werden mag.
[202]
1. Henninge, serve! si voles
Mercede prisca servies
Messern per hanc aestivam.
Novos tibi do caleeos
bene scis movere stivam.
Cantion. de Henning.
[203] 6. Bremam sed intrans inelytam
compellat hisce navitam:
mi navium magister,
tuos fac inter remiges
ad transita sim minister.
2. Henningus inquit: ilico
Servire nolo villico,
Res sperno villicorum.
Maris petam fluetus, opum
Spe nempe largiorum.
3. Hera mox ad hanc sententiam :
miror tuam dementiam
tum nauta navigabis?
Agrum ligone citius
stivaque praeparabis.
4. Henningus ipsi neutiquain
Parens, avenae copiaivi
Arcu statim mutabat;
Curtasque vestes militum
de more comparabat.
5. Arcu premente pendulo
Tergum, pharetram cingulo
Costis adhaerit ensem,
et cursitans illoc et hoc
Vrbem petit Bremensem.
7. Respondet ille: remigem
temet libens conducerem,
Nisi rudern meorum
Te proderet vox rusticum
Et inscium laborum.
8. Novi, refert, per Herculem,
Me promptiorem neminem
Quamvis ad actionem
Et aequo mentis robore
Et corporis Draconem.
9. Sed navigans in aequore
Fugacis instar capreae
Obmutuit repente,
Multum voluta[n]s pectore
Mortis metu tremente.
10. Se fuleiens ad marginem
Erructat farraginem,
Ab ore brachialem
Hera, quae monebat exitum
Habere cerno talem.
56 Volkslied-Miszellen. II.
[204]
11. Cucurrit ales, flat notus 18. Ah! me quis hoc nunc ex salo
Trox, aeris furit Status Brunsvigio reddet solo?
Ferociuntque fluctus habebit, indc dignum
Ait, mihi, stivae magis Satus avenae premium,
pareret, hisce ductus. Et cum fabis medimnum.
12. Ah, nie quis hunc ad Nobiles 14. En! hujus autor cantici
Modo reducet Saxones Eduxit Henningum Mari,
Dyistrum inter atque Lainum, Nee iendibus periret,
Quo surgit inelyti Ducis Sed hoc ut elatos malo
Arx celsa Lawenstainum. Edoctus erudiret.
7 3 rutem Hs. — 7 6 Hs. laborem. — 8 4 Hs. ad aequo. — 14 3 Hs.
lentibus.
Die 15. Strophe ist auch plattdeutsch in folgender Gestalt
gegeben :
De Vnij düt ledeken hefft erdacht,
Hatt Heunecken van der See gebracht,
Dat ehne de lüse niht freten,
sundern he warnet alle gute gesellen,
datt sy nicht sindt vermeten.
22. Zwei Bauernlieder.
In der Handschrift 980 der Innsbrucker Universitätsbiblio-
thek aus ca. 1760 finden sich zwei bayerische Liedchen, wovon
das eine von einem lustigen Bauernsohn, das zweite von einem
Bauern, der ein Herr werden will, und seiner Frau handelt. Das
erste, ganz im Metrum und Ton dem Schnaderhüpfel gleich,
kann auch als Beleg für das Alter dieser Volksliedgattung gelten,
dessen ältestes auf den Grafen Paar aus 1600 (s. J. Zahn, Steier-
märkische Geschichtsblätter IV [1883] 56; H. Grasberger, Die Natur-
geschichte des Schnader hüpf eis [1896] S. 25 f.), dessen zweitältestes
aus Appenzell 1754 (T. Tobler, Die deutschen Mundarten IV [1857]
379) überliefert ist.
f64b] a) Filius rustici.
1. unter mein huet 'S. und wan ma mei mutta
stekht aller mein mueth. halt wida so thuet,
2. frey di, mein mutter, 4. so wird i a tragona
i thue dir kain guett. und thue halt [a] guet.
[45b] b) Rusticus et mulier.
1. Rusticus: 3. Rusticus:
i mues no wem zum gstrengn hern, offtn ge i mit kain bauerbuben,
i mag kain baur bleiben. i friß weda kraut no rueben.
2. Mulier: 4. Mulier:
will kain hern, i ma1 kan hern, jacet.
a baur must ma bleiben.
1 mag
Volkslied-Miszellen. II. 57
23. 'Die Försterin und das Rotkehlchen' von F. Dahn.
Die Vögel sind im deutschen Volksliede oft allwissend, be-
sonders verkünden sie Todesfälle und Mordtaten (vgl. M. E. Mar-
riage, Alemannia XXVI [1898] 166—168, 173). Dieses Motiv
verwendet Felix Dahn in seinem Gedichte: Die Försterin und
das Rotkehlchen (Sämtliche Werke poetischen Inhalts XVI [Leipzig
1898] 109 f.). Die Försterin fragt das wegfliegende Rotkehlchen,
ob es sich an einem Dorn ritzte, da es mit Blut bespritzt ist:
[109] 3. 'Mich hat kein Dorn geritzt! 4. 'Mein Nest, das bau ich nit!
Bin ich mit Blut bespritzt, Ich flieg zum Bühl damit,
So ist's von Menschenblut: — Dafs ich dem blassen Mann
Först'rin, du kennst es gut.' — Sein Auge decken kann.' —
'Trägst du zum Neste dein 'Liegt Einer am Bühl erschlagen?
Die Blätter im Schnäbelein?' Wer schlug ihn, kannst du's sagen?'
[HO] 5. 'Horch, ob ich's sagen kann:
Erschlagen liegt dein Mann,
Er liegt im Blute rot
Und dein Buhle schlug ihn tot.' —
'Schweig' still! — Flieg' fort, Botkehlchen !
War' ich rein wie du, Liebseelchen !'
24. Zu 'Du Glöckerl im Thurm'.
R. H. Greinz und J. A. Kapferer [Tiroler Volkslieder [1889]
188 f.) bringen ein Volkslied mit diesem Anfange, das sich, seines
ganzen Inhaltes wegen, als ein volkstümliches Lied erweist, und
tatsächlich ist dessen Verfasser J. Kart seh (Feldbleameln [Ge-
dichte in österreichischer Mtindart], Zweiter Buscb/n, Wien 1847,
S. 44 f.). Auch F. F. Kohl (Echte Tiroler-Lieder [1899] S. XIX)
erwähnt dieses Lied für Tirol. Ich gebe hier den Originaltext
und die Tiroler Varianten.
[44] 's Hoamathglöckerl.
1. Du Glöckerl aum Thurn 5. Oft sägst ma: Hiazt san
Bist a Ding ohni Herz, Wied'r glückli a Paar!
Kannst a'n oanzigi Sprach, So schwör'n sih dooTreu, so
Für d' Freud und für'n Schmerz. Läng s' leb'n bein Altar.
2. Kannst nix als zwoa Tön [45] 6. Oft mahnst mi, dass alias
Und mit dö sägst so viel, Auf der Welt vageht;
Als hast in dein Züngerl Daß wied'r a Nächb'r
A Herz und a G'fühl. Bein Leb'nspförtl steht.
3. Oft klingst ma so liab 7. Oft singst oan, der d'rin liegt
Und so hell und so fein In hölzana Schrein.
Als ruafad'n d'Engerln: Wia d'Muada ihr Kindl
In d' Kirch'n geh 'nein ! Zun letzt'nmäl ein.
4. Oft schallst ma voll Trost, H. Für den, den's 'd da einsingst,
Wann mein Tagwerch vollbracht; Für den schallst gär schön;
Als wünscha's 'd ma herzli Ab'r trauri für dö,
A ruahsämi Nacht. Dö nach müaß'n gehn. —
58 Volkslied-Mi szellen. II.
o 0. D'rum kummst ma-r oft für, 10. Als müaßt' as dein Nächb'rn
Als wanns'd Herz hast und G'fühl, 'n Himml AU's säg'n;
Als müaßas'd ob'n los'n Als müafjas'd mit uns herunt,
Aum Thurn in da Still; Lach'n — und kläg'n. —
Zunächst hat das Tirolerlied die Strophen 7 ff. als zu reflexiv
mit richtigem Gefühl ausgelassen. Die übrigen Abweichungen
sind gering:
1 l im ; — 2 2 du viel ; — 2 3 hätt'st ; — 2 3 dei'm ; — 3 4 geh' ein ; —
5 2. 3 Treu' für's Leben . . . ; — 6 2 auf Erden.
Besonders hervorzuheben ist nur noch, dafs eine Strophe des
Tirolerliedes aus je zwei des Originaltextes besteht, also IG. =
1, 2 K.; 2 G. = 3, 4 K.; 3 G. = 5, 6 K.
25. Zu 'Wer immer annehmliche Freuden will genießen'.
Ditfurth {Deutsche, Volks- und Gesellschaftslieder des 17. und
18. Jahrhunderts [1872] 194 f. Nr. 157) bewahrt uns nach einer
alten Handschrift ein Lied obigen Anfanges, das er auch nach
mündlicher Überlieferung des 19. Jahrhunderts in Fränkische Volks-
lieder II (1855) 218 f. Nr. 286 in einer vielfach abweichenden
Fassung mitteilen konnte. Eine ebenfalls ziemlich abweichende
bayerische Fassung aus ca. 1760 steht in der Handschrift 980
der Innsbrucker Universitätsbibliothek.
[II1'] Deliciae venatoriae.
1. Wer immer will freiden genießen,
verfiege sieb eilends in wald
und falle Dianae zu füeßen,
ergebe sich ihren gewalt.
sie wird ihn ergezen mit jagen und hezen
in ihren grien sameten saal,
wo allerhand thierlein, füx, hasen und rehlein,
anstellen ein lustigen baal.
2. Kaum fanget mit güldenen strahlen
an Phoebus, nachdem er erwacht,
die gipfl der berg zu bemahlen,
zum jagen wird anstalt gemacht.
der Jäger blasts hörn, die hund spizen d' ohrn,
gschwind wie der wind lauffen sie trauf,
bis das sie erdappen, ein wildbret erschnappen
und fangen in völligen lauff.
:'•. nit minder die andere Jäger,
versechen mit pulver und bley,
erwarthen auf ihren grien läger,
bis flieget ein thierlein vorbey.
der feyrrohr knallet, das wildpret schon fallet,
weils frisch ist, da weid man es aus;
wer aber so troffen, das es durch geloffen,
den mächen die schizen ein blaus '.
1 vom frz. applaudir 'Beifall klatschen', aber im Bayerischen im verspottenden
Sinne, also verspottendes loben, lachen, klatschen, spöttischer Beifall
Volkslied-Miszellen. II. 59
-1. wan gehet zu gaden2 die Sonne
und Hesperus ziechet auf d' wacht,
bey einen ciystallenen bronen
die jägerbursch3 lustig sich macht.
[12 ;l] da klingen die lauten, waldhorn und flauten,
Diana fiert selbsten den Chor,
man pfeiffet, man singet, man danzet, man springet,
bis Phoebus zuschließet das thor.
2 zu mhd. gaden 'Gemach, Kammer'; gehet zu gaden = zieht sich in ihr
Gemach zurück, geht unter 3 die bursch sing, im Bayer, die Bezeichnung für die
Gesamtheit der Burschen, daher die jägerbursch = die Jägerburschen
26. I häb amähl a Ringerl kriagt.
Als Verfasser dieses Liedes hat John Meier {Kunstlieder be-
kannter Verfasser im, Yolksmunde [1898] Nr. 413) den bekannten
Dialektdichter Anton Freiherrn von Klesheim nachgewiesen. Als
ersten Druck gibt Meier ''s Schwarxblatl aus'n Weanerwald 4 1
(Wien 1858) 106 V an, doch findet sich das Gedicht schon in
's Schwarxblatl aus'n Weanäwald I (Wien 1844) S. 62. K. H. Prahl
(Hoffmann von Fallerslebeu, Unsere volkstümlichen Lieder, 4 besorgt
von K. H. Prahl [1900] 146 Nr. 686) zitiert die dritte Ausgabe
des Schwarzblatls von 1856. Aufzeichnungen aus dem Volks-
munde liegen vor aus Tirol (Greinz-Kapferer, Tiroler Volkslieder I
[1889] 45 f.; erwähnt bei F. F. Kohl, Echte Tirolerlieder [1899]
S. XX) und aus der badischen Pfalz (M. E. Marriage, Volkslieder
aus der badischen PfaU [1902] 132 f. Nr. 85). Dazu kommt eine
Fassung aus Niederösterreich, die mein Freund R. Zoder dem
geschriebenen Liederbuche der Marie Labner zu Kirchberg an
der Pielach (Bh. St. Polten, Bg. Kirchberg a. d. Pielach) 1900 ent-
nahm und mir freundlichst überliefs. Hier der Text:
Eingerl und Rose.
1. I hab amal a Eingerl kriagt 3. Es war halt no koan Jahr vorbei",
von meiner herzliaben Dirn, wars Eesal nimma roth
I hab ihr drauf a Kösal gebm, Und's Dirndl, was mein anzigs war,
so wia's im Frühjahr blühn '. wohnt drobm beim liabm Gott.
2. Sie hat das RösaJ voller 4. Bevor's gstorben is, hats na
Freud gsogt zu mir:
in ihr Gebetbuch glegt l leh, woa-n dir [d'] Augen not aus,
Und i hab mir das Eingerl gleich Wir werden uns bald wiedersehn,
an meinen Finga gsteekt. da drobm im Vatershaus.
5. Und kommst du einst in- Himmelreich,
an den Eing erkenn ich dich
und an den Röserl an mein3 Herz.
an den erkennst du mich.
1 für dial. fruäjatar blian 2 dial. va bei 3 H*. dein
60
VblksHed-Miszellen. II.
[62]
Zum Vergleich setze ich den Originaltext Kiesheims bei:
Ringerl und Röserl.
1. I hab ämahl ä Ringerl kriägt
Von meiner Herzens-Dirn,
Und i hab ihr ä Röserl gebn,
Wiä's halt in Summer blüak'u.
2. Si hat das Röserl voller
Freud
In ihr Bethbüächerl glegt,
Und i, i hab das Ringerl mir
An mein klän Finger g'steckt.
3. Drauf häm mir uns gar zärtli
küßt
Und das Väsprechn gebn,
Das mir uns herzli liäb'n woll'n
Durch's ganzi Erdnlebn.
Das Verhältnis der Aufzeichnungen aus dem Volksmunde
zum Original stellt sich folgendermafsen dar:
1 = 1 GK, M., B.; - 2 = 2B.;-3 = 2 GK., M.; —
4 = 3 GK., M., B.; — 5 = 4 GK., M. (mit guter Änderung von
Z. 2), B.; - 6 = 5 GK. (mit guter Änderung von Z. 3), M., B.
4 . 's war no not ganz ä Jahr väbey,
War's Röserl nimmer roth,
Und's Deänderl dö mei All's is gwest,
War obn beyn liäb'n Got!
5. Und eh's no g'storbn is hat's
gsagt :
'Geh wan dir d'Augn not aus,
Mir wer'n uns ja bald widersegn,
Dort obn in Vaterhaus!
6. Und kumst Du h'nauf in's
Himmelreich,
An'n Ring erkenn i Di,
Und an dein Röserl an mein Herz,
An den erkennst Du mü'
27. Zu 'Warumb thustu mich kräncken, Amor'.
Das 'Venusgärtlein' aus 1656 enthält auf S. 164 ff. (Neu-
ausgabe von M. Freiherrn von Waldberg [1890] 122 f.) dieses Lied
in einer an manchen Stellen ziemlich verderbten Fassung. Das Lied
selbst kann Waldberg (a. a. O. XXXIII Nr. 81) nicht weiter nach-
weisen. Eine altere und bessere Fassung aus 1603 findet sich in
der Handschrift M. 297 der kgl. öffentl. Bibliothek in Dresden
und gelangt dieselbe hier, strophisch gegliedert, zum Abdruck,
wobei das Abweichende durch Kursivdruck hervorgehoben ist.
[67]
1. Warumbthustdumichkrencken,
Amor, du schwere last?
was thustu doch gedencken,
dass du mich also hast
mit solcher schmertx vnd Pein
verwundt das hertze mein !
was wil man dir doch schencken
zu dem Siege dein.
2. Weinig wirstu gewinnen,
das ich meine junge tag
in trauren muG zubringen
in so schmertzlicher klag,
in solcher tyranney
der schmertzen rnaugerley;
mein kindt, sey doch zufiieden,
das ich Dein Diener sey.
3. Hettstu mich gelaßen
Marti, dem Krieges Gott,
ihm zu dienen ohne ablaßen,
wehr ich nicht in dem spott
gerathen, wie ich bin;
ach, ihr mein betrübte sin,
wall hat euch doch betöhret?
mein freudt ist gantz dahin !
[68] 4. Ach, ach, es ist geweßen,
ach, ach, ich weiß es woll,
ein Mägdlein außerleßen,
die mir gefiel so woll,
so hüpsch vnd so lieblich,
xu schertxen so freundlich;
Galliarda vber die maßen
tantxt sie, dran verlibt ich mich.
Volkslied-Mizellen. II.
61
5. Gleich wie die fische im mehr
praesentiren ihre £ estalt
an einem felßen scharfe;
alßdan so fliegen sie baldt,
wen dan der fischer kompt,
ihr gestaldt alda vernirnbt,
thut er das netz zerreißen,
in stücken es dahin schwimbt.
6. Also ist auch zerrißen
das netz der hoffnung mein ;
alß ich thett erst anschauen
die hoff liehe Schönheit dein,
meint ich zu fangen dich,
betrog aber selber mich,
etwas vom Spiegel zu greif fen;
wie sehr man irret sich!
[69] 7. Aber wie den dem Allen,
ob ich schon habe fallirt
vnd es hat nicht (hat) sein sollen,
nach dem, wie ich petirt,
so bitte ich nur allein,
du wolst zufrieden sein,
daß ich dir möchte dienen
nach günstigen willen dein.
8. Hier mit wirdt gtentiret
mein hochbetrübtes hertz
vnd auch recompensiret
der langwirige schmertz,
den ich so manches Jahr
an deiner lieb fürwar
Vnschuldig hab erlitten,
erduldet gantz vnd gar.
9. Sollestu aber zürnen,
das ich so liebe dich
vnd mich darüber erwürgen,
ach mein, was hulff es mich !
der verlust, der were zwar klein,
doch würdt es so viel sein,
verlohren icürdestu haben
den getreuesten Diener dein.
Dem Venusgärtlein gegenüber ergeben sich Besserungen in
1 5, (i und 9 e; der Reim wird hergestellt in 2 2 und 3 3; die
Strophen 4 und 5 bieten eine klarere Fassung, wahrend Strophe 6
und 9 4 im Venusgärtlein besser sind.
28. Ein Volkslied in Heyses 'Jungfer Justine'.
Paul Heyses vieraktiges Schauspiel 'Jungfer Justine' (erster
Druck: Deutscfie Dichtung, hg. von K. E. Franzos, XIV [1893]
9—13, 41—48, 64-72, 88—94) spielt zur Zeit des Siebenjäh-
rigen Krieges, im Oktober 1758, teils in Dresden, teils im Lager
bei Hochkirch. Im dritten Akt, der in Friedrichs Hauptquartier
zu Rodewitz sich abwickelt, singt einer der jungen Grenadiere,
welche zu Friedrichs Leibwache gehören, zeitig in der Frühe,
nachdem er vom Schlafe erwacht und längere Zeit ins Feuer ge-
starrt hatte, mit heiserer Stimme:
Morgen früh müssen wir marschieren
Zu dem hohen Thor hinaus.
O du schwarzbraunes — (III. Akt, 1. Sz., S. t}üb),
wird jedoch vom Unteroffizier unterbrochen, der ihm befiehlt,
still zu sein. Dieses Lied scheint Heyse F. L. Mittler, Deutsche
Volkslieder} (1865) 895 Nr. 1454, entnommen zu haben, wo es
nach mündlicher Überlieferung aus Hessen mitgeteilt ist.
29. Weicht ihr Nachtgespenster.
Die Handschrift 980 der Iuusbrucker Universitätsbibliothek
aus ca. 1760 enthält auch folgendes, mir bis jetzt noch nicht
untergekommene bayerische Lied:
62 Volkslied-Miszellen. II.
[101 a] [Htlb]
1. weicht ihr nachtgespenster, 2. geh ich auf und nider, nider
stölirt mich nit in meiner rueh. mit der pfeifen in der handt,
dorten an den fenster, fernster denckh ich halt gleich wider, wider
schauet mir mein sehäzgen zue. an das gelobte landt,
und ihr helle sterne, alwo nichts als freuden,
die ihr leuchtet bey der nacht, ja die allergröste lust,
gebet dan von ferne, ferne, ferne, so uns allen beyden, beyden,
ferne auf mein sehäzgen acht. beyden ist gar wohl bewust.
3. guete nacht, mein sehäzgen, sehäzgen,
weils die zeit nit lasset zue,
das [ich] auf mein pläzgen, pläzgen
mit dir reden thue;
schlafe ohne sorgen,
dan was heunt nit kan sein,
werd ich ja gleich morgen, morgen,
morgen doppelt bringen ein.
30. Grillparzer und das deutsche Volkslied.
Grillparzer ist in allem ein echtes Wienerkind, ein Abbild
des Wieners, der sich an allem und jedem seinen Schnabel wetzen
mufs und zwar besonders an Neuerungen, die sein konservativer
Sinn nicht verträgt und nicht begreifen will. Nicht treffender
hätte Grillparzer sich und die echten Wiener zeichnen können
als mit den Worten: 'Da mufs ich nun vor allem einen Fehler
eingestehen, der mir im Leben viel Schaden getan hat: Etwas
Einsames in meiner Natur und ein Widerwillen gegen alles Öffent-
liche und Gemeinsame, letzteres um so mehr, als ich selten mit
der Menge und den Vielen übereinstimme' (Sämtliche Werke, hg.
von A. Sauer, 5. Ausgabe, Stuttgart [1892], XVIII 75). Daraus
wird uns auch sein Hals gegen die erst durch die Romantiker
aufgekommene germanische Philologie und alles damit Zusammen-
hängende klar, denn er, der in den Gefilden der griechischen und
spanischen Dichter und Denker wandelt, dem die deutsche Klassi-
zität (Goethe und Schiller) das Höchste ist, kann nicht begreifen,
wie man sich den 'faden' mittelhochdeutschen Dichtungen und
den Volksliedern, die ihm, von seinem klassischen Standpunkte
aus, freilich nichts bieten konnten, aber doch auf so viele unserer
grofsen Dichter (Unland, Heine, Eichendorff und andere) befruch-
tend wirkten, zuwenden kann. Er verstand als Städter nicht den
Wert des Volksliedes, er begriff von seinem klassischen Stand-
punkt aus, im Gegensatz zu Goethe, der hier doch seine Stürmer-
und Drängerschaft nicht verleugnen kann, dessen Wesen nicht,
und so verlegte er sich als echter Wiener aufs Schimpfen, ohne
jedoch die Sache totschimpfen zu können, denn mehr als je er-
kannte und erkennt man das Volkslied als Macht. Ihm gilt die
Volkspoesie nichts, und so konnte er 1852 sagen:
Volkslied-Miszellen. II. 63
Die Volkspoesie, die eu're Jünger
Lobpreisen mit soviel Emphatik,
Stellt gleich mir mit der Volksmathematik,
Die eben nichts als die zehn Finger. (A. a. O. III 5 183.)
Deutlich ergibt sich aus den letzten Zeilen, dafs er das Wesen
der Volkspoesie nicht erfafste, und so konnte auch von ihm jener
verhängnisvolle Irrtum, der übrigens auch heute noch nicht ganz
aus der Welt geschafft ist und noch immer spukt, dafs das Volk
im ganzen der geistige Urheber der Volkslieder sei, nicht um-
gangen werden, und höhnisch ruft er 1853:
Wenn unsere Zeit keine Dichter zählt,
Vermag das nicht uns einzuschüchtern;
Damit es nie an Poeten fehlt,
Erheben wir das Volk zu Dichtern. (III 5 186.)
Nicht das Volk im ganzen dichtet, sondern immer nur ein ein-
zelnes Individuum, und erst der Erfolg eines Liedes macht es
zum Volkslied, an dem dann das Volk seine glättende und um-
arbeitende Tätigkeit versucht.
Er selbst gesteht es ja 1849 ein, dafs er sich nie vom Volks-
lied angezogen fühlte (a. a. O. XVIII5 161), doch auch bei ihm
kommt zeitweilig, so 1846, der Gedanke zum Durchbruch, dafs
das Volkslied nicht so verächtlich sei, sondern dafs es an seinem
Platze entzückt und erfreut, nur dürfe es von dort nicht ver-
pflanzt werden: 'Volkslieder sind wie die Wiesenblumen, die,
wenn man sie im Felde ohne Pflege und Kultur aufgewachsen
antrifft, erfreuen, ja entzücken; in den Gärten, zwischen Rosen,
Nelken und Lilien versetzt, sind sie nicht viel besser als Unkraut'
(XVIII0 36). Doch kann dem Nachsatze entgegengehalten wer-
den, dafs es auch wahre Perlen von Volksliedern gibt, die ruhig
in die Gärten verpflanzt werden können, und dafs gerade jene
Lieder, die auf Volksliedern aufgebaut sind, grofse Wirkungen
erzielten, was besonders von der Heineschen Lyrik gilt. Gerade
jenem Manne, der so viel dem Volkslied in seiner Dichtung ver-
dankt, dem Begründer der wissenschaftlichen Volksliedforschung,
Ludwig Uhland, wirft Grillparzer seine Volksliedersammlung
1837 mit den Worten vor:
Was führst du selber Mörtel und Sand,
Zu höhern Werken berufen und schönem?
Wer bauen kann, bau' auf eig'ne Hand
Und lasse den Karren den Tagelöhnern. (III5 116),
vergessend, dafs gerade die Beschäftigung mit dem Volkslieds
Unlands beste Gedichte hervorrief. Dafs man sich mit dem
Volksliede beschäftigt, daran ist nur die germanische Philologie
schuld, welche die poetische Begabung für überflüssig erachtet
und das Volk zu Dichtern macht, wie Grillparzer das ca. 1860
anläfslich der Besprechung der germanischen Philologie und Alter-
64 Volksliod-Miszellen. IT.
tuinskunde ausdrückt: 'Die Volkslieder, die niemand gemacht
hatte, wurden der rohen Masse in die Schuhe geschoben, und man
bedurfte von nun an nur das Volk und ein paar Pedanten, um
jede poetische Begabung überflüssig zu machen' (XVI 5 25). Noch
einmal wendet er sich, veranlafst durch Karajans Funde, ca. 1853 (?),
gegen die germanistischen Studien der Brüder Grimm und deren
Mitarbeiter, wenn er zu Sachsengang im Marchfelde ein Perga-
mentblatt entdeckt, auf dem folgendes geschrieben steht:
'Da ob'n aufm Bergl
Da sitzen zwei Hasen,
Der eine tut Zithern spiePn,
Der and're tut blasen.
Also ein Volkslied. Ein Volkslied, das, wie alle Volkslieder,
niemand gemacht hat, das naturwüchsig, wie einige von der Welt
behaupten, von selbst entstanden ist. Ich war glücklich. Zwar
schien das Lied sehr abgeschmackt, das sind aber die meisten
Volkslieder, bis ein Gelehrter den tieferen Sinn und die Bedeu-
tung derselben herausarbeitet. Für jeden Fall war deutscher
Humor darin, Hasen, die Zither spielen und blasen! Vielleicht
ein Bruchstück aus einem viehischen oder Tier- Epos!' (XIII5 183.)
Wenn sich hier Grillparzer gegen die Auswüchse der germanischen
Philologie wandte, so hatte er vollständig recht, doch hat nicht
jede Wissenschaft und auch die Dichtkunst Auswüchse, ist ein
übertriebener Klassizismus, ein Nichtachten des eigenen Volkes
nicht auch ein Auswuchs? Das Wichtige dieser Mitteilung liegt
darin, dafs uns hier Grillparzer ein Kinderlied mitteilt, das heute
noch im Viertel unterm Manhartsberg in Niederösterreich fort-
lebt (s. Blümml, Der niederösterreichische Landes freund IX [1900],
S. 3; vgl. auch «LA. und J. Lux, Deutsche Kinderreime [1904] 140;
Ziska-Schottky, Österreichische Volkslieder [1819] 24).
Grillparzer will bei der alten Kunst bleiben und nicht die
neue volkstümliche Richtung pflegen (1861):
Bleib nur der alten Kunst getreu,
Sie ist zu allen Zeiten eine:
Wer sich unter die volkstümlichen Kleien mischt,
Den fressen die patriotischen Schweine.1 (III B '12'.\.)
Wohl gibt es nur eine Kunst, aber bei jedem Volke äui'sert
sie sich anders, und das vergifst Grillparzer. Nicht nur die
Fremden bieten uns Poesie, auch das eigene Volk hat solche,
doch Grillparzer ist zu sehr Kosmopolit, um das einzusehen, und
so schimpft er 1837 frisch darauf los:
1 S. auch Grillparxers Briefe und Tagebücher, hg. von K. Glossy und
Aug. Sauer, II (Stuttgart 1903) 51 unterm li». Februar 1825 (anläfslich
der Aufführung des Ottokar): 'Wer sich unter die volkstümlichen Kleien
mischt, dem geschieht recht, wenn ihn die patriotischen Schweine fressen !'
Volkslied-Miszellen. IT. 65
Mit Mittelhochdeutsch und Volkspoesie
Weifs ich fürwahr nichts zu machen!
Wer trinkt auch, solange es Brunnen gibt,
Aus Wegspur gern und Lachen?
Und fragst du mich, wo der Brunnen sei —
Hast du Homer nicht gelesen?
Fällt dir der grofse Brite nicht bei?
Was Spanien und Welschland gewesen ?
Dort lösche deinen brennenden Durst,
Dort aus dem vollen dich letze!
Der Pöbel erzeugt das Schöne nicht,
Noch gibt er dem Schönen Gesetze. (III 5 115.)
Für Grillparzers Dramen konnte das Volkslied nichts bieten,
jedoch der Lyrik bietet es viel, und hätte da Grillparzer nicht
so verächtlich darüber hinweggesehen, so hätten wir innigere,
bessere Gedichte von ihm.
Aber der grofse Volksliedfeind Grillparzer konnte sich doch
einige Male dem Einflusse des Volksliedes nicht entziehen. Das
sehen wir besonders an einer Stelle in 'Des Meeres und der Liebe
Wellen' (1840), wo Hero im 5. Aufzuge, nachdem Leander tot
aufgefunden wurde, sagt:
So lafst an unser'm Ufer ihn begraben,
Wo er erblich, wo er, ein Toter, lag,
Am Fufse meines Thurms. Und Rosen sollen
Und weif'se Lilien, vom Tau befeuchtet,
Aufsprossen, wo er liegt. (VII •"■ 100.)
Das sind die berühmten Unschuldslilien des 'Grafen Friedrich'
und 'des Ritters und der Magd', Lieder, die im Wunderhorn und
Unlands Sammlung reichlich vertreten sind (vgl. auch M. E. Mar-
riage, Alemannia XXVI [1898] 127 ff.).
Zu einer besonders bissigen Abfertigung seines Feindes
Friedrich Schlegel und dessen Lucinde verwendet er das Schnader-
hüpfelmetrum und benennt seine beiden Vierzeiler 'Oberländer
Lieder' (mitgeteilt von A. Sauer im Jahrbuch der Grillparzer- Ge-
sellschaft VII [1897] 166):
D'Luzind' hat mir g'schrieben, Du wass'riger Hiesel,
Will jetzt sich beker'n; Was trinkst denn kan Wein?
Wann d'Hurn amal alt seyn, Wie soll a Geist in dein Kopf seyn?
Thans Betschwestern wer'n. Giesst niemals an 'nein.
Auch im Satzbau zeigt sich zweimal deutlich Volkslied-
einflufs, nämlich in der behäbigen, breiten Aufzählung der Per-
sonen. So im 'Willkommen bei der Ankunft der vierten Ge-
mahlin Kaiser Franz I.' (1816):
Ja, staunet nur, staunet! Und wie wir so stehen,
Ich stand dort am Rain Ein jedes für sich
Und trieb meine Gänse Und schauen, der Entrich,
Ins Wasser hinein. Mein Pudel und ich... "(II5 I 12.)
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 5
66 Volkslied-Miszellen. II.
Ebenso im Gedichte 'Zum Namenstag für Anna Fröhlich' (26. Juli
'" Auch steh'n auf dem Anger
Musikanten noch drei;
Ein kurzer, ein langer,
Ein dicker dabei. (I & 252.)
Auch das Kinderspiel wird herbeigezogen, so wenn in 'der Zauber-
flöte zweiter Teil' (1826) die Tiere, an deren Spitze der Elefant
* o • im Dunkeln ist gut munkeln;
Ich bin müd', mein Schatz.
Ist nirgends ein besserer Platz?
Frau Gevatterin, leih' mir d' Scher',
Wo steht's her? (XHI » 130.)
Sie führen dann ein Ballett auf, das Kinderspiel: 'Gevatterin,
leih' mir die Schere', aus dem oben der Spielreim wörtlich ent-
lehnt ist (vgl. Jos. M. Wagner, Die deutschen Mundarten VI [1859J
111 Nr. 19; F. M. Böhme, Deutsches Kinderlied und Kinderspiel
[1897] 649 f. Nr. 567; Vernaleken-Branky, Spiele und Reime der
Kinder in Österreich [1876] 95 Nr. 21), nachahmend, wobei eins
den Platz des anderen zu erhaschen sucht.
Aus dem Ganzen geht hervor, dais Grillparzer, trotz der
steten Bekämpfung des Volksliedes, auch an sich, wenn auch in
geringem Umfange, woran hauptsächlich seine dramatische Be-
schäftigung schuld war, die Macht desselben erlebte, so dais er
sich nicht ganz dessen Einfluis entziehen konnte. Für das Volks-
lied gilt auch ebendas, was Grillparzer 1822 über die Poesie
und Religion sagte: 'Mit der Poesie ist es wie mit den Religionen
Wenn beide einmal ihre Ächtheit durch Wunder bewährt haben,
mufs man über die einzelnen Sätze keine Beweise mehr fordern,
sondern an sie glauben' (XV 5 70). Denn auch das Volkslied
ist echte Poesie.
Wien. E. K. Blümml.
Über den Hymnus Csedmons.
Der berühmte Hymnus Csedmons, wie er in der Handschrift
der Cambridger Universitätsbibliothek KK. V. 16 erhalten ist,
ist bekanntlich nicht nur sprachgeschichtlich, sondern vielleicht
in noch höherem Grade literärgeschichtlich von gröfster Wich-
tigkeit, und deshalb wird die Frage, wie dieser kostbare Rest
ältester altenglisch-christlicher Dichtung in die Handschrift der
Historia Ecclesiastica gekommen, den Literarhistoriker stets
beschäftigen und zu allerhand Vermutungen anregen. Dazu
ist es vor allem wünschenswert, festzustellen, wie sich der alt-
englische Hymnus zum übrigen Inhalt der Handschrift verhält.
Zupitza hat vor mehr als 27 Jahren in seiner klaren, scharf-
sinnigen Weise zuletzt darüber gehandelt in der Zs. d. A. 22,
210 ff., besonders 213 — 215; ich rekapituliere, auf Grund einer
Prüfung der Handschrift am 19. Juni d. J., ergänzend den
Tatbestand: das letzte Blatt der gleichmäfsig, d. h. in gleicher
Schriftgröfse und Zeilenzahl geschriebenen Handschrift führt
auf der Vorderseite mit . . . semper ante faciem tuam. Ex-
plicit ... die Historia Ecclesiastica zu Ende, danach folgt noch
in derselben Hand und Schriftgröfse die Stelle bei Plummer,
p. 361, Ante DCCXXX Ceoluulf . . . bis ad lucem propriam
reuersa, womit ebenso tief herabgehend wie sonst, also mit dem
Seitenschlufs, die Vorderseite schließt. 'Die Rückseite 128 v' —
ich lasse jetzt Zupitza reden, wobei ich das mir Wichtigschei-
nende gesperrt drucke — , 'gegenwärtig die letzte Seite der Hand-
schrift, beginnt mit dem Hymnus. Die Hand, die ihn schrieb,
ist nach meiner Ansicht eine andere als im vorhergehenden:
aber nach der Form der Buchstaben und dem Gesamteindruck
kann nicht der geringste Zweifel darüber obwalten, dafs es eine
gleich alte Hand ist ... (folgt Abdruck des Hymnus und der
Glossen). .. Dann kommt wieder von einer anderen, aber eben-
falls gleichzeitigen Hand die Reihe der nordhumbr. Könige . . .'
Nun, bei dem bekannten Scharfsinn und der grofsen Gewissen-
haftigkeit Zupitzas mufs man da wieder einmal mit Wehmut be-
klagen, dafs der unvergefsliche Meister nicht mehr unter den
Lebenden weilt, dafs man ihn nicht mehr fragen kann, warum
er der Ansicht war, dafs die Hand, die den Hymnus geschrieben,
eine andere gewesen sei als die, die den vorhergehenden latei-
nischen Text geschrieben! Was mir den Mut gibt, trotz Zupitza
die Hand, die den Hymnus und auch die darauf folgenden Notizen
68 Über den Hymnus Caedmons.
geschrieben, für dieselbe zu halten, die den vorhergehenden
lateinischen Text geschrieben, ist die Beschreibung der Hand-
schrift von Bradshaw, dem nun leider auch nicht mehr unter
den Lebenden weilenden trefflichen Bibliothekar der Cambridger
Universitätsbibliothek, in The Palceo graphical Society. Eacsi-
miles of Manuscripts and Inscriptions. Edited by E. A. Bond
and E. M. Thompson, Vol. IL London 1873—1883, Plate 139,
140. Bradshaw sagt, wobei die Sperrschritt wieder von mir her-
rührt: then on ihe succeeding page the scri.be closes his
work with (1) ihe original Anglo-Saxon of the song of Cced-
mon, followed. by four glossed words, (2) a list of Northum-
brian kings down to 737 [but not including Ceoluulf' 's abdica-
tion and Eadberct's succession in that year), and (3) a calcula-
tion of several events backwards from the year 737. x Danach
folgt in einer Hand des 10. Jahrhunderts Sententia Hysidori ...
bis zum Seitenschlufs.
Man hat trüber bei Beschreibung der handschriftlichen Über-
lieferung des Hymnus mehrfach die Angabe gemacht, er wäre
an den Rand geschrieben — Zupitza nicht, er sagt, die Seite
beginnt mit dem Hymnus. Dem gegenüber scheint es mir nütz-
lich, auf Grund der eigenen Prüfung der Handschrift die nicht
unwichtige Erläuterung hinzuzufügen, dafs der die Rückseite be-
ginnende Hymnus in der gleichen Zeilenhöhe wie die Vor-
derseite und die vorhergehenden Seiten der Hs. geschrieben ist,
dafs also der ganz logische Ausdruck Zupitzas: 'beginnt' so zu
verstehen ist, dafs der betreffende Schreiber — wer immer er
gewesen, mit gutem Vorbedacht zu Beginn der leergebliebenen
letzten Seite die altenglischen Verse nicht wie eine beiläufige
Randnotiz, sondern wie etwas zu dem Vorhergehenden Gehöriges
ordnungsmäfsig hingeschrieben hat. Warum aber frühere
Berichterstatter die Angabe machen konnten, der Hymnus sei
an den Rand geschrieben, macht ebenfalls der Augenschein der
Handschrift begreiflich. Wenn man nämlich das Blatt nicht
durchs Licht betrachtet und so die Vorderseite nicht durch-
schimmern sieht, macht der Hymnus allerdings den Eindruck,
als wäre er an den oberen Rand gekritzelt, denn die danach
folgende, in gröfserer Schrift geschriebene Königsliste Ida regnare
coepit . . . reicht weiter an die seitlichen Ränder und gleicht in
ihrer Regelmäfsigkeit mehr der vorhergehenden Historia Eccle-
siastica, obwohl die Buchstaben etwas kleiner als in dieser sind.
Wer blofs diese Rückseite betrachtet, mag allerdings den Ein-
druck bekommen, dafs der Hymnus erst nach diesen lateinischen
1 Sweet, <)ET p. 148, sagt von der Schrift der Königsliste: in a hand
which may well be the same as that of the History, und über den Hymnus
ebenda : It is not impossible that the hymn may have been ivritten later than
the List, to fill up the blank space. But t/ie hand is evidently eontemporary.
Über den Hymnus Csedmons. 69
Königslisten auf den darüber befindlichen oberen Rand geschrie-
ben worden sei; dieser obere Rand müfste freilich etwas breit
gewesen sein, doch das fiele nicht auf, wenn man die Gröfse
des Randes auf der Vorderseite und den vorherigen Seiten nicht
beachtete.' Die erwähnte Tatsache aber, dafs der Hymnus in
derselben Zeilenhöhe wie die erste Zeile der lateinischen Vorder-
seite, also nicht auf den in der Handschrift üblichen oberen
Rand geschrieben ist, beweist meines Erachtens mit Sicherheit,
dafs der Hymnus zuerst geschrieben wurde und später erst
daran anschliefsend die Königsliste. Der Schreiber des Hymnus,
wenn er, wie ich mit Bradshaw annehme, auch der der Historia
Ecclesiastica war, hatte nach getaner Arbeit noch eine ganze
freie Seite übrig. Da schrieb er denn als eine Art erläuternden
Zusatz noch den Hymnus dazu; danach aber, da er schon am
Zusetzen war und schon zum Schlufs der Vorderseite des letz-
ten Blattes den bei Plummer, S. 361, abgedruckten Zusatz ge-
macht hatte, noch die Königsliste und weitere Notizen hinzu,
und zwar diese beiden Zusätze in etwas gröfserer Schrift. Den
Rest der Seite liefs er frei, denn diesen hatte später ein Schrei-
ber des 10. Jahrhunderts noch verwertet. Der seelische oder
gemütliche Prozefs, der in dem Schreiber des Hymnus vorge-
gangen, und den der Literarhistoriker sich in seiner Phantasie
zurechtlegen mag, war vielleicht auch kein anderer, wenn der
Schreiber ein anderer als der der Historia Ecclesiastica war.
Ob er derselbe war oder nicht, diese Frage möchte ich doch
noch anderen, in altenglischen Handschriften Erfahrenen bei Ge-
legenheit zur Erwägung geben; die verschiedene Schriftgröfse
scheint mir doch kein Grund für oder wider zu sein. Aber ob
er derselbe oder ein anderer zeitgenössischer Schreiber war, zur
Beurteilung der Niederschrift des Hymnus müssen noch die vier
Glossen herangezogen werden, die doch mit dem Hymnus und
dem übrigen Inhalt der Hs. nichts zu tun haben. Solche Glossen
finden wir, sei es als Federproben oder aus sonstigen Gründen,
häufig an leergebliebenen Stellen am Schlüsse von altenglischen
Handschriften. Dies scheint mir darauf hinzudeuten, dafs der
Schreiber den Hymnus nicht aus dem Gedächtnisse, sondern aus
irgendeiner handschriftlichen Vorlage, die Altenglisches und
wohl auch diese Glossen enthielt, niedergeschrieben habe. Es
würde dies durchaus nicht gegen das Fortleben der Verse in
mündlicher Tradition, die ja doch durch König Alfreds Wieder-
gabe sogar für anderthalb Jahrhunderte später erwiesen ist,
sondern nur für ihre Verbreitung im 8. Jahrhundert sprechen.
1 So heisst es auch bei Sweet, OET p. 148, an der in vorhergehender
Fufsnote angeführten Stelle : ... to fill up the blank space.
Cöln a/Rh., Juni 1905. A. Schröer.
Noch einmal die Quelle des ;Monk'.
Im Band CXIII des Archivs fp. 56 ff.) hat 0. Ritter einen
Aufsatz veröffentlicht, in dem er sich gegen meine früher
(Band CXI, p. 316) aufgestellte Behauptung v/endet, dafs der
Monk von Lewis auf einen deutschen Roman als Quelle zurück-
gehe, und seinerseits das umgekehrte Verhältnis annimmt. Ich
kann mich nicht davon überzeugen, dafs seine Gründe durch-
weg stichhaltig sind, und möchte daher mit einigen Worten auf
den Gegenstand zurückkommen.
Für die Wahrscheinlichkeit meiner Annahme, dafs Lewis
von dem deutschen Roman abhängig ist, liefert mir Ritter selbst
(in einem früheren Aufsatz [Bd. CXI, 166 ff.]) einiges Beweis-
material. Er zeigt dort, wie schon die ältere Kritik auf Lewis'
Manier, ganze Stücke anderen Werken zu entlehnen, aufmerk-
sam geworden ist. Hierher gehört das Räuberabenteuer bei
Strafsburg, das übrigens auch im Gil Blas seine Parallele findet;
hierher auch der Schlufs, der wörtlich aus Veit Weber ent-
nommen ist (a. a. 0. p. 115, Anm. 2 und 3). Durchschlagend
erscheint mir aber das Zitat aus A. W. Schlegel, wonach 'einige
der beliebtesten, anmafslichen Originale aus schlechten deut-
schen zusammengeborgt und nachgeahmt sind [the
monk'] !' Spricht doch hier ein Mann, der genau Bescheid wufste,
der gewifs den deutschen Roman vor sich hatte und nur zu-
fällig genauere Angaben zu machen unterliefs.
Diese Abhängigkeit des Engländers von seinen deutschen
Vorbildern ist gerade der Punkt, auf den ich das gröfste Gewicht
legen möchte, und ich habe zwei bisher unbekannte Beispiele
davon angeführt {Feudal Tyrants, Romantic Tales: Bd. CXI,
319. 320). Ich mufs hier mein Bedauern ausdrücken, dafs Ritter
auf meine Argumente so gut wie gar nicht eingegangen ist.
Dagegen werde ich mich im folgenden an die seinigen halten
und sie, soweit es möglich ist, zu entkräften suchen.
Zunächst scheint es mir nicht gar so auffallend, dafs von
dem deutschen Roman (falls er, wie ich immer noch annehme,
zu Anfang der neunziger Jahre erschienen ist) die kritischen
Zeitschriften und die Literaturgeschichten keine Notiz genommen
haben. Dazu war die Masse derartiger Produkte damals doch
Noch einmal die Quelle des 'Monk'. 71
viel zu grofs, und der Koman wäre nach wie vor im Dunklen
geblieben, wenn nicbt in den letzten Jahren die Forschung sich
seiner bemächtigt hätte. Wenn dann Ritter auf die zahlreichen
literarischen Vorbilder hinweist, die der Monk unzweifelhaft ge-
habt hat, so hätte er gleichzeitig beweisen müssen, dafs sie für
DR ebenfalls in Betracht kommen; denn bekanntlich sind ganze
Partien des Monk ohne Entsprechung im Deutschen. Übrigens
leugnet Lewis, den Diable amoureux des Cazotte vor Abfassung
seines Romans gekannt zu haben. Die Stelle steht, wenn ich
nicht irre, in der Vorbemerkung zur vierten Auflage, in der
übrigens die Änderungen nicht so geringfügig sind, wie Ritter
(p. 61) zu glauben scheint. Der grofse Unterschied zwischen
Cazotte und Lewis ist der, dafs bei jenem Biondetta Don Alvare
wirklich liebt, und dafs dieser schliefslich den Schlingen des
Teufels entgeht, während Matilda nur eben ein Werkzeug des
Dämons ist, dem der Mönch am Schlufs zum Opfer fällt.1
Dafs von DR eine frühere Ausgabe existiert als aus dem
Jahre 1816, hat Ritter jetzt auch zugeben müssen (Bd. CXIV,
167). Mir war die Tatsache schon längst durch eine gütige
Mitteilung von Prof. Sauer bekannt. Sie folgt notwendig aus
dem von mir Bd. CXI, 318 hervorgehobenen Umstände, dafs
Grillparzer schon im Sommer 1813 den Stoff zu seinem Drama
gestaltete, daher die Ausgabe von 1816 nicht benutzt haben
kann. Aber auch eine weitere Behauptung Ritters erweist sich
als irrig. Er kennt als erste nichtmusikalische Publikation aus
dem Verlage von Franz Haas, (Wien und) Prag, ein Buch aus
dem Jahre 1807. Nun besitze ich aber aus demselben Verlage:
a) Yeleda, ein Zauberroman, 17 96; b) Graf Rosenberg, oder
das enthüllte Verbrechen: eine Geschichte aus der letzten Zeit
des dreifsigjahrigen Krieges (von B. Naubert), 17 92.2 Beide
Bücher stammen also gerade aus den Jahren, in denen, wie ich
glaube, DR zum erstenmal erschienen ist; speziell der zweite
Roman zeigt in einigen seiner Motive Ähnlichkeit mit DR.3
Auf S. 58 ff. hat dann Ritter eine Reihe von Sätzen aus
Lewis und DR einander gegenübergestellt, um zu zeigen, dafs
DR von Lewis abhängig ist. Der Beweis scheint mir nicht er-
bracht zu sein. Vieles ist ja gewifs in DR ungeschickt und
undeutsch ausgedrückt; das liegt an der geringen Bildung des
Verfassers und ist ein Nachteil, den er mit vielen anderen
Autoren der Zeit gemein hat. Die kritischen Journale dieser
Periode sind daher voll von Klagen der Rezensenten über den
schlechten Stil gerade dieser Romane. Anderseits ist nicht zu
1 Vgl. auch Rcntsch, M. 0. Lewis p. 133.
2 Vgl. Goedeke V, 497, 16.
3 Natürlich ist auch die Angabe in Schwetschkes Codex Nundmarius
falsch.
72 Noch einmal die Quelle des 'Monk'.
übersehen, dafs der Verfasser von DR die Sprache seiner Zeit
(untermischt mit einigen Provinzialismen) redet, die für uns
natürlich einiges Auffällige bietet. Ich lasse hier eine Anzahl
Stellen folgen, die ich mit Parallelen aus Werken derselben Zeit
versehe :
DR p. 6: (Die Hütte) war klein, aber nett; vgl. Sanders,
D. Wb. II, 430a: Das Schiff war zierlich und nett (Goethe). —
Wieso 'bequeme Stühle' ein undeutscher Ausdruck sein soll,
sehe ich nicht ein (vgl. Adelungs Wörterbuch II, 854). — Ibid.:
Der Waldmann (engl, woodman). Aber beides bedeutet nicht
nur 'Holzfäller', sondern überhaupt und speziell 'Waldbe-
wohner'; vgl. Cent. Dict. 6967—69 und Sanders II, 232 c.
(übrigens schon so im Mhd: Benecke-Müller II, 1, 47). — p. 8:
würde der Herr dich nicht so alt geglaubt haben. Vgl.
Lessings Nathan 3, 7: so glaube jeder sicher seinen Ring
den echten. — p. 11: alle diese Umstände blitzten ihm in
die Seele. Vgl.: es blitzte mir ein Gedanke durch die Seele
(Eichendorff bei Sanders I, 169b). Ähnlich auch: sie blitzen
Höllenflammen in mein Herz (Schiller, Kab. u. L. II, 2). —
p. 12: wenn ... der Wind in den Ästen rasselte. Annette
von Droste spricht von rasselndem Winterlaub, Bürger von
einem Lager von rasselndem Laube (Heyne s. v.). — p. 17: er
floh nach der Tür; sie flohen gleich dem Blitze fort. Vgl. hier-
zu, was in Grimms D. Wb. III, 1780 über die Berührung zwi-
schen den Begriffen des Fliehens und Fliegens gesagt ist. Ändere
Beispiele bei Sanders I, 463c. — p. 44: eine Nachtlampe schofs
einen schwachen Strahl, vgl. die Sonne schiefst Strahlen (Grimm,
D. Wb. IX, 41): drauf schiefst die Sonne die Pfeile von Licht
(Schiller). Es wird hiernach klar sein, dafs auch weniger ge-
wöhnliche Ausdrücke noch nicht beweisen, dafs DR aus dem
Englischen übersetzt ist. Der Beweis dagegen würde noch voll-
ständiger geführt werden können, wenn wir ein Spezialwörter-
buch über die Sprache des 18. Jahrhunderts besäfsen.
Ein anderer Punkt, der hierher gehört, betrifft die Druck-
fehler. Ritter hat selbst zwei recht ergötzliche auf S. 61, A. 2
verzeichnet. Es sind natürlich nicht die einzigen. Ritter hat
zunächst einen solchen in einer der von ihm zitierten Stellen
(p. 59 unten) übersehen. Es mufs da (DR p. 165) natürlich
heifsen: dafs es einem Weibe kaum verdienstlich ist (statt
verdriefslich; bei Lewis scarcely a merit). Dafs die Lyrica
auf S. 60, von denen gewifs nicht viel Rühmens zu machen ist,
durch Druckfehler stark entstellt sind, hat R. richtig bemerkt.
Einer scheint ihm auch hier entgangen zu sein, Str. 3 v. u. lies:
dort ein Alter, voller Trug (entsprechend dem engl, vicious
man and crafty devil), wodurch der Sinn der Stelle klar wird.
Ich sehe aber auch in diesem Falle nicht ein, warum es unge-
Noch einmal die Quelle des 'Monk'. 73
reimt sein soll anzunehmen, Lewis habe als gewandter Vers-
künstler aus schlechtem Material etwas Besseres gemacht.
Wenn dann R. (p. 62) sich darüber aufhält, dafs in DR
Ambrosio diesen seinen Namen führt, obwohl er Böhme ist, so
ist zu entgegnen, dafs dieser spanisch-italienische Name in dem
sprachlich so stark gemischten Österreich keineswegs auffallend
ist. Auch der Duft der Orangenblüten in einem Garten zu Prag
mag als eine Nachlässigkeit des Verfassers von DR hingehen.
Anders steht es freilich mit den Namen Claude und Baptiste, die
sich in dieser Umgebung merkwürdig genug ausnehmen. Aber
aus diesem nebensächlichen Umstände kann man, wie mir scheint,
keine weitergehenden Schlüsse ziehen. Darf man vielleicht an
eine französische Quelle für DR denken?
Nach allen diesen Ausführungen glaube ich bei der Be-
hauptung stehen bleiben zu dürfen, dafs Lewis' Abhängigkeit
von DR mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie das umge-
kehrte Verhältnis. Hoffentlich bringt uns bald ein weiterer
glücklicher Fund die Entscheidung.
Zum Schlufs noch zwei bibliographische Notizen: a) die
hiesige Königl. Bibliothek besitzt ein Büchlein, betitelt: Die
Rauher im Elsa/s, oder die Abenteuer Don Al/onsens von ihm
selbst erzählt (Gera u. Leipzig 1799). Es ist dies eine wört-
liche Übersetzung der Erzählung Raymonds im dritten Kapitel
des Monk. b) Der Romantiker Charles Nodier gab im Jahre
1822 ein Buch heraus unter dem Titel: Infernaliana ou anec-
dotes, petits romans, nouvelles et contes sur les revenans, les
spectres, les dtmons et les vampires. Gleich die erste Ge-
schichte, La nonne sanglante, ist eine stark verkürzte Wieder-
gabe der Erzählung bei Lewis.
Berlin. Georg Herzfeld.
Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez.
In meinem Besitze befindet sich eine beträchtliche Zahl
schon von dem Empfänger geordneter Briefe deutscher und aus-
ländischer Gelehrter an Friedrich Diez. Ihrer zwölf rühren von
Gaston Paris her und sollen nachstehend denen zur Kenntnis
gebracht werden, die von dem wirklichen geistigen und Gemüts-
verhältnis des jüngeren Forschers zu seinem um fünfundvierzig
Jahre älteren Lehrer eine zutreffende Vorstellung gewinnen
wollen. Hat G. Paris 1876 in der Romania V, 412 und später
in dem bekannten Aufsatze des Journal des Debats vom 2. März
1894 seiner Verehrung und Dankbarkeit für den Meister und
für den Menschen rührenden Ausdruck gegeben — dem aka-
demischen Lehrer, den er als ein urteilsfähiger Zuhörer nicht
kennen gelernt hatte, wird er freilich nicht gerecht — , so haben
die erst im Jahre 1904 durch Rajnas inhaltreichen Nekrolog
für den französischen Meister bekannt gewordenen Briefe des
siebzehn- oder achtzehnjährigen, noch dazu des Deutschen kaum
kundigen Bonner Studenten an seinen Schulkameraden Durande
die kurzen, früher bekannt gewordenen Kundgebungen wohl etwas
zurückgedrängt; und es scheint billig, auch der Stimme Gehör
zu verschaffen, die aus den Briefen des reiferen Schülers und
denen des Mitforschers zur Nachwelt spricht. Das oft bewährte
Wohlwollen der Witwe des verewigten Freundes hat mich in-
stand gesetzt, aus den gut aufgehobenen Antworten Diezens
einiges beizubringen, was zu besserem Verständnis gewisser
Äufserungen seines Korrespondenten dienen konnte.
Paris, ce 6 octobre 1861.
Monsieur et illustre maitre,
Voilä bien longtemps que je n'ai eu de relations avec vous et que je
me suis fait le fort de tne priver de vos nouvelles et de votre commerce.
Tai meme laisse passer sans vous en feliciter votre nomination ä l'Aca-
demie, comptant il est vrai sur mon pere pour vous dire combien j'etais
lieureux de vous voir im lim de plus avec nous en mems temps que de voir
In France comprendre et honorer votre merite. J'espere cependant que votis
ne me gardert ; pas raneu/ne dt mon long silence et que vous vous retrou-
verex un hon sourrnir pour rntrr nnrien a/idifrnr qui sera toujours votre
diseiple. Jr m'oecupe beaueoup de philologie en ce moment, et cette etude
Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez. 75
m'a naturellement ramene vers vous, d'autant plus que vos admirables livres
m'ont ete et me sont tous les jours du plus gravid secours. Je fais pour
l'Ecole des Ghartes une these sur ce sujet: du röle de l'aecent latin dans
la formaiion de la langue francaise. Vous avex dit excellemment : Der
Accent in der romanischen Sprachbildung ist der Angelpunkt, um trelehefn]
sie sich dreht. C'est cette phrase que je veux developper par un travail
de detail et wne etude minutieuse des cas oü l'aecent a persiste, de ceti.r ou
il s'cst deplace et des causes des exceptions qu'a subies la rhgle generale.
J'espere que vous prendrez quelque interet ä ce travail; s'il ne reneontre
pas ä l'Ecole des Charles, oü il sera discute, des critiques trop vives, je le
ferai imprimer et je vous denianderai la permission de vous le dedier,
comme au creafeur et au maitre de la philologie romane. Peut-etre cet
opnscule pourra eontribuer ä repandre parmi les erudits francais les prin-
ci/pes encore trop peu connus chex nous, sur lesquels vous ave% construit
votre Systeme.
Si je ne craignais d'aJmser de votre honte . je vous demanderais votre
opi/nion sur quelques points qui m'arretent et m'embarrassent. Pensen -rons
par exemple que les aecusatifs en ain (Evain, nonnain) soiriit tote Imita-
tion de l'accusatif en am? Um latin. il me senible, ne sonnait plus du
tout ä la fiu des mots, et ort prononcait Eva au nominatif et ä l'accusatif.
West-ce pas plufot une forme diminutive employee pour l'accusatif et
nen cst-il pas de meine de la forme on dans Pierron. Gharlon, ou cet on
est-il 1 'Imitation des formes Huon, Guion etc.? — La 1« pers. p/nr. des
rerbes de la 3e conjuga/ison, nous lisomes ou lisons, nous courons etc. stip-
pose-t-elle une forme leglmus, currlmus, ou faut-il roir dans ons une termi-
naison appliqufe lü pur analogie (les formes fainies et dimes semblent
le prouver)? — Faut-il admettre des formes comme currire, queerire
ml roir dans les infnitifs querir, courir, Vapplication purement romane
et non dejä faite en latin vulgaire de la termiuaison ir? La terminaison
escere ne peut s'appliqurr qu'aux rerbes qui ont la le pers. plur. en
issons. Je vous demande bien pardon de vous faire ces questions, /ums
votre autorite me deeiderait saus doute pour Vune ou l'autre des Solutions
quon prüf Iriir ilouurr. et je m suis /ins sur. pur exemple pour la prent /'irr,
que vous persistier dans l'opinion exprimee dans votre grammaire. Kufin.
si vous aviex quelques observations nouvelles sur le sujet dont je m'oecupe,
je vous serais bien reconnaissant de m'en faire pari.
Nuus avons eu pendant quelque temjjs ici Adolf Tobler, qui es/ aussi
uu de ros eleves et avee qui nous avons beaueoup parle de vous. II s'oe-
eupe surtout maintenant de litterature italienne et neglige la philologie
romane; e'est dotnmage, ea/r il a un esprit juste et net.
J'espere, Monsi-eur. que raus ne m'en roudrex pas de vous avoir derange
pendant quelques instants, et que vous me croirex bien sincerement
Votre tres-devoue serviteur et ecolier
Gaston Paris
10, place royale.
Über persönliche Berührung oder brieflichen Verkehr, die
zwischen Diez und G. Paris seit des letzteren Abgang von Bonn
im Herbst 1857 bis zum Oktober 1861 stattgefunden hätten,
ist mir nichts bekannt. Dafs Diez zum korrespondierenden
Mitgliede der Academie des Inscriptions ernannt worden sei,
teilt ihm Paulin Paris in einem bei mir liegenden Briefe vom
25. Januar 1861 mit, aus dem man auch erfährt, dafs neben
Diez noch Schaffarik und Diefenbach in die Wahl gekommen
76 Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez.
waren, und dafs ganz besonders Leclerc sich bemüht hatte,
Diezens Wahl durchzusetzen. Die Vermutung, die Gaston in
dem obenangeführten Artikel der Debats ausspricht, es sei
solche Ehrung auf Littres Einflufs zurückzuführen, stimmt mit
des Vaters bestimmter Aussage nicht überein. Vermutlich sind
die beiden französischen Gelehrten in gleicher Richtung tätig
gewesen, und, wie Diez im Entwurf eines Dankschreibens vom
31. Januar an Paulin Paris äufsert, wird auch dieser es an
freundschaftlichen Bemühungen nicht haben fehlen lassen.
Die Schrift über den Akzent, von der noch öfter die Rede
sein wird, trägt in der Tat die Widmung A Monsieur Frederic
Diez, professeur . . ., correspondant . . ., cet essai d'un de ses
disciples est respectueusement de'die. Die von Diez in der
zweiten Auflage des zweiten Bandes (1858) über die afz. Femi-
nina auf -ain vorgetragene Ansicht ist noch in der dritten (1871)
im Texte festgehalten; eine lange Anmerkung stellt aber einen
anderen Sachverhalt als möglich hin, der jetzt als der wirkliche
meist anerkannt ist, mit dem von G. Paris für möglich gehal-
tenen jedoch nicht zusammenfällt.
Dafs ich 'auch einer von Diez' Schülern' sei, ist jedenfalls
richtiger als, was Paris nach Rajnas Zeugnis (S. 56) an diesen
geschrieben hat, ich sei le seul vrai eleve de Diez. Jeder von
uns beiden — und aufser uns würde denn doch noch an manche
andere zu denken sein — hat zwei Semester in Bonn studiert
und daselbst neben anderen vortrefflichen Männern auch Diez
gehört, ich allerdings insofern im Vorteil, als ich die Landes-
sprache nicht erst zu erlernen brauchte, vier Jahre älter war,
vier Semester akademischen Studiums an meiner Heimatuniversi-
tät hinter mir und Diezens bis dahin erschienene Werke fleifsig
durchgearbeitet hatte. Wie mein schon damals liebgewonnener
Freund den Tasso, so habe ich ein Semester zuvor Dante durch
Diez erklären hören, schlicht und so, wie es für Schüler ange-
messen war, die sich meist auf der Stufe erster Bekanntschaft
mit dem Italienischen befanden. Daneben habe ich seine Vor-
lesung über Gotisch gehört, ein Muster besonnener Auswahl des
Wichtigsten, strenger Ausschliefsung alles dessen, was die Auf-
merksamkeit von der Sache ab und etwa auf den Lehrer hätte
lenken können, immer gleichmäfsig vorbereitet, ruhig fortschrei-
tend und dabei fesselnd durch das unverkennbare, wenngleich
nie zur Schau getragene Interesse, das der Gegenstand für den
Lehrer selbst besafs. Jede Woche einmal durfte ich auf eine
Stunde allein zu Diez in die Wohnung kommen und nach eigener
Wahl dieses oder jenes Stück aus Mahns Werken der Trouba-
dours übersetzen, so gut ich es vermochte, und bin dadurch,
vielleicht mehr weil ich mich zu sorgsamer Vorbereitung ver-
pflichtet fühlte, als durch unmittelbare Belehrung, ohne Zweifel
Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez. 77
ebenfalls gefördert worden. Diez war als Lehrer auch im münd-
lichen Unterrichte höher zu schätzen, als man nach G. Paris'
frühesten Briefen denken möchte, und auch er würde jenen in
dieser Hinsicht anders beurteilt haben, hätte er ihn völlig ver-
stehen können. Aber was er und ich an Wissen, an Sicherheit
im Forschungs verfahren, kurz an Erlernbarem von Diez empfan-
gen haben mögen, das haben wir, denk' ich, mehr aus seinen
Büchern als sonstwie gewonnen, und gleiches wird so ziemlich
von allen denen gelten, die neben und nach ihm romanische
Philologie gepflegt haben und insofern seine Schüler sind. Den
unauslöschlichen Eindruck einer unendlichen Güte, einer vollen
Reinheit und höchsten Adels der Gesinnung konnte wohl nur
persönlicher Umgang hinterlassen. Dafs in dieser Hinsicht
G. Paris auf den Spuren seines Lehrers gewandelt ist, bei man-
chen Verschiedenheiten seines Wesens, das wissen, so viele ihn
gekannt haben; dafs man mich in solchem Zusammenhang ein-
mal aussi un eleve de I). nenne, darf ich nicht zu hoffen
wagen, sonst würde ich es innig wünschen. Einen Versuch,
Diezens Persönlichkeit zu kennzeichnen, habe auch ich 1894
gemacht, s. Archiv XCI1I, 154.
Paris, ce 23 janvier 1861 (l. 1862 !).
Monsieur,
Je vous remercie de la tres-aimable lettre que vous arex biert roulu
repondre ä la mienne, et de l'amitie que vous m'y temoignex. J'ai termine
il y ii un »lots environ le travail dont je vous ai parle; il va passer ä
l'Eeole des Charte*, oü je le soutiens comme these, lundi proeham, et je
eompte le /irrer aussitöt ä l'impression. J'espere epue raus y trourere\
quelque interet et que vous ne serex pas humilie de voir votre nom suar la
premiere page. Vous me pardonnerex aussi de me trouver sur quelques
points en desaeeord avec vous; je pense que vous serex de mon avis sur im
ou deux petits detail*, et specialeu/eut sur ee que je dis des purfuifs forts
et faibles et des formes anormales comme nourresimes, choisisistes etc.
Je a/e permeitrai de vous signaler d'avanee une eiymologie qui m'est vertue
en tele, et qui me parait assex heureuse, c'est celle de derver. Votre tres-
ingenieuse explicahon, dissipare, me semble avoir ete refut.ee avec assex
de justesse par Oachet; outre. les raisons qu'il donne, ne pensex-vous pas
que desver est um adoucissement de derver et que celfe derniere forme
est la plus aneienne' L'etynudoyie que Oachet subsfitue a la röfre est
eertainemenl i nadmissible ; paar moi je erois que derver vient de dero-
gare, et la comparaison avec corrogata = cor r ee et interrogare =
enterver m'a paru donner wie bien grande vraisemblance ä mon opinion,
que je vous soumets. Puisque je vous parle d'etymologies, croyex-vous pos-
sihle i/ue eu/fur, chuuffer. rieuuent de calefaeere? Ce rerhr ti'aurail-
il pas 'Imme e h a U f ja i r r'r et la rniijuipi isuii iir smi it-el le pas tont au/re'f
Je pense que a verbe vient du bas-latin caleficare, qu'on trouve dans
du Gange. — Nobile, forme de nable frequente dans les ehausims de geste,
m'a paru etre, mm pas un dep/aeement de l'accent qui sentit sans a/nalogie
et saus vraisemblance, mais un derive de nobilis, derive qua aurait ete
78 Briefe von Gastori Paris an Friedrich Diez.
en 6. /. nobilicus ou nobilius; fem ai cu une preuve dans la chanson
de Roland, qui ecrit toujours nobilie.
Je vous ecris surtout, Monsieur, pour vous demander la permission
d'accoler nos deux norm sur la premiere page d'un travail queje vais faire.
M. Herold, qui dirige actuellement la librairie Franck, ä Paris, voulant
donner ä cette maison une direction specialement philologique, al' Intention
de publier une serie d'opuseules de linguistique. J'ai eru, ainsi que lui,
que rien ne pourrait mieux recommander ces publications que si elles debu-
taieni par quelque chose de vous, et il a ete eonvenu queje lui traduirais
V Introduetion de la Grammaire des Langtees Romanes (V. I, p. 1 — 132).
Je l'ai assure que vous verriez ce travail avec plaisir, et il esperc que de
son röte M. Weber, ä qui il va en ecrire d'iei ä quelques jours, n'y mettra
pas d' Opposition. Pour moi ce sera un grand plaisir de contfibuer ä faire
eonnaitre en France vos travaux et votre nom et de payer ainsi auf auf
qu'il est en moi la dette que j'ai contractee envers vos ouvrages, oii j'ai
pulse tout le peu de science que je puis avoir. Je vous serai oblige, si ce
prqjet a votre approbation, de vouloir bien ui'envoyer une r&ponse lä-dessus.
Je vais enroyer au Jahrbuch de Ebcrt une epitre fareie pour le jour
de S. Etienne, dont les deux premieres strophes etaient seules eonnues: il y
en a douxe. Elle est du eommencement du XIP siede, et offre quelques
particularites philolog iques assex interessantes. Je la crois ecrite en Tou-
raine; eile offre un nielange de formes normandes et bourguignonnes qui
indique un pays oü les deux dialectes se rencontraient. J'y ai vu des fir-
mes queje n'ai rencontrees nulle pari, oonvme escotet, seet, avet ä la
2" pers. plur. de l'indicatif present, haier ent, bater ent ä la 3e pers.
plur. du parfait. Je crois que M. Ebert la publiera volontiers.
Mon pere a ete bien sensible ä votre bon Souvenir, Monsieur; il nie
prie de (se) vous rappeler l'affection qu'il a pour vous et l'estime qu'il fait
de nitre merite. Paul Meyer nie prie de vous dire qu'il est l'auteur d'un
petit article publie dans la Ghronique de la Bibliotheque de l'Eeole des
('hartes sur votre nounelle edition; c'est aussi un de vos admirateurs con-
vaineus.
Pour moi, Monsieur, ce n'est pas seulement parmi vos disciples, mais
bien parmi vos amis, que je me ränge, et c'est ä ce titre que je vous prie
d'agreer l'expression de ma respeetueuse et sincere affection.
Gaston Paris
10, place royale.
Die Jahreszahl 1861 im Datum des Briefes ist irrtümlich
und mit 1862 zu vertauschen. Der avant-p) opos der zu Anfang
als vor einem Monat zum Absei dufs gebracht erwähnten Arbeit
trägt das Datum des 29. Januar 1862. — Die von G. Paris in der
Schrift über den Akzent S. 74 gegebene und nachmals auch von
Chabaneau (1868) gutgeheifsene Erklärung der Perfektendungen
-esis, -esimes, -esistes bei inchoativen Verben aus Nachbildung
starker Perfekta hat Diez merkwürdigerweise iu der dritten Auf-
lage der Grammatik nicht angenommen und doch auch in seiner
Rezension nicht angefochten; heute wird sie wohl von niemand
angezweifelt. Warum Diez die etymologischen Deutungen seines
Schülers von derver S. 83, chauffer S. 39 ablehnte, hat er im
Etymol. Wb. ausgesprochen.
Die hier erwähnte Übersetzung der ersten 132 Seiten der
Grammatik der Romanischen Sprachen ist wohl unmittelbar
Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez. 79
nach des Verfassers Gutheifsung in Angriff genommen worden;
erschienen ist sie erst 1863; es ist von ihr in den späteren
Briefen noch öfter die Rede.
Die Epitre farcie, die G. Paris im Alexius S. 130 Anm. 2
etwas später ansetzt, ist noch 1862 im vierten Bande des Jahr-
buchs S. 311 ff. gedruckt worden, seitdem öfter wieder, bei
Stengel, Ausg. u. Abh. I (1882), Foerster u. Koschwitz, Übungsb.
(1884), Bartsch, Langue et litter. (1887) usw.; s. Gröber in sei-
nem Grundrifs IIa 478.
Der erwähnte Artikel von P. Meyer füllt die Hälfte der
Seite 77 in der Biblioth. de VEcole des Chartes von 1862 und
bespricht den ersten Band der zweiten Ausgabe des Etymolog.
Wörterbuches. Der Rezensent rühmt, dafs die seit der ersten
Ausgabe ans Licht getretene etymologische Literatur fleifsig ver-
wertet sei, begrüfst mit Freuden auch die Benutzung der in der
Zwischenzeit erschienenen Bände der Anciens Poetes de la France
und äufsert seine Befriedigung darüber, dafs in kaum zehn
Jahren eine zweite Auflage des trefflichen Werkes nötig gewor-
den sei; er hofft, dafs Frankreich recht viel dazu beigetragen habe.
Paris, ce mercredi 14 mai [1862].
Monsieur,
Vous recevrex sans doute ä peu pres en meine temps que eette lettre
quatre exemplaires de mon Etüde sur le Role de l'accent latin; je
vous serai fort oblige si vous voulex bien en offrir un de ma part ä M. Del ins
et un autre ä M. Monnard. JTespere que vous ne trouverex pas eet essai
tout-ä-fait vndigne de, V illustre patronnage sous lequel il s'est place et que
vous ;i retrouverez avee plaisir la plupart de ros idees et avec mdulgenee
quelques objections. Je ne puis vous dire eombien je serais heureux s'il
vous etait possible d'en dire un mot dans tm Journal allemand, et plus
particuliereiiii'iit da/ts //■ Jahrbuch de Ebert; mais je n'ose me flatter de
l'espoir que vous trouviex le loisir de vous en occuper.
La iraduction de V Introduction ä la Grammaire des Langues romanes
est achevee; eile commencera ä s'irnprimrr des que 31. Herold, le suecesseur
de Franek, sera revenu d'Allemagne, oü il est en ce moment. J'y ferai
moi-meme wie Introduction oü je m' efforcerai peut-etre d'etablir la part
que vous avez dans la creation de la philologie romane et la valeur de vos
divers travaux. Peut-etre aussi nie bornerai-je ä une courte notice sur /<■
livre et l'auteur; cela dependra du temps que j'aurai.
J'en ai pour le moment fort peu, et c'est ce qui me fait vous prier,
Monsieur, d'exeuser l'extreme lirirrete de cette lettre. Je vous ccrirai dans
quelque temps pour vous demander divers petits eclaircissements sur quel-
ques points qui tu' out embarrasse dm/s ma traduction. Je suis, Mnnsieur,
avec les sentiments de la plus vive et respcctueuse affeetion
Votre bien devoue serviteur
O Paris
Mon pere me charge de tous ses compliments pour vous.
Von Beziehung, in die G. Paris schon als Student zu Nico-
laus Delius (geb. 1813, gest. 1888) getreten wäre, ist mir nichts
SO Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez.
bekannt. In dem Nachruf, den er ihm in der Romania XVIII,
337 gewidmet hat, heifst es: il y a 32 ans, quand celui qui
ecrit ces lignes suivait les cotirs de Vuniversite de Bonn, ce
n'etait pas Diez — chose qui surprend aujourd'hui — qui
enseignait la grammaire romane. Diez faisait un cours
public, — peu suivi — , de philologie germanique, un cours
prive dans lequel il expliquait un texte allemand, et un pri-
vatissimum oü on lisait la Gerusalemme liberata; mais Delhis
faisait quatre leqons par semaine sur la grammaire comparee
des langues romanes. On ne peut pas dire qu'il exergdt une
grande action sur ses auditeurs, ni qu'il exposät des idees
tres originales, mais il possedait bien son sujet et il le trai-
tait avec une grande conscience. Er gedenkt dann der Arbeiten
des Gelehrten und seiner liebenswerten Persönlichkeit. Dafs er
ihn selbst gehört hätte, glaube ich nicht. In dem Briefe vom
17. Juni 1870 ist von einem kurz zuvor erfolgten Besuche Delius'
in Paris die Rede.
Auch mit dem trefflichen Charles Monnard (geb. 1790, gest.
1865) hat Paris, glaube ich, nicht in engerer Verbindung ge-
standen. Seine Vorlesungen bezogen sich vorzüglich auf die
französische Literatur des 17. Jahrhunderts; und der von ihm
veranstalteten Übungen im Sprechen und Schreiben des Fran-
zösischen, in denen willige Schüler wohl Förderung finden konn-
ten, und an denen ich mich gern beteiligte, bedurfte der junge
Franzose nicht. Doch könnte wohl sein, dafs die Studenten aus
der französischen Schweiz, mit denen wir beide viel verkehrten,
Paris wohl mehr, als für sein Erlernen des Deutschen zuträglich
war, ihn mit dem von ihnen wie billig hochverehrten Lands-
mann in Verbindung gebracht hätten. Im Jahre 1862 erschien
übrigens Monnards Chrestomathie des prosateurs frangais du
XIV e au XVIe siede avec une grammaire et un lexique de la
langue de cette periode, une histoire abregee de la langue
franqaise depuis son origine jusqu'au commencement du XVIIe
siede et des considerations sur l'etude du vieux frangais,
Genf 1862. Was ich über das Buch gesagt habe {Neues Schweiz.
Museum II, 287 — 295), deucht mich nicht unbillig, doch hätte
es auszusprechen einem anderen vielleicht besser angestanden
als mir, der ich erst sechs Jahre zuvor Monnards Schüler ge-
wesen war und immer noch manches von ihm lernen konnte,
wenn auch nicht gerade Altfranzösisch. Aber Rezensenten für
derartige Bücher waren damals noch nicht so leicht zu finden wie
später, und ich konnte mich der Aufgabe nicht leicht entziehen.
Die gewünschte Besprechung von Paris' Schrift über den
Akzent hat Diez 1864 im fünften Bande des Jahrbuchs er-
scheinen lassen; sie ist dann wieder gedruckt in der von Brey-
mann besorgten Sammlung von Diez' Kleineren Schriften
Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez. 81
S. 197—205 (1883). Sie enthält einige wohlbegründete Ein-
wendungen gegen das vom Verfasser Vorgetragene, daneben aber
viel Anerkennendes. Paris spricht seinen Dank aus in den
Briefen vom 22. März 1864 und vom 8. Juli 1865.
Die Vorrede des Übersetzers zu Diezens Einleitung ist kurz
ausgefallen; warum, erfährt man aus dem Briefe vom 8. Sep-
tember 1862. Die folgenden Briefe kommen noch öfter auf sie
zurück. Dagegen ist die Bitte um Aufklärung über zwei, wie
es scheint, Paris nicht recht verständlich gewordene Einzelheiten
auch später nicht ausgesprochen.
Ce 8 septembre 1862.
Monsieur,
La traduction de votre Introduetion s'imprime rapidement et sera sans
doute publiee le mois prochain. L'annonce de la publication de M. Scheler
ne m'a pas decourage, parce que j'aurai d'abord l'avantage de le prevenir,
et ensuite parce qiie V Introduetion, plus generale et plus restreinte, trouvera
sans doute un public plus considerable. Ce qui nie peine seulement, e'est
que man editeur a naturellement desire que je ne misse ])lus de retard ä la
publication, ce qui m'empeche de faire une preface aussi considerable que
je l'aurais voulu. Jusqu'ä la fin d'aoiit, des examens juridiques tres-
etrangers ä la philologie ont completement absorbe mon temps; et mainte-
nant je suis dans un village oü il in' est impossible d'avoir les livres dont
j'aurais besoin. Je dois donc renoncer ä faire, comme j'en avais l'inten-
tion, une etude approfondie de la philologie comparee des langues romancs
teile qu'elle s'est creee, principalement par vous, depuis trente ans en Alle-
magne, et de la rattacher ä la direction generale des travaux historiques
et philologiques allemands. Je voudrais compenser ce qui me manquera,
— etant oblige de travailler ici loin de toute esp'ece de materiaux, — par
quelques details sur vos ouvrages, votre personnalite et votre influenae. Tai
lu quelque part que c'etait Goethe qui vous avait indique la voie que vous
avez si glorieusement suivie; pourrais-je vous demander de me dire ce qui
en est? En un mot, et pour vous dire clairement l'objet de ma lettre, j'ai
pense. que ce ne serait pas trop presumer de votre bienveillance pour moi
et pour une tentative qui a eu, — quand je l'ai coneue au moins, — le
inerite d'etre la premiere de ce genre, que de vous demander quelques details
sur l'esprit general de vos travaux et les idees qui vous ont amene ä les
faire et vous ont guide(s) dans leur aecomplissement. Ce sera donner ä
mon essai une valeur que je ne puis lui donner moi-meme : car vous me
flattex bien en me disant que vous attendex de moi des notes et des criti-
ques. A peine trouverex-vous quatre ou cinq observations tres-insignifiantes
sur des details. C'est dans la Preface que je comptais me developper ä
mon aise, et c'est encore la que gräce ä vous j'espere mettre tout le merite
de ce qui m'est personnel dans ce travail.
Pardonnex-rtioi de vous importuner de la sorte; vous m'avex toujours
temoigne tant de bon vouloir et d'amitie que j'ai cru pouvoir me permettre
cette demande, et que j'ai l'espoir que vous me l ' aecorderex.
Je vous en remereie par avance, et je vous supplie bien de me croire
avec autant d'affection que de respect, Monsieur et eher maitre
Votre tout devoue disciple et ami,
Q Paris
Mon pere se rappelle ä votre bon Souvenir. — Eerivex-moi, je vous />>■/>■,
ä cette adresse: ä Aveiuxy — par A'i (Marne).
Archiv f. n. Sprachen. CXV. Q
82 Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez.
Das Erscheinen der übersetzten Einleitung hat sich doch
wohl etwas weiter hinausgezogen, als Paris gedacht hatte. Wenig-
stens bedankt sich Diez erst am 26. März 1863 aus Bonn für
ein schön gebundenes und mehrere geheftete Exemplare des
kleinen Buches. In dem nämlichen Briefe liest man:
'Von Hrn. P. Meyer habe ich einen freundlichen Brief erhalten.
Seine Arbeiten interessieren mich ungemein. Seine Kritik, deren Leetüre
ich noch aufschieben mufs, wird gewifs recht schöne Beiträge und Berich-
tigungen enthalten. Ich würde sie später in einem Supplement zur Rornan.
Gramm, mit Dank benutzen. Wenn Sie mir, theurer Freund, einmal
schreiben, so bitte ich, mir bemerken zu wollen, aus welcher Gegend von
Frankreich und aus welchem Orte Hr. M. ist.'
Inzwischen aber hatte Scheler sich mit folgendem Briefe
an Diez gewandt:
Brüssel, den 10. Mai 1862.
Hochgeehrtester Herr und Meister,
Ich trage mich seit längerer Zeit mit dem Plane herum, Ihre roma-
nische Grammatik für das französische Publikum zu bearbeiten. Diese
Arbeit entspricht einem wirklichen Bedürfnisse und würde sich, wie mir
dünkt, lohnen. Ich habe mich neulich defsfalls an Didot in Paris ge-
wendet; derselbe würde wohl den Verlag gerne übernehmen, wenn augen-
blicklich das wissenschaftliche Interesse nicht gar so abgestumpft wäre.
Er bemerkt dazu, dafs der Absatz in Frankreich 200 Exempl. kaum über-
steigen würde. Da ich berechnet habe, dafs circa 250 feste Abonnenten
die Herstellungskosten decken, und ich nicht verzweifle, im nichtdeutschen
Europa diese Zahl aufzutreiben, vorzüglich mir schmeichle, dafs Didot,
der 500 Ex. meines Dictionnaire angekauft, wohl etwa 150 Ex. Ihrer
Grammatik übernehmen würde, glaube ich den Gedanken noch nicht auf-
geben, im Gegentheil die Ausführung desselben um so ernstücher betreiben
zu müssen.
Dafs ich mich aber der Aufgabe nicht unterziehen will, ohne die Be-
friedigung zu haben, dafs ich es mit Ihrer Einwilligung und unter Ihren
Auspicien thue, brauche ich Ihnen nicht zu versichern.
Die Franzosen müssen endlich in die offen gelegten Geheimnisse der
neueren Sprachwissenschaft gewaltsam eingeweiht und zur gerechten Wür-
digung der deutschen Forschung und besonders Ihrer hohen Verdienste
getrieben werden.
Mein Freund Grandgagnage ermuthigt mich ganz besonders zur Ver-
wirklichung meines Planes, u. ich glaube, dafs, nach Eintreffen Ihrer Zu-
sage, ich die besagte Uebersetzung in den Vordergrund meiner literarischen
Arbeiten schieben werde.
In der Erwartung Ihrer freundlichen Antwort und mit der Versiehe-
rung der aufrichtigsten Hingebung Ihr ergebenster ScMler
Dr. Aug. Scheler,
Bibliothekar des Königs.
Diez scheint, da ja Paris die Absicht, das ganze Werk zu
übertragen, nie geäufsert hatte, seine Zustimmung gegeben und
Scheler daraufhin eine vorläufige Anzeige seines Unternehmens
veröffentlicht zu haben; von einem davon offenbar verschiedenen
förmlichen prospectus Schelers spricht Paris in dem undatierten
Briefe vom Sommer 1863.
Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez. 83
Die juristischen Prüfungen, denen er sich zunächst zu unter-
werfen hatte, sind die, in denen er den Grad eines licencie en
droit erwarb; die Thesen, die er bei diesem Anlafs am 28. August
1862 verteidigte, sind die beiden bei Jouaust in diesem Jahre
gedruckten De tutela und De la tuteile, die man in der Biblio-
graphie des travaux de G. Paris p. p. J. Bedier et M. Roques
unter Nummer 1195 findet.
Das Dorf Avenay, etwa 20 Kilometer von Reims, war der
Geburtsort des Vaters und des Sohnes, und da pflegte der
Sohn seine Ferien zu verbringen; siehe darüber in der Schrift
von Rajna S. 49 Anm. 4 und 5. Dafs der Vater während des
Krieges 1871 sich inmitten deutscher Truppen dort aufhielt,
ohne von ihnen zu leiden, wird man dem Briefe des Sohnes vom
7. Mai 1872 glauben dürfen oder müssen.
Dafs Diez sich nicht in umfänglichen Darlegungen über
seine Persönlichkeit, seine Werke, seinen Einflufs, über die Ge-
danken auslassen würde, die ihn bei seinen Arbeiten geleitet
hätten, war zu erwarten; doch hat er die dringende Bitte seines
jungen Freundes auch nicht ganz unerfüllt lassen wollen, und
in der Vorrede zu der Übersetzung findet man zwei kurze
Stellen, die Paris als von Diez herrührend bezeichnet: 'Ce qui
m'a pousse ä entreprendre mes travaux philologiques et ce
qui m'a guide dans leur execution, c'est uniquement Vexemple
de Jacob Grimm. Appliquer aux langues romanes sa gram-
maire et sa methode, tel fut le but que je me proposai. Bien
entendu, je n'ai procede ä cette application qu'avec une cer-
taine liberte' (S. XVI); und 'Si je pouvais suivre mon goüt,
je voudrais mettre tout ä fait de cöte les etudes grammati-
cales, et moccuper plutöt d'histoire litteraire; mais il n'est
pas facile de se retirer d'un champ oü on a travaille tant
d'annees' (S. XVIII). Gleich darauf führt Paris (S. XIX) eine
schriftliche Aufserung seines Lehrers an, die dieser aus Anlafs
einer Meinungsverschiedenheit über eine grammatische Einzelheit
getan habe; man könnte dabei an die in dem Briefe vom 14. Mai
1862 in Aussicht gestellte Bitte um Aufklärung über einige
Punkte denken, wenn nicht jener Brief aus dem gleichen Jahre
stammte wie die im Oktober 1862 geschriebene Vorrede, in der
es heifst: 'Etudiant, V annee demiere, un point sur lequel
je me trouvais un peu en desaccord avec sa grammaire, je lui
ecrivis pour lui demander son avis; et je regus cette reponse:
Voici mon conseil, mon eher ami. Si vous etes en doute de
ce que j'avance, suivez votre inspiration et n'allez pas surfaire
une autorite etrangere. Nous nous trompons totis, et les vieilles
gens sont specialement sujets ä ce defaut de se tenir attaches
ä une ide'e ä laquelle ils se sont aecoutumes. La jeunesse est
plus vive et plus librej eile trouve souvent ce qui nous echappe.
84 Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez.
Si vous nie decouvrez des fautes, dites-le sans hesiter, je vous
en remercierai.'
Wo schon vor 1862 etwas über den folgenreichen Besuch
Diezens bei Goethe zu lesen gewesen sein mag, weifs ich nicht.
Später ist er oft erwähnt worden. Da Diez auf den Brief vom
8. September noch vor dem Abschlufs der preface geantwortet
hat und in dieser S. XIV erzählt ist, wie Diez in Jena durch
Goethe auf Raynouards Arbeiten hingewiesen worden sei, so ist
an der Tatsache nicht zu zweifeln.
Die Bemerkungen des Übersetzers zu dem in der Vorlage
Enthaltenen sind in der Tat weder zahlreich (etwa fünfzehn)
noch von sonderlichem Belang; Diez hat denn auch später nichts
davon in die dritte Ausgabe der Grammatik herübergenommen,
obgleich er in einem Briefe an Paris vom 6. August 1863 freund-
lich urteilt: 'Ihre Noten zur Introduction sind kurz, aber tref-
fend und niemals überflüssig.' Er hatte damals, da die Über-
setzung der Einleitung in die nun beabsichtigte Übertragung
der gesamten Grammatik übergehen sollte, jene genau durch-
gesehen und eine sehr beträchtliche Zahl von Druckfehlern darin
gefunden, auf die er nun aufmerksam machte, damit sie in dem
neuen Druck nicht wiederholt würden. S. 147, wo der Über-
setzer übrigens ein paar nicht unwesentliche Zeilen des Ori-
ginals (über den Leodegar) vermissen läfst, hatte er, während
Diez 1856 dies mitzuteilen versäumt hatte, angegeben, Passion
und Leodegar seien seit 1852 von diesem herausgegeben. Diez
hat nicht einmal von diesem kleinen Nachtrage Gebrauch ge-
macht.
Monsieur et eher maitre,
Vous devez etre surpris de mon long silence, et bien que j'en sois un
pi-n roupable, vous me feriex, fort de 1 aftribuer uniquenutit a aia uegligou-r.
J'etais en Italie, oit je viens de faire un fort agreable voyage, quand votre
lettre est arrivee ä Paris, et je ne suis de retour que depuis assez peu de
temps. J'espere que vous avez passe fieureusenient le temps qui s'est eeoule
depuis quej'ai eu de vos nouvelles, et que vous etes oeeupe de qudque tra-
vail agreable pour vous et utile pour nous autres. Pour moi, je n'ai pas
beaueoup travaille cette ann.ee, et j'ai besoin de rattraper le temps perdu
par un effort vigoureux eet hiver. Je m' oeeupe pour le moment d'un frarail
d'histoire litteraire qui nie prendra bien du temps et quej'ai du reste eom-
mence depuis plusieurs mois. J'espere qu'il vous offrira de l'mt&ret: c'est
l'Histoin poetique de Charlemagne. Si vous covmaissiex sur ee sujet quelqut
doeument qui ait echappe ä Bartsch et aux autres chereheu/rs, ou si vous
aviez vous-meme quelque renseignement mteressant, vous savez que je reee-
vrais vos indications avec la plus grande recönnaissance.
Mais fujnr parier de choses qui vous intcnss, nt plus direetement, vous
avez saus du nie appris que la gra/nde affaire de la traduetion de la Gram-
maire est deeidement en bonne voie. II a (de convenu que M. Seheier en-
verrait sa traduetion iei, que je reverrais les epreuves et ä l'oceasion que
je pourrais changer ou annoter, et que le tout serait imprime ehez Herold,
Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez. 85
l'aimable et intelligent ed/iteur de l'Introduetion. Vons donneriex ä cette
entreprise nur valeur bien gründe, eher Monsieur, si vous avi< , quelque
addition ou quelque chwigement ä nous envoyer; eependemt la derniere
edition est si recenti que vous ne devez guere avoir de modificalimis ii y
faire. Mais ce que je vous demanderai mstamment, c'est de mc commu-
niquer les observations que vous avex pü faire sur V Introeluetion, qui
va reparaitre dans l'ensemble de l'ouvrage; je connais dejä par im article
de Mussafia un lourd contre-sens (die längste Grenze = qui fut le plus
longtemps In frontiere); j'ai peur qu'il n'y en ait encore d'autres, et je
compte sur vous pour me signaler toutes les femtes que vous avex remar-
ques tant dans le texte que dans les quelques notes. La Preface sera con-
siderablement ehangee, taut in restaut ä peit pres dans le tunnr Ion, niais
avec im /ii "i/ plus de details sur l'ensemble de votre methode et des resultats
que rni/s are: iur/irau/nli/eruent clablis. Vous pensez que pour tout cela
nitre eoneours sera le bien-venu; je voudrais que la traduetion füt digne
iln lim : j'espere que notre entreprise reussira bien. Au moins l'Intro-
duetion se vend-elle Inen et a-t-dle dejä assea bien prepare le terrain.
.Ii rirns de n eevoir le prospectus de M. Seheier pour In traduetion
iju'il preparait ii lui seul Van dernier; il pense qu'on pourrait l'uliliser
pour In nouvelle. ■/< suppose que vous Vavex vu. Pour moi, je crois qu'il
vaudrait mieux en faire un autre. D'abord le style de M. Seheier est lourd
it un peu embarrasse; puis il parle de ses peines et i/r ses sacrifices
fr (jni ist i/'i/ssi: mauvais goüt ä mon sens et er que je ne voudrais pas
prendre pour moi. II y a beaueoup <lr petites observations de ce genre qui
ine feraient rejeter ee prospectus. En untre, il intitule votre lim : Expose
de In Formation et de In Oramma/ire des La/ngues Bomanes. Je crois qu'il
null mieux mettre simplement: Grammaire (ou Gr. eomparee?) des
Langues Bomanes. -fr serais content de savoir quel est le titre qui vous
rnurii inl mit le mieux.
Sur tout cela, eher maitre, j'attends avee impatienee votre reponse. Je
serai bien heureux de /irr dm/s le Jahrbuch un mot de vous sur mon
Aecent latin; si vous ne Vavex pas trouve tout-ä-fait mdigne de votre eeole,
c'est le plus Inl elogi que vous puissiez lui donner.
Man peri se rapp'elle ä votre Souvenir. Vous nnrr; In dans In Bibl.
de V Eeole des Charles le premier article >li Meyer sur l'Histoire de In
Langue Francuise (ainsi nommee l>i< n improprement) de 31. Littre; je crois
ijin ums ,ii nnrr; itr ussr: rniitrut. Je serais curieux ilr eonnaitre votre
opinion sur le Dictionnairt de Littre et aussi sur eelui <li Seheier, que je
ne connais pas. Vous nn demandex In patrie de Paul Meyer; je ne sais
pas bien quel int int cela offre pour vous; rnfm il est de Paris: c'est im
jeune komme intelligent, mstruit, philologue serieusement et qui par con-
sequent vous admire comme il le doil.
Adieu, eher Monsieur, eroyez-moi toujours bien sincerement
Votre tout devoue serviteur et ami
G Paris.
Dem vorstehenden Briefe fehlt die Datierung; es kann aber,
da Diez am 6. August 1863 darauf geantwortet hat, keinem
Zweifel unterliegen, dafs er im Sommer 1863 geschrieben ist,
nach einem Schweigen, das seit dem 8. September 1862 ge-
dauert hatte. Diez hatte am 26. März 1863 für Exemplare der
Introduction gedankt und bei diesem Anlafs auch nach dem
Heimatsorte P. Meyers gefragt (s. oben S. 82). Über G. Paris'
86 Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez.
erste Reise nach Italien wie auch über die sechs späteren, die
ihm das schöne Land immer teurer machten und ihn mit einer
grofsen Zahl hervorragender Menschen in persönliche Berührung
brachten, gibt Rajna S. 40 und Anm. 90 erwünschte Auskunft.
Die Histoire poetique de Charlemagne hat ihren Verfasser
natürlich lange beschäftigt; er spricht davon auch im März 1864,
und erst im Juli 1865 sieht er sich am Ziele.
Zu einer gemeinsam auszuführenden Übersetzung der Gram-
matik der romanischen Sprachen hatten sich inzwischen Scheler
und Paris zusammengetan und hatten in Herold, dem Inhaber
der Firma A. Franck in Paris und Leipzig, der auch die Intro-
duction gedruckt hatte, einen Verleger gefunden. Jeder der
beiden Genossen scheint angenommen zu haben, der andere
habe Diez von der Übereinkunft in Kenntnis gesetzt; denn auch
Scheler schreibt:
Brüssel, 3 Okt. 1863.
Hochgeehrtester Herr Professor,
Dafs es mir gelungen ist, die Franck'sche Buchhandlung in Paris
dazu zu bewegen, meine Uebersetzung Ihrer Komanischen Grammatik in
Verlag zu nehmen, ist Ihnen vielleicht durch H. Gaston Paris, der sich
mehr oder weniger an meiner Arbeit betheiligen wird, kekannt geworden.
Der Druck des Werkes sollte eben beginnen, als ich von meinem Ver-
leger benachrichtigt wurde, dafs der Ihrige, H. Weber, Einsprache gegen
das Erscheinen der Uebersetzung bei ihm eingelegt habe.
Sofort schrieb ich H. Weber, dafs ich nicht nur, bereits im Mai 1 862,
von Ihnen als Verfasser zur Ausführung meines Vorhabens ermächtigt
worden sei, sondern dafs Sie mir in demselben Briefe, auch die Erlaubnifs
des Verlegers notifizirt hätten.
In seiner Antwort bestätigte H. W. ganz einfach seinen Protest u.
nahm von jenem erwähnten Briefe gänzlich Umgang. Auf die umgehend
am 10ten Sept. an ihn gerichtete Anfrage, ob er den Inhalt Ihres Briefes
vom Mai 1862 anerkenne oder nicht, habe ich bis jetzt keine Antwort.
Er ist natürlich in die unangenehme Lage versetzt, entweder sich selbst
oder Ihnen ein Dementi zu geben.
Ich hielt es für meine Pflicht, Sie von dieser eben so unerwarteten
als leidigen Ungelegenheit in Kenntnifs zu setzen. Vielleicht sind Sie im
Stande, durch ein vermittelndes Einschreiten, die Schwierigkeit zu lösen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dafs H. Weber bei vernünftiger Uebcr-
legung des durch seinen Protest, der Anerkennung ihres Verdienstes, der
Belohnung meiner mühsamen Arbeit, seinem eigenen merkantihschen Rufe,
u. vor Allem den Interessen der Wissenschaft erwachsenden Schadens,
bei seinem Widerstände verharrt.
Vielleicht werden mich bald einige Zeilen von Ihrer Hand hierüber
beruhigen. Einstweilen genehmigen Sie, werther Meister, die neue Ver-
sicherung meiner tiefen Verehrung.
Dr. Aug. Scheler
62 rue Mercelis
Man sieht hier zugleich zum erstenmal die Schwierigkeiten
auftauchen, die der Durchführung des Unternehmens sich so
lange in den Weg stellen sollten, und von denen nachher zu
reden sein wird. Was die Beteiligung des Verfassers an etwaigen
Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez. 87
Zusätzen der Übersetzung gegenüber dem deutschen Werke be-
trifft, so schreibt Diez am 6. August 1863 an Paris:
'Buchhändler Weber protestiert gegen meine Theilnahme an der fran-
zösischen Ausgabe der Grammatik und man kann ihm dies nicht übel
nehmen, aber dieser Protest ist überflüssig. Was den Prospectus von
Hrn. Scheler betrifft, so bin ich in allen Puncten Ihrer Meinung. Der
passendste Titel scheint auch mir Grammaire des langues rom. Vielleicht
aber ist Gr. comparee etc. mehr nach französischem Geschmack. Die
Stelle: avec le concours de l'auteur mufs ich bitten zu unterdrücken so-
wohl mit Rücksicht auf meinen Verleger wie auch auf das richtige Sach-
verhältnis. Ebenso die Worte avec V assentiment de l'editeur; ich glaube
wenigstens nicht, dafs dies Statt gefunden hat.'
Was jenes Sacliverhältnis betrifft, so war Diez, wie er in
demselben Briefe vorher ausgeführt hat, zwar willens, später
etwa nötig werdende neue Ausgaben der Grammatik und des
Wörterbuches um einiges zu erweitern (s. oben Bemerkungen
zum Briefe vom 8. September 1862), hatte aber davon noch nichts
ausgearbeitet, so dafs er zur Übersetzung Zusätze zu geben nicht
in der Lage gewesen wäre, auch wenn er das für schicklich ge-
halten hätte. In bezug aber auf die Zustimmung des Verlegers
hat ihm, wie der anzuführende Brief Senders vom 29. Oktober
1863 zeigt, das Gedächtnis nicht treu gedient.
Die Besprechung der Introduction hat Mussafia laut Elise
Richters Verzeichnis seiner Schriften in der Katholischen Lite-
ratur-Zeitung X, 85 — 86 (1863) erscheinen lassen. Ob die Vor-
rede zu der Übersetzung in dem Neudruck wirklich eine ein-
greifende Umgestaltung erfahren hat, vermag ich nicht fest-
zustellen.
Mit der Besprechung der Schrift über den Akzent war
Mussafia in der Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und
öffentliches Leben, 1862, Nr. 26, S. 207, Diez zuvorgekommen.
Der Artikel P. Meyers über Littres Histoire de la langue
frangaise steht in der Biblioth. de l'Ecole des Chavtes, Ve Serie,
T. 5. Das Wörterbuch Littres, von dem in der Vorrede der
Introduction S. XIII als von einem Denkmal die Rede ist, das
sich den bewundernswerten französischen lexikalischen Arbeiten
seit dem 16. Jahrhundert würdig anreihen werde, hat 1863 zu
erscheinen begonnen. Schelers Etymologisches Wörterbuch war
zum erstenmal 1861 herausgekommen. Diez beantwortet die
ihm hier vorgelegten Fragen am 6. August 1863 wie folgt: 'Was
Schelers Dictionn. etyin. betrifft, so scheint es mir ein brauch-
bares Buch. Der Verfasser zeigt überall ein bescheidenes und
besonnenes Urtheil. Eine Kritik davon hat Diefenbach geschrie-
ben, sie steht in der Zeitschrift für vergleichende Sprachwiss.
(Kuhn). Er nennt den Verfasser gelehrt, aber grade die Ge-
lehrsamkeit, d. h. die Quellenkunde vermisse ich. Littre's Wörter-
buch habe ich noch nicht genau angesehen. Was den Artikel
88 Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez.
des Hrn. Meyer über Littres Hist. de la langue franq. betrifft,
so bedaure ich sehr, das neueste Heft der Bibl. de VEcole des
Chartes noch nicht gesehen zu haben . . . Ich freue mich aber
nicht wenig auf diese Lecture, denn in Hrn. Meyer verehre ich
einen Forscher im vollen Sinne des Wortes. Er hat mich vor
einigen Wochen mit seinem angenehmen Besuche überrascht,
der aber leider nicht lange gedauert hat. Gegenwärtig befindet
er sich in Soden . . .'
Die Antwort auf Diezens Frage (s. oben zu dem Briefe vom
8. September 1862) nach der Gegend und dem Orte Frank-
reichs, woher P. Meyer stamme, scheint mit einiger Ungeduld
gegeben, beinah so, als käme sie von diesem selbst. Der Name,
dessen provenzalischer Ursprung nicht einmal für Herrn Mistral
in seinem Tresor festzustehen scheint, legte eben die Vermutung
irgendeines Zusammenhanges mit Deutschland oder doch mit
Elsafs-Lothringen nahe, und ob ein solcher bestehe, durfte Diez
wahrlich fragen, ohne dafs darin eine Kränkung lag.
Paris, ce. samedi 31 octobre 1863.
Monsieur et eher maitre,
Je ne sais si vous etes au courant des negociations qui sont intervenues
depuis quelque temps entre M. Weber, M. Scheler et M. Herold ä propos
de la traduetion de votre Grammaire des langues romemes. J'etais absent
de Paris, et vous l'etiex de Bonn, pendanf que s'echangeaient la plupart
des lettres de ees messieurs, depuis la premiere oü M. Weber a notifie ä
la librairie Franck (Herold) son refus de consentir ä la traduetion jusqu'd
une lettre de M. Seheier d M. Herold qui vient de m'etre communiquee et
qui me jette dans In plus grande surprise. Je riai pas doute jusqu'ici de
la bienveillance que vous m'avex toujours temoignee; j'ai plus d'une lettre
de vous oü vous m'en donnex les assurances ; je sais, et par votre eonrer-
sation et par votre correspondanee, que vous desirex vivement voir votre
Uwe traduit en francais; et quand je vous ai ecrit que je ine deeidais ä
m'associer a M. Scheler pour atteindre ce but, vous m'avex repondu, le
9 aoüt dernier, que cette nouvelle vous etait extremement agreable, que vous
ne doutiex pas de l'Jieureux succes de notre entreprise, et quant ä ma tra-
duetion de l ' Litroduction, que vous la trouviex tres-reiissie. Apres de pareilles
assurances, que votre loyaute et votre caractere me rendaient et me rendent
encore parfaitement au-dessus de tout soupcon, jugex de mon etonnement
en lisant ce matin dans une lettre de M. Weber ä M. Scheler, dont celiii-ei
reproduit des passages, les phrases suivantes (celui-ci rappelait ä M. Weber
que dans une lettre de mai vous l'aviex assure du consentement de ce
libraire) : 'Nur so viel ist mir gegenivärtig, dass, als ich vor ca 6 Wochen,
vor seiner Abreise, mit ihm (Prof. Diez) in Bexug auf Ihre Äusserung
darüber sprach, er doch in Abrede stellte, Ihnen meine Einwilligung
du: ii mitgetheilt \u hohen, sich aber über das ganze Unternehmen, irie es
sieh nun Ihrerseits und seitens des Hn Gasto» Paris und Franck jetzt her-
ausstellen soll, nicht eben in sehr befriedigender Weise äusserte. Ich habe
daraus wenigstens nicht entnehmen können dass es ihm besonders angenehm
sei. — Ob er in seiner Antwort auf ein Sehreiben des Hn Gaston Paris,
das ich ihm entxiffern half, dies auch angedeutet hat, weiss ich nicht xu
Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez. 89
Vous comprendrex assurement quej'invoque en reponse ä cette vnsinua-
tion totäe la franchise <lc votre temoignage: je campte d'autant plus sur une
declaration eontraire ä l'mterpretation de M. Weber que la lettre ä laquelle
il fait allusion, et dont j'ai rappele le fand tout-ä-l'heure, lui est complete-
ment opposec. Jen ai aussi le plus grand besoin; cor je me suis ersaht
ä accepter les propositions qui me so/t/ fadtes, /mar cette traduction, sur-
tout par le desir de vous tbre agreable en realisant un vozu que je suis que
raus forme* depuis longtemps. Sems cette hin- et celle de servir la science
je n'aurais certainement pas consenti ä me charger d'iin trarail qui saus
doute ne me rapportera rien et qui tue derange aa milieu d'oecupations
nombreuses et trls-differentes, Aussi n'hesiterais-je pas ä en abandonner
la pensee si je croyais que M. Weber eilt raison, et que raus ne visstex, pas
cette entreprise avec plaisir; j'ai donc le plus grand interet ä sa/voir ce
qui en est. Je desire aussi, si vous donnex raison a mes esperances, que
rous fassiex bien nettement pari de ros dispositions ä M. Weber; il ne
pourra plus aiusi cacher des refus dont le but peeundaire im' parait assex
clair flerriirr whe pretendue repugnance <<<■ votre pari. Oserai-je vous de-
montier, Monsieur et eher maiire, de nie donner sans retard une riponse?
Si M. Weber a dit vrai, ne croyex pas que je vous en veuille pour cela;
vous aurex sans doute pense que votre livre gagnerait ä attendre an tra-
dueteur plus digne, et je seiis trop quelle est mon insufßsance pour //<■ pas
comprendre eette maniere de voir, qui me surprendrait seulement en ce qu'elle
contredirait toides vos assertions precedentes et m'enleverait une Illusion gut
m'etait precieuse, celle de votre sympathique appröbation pour mes travaux.
Pardonnex-moi, fiter Monsieur, d'avoir pü supposer que rous ne m'eüs-
siez pas dit la verite tottt entiere; au fondje ne doute pas que Weber n'ait
ou mal eompris o/t mal muht ros paroles, et je me persuade que vous me
regardex toujours comme votfe disciple. Veuille* donc m'en donner prompte-
ment la bonne assurance; je pense que votre Intervention attpres de Weber
ne pourrait nous etre que d'un tres-bon secours.
Croyex-moi bien, eher maitre,
Votre tont devoue,
0 Paris.
J'ai vu que votre livre sur la poesie portugaise avait paru; je serais
heureux de le lire. — Meyer m'a donne de ros nouvellrs, et fort heureuse-
ment de bonnes.
Etwas früher als vorstehenden Brief wird Diez den folgen-
den, auf die nämlichen Dinge bezüglichen Schelers erhalten
haben :
Brüssel, den 29 Okt. 1863.
Hochgeehrtester Herr Professor,
Meinen vor etwa drei Wochen an Sie abgesandten Brief, worin ich
Ihnen die von H. Weber gegen das Erscheinen der franz. Ausgabe Ihrer
Grammatik erhobene Einsprache gemeldet, werden Sie bei Ihrer Rück-
kunft vorgefunden haben.
Es liegt mir nun um so mehr daran Ihre Ansicht über diese leidige
Angelegenheit zu kennen, als H. Weber mir in seinem Briefe vom 11. Okt.
schreibt, er überlasse es Ihnen sich über die Erlaubnifs aus/.usprechen,
die Sie mir in Ihrem Schreiben vom 28. Mai 18(52, betreffend die Ueber-
setzung des Werkes, in Ihrem u. des Verlegers Namen, ertheilt haben.
Er beruft sich darauf, dafs Sie die Richtigkeit meiner Aussage bezweifelt,
als er Ihnen davon gesprochen, u. überhaupt sich über das Unternehmen
Francks in Paris nicht in sehr befriedigender Weise ausgesprochen hätten.
90 Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez.
Bis ich hierüber von Ihnen selbst ins Klare gesetzt werde, erlaube
icb mir den betreffenden Passus Ihres Briefs vom Mai 186:2 hier beU
zufügen :
„Meine Zustimmung also, wegen deren Sie bei mir anzufragen die
Güte hatten, haben Sie hiemit. Zum Ueberf hisse habe ich auch die
des Verlegers noch eingeholt. Ich fand Herrn Weber mehrmals
nicht, mit welchem Umstand ich die verzögerte Antwort zu erklären und
zu entschuldigen bitte."
Sie sehen, dafs ich es nach so bestimmter Genehmigung mir nicht
einfallen lassen konnte, von Bonn aus auf Hindernisse zu stofsen. Ich
bin aus Liebe zur Sache ans Werk gegangen, habe Vieles auf die Seite
geworfen, um es schnell zu Ende zu führen, und soll nun mit dem Ver-
dachte belohnt werden, mich unrechtmäfsiger Weise fremden Eigenthums
haben bemächtigen zu wollen.
Ich hoffe noch immer, dafs Ihre Dazwischenkunft die Sache auf güt-
lichem Wege lösen wird.
Mit ausgezeichneter Verehrung
Ihr ganz ergebener
Dr. Aug. Scheler.
Über dem, was Ursache gewesen war zu diesen beiden
Briefen, und was leicht nicht blofs die Fortführung der begon-
nenen Arbeit hätte in Frage stellen, sondern auch das Einver-
nehmen zwischen Diez und seinen Übersetzern gefährden kön-
nen, liegt einiges Dunkel. Diez scheint insofern nicht ganz
ohne Schuld gewesen zu sein, als er, wie aus Schelers Brief
vom 29. Oktober 1863 sich ergibt, letzterem im Mai 1862 ge-
schrieben hatte, er habe die Zustimmung des Verlegers ein-
geholt, während er dieser Zustimmung doch so wenig sicher
war, dafs er am 6. August 1863 an Paris schrieb: 'ich glaube
wenigstens nicht, dafs dies (assentiment) Statt gefunden hat.'
Leider fehlen hier Briefe, die gewechselt worden sein müssen:
von Scheler liegt mir überhaupt kein weiterer mehr vor; der
nächstfolgende von Gaston Paris, vom 22. März 1864, spr cht
zwar noch von Schikanen des deutschen Verlegers, erwähnt aber
nicht mit der leisesten Andeutung des früheren, jetzt offenbar
völlig geschwundenen Mifstrauens gegenüber dem Meister, und
Diezens darauf antwortender Brief vom 23. April 1864 spricht
gegen Ende von einem letzten Schreiben, in welchem er Paris
auf ein neues französisches Gesetz und die Deutung des darin
vorkommenden Ausdruckes contrefaqon aufmerksam gemacht
habe, und dieser Brief fehlt im Nachlafs. Bis auf weiteres wird
man glauben müssen, wenn irgendwo man es an der wünschens-
werten Geradheit habe fehlen lassen, so sei es beim deutschen
Verleger gewesen.
Das Buch über die erste portugiesische Kunst- und Hof-
poesie ist in Bonn bei Eduard Weber 1863 erschienen; in den
folgenden Briefen ist seiner mehrmals noch gedacht. — Dafs
P. Meyer in Bonn Diez besucht hatte, ergibt sich aus einer oben
(zu Paris' Brief vom Sommer 1863) erwähnten Briefstelle. Meyer
Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez. 91
selbst in einem mir gehörenden Briefe an Diez vom 27. Juli
1864, in welchem er sich für die Zusendung des Buches über
die portugiesische Kunstpoesie bedankt, sagt: vous avez pu
juger par vous-meme, lors de la visite que j'eus l'honneur de
vous faire Van dernier, de ma faiblesse en allemand.
Cannes, ce 22 mars 186 4.
Monsieur et eher mäitre,
Voilä longtemps que je ne vous ai ecrit, et je dois commeneer cette
lettre par de doubles remerciements. J'ai rceu ce matin une lettre de
M. Ebert, qui me dit avoir entre les »min* wn artiele de vous sur mon
Accent lotin; il m'assure que vous avez bien voulu vous eooprimer sur mon
eompte d'une maniere tres-favorable. II est inutile de vous dire eombien
j'en suis flaue et reconnaissant ; qui pourrait m'etre plus doux que lc suf-
frage de celui qu'on reconnait uni-versellement pour le maitre des etudes
auxquelles se rattacke mon travail? M. Ebert me dit aussi que vous ajoutex
beaueoup de details nouveaux sur le sujet de V 'accent; je m'en rejouis beau-
eoup, et j'espere bien y trouver de quoi completer et ameliorer beaueoup la
tl/eorie que j'ai developpee d'apres vous. II serait fort ä souhaiter qu'on
fit sur l'ensemble des langucs romanes le travail que j'ai essaye sur le
franeais; mais ce ne sera pas en France qu'on entreprendra quelque ehose
d' aussi malaise; nous attendrons cela de V Allemagne.
J'ai d'autres remerciements ä vous faire pour l'envoi de votre petit
lirrc s/n- Vaneienne lyrique portugaise. H m'est arrive justement la veille
de »wn depart pour le Midi, oii la mauvaise sante de ma mere nous a
fait jmsser l'hiver. Je l'ai lu ici avec d'autant plus d'interet que ce sujet
m'etait tout-ä-fait ineonnu, et que votre excellente critique le place mainte-
nant en pleine lumiere. Cette poesie artiflciellc qui a garde un ton popu-
laire est vraiment un phenomene curieux et qui dorenavant et, sa, place
marquee da/ns l'histoire litteraire, du moyen-dge. A propos d'une note de
votre ouvrage, pennettex-moi de vous soumettre une opinion un peu diffe-
rente de la votre. Vous proposex (p. 36, note *) une explication de la forme
orthographique lh, nh, qui me parait, si j'ose le dire, un peu foreee. Chi
trouve dans les Serments de 842, comme vous savez, adjudha, cadhuna,
et il est bien vraisembldble que l'usage de l'h apres une eonsonne pour en
marquer sa)is doute V amollissement (an = d doux) ou l'aspiration (dh =
th anglais) est emprunte aux langues germaniques. Le texte allemand des
Serments en offre plusieurs exemples. Or il me sonble que l'ancien alle-
mand solhe, weihe etc. offre mir grande analogie de sons avee le lh pro-
veneal (weihet; melhor), dout tu prononeiation pouvait bien etre un peu plus
rüde et aspiree qu'elle ne fest maintenant. Je crois (tone que ce groupe-
ment de lettres pour exprimer VI que nous appelons mouille est emprunte
ii V 'allemand. Le nh aurait lu meine origine (manhß, etc.). C'est um
pure Hypothese, que vous trounrr: pinl-itre mim issihle.
J'udiuire dans nitre ouvrage l'exaetitude et In beaule de ms traduetions
en vers: voilä qui sera ä tout jamais impossible dans noi/re langue. 11 y
a un romancero portugais d' Almeida-QarreU que je >/e connais pas. Les
romanees qu'il contient sont-elles aneiennes, et eroyex-vous quej'y trouverais
quelque ehose ä prendre pour mon Histoire poitique de Charle-
magne? Cest lä mon imique oecupation pour le moment, et j'ai bien de
la peine ä 1/ truruiller beaueaup ici, oü je manque de /irres; c'est un sujet
qui precisemenl m peut se traiter qu'ä l'aide dum multitude de volumes
en toutes langues; je suis oblige de laisser dans mon travail bien des blancs
qua je remplirai plus tard.
92 Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez.
Mon depart pour Ga/n/nes, qui a ete lout-ä-fait vmprevu et subit, et qui
eoincidait avee eelui de M. Herold pour Alger, a suspendu pour quelque
temps Vaffaire de la traduetion. Mais nous sommes decides ä passer untre
et ä ne tenir um im compte des chieurus de M. Weber, i/ui in nous sem-
blent aueunement fondees. Avez-vous fa/it avec lui u/n traite dans lequel
raus lui riilie: votre droit d'autoriser ime traduetion? Si vons ne l'avi t
pas fait, il vous reste plein et entier, et votre permission nous sufßt pleine-
ment pour ein dans notre droit D'ailleurs, le titre du lim ne contient
aucune prohibition de traduetion, et dans ce cas-lä la loi prussienne, m'a-
!-ii,i assure, ne limine aucun droit ä l'editeur original. II < st impossible
qu'un editeur prussien ait en Tirance un droit qu'il n'a pas dans son
pays. Nous sommes donc resolus ä imprimer. Des qut jt serai de retour
ä Paris, e'est-ä-dire dans trois semaines, nous allons mettre sous presse,
et je täeherai de faire marcher In chosi rondement, um fois eommeneee.
Portex-vous Inen, eher Mmisieur. enu/iuue: ii nous rejouir de temps ä
untre pur un heuu /irre, et croyex-moi bien entierement ä vous
G Paris
Diezens Erklärung der portugiesischen Darstellung des
mouillierten l durch Ih geht bekanntlich dahin, es sei zunächst
z. B. das aus lat. meliorem entstandene Wort mellior geschrie-
ben worden mit doppeltem l zur Andeutung der Kürze des
vorangehenden Vokals; da aber diese Schreibung zu der irrigen
Auffassung hätte verleiten können, als sei das Wort dreisilbig,
so habe man das obere Ende des i durch ein horizontales Strich-
lein mit dem vorangehenden l verbunden, und die so verbun-
denen zwei Buchstaben hätten dann ein h ergeben, das so ent-
standene h aber wäre dann auch zur Andeutung entsprechenden
Sachverhaltes nach n verwendet worden.
Der Romanceiro von Almeida-Garrett ist, soweit er ursprüng-
liche Volksdichtung enthält, 1851 erschienen und in Deutsch-
land durch F. Wolfs Abhandlung und Übersetzungen in den
Sitzungsberichten der philosophisch -historischen Klasse der
Wiener Akademie, Bd. XX (1856), bekannt geworden. Durch
Wolf, der mit P. Paris befreundet war, mag auch Gaston von
dem Werke erfahren haben, das ihm in Cannes wohl nicht zur
Verfügung stand. In der Histoire poet. de Charlemagne sind
den portugiesischen Romanzen nur wenige Zeilen (S. 216) ge-
widmet.
Diezens Brief aus Bonn vom 23. April 1864 an G. Paris:
Theuerster Freund!
Ihren mir sehr erfreulichen Brief vom 21. ' März empfieng ich nach
meiner Rückkehr von einer Reise nach Giefsen vor 9 — 10 Tagen. Das
gegenwärtige Schreiben wird Sie nun wieder in Paris finden. Hoffentlich
hat der Aufenthalt im Süden auf die Gesundheit Ihrer Frau Mutter den
besten Einflufs gehabt!
Ich ersehe aus Ihrem Briefe, dafs Hr. Ebert Ihnen einiges aus meiner
Recension Ihrer Schrift De l'aee. lat. mitgetheilt hat. Es versteht sich,
1 Genauer 22.
Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez. 93
dafs sie nicht anders als sehr günstig sein konnte. Wenn aber Hr. E.
sagt, dafs ich viele neue Details über den Gegenstand mitgetheilt habe,
so werden Sie sich sehr getäuscht finden, wenn der Aufsatz, welcher 6 7
Seiten füllen wird, Ihnen zu Gesicht kommt. Ich habe nur über den
Accent in der provenz. Mundart einige neue Bemerkungen gemacht.
Aufserdem habe ich einige Fälle berührt, worin ich andere Ansichten
habe als die von Ihnen ausgesprochenen: ob diese Ansichten die richtigen
sind, wissen die Götter. Andere Ihrer Bemerkungen hoffe ich bei andern
Gelegenheiten, ich glaube fast immer beistimmend, berühren zu können.
Dafs Ihre Arbeit für die Sprachwissenschaft bedeutend ist, habe ich, nach
meiner Überzeugung, entschieden ausgesprochen.
Ich habe mit Vergnügen gelesen, dafs Sie sich für mein Werkchen
über altportugiesische Poesie interessiert haben. Mir selbst war diese
Litteratur fremd geworden, als ich diese Arbeit anfieng, daher hat sie viel
Zeit gekostet. Möchte das Büchlein den Erfolg haben, dafs ein tüchtiger
Kenner den ganzen Codex vaticanus herausgäbe! — Sie fragen, ob der
Rornanceiro von Garrett auf Karl d. Gr. Bezügliches enthalte. Mir ist
das Buch nicht zur Hand, ich ersehe aber aus Bellermanns portugiesischen
Volksliedern (Leipz. 1864) p. 268, dafs die port. Romanzen dieses Cyclus
aus Spanien eingeführt und spanisch vorhanden sind. Dahin gehören auch
die beiden bei Bellermann abgedruckten von Gaiferos u. D. Beitran. —
Was Sie mir mittheilen über die Schreibung Ih, nh, nehme ich mit Dank
an und werde es zu seiner Zeit überlegen. Das Sprichwort sagt doeendo
discimus; ich glaube, man würde mit mehr Wahrheit sagen dubitando
discimus. Wenigstens macht die Wissenschaft auf dem letzteren Wese
gröfsere Fortschritte als auf dem ersteren.
Es ist ein schöner Entschlufs, dafs Sie die Übersetzung der Rom.
Gramm, nicht aufzugeben gedenken. Was Ihre Frage betrifft, so bemerke
ich, dafs ich Herrn Weber das Recht, eine Übersetzung zu autorisieren,
nicht abgetreten habe. Dieses Recht gehört nämlich in Preussen und ohne
Zweifel in ganz Deutschland, dem Verleger, nicht dem Verfasser;
ich konnte es ihm also nicht cedieren. Der Ausländer aber ist an dieses
Recht des deutschen Verlegers nicht gebunden, und wenn er den deut-
schen Verleger oder Verfasser um ihre Einwilligung ersucht, so ist dies
eine blofse Sache der Höflichkeit. Weber gab Hrn. Scheler diese Ein-
willigung, weil er juristisch kein Mittel gegen die Übersetzung hatte, denn
er glaubte, das Buch sollte in Belgien erscheinen. Ob aber ein deutscher
Buchhändler eine Übersetzung in Frankreich hindern kann, ist eine
andere Frage. Dafs der Titel des Originals in diesem Falle das Verbot
der Übersetzung enthalten müsse, ist, so viel ich weifs, nicht nöthig. Eine
Hinterlegung {consignation) von 2 Exemplaren des Originals bei einem
der .Ministerien zu Paris (ich weifs nicht bei welchem?) ist genügend, und
dies hat W. gethan. Alles kommt darauf an, was in dem neuen franzö-
sischen Gesetz unter contrefacon zu verstehen ist. Doch darauf habe ich
Sie in meinem letzten Schreiben bereits aufmerksam gemacht; ich wünschte
auch, dafs Sie Hrn. Herold darauf aufmerksam machten, damit er in kei-
nen Schaden käme, denn ich halte es für möglich, dals W. deshalb eine
Klaue bei den französischen Gerichten anstellen könnte.
Leben Sie nun recht wohl, lieber Freund, und behalten mich in gutem
Andenken. Ganz der Ihrijre m ■ j t^-
Fnedr. Diez.
Paris, ce samedi 8 juillet [l8i
Voilä bien longtemps queje in- raus ai ecrit, mon eher maitre, et depuis
ma demiere lettre j'ai ete frappe par un Iura grand malheur; j'ai perdu
ma pauvre mere, que /uns avea eonnue. Voilä plus de quatre mois mamte-
94 Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez.
na/nt, ei je commence ä me relever de ce coup terrible. Je ne doute pas que
vous ne preniex pari ä notre affliction.
Je remets ce mot ä un jeune komme qui desire beaueoup vous voir et
vous e.iprinirr sott admirafion pour cos travaux. C'est l'auteur d'une petite
plaquette sv/r Brunea/u de Tours, qu'il vous a envoyee. Je lui ai dit qu'il
pouvait compter sur un hon accueil de votre part, et je vous assure qu'il
le merite ä tons egards.
Mon Cliarlemagne va enfin paraitre; il m'a pris bien du temps et de
la peilte; je suis ravi d'en etre enfin debarrasse. Nous donnerex-vous bien-
tdt quelque chose?
Je ne sais plus, dans ce lotig silence, si je vous ai remercie de votre
artiele sur mon Accent. En tout cas, vous jugex combien il m'a ete pre-
cieux; vos critiques sont d'une valeur qui donne plus de poids ä vos eloges,
et je donne les niains ä presque toutes. Combien j'ai ete heureux et fier
de lire ces lignes signees d'un tel nom! Une partie de l'eloge etait düe
sans doute ä l'amitie, mais eelte aniitie aussi etait pour moi une grandejoie.
Si je pais faire ce que je veux (chose rare!), j'irai vous voir vers la
ftn de septembre; j'ai envie de faire un tour de votre cote, et d'aller au
congres des philologues, qui se tient, je crois, ä Heidelberg.
Adieu, mon eher mailre; portex-vous bien et faites-nous jouir de temps
en temps de quelque produetion nouvelle.
Tout ä vous,
0 Paris.
Die Jahreszahl fehlt, kann aber nur 1865 sein, in welchem
Jahre der 8. Juli in der Tat ein Sonnabend war. G. Paris'
Mutter, deren Tod er hier beklagt, hatte Diez 1857 kennen zu
lernen Gelegenheit gehabt, wo sie zusammen mit einer Tochter
einen Aufenthalt von über drei Monaten in Bonn machte;
s. P. Rajnas vor der Akademie der Crusca am 27. Dezember
1903 gehaltene Rede S. 58 Anm. 41 und S. 38 des Sonderdrucks.
Der junge Mann, der empfohlen wird, ist Auguste Brächet.
Die Broschüre Etüde sur Bruneau de Tours, trouvere du
XIII e siede war 1865 bei Franck erschienen; s. den Nekrolog,
den ihm 1898 P. M. widmet, in Romania XXVII, 517. Auch
von ihm besitze ich eine Anzahl an Diez gerichteter Briefe
(1867 — 71). Über den freundlichen Empfang, den er bei Diez
fand, s. Paris' Brief vom 21. November 1865.
Einen Dank für die Besprechung der Schrift über den
Akzent hatte Paris im Briefe vom 22. März 1864 ausgesprochen,
aber ohne sie noch gelesen zu haben.
Paris, ce 21 novembre [1S65],
Gher maitre,
Vous avex sans doute recu mes deux theses; j'espere que l'Histoire
poetique de Charlemagne meritera votre suffrage. J'ai ete souffrant, bien
que sans gravite, pendant les vacances, au moment oü je voulais aller faire
un tour en Allemagne; je me promettais un grand plaisir ä vous voir;
j'espere que mon projet de voyage, pour etre differe, n'est pas per du.
Le jeune Brächet m'a donne de bonnes nouvelles de vous; il a ete touche
et tres-reconnaissant de la reeeption que vous lui avex faite.
Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez. 95
Avex-vmis recu la circulaire que je vous ai fait cnvoyer au nom de la
Revue Critique dont je suis un des fondateurs? Nous voulons essayer de
repandre en France les bonnes methodes seientifiques et pour cela coin-
mencer par faire ä la fausse science une guerre acharnee. II faut que la
critique deblaie le terrain avant que la produetion sc developpc. Nous serions
bien flaues si vous nous permettie\ de vous mserire parmi les collaborateurs.
Vos articles, si vous nous en envoyiex, seraient traduits en franeais avec soin.
A cc propos, Yaffaire de la traduetion de votre Orammaire revient sur
l'eau. Herold, le libraire, est mort, ainsi que Seheier; mais Vieweg, sue-
eesseur dl Herold, est dans les meines idees, et je compterais m'associer pre-
cisement Brächet, qui seraif heureux de prendre part ä une aeuvre si kono-
rable et si utile. Vieweg a du eerire ces jours-ei ä Weher /mar savoir
defiuitivcmeid le prix qu'il demanderait pour autoriser la traduetion; e'est
lä en somme le noeud de la question. Je n'ai pas besoin de vous d/vre que
je compte, si vous etes consulte, que vous userex de votre influenae en nutre
faveur.
■Tose m'etonner, eher maitre, de n'avoir pas reeu votre opuscide sur
les Olossaires romans. Je l'ai vu ckez le libraire, et ce que j'en ai lu
r.rrife man interet au plus haut point; je vous serais bien oblige de me
l'envoyer au plus tot; j'en rendrais compte dans la Revue Critique.
Je ne vous en ecris pas j)lus long, parce que je sais que mon eeriture
vous fatigue les yeux. Croyez-moi bien entierement, eher maitre et ami,
Votre devoue,
G Paris.
Meyer, qui est en Angleterre, m'ecrit un mot oü je lis ceei: 'Comment
se fait-il que M. Diex, n'ait pas reeu d' exeniplaire de la traduetion de
V Introduetion?' Je dis ä man tour: eomment sc fait-il que Meyer eroie
eela. puisque je sais tres-bien que M. Diex en a uu exemplaire?
Mon adresse est actuellement 44, rue du Cherche-Midi.
Die zwei Thesen siud bekanntlich die Histoire jooetique de
Charlemagne und die Schrift De Pseudo-Turpino, beide 1865
erschienen. Die Revue critique, über deren Gründung Rajna
S. 31 ff. handelt, hat 1866 zu erscheinen begonnen und besteht
bekanntermafsen in geachteter Stellung fort, übrigens seit längeren
Jahren ohne Beteiligung Paris' an der Redaktion. Charles Morel,
geboren den 20. März 1837 in Lignerolles (Kanton Waadt), einer
der ersten vier Herausgeber, gehörte zu dem Kreise pchweize-
rischer Freunde, mit denen G. Paris schon 1856 in Bonn gern
verkehrte; er starb am 26. Februar 1902 in Genf, wo er einer
der Redaktoren des Journal de Geneve war. Siehe über sein
Leben und seine vielfache Tätigkeit einen Nekrolog im Bulletin
Nr. VIII der Association pro Aventico, Lausanne 1903.
Die Altromanischen Glossare berichtigt und erklärt von
Friedrich Diez sind in Bonn bei Weber 1865 erschienen. G. Paris'
Besprechung des kleinen Buches steht im ersten Bande der
Revue critique S. 85 — 88.
Der Verleger Herold war laut dem Brief vom 22. März
1864 krankheithalber nach Algier gereist und nunmehr gestor-
ben. Scheler aber war nichts weniger als tot, hat im Gegenteil
noch jahrelang eine sehr rührige und verdienstliche Tätigkeit
96 Brief e von Gaston Paris an Friedrich Diez.
entfaltet und bis 1890 gelebt (s. den Nekrolog in der Romania
XX, 180). Wenn Paris hier von ihm als einem Verstorbenen
spricht, so meint er damit wohl nur, dafs er für das geplante
Unternehmen ein Abgeschiedener sei. Was seinen Zurücktritt
veranlafste, vermag ich nicht zu sagen. Dafs G. Paris wenig
Wohlgefallen an Schelers Schreibweise hatte, erhellt aus dem
Briefe ohne Datum vom Sommer 1863; vielleicht war auch in
Fällen von Meinungsverschiedenheit mit dem zwanzig Jahre
älteren Gelehrten weniger leicht fertig zu werden als mit dem
1844 geborenen Brächet. Übrigens war auch mit diesem Mit-
bearbeiter des ersten Bandes Paris laut dem Briefe vom 1. Fe-
bruar 1875 weit weniger zufrieden als mit Morel-Fatio, der die
beiden anderen Bände übertragen half. Die ganze Sache zog
sich sehr lange hinaus: während am 22. März 1864 Paris ge-
glaubt hatte, in drei Wochen mit dem Drucke des ersten Bandes
beginnen zu können, erschien dieser erst 1872; der zweite und
der dritte wären nach der Bibliographie 1874 ausgegeben wor-
den, und nach dem Briefe vom 7. Mai 1872 sollte gemäfs dem
Vertrage mit dem Ministerium bis zum 1. Januar 1874 alles
erschienen sein; aber am 1. Februar 1875 war der sechste Bogen
des dritten Bandes noch nicht abgezogen. Dafür konnte freilich
die dritte Ausgabe des Originals zur Grundlage dienen.
Mon eher et venire maitre,
Ma somr, qui est mariee ä Moscou, vient nous voir cette annee et je
vais apres-demain la chercher ä Gologne. Je ne veux pas passer si pres de
voits sans aller voits voir; je campte arriver ä Gologne dimanche matin,
aller vous dire bonjour ä Bonn, puis retaurner attendre ma soeur au train
qui arrive de Berlin ä Gologne a 8 Innres du soi/r, je crois. J'espere voir
ausst M. Delius, dont la reeente visite ä Paris nous a fait taut de plaisir.
Pour etre sur de vous trouver, j'ai cru bien faire de vous ecrire ce
rnot d'aoance; attendex-moi done, suivant toutes les vraisemblanres, dimanche
avant midi, et croyex que je serai bien heureux de vous assurer une fois
de plus de mon vif et respectueux devouement.
Gaston Paris.
Paris, le 17 juin IS 70.
Dafs Paris Diez auch vorher einmal wiedergesehen hatte
und zwar in Giefsen ersieht man aus dem schon oben erwähnten,
im Journal des Debats 1894 gedruckten Aufsatz zur hundert-
sten Wiederkehr von Diezens Geburtstag, wonach 1866 ein sol-
cher Besuch stattfand. Der Tatsache gedenkt auch Diez in
einem Brief an Bartsch vom 28. Oktober 1866, den Stengel in
seinen Diez- Reliquien, Marburg 1894, S. 23 abgedruckt hat.
Dafs er auch 1870, unmittelbar vor dem Ausbruche des Krieges,
in Bonn mit seinem Lehrer zusammengetroffen sei, erwähnt Paris
in jenem Aufsatze nicht. Sollte der hier so bestimmt in Aus-
Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez. 97
sieht gestellte Besuch, gar nicht erfolgt sein? Auf der Reise zu
der geliebten Schwester in Moskau war er auch 1874, als er
auf kurze Zeit in Misdroy bei mir einkehrte und bei dieser Ge-
legenheit durch mich auch Karl Müllerihoff persönlich kennen
lernte. Von der Frau, die die letzten Jahre seines Lebens be-
glückt hat, war er begleitet, als ich ihn und sie 1900 auf ein
paar Tage in Berlin beherbergen durfte, wohin er zum Jubiläum
der Akademie der Wissenschaften als einer der Vertreter der
französischen Akademie entsandt war.
Paris, ce 7 mai
Mon eher maitre,
Dnfin nous avons conelu avec le Ministere un traite qui assure la tra-
duetion de votre Grammaire. Le premier volume paraitra le 1er aout (ce
ne sera qu'un demi-volume) ; les trois volumes doivent avoir paru avant le
1er janvier 1874. E n'est que temps, cor si nous avions tarde nous aurions
sürement ete devanees par les Italiens. II est vrai que ceux-ci trouvent une
sorte de compensatio)! dans V abrege de Fornacciaro; ce qu'il a ajoute de
son cru est rare et mauvais: e'est etonnant que les theories extravagantes
de Nannucei n'aient pas encore ete absolument deracinees en Italic
J'ai ete profondement touclie et je vous suis bien reconnaissant de ce
que vous me dites d'amical dans votre lettre. Pour ce qui concerne V Alexis,
la critique allemande l'a juge en gener al avec une bienveillance extreme et
nieme exageree. J'y vois ä present bien des erreurs et bien des lacunes;
il s'en faut que j'aie encore atteint cette Einsieht et cette Umsieht qui per-
mettent d' embrasser d'emblee toutes les faces d'une question, et graee aux-
quelles vos ouvrages ne vieillissent pas.
J'espere que e'est par un simple oubli que vous ne me dites rien du
premier numero de la Romania; s'il ne vous etait pas parvenu, je vous
demanderais de m'en prevenir par un simple mot; au reste, vous devex
maintenant avoir recu aussi le second. Nous vous prions, Meyer et moi,
de vouloir bien aeeepter cet hommage. Je n'ai pas besoin de vous dire que
si vous trouviex, dans vos papiers quelques lignes inedites, nous serions
lieureux et honores de les inserer.
Quand vous me dites, mon eher maitre, que vous ave% ihr Geschäft
geschlossen, j'espere bien que ce n'est pas taut ä fait exaet. Bauer m'a dit
que vous lui aviex eerit que vous prepariex,unremaniement des Olossaires;
ce serait la un travail bien preeieux, ear ä mes yeux e'est un de vos ecrits
les plus utiles et les plus admirables. Combien j'ai senti, en essayant d'y
joindre quelques notes, quelle est notre inferiorite ä tous! Quand il i/'//
aurait que cette erudition si vaste et si variee, ä laquelle le special iste le
plus laborieux peut ä peine ajouter ea et la quelque chose, ce serait un
avantage incommenstirable; et pourtant ce n'est que la matiere, qui est
mise en ceuwe avec une penetration et une ingeniosite sans egales.
Je me permets cependant de vous eontredire quelquefois, bien qu'en
tremblant. Sur faxte je ne doute pas de votre a/ppröbation, mais j'en suis
moins sür pour navrer; pourtant, je l'avoue, nabager me parait inad-
missible.
J'ai, non pas une demande, mais une exposition fort indiscrete ä vous
faire. Je n'ai achete ni la troisieme edition de la Qrammaire ni eelle du
Dietionnriire, pensant que peut-etre vous en auriex eu un exemplaire ä m'< i>-
voyer. Pour In Qrammaire, Vieweg m'n fowni des feuilles de la troisieme
Mition (tome I), qui ont servi ä l'impression de la traduetion et sont fort
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 7
98 Briefe von Gaston Paris an Friedrieh T>'\ez.
incompUtes. Je n'ai aucunemmf l'idee de ne pas aeheter ees deux ouvrages,
mais il hu seradt desagreable de les aeheter si vous aviex peut-etre l'inten-
tion de me las donner, et vous seriez sans doute aussi contraria. G'est ce
qui m'euhardit ä vous parier de eet incident, auquel je vous supplie de nat-
facher aucune importance queleonque. Si votre editeur ne vous donne pas
d'exemplaires, voilä Ja ehose flnie; mais dans le cas contraire peut-etre
vous reste-t-il dans un coin quelque exemplaire dont vous ne faites rien,
et qui me serait doubletnent precieux s'il portait un mot de votre main.
Mon pere a ete bien sensible ä votre souvenir; il se parte tres-bien et
travaille a un ouvrage de longue haieine sur les romans de la Table Rande.
B a passe le temps de la guerre en Champagne, et n'a pas eu materielle-
ment ä souffrir, bien que les Allemands aient oeeupe et oceupent encore
notre village d' Avenay.
Je vous' demande reellement pardon de fatiguer vos yeux par un si
long griffonnage, mais il nie faut encore repondre ä une question que vous
m' adressez. Je suis maintenant professeur suppleant au College de Frcmce
et directeur - adjoint ä l'Ecole pratique des Jmutes Etudes. Mais si vous
me faites le grand plaisir et le grand konneur de m'ecrire, il est inutile
de mettre ces titres sur l'adresse; ce n'est pas ici un usage comme en Alle-
magne. Quant ä man adresse actuelle, c'est rue du Regard, 7; mon pere
demeure au n° 3 de la meme rue avec ma sozur, chex laquelle je prends
mes repas, de sorte que sans etre marie j'ai une veritable vie de famille,
ce qui est bien doux pour un travailleur.
Je vous prierais de saluer pour moi M. Delius et M. von Sybel si je
ne savais que vous les voyez rarement. Pardonnex-moi mon indiscretion ä
laquelle vous ferex bien de ne faire aucune attention, et permettez-tnoi, mon
eher et venere maitre, de me dire une fois de plus, ou pour mieux dire de
plus en plus Tr , , . -,,
r * Votre respectueusement devoue,
O Paris.
Der Name des italienischen Bearbeiters lautet richtig E,af-
faello Fornaciari und der Titel des Buches Grammatica storica
della lingua italiana estratta e compendiata dalla grammatica
romana di Federigo Diez. Parte 1. Morfologia. Torino, Fi-
renze e Roma, Loescher. 1872. 16°. 128 S.
Die deutsche Kritik hat den Alexis nicht anders als mit
wärmster Anerkennung besprechen können; ich erwähne die
Äufserungen von Mussafia im Lit. Centralblatt 1872 Sp. 335 — 337,
von J. B. (Baechtold) in der Augsburger Allgem. Zeitung 1872,
1. Mai, und meine eigene in den Göttinger Gelehrten Anzeigen
1872, Stück 23 S. 881—903, die nach Romania 1, 398 meinem
Freunde offenbar Freude bereitet hat.
Bauer, Alfred, ist der Verfasser der 1870 erschienenen fran-
zösischen Übersetzung der Altromanischen Glossare, zu welcher
Rönsch und Paris Anmerkungen, letzterer aufserdem eine Vor-
rede beigefügt hatten. Seine Bedenken gegen Diezens Erklä-
rungen von faite und von navrer hat Paris in der Romania
I, 96 und 216 eingehender dargelegt und ebenda die eigenen
Ansichten kennen gelehrt und gerechtfertigt (s. dazu Baist in
Gräbers Zeitschrift V 556 und Romania XXIII 493).
Von dem 'Schlufs des Geschäftes' spricht Diez auch in einem
/Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez. 99
an mich gerichteten Briefe vom Juni 1873, Jessen hergehörige
Stelle in der Zts. f. rom. Philol. VII, 489 Anm. 1 zu lesen ist.
Das Werk, mit dem Paris, der Vater, 1872 beschäftigt war,
trägt den Titel Les romans de la Table Ronde, mis en nou-
veau langage et accompagnes de recherches sur Vorigine et le
caractere de ces gr arides compositions, Paris 1868 — 77, fünf
Bände. Über den reichen Ertrag des langen und arbeitsamen
Lebens (1800 — 1881) handelt der Sohn in Romania XI, 1 — 21
(1882). ______
Paris, ce 1er fevrier 1875.
Mon eher et venere maitre,
J'ai ete bien heureux d'apprendre par M. Andresen que non-seulement
vous etes en bonne sante de corps et d'esprit, mais vous avex entrepris un
nouveau travail, sur le rapport, m'a-t-il dit, des langues romanes
au tat in. Gelte question, que vous avex volontairement omise dans la
Grammaire, preoecupe actuellement beaueoup de vos eleves; mais tous re-
connaitront que e'est au maitre ä la resoudre. Ne pensex-vous pas que
ce travail dewait figurer dans le quatrieme volume de la traduetion fran-
caise, qui doit eontenir un Supplement ä tont l'ouvrage? Mais je ne sais
si votre manuscrit est pret ä etre imprime. Au reste on pourrait traduire
directement sur le manuscrit, si vous vouliex me l'envoyer. La Romania
serait aussi, naturellement, fort honoree de le publier.
Je vous eeris surtout pour vous demander un eclaircissement avant de
donner le bon ä tirer de la sixieme feuille du tome III de cette traduetion.
Vous dites ä la p. 98 que le nominatif ne peut etre regi par aueun autre
mot. Puis vous ajoutez: 'Da er indessen xu dem Accus, in einem Wechsel-
n rhiiltnisse steht, und logisches Subject iverden kann, so darf er in diesi
Lehre mit aufgenommen werden.' Je ne comprends cette phrase qii'en ehan-
geemt Subject en Object. Si j'ai raison, il est inutile de me repondre;
mais si je me trompe, et que le texte tel qu'il est soit bon, je vous serai
bien oblige de me le faire savoir par un simple mot.
Au reste, ce 5« volume offre des diffhcultes de traduetion toutes parti-
ikI ii 'res. La langue franpaise est si peu habituee ä traiter ces sujets qu'il faul
ä tout moment creer des mots ou trouver des equivalents; et nous serons
bien loin d'arriver ä rendre ce style si concis et en meine temps si anime.
Je vous en ecrirais plus long si je ne craignais de vous fatiguer.
Laissex-moi seidement vous dire que je vous serais bien reconnaissant cU
m'indiquer les faules que vous aurex, remarquees dans les deux volumes
imprimes. Ellcs doivent surtout etre nombreuses dans le premier, pour
lequel j'avais un collaborateur moins exaet et moins attentif que pour les
deux antres.
Je serai bien heureux d'apprendre de temps en temps de vos bonnes
nouvelles, et j'espere bien un jour ou l' autre aller vous voir. Rappelex-moi
au bon souvenir de votre seeur, si eile est aupres de vous, et croye-x-iimi
bien, mon eher et venere maitre, Jr . .,.- --,v .
' Votre tout devoue eleve et ami,
G Paris.
7, nie du Regard.
L'Academie de Baviere m'a fait l'insigne honneur de me nommer votre
coiifrere. Elle a maintenant pour assoeies etrangers deux romanistes, mais
... les extremes se touchent.
Paul Meyer, qui sorl de chex moi, me Charge de vous presenter ses
respects.
7*
100 Briefe von Gaston Paris an Friedrich Diez.
Mit der von Diez noch in Angriff genommenen Arbeit, deren
Hugo Andresen bei G. Paris erwähnte, kann nur die noch 1875
erschienene 'Romanische Wortschöpfung' gemeint sein. Sie trägt
übrigens auch den Nebentitel 'Grammatik der Romanischen
Sprachen. Anhang'.
Wenn Paris darüber klagt, dafs die einleitenden Zeilen des
fünften Kapitels im ersten Abschnitte der Syntax (III3, 96) nicht
verständlich seien, so kann man ihm nicht ganz unrecht geben.
Es scheint mir aber nichts gewonnen zu werden, wenn man
'logisches Subjekt' mit 'logisches Objekt' vertauscht. Diez hat
hier den Ausdruck 'logisches Subjekt' blofs in etwas anderem
Sinne gebraucht, als gewöhnlich geschieht. Er denkt an solche
Fälle, wo das, was in einem Satze Objektsakkusativ ist, durch
abweichende Gestaltung des nämlichen Gedankeninhalts zum
Subjekt gemacht werden kann (me laudant = ego Jaudor); dem
Gedanken nach (logisch) ist dann Subjekt, was zuvor Objekt
war, ist freilich auch dem sprachlichen Ausdrucke nach (gram-
matisch) Subjekt; und wir pflegen die beiden Ausdrücke 'gram-
matisch' und 'logisch' sonst da zu gebrauchen, wo grammatischer
und logischer Sachverhalt nicht übereinstimmen. Diez hat wohl
vorzugsweise an die Fälle gedacht, von denen er unter Nr. 7
des dem Akkusativ gewidmeten zweiten Abschnittes (S. 121) jenes
fünften Kapitels spricht (corsero la strada neben la strada fu
corsa).
Berlin. Adolf Tobler.
Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung.1
Die romanischen Idiome bieten uns ein Beobachtungsfeld von
seltener Ausdehnung und wunderbarer Mannigfaltigkeit: seit 2000
Jahren ertönt die Sprache Roms von Lissabon bis Bukarest und von
Sj^rakus bis Brüssel, und je weiter hinunter wir sie verfolgen, um so
verwickelter wird ihre dialektische Verzweigung.
Diese unübersehbare Differenzierung desselben Sprachstammes
ist ein linguistisches Schauspiel, wie es uns keine andere
Sprachgruppe in so durchsichtiger Weise vor Augen führt; denn
nicht nur gehen sieben romanische Schriftsprachen und unzählige
Dialekte auf ein und denselben Mittelpunkt, auf Rom, zurück, son-
dern — was andere sprachliche Disziplinen so schmerzlich ver-
missen — • dieser gemeinsame Ausgangspunkt ist uns in sprachlicher
und kultureller Hinsicht ungewöhnlich gut bekannt.
So dürfte wohl die romanische Sprachwissenschaft ganz beson-
ders dazu angetan sein, die Fragen nach dem Wesen der Sprach-
entwickelung fördern zu helfen.
Die sprachwissenschaftlichen Probleme zerfallen in allgemeine
und spezielle. Unter allgemeinen verstehe ich hier solche, die
mit dem Wesen der Sprache direkt zusammenhängen, unter spe-
ziellen solche, die eine Eigentümlichkeit einer engeren Sprach-
genossenschaft behandeln. Da wir nun, nach moderner Auffassung,
das Wesen der Sprache auf keinem anderen Weg als auf dem empi-
rischen erforschen können, und da dieser empirische Weg uns not-
gedrungen durch die Einzelsprache hindurchführt, so folgt daraus
einerseits, dafs es im Grunde keine allgemeine Sprachwissenschaft
geben darf, die nicht die Erforschung der Einzelsprache zum Aus-
gangspunkt nimmt, und anderseits, dafs jede einzelne Sprache oder
Sprachgruppe Probleme allgemeiner Natur enthält, die der betreffende
Fachmann im Zusammenhange mit den Grundfragen des Sprach-
lebens zu behandeln die Pflicht hat. Demzufolge erscheinen die Spezial-
1 Nachfolgende Arbeit ist die erweiterte Form der akademischen An-
trittsrede, die Verfasser am 28. Oktober 1904 an der Universität Basel
gehalten hat. Was sich darin an allgemeiner Orientierung und dem Ro-
manisten Allbekanntem vorfindet, möge der Fachmann durch den erwähnten
Anlafs gütigst entschuldigen,
102 Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung.
forschungen auf dem Boden der Einzelsprache den Wurzeln und
Fasern eines gewaltigen Baumes vergleichbar, dessen Stamm die all-
gemeine Sprachwissenschaft darstellt, und dessen Knospen und Blüten
uns den erwünschten Aufschlufs über das Wesen der Sprache hoffen
lassen. Der Stamm ist die Fortsetzung der Wurzeln, kein Teil des
Ganzen hat Existenzberechtigung ohne den anderen. Der einzel-
sprachliche Forscher darf nicht das gemeinsame Ziel aufser Augen
verlieren, er darf mit seinen Studien nicht — um im Bilde zu blei-
ben — sich unter der Erde verborgen halten, er mufs hinauf trachten,
er mufs dem Stamme, und womöglich der Krone, seine Kräfte zu-
fliefsen lassen.
Wie der eine nach oben streben soll, so darf der andere, der
mehr spekulativ angelegte Sprachphilosoph, niemals den Boden unter
den Füfsen verlieren; je tiefer er im Boden der realen Verhältnisse
wurzelt, je überzeugender werden seine Schlufsfolgerungen sein.
In dieser Beleuchtung betrachtet, erscheint die allgemeine Sprach-
wissenschaft als selbständiges Fach wie ein übermenschliches Unter-
fangen. Wo wird sich das Gehirn finden, das imstande wäre, alle
uns bekannten Sprachen und Dialekte wissenschaftlich zu bewäl-
tigen ? Zwar tauchen da und dort derartige Sprachengenies auf, die,
mit ungewöhnlichem Wortgedächtnis versehen, erstaunliche Leistun-
gen aufweisen: ich erinnere z. B. an den erst vor einiger Zeit ent-
deckten Italiener Trombetti, der sich mit dem Wagemut des Auto-
didakten an das Rätsel aller Rätsel, der Frage nach dem 'Ursprung
der Sprache', herangewagt hat. Dazu brauchte es die ganze Kühn-
heit und Energie eines aufserhalb der Zunft Stehenden, denn bereits
hatte die reguläre Sprachwissenschaft auf die Lösung dieses Grund-
problems verzichtet. Ob die kühnen Hoffnungen, die Italien auf
die Forschungen Trombettis setzt, in Erfüllung gehen, wird erst die
Veröffentlichung seines Werkes lehren.
Nach wie vor darf gesagt werden, dafs solche umfassenden Gei-
ster selten sind, und solange die Wissenschaft auch auf die Mit-
arbeit gewöhnlicher Sterblicher angewiesen ist, so lange wird der
Grundsatz non multa sed multum zu gelten haben.
Tatsächlich wird es auch so gehalten. Die Vertreter der allge-
meinen Sprachwissenschaft — oder, wie sie unzutreffenderweise auch
heifst, der 'vergleichenden' Sprachwissenschaft — , sie beschäftigen
sich durchaus nicht ausschliefslich und direkt mit den Grund-
problemen, sie sind auf ihrem Gebiet ebensogut Spezialforscher wie
Germanisten, Romanisten oder Orientalisten, nur hat ihr Gebiet viel
weiteren Umfang sowohl in räumlicher wie in zeitlicher Beziehung.
Sie haben es sich zur Hauptaufgabe gemacht, die indogermanischen,
besser indoeuropäischen, Sprachen in grofsen Zügen zu vergleichen,
insbesondere jene grofse Brücke zu schlagen vom Lateinischen, Grie-
chischen, Germanischen, Keltischen und Slawischen hinüber zu den
indischen und iranischen Sprachgruppen.
Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung. 103
Doch ihre Tätigkeit beschränkt sich nicht auf die historisch be-
legten Sprachen, sie nehmen sich immer mehr der allzulange ver-
nachlässigten Idiome der sogenannten Naturvölker an.
So sehen wir denn, dafs auch die Sprachvergleicher in ihren
Beobachtungen auf die einzelnen Sprachen und Dialekte zurück-
gehen, um auf Grund möglichst eingehender Einzelkenntnisse der
Sprache ihre ewigen Gesetze abzulauschen.
Es kann demnach auch kein wesentlicher Unterschied in Ziel
und Forschungsmethode bestehen zwischen Indogermanisten einer-
seits und den Vertretern engerer Sprachgruppen wie germanische
und romanische Sprachen anderseits. Alle zusammen, die einen nicht
mehr als die anderen, sind Sprachvergleicher, die an der Ähn-
lichkeit und Unähnlichkeit der Formen und der Bedeutungen die
für alles postulierte Gesetzmäfsigkeit ergründen und so ihre Ein-
sicht in den Gang der Sprachdinge mehren wollen.
An und für sich eignet sich jede Sprache, jeder Dialekt in glei-
chem Mafse zum Studium ebendieser immanenten Entwicklungs-
gesetze. Tatsächlich aber verdienen naturgemäfs diejenigen Sprachen
den Vorzug, deren Entwicklungsgang wir durch mehrere Jahrhun-
derte hindurch verfolgen können, und deren Wort- und Formen-
material uns jederzeit und in vollem Umfange zur Verfügung steht.
Wie sollen wir Lautgeschichte treiben an literaturlosen Neger-
sprachen, deren ältere Sprachformen ein für allemal spurlos ver-
klungen sind?
Um so mehr gewinnen die Kultursprachen an linguistischem
Wert. Aus ihrem Schofse sind die meisten Probleme hervorgewachsen,
die heute den Sprachforscher beschäftigen.
Es sei heute einem Vertreter der romanischen Sprachwissenschaft
vergönnt, ein Problem allgemeiner Natur aufzuwerfen und mit Bei-
spielen aus seinem Wissensbereich zu beleuchten.
Was ich vorbringen möchte, betrifft die Methode der etymo-
logischen Forschung. Die Wissenschaft hat die Autorität ab-
geschafft. An ihre Stelle ist die wissenschaftliche Methode getreten,
die jedoch, im Gegensatz zur früheren Autorität, stets der Nachprü-
fung bedarf. Im folgenden soll ein Teil dieser neuen Autorität in
Wiedererwägung gezogen werden. Es handelt sich um die prinzipielle
Frage: welche Bedingungen müssen erfüllt sein, um von
einer Etymologie sagen zu können, sie sei richtig?
3i Die erste Antwort des heutigen Linguisten wird lauten: eine
Etymologie ist dann richtig zu nennen, wenn nachgewiesen werden
kann, dafs der vorgeschlagene Entwickelungsgang sich mit den
Lautgesetzen im Einklang befindet.
Aber dürfen wirklich die Lautgesetze allein den Ausschlag
geben? Ist das Wort auf seinem langen Wege durch die Jahrhun-
derte nur lautlichen Veränderungen ausgesetzt? Geschieht es nicht
sehr oft, dafs auch sein Inhalt sich umgestaltet, dafs sein Sinn sich
104 Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung.
trübt, ja bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wird? Wer vermöchte
auf den ersten Blick im frz. truie 'Mutterschwein' die glorreiche
Hauptstadt Kleinasiens, Troja, wiederzuerkennen? oder was hat eine
Briefmarke mit einer Pauke gemeinsam? Und doch kommt das frz.
timbre vom griech.-lat. tympanüm 'Handpauke'.
Um solche Dinge glaubhaft zu machen, genügen die kabalisti-
schen Formeln der Lautgesetze nicht mehr. Da braucht es anderer
Argumente für den Uneingeweihten, denn nicht am Lautwandel
dieser Wörter nehmen wir Anstofs, sondern an dem sonderbaren
Wandel ihrer Bedeutung.
Damit sind wir am strittigen Punkt unserer Frage angelangt:
bedarf nicht auch die begriffliche Seite einer Etymologie des aus-
drücklichen Nachweises ? Und ist nicht etwa dieser begriffliche Nach-
weis ebenso notwendig zur Richtigkeit der Etymologie wie der laut-
liche Nachweis?
Auf die erste dieser Fragen wird jeder Etymologe ohne weiteres
mit ja antworten, selbstverständlich, wird er sagen, erst wo die Be-
deutungsentwickelung möglich erscheint, ist die vorgeschlagene Her-
kunft des Wortes gesichert.
Über die zweite Forderung aber, dafs lautliche und begriffliche
Prüfung der Etymologie mit gleicher Strenge durchgeführt werden
soll, darüber herrscht Meinungsverschiedenheit, darüber gibt es einen
längeren literarischen Handel, der sich in den letzten Jahren von
1899 — 1903 zwischen zwei hervorragenden Vertretern der roma-
nischen Sprachwissenschaft abgespielt hat; die beiden Opponenten
heifsen Antoine Thomas und Hugo Schuchardt.
Unsere Aufgabe wird also in folgenden Punkten zu bestehen
haben :
Zuerst haben wir über den Verlauf der Kontroverse zu be-
richten, dann das Dafür und Dawider des neuen Postulates abzu-
wägen und endlich unsere persönliche Stellung dazu Ihrem Urteil
zu unterbreiten.
Bevor wir jedoch an diese eigentliche Aufgabe herantreten, sei
es mir gestattet, einige Erwägungen allgemeiner Art vorauszuschicken.
Der Hang zum Etymologisieren, worüber sich kürzlich Rudolf
Thurneysen in einer trefflichen Schrift1 geäufsert hat, ist eine
psychologische Erscheinung von besonderem Interesse, erstens weil
er sehr alt und zweitens in allen Schichten der Bevölkerung ver-
breitet ist. Der Herkunft der Wörter nachsinnen ist wohl die älteste
Form des Nachdenkens über die Sprache und zugleich auch die-
jenige linguistische Tätigkeit, die auszuüben jeder ein göttliches
Recht zu haben glaubt.
Wie keck oft der Volksgeist dabei zu Werke geht, das zeigt
Die Etymologie, Prorektoratsrede vom 11. Mai 1904. Freiburg i. B.
Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung. 105
uns jene eigenartige Umbildung der Wörter, die man Volksety-
mologie nennt: 'Abendteuer' aus mhd. aventinre und Armbrust aus
arcubalista sind allbekannt. Einleuchtender als diese beiden Unideu-
tungen ist, was der Volkswitz aus dem Philosophen Leibniz ge-
macht hat: er nannte ihn in Hannover Lövenix, der 'nichts glaubt'.1
Wir alle sind Zeuge gewesen der drolligen Verstümmelungen des
Wortes Influenza, das die moderne Medizin vor einigen Jahren un-
bedachtsamerweise ihrem geheimen Dossier hat entschlüpfen lassen.
In Frankreich geht es den medizinischen Ausdrücken nicht besser.
Die lesion interne 'innere Verletzung' wird im Volksmunde zu legion
d'internes; die potion opiacee 'der opiumhaltige Trank' zu la potion
ä pioncer; das delirium tremens zu einem wenig einleuchtenden de-
lire d'homme tres mince. Den 'Tramway' nennt der Pariser gern le
trame-moi.
Oft begegnet man recht sinnreichen Deutungen: die Orange
heifst frz. orange, ital. dagegen arancio; die ital. Form ist die ur-
sprüngliche, das Wort ist arabischer Herkunft. Das o von orange
ist ein Anklang an or 'Gold', offenbar im Gedanken an die gold-
gelbe Farbe der Frucht. — Der Deutsche sagt Admiral, der Fran-
zose amiral; die letztere Form ist die etymologisch richtige, auch
dieses Wort ist arabisch. Trotzdem kommt unser Admiral aus dem
Französischen, wo es im 16. und 17. Jahrhundert so hiefs in Anleh-
nung an admirer.
Sicherheit in etymologischen Dingen ist erst eingetreten durch
die Entdeckung der Lautgesetze: d. h. seit dem ersten Drittel des
vorigen Jahrhunderts, wo die drei grundlegenden Grammatiken von
Bopp, Grimm und Diez erschienen sind, der erste der Begründer
der indogermanischen, der zweite derjenige der germanischen und
der dritte, Diez, der Gründer der romanischen Sprachwissenschaft.
Diese Entdeckung spaltet die ganze etymologische Forschung
in zwei Perioden: in eine unkritische vor dem 19. Jahrhundert
und in eine kritische oder wissenschaftliche in und nach dem
19. Jahrhundert.
Das Verfahren der unkritischen Etymologen ist allbekannt: es
ist dasjenige des Volkes und der Kinder, denen sich gelegentlich
auch ein Reimkünstler beigesellt; da wird auf gut Glück aus äufser-
licher Ähnlichkeit zweier Wörter auf ihre innere Verwandtschaft ge-
schlossen, und will die Deutung nicht recht plausibel erscheinen, so
werden ganz willkürlich einige Mittelglieder erfunden. Ein typischer
Vertreter dieser Methode in Frankreich ist Menage, ein Zeitgenosse
Molieres. Berüchtigt ist seine Ableitung von haricot 'Bohne', das in
allem Ernst vom lat. faba stammen soll, und zwar auf folgende
Weise: von faba 'Bohne' wird gebildet fabaricus, dann fabaricotus
und durch Aphärese aricotus, haricot. Kein Wunder, dafs derselbe
1 Siehe L. Feuerbach, Sämtliche Werke G S.V.
106 Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung.
Hexenkünstler es fertig bringt, frz. rat vom lat. müs herzuleiten
über die Zwischenglieder: muratus, ratus, rat\
Wir können uns nicht enthalten, dabei an das bekannte ukamrjt,
'Fuchs' erinnert zu werden, und begreifen, wie Voltaire von dieser
Pseudowissenschaft sagen konnte: c'est une science oü les voyelles ne
fönt rien et les consonnes fort peu de chose. '
Solchem planlosen Tasten gegenüber war die Begründung der
Sprachwissenschaft für die Etymologie eine erlösende Tat. Erst
seit dieser Zeit haben sich wieder ernste Geister ihr zugewandt. Man
hat unter dem Einflufs der naturwissenschaftlichen Methode erkannt,
dafs auch die Wortveränderungen nicht ein Spiel des Zufalls sind,
sondern dafs sie gesetzmäfsig verlaufen, dafs also die erste Aufgabe
des Linguisten darin besteht, diese Sprachgesetze aufzufinden. Nur
an der Hand dieser Gesetze können wir die Richtigkeit einer auf-
gestellten Etymologie ermessen, und wenn noch hie und da die alte
etymologische Kunst ihr Wesen treibt, so wird sie ebensowenig ernst
genommen wie die astrologische neben der astronomischen Wissen-
schaft.
Es ist bis jetzt noch nicht gelungen, vom Inhalt eines Wortes
auszusagen, er müsse im Lauf der Jahrhunderte in dieser oder jener
Richtung sich verändern, wie wir es von der Lautform eines Wortes
leidlich behaupten können. Das wäre das Ziel einer wissenschaft-
lichen Bedeutungslehre; wir stehen kaum in den ersten Anfängen.
Das einzige, was man erreicht hat, ist die Abgrenzung der verschie-
denen Arten von Bedeutungswandel, wie sie Darmesteter, Paul,
Wundt (Völkerpsychologie I, 2, 487 ff.) u. a. aufgestellt haben.2 'Die
'Semasiologie ist ein Stiefkind der Grammatik' (man lese: Linguistik),
beginnt Hey seinen bemerkenswerten Artikel (Arch. f. lat. Lexiko-
graphie 9, 193). Darüber haben sich viele Forscher beklagt, so
Curtius, Heyse, Schleicher, Geiger, Steinthal, Lazarus,
L. Tobler, Heerdegen u. a. (siehe darüber Hecht, Die griechische
Bedeutungslehre, Leipzig 1888).
Ich mufs hier einen wichtigen Unterschied andeuten: all den
genannten Semasiologen liegt daran, die Arten und die Ursachen
des Bedeutungswandels zu kennen und sie mit möglichst vielen Bei-
spielen zu belegen. Für die Etymologie wäre ein anderes Verfahren
1 Weniger begreiflich ist, dafs der grofse Dictionnaire encyclopedique
von Larousse in dasselbe Hörn bläst und sagt: quand une etymologie est
savante, il y a eent ä parier contre im qu'elle est fausse. — Man sieht, wie
lange begangene Sünden nachwirken, man sieht aber auch, wie lange es
geht, besonders in Frankreich, bis sprachwissenschaftliche Erkenntnis in
solchen Sammelwerken Eingang findet.
' Was gewisse Sprachforscher wie Whitney und von der Gabe-
len tz noch bezweifeln, ist doch wohl nicht, wie Wundt (Völkerpsychologie
I, 2, 4) anzunehmen scheint, die Gesetzmässigkeit der Bedeutungsverände-
ruugen an sich, sondern die Möglichkeit, die in Frage stehenden Erschei-
nungen in Gesetze zu fassen.
Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung. 107
erspriefslicher: nämlich statt vom Wort vom Begriff auszugehen
und zu zeigen, mit welchen Mitteln irgendein Begriff ausgedrückt
worden ist, folglich ausgedrückt werden kann.
Vergegenwärtigen wir uns, dafs jedes Wort aus zwei Elementen
besteht, einem lautlichen und einem begrifflichen, und dafs
diese Elemente gleichwertig sind, weil weder ein Wort ohne Be-
deutung noch eine Bedeutung ohne lautlichen Halt bestehen kann,
so folgt daraus, dafs Lautwandel und Bedeutungswandel bei der
Etymologie gleichmäfsig berücksichtigt werden müssen.
Ein Beispiel mag das veranschaulichen : die romanische Sprach-
wissenschaft behauptet, das frz. chetif 'armselig, schwächlich' komme
vom lat. captivus 'der Gefangene'.
Worauf gründet sich diese Behauptung? Sie gründet sich auf
zweierlei Erwägungen :
Erstens wird gesagt: das neufrz. chetif ist die lautgesetzliche
Entsprechung des lat. *cactivus für captivus, was so viel bedeutet
als: die Lautverbindung *cactivu konnte im Neufranzösischen nichts
anderes ergeben als chetif, denn
1) der Nexus ca erscheint regelmäfsig nfrz. als che: cabaUv zu
cheval, capillu zu cheveu auch unter dem Ton: caput zu chef, carus
zu eher und nach dem Ton : manica > manche, dominica > dimanche ;
2) der Nexus act wird regelmäfsig zu aii, daher afrz. chaitif
prov. caitiu, man vergleiche: factu frz. faxt, lade frz. lait, tractu frz.
trait; endlich wird
3) -ivufs) zu if: so vivu zu vif, tardivu zu tardif, *restivu(s) zu
retif 'widerspenstig'.
Damit ist die lautliche Entwickelung von *cactivus zu chetif be-
wiesen, willkürlich bleibt nur noch der Schritt von captivus zu *cac-
tivus. Diese Vertauschung — kt für pt — ist noch nicht genügend
aufgeklärt; am einleuchtendsten ist der Vorschlag Thurneysens, der
keltischen Einflufs annimmt (s. KeUor omanisches S. 16), dadurch er-
klärt es sich auch, weshalb das ital. cattivo 'schlecht' und das span.
cautivo 'gefangen', wo ja keltischer Einflufs fast ausgeschlossen ist,
auf captivus, nicht auf *cactivus zurückgehen.
Trotz dieser letzteren Schwierigkeit darf man also die Etymo-
logie, chetif aus captivus, vom lautlichen Gesichtspunkt als ge-
sichert hinstellen.
Was sagt zweitens nun die Semasiologie zu unserer Aufstel-
lung? Captivus heifst gefangen, chetif bezeichnet ein armseliges,
kränkliches Wesen, ein erbärmliches Ding. La chetive pecore nennt
Lafontaine den unverständigen winzigen Frosch, der es dem dicken
Ochsen an Leibesfülle gleichtun wollte. II a chetive mine sagt man
von einem, dessen Äufseres unansehnlich ist, une chetive recolte ist
eine magere Ernte.
Damit sind wir ziemlich weit von der ursprünglichen Bedeutung
'gefangen' abgekommen, die sich, wie bekannt, im gelehrten captif
108 Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung.
erhalten hat, und müssen zugeben, dafs, wenn uns nicht die Laut-
gesetze kategorisch auf captivus hingewiesen hätten, wir kaum darauf
verfallen wären, ein Wort von der Bedeutung 'gefangen' zu suchen.
Und so geht es bei den meisten etymologischen Versuchen: die
Lautgestalt des Wortes bringt das Gedächtnis des Forschers in Be-
wegung, er sucht nach einem ähnlich klingenden in der älteren
Sprache — er braucht dazu ein gutes Stück Phantasie — , glaubt er
ein Etymon gefunden zu haben, so gilt es, an Hand von vielen Bei-
spielen die lautliche Nachprüfung vorzunehmen, fällt diese günstig
aus, so sucht man nachträglich auch die Bedeutungs Veränderung,
falls eine solche vorhanden, durch ein paar mehr oder weniger zu-
treffende Definitionen plausibel zu machen, und — die Etymologie
ist fertig.
Was wir in unserem Falle haben sollten, ist ein semasio-
logisches Gesetz, das da sagt: bedeutet ein Wort 'gefangen', so
geht es innerhalb eines gewissen Zeitraumes und innerhalb eines ge-
wissen Sprachgebietes in die Bedeutung 'armselig' über. Ein solches
Gesetz dürfte sich ebenbürtig unseren Lautgesetzen an die Seite
stellen und gäbe für jede Etymologie die erwünschte Kontrolle. Doch
das ist Zukunftsmusik, vorläufig haben wir keine solchen Gesetze,
und es ist auch keinerlei Aussicht vorhanden, dafs wir je den Be-
deutungswandel mit dieser Präzision in Formeln fassen können.
Kehren wir zu unserem 'Gefangenen' zurück.
Worauf stützt sich — so fragen wir auch hier — die Behaup-
tung, 'gefangen' sei zu 'elend' geworden? Sie stützt sich, abgesehen
von ihrer logischen Möglichkeit, auf eine bis jetzt verschwiegene Tat-
sache: das Altfranzösische hat nämlich seinem chaitif 'die ursprüng-
liche Bedeutung noch bewahrt, und bis ins 15. Jahrhundert hinein
lebt die Bedeutung 'gefangen' neben der neufranzösischen fort, diese
erscheint jedoch ihrerseits schon im Rolandsliede, wo es von der um
ihren Gatten trauernden Heidenkönigin Bramimonde heifst (V. 2596):
trau ses chevels si se cleimet caitive
'sie rauft ihr Haar und klaget jämmerlich'. Wir konstatieren somit,
dafs dieselbe Lautform während mindestens drei Jahrhunderten un-
sere beiden Bedeutungen 'gefangen' und 'elend' in sich vereinigte.
Da diese Bedeutungen sich begrifflich so nahe stehen, wäre es
ebenso sinnlos, anzunehmen, chaitif 'gefangen' sei ein anderes Wort
als chaitif 'elend', wie dies auf der Hand liegt bei cousin 'Vetter'
und cousin 'Stechmücke' und durch die verschiedene Etymologie —
das eine von consobrinus, das andere von culicinum — bestätigt wird.
Wenn nun dasselbe Wort mehrere Bedeutungen aufweist, so ist
logischerweise nichts anderes denkbar, als dafs die eine von der an-
deren abgeleitet ist, es mufs sich somit auch die allgemeinere Be-
deutung 'armselig' aus der spezielleren 'gefangen' herausentwickelt
haben.
Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung. 109
Sie haben sich vielleicht schon längst gewundert, dafs ich mit
einem ganzen Apparat von Tatsachen und Überlegungen aufrücke,
"während doch die Dinge so einfach lägen, und sind vielleicht an jene
ersten Geometriestunden erinnert worden, wo man angehalten wird,
Dinge zu beweisen, deren Evidenz man deutlich vor Augen sieht.
Es sei ja leicht begreiflich, werden Sie sagen, es liege ja in der
Sache begründet, dafs das Wort 'Gefangener' den Sinn 'armselig'
annehme, da der meist schlecht behandelte Gefangene sich in einem
kläglichen Zustande befinden müsse.
Darauf erlauben Sie mir wohl zu antworten, dafs der gesunde
Menschenverstand zwar eine unentbehrliche Eigenschaft jedes wissen-
schaftlich Arbeitenden sein soll, dafs aber dieser sogenannte gesunde
Menschenverstand nicht bei jedem gleichgeartet ist und deshalb nicht
immer das zuverlässigste Mittel sein dürfte, um die Wahrheit zu er-
forschen.
In unserem Fall, ich gebe es zu, streifen die Dinge an Evidenz.
Sobald ich Ihnen aber mitteile, dafs captivus im Italienischen 'schlecht'
(un uomo cattivo) und captiva im Sardischen 'Witwe' bedeutet, so
werden Sie im ersten Augenblicke kopfschüttelnd einwenden, das
müsse ein anderes Wort sein, es seien doch nicht alle Gefangenen
'schlechte Menschen', noch werden alle gefangenen Frauen zu Witwen.
Was uns zu trennen scheint, ist der Unterschied zwischen histo-
rischer Argumentation und logischer Argumentation, zwischen
einem Tatsachenbeweis und einem Deduktionsbeweis. Letzterer mag
oft geringere Mühe kosten, denn
Leicht beieinander wohnen die Gedanken,
Doch hart im Räume stofsen sich die Sachen,
aber in jeder empirischen Wissenschaft gilt der Grundsatz: eine ein-
zige sicher beobachtete Tatsache besitzt mehr Beweiskraft als die
schönste aprioristische Deduktion.
Wir stehen noch am Bedeutungswandel: 'gefangen' zu elend.
Sehen wir uns nach weiteren semasiologischen Beweismitteln um.
Da liefert uns das Keltische ein frappantes Analogon (Thurneysen,
Op. cit. p. 16 Anm. 1): altirisch cacht aus lat. captus hat ebenfalls
die Doppelbedeutung 'gefangen' und 'unglücklich, elend', wobei die
erstgenannte gleichfalls die ursprünglichere ist.
Fügen wir dazu das deutsche 'elend', ahd. eli-lenti, in anderem,
fremdem Lande befindlich, 'ausländisch', auch 'gefangen' bedeutend,
so können wir mit ruhigem Gewissen sagen : der Bedeutungsübergang
'gefangen' zu 'elend' ist nicht nur logisch wahrscheinlich, sondern
— was mehr wert ist — historisch gesichert, und zwar durch drei
Sprachen, französisch, keltisch und deutsch, die sich in der Haupt-
sache unabhängig voneinander entwickelt haben.
Summa summarum, die Etymologie, chetif aus captivus, ist
lautlich und begrifflich kaum anfechtbar, und Sie werden nach
110 Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung.
dem Gehörten der romanischen Sprachwissenschaft, die sie aufstellt,
recht geben.
Ich war bemüht, Ihnen für dieses Beispiel das ganze Beweis-
material vorzuführen. Es geschah in der Absicht, Ihre Aufmerksam-
keit auf die Verschiedenheit der Beweisführung zu lenken, die be-
steht zwischen lautlichem und begrifflichem Nachweis.
Jenem stehen Lautgesetze zur Verfügung, die eine fast absolute
Kontrolle ermöglichen, während diesem, dem Bedeutungsnachweis,
nichts Ähnliches zu Gebote steht.
Wir sind in semasiologischer Hinsicht auf dreierlei Hilfsmittel
angewiesen :
1) auf Belegstellen aus der Übergangszeit,
2) auf Parallelentwickelungen aus anderen Sprachen,
3) auf aprioristische Erwägungen.
Bei der Etymologie chetif — captivus waren wir in der glück-
lichen Lage, die beiden ersten Mittel mit Erfolg anwenden zu können,
und so konnten wir dem gefährlichen dritten, der blofs logischen
Konstruktion, aus dem Wege gehen. Sehr oft aber ist dieses dritte
Mittel die letzte Zuflucht der Etymologie.
Wir kehren zu unserer Streitfrage zurück und berichten zuerst,
was über dieselbe geschrieben worden ist.
Der erste, der meines Wissens auf diese Ungleichheit in der
Beurteilung aufmerksam machte, ist der französische Sprachvergleicher
Michel Breal, der das grundlegende Werk von Bopp: Verglei-
chende Grammatik der indogermanischen Sprachen ins Französische
übersetzte und dadurch die vergleichende Sprachforschung in Frank-
reich begründete.
Michel Breal schrieb im Jahre 1889 einen kurzen Aufsatz, be-
titelt: De l'importance du sens en etymologie et en grammaire (Mem.
de la Soc. de linguistique VI, 163 ff.). Gleich am Anfang heilst es:
il y a, en etymologie, un guide dont on ne tient pas assez compte:
c'est le sens du mot. Darin erzählt er, wie Stowasser das lat.
meridies 'Mittag' aus merus dies 'heller Tag' ableitet, entgegen der
gewöhnlichen Etymologie von medius dies 'die Mitte des Tages'. Diese
letztere Ableitung hält Breal mit zweierlei semasialogischen Gründen
aufrecht.
Erstens verweist er auf andere Sprachen, wie wir es bei chetif
aus captivus getan haben. Der Begriff 'Mittag' wird in den meisten
Sprachen durch 'Mitte des Tages' wiedergegeben. l
Zweitens führt er die logische Wahrscheinlichkeit ins Feld. Es
ist in der Tat von vornherein wahrscheinlicher, dafs, um die Mitte
des Tages auszudrücken, sich dies mit medius zu einem Worte ver-
1 Nur das Baseldeutsche macht hiervon eine bemerkenswerte Aus-
nahme, indem es dr ximmis 'zum Imbifs' sagt.
Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung. 111
binde als mit merus, das seiner Kernbedeutung 'rein, unvermischt'
nach überhaupt schlecht zum Begriff dies pafst. 1
Auch Schuchardt spricht sich für medius dies aus, er meint
geradezu, einem anderen Ursprung nachsinnen sei chercher midi ä
quatorze heuresf
Wir können uns hier nicht darauf einlassen, die lautlichen und
begrifflichen Schwierigkeiten, die beide Vorschläge bieten, gegen-
einander abzuwägen, der Fall meridies ist für uns hier lediglich von
prinzipieller Bedeutung. Lautlich ist merus dies vorzuziehen, begriff-
lich ist medius dies zu erwarten.
Darf in einem derartigen Falle, wo lautliche Bedenken bestehen,
die Semasiologie den Ausschlag geben? So lautet die Frage. Breal
sagt ja, er drückt sich folgen dermafsen aus: on a bien tort de re-
pousser, au nom des lois phoniques, des etymologies qui s'imposent.
Diesen Grundgedanken nimmt ein Jahr später, 1890, Hugo
Schuchardt in einem seiner zahlreichen etymologischen Artikel
wieder auf. Wir werden uns im folgenden hauptsächlich mit ihm
zu beschäftigen haben.
In dem erwähnten Artikel fragt sich Schuchardt, weshalb so
viel Etymologien nicht befriedigen, ohne dafs man ihnen einen eigent-
lichen Verstofs gegen die Herleitungskunst nachweisen könne. Er
sieht den Grund hierfür in der Unvollkommenheit der Kunst, die
auf die lautliche Prüfung mehr Gewicht lege als auf die begriffliche.
Schon hier argumentiert er mit demjenigen romanischen Worte, das
unbestreitbar am meisten Tinte hat müssen über sich ergehen lassen,
mit it. andare, fr. aller, prov. anar, span. andar, nach Schuchardt
aus lat. ambulare.
Dieses berühmte andare - Problem ist allerdings ein treffliches
Beispiel zugunsten seiner These. Wenn ambulare das richtige Ety-
mon ist, so hat die Phonetik einmal glänzend unrecht, und die Se-
mantik feiert einen seltenen Triumph. Denn man mag ambulare
drehen und wenden wie man will, um zu andare oder zu aller zu ge-
langen — nie werden die gestrengen Lautgesetze ihre Zustimmung
geben ; begrifflich aber gehört diese Herleitung, auch für unser Dafür-
halten, zu jenen etymologies qui s'imposent, von denen Breal spricht.
Wo eben so starke Gleichheit der Bedeutung vorliegt, wie romanisch
'gehen' und lateinisch 'wandeln', da müssen die Lautgesetze den
kürzeren ziehen, d. h. als uns noch unvollständig bekannt angesehen
werden. Vgl. E. Bovet, Ancora il problema andare, Roma 1901.
1 In einem Punkte hat Bre\al unrecht. Er sagt: quand il s'agit d'ex-
pressions aussi precises, on ne doit pas les expliquer par des ä peu
pres. Dem widersprechen die Tatsachen : z. B. gerade die Bedeutungs-
entwickelung von irnbis, das zuerst irgendeine Mahlzeit ohne
nähere Zeitbestimmung bezeichnet, dann das Mittagessen, und
schliefslich wird es auch, gerade in Basel, für Mittagszeit ohne Bezug
auf das Essen gebraucht.
112 Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung.
Vorderhand bleibt die Schuchardtsche Anregung unbeachtet.
Nur gelegentlich fällt eine Bemerkung in seinem Sinne: so sagt z. B.
Brugmann im Jahre 1895 (Anzeiger f. idg. Sprach- u. Altertumskunde
V, 17): 'Es gibt nicht nur Gesetzmäfsigkeiten im Lautwandel, son-
dern auch gewisse Regelmäfsigkeiten in den Bedeutungsverschiebungen.
Wie jene, so hat der Etymologe auch diese zu berücksichtigen.' Be-
merkenswert ist die Abstufung im Ausdruck: der Bedeutungswandel
zeigt nur 'gewisse Regelmäfsigkeiten' !
Ähnlich äufsert sich ein anderer Indogermanist, Osthoff. In
der Vorrede zu seinen Etymologischen Parerga I (Leipzig 1901) sagt
er, er habe 'die lautliche und morphologische und vor allen Dingen
auch die begriffsgeschichtliche Seite der in Rede stehenden
Fragen ... erörtert.' Er wird seinen guten Grund haben, weshalb er
gerade die semasiologische Seite so stark betont.
In den Jahren 1898 und 1899 erschienen die 'Romanischen
Etymologien' von Schuchardt, die den Kampf eröffnen sollten. Dieser
Kampf erstreckt sich über einen Zeitraum von vier Jahren, er spielt
sich ab in den zwei angesehensten romanistischen Zeitschriften, von
denen die eine in Deutschland (Zeitschr. f. rom. Phil), die andere in
Frankreich (Romania) erscheint. Den einen Gegner kennen wir be-
reits, es ist Schuchardt. Der andere ist Antoine Thomas. Es
sind somit zwei gewiegte Etymologen, die aneinander geraten. Wir
wollen versuchen, sie in Kürze zu skizzieren.
In der erwähnten Sammlung von romanischen Etymolo-
gien finden sich zwei prinzipielle Erörterungen. In der ersten ver-
wahrt sich Schuchardt dagegen, dafs bei etymologischen Fragen der
persönliche Geschmack des Forschers mitspielen dürfe. Ein solcher
Protest sollte überflüssig sein, auch scheint er mehr als Veranlassung
zu einigen etymologischen Grundsätzen zu dienen, von denen ich
zwei hervorhebe:
1) 'Es sei bei jeder Etymologie die lautliche und die begriff-
liche Entwickelungsreihe in ihrer Kontinuität zu Verfolgen.' Darauf
folgen drei Wortuntersuchungen. Neu ist an seiner Darstellung die
scharfe Trennung der lautlichen von der begrifflichen Besprechung
des Wortes. Beiden Elementen wird gleich gründliche Behandlung
zuteil.
2) Es sei erste Aufgabe des Etymologen, die Bedeutung des
Wortes möglichst genau zu ermitteln.
Beide Ratschläge sind alt und selbstverständlich. Neu und ori-
ginell ist bei Schuchardt nur die Art ihrer Befolgung. Den ersten
haben wir durch chetif — captivus zu veranschaulichen versucht;
wie er den zweiten verstanden wissen will, soll uns das Wort gilet
zeigen.
Das franz. gilet wird gewöhnlich abgeleitet von Gilles, lat. Mgi-
dius, deutsch Gilgen, z. B. Sankt Gilgen eine Sommerfrische im Salz-
burgischen. Gille(s) ist in Frankreich der Name einer komischen
Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung. IIP.
Figur des Jahrmarkttheaters — ein Hanswurst, der eine kurze, ärmel-
lose Weste getragen haben soll, daher gilet 'Weste', gerade wie das
neufranzösische Wort für 'Hose' pantalon ganz sicher von einer ita-
lienischen Theaterfigur herrührt, dem Pantalone, der lange Hosen trug.
Bis dahin scheint bei gilet alles sehr einleuchtend. Doch
Schuchardt will der Sache auf den Grund gehen, er sagt sich: wenn
die Weste nach diesem Gille benannt wurde, so mufs jene Theater-
weste von besonders auffallender Gestalt gewesen sein. Es drängt
ihn, eine solche wirklich zu sehen. Er sucht also in umfangreichen
Kostümwerken und findet nichts, er durchblättert drei Bände von
Stichen Watteaus und findet nichts, endlich schreibt er an den
Kostümverwalter des Theätre francais, der ihm freundlichst einen
Gille von Watteau zuschickt. Und was findet er? Das so mühsam
gesuchte gilet entpuppt sich als gewöhnlicher langärmliger Pierrot-
rock, der bei niemandem den Eindruck einer Weste erweckt.
Diese Etymologie ist also sachlich sehr schlecht gestützt. Ihr
gegenüber steht nun erstens das türkische Wort yelek, das ebenfalls
'Weste' bedeutet und begrifflich keinerlei Schwierigkeiten macht,
zweitens die kulturhistorische Tatsache, dafs verschiedene Völker die
türkische Weste entlehnt und yelek oder ähnlich benannt haben. So
die Griechen, die Albaner, die Rumänen, die Slawen, ferner die Ita-
liener (giuleceo) und die Spanier (gileco, jaleco, auch chaleco). Das
Wort für die türkische Weste wurde sodann auf ähnliche Kleidungs-
stücke übertragen, unter anderen auch auf die in Paris aufkommende
moderne Weste, die von da an bald die zivilisierte Welt eroberte. i
Wir müssen also wohl auf die Ehre verzichten, in einem Hans-
wurstkostüm herumzugehen, und müssen uns mit einem gilet tür-
kischer Abstammung zufrieden geben!
Ein anderes Gebiet, in das sich Schuchardt, der Etymologie zu-
liebe, hineingearbeitet hat, ist das der Fischerei. Er hat dabei einen
kostbaren Fang getan, den er uns ebenfalls in seinen 'Romanisehen
Etymologien' vorführt: es handelt sich um die Herleitung von frz.
trouver, it. trovare, prov. trobar (daher Troubadur eig. 'der Versfinder').
Dem schon erwähnten an^are-Problem 6tellt sich das trovare-Prohlem
würdig zur Seite. Da es zum Hauptzankapfel zwischen Schuchardt
und Thomas wurde, mufs ich Sie kurz darüber unterrichten.
Das Lateinische hat zwei Wörter für 'finden': reperire und in-
venire, beide sind in den romanischen Volkssprachen spurlos ver-
schwunden. An ihre Stelle getreten ist das romanische trovare. Woher
mag es gekommen sein ? Es stehen sich in der Hauptsache nur zwei
Ableitungen gegenüber: die alte von Diez aus turbare 'verwirren',
dann 'durchstöbern', 'durchsuchen' und von da 'finden', und die
neuere von Gaston Paris aus einem hypothetischen *tropare, vom
1 Lautlich ist das zu erwartende *gilee durch Suffixvertauschung zu
gilet umgewandelt worden. Man vergleiche it. albercocco mit frz. abricot.
Archiv i. n. Sprachen. CXV. 8
111 Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung.
griecli. Tonuoc 'Art und Weise', das bedeutet hätte: 'Melodien erfin-
den', 'komponieren', dann 'finden' überhaupt. Lautlich ist *tropare
einwandlos, begrifflich fehlt ebenfalls nichts als der Nachweis, dafs
es so gegangen.
Schuchardt nun nimmt die Diezsche Ableitung aus turbare wieder
auf. Dabei ist ihm zweierlei gelungen: erstens hat er die lautlichen
Bedenken bedeutend reduziert, und zweitens hat er den Bedeutungs-
übergang von 'verwirren' zu 'finden' in hohem Mafse wahrscheinlich
gemacht.
Auf die lautliche Seite kann ich hier nicht eintreten. Ganz neu
ist nur die Begriffsentwickelung; sie ist ein Muster von Gründlich-
keit und überzeugender Darstellung. Turbare 'verwirren' wurde in
der Fischersprache gebraucht: turbare aquam hiefs das Wasser ver-
wirren, das Wasser durchwühlen, trüben, um die Fische aufzuscheu-
chen und in die Netze zu treiben, eine bestimmte, weitverbreitete
Art des Fischfanges, die man deutsch 'Pulsen' nennt. Turbare verlor
den allgemeinen Sinn 'verwirren' (worin es bald durch turbulare,
troubler ersetzt wurde) und wurde ausschliefslich Fischerausdruck ;
daher die Schwierigkeit, das Wort literarisch zu belegen. Das Pulsen
nun ist eine Art des Fischesuchens, und Fischesuchen ist, wenig-
stens für einen Fischer von Beruf, meist mit einem Fischefinden
verbunden. — Suchen und Finden stehen in einem eigentümlichen
Verhältnis zueinander; bald gegensätzlich, wie z. B.: ich habe
ihn lange gesucht, aber nicht gefunden, bald eng verwandt, wie
im Sprichwort: wer sucht, der findet, bald identisch, denn man
kann ebensogut sagen 'er sucht überall Schwierigkeiten' wie 'er
findet überall Schwierigkeiten', oder Quellen such er und Quellen-
finder. Jedes Finden ist nichts anderes als ein mit Erfolg betrie-
benes Suchen; da das in der Fischerei die Regel ist — wie könnte
es auch ohne diese Bedingung ein Lebensberuf sein? — , so ist die
Vertretung von 'suchen' durch 'finden' naheliegend, und Schuchardt
ist theoretisch unwiderlegbar. Der letzte Schritt endlich von 'Fische
finden' zu 'finden' überhaupt läfst sich durch viele Analoga belegen.
So heifst frz. gagner ursprünglich 'durch Weiden (dial. durch Säen,
aspan. durch Mähen) erwerben', dann überhaupt 'erwerben, gewinnen';
arracher ist zuerst 'Wurzeln ausreifsen', dann 'ausreifsen' schlechthin ;
bechern früher nur: 'aus Bechern trinken', heute von jedem Trink-
gelage gebraucht.
Was ich oben über den Begriffsübergang von 'verwirren' zu
'finden' wiedergegeben habe, umfafst in der Schuchardtschen Ab-
handlung allein 131 wohldurchdachte Druckseiten! Um über das
Fischtreiben in den verschiedenen Ländern genau unterrichtet zu
sein, hat er die Mühe nicht gescheut, sieben vielbändige, in sechs
verschiedenen Sprachen geschriebene Spezialwerke über Fischerei
durchzusehen. Wir begreifen, dafs ihm daran gelegen ist, dafs ein
so ungewöhnlich zähes Suchen nun auch zum Finden geführt habe.
Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung. 115
Die französischen Gelehrten Gaston Paris und Antoine Thomas
waren nicht dieser Ansicht. Thomas äufserte sich 1900 in einer Re-
zension der Schuchardtschen Schrift (Rom. XXTX, 438). Darin inter-
essieren uns zwei Punkte: seine prinzipielle Stellung und seine Ab-
lehnung der Schuchardtschen Etymologie: trouver aus turbare.
Nachdem er dem Grazer Gelehrten nach französischer Art ein
Kränzchen gewunden hat, kritisiert er seine Methode f olgendermafsen :
er behauptet 1) M. Seh. revendique fierement la liberte de traiter l'ety-
mologie ä sa guise, 2) il faii trop bon marche de la phonetique und
3) La semantique a trouve en lui un brillant champion : j'ai bien peur
qu'en voulant conquerir le monde pour sa dame, il ne seme les ruines
sur sa route, was so viel heifst als: Herr Schuchardt geht in etymo-
logischen Dingen eigenmächtig vor, er nimmt es zu leicht mit den
Lautgesetzen, er wird statt Rosen nur Dornen ernten. Diese drei
Gedanken zusammen — eine ungünstige Charakteristik, ein metho-
discher Vorwurf und eine schwarze Prophezeiung — liefsen natürlich
die lobenden Worte am Anfang als Zucker für die Pille erscheinen.
Nach so schwerwiegenden Anschuldigungen hätte man eine ein-
gehendere Kritik der Schuchardtschen Etymologien erwarten dürfen.
Auf eine Diskussion über turbare läfst er sich vorläufig gar nicht
ein ; er sagt nur kurz am Schlafs : je ne crois pas du tout ä turbare,
et pour rien au monde je ne deserterais *tropare, que la pho-
netique peut seul avouer.
Noch im selben Jahr erfolgt Schuchardts Erwiderung: 'die
Kritik einer Kritik', ein scharfer Artikel. Schuchardt hatte die Pille
trotz der Versüfsung nicht verschluckt, er antwortet: seine Methode
sei nicht willkürlich, aber er, Thomas, trete dogmatisierend auf; sein
Dogma sei die Superiorität der Lautgesetze über die Gesetze des Be-
deutungswandels, während doch Laut und Begriff sich aufs innigste
im Worte verbänden und beide der allgemein postulierten Gesetz-
mäfsigkeit unterworfen seien. Deshalb habe er, Schuchardt, sich der
Dame Semantik angenommen, die wie ein Aschenbrödel behandelt
werde, und wenn auch diese seine Dame nicht durch äufsere Reize
glänze wie die Dame Phonetik, die sich Thomas auserkoren habe,
so habe sie dafür innere Vorzüge, die ihre Verehrer reichlich ent-
schädigen.
Daraufhin wird Thomas etwas alttestamentlich und sagt: ä mon
avis la science a parle par la bouche de Gaston Paris (Rom. XXX, 154),
wie wenn es in der wissenschaftlichen Forschung Priester und Pro-
pheten gäbe!
Doch damit ist der Streit nicht beigelegt. Schuchardt ruht nicht,
bis Thomas antwortet. Dieser Zähigkeit verdanken wir eine weitere
prinzipielle Erörterung (Zeitschrift f. rom. Phil. XXV, 244 ff.). Sie
hebt an mit dem seither oft zitierten Satze: 'Lautgesetze' werden
nicht unter Donner und Blitz verkündigt! Mit anderen
Worten: was wir als 'Lautgesetze' proklamieren, ist menschlichen
8*
116 Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung.
Ursprungs, und was Menschen geschaffen, darf nicht auf Unfehl-
barkeit Anspruch erheben, also sei eine jeweilige Nachprüfung dieser
'Lautgesetze' geboten. Der Philologe erkennt darin den Autor der
bekannten Streitschrift gegen die Junggrammatiker 'Über die Laut-
gesetze' (Berlin 1885).
Neben diesen noch sehr revisionsbedürftigen Lautgesetzen stän-
den die 'Bedeutungsgesetze', die, wie auch Wundt annehme, in glei-
chem Mafse die Sprachentwickelung beherrschten wie die Lautgesetze.
Er fafst sein Postulat in folgendem Satz zusammen: Bei jeder ety-
mologischen Untersuchung sind Lautwandel und Be-
deutungswandel miteinander in Einklang zu bringen,
unkritisch verfährt, wer den einen über dem anderen vernachlässigt. x
Diese erneute Proklamation drückt Thomas wieder die Feder in
die Hand. In seinen 'Problemes etymologiques' (Rom. XXXI, 1 ff.)
beharrt er auf seinem Standpunkt von der Allmacht der Phonetik.
Bezeichnend ist folgende Stelle, worin er die Unmöglichkeit von tur-
bare — trouver darzutun sucht; er sagt: si t urbare ne peut pas sup-
porter Vexamen phonetique, il ne compte plus, il est mort. II peut
avoir beaucoup de qualites par ailleurs, comme la jument de Roland;
rien ne pourra compenser ce terrible defaut; (car) on ne peut rien
pretendre en etymologie sans l'aveu de la phonetique;
mais la phonetique ne sufßt pas ä tout.
Nach Thomas äufsert sich G. Paris, der Autor der von Schuchardt
bekämpften Etymologie *tropare. Auch er hält an seiner Idee fest,
folgt aber Schuchardt auf das ihm eigene Gebiet des Bedeutungs-
wandels, was Thomas nicht tut, und stellt folgendes fest: Zur Evi-
denz der Gleichung turbare = trouver fehlen noch zwei Dinge:
1) der historische Nachweis, dafs turbare im romanischen Sprach-
gebiet den Sinn von pulsen angenommen habe; die jetzigen Sprachen
und Dialekte brauchen andere Wörter;
2) der semasiologische Nachweis, dafs ein . Wort für 'suchen'
vollständig — nicht nur gelegentlich — die Bedeutung 'finden' an-
genommen hat.
Inzwischen war eine interessante Sammlung wohlerwogener Ety-
mologien von Thomas erschienen unter dem Titel: Melanges d'etymo-
logies francaises (Paris 1902), deren Vorrede eine Art sprachwissen-
schaftliches Glaubensbekenntnis enthält. Es heilst da u. a. :
Pour echapper ä Verreur, nous avons deux guides tres precieux,
1 Diese Forderung steht im Gegensatz zur herkömmlichen Auffassung,
wie sie sich z. B. bei Diez ausspricht. Diez schreibt im Jahre 1853 (Vor-
rede zum Etym. Wörterbuch p. XVII): 'Die Etymologie hat ihre wissen-
schaftliche Grundlage in der Lautlehre', oder p. XV: 'Die Form bietet
dem Etymologen überall den sichersten, von subjektiver Auffassung un-
abhängigsten Anhalt.' Dafs die Bedeutung einigermafsen stimmen mufs,
ist selbstverständlich. Dafs sie aber eine entscheidende Rolle spielen
könnte, scheint für Diez ausgeschlossen zu sein, wenigstens berührt er
diesen Punkt mit keinem Wort.
Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung. 117
qui sont comme les yeux de l'etymologie: la phonetique et la se-
mantique.
Bis dahin ist jedermann, auch Schuchardt einverstanden; denn
dafs die Etymologie mit einem ihrer Augen schielen könnte, daran
denkt niemand! Nun fährt aber Thomas fort:
J'attache un prix particulier au concours de la phonetique; je me
suis applique ä vivre en hon accord avee eile; je la vener e et j'observe
ses lois religieusement, denn, sagt er weiter unten, (ces) lois une fois
elaborees ont un caractere absolu, was Schuchardt und viele mit ihm
energisch bestreiten.
Mit weniger Wärme spricht er von der Semantik.
La semantique est inseparable, eile aussi, de la recherche etymo-
logique, ...je ne crois pas cependant qu'elle puisse jouer un röle aussi
actify aussi decisif, que la phonetique ... ä cause de V extreme fluidite
des elements sur lesquels portent ses speculations.
Noch deutlicher wird die Stellung der beiden Mächte im Schlufs-
satz markiert, wo es heifst:
La semantique est appelee ä rendre de grands Services a l'etymolo-
giste; mais il faut qu'il sache la discipliner et lui inspirer l'esprit de
Subordination vis-a-vis de la phonetique.
Da haben wir's mit unzweifelhafter Deutlichkeit ausgesprochen :
der Bedeutungswandel hat bei der Beurteilung einer
Etymologie vor dem Lautwandel zurückzutreten.
Diese Schrift samt Vorrede veranlafst Schuchardt 1902 zu einer
vierten (und nicht letzten) Auslassung. Etymologische Probleme und
Prinzipien heifst der Artikel (Ztschr. f. rom. Phil. XXVI, 385 — 427).
Er bringt nicht viel Neues für uns, die wir hier auf eingehende
Diskussion der Beispiele verzichten müssen. Nur eine Stelle sei
ihrer Prägnanz wegen erwähnt. Thomas zitierend, sagt Schuchardt:
'Wenn turbare die lautliche Prüfung nicht bestehen kann, so ist es
tot.' Gewifs, aber ebenso gewifs ist *tropare tot, wenn es die begriff-
liche Prüfung nicht bestehen kann. — Ob aber die begriffliche Prü-
fung mit gleicher Sicherheit durchgeführt werden kann wie die laut-
liche, das sagt uns Schuchardt nicht. Wir werden auf diesen Punkt
zurückzukommen haben.
Die Thomassche Theorie von der Unterordnung des Bedeutungs-
wandels widerlegt Schuchardt treffend durch das Beispiel cousin
'Vetter' und 'Mücke'. Er sagt: Wenn wir nicht wüfsten, was die
beiden cousin bedeuten, so würden wir nie und nimmermehr das eine
auf consobrinus, das andere auf *culicinus 'Schnake' zurückf ühren ;
die Phonetik arbeitet hier unter Oberleitung der Semantik.
Damit freilich gibt Schuchardt seiner eigenen Methode unrecht,
die beide, Phonetik und Semantik, gleichstellt.
Schuchardt könnte seinen Artikel und damit seine Polemik mit
Thomas nicht besser beschliefsen, als er es tut, nämlich mit einem
Arbeitsprogramm.
118 Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung.
Die wissenschaftliche Arbeit hat sich stets zu verjüngen, so un-
gefähr führt er aus: Was tun, um den Gesetzen des Bedeutungs-
wandels beizukommen? Das Auseinanderweichen der Laute darf
die Sprachgeschichte nicht ausfüllen; das Auseinanderweichen der
Bedeutungen (und der Ausdrucksweisen) verdient nicht minder eine
systematische Betrachtung. Frisch auf denn zur Arbeit, ruft es
uns aus seinen Worten zu. Das Feld liegt brach, es ist in doppelter
Richtung zu durchpflügen : einmal sind innerhalb der einzelnen Sprach-
gemeinschaft die Wörter nach Begriffsgruppen zusammenzustellen,
um so die gegenseitige Beeinflussung in lautlicher und begrifflicher
Hinsicht ermessen zu können, und anderseits sind die Ausdrücke für
die gleichen Begriffe in den verschiedenen Idiomen zu sammeln,
um so für die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit eines
vorgeschlagenen Bedeutungswandels einen Mafsstab zu bekommen.
Dieser Vorschlag deckt sich auffallend mit dem, was Brugmann
sieben Jahre vorher gesagt hat {Idg. Forsch. V [1895], Anz. S. 17).
Brugmann äufsert sich etwa folgendermafsen : 'Eine systematische
Bearbeitung der Bedeutungslehre ... ist notwendig für die gedeih-
liche Weiterentwickelung der wissenschaftlichen . . . Etymologien.'
Und weiter unten: 'Durch semasiologische Untersuchungen (nach Be-
griffsgruppen) gewinnt der Etymologe nicht nur Kriterien zur Ent-
scheidung über Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit von
vorliegenden Versuchen, sondern solche Forschungen haben auch
heuristischen Wert für die Auffindung der Grundbedeutung der
Wörter.'
Beide Gelehrten kommen so in ganz verschiedenem Zusammen-
hang zum gleichen Schlufs: nur eine systematische Behand-
lung des Bedeutungswandels kann zur gewünschten Sicher-
heit im Urteil führen.
Was sagen nun die französischen Gelehrten zu diesem versöhn-
lichen Ausblick in die Zukunft?
Thomas (Rom. XXXI, 625 ff.) lenkt etwas ein. Auf die 62 Seiten
der 'Etymologischen Prinzipien' Schuchardts antwortet er mit einer
halben Seite, auf der er die prinzipielle Forderung Schuchardts mit
den Worten abtut: des considerations bonnes ä mediter! — G. Paris
beschränkt sich auf die Diskussion des Bedeutungswandels von tur-
bare. In einer späteren Notiz (Rom. XXXI, 646) bekennt er Farbe;
er steht auf dem Standpunkte, den Thomas in seiner Vorrede ein-
nimmt. Die Semantik wirkt wie ein heimtückischer Sirenengesang.
'On doit souvent/ sagt er, 'boucher ses oreilles aux plus seduisantes
propositions de la semantique.
Was von da an noch hüben und drüben geschrieben wird, ist
für uns belangloses Nachspiel. Schuchardt wundert sich über die
'starre Einseitigkeit' von G. Paris (Zeitschr. f. rom. Phil. XXVII, 97),
und darauf folgen ein paar rein referierende Zeilen in der Romania
(XXXII, 5) über den Artikel Schuchardts.
Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung. 119
So endet der mit einem stattlichen Bande begonnene Prinzipien-
kampf in ein paar Einzelbemerkungen.
Wir haben einem 'richtigen Gelehrtenstreit' beigewohnt, bei dem
es nicht ohne Menschlichkeiten abging. Er hat auch das Typische
an sich, dafs, wenn auch der Streit selber fertig ist, die Streitfrage
deshalb noch lange nicht zum Abschlufs gekommen ist.
Koordination oder Subordination der Semantik? so tönt
es durch die ganze Polemik hindurch. Der deutsche Gelehrte ver-
langt gebieterisch das erstere, die französischen das letztere. Wer hat
recht? Bis jetzt hat meines Wissens niemand direkt zur Schuchardt-
schen Alternative Stellung genommen. So wollen wir denn unser-
seits eine Lösung versuchen.
Ich sagte vorhin absichtlich zur Schuchardtschen Alternative,
denn er, nicht Thomas, hat sie aufgestellt. Thomas hat sich erst auf
das Drängen seines Gegners hin über das Rangverhältnis geäufsert,
mehr 'der Not gehorchend als dem eigenen Triebe'.
Bevor wir uns für Koordination oder für Subordination ent-
scheiden, mufs die Vorfrage gestattet sein, ob überhaupt Phonetik
und Semantik Dinge seien, die unbedingt in einem Rangverhältnis
stehen müssen.
Vergessen wir nicht, dafs Phonetik und Semantik Sammelnamen
sind für alle diejenigen Argumente, die der Etymologe der Laut-
geschichte und der Bedeutungsgeschichte entnimmt. Besteht ein
Rangverhältnis, z. B. das der Subordination, so heifst das im kon-
kreten Falle: jedes lautliche Argument hat von vornherein mehr Be-
weiskraft als das begriffliche. Anders kann ich mir die Unterordnung
nicht vorstellen.
Greifen wir auf captivus zurück. Das Palatalisierungsgesetz —
k zu ch — ist eins der wichtigsten Lautargumente, wenn bewiesen
werden soll, dafs chetif auf captivus zurückgeht. Halten wir daneben
ein begriffliches Argument: z. B. dafs Gefangene meist elend dran
sind. Wer möchte hier entscheiden, ob das lautliche Argument stär-
ker, gleich stark oder weniger stark ins Gewicht falle als das be-
griffliche? Denn hätten wir statt chetif z. B. *petif, so käme cap-
tivus ebensowenig in Betracht, wie wenn es nicht wahr wäre, dafs
Gefangene meist elend dran sind. Stellen wir aber dem Palatali-
sierungsgesetz eine andere semasiologische Tatsache gegenüber, z. B.
dafs chetif noch im Altfranzösischen 'gefangen' heifst, so wird man
zugeben müssen, dafs dieses letztere Argument seinem lautlichen
Partner an Beweiskraft erheblich nachsteht. Denn wäre uns auch
zufälligerweise diese altfranzösische Bedeutung nicht überliefert, wir
würden doch an captivus festhalten.
Anders liegen die Dinge bei ambulare — aller. Da erscheinen
alle lautlichen Bedenken untergeordneter Art vor der einen grofsen
Tatsache, dafs ambulare annähernd die gleiche Bedeutung hat wie
das Verbum für 'gehen' in den romanischen Sprachen. Da hat die
120 Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung.
Phonetik zu schweigen vor der Allgewalt der Semantik, ein einziges
begriffliches Argument kann hier die bestbelegten Lautgesetze über-
tönen. Also nicht mehr Koordination, sondern Subordination, nur
im umgekehrten Sinne.
Ist auch Thomas mit aller aus ambulare nicht einverstanden, so
ist er es doch mit dem schon berührten cousin aus consobrinus, wo
Schuchardt ausdrücklich die Oberleitung der Semantik feststellt.
Aber auch die starke Betonung des Begrifflichen hat ihre Ge-
fahren. So sagt Breal (Op.cit.'p. 165): ... Vallemand elf, zwölf doit
caeher le nom de nombre {dix' dans ton If final, goth. lif. Quelque
difficulte qu'on puisse avoir avec la phonetique en presence de l'equation
taihun = lif, je penche a priori pour V affirmative, en vertu d'une
certitude qui a bien sa valeur aussi, la certitude mathematique.
Breal hat zwar mathematisch richtig gerechnet, aber die Rechnung
ohne den Wirt gemacht. Die moderne Forschung weifs nichts von
einer Bedeutung 'zehn'; zu einem sicheren Grundwort ist sie aller-
dings auch nicht gekommen. Das Schweiz. Idiotikon (I, 283) sieht
in dem lif den Stamm von mhd. beliben 'bleiben', elf wäre somit =
eins bleibt noch, eins noch übrig (von den zehn, über die man be-
reits hinweggezählt hat). Eine onomasiologische Studie über die Zahl-
wörter könnte hierüber Aufklärung bringen.
Wir sehen, dafs das Verhältnis der beiden Argumentationen
kein konstantes ist; bald sind die lautlichen Gründe stichhaltiger,
bald die begrifflichen, einen absoluten Mafsstab für beide gibt es
nicht, somit auch kein absolutes Rangverhältnis.
Es möchte sich damit ähnlich verhalten wie bei der pädago-
gischen Streitfrage, ob die körperliche Ausbildung wichtiger sei als
die geistige. Wer wollte darauf ohne konkrete Vorlage antworten?
Fragt man aber, was einem englischen Sportsman oder einem über-
arbeiteten Gymnasiasten not tue, so wird man sofort jenem die gei-
stige, diesem die körperliche Betätigung anempfehlen.
Wenn nun wirklich zwischen Phonetik und Semantik kein Rang-
verhältnis besteht und sowohl die Thomassche Subordination als die
Schuchardtsche Koordination illusorisch sind, worin besteht dann
eigentlich die Differenz zwischen beiden?
Wir müssen hier unterscheiden zwischen Theorie und Praxis.
Theoretisch stehen Thomas und Schuchardt weit auseinander, prak-
tisch stehen sie sich viel näher. Wenn die etymologische Arbeit mit
dem Betrieb eines Bergwerks verglichen werden darf, so stehen sie
beide seit langen Jahren in den untersten Stollen und dort wieder
in den vordersten Reihen. Ihre Funde sind mit Erfolg gekrönt, ihre
etymologische Kunst wird allgemein anerkannt. Wie wäre es denk-
bar, dafs beiden zugestimmt würde, wenn der eine von ihnen auf
ganz falscher Fährte wandelte? Die Übereinstimmung im Urteil der
Fachgenossen deutet an, dafs ihre Methode im ganzen und grofsen
dieselbe ist. Ihre Divergenz in der Theorie tritt nur in einzelnen
Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung. 121
Fällen zutage, wie z. B. bei den vielbesprochenen Verben turbare und
ambulare, wo man auch ohne prinzipielle Gegensätze in guten Treuen
verschiedener Meinung sein kann.
Es wäre psychologisch interessant, zu wissen, ob die Theorie be-
stimmten Etymologien ihren Ursprung verdankt bezw. ihnen zuliebe
erfunden worden ist, oder ob sie durch blofse logische Deduktion
entstanden ist.
Eins sehen wir deutlich aus dem Verlaufe der Polemik:
Schuchardt ist der alleinige Urheber der Streitfrage. Thomas wird
fast gegen seinen Willen zu einem Bekenntnis gedrängt. So wird
aus dem linguistischen Problem ein psychologisches.
Die Polemik hat zwischen Thomas und Schuchardt eine Kluft
geschaffen, die bei näherer Betrachtung auf einen Gradunter-
schied hinausläuft: Thomas legt mehr Gewicht auf das Lautliche,
Schuchardt mehr auf das Begriffliche. Diese Divergenz kann keine
wesentliche genannt werden.
Wie kommen aber die beiden Gelehrten dazu, eine so schroffe
Alternative wie Subordination oder Koordination aufzustellen?
Mir scheint, sie gehen von verschiedenen Voraussetzungen aus:
Schuchardt erscheint Thomas gegenüber als Idealist, ihm schwebt ein
Wortmaterial vor, das räumlich und zeitlich lückenlos ist und bereits
lautlich und begrifflich verarbeitet vor ihm liegt. Diesem Idealzustande
hat er seine Methode angepafst, und da gilt ohne jeden Zweifel der
Satz: eine Etymologie hat nicht nur den Lautgesetzen,
sondern auch den Bedeutungsgesetzen zu genügen.
Diese in die Zukunft blickende Auffassung liegt Thomas fern.
Er treibt Realpolitik, wenn ich so sagen darf; er sagt als prak-
tischer Etymologe: beim gegenwärtigen Stande der Forschung sind die
Lautgesetze ein zuverlässigerer Führer als die uns noch so wenig be-
kannten Bedeutungsgesetze. Er huldigt dem Grundsatz : 'Das Bessere
ist der Feind des Guten'. Bis jetzt sind wir mit der lautlichen Me-
thode nicht übel gefahren, wie leicht könnten wir in der elastischen
Welt der Begriffe auf Abwege geraten?
Mit anderen Worten: Schuchardt stellt ein ideales Postulat
auf, Thomas ein reales. Aber indem die Thomassche Forderung der
Wirklichkeit angepafst ist, hört sie eigentlich auf, eine Forderung zu
sein. Summa summarum: Schuchardt sagt, was man tun
sollte, Thomas sagt, was man tut. Schuchardt empfindet einen
Mangel, Thomas nicht. Schuchardt strebt höher, Thomas bleibt stehen.
Wir werden nicht zögern, uns dem Höherstrebenden anzuschliefsen.
Die Vorliebe Schuchardts für das Begriffliche hat noch einen
anderen Grund. Jeder Linguist kennt seine skeptische Haltung den
'Lautgesetzen' gegenüber. Sie zeigt sich äufserlich darin, dafs er das
Wort 'Lautgesetze' gern unter Anführungszeichen setzt. Die Kritik
hat seinen Zweifeln im grofsen und ganzen recht geben müssen.
Nun geht es ihm, wie es schon manchem skeptisch veranlagten
122 Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung.
Idealisten gegangen ist, der den Glauben verloren hat. Er wirft sich
mit jugendlichem Eifer auf ein neues Gebiet, in der Hoffnung, hier
einen Ersatz für das Verlorene zu finden. Die Enttäuschung, die
ihm die Lautgesetze gebracht haben, sucht er durch das Studium der
begrifflichen Vorgänge allmählich auszumerzen.
Ganz anders denkt Thomas: während Schuchardt eine Schrift
verfafst gegen die Ausnahmslosigkeit der gefundenen Lautgesetze,
beteuert uns Thomas in seiner Vorrede, dafs er als Etymologe diese
Lautgesetze verehre und sie gewissenhaft beobachte (je venere [la
phonetique] et fobserve ses lois religieusement). Wer von einer Sache
dergestalt erfüllt ist, ist begreiflicherweise weniger geneigt, sich für
eine andere begeistern zu lassen.
Versuchen wir zum Schlufs das Gesagte zusammenzufassen, so
können wir etwa sagen : was die drei Sprachvergleicher Breal, Brug-
raann und Osthoff mehr gelegentlich betont haben, das hat Schuchardt
in die Form eines kategorischen Imperativs gekleidet, der da lautet:
die etymologische Forschung hat ebensogut mit der Ge-
setzmäfsigkeit des Bedeutungswandels zu rechnen, wie
sie es bisher mit derjenigen des Lautwandels getan hat.
Dieser seiner Mahnung hat Schuchardt die Tat folgen lassen.
Seine unter diesem neuen Gesichtspunkte durchgeführten Unter-
suchungen haben fast allgemein Anerkennung gefunden.
Wenn sein Fachgenosse Thomas jene idealistisch gedachte For-
derung nicht anzuerkennen vermag, so scheinen ihn zwei Dinge davon
abzuhalten ; einerseits die Rücksicht auf das gegenwärtig Erreichbare
und anderseits das grofse Vertrauen in die Verwertbarkeit der Laut-
gesetze. Jene Rücksicht ist gewifs praktisch berechtigt, sein grofses
Vertrauen in die Lautgesetze aber halten wir für gefährlich.
Wenn wir auch zugeben müssen, dafs beim jetzigen Stand der
Forschung die Lautgesetze im allgemeinen immerhin noch die zu-
verlässigeren Ratgeber sind, so schliefsen wir uns mit voller Zu-
versicht der Schuchardtschen These an, soweit sie eine von der Gegen-
wart absehende, ideale Forderung aufstellt, die zu ihrer Verwirk-
lichung einer vorbereitenden Periode bedarf.
Über die Vorarbeiten zum Ausbau einer semasiologischen Wissen-
schaft liefse sich ein ganzes Buch schreiben. Ich mufs es mir ver-
sagen, näher darauf einzugehen. Nur eins sei bemerkt: es sind be-
reits deutliche Ansätze vorhanden, indem der eine Hauptteil des
Schuchardtschen Arbeitsprogramms schon in Angriff genommen wor-
den ist, ja sich schon einen eigenen Namen zugelegt hat, ich meine
die Lehre von der Begriffsbezeichnung oder die Onomasiologie,
wie sie Zaun er (Die romanischen Namen der Körperteile in Rom.
Studien 1902) treffend genannt hat. Die Grundlage jeder onomasio-
logischen Studie ist die: wie wird ein gegebener Begriff in verschie-
denen Sprachen und Dialekten ausgedrückt?
Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung. 123
Unter diesem Gesichtspunkte sind bereits einige Begriffsgruppen
und viele Einzelbegriffe untersucht worden : so im weitesten Umfange
die Verwandtschaftsnamen, nämlich auf indogermanischem, roma-
nischem und deutschem Sprachgebiet, dann im Romanischen allein
die Körperteile, die Jahreszeiten und die Monate. An Einzelbegriffen
seien beispielsweise erwähnt: das Wiesel, die Fledermaus, der Haspel,
das Alpdrücken in romanischen Dialekten u. v. a.
Die reichhaltigste Ausbeute dieser Art bietet der gegenwärtig
erscheinende Dialektatlas Frankreichs, der Atlas linguistique de la
France von Gillieron und Edmond.
Statt Ihnen die romanische Sprachwissenschaft im Sonntags-
gewande positiver Ergebnisse vorzustellen, habe ich es vorgezogen,
Sie in eine der Werkstätten romanistischen Schaffens einzuführen.
Sollten Sie dabei den Eindruck erhalten haben, als sei diese etymo-
logische Werkstätte eine Art Versuchslaboratorium, so haben Sie
nicht ganz unrecht, denn es hat in der Tat mit der Etymologie seine
besondere Bewandtnis. Sie ist von allen Betätigungen des Linguisten
diejenige, bei der das subjektive Empfinden des Forschers am ehesten
zum Durchbruch kommt.
So vollständig auch unsere Nachschlagewerke sein mögen, so
sicher unsere Methode scheint — unser Suchen und Tasten nach der
Wahrheit mahnt uns immer wieder daran, dafs die Etymologie nicht
ein Handwerk, sondern eine Kunst ist.
Wissen und Methode sind unentbehrliche Vorbedingung, aber
es braucht dazu noch Eigenschaften, die oft von der Wissenschaft
unterschätzt werden: es braucht Findigkeit und Phantasie.
Wem die Natur die glücklichen Einfälle versagt hat, der wird es
auf etymologischem Gebiete schwerlich zum Meister bringen.
Jeder Etymologe ist einem Dichter vergleichbar, dem das Ideal
eines Reimwortes so lange im Kopfe herumgeht, bis ein erlösender
Genius ihm das Gesuchte auf die Zunge legt. Beide, Dichter und
Etymologe, sind Wortsucher, die darauf bedacht sein müssen, dafs
Form und Inhalt sich harmonisch ineinander fügen. Was sie so
finden, ist jeweilen eine schöpferische Tat, und wie der Dichter zu
seinen Schöpfungen in ein persönliches Verhältnis tritt, so mischt
sich auch oft in die wissenschaftliche Forschung des Etymologen ein
subjektives Element, das ihn daran erinnert, dafs die Sprache nicht,
wie Tier, Pflanze und Stein, der Aufsenwelt angehört, sondern dafs
sein Untersuchungsobjekt aufs engste mit seinem geistigen Organis-
mus verwachsen ist.
Basel. E. Tappolet.
Beiträge zur französischen Stilistik und Syntax.
(Vgl. Archiv CV, 48 f.)
IV.
Ich habe Archiv CV, 48 f. von einer im Deutschen recht
häufigen Art von Satzverbindung gesprochen, in der einem Sub-
jekte drei verschiedene Prädikate beigelegt werden, und festge-
stellt, dafs die fast regelmäfsige Form solcher Sätze mit drei-
gliederigem Prädikat im Deutschen ist: Sie plünderten die Dörfer,
stiegen wieder auf ihre Pferde und schleppten die Beute in
die Wüste hinein, d. h. das Prädikat enthält drei Glieder, die
gleichförmig nebengeordnet sind, wobei dann das dritte Glied mit
'und' an die beiden vorhergehenden gefügt wird. Ich habe dann
weiter darzutun versucht, dafs eine der entsprechenden typischen
Formen dieser Sätze im Französischen ist: ils pillaient les vil-
lages, et remontant sur leurs chevaux, emportaient leur butin
dans le fond du de'sert, d. h. das mittlere Glied ist in Gestalt
eines appositiven Partizipiums eine blofse Satzbestimmung ge-
worden, das Prädikat ist also nicht dreigliederig, sondern nur
doppelgliederig, und das et steht gleich nach dem ersten Gliede.
Es lag mir nun daran festzustellen, ob auch der deutsche
dreigliederige Nebensatz im Französischen ebenso häufig in der
gekennzeichneten Form auftrete wie der dreigliederige Haupt-
satz; und da mufs ich bekennen, dafs ich ihr in diesem Falle
überhaupt noch nicht begegnet bin. Nebensätze mit dreigliede-
rigem Prädikat sind ja naturgemäfs nicht so häufig wie die ent-
sprechend gebauten Hauptsätze, aber sie finden sich doch auch.
Dann entspricht entweder, wie ja nicht selten auch im Haupt-
satze, die französische Aussageform der deutschen, z. B. pendant
que la tante sautaü, tournait autour de nous et criait: vive le roi,
Erckmann - Chatrian, Waterloo, oder aber es wird nunmehr das
erste (nicht das zweite) Glied appositive Satzbestimmung in Form
eines Partizipialsatzes; von den beiden anderen Gliedern ist ent-
weder das erste dem letzten Gliede nebengeordnet und mit ihm
durch 'et' verbunden, oder es tritt gleichfalls als Partizipialsatz
auf, so dafs nur noch das letzte Glied ein Verbum finitum ent-
hält. Wir denken uns folgenden deutschen Satz: Einmal war
es der junge Graf von Chalais, ivehher dem geheimen Wunsche
dieses Fürsten nachgab, gegen das Leben Richelieus konspirierte und
Beitrage zur französischen Stilistik und Syntax. 125
auf einem Schafott umkam. Dieser Satz heifst bei Lame'-Fleury,
Histoire de France: ... Tantot c'e'tait le jeune comte de Cha-
lais . . . qui, cedant au desir secret de ce prince, conspirait contre la
vie de Richelieu et perissait sur un echafaud. Oder ich habe fol-
genden deutschen Satz: Murad Bei schleuderte auf diese leben-
den Zitadellen 1000 — 1200 unerschrockene Reiter, die unter lautem
Geschrei vorsprengten, ihre Pistolen abschössen und sich dann auf die
Front der Karrees stürzten. Er heilst bei Thiers, Egyptische Ex-
pedition, Weidmannsche Sammlung, 4. Aufl., S. 51 : Murad Bey
lanca sur ces citadelles Vivantes mille ä douze cents cavaliers
intrepides, qui, se precipitant ä grands cris, dechargeant leurs pistolets,
vinrent se jeter sur le front des carres.
Ein Satz der ersten Form würde noch folgender sein, der
ebenfalls aus Lame'-Fleury, Histoire de France, entnommen ist:
Mais voyant s'avancer le conn^table de Bourbon qui, brouille avec
le roi de France, etait sorti du royaume et avait embrasse le parti de
ses ennemis; ein Satz der zweiten Form aber folgende Verse aus
V. Hugos L'Expiation (Engwer, Anthologie des Poetes Francais,
Velh. u. Klas., S. 93, 23):
La D^route — — — — — — — —
Qui, pale, epouvantant les plus fiers bataillons,
Changeant subitement les drapeaux en haillons . . .
Se leve grandissante au milieu des armees.
Wenn nun im Nebensatze mit dreigliederigem Prädikat
die eben besprochene Satzform eher beliebt wird als die, welche
wir als besonders gebräuchlich für den Hauptsatz mit drei-
gliederigem Prädikat kennen gelernt haben, so geschieht das nach
meiner Ansicht unter Einflufs der französischen Aussageform,
die dem deutschen Nebensatze mit zweigliederigem Prädikat
entspricht. Wir kommen damit zu einer weiteren typischen Art
von Satzverbindung im Französischen. Es heifst Racine, Bri-
tannicus, V. 17:
Vous qui desheritant le fils de Claudius
Avex nomme Cesar l'heureux Domitius.
W i r würden sagen : Du, die du den Sohn des Claudius um sein
Erbe gebracht und den glücklichen Domitius zum Cäsar ernannt hast.
Es heifst bei Erckmann - Chatrian, Histoire d'un Conscrit:
Le vent secouait les peupliers, dont les feuilles jaunes, voltigeant
autour de nous, annoncaient l' hiver. Wir würden sagen: Der Wind
schüttelte die Pappeln, deren gelbe Blätter um uns herum flatterten
und den Winter ankündigten.
Es liefsen sich leicht Hunderte solcher Beispiele anführen.
Es ist dabei ganz gleich, ob der Nebensatz von einem Bindewort
oder von einem rückbezüglichen Fürwort eingeleitet wird, ob wir
es also mit einem Konjunktionalnebensatz oder mit einem Re-
126 Beiträge zur französischen Stilistik und Syntax.
lativnebensatz zu tun haben. Eine Auswahl von Beispielen wird
ausreichen.
Fanden wir mit dem allgemeinsten Bindewort an, mit que
(dal 's). Mais crains que l'avenir detruisant le passe II ne ftnisse ainsi
qu' Auguste a commence, Racine, Brit. V. 33; Bonaparte soutenait
que l'entreprise d'Egypte, etant tout ä fait imprevue, ne rencontrerait
point d'obstacles, Thiers, S. 14; II vit que Vartillerie, n'etant pas
sur nfft'it de campagne, ne pourrait se porter dans la pleine, eb. S. 55
(kurz vorher [S. 53] war derselbe Gedanke bei relativischer Ver-
knüpfung folgendermafsen ausgesprochen worden: des batteries
immobiles, dont les pieces, n'etant pas sur affüt de campagne, ne pou-
vaient etre deplacees); Les lettres qu'il e*crivait e*taient si de'sol^es
que Ciceron, oubliant qu'ü avait eprouve les memes regrets pendant
son exil, lux reprochait doucement ce qu'ü appelait ses sottises ('dafs
Cicero vergafs und ihm vorwarf), Boissier, Ciceron et ses Amis,1
S. 246 ; On nous avait preVenus que M. Thiers, mettant au service
du gouvernement nouveau sa longue experience et sa grande autorite,
etait parti pour porter des propositions aux divers cabinets, Sarcey,
Siege de Paris.
Nach si. Cher ami, si mon pere un jour desabuse Plaint le
malheur d'un fils faussement aecuse, Rac, Phedre V, 4; Qui vou-
drait passer sa vie en de steriles contemplations, si chaeun, ne
Consultant que les devoirs de l' komme et les besoins de la nature, n' avait
de temps que pour la patrie, pour les malheureux et pour ses amis,
J.-J. Rousseau, Emile; S'il avait des l'abord tenu un langage
f erme, ou si, se flaut au bon sens de la population parisienne, il avait
tout de suite aecorde les elections, nous n'aurions pas vu les scenes
attristantes qui nous restent ä conter, Sarcey, Siege de Paris, usw.
Nach lorsque und quand. Les noces du jeune Henri
avec Marguerite de Valois e*taient pres de se conclure, lorsque
la reine Jeanne d' Albret, atteinte d'un mal subit et inconnu, expira en
peu d'instants entre les bras de son fils inconsolable, Lam£-Fleury,
Histoire de France; Quelques-uns parlaient dejä de prendre la
fuite, lorsque Henri, reparaissant tout couvert de poussiere, leur
cria . . . , eb. ; Quelques annöes auparavant, Caton venait de leur
rendre un eklatant hommage, lorsque, ne sachant ä qui se fier, il
l'avait charge de recueillir et de porter ä Rome le tresor du roi de
Chypre, Boissier, Cic. et ses Am., S. 334; Et quand un membre
de la gauche, impatiente de ce silence, s'avisaü de demander ä la Cham-
bre quelques renseignements plus positifs, Sarcey, eb.
Nach parce que. 'En fait de re'cits de bataille, lui dit-il,
je me fie surtout aux plus peureux'; probablement parce que,
s'etant tenus loin du combat, ils en ont mieux pu voir l'ensemble, Bois-
sier, Cic. et ses Am., S. 247, usw.
1 Paris, Hachette, 9. Aufl., 1892.
Beiträge zur französischen Stilistik und Syntax. 127
Man sieht, dafs das appositive Partizipium sich immer an
das Subjekt anlehnt. Damit hängt denn wohl zusammen, dafs
sich die besprochene Satzform besonders häufig nach dem rela-
tiven Nominativ 'qui' findet, in Fällen also wie: H voulait s'em-
parer de cette ile qui, commandant la navigation de la Mediterranee,
devenait importante pour l'Egypte, Thiers, S. 26. Thiers ist eben
auch im Satzbau der Nationalfranzose par excellence.
Wenn das Prädikat nicht ein Geschehen, sondern ein
Sein ausdrückt, so tritt an Stelle des Partizipiums natürlich ein
Adjektiv, z. B. an Stelle von oubliant ein oublieux. Auch hierfür
einige Beispiele : Est-ce qu 'oublieuse de sa naissance et de son rang,
eile partagerait la passion qu'elle inspire, Sandeau, Melle de la Seig-
liere III, 1 ; Ils frapperent ä coups redoubles sur des esprits
dejä e"mus qui, mecontents des ehoses et d'eux-memes ..., ne savaient
ä qui s'en prendre (die unzufrieden waren und nicht wufsten),
Sarcey, Siege de Paris, usw.
Um zu zeigen, wie häufig die besprochene Satzform über-
haupt ist, will ich die Beispiele zusammenstellen, die mir allein
in Racines Brit. aufgestofsen sind.
V. 17. Vous qui desheritant le fils de Claudius
Avez nomine Cesar l'heureux Domitius.
V. 33. Mais crains que l'avenir detruisant le passe
II ne finisse ainsi qu' Auguste a commenee.
V. 43. Que ni'iinporte, apres tout, que Neron plus fidele
D'une longue vertu laisse un jour le modele.
V. 297. Sans doute on ne veut pas que melant nos douleurs
Nous nous aidions l'un l'autre ä porter nos malheurs.
V. 1073. Souffrez que de vos cosurs rapprochant les liens,
Je me cache ä vos yeux, et me derobe aux siens.
V. 1149. C'est alors que ehacun, rappelant le passe,
Decouvrit mon dessein dejä trop acance.
V. 1430. Sur les pas des tyrans veux-tu que je m'engage,
Et que Borne, effagant tant de titres d'honneur,
Me laisse pour tous noms celui d'empoisonneur?
Die beiden Glieder, die im Deutschen einander nebengeordnet,
im Französischen mit Vorliebe einander untergeordnet auftreten,
stehen in den einzelnen Aussagen dieser Art nicht immer im
gleichen inneren Verhältnis zueinander. Hinsichtlich ihres in-
neren, logischen Verhältnisses nun lassen sich vor allem folgende
Hauptfälle feststellen: 1) die beiden Glieder sind auch dem Ge-
danken nach nebengeordnet; 2) das durch das zweite Zeitwort
ausgesagte Geschehen liegt zeitlich nach dem Geschehen des
ersten Gliedes; 3) das erste Glied drückt inhaltlich die Begrün-
dung zu dem im zweiten Gliede ausgesagten Geschehen aus.
Im ersten Falle sagen wir einfach 'und', im zweiten 'und
nun', 'und dann', im dritten 'und so', 'und daher'. Beispiele
zu 1 : ce gouvernement qui ramassant un pouvoir tombe d teire,
avait usurpe la redoutable mission de reparer tant de malheurs (welche
128 Beiträge zur französischen Stilistik und Syntax.
. . . aufgerafft und gewaltsam die furchtbare Aufgabe übernommen
halte), Sarcey, Siege de Paris; oder: Le roi consentit h le livrer
ä des juges qui, lux appliquant toute la rigueur des lois, le condam-
nerent ä mort, Lanie'-Fleury, Histoire de France; zu 2: D'un cote"
sont les dissipateurs qui, ayant consume leur patrimoine, ne peuvent
souffrir ceux qui en ont un (... und nun . ..), Taine, Origines de
la France Contemporaine ; oder: Et en effet ces soldats sont les
meines qui, mourant de faim ä Dyrrhachium, declaraient qu'ils man-
geraient l'ecorce des arbres plutöt que de laisser echapper Pompee,
Boissier a. a. O., S. 256; zu 3: II voulait s'emparer de cette ile,
qui, comniandant la navigation de la Mediterranee, devenait importante
pour VEgypte (... und daher . ..), Thiers, S. 26; oder: il lui re-
fusait le miri, c'est-ä-dire Pimpöt foncier, qui, representant le droit
de la conquete, appartenait ä la Porte, eb. S. 43.
Hierzu ist noch folgendes zu bemerken : Soll ausdrücklich
hervorgehoben werden, dafs das erste Geschehen dem zweiten
vorangeht, so wird es lieber mit apres avoir . , . untergeordnet,
z. B. M. Ducrot e"tait un general qui, apres avoir ete fait prison-
nier ä Sedan, avait eu le bonheur de s' echapper, Sarcey, Siege de
Paris. Soll aber die Gleichzeitigkeit des zweifachen Geschehens
betont werden, so wird das erste Geschehen nicht durch das
Partizipium, sondern das Gerundium mit en ausgedrückt, das
noch durch tout verstärkt werden kann (... und dabei ...), z. B.:
on se releve ä ses propres yeux quand, en se confessant, on croit
confesser le genre humain, Taine, eb. ; Les cafe*s . . . dCbordaient
de consommateurs qui, tout en buvant des liqueurs, suivaient des
yeux cette scene inouie, Sarcey, eb., usw.
Nicht selten auch gibt bei dieser Aussageform das erste Ge-
schehen das Mittel an, durch welches das im zweiten ausgedrückte
Geschehen erst möglich wird. Dann ist die normale deutsche
Aussageform ... und dadurch ..., z. B. : I7humanit6' y avait
moins de part que FintCret bien entendu, qui, en s'imposant quelque
retenue dans le present, menage l'avenir, Boissier, S. 334, usw.
Ich brauche wohl nicht erst zu bemerken, dafs auch die deutsche
Satzform dem Französischen durchaus nicht fremd ist und sich
Sätze wie : Aucun remords n'atteint plus l'äme qui erige sa barbarie
en patriotisme et se fait des devoirs de ses attentats nicht gerade selten
finden. Aber es steht doch fest, dafs dem Französischen, dank
der Tatsache, dafs sein System von Partizipien sich volle Lebens-
kraft erhalten hat, noch eine weitere Ausdrucksweise zur Ver-
fügung steht, die durch Flufs, Lebendigkeit und Klarheit ausge-
zeichnet ist. Dagegen nimmt sich die andere Formgebung des
Gedankens, die dem Deutschen zu Gebote steht, ungeschickt aus,
ich meine die, wonach das erste Glied als attributive Bestimmung
vor das Hauptwort gesetzt wird, also z. B. anstatt zu sagen:
Und als ein Mitglied der Linken über dieses Schweigen unge-
Beiträge zur französischen Stilistik und Syntax. 129
duldig wurde und sich einfallen liefs, die Kammer um bestimmtere
Auskunft zu bitten, zu sagen: 'Und als ein über dieses Schweigen
ungeduldig gewordenes Mitglied der Linken sich einfallen liefs, ...'
(franz.: Et quand un membre de la gauche, impatiente de ce silence,
s'avisait de demander ä la Chambre des renseignements plus positifs).
Ich will zum Schlüsse die Gelegenheit benutzen, um noch
auf einen anderen Fall hinzuweisen, in dem der deutschen Neben-
ordnung zweier Satzglieder im Französischen häufig subordinie-
rende Ausdrucksweise gegenübersteht, und zwar dieselbe sub-
ordinierende Ausdrucksweise, die schon aus dem Lateinischen
bekannt ist, hier allerdings von den Lehrbüchern der Stilistik
als für Hauptsätze geltend angeführt wird. Wenn wir sagen:
Aristides war zwar verbannt, aber er nahm doch an der Schlacht
bei Salamis teil, so kann dieser Satz im Lateinischen folgende
Form annehmen: Aristides, obgleich er verbannt war, nahm er doch
an der Schlacht bei S. teil, d. h. mit quamquam . . . tarnen ge-
bildet werden; s. Nägelsbach, Latein. Stilistik, 8. Aufl., S. 624.
Damit vergleiche man französische Sätze wie: Murad-Bey, qui,
quoique sans instruction, etait doue d'un grand caractere et d'un coup
d'ozil penetrant, devina sur-le-champ l'intention de son adversaire,
Thiers, eb. S. 56; und: Ciceron avait bien prevu que, quoique
Cdsar en ecrivant ses Commentaires n'annoncät d'autre pr^tention
que de pre"parer des mate'riaux pour l'histoire, la perfection de
cet ouvrage empecherait les gens sense's de le recommencer, Bois-
sier, eb. S. 255, usw.
V.
Archiv CV, 55 ff. hatte ich auseinandergesetzt, dafs der
Franzose einen Satz von folgender Bauart: 'Wenn Sie wüfsten,
welchen Schmerz Sie mir bereiten', gern in folgender Form
ausspricht: Si vous saviez le mal que vous me faites. D. h.,
im Gegensatz zum Deutschen und noch mehr zum Lateinischen
mit seinem 'novi qua via ad felicitatem perveniatur' (s. Nägels-
bach a. a. O., S. 171) stellt der Franzose aus einem indirekten
Fragesatz mit dem adjektivischen 'welcher' als Fragewort das zu
'welcher' gehörige Substantiv heraus und macht dieses zum Ob-
jekt des Zeitwortes des Denkens und Sagens, zu welchem im
Deutschen (und im Lateinischen) der indirekte Fragesatz als Ob-
jektsatz gehört, wodurch dann der Fragesatz ein auf dieses Objekt
bezüglicher Relativsatz wird. An Stelle also zu sagen: 'Er sieht,
in welchem Zustande wir sind', sagt der Franzose gern:
Er sieht den Zustand, in welchem wir sind.
Ich sagte mir nun von vornherein folgendes : Wenn die
französische Sprache wirklich die Neigung hat, sich solchergestalt
auszudrücken, so mufs sich das auch zeigen in solchen abhängigen
Fragesätzen, die im Deutschen mit 'was alles' anfangen, d. h.
in solchen abhängigen Fragesätzen, in welchen von dem neutralen
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 9
130 Beiträge zur französischen Stilistik und Syntax.
substantivischen Frageworte 'was' das neutrale, ursprünglich gene-
tivische 'alles' abhängt. Es mufs im Französischen also auch
hier 'alles' als Objekt zum Zeitwort des Obersatzes treten und
was' als Relativuni darauf bezogen werden können. Mit an-
deren Worten : Ein Satz von folgender Bauart 'Ich habe ver-
gessen, was er alles versprochen hat' mufs im Französischen in
folgender Form auftreten können: 'Ich habe alles vergessen, was
er versprochen hat', j'ai oublie tout ce qu'il a promis.
Und so ist es auch wirklich. In Racines Britannicus fragt
V. 1022 Brit. seine Junie: Et savez-vous pour moi tout ce que vous
quittez? Dem ganzen Zusammenhange nach kann das nichts an-
deres heifsen als : Weifst du auch, was du alles für mich hingeben
willst? Ebenso liegt die Sache V. 1464, wo Narcisse zu N6ron
sagt: Quoi donc? ignorez-vous tout ce qu'ils osent dire? Was?
Weifst du denn nicht, was sie alles zu sagen sich herausnehmen?
Tout ce que heifst was . . . alles auch an folgenden Stellen von
Rostans L'Aiglon (I, 1): On ne peut pas savoir tout ce qu'on perd;
(H, 2) J'admire ce 'mais'; Sentez-vous tout ce que ce 'mais' veut
dire? Aus der Prosa führe ich folgende Stellen an: Vous etes-
vous quelquefois demande tout ce que ce titre de grand professeur dra-
matique suppose de qualite's contradictoires ? Legouvd, L'Art de
Lecture, S. 213; Qui ne sentirait tout ce que cette succession de ter-
mes, eloignement, organe, Instrument, mis en relief par les vers dou-
nent de force et je dirai volontiers de noblesse au dernier vers, eb.
S. 221 ; Corneille ne nous dit rien de tout ce qu'on peut dire pour
la defense de ce röle, L. Petit de Julleville, Einleitung zum Cid,
Paris, Hachette, 10. Aufl., S. 43.
Es ergibt sich nun die bemerkenswerte Erscheinung, dafs
tout ce qui, tout ce que vom deutschen Standpunkte aus gesehen
doppeldeutig ist, dafs es heifseu kann : 'alles, was' und 'was alles'.
Offenbar ist der Sinn nicht ganz derselbe. Wenn ich sage: 'Ich
werde dir alles sagen, was ich weifs', so kann dies 'alles' an und
für sich wenig sein; aber dieses Wenige werde ich ohne Rest
sagen. Wenn ich aber sage: 'Ich weifs nicht mehr, was er alles
gesagt hat', so liegt in dieser Ausdrucksweise unter allen Um-
ständen die Vorstellung einbeschlossen, dafs 'er' recht viel, eigent-
lich zu viel gesagt habe. Ich erinnere hier an eine andere fran-
zösische doppelsinnige Satzform, in der tout eine Rolle spielt:
tout ce qui reluit n'est pas or, und was Tobler darüber Vermischte
Beiträge 1', S. 162 sagt.
VI.
Mit tout hat es auch die dritte Frage zu tun, die hier be-
handelt werden soll.
Wenn wir von einer Allgemeinheit von Menschen oder einer
Menschengruppe ein Sein, Tun oder Erleiden aussagen wollen,
es uns aber nicht genügt zu sagen: alle, alle Menschen, alle
Beiträge zur französischen Stilistik und Syntax, 131
Franzosen, alle Untertanen, sondern wir den Körperteil, den Sinn,
das geistige Vermögen bezeichnen wollen, der bei dem Tun oder
Leiden (einer Gesamtheit von Menschen) besonders beteiligt oder
in Mitleidenschaft gezogen war, so pflegen wir das auszudrücken,
indem wir zu der speziellen Bezeichnung des Sinnes oder des
Seelenvermögens den Wesfall von 'alle' hinzufügen, indem wir
also sagen: 'aller Augen', 'aller Herzen', 'aller Gesich-
te r\ In all solchen Fällen setzt nun der Franzose fast regel-
mässig tous,^ toutes nicht als genetivisches, sondern als adjekti-
visches Attribut zum Hauptwort, er sagt also nicht 'les yeux de
tous' usw., sondern 'tous les yeux, tous les coeurs, tous les
vi sag es'. Aus der Fülle von Beispielen, die zu Gebote stehen,
führe ich folgende an:
1. Aus Racine, Brit. :
V. 720. La foi dans tous les cceurs n'est pas encore Steinte.
(Nicht in ailer Herzen ist die Treue erloschen.)
V. 923 f. J'irai semer partout ma crainte et ses alarmes
Et ranger tous les cceurs du parti de ses larmes.
V. 1330. Neron dans tous les cceurs est-il las de regner.
V. 1633. Jugex combien ce coup frappe tous les esprits.
Bei Thiers a. a. O.:
S. 31. La possibilite de rencontrer les Anglais etait pr heute ä
tous les esprits.
S. 72. Le debarquement en Egypte, Voccupation d'Alexandrie,
la bataille des Pyramides, frapperent toutes les imaginations en
France et en Europe.
S. 87. ühe sombre tristesse devorait tous les cceurs.
Bei Erckm.-Chatr., Waterloo : La fureur et l'indignation etaient
peintes sur toutes les figures.
Bei Victor Hugo:
L/Expiation, a. a. O., S. 93, 30 : Toutes les bouches criaient.
Burggraves, Pre'face : Dans une famille pareille, ainsi developpe
ä tous les regards , ä tous les esprits ...
Eb. I, 2: Loin de tous les regards.
Bei Boissier a. a. O. :
S. 87 : Une cause si e*clatante, qui avait attire sur lui t o u s
les regards.
S. 325: Aussi tous les yeux etaient-ils fixes sur ce grave
jeune komme qui ressemblait si peu aux autres.
Bei Sarcey, Siege de Paris: La consternation etait sur tous
les visages; L'alUgresse etait peinte sur tous les visages; Au
fond de tous les cceurs, il y avait comme un secret espoir que les
choses s'arrangeraient ; Cela flamboyait ä tous les yeux, usw.
Zu 'tout' Heise sich noch vieles andere sagen. Ich will zum
Schlüsse nur noch auf einen Punkt hinweisen. In zurückbezüg-
9*
132 Beiträge zur französischen Stilistik und Syntax.
liehen Sätzen, die mit 'dont' eingeleitet werden, und in denen
von einer Allgemeinheit, Gesamtheit etwas ausgesagt werden soll,
stellt der Franzose 'tous, toutes, alle' regelmäfsig attributiv vor
das Hauptwort, der Deutsche aber ebenso regelmäfsig 'alle' prä-
dikativ zum Zeitwort. Taine sagt in seinen Origines: II leur
est impossible d'entretenir la vie et ce mouvement du vaste corps
dont tous les membres sont paralyses, wo wir sagen müfsteu :
'dessen Glieder alle gelähmt sind'. Vergl. folgende Beispiele
aus Sarcey, a. a. O. : De cette lauterne dont tous les chässis vitres
peuvent s'ouvrir, totribe un jour splendide. — Une position, dont on lui
avait avec tont de complaisance enumere tous les avantages.
Noch deutlicher wird uns der Unterschied, wenn der Begriff
der Allgemeinheit durch presque eingeschränkt wird, wie in fol-
gender Stelle von Erckm.-Chatr., Histoire d'un Consent: Le
maitre de poste du village, dont presque tous les chevaux avaient
ete mis en requisition pour notre cavalerie ('dessen Pferde fast
alle requiriert worden waren').
Man wird hier mit Recht sagen, die Verschiedenheit der
Satzstelle, an der die Allgemeinheit zum Ausdruck gebracht wird,
hängt damit zusammen, dafs dont doch eigentlich gar nicht 'des-
sen, deren' heifst, überhaupt eigentlich kein Relativ wort, sondern
(aus de unde entstanden) ein Umstandswort ist, und dafs sich
die Stellung von tous, toutes ungezwungen auf diese Weise er-
klärt. Aber so erklärt sich auch die regelmäfsige Wortstellung
nach dont, so auch die Beibehaltung des bestimmten Artikels bei
dem Satzteil, der durch dont mit dem Beziehungswort relativisch
und possessivisch verknüpft wird. Wird in den Grammatiken
von der regelmäfsigen Wortstellung und der Beibehaltung des
Artikels beim Hauptwort in besonderen Paragraphen gesprochen,
so verdiente auch wohl die verschiedene Stellung des zu diesem
Hauptwort gehörenden 'alle' eine Erwähnung in einer Anmerkung.
Friedenau b. Berlin. Emil Macke 1.
Cyrano de Bergerac (1619—1655),
sein Leben und seine Werke.
Ein Versuch.
(Schlufs.)
Der zweite Teil des Romans, die Reise nach der Sonne,
schliefst sich unmittelbar an das Ende des ersten Teiles an, wie
wir diesen aus dem Manuskript wiederhergestellt haben. Cyrano
kommt zu Schiff in Toulon an und nimmt Abschied von seinen
Reisegefährten. Der Pilot begnügt sich, da der Mondreisende
kein Geld hat, mit der Ehre, einen Mann in seinem Schiffe
transportiert zu haben, der vom Himmel gefallen ist. Er reist
nach Toulouse zu seinem Freunde, Monsieur de Colignac, der sehr
erfreut ist, ihn wiederzusehen, weil er ihn in Kanada mit jenem
Drachen verbrannt glaubte. Cyrano erzählt ihm seine Rettung
und seine Abenteuer im Monde. De Colignac fordert ihn auf,
sie niederzuschreiben. Cyrano tut es nach einigem Zögern, und
sobald er ein Heft fertig hat, bringt es de Colignac in Toulouse
unter die Leute. Der Autor wird schnell berühmt. 'Die Kupfer-
stecher stachen, ohne mich gesehen zu haben, mein Bildnis, und
die Stadt ertönte auf jedem Platze von dem heiseren Geschrei
der Kolporteure, welche aus vollem Halse schrien: Voilä le por-
trait de l'Autheur des Estats et Empires de la Lune.' Aber bald
schlägt die Stimmung um. Der mit Unwissenheit gepaarte Aber-
glaube sieht zuerst in dem Werke nur kindische Fabeleien (des
peaux d'asnes): 'Tel n'en co?inoist pas seulement la sintaxe qui con-
damne l'Autheur ä porter une bougie ä St -Mathurin.' Der Streit
zwischen den Lunaires und den Antilunaires trägt zur Verbrei-
tung der Schrift bei. Die Exemplare des Manuskripts werden
unter der Hand verkauft ('se vendirent sous le manteau'). Aber die
Sache wird allmählich schlimmer. Eine Deputation von neun
oder zehn Mönchen ('barbes ä longue rober) erscheint im Schlols
und verlangt die Herausgabe des Hexenmeisters. Aus Rücksicht
auf den Schlofsherrn werde man ihn ohne Skandal verbrennen.
Colignac lacht sie aus und verspricht Cyrano, der ängstlich ge-
worden ist, seinen Schutz. Mit einem gebildeten Nachbarn, dem
Marquis de Cussan, zusammen führen sie ein genufsreiches Leben
mit Jagd, Promenade, Besuchen, Lektüre und wissenschaftlichem
Gespräch, bald in Cussan, bald in Colignac. Unterdessen hetzt
184 Cyrano de Bergerac.
aber ein Pfaffe, Messire Jean, dem wir schon in den Lettres be-
gegnet sind, gegen Cyrano. Dieser wird durch seinen Dämon,
der auch den beiden Freunden gleichlautende Träume eingibt,
gewarnt. Diese Träume werden ausführlich erzählt und erinnern
ebenfalls an die Träume in den Briefen.
Bei der Übersiedelung nach Cussan wird Cyrano von einer
Bande von Bauern unter der Führung des Pfarrers (Messire Jean)
aufgehoben. Die Schilderung des Überfalls ist ein Muster gro-
tesker Komik und gehört wie die ganze Zwischenerzählung, welche
die beiden Reisen verbindet, zu dem Besten, was aus Cyranos
Feder geflossen.1
Unter den Büchern, die bei dieser Gelegenheit in die Hände
der Bauern fallen, befindet sich La Physique de Monsieur des
Cartes* mit den Kreisen, welche die Planetenbewegung darstellen,
und vor welchen die Bauern samt dem Pfarrer einen abergläu-
bischen Schrecken bezeugen. Das Reitpferd Cyranos, der allein
ist, reifst aus, das Maultier mit den Büchern wird in den Pfarr-
hof getrieben, unser Autor in einem benachbarten Flecken in
das Gefängnis geschleppt. Von diesem wird eine haarsträubende
Schilderung entworfen. Immerhin gelingt es dem Gefangenen
durch Bestechung des Kerkermeisters und seines Knechtes, sich
etwas Essen und eine Gelegenheit zur Flucht zu verschaffen.
Er erfindet, dafs ihm ein Engel den Besuch der Kirche mit dem
Knecht empfohlen habe, und macht sich während der Messe davon
nach Toulouse. Unglücklicherweise stöfst er beim Umherirren
auf den Kerkermeister, der ihn erkennt und verfolgt. Es gelingt
Cyrano zwar durch eine List, diesen verhaften zu lassen, aber
auf der Flucht gerät er immer wieder in feindliche Hände. Die
Verkleidung als Bettler, die Vermummung als Aussätziger helfen
nur für kurze Zeit. Den Häschern der Stadt wird er von deneu
des Grofsprofosen entrissen; während beide Parteien sich um
die Beute streiten, flüchtet er sich wieder, aber zu seinem Un-
glück in das Gefängnis selbst und wird zum Gefangenen des
Königs erklärt. In diesem Turme wird er einer Art von ge-
richtlicher Anthropometrie unterworfen. 'Chaque Guichetier Vun
apres Vautre, par une exacte disseetion des parties de mon visage, venoit
1 Die Bibliotheca Bodleiana in Oxford enthält, unter Nummer V 08
der Kollektion Douce, mit zwei anderen Flugschriften des 17. Jahrhun-
derts zusammengebunden einen in Köln bei rierre Marteau MDCXCIX
gedruckten anonymen Sermon du Cure de Colignac, der von La Mon-
naye, Menagiana vol. III, p. 68/69, und von Ch. Etienne Jordan,
Recueil de Litterature, de Philosophie et d'Histoire (Amsterdam 1730) p. 44,
unserem Cyrano zugeschrieben wird. Bestimmte Beweise liegen nicht vor,
aber die burleske Predigt verdiente an sich publiziert zu werden, und ich
habe mir dies vorgenommen.
- Gemeint sind die Principia Philosophiae, Amsterdam 1644, in wel-
chen das System der tourbillons entwickelt ist.
Cyrano de Bergerac. 135
tirer mon tableau sur la toille de sa memoire.' Da er kein Geld
mehr hat, wird er für die Nacht in ein schreckliches unterirdi-
sches Loch geworfen. Aus diesem wird er zwar durch die Inter-
vention von Colignac und Cussan, die seine Spur aufgefunden
und jenes Gefecht zwischen den Häschern veranlafst hatten, be-
freit, aber sie können nur erreichen, dafs er bis zur Beendigung
der Untersuchung im 'Grofsen Turm' interniert wird. Von ihnen
erfährt er auch das Ende, welches der Pfarrer von Colignac,
'norman de nation et chicaneur de son mestier' verdientermafsen er-
fahren hat. Er ist durch den Hufschlag von Cyranos Pferd, das
er für sich einfangen wollte, getötet worden. Cyrano läfst sich
in sein Turmzimmer mit flachem Dach Bücher und Instrumente
bringen und fabriziert eine Flugmaschine, die in der Amster-
damer Ausgabe von 1710, vol. H, p. 79, abgebildet ist und so
beschrieben wird: 'Es war eine grofse, sehr leichte und gut-
schliefsende Kiste (boite), sechs Fufs hoch und drei bis vier Fufs
breit; im Boden und in der Decke waren Öffnungen angebracht.
In der oberen steckte genau eingepafst das Rohr eines zwanzig-
eckigen Kristallgefäfees, welches einen Brennspiegel bildete, da
jede Fläche (facette) konvex und konkav war. In der Kiste war
eine kleine Sitzbank angebracht.'
Nachdem er die Abwesenheit seiner Wächter dazu benutzt
hat, diese Maschine auf der Terrasse seines Turmes der Sonne
auszusetzen, fliegt er eines Morgens nach neun Uhr auf. Die
Sonne erhitzt und verdünnt durch den ikosaedrischen Helm der
Maschine die Luft, und die von unten nachdrängende kalte Luft
hebt sie in die Höhe. In dem Innern seines Schreins (ehässe)
entwickelt sich ein prächtiges Farbenspiel. Das rasche Auf-
steigen verhindert es, dafs er mit einem angebrachten Segel
steuern kann, um nach Colignac zu kommen. So gibt er das
Segel preis. Auch oberhalb der mittleren Region bleibt die Auf-
wärtsbewegung konstant, weil der Äther zum Luftzug wird. In
der mittleren Region, wo Kälte und Hunger ihn plagen, stärkt
sich Cyrano mit einer Flasche Lebensessenz. In gröfserer Höhe
läfst die steigende Sonnenwärme die niederen Bedürfnisse des
Organismus nicht mehr aufkommen. Da die radikale Feuchtig-
keit (kumeur radicale) im Grunde identisch ist mit der Körper-
wärme (chaleur naturelle) oder durch sie ersetzt werden kann, so
entsteht in der Zusammensetzung des Körpers kein Defekt bei
zunehmender Sonnenwärme. 'Je n'avois garde d'en manquer dans
une region oü de ces petits corps de flame qui fönt la vie il s'en re-
unissoit davantage ä mon estre qu'il ne s'en detachoit.' Dafs die
Sonnennähe ihn nicht verzehrt, kommt davon, dafs es eigentlich
nicht das Feuer ist, welches brennt, sondern ein gröberer Stoff,
welchen das Feuer vor sich herstöfst. 'Dieses Funkenpulver
(poudre de bluettes), welches ich Feuer nenne, durch sich selbst
136 Cyrano de Bergerac.
beweglich, verdankt wohl alle seine Bewegung (action) der Rund-
heit seiner Atome, denn sie kitzeln, erhitzen, verbrennen je nach
der Natur der Körper, welche sie mit sich ziehen/ Als Beweis
wird das Verhalten von Strohhalm, Holz, Eisen gegenüber dem
Feuer betrachtet. Auch die Freude und das Fieber sind im
Grunde ein Feuer.
Während seines Fluges beobachtet er die Erde, welche sich
von Osten nach Westen (sie) um die Sonne dreht. Zuerst kommt
nach Frankreich Italien, Griechenland, der Bosporus, das Schwarze
Meer usw. in Sicht. Bei weiterem Aufstieg erscheinen andere
ungenannte Erden (terres), die etwelche Attraktion auf ihn aus-
üben, aber ohne die Kraft seines Aufstieges brechen zu können.
Den Mond passiert er, während dieser zwischen Erde und Sonne
steht. Er läfst Venus zur Rechten. Nach neueren astronomischen
Theorien hebt er ihre Planetennatur hervor. 'Ich beobachtete
immerhin, dafs während der ganzen Zeit, wo Venus diesseit (au
dega) der Sonne erschien, um welche sie sich dreht, sie beständig
im Wachsen schien/ Dafs die Planeten nur reflektiertes Licht
haben und abgeben, beobachtet er auch an Merkur, ebenso sieht
er die Monde der Planeten. Er sucht nach kosmologischen
Gründen, um diese zu erklären. Im Anfang der Schöpfung
einigten sich die ähnlichen Körper nach dem Prinzip, dafs jedes
Ding seinesgleichen sucht. Die Ähnlichkeit besteht aber in der
Form der Atome. So entstand die Luft. Andere, denen die
Gestalt möglicherweise eine Kreisbewegung verlieh, bildeten, indem
sie sich vereinigten, die Gestirne, welche sich nicht nur um ihre
Achse drehten, sondern sich auch von der Masse trennten und
anderen kleineren Kugeln, die in ihre Sphäre gerieten, die rotie-
rende Bewegung aufzwangen. Der Übergang der Erde, der Venus,
des Merkur, des Jupiter, des Saturn aus Sonnen in Planeten wird
durch Erkälten erklärt. Die Sonnenflecken beweisen, dafs auf
der Sonne mit dem Abgeben des Lichtes eine Verminderung der
Wärme verbunden ist, und dafs vielleicht die Sonne einst ein
dunkler Körper wie die Erde sein wird. Zur Zeit, wo die Erde
noch eine Sonne war, war sie bewohnt von höheren Wesen, den
Dämonen des Altertums, den Engeln der Heiligen Schrift.
Nach viermonatlicher Reise landet Cyrano auf einem der
Sonnenflecken; sein Kopf ist umgeben von der Helligkeit der
Himmel. Er läfst seine Maschine mit verdecktem Hut auf einem
hohen Berge; durch Erosionsrinnen verschwundener Gewässer
steigt er in eine mit Schlamm bedeckte Ebene hinunter, kommt
dann in eine Kiesgrube (fondriere), wo er einen kleinen Menschen
ganz nackt auf einem Steine sitzen sieht. Sie unterhalten sich
sogleich mit vollem Verständnis in einer Sprache, die Cyrano
nie gehört hat und doch versteht. Der Kleine erklärt ihm das
durch den Satz, dafs es in den Wissenschaften eine Wahrheit
Cyrano de Bergerac. 137
gebe, aufserhalb welcher man immer vom Verständnis entfernt
bleibe. Das nämliche gelte auch von der Musik. Sie unterhalten
sich nun über diese Ursprache der Menschheit, welche ein In-
stinkt der Natur ist und einst auch von den ersten Menschen
auf der Erde gesprochen wurde und deren intimen Verkehr mit
den Tieren ermöglichte.
Der Kleine erklärt Cyrano die Beschaffenheit des Bodens,
auf dem sie stehen. Diese Kosmologie sieht antik aus. Das
Eigentümliche daran ist die dreifache 'codion', welcher die Materie
ausgesetzt wird, um den Menschen hervorzubringen. Die vorher-
gehenden Stadien sind: das Meer (feucht und salzig) und das
Vegetative. Die drei coctions entsprachen der vegetativen Seele
(Leber, Fähigkeit zu wachsen), der Lebenskraft (Herz, Sitz der
Tätigkeit) und dem Intellekt (Gehirn, Sitz des Denkens). Daher
braucht der Mensch auch neun Monate zur Entwickelung. Wenn
das Pferd zehn bis vierzehn braucht, so kommt das nicht von
höherer Organisation, sondern von kälterem Temperament, wes-
halb auch das Pferd nur an geschwollener Milz oder anderen
Übeln stirbt, die von Melancholie kommen. Wenn jetzt auf der
Erde keine Menschen mehr aus dem Schlamm entstehen, so
kommt das davon, dafs die kalte Feuchtigkeit fehlt; die zweite
oder die dritte Umkochung fällt fort, es entsteht eine Pflanze
(vegetal) oder höchstens ein Insekt. Auch habe er bemerkt, dafs
der Affe, welcher, wie wir, seine Kleinen neun Monate lang
trägt, uns nach so viel Seiten ähnelt, dafs viele Naturforscher
uns als Art nicht unterschieden haben, und der Grund dafür ist,
dafs ihr Samen, der ungefähr gleich temperiert ist wie der un-
serige, während dieser Zeit ungefähr die Mufse gehabt hat, diese
drei Umformungen (digestions) durchzumachen.
Dafs der kleine nackte Mann so gut Auskunft weifs über
Dinge im Weltall, auch auf der Erde, erklärt sich leicht; denn
in einer der Sonne benachbarten Gegend wie die seinige sind
die Seelen voll Feuer und viel heller, viel feiner und durch-
dringender als andere Geschöpfe auf entfernteren Sphären; ihre
bewegliche Vernunft bewegt sich ebenso leicht rückwärts als vor-
wärts, und sie ist imstande, die Ursache durch die Wirkung zu
erreichen, da sie ja durch die Ursache zu den Wirkungen zu ge-
langen vermag.
Die Diskussion wird dadurch unterbrochen, dafs der Kleine
als Hebamme funktionieren mufs bei der Geburt eines Bruders,
der, wie er selbst vor drei Wochen, geboren werden soll aus
einem von der Sonne befruchteten Erdklofs. Cyrano sucht seine
Maschine auf, die im Begriff ist, ohne ihn davonzufliegen. Nach
einer aufregenden Jagd gelingt es ihm, sie wieder einzufangcn
und in ihr zur Sonne aufzusteigen. Die Erde verschwindet dabei.
Auf der Reise braucht er weder Nahrung noch Schlaf. Das
138 Cyrano de Bergerac.
Körperliche, auch seiner Maschine, fällt in Gestalt eines schwarzen
Nebels von ihm ab, und er wird durchsichtig wie seine Maschine.
Er sieht sich selbst, aber nicht seine Loge, weil die Sonne an-
ders wirkt auf Belebtes als auf Unbelebtes. Seine Bewegung
wird langsamer, weil die Verdünnung der Luft immer gröfser
wird. Er fürchtet daher zu fallen, aber als er in der äufsersten
Not die Augen zum Himmel erhebt, hebt die Glut seines Willens
ihn selber samt der Maschine. Da diese seinem dagegendrängen-
den Kopfe unangenehm wird, öffnet er tastend die Türe und
stürzt sich hinaus, und da er instinktiv, um sich zu halten, den
Ikosaeder berührt, springt dieser in Stücke, die Maschine fällt
hinunter, vereinigt sich in der unteren Region mit dem dunklen
Nebel, den sie abgesondert hat, und gelangt zur Erde, in der
Aquatoriallinie, auf Borneo, wo ein Insulaner sie findet, ein por-
tugiesischer Kaufmann sie erwirbt, bis sie von Hand zu Hand
an einen polnischen Ingenieur kommt, der sich ihrer zum Fliegen
bedient. Cyrano hat sie selbst in ihrem ursprünglichen Zustand
in Polen wiedergesehen.
Sein weiterer Flug zur Sonne wird nur durch seinen Willen,
dorthin zu kommen, gefördert. Darin liegt nichts Unverständ-
liches, wie an dem Beispiel des Sprunges expliziert wird. Wenn
ein solcher nicht immer zum Ziele führt, so kommt dies davon,
dafs die allgemeinen Prinzipien in der Natur die besonderen über-
wiegen. Da nun die Macht des Willens eine besondere Eigen-
schaft der empfindenden Dinge ist, die Eigenschaft nach dem Zen-
trum zu fallen aber allgemein in der ganzen Materie verbreitet
ist, so ist mein Sprung gezwungen, aufzuhören, sobald die Masse,
nachdem sie den Einflufs des sie überraschenden Willens über-
wunden hat, sich dem Punkte nähert, nach welchem sie tendiert.
Nach einer Reise von 22 Monaten kommt er in den 'grofsen
Ebenen des Tages' an. Der Boden gleicht dort feuerfarbigen
Schneeflocken (flocons de neige ambrasee), so leuchtend ist er. Wie
Cyrano von dem Augenblick an, wo sein Kasten fiel, nicht mehr
unterscheiden konnte, ob er steige oder falle, so ist auch das
Gehen auf der Sonne beständig aufrecht, auf welchen Körperteil
er sich auch dabei stützt. Er erkannte daraus, dafs die Sonne
eine Welt ist, welche kein Zentrum hat, und da er sehr weit
von der Anziehungssphäre unserer Welt und aller, welche er
begegnet hatte, ist, so war es folgerichtig unmöglich, dafs er noch
Gewicht hatte, da die Schwere nur die Attraktion des Zentrums
innerhalb der Sphäre seiner Wirksamkeit ist.
Nach einer Reise in der Sonne von ungefähr 14 Tagen,
wobei er marschiert wie Gott in den Wolken schwebt, kommt
er in eine weniger leuchtende Gegend. Durch das Wiederauf-
treten der Undurchsichtigkeit (opacite), nach der sich sein Körper
zu sehnen scheint, wird er müde und empfindet Schlaf, 'diesen
Cyrano de Bergerac. 139
Tyrannen der Hälfte unserer Tage'. Er schläft auf einer ganz
nackten Ebene ein und erwacht unter einem Baume mit gol-
denem Stamme, silbernen Ästen, Smaragdblättern und Blüten
und Früchten aus Edelsteinen. Auf diesem Wunderbaume singt
eine wunderschöne Nachtigall. Ein Granatapfel, den er aufmerk-
sam betrachtet, verwandelt sich in einen Däumling, der vor ihn
tritt und in der Ursprache mit ihm redet. Nachdem ihm Cyrano
über seine Person Auskunft gegeben, belebt der Däumling alle
Teile des Wunderbaumes zu kleinen Menschen, die seine Unter-
tanen sind. Das Mittel ist, dafs er sich in sich selbst sammelt
und alle inneren Federn des Willens hemmt. Alle tanzen einen
Reihen um Cyrano, nur die Nachtigall bleibt unverwandelt, 'weil
sie ein wirklicher Vogel ist und nur das, was sie scheint.' Auf
der Reise zu den 'dunklen Gründen' will der Däumling, auf den
Schultern Cyranos stehend, ihm die Geschichte der Nachtigall
ins Ohr sagen. Aber er ermüdet zu rasch und schlägt vor, die
Nachtigall solle ihre Geschichte singen. Cyrano fürchtet, die
Sprache der Vögel nicht zu verstehen, da er von dem Weisen
auf dem Sonnenflecken nur die Sprache der vierfüfsigen Tiere
(brutes) gelernt habe. Der Däumling gibt nach, springt von der
Schulter zu Boden und fängt an, mit seinem ganzen Volke in
Kreisen, die sich immer mehr verdichten und verringern, zu tan-
zen. Cyrano empfindet die rhythmische Bewegung mit. 'Es
schien die Absicht des Balletts, einen enormen Riesen darzu-
stellen', in der Tat aber entsteht aus diesem Wirbel ein wunder-
schöner Mann mittlerer Gröfse, der dadurch Leben gewinnt, dafs
ihm der König des Baumvolkes in den Mund kriecht, Dieser
Jüngling nun erzählt seine eigene Geschichte und die der Nach-
tigall: Er und sein Volk sind in den leuchtenden Teilen der
Sonne geboren und unternehmen grofse Reisen durch die Sonnen-
welt. Um langsamer reisen und dadurch besser beobachten zu
können, verwandelten sie sich in Vögel, die Untertanen in Adler,
der König in eine singende Nachtigall. Auf der Reise durch
eine dunkle Provinz (region opaque) trafen sie auf eine Nachtigall
dieser Gegend, welche sich durch das, was sie sieht, täuschen
läfst und den Sonnenkönig-Nachtigall, weil sie ihn in der Gewalt
der Adler glaubt, melodisch beklagt. Er findet so sehr Gefallen
an ihren Klagen, dafs er sie in ihrem Irrtum bestärkt, und die
beiden singen ein Liebesduett der zärtlichsten Art während
24 Stunden. Die Nachtigall der dunklen Welt macht sogar einen
heroischen Versuch, ihren Freund aus der vermeintlichen Ge-
fangenschaft zu befreien, und läfst sich auch durch sein Bekennt-
nis nicht eines anderen belehren. Daher verwandelt er sein Volk
zum Teil in einen Flufs mit kleinem Schiff, in welchem die bei-
den Nachtigallen fahren, während die Adler vorausfliegen. Nach
der Wiedervereinigung verwandeln sie sich, um die ungläubige
140 Cyrano de Bergerac.
Nachtigall von ihrem wahren Wesen zu überzeugen, in den
Wunderbaum, den Cyrano angetroffen hat. Alle diese Verwand-
lungen sind nach der Erklärung des Königs-Nachtigall durchaus
keine Wunder, sondern rein natürliche Wirkungen aus der leuch-
tenden Natur der wahren Sonnenbewohner. Sie sind das, was
die stumpfsinnigen Menschen der Erde Geister (esprits) nennen,
tatsächlich keine anderen Wesen als die Menschen, nur dafs ihnen
ihre feurige Einbildungskraft die Fähigkeit gibt, die Materie,
welche sie völlig beherrschen, in jedem Augenblicke nach ihrem
Gutdünken zu verwandeln und zu gestalten durch impulsive Be-
wegungen. Cyrano denkt, dafs sich so auf der Erde manche
Fabel erklären lasse: Cippus, König von Italien, Gallus Vitius,
der König Codrus, mehrere schwangere Frauen, welche Unge-
heuer gebaren, der berühmte Hypochonder des Altertums, wel-
cher sich einbildete, ein Krug zu sein.
Der Sonnenkönig verwandelt sich wieder in eine Nachtigall,
der Jüngling zerfällt, die Adler fliegen davon, und Cyrano folgt
der wirklichen Nachtigall in einer dreiwöchentlichen Reise in eine
Gegend des Königreiches dieser kleinen Sängerin, wo sie ihn
verläfst. Er legt sich an einem mit allen Reizen der Natur ge-
schmückten Plätzchen * zum Schlafen nieder.
Er wird geweckt durch das Erscheinen eines wunderschönen
Vogels, der ihm zu verstehen gibt: 'Du bist ein Fremder und
geboren in einer Welt, der ich entstamme'. Der Vogel setzt
ferner auseinander: dafs nicht alle Menschen und Vögel sich
gegenseitig verstehen, beweist nichts dagegen, dafs beide Teile
sprechen können und vernünftige Wesen sind. Apollonius von
Tyana, Anaximander, Asop und andere haben die Vogelsprache
verstanden. Es ist also kein Wunder, wenn einzelne Vögel die
Menschensprache verstehen. In jeder Welt hat die Natur den
Vögeln den Wunsch eingegeben, zur Sonne zu . gelangen, und
vielleicht sind ihnen deswegen Flügel gewachsen, wie schwangere
Frauen ihren Kindern die Muttermale von Dingen einpflanzen,
1 Die Ausgabe von 1710, mit welcher nach P. Lacroix p. '207 die
Originalausgabe und die von 1761 stimmt, schliefst diesen Abschnitt
p. 153 mit den Worten: 'Ce rocher estoit couvert de plusieurs arbres, dont
la gaillarde et verte fraicheur exprimoit la jeunesse: mais comme deja tout
amoly par les charmes du Heu je commencois de m'endormir ä l'ombre.'
Der folgende Abschnitt beginnt in allen mir bekannten Ausgaben mit
den Worten : 'Je commencois de m'endortntr ä l'ombre lors que f apperceus
en l'air un Oiseau' etc.
Das scheint mir zu beweisen, dafs ursprünglich die Reise in die Sonne
eine zusammenhängende Erzählung war und die Unterabteilung Histoire
des Oiseaux erst von dem Buchhändler hinzugefügt wurde. Für den Vogel-
staat fand Cyrano Beispiele bei Aristophanes und Rabelais. Für die
sprechenden Bäume eine Stelle bei Sorel {Francion p. 97) : 'J'ouis un
caquet continuel ... il y avoit six arbres qui au Heu de feuilles avoient des
langues menues attachees aux branches.'
Cyrano de Bergerac. 141
nach denen sie begehren, wie man im Traum schwimmen lernt,
wie der Sohn des Krösus sprechen lernte, wie jenem Verfolgten
aus dem Altertum Hörner wuchsen. In der Sonne angekommen
begibt sich jeder Vogel in den Staat seiner Art. Der zu Cyrano
sprechende ist ein Phönix, wie es deren auf jeder Welt nur
einen gibt, der nach 100 Jahren ein Ei in die Kohlen seines
Scheiterhaufens von Aloe, Canelle und Weihrauch legt und sich
zur Sonne aufschwingt. Der Phönix ist ein Hermaphrodit, aber
unter den Hermaphroditen gibt es noch einen anderen, aufser-
orclentlichen Phönix, denn . . . Der Vogel unterbricht hier seine
Erklärung, weil er Zeichen des Unglaubens an seinem Zuhörer
bemerkt, und fliegt, nachdem er die Wahrheit seiner Aussage
eidlich versichert, fort. Cyrano folgt ihm und gelangt nach einem
Marsche von 50 Meilen in das Vogelreich.
Er wird gleich von den Vögeln umringt und von vier Adlern
durch die Luft mehr als 1000 Meilen weit in einen Wald fort-
getragen, wo die Residenz des Vogelkönigs ist. Eine Elster
warnt ihn, keinen Widerstand zu leisten. Er wird in den hohlen
Stamm einer Eiche gefangen gesetzt und scharf bewacht. Die
Wache wird alle 24 Stunden abgelöst. Die Elster teilt ihm mit,
dais die Vögel sehr aufgebracht gegen ihn seien und ihn, als
einen Menschen, ein ganz unnützes und abscheuliches Wesen,
den Erbfeind der Vögel, umbringen wollten. Sie nennen ihn
kahles Tier, gerupften Vogel, Schimäre, Sammelsurium aller Arten
von Naturen, das allen Furcht einflöfst. Sehr sarkastisch machen
die weisen Vögel sich lustig über den Menschen, der mit seiner
hellsehenden Seele Zucker und Arsenik, Schierling und Peter-
silie nicht unterscheiden kann; 'der Mensch, welcher behauptet,
dals man nur durch die Sinne Verstandesempfindungen hat, und
der doch die schwächsten, langsamsten und unzuverlässigsten
Sinne unter allen Kreaturen hat/ Die Menge vollends urteilt:
'Wie, er hat weder Schnabel, noch Federn, noch Klauen, und
seine Seele sollte geistig (spirituelle) sein? Ihr Götter! welche
Impertinenz !'
Dennoch wird ihm ein regelrechter Prozefs gemacht. Die
Klageschrift wird auf die Rinde einer Zypresse geschrieben, und
nach einigen Tagen wird er vor das Vogeltribunal getragen. Als
Advokaten, Räte und Richter fungieren nur Elstern, Häher und
Stare, welche die Sprache des Angeklagten verstehen. Er wird
rittlings auf ein Stück verfaulten Holzes gesetzt und von dem
Präsidenten nach Herkunft, Nation und Art befragt. Auf den
Rat der Elster gibt er sich für einen Affen aus, der sehr früh
vou den Menschen seinen Eltern entrissen worden sei. Seine
Heimat sei Frankreich, im gemäfsigteu nördlichen Klima, wo er
seine Muttersprache verlernt und die schlechten Gewohuheiten
der Menschen, z. B. auf zwei Fülsen zu gehen, angenommen habe.
112 Cyrano äe Bergerat,
Man solle ihn von Experten untersuchen lassen, und wenn er
sich als Mensch herausstelle, so wolle er als Ungeheuer (monstre)
vernichtet sein. Eine Schwalbe wendet ein: In Frankreich er-
zeugen die Affen nicht, also sei der Angeklagte nicht, was er
behaupte. Cyrano repliziert, dafs er eben so jung von Hause
fortgekommen sei, dafs er als Heimat nur den Ort angeben
könne, dessen er sich am frühesten erinnere. Dieses Argument
überzeugt eigentlich niemanden, aber man findet es nützlich, an-
zunehmen, 'dafs ein so abscheuliches Wesen wie der Mensch
überhaupt nicht existiere/ Vor Entzücken schlägt das ganze
Auditorium mit den Flügeln. Er wird also zur Untersuchung
durch die syndics in ein entferntes Gehölz gebracht. Während
24 Stunden machen sie ihm allerhand Kapriolen vor, Prozessionen
mit Nufsschalen auf dem Kopfe, Purzelbäume, graben kleine
Gruben, die sie wieder zufüllen, u. ä. Im zweiten Termin geben
die syndics auf ihr Gewissen an, dafs sie den Angeklagten nicht
für einen Affen halten, weil er auf ihre Affereien (singeries) nicht
reagiert habe.
Die Abstimmung wird durch Verdüsterung des Himmels
unterbrochen, denn im Reiche der Vögel wird ein Kriminalpro-
zefs nur bei heiterem Himmel erledigt, damit dem Angeklagten
kein Unrecht geschehe durch die traurige Stimmung der Richter.
Im Gefängnis wird Cyrano durch Königsbrot (pain du Roy) ge-
nährt, d. h. durch etwa fünfzig Würmer und Grillen, die man
ihm von sieben zu sieben Stunden bringt. Nach fünf bis sechs
Tagen erfährt er, dafs sein Prozefs verschoben worden sei wegen
einer Klage, welche die Gemeinde der Kohlmeisen (communaute
des Chardonets) gegen einen der ihren angestrengt hat, dem es
seit sechs Jahren nicht gelungen ist, einen Freund zu erwerben.
Er wird daher verurteilt, König eines ihm fremden Volkes zu
werden. So wird er alle Mühsale und Bitternisse des König-
tums erleiden, ohne eine seiner Freuden geniefsen zu können.
Gegen Ende der Woche wird Cyrano wieder vor seine
Richter gebracht. Er wird auf die Gabel eines kleinen blatt-
losen Baumes gesetzt; die Vögel, sowohl die Gerichtspersonen
(de longue rohe) als das Publikum, bedecken die Aste einer grofsen
Zeder. Die Elster steht ihm bei, obschon sie zugibt, dafs die
Gattung Mensch ausgerottet zu werden verdiente. Sie erinnert
sich aber mit Dankbarkeit an ihr Leben unter den Menschen,
besonders an die guten weichen Käse.
Cyrano will sich vor einem Adler, der sich auf den näch-
sten Baum setzt, zur Erde werfen, aber die Elster belehrt ihn,
dafs dieses grofse Tier keineswegs ihr König sei. Dieser Averde
vielmehr unter den schwachen auserwählt, damit er keine Ty-
rannei ausüben könne. Jede Woche versammeln sich die Stände,
um über den König zu richten. Er sitzt auf einer grofsen
Cyrano de Bergerac. 143
Eibe (yf) am Rande eines Teiches, Füfse und Flügel gebunden.
Wer sich über ihn zu beklagen hat, kann ihn ins Wasser werfen,
aber er niufs nachträglich seine Anklage beweisen; sonst stirbt
er des traurigen Todes, d. h. er wird mit traurigen Liedern zu
Tode gesungen. Gegenwärtig ist eine sanfte Taube König, die
nicht begreifen kann, dafs es eine Feindschaft gibt.
Die mitleidige Elster wird selbst als verdächtig verhaftet.
Als die Taube -König ankommt, wird Klage geführt gegen die
Elster von dem Grofszensor der Vögel. Auf die Frage nach
ihrem Namen, und ob sie den Angeklagten kenne, gibt sie an,
sie heifse Margot. Auf der Erde hat sie von dem anwesenden
'guillery l'enrume' gehört, ihr Vater heifse 'Courte queüe' und ihre
Mutter ' Croquenoix' . Sie weifs es selber nicht, denn sie ist ganz
jung ihren Eltern geraubt worden. Die Mutter starb vor Gram,
der Vater ging aus Verzweiflung in den 'Krieg der Häher', wo
er durch einen Schnabelhieb in das Gehirn getötet wurde. Die
Elster wurde von wilden Tieren geraubt, die man Schweinehirten
Borchers) nennt, und in ein Schlofs gebracht, wo sie den Ange-
klagten kennen lernte. Dieser sorgte liebreich für sie, schützte
sie vor den Verfolgungen der Dienstboten, besonders eines ge-
wissen Verdelet, der sie der Katze geben wollte aus Rache, weil
sie ihn unwillkürlich verraten hat. (Die Anekdote scheint aus
Cyrauos Leben zu stammen.) Der König -Taube spricht die
Elster unter Verwarnung frei und gibt dem Ankläger das Wort.
Es folgt nun das lange 'Plaidoyer vor dem Parlament der
Vögel, bei versammelten Kammern, gegen ein Geschöpf, ange-
klagt, ein Mensch zu sein/ Er vertritt als Zivilpartei 'Guille-
mette die Fleischige, Rebhuhn von Geburt', welche eben, vom
Blei des Jägers verwundet, von der Erde kommt und Rache an
den Menschen heischt. Da der Angeklagte zu diesen gehört, so
sollte er unschädlich gemacht werden. Aber er soll nicht un-
gerecht behandelt werden, damit wir Vögel nicht den Menschen
gleich werden.
Der Kern (nceud) der Streitsache besteht darin, zu wissen,
ob dieses Geschöpf ein Mensch ist, und für den Fall, dafs wir
erkunden, dafs er es ist, ob er dafür den Tod verdient.
Die Prämisse wird bewiesen 1) durch den Abscheu, welchen
Cyrano den Vögeln einflöfst, 2) weil er lacht wie ein Narr, 3) weil
er weint wie ein Tor, 4) weil er sich schneuzt wie ein Bauer
(vilain), 5) weil er kahl ist wie ein Räudiger, 6) weil er den . . .
vorn trägt, 7) weil er eine Menge kleiner, viereckiger Kiesel im
Munde trägt, die er weder den Verstand hat auszuspucken noch
zu schlucken, 8) weil er jeden Morgen Augen, Nase und Mund
zum Himmel aufhebt, die Hände faltet und die Beine knickt
und, nachdem er einige magische Worte gemurmelt, aufsteht, als
ob nichts passiert wäre. Das deutet auf Magie, deren nur ein
H4 Cyrano de Bergerac.
Mensch fähig ist mit seiner schwarzen Seele; also ist dieser ein
Mensch.
IL Soll er darum getötet werden? Ja, denn alle Wesen
sind von der Mutter Natur dazu geschaffen, in Gemeinschaft zu
leben. Wenn nun der Mensch dazu bestimmt scheint, diese Ge-
meinschaft der Schöpfung zu stören, so verdient er, dafs die
Natur ihr Werk an ihm bereue. Das Fundamentalgesetz jedes
Staates (repablique) ist die Gleichheit (egaliie). Unter nichtigen
Vorwänden seiner Superiorität, die nur eine Barbarei ist, ohne
die Kraft der Adler, Kondors und Greifen, unterdrückt er die
schwächeren Vögel. Ebensowenig gibt ihm seine gröfsere Statur
(auch bei den Menschen gibt es Riesen und Zwerge) ein Recht
der Herrschaft. Diese ist überhaupt bei den Menschen, den ge-
borenen Sklaven, imaginär. Die Armen dienen den Reichen, die
Jungen den Alten, die Bauern den Edelleuten, die Prinzen den
Monarchen und diese den selbstgegebenen Gesetzen. Nur um
dienen zu können und der Freiheit zu entgehen, schmieden sie
sich Götter auf allen Seiten; sie werden solche lieber aus Holz
machen als keine haben, und der Redner glaubt sogar, dafs sie
sich mit den falschen Hoffnungen auf Unsterblichkeit kitzeln,
weniger aus dem Schauer, womit das Nichtsein sie erschreckt,
als durch die Furcht, welche sie haben, dafs ihnen nach dem
Tode niemand mehr befehlen wird.
Von diesem törichten Hochmut ausgehend, bildet der Mensch
sich ein, dafs die Natur alles nur zu menschlichen Zwecken ge-
schaffen habe, wie Vogeljagd als Preis des Adels, Deutung des
Vogelflugs und der Eingeweide der Vögel (sie!).
Für die Fehler, welche der Mensch, das arme Tier, das nicht
wie die Vögel mit Vernunft begabt ist, aus Unverstand begeht,
verdient er zwar nicht den Tod, wohl aber für die aus freiem
Willen begangenen Missetaten, wie Vogelmord und Abrichtung
der Sperber, Falken und Geier zur Jagd.
Der Redner beantragt den traurigen Tod. Der amtliche Ver-
teidiger verzichtet aus Gewissensgründen auf die Verteidigung
eines solchen Untiers (monstre).
Die Elster, welche sich hierauf zur Verteidigung meldet,
wird recusiert, als zugunsten des Angeklagten voreingenommen,
denn im Gerichtshof der Vögel darf ein Advokat nur für die
Sache, nicht für den Klienten eingenommen sein.
Bei der Abstimmung wird, weil der König zur Milde neigt,
das Urteil dahin abgeändert, dafs Cyrano von den Mücken ge-
fressen werden soll.
Der Angeklagte wird entfernt, weil ein Vogel in Ohnmacht
gefallen ist. Vorher wird ihm das Urteil von der Ohreule, welche
als Gerichtsschreiber (greffier criminel) fungiert, verlesen. So-
gleich wird der Himmel schwarz von kleinen Insekten, auch
Cyrano de Bergerac. 145
Flöhen (sie!). Fortgeführt wird Cyrano, auf einem schwarzen
Straufs reitend, welche Stellung als schimpflich gilt, von fünfzig
Kondors und fünfzig Greifen und gefolgt von einer Schar kräch-
zender Raben. Zwei Paradiesvögel sollen ihn auf dem letzten
Gange trösten, und folgendes sind ihre Argumente:
'Der Tod kann kein grofses Übel sein, da Mutter Natur
alle ihre Geschöpfe ihm unterwirft. Er ist auch nichts Wichtiges,
da er so oft und ohne Veranlassung eintritt. Wenn Leben oder
Tod ausgezeichnete Dinge wären, so läge es nicht in unserer
Gewalt, sie zu geben. Es ist vielmehr wahrscheinlich, da das Ge-
schöpf durch Spiel (jeu) beginnt, dafs es ebenso endet. Das gilt
für den Menschen, dessen Seele nicht unsterblich ist wie die der
Vögel. Wenn du stirbst, stirbt alles mit dir. Was dir heute
widerfährt, geschieht anderen deinesgleichen morgen. Sie sind
beklagenswerter als du, denn wenn der Tod ein Übel ist, so
steht ihnen dies vielleicht fünfzig bis sechzig Jahre lang bevor,
dir nur eine Stunde. Wer nicht geboren ist, ist nicht unglück-
lich. Einen Augenblick nach dem Tode wirst du sein wie einen
Augenblick vor dem Leben oder andere, die vor abertausend
Jahren gestorben sind. Ist aber das Leben ein Gut, so ist nicht
ausgeschlossen, dafs du ein zweites Mal seiest, wenn die näm-
lichen Zufälligkeiten der Materie, die dich schufen, sich wieder
zusammenfinden sollten. Dafs du dich an dein erstes Leben er-
innerst, ist dabei irrelevant, wenn du dich nur leben fühlst, und
vielleicht wirst du dich über den Verlust des zweiten Lebens
mit den Argumenten trösten, die ich dir jetzt vorhalte. Aber
wichtiger ist folgendes, um dich zu veranlassen, diesen Wermut
(absinthe) in Geduld zu trinken. Du und die anderen materiellen
Tiere (brutes) werden durch den Tod, welcher die Materie nicht
vernichtet, sondern nur verändert, in einen anderen Zustand über-
geführt. Wenn du auch nur ein Erdklofs oder ein Kiesel wirst,
so ist das immer noch besser als ein Mensch. Aber (und das
ist ein Geheimnis), wenn du von den Mücken und kleineren In-
sekten gefressen wirst, wirst du in ihre Substanz übergehen, und
wenn du selbst auch nicht denkst, wirst du sie denken machen.'
Am Hinrichtungsorte warten vier Reiher auf vier Bäumen.
Fischadler heben den Cyrano iu die Höhe. Die Reiher halten
ihn ausgespannt in der Luft, und die kleinen Henker machen
sich, jeder an seinem Teile, bereit, als der Ruf: Gnade! Gnade!
ertönt, von zwei Turteltauben überbracht. Cyrano fällt, von den
Reihern losgelassen, auf einen weifsen Straufs herunter, der ihn
im Galopp vor den König bringt. Sein Retter ist Cäsar, der
Papagei (perroquet) von Cyranos Cousine, dem er einst die Frei-
heit wiedergegeben hat, und zu dessen Gunsten er so oft den
Satz verfochten hat, dafs die Vögel vernünftig seien (raison nent).
Weil nun, wie der König -Taube sagt, eine gute Tat bei den
Archiv t. n. Sprachen. CXV. 10
116 Cyrano de Bergerae.
Vögeln niemals verloren ist, und in Anerkennung dessen, dais
er die Vögel richtig beurteilt hat, wird er frei. Der weifse Straufs,
geleitet von den zwei Turteltauben, galoppiert mit ihm einen
halben Tag lang und verläfst ihn am Eingang eines Waldes, in
den Cyrano eindringt und von dem herabträufelnden Honig sich
nährt. Aus Müdigkeit am Fufse der Bäume hingestreckt, hört
er griechisch reden und vernimmt eine medizinische Konsultation,
durch welche eine Eiche für ihren Freund, die Ulme mit drei
Köpfen, welche von einem hektischen Fieber und von einem
grolsen Moosübel (mal de mousse) befallen ist, Hilfe verlangt. Der
Rat ist, die Ulme solle aus ihrem Bette möglichst viel Feuchtes
saugen, fröhlich sein und sich von den Nachtigallen etwas vor-
singen lassen. Wenn der Zustand sich etwas gebessert hat, wird
ihr der Storch ein Klistier geben.
Nach einiger Zeit hört Cyrano das Zwiegespräch der ge-
gabelten (fourchu) und der frischen Rinde, die einen Menschen
in der Nähe wittern. Er ergreift also das Wort und gibt sich
als solchen zu erkennen; ebenso ihm die Eichen, die von Dodona
stammen. Ein Adler, der von der Erde zur Sonne flog, hat sich
einst hier seines Überflusses an unverdauten Eicheln entledigt,
und daraus sind die Eichen entstanden. Aber nur diese Eichen
sprechen griechisch, die anderen Bäume haben jede Art ihre be-
sondere Sprache, die im Säuseln des Waldes sich äufsert, ' wel-
ches aber die Menschen zu dumm sind zu verstehen. Ebenso-
wenig merken es die Menschen, dafs die Bäume leben und z. B.
der Axt des Holzfällers einen bewufsten Widerstand entgegen-
stellen. Es folgt eine wundervolle Schilderung von dem Liebes-
leben der Natur. Die Vögel singen das Lob der Bäume, diese
beschützen deren Nester vor dem Menschen. Nur die Wohnstätte
(aire) der Raubvögel, der Zänker und der Abschreckenden, wie
die Eulen, lassen sie ungedeckt. Auch die Liebesszene zwischen
Baum und Erde im Frühling, von welcher eine sehr weitgehende
Schilderung gegeben wird,2 sehen die Menschen beständig, ohne
sie zu begreifen. Der sprechende Baum bricht hier ab, weil ihm
der Atem ausgeht. Ein anderer befriedigt die Neugierde Cyranos,
indem er ihm die Geschichte der verliebten Bäume (arbres amants)
erzählt.
Orestes und Pylades fielen in einer Schlacht, sich im Sterben
fest umschlingend. Aus der Verwesung ihres Rumpfes erwuchsen
zwischen den bleichenden Knochen ihrer Skelette zwei Büsche,
1 Wunderschöne Stelle und frei von dem Preziösen, welches das sonst
so hübsche Idyll des Campagnard (s. oben Bd. CXI.V, S. 128) entstellt.
2 Dafs diese Stelle in der Originalausgabe unverkürzt gegeben wurde,
scheint mir zu beweisen, dafs Lebret nicht der Redaktor des Textes war.
In der Ausgabe von Eugene Müller (s. oben Bd. CXIII, S. :>5ö) ist sie
ausgelassen.
Oyrano de Bergerac. 147
die sich in ihren Stengeln, Zweigen und Knospen wieder zu ver-
einigen strebten und sich ganz gleichmäfsig ernährten. 'Sie zogen
beide die Brustwarzen ihrer Amme nach innen, wie ihr anderen
sie von aufsen aussauget/ So erzeugten sie Wunderäpfel. Wer
von den Äpfeln des einen als, verliebte sich in die Person, die
von den Äpfeln des anderen gegessen hatte. Unter Personen
des gleichen Geschlechtes bewirkt der Genufs Freundschaft, bei
ungleichem Liebe. Wer mehr davon gegessen hatte, wurde auch
mehr geliebt. So entstanden die Freundespaare Herkules und
Theseus, Achilles und Patroklus, Nisus und Euryalus. Man
pflanzte Absenker dieser Bäume im Peloponnes und bei Theben.
An letzterem Orte entstand so die Heilige Schar (bände sacree).
Aber die Äpfel konnten auch Schaden und Gefahr stiften, z. B.
Myrrha und Kinyras (hierbei Wortspiel mit den Folgen dieses In-
cestes), Pasiphae und der Stier, Pygmalion und die Statue, Iphis
und Janthe, Narcissus und Echo, Salmacis und Hermaphrodite.
Diese beiden Fabeln werden in einer von der Tradition abwei-
chenden und der These besser entsprechenden Form erzählt.
Seltsam ist die Erzählung von der Hochzeit des Cambyses, bei
welcher dieser Prinz von den Äpfeln des Orestes ifst. Da die
Substanz dieser Frucht sich nach den drei Umbildungen (coctions)
in einen vollkommenen Keim verwandelt hatte, bildete sie im
Leibe der Königin den Embryo ihres Sohnes Artaxerxes, dessen
Liebe zu einer Platane, auf welche sein Vater einen Zweig des
Orestesbaumes gepfropft hat, geschildert wird. Sein Leichnam
wurde auf dem Scheiterhaufen der Platane verbrannt, und ihre
beiden Seelen stiegen in einer Feuersäule zur Sonne empor, wo
sie den Orestesbaum erzeugten, während der Eigennutz der
Mütter diese Pflanzen auf der Erde zerstörte, so dafs man dort
keinen wahren Freund mehr findet. Aber aus der von den
Regengüssen in die flammenden Bäume kalzinierten Asche ent-
standen Eisen und Magnet, die sich gegenseitig anziehen. Im
Anschlufs an diese Geschichte wird die Natur der Erdpole so
entwickelt: 'Die Pole sind die Offnungen (bouches) des Himmeis,
durch welche er das Licht, die Wärme und die Einflüsse (in-
fluences), welche er auf der Oberfläche verbreitet hat, wieder-
gewinnt. Sonst, wenn nicht alle Schätze (tresors) der Sonne wieder
zu ihrer Quelle aufstiegen, so würde es nicht lange gehen (da
ihre Helligkeit nur ein Staub entflammter Atome ist, welche sich
von ihrer Kugel [globe] ablösen), bis sie erloschen wäre und nicht
wieder leuchtete, oder bis dieser Überflufs kleiner feuriger Kör-
per, welche sich auf der Erde ansammelten, um sie nicht wieder
zu verlassen, diese aufgezehrt hätten. Also müsse es im Himmel
Luftlöcher (soüpiraux) geben, durch welche die Anschoppungen
(repletions) der Erde und anderer (Weltkörper) sich entleeren, und
woraus der Himmel seine Verluste deckt, damit der ewige Kreis-
10*
148 I vrano de Bergerac.
lauf dieser kleinen Lebenskörper allmählich in alle Kugeln (globes)
des groi'seu Weltalls eindringe. Es wird behauptet, die Alten
hätten von einem entschwundenen Heros gesagt, er sei zum Pol
aufgestiegen u. ä. Auch die Beobachtung moderner Nordpol-
fahrer über das Nordlicht während der Polarnacht spreche dafür.
Dieses komme von den Strahlen des Tages und von einem gro-
fsen Haufen Seelen, welche, aus leuchtenden Atomen bestehend,
zum Himmel zurückkehren.
Der Diskurs wird unterbrochen von dem Geschrei der
Bäume : 'gare la peste et passe parole.' Die Gefahr kommt von der
Salamandre, welche das Königreich der Bäume zu verbrennen
droht. Cyrano will fliehen, verirrt sich aber und ist nach acht-
zehn Stunden hinter dem Walde, aus dem er fliehen will. Nach
weiteren vierhundert Stadien Marsch wird er Zeuge des Kampfes
zwischen der Salamandre und der Remora, auch animal glacon
geheifsen. Er trifft dort mit einem Greise zusammen, der durch
Assimilation an Cyranos Materie dessen Gedanken errät (hierbei
eine aktuelle Erinnerung an Zwillinge in Paris mit unwillkürlich
gleichen Gedanken und Erlebnissen). Es ist Thomas Campa-
nella, der ihm alle Auskunft gibt und ihn bis ans Ende der
Erzählung begleitet.
Auf der Erde bewohnen die Remoren das Eismeer, sie er-
zeugen durch Verschlingen des Eises die eisfreien Flächen, welche
man gegen den Pol hin beobachtet hat, aber auch durch ihr Aus-
speien die Wiederbilduug des Eises (hier Anspielung auf Be-
obachtungen von Piloten um Grönland herum). Auf dem Laude
nähren sie sich von Schierling, Fingerhut, Opium und 'mandra-
gore'. Das stygische Wasser, mit dem man Alexander den Grofsen
vergiftete, war Harn eines dieser Tiere. Sie lassen auch die
Schiffe, welche nach dem Nordpol wollen, einfrieren, so dafs nur
die Hälfte zurückkommt. Die Feuertiere (bestes ä feu) dagegen
wohnen unter dem Ätna, dem Vesuv und dem Gap rouge.x 'Die
Knospen (boutons), welche du an den Brüsten (gorge) dieses Tieres
siehst, und welche von der Entzündung seiner Leber herrühren,
sind . . . (hier ist offenbar eine Lücke im Text, die auch von der
Amsterdamer Ausgabe als solche kenntlich gemacht ist. Was die
Auslassung veranlafst hat, ist unklar).
Das Duell endet mit dem Tode der Salamandre. Campa-
nella ergreift ihren Leichnam, nachdem er sich die Hände mit
Erde, über welche sie gegangen, eingerieben hat. Er will sie als
unverwüstliches Brennmaterial in seiner Küche an dem Koch-
1 Es gibt ein Vorgebirge dieses Namens zwischen Quebec und Mont-
real, in einer Gegend, die Cyrano kennt (s. oben Bd. CXIV, S. 377), aber
es ist nicht vulkanisch. Vielleicht liegt eine Verwechselung mit Feuer-
land vor.
Cyrano de Bergerac. 149
kessel (erimiliere — cremaillere) aufhängen. Die Augen sollen ihm
zur Beleuchtung dienen. Schon die Alten hätten diese benutzt
als 'lampes ardentes'. Man habe sie in Gräbern gefunden, aber
aus Unverstand zerstört. Aus dem Laich der Remoren entstehen,
wenn ein Schiff darüber fährt, eine Art fliegender Fische,1 die
man Maquereuses nennt, und die eine Fasteuspeise sind.
Cyrano und Campanella setzen ihre Reise durch die Sonne
fort. Diese ist in Königreiche, Republiken, Staaten und Fürsten-
tümer eingeteilt wie die Erde. Die vierfüfsigen Tiere, die Vögel,
die Pflanzen, die Steine haben ihre besonderen Reiche, und nur
ein Philosoph darf ungestraft alle besuchen. Campanella erklärt,
er sei auf der Reise in die Provinz der Philosophen begriffen.
Die Sonne ergänzt sich nämlich durch die Seelen der aus dem
Merkur, Venus, der Erde, Mars, Jupiter und Saturn abgeschie-
denen Pflanzen, Tiere und Menschen. 'Die gröbsten dienen ein-
fach dazu, das Fett (embonpoint) der Sonne zu ersetzen, die feinen
schleichen sich an den Platz ihrer Strahlen, aber diejenigen der
Philosophen, die in ihrem Exil nichts Unreines angenommen
haben, gelangen ganz in die Sphäre des Lichtes (jour), um dessen
Bewohner zu werden, während die anderen in. der Masse der
Sonne aufgehen/
Campanella zeigt sich eilig, um mit dem erst angekommenen
Descartes zusammenzutreffen, für dessen Philosophie er eine hohe
Verehrung bezeugt. Cyrano macht ihn auf einen Widerspruch
in der kartesianischen Lehre aufmerksam, der darin besteht, dafs
Descartes an den Anfang aller Dinge ein festes Chaos stellt, das
durch Gott in eine unzählige Menge kleiner Würfel aufgelöst
wird, deren jedem von Gott eine entgegengesetzte Anfangs-
bewegung gegeben wird, aus denen durch Reibung kleinste Körper
von allen Formen entstehen. Diese Bewegung enthält geometrische
Widersprüche und läfst sich ohne Annahme des Vakuums nicht
erklären. Campanella meint, Descartes werde diesen Widerspruch
leicht durch Erklärung beseitigen. Auch über einen anderen
Widerspruch im kartesianischen System2 geht Campanella etwas
1 Nach P. Brun p. 298 wäre diese Meinung in Cyranos Zeit allgemein
verbreitet gewesen.
2 Auch hier zeigen Varianten in den Ausgaben, dafs fast von Anfang
an am Cyranotext Änderungen vorgenommen worden sind, die ihm nicht
zum Vorteil gereichten. In der Diskussion vertritt Campanella den Stand-
punkt Descartes', Cyrano den Gassendis. Es ist aber nicht ganz leicht,
in den Textworten die beiden Sprecher auszuscheiden. Die Kritik Cyranos
beruht darauf, dafs es nicht logisch sei, wenn nach Descartes' Meinung
unser Verständnis begrenzt, die von demselben zu erfassende Materie aber
unbegrenzt teilbar sei. Über die Textvarianten vgl. P. Lacroix I, p. 260
Anm. 1. Die Ausgaben von 1710 und 1761 stimmen auch hier überein.
Ob die Originalausgabe ihren Text oder den von P. Lacroix gegebenen
fehlerhaften hat, kann ich nicht entscheiden.
150 Cyrano de Bergerac.
oberflächlich hinweg, da sie in dem Wundertal ankommen, wel-
ches den See des Schlafes, die fünf Quellen und die drei Flüsse
enthält, und dessen Wohltaten sich auf das ganze Universum
ausdehnen. Die fünf Quellen sind die fünf Sinne, die nur fünf-
zehn bis sechzehn Stunden tätig sind und bei der Annäherung
an den See immer schwächer werden. Nachdem die Nymphe
des Friedens in der Mitte des Sees sie eine Zeitlang gewiegt
hat, treten sie auf der anderen Seite des Sees wieder in die Er-
scheinung und zwar Gehör und Tastsinn zuerst, der Geschmack
zuletzt. Die Beschreibung der Grotte des Schlafes ist wie bei
Ovid. Hier träumt Cyrano den 'gelehrtesten und geistreichsten
Traum der Welt', aus dem der Philosoph ihn weckt, und dessen
Erzählung er uns schuldig bleibt, vielleicht nur aus dem Grunde,
weil er ihn dem Leser in einem seiner 'Briefe' bereits geschildert
hat (s. oben Bd. CXTV, S. 129). Eine Anspielung auf sich selbst
ist vielleicht die lobende Bemerkung über die 'philosophes-reveurs
dont nos ignorans se moquent'. Bei raschem Weitergehen, einer
Art Fliegen, kommen sie zu den Flüssen Gedächtnis (Memoire),
Einbildungskraft (Imagination) und Urteil (Jugement).
Die Sonnenbewohner, deren brennende Atome beim Tode
durch diese Flüssigkeiten angefeuchtet werden, leben 7 — 8000
Jahre lang und zerfallen dann in Teilchen roter Asche. Aber
dabei bleibt es nicht, sondern nach den Fähigkeiten, welche sie
durch Benetzung aus den drei Flüssen etc. erhalten haben, ver-
binden sie sich in den umliegenden Sphären mit den vorgefun-
denen Stoffen zu Pflanzen, um zu vegetieren, weiter durch Stoff-
wechsel zu Tieren, um zu empfinden, und schliefslich zu Men-
schen, um die drei Funktionen: Gedächtnis, Einbildungskraft und
Urteil, auszuüben.
Unter solchen Beobachtungen und Gesprächen reisen sie fünf
bis sechs Tage längs der drei Flüsse auf dem Wege zur Provinz
der Philosophen. Unterwegs stofsen sie auf einen Sterbenden,
dem das Gehirn vom Denken so aufgeschwollen ist, dafs ihm
schliefslich der Kopf zerspringt. 'Diese Art zu sterben ist die
der grofsen Genies, man nennt das vor Geist platzen (crever
d'esprit).'
In der Sonne sind einige Provinzen dunkel, andere hell, und
diejenigen, welche sie betreten, folgen diesem Zustande. Die
Philosophen ziehen aus Erinnerung an die Erde die dunkleren
Partien vor. Übrigens können sie durch lebhafte Willenskraft
durchsichtig werden und so einander die Gedanken ablesen und
Gefühle wie Zuneigung und Hafs ohne Worte mitteilen.
Dieses Gespräch wird durch eine Verfinsterung des Himmels
unterbrochen. Ein Käfig fällt aus der Wolke, die ein riesiger
Kondor ist, wie sie auf der Insel Mandragora (sie) vorkommen
und einen Juchart mit ihren Flügeln bedecken, zu ihren Füfsen.
Cyrano de Bergerac. 151
Ihm entsteigen ein Mann und eine Frau aus dem Königreich
der Liebenden, die einen seltsamen Prozefs miteinander haben,
den sie vor den Philosophen entscheiden lassen wollen. Die Frau
klagt ihren Maun an, ihr jüngstes Kind zweimal getötet zu haben.
Im Königreich der Liebe reguliert nämlich ein Gesetz und eine
jeden Abend vorgenommene ärztliche Untersuchung die Anzahl
der Umarmungen, welche der Ehemann seiner Frau schuldet.
Der Angeklagte war auf sieben taxiert worden, hat aber, geärgert
durch einige lebhafte Worte der Frau vor dem Zubettegehen,
dieselbe überhaupt nicht berührt. 'Gott aber, der die Sache der
Betrübten rächt, hat zugelassen, dafs er, von einem Traume ge-
kitzelt, im Schlafe einen Menschen verlor/ So bewirkte der
Elende, klagt die Frau, 'dafs mein Kind nicht ist und nicht ge-
wesen ist'. ' Der Ehemann brachte die Richter durch die Aus-
rede in Verlegenheit, dafs er, über seine Frau erzürnt, gefürchtet
habe, einen Rasenden zu erzeugen. Die beiden wurden deshalb
vor ein anderes Gericht verwiesen. Deshalb sind sie nun hier
mit ihrem Gefährt, dessen Bespannung, die Kondors, auch die
zum Schlafen nötige Dunkelheit hervorbringt. Campanella ver-
weist die Frau an Sokrates, dem man in der Sonne die Ober-
aufsicht über die Sitten gegeben habe. Sie ihrerseits gibt den
beiden Auskunft über das Königreich der Verliebten, welches
auf der einen Seite an die Republik des Friedens, auf der an-
deren an die der Gerechten stöfst.
Im Königreich der Verliebten werden die Knaben mit sech-
zehn, die Mädchen mit dreizehn Jahren in einen grofsen Palast,
Noviziat der Liebe, gebracht. Während des Probejahres suchen
sich die Knaben die Zuneigung der Mädchen und diese die
Freundschaft der Knaben zu erwerben. Nach Ablauf der zwölf
Monate begibt sich die medizinische Fakultät in corpore in dieses
Liebesseminar, untersucht die Zöglinge genau und bis ins ge-
heimste und läfst die erste Paarung unter ihren Augen voll-
ziehen. Die Knaben, welche sich zuchtfähig erweisen, erhalten
zehn, zwanzig, dreifsig oder vierzig Mädchen zugeteilt, von
denen, welche sie lieben und von welchen sie wiedergeliebt wer-
den. Er darf aber je nur mit zweien geschlechtlich verkehren
und keine mehr berühren, die schwanger ist. Die Unfruchtbaren
werden zu Dienerinnen erniedrigt, die Impotenten zu Sklaven,
welche sich mit den Sterilen (brayhaignes) fleischlich vermischen
dürfen. Sobald eine Frau gebiert, wirft die staatliche Ersparnis-
kasse eine Summe aus für die Erziehung des Kindes. Familien,
1 Die gleiche burleske Spitzfindigkeit wird auch in einer anderen un-
edierten Stelle des Voyage ä la lune erörtert (s. oben Bd. CXIV, S. B87 und
Mss. No. 4558, p. 97), wo allerdings der Text durch Schreibfehler weniger
klar ist.
1FS2 Cyrano dp Bergerac.
die ihre Kinder nicht alle unterhalten können, nimmt der Staat
dieselben ab.'
Die Frau ladet die beiden ein, ihr Gefährt zu benutzen. Der
an einem Seidenfadeu hängende schwere Anker wird auf eine
sophistische Manier gehoben. Sophistisch ist auch der Grund,
warum der Seidenfaden nicht reifst, und die Methode, wie sie
selbst den Korb, in dem sie sitzen, an einem Kabel zur Rolle
(poulic) und zum Vogel hinaufziehen. So fliegen sie etwa zwei-
hundert Meilen, bis sie einem anderen Kondor begegnen, der
einen Gefangenen transportiert. Dieser ist zum Tode verurteilt,
weil er überführt ist, sich nicht vor dem Tode zu fürchten. Denn
in dem Lande, aus dem er kommt, dürfen dies nur diejenigen,
welche ins 'Kollegium der Weisen' aufgenommen worden sind;
denn 'andere, die nicht fürchten, das Leben zu verlieren, sind
geneigt, es allen anderen zu rauben'.
Die Frau kann auf Campanellas Fragen über die 'loix et
coushimes du Royaume des Amans' nicht völlig Auskunft geben,
weil sie aus dem 'Königreich der Wahrheit' stammt. Ihre Mutter
hatte nur diese Tochter, darum wurde diese, dreizehn Jahre alt,
auf Befehl des Königs und der Ärzte in den 'Palast der Liebe'
geführt, damit sie fruchtbarer werde als ihre Mutter.
Anfangs hatte sie Mühe, sich einzugewöhnen, und die Ge-
wohnheiten und namentlich die Reden ihrer jungen Liebhaber
sind allerdings seltsam genug. Die jungen Männer beklagen sich,
dafs die Freundin sie mit ihren Augen töte, mit ihrer Flamme
versenge usw. Darüber erschreckt, will sie fliehen, aber man er-
klärt ihr, dafs der Palast von einer Tränenflut umgeben sei, in
der sie alle ertrinken müfsten. Die unglückliche Ursache von
so viel Unglück will sich aus der Welt schaffen, aber ihr feu-
rigster Anbeter läfst ihr sagen, dafs die Glut seines Herzens den
See bereits ausgetrocknet habe. Um dieser Sündflut zu ent-
rinnen, empfiehlt ihr ein anderer, der Eifersüchtige genannt, sich
das Herz aus der Brust zu reifsen und in diesem, in welchem
so viele Platz haben, sich auf dem Meere seiner Tränen fort-
treiben zu lassen von dem günstigen Winde seiner Seufzer. Sie
öffnet sich also die Brust mit eiuem Messer und will sich eben
das Herz herausreifsen, als ein neuer Liebhaber dazukommt, sie
daran verhindert und den schlimmen Ratgeber vor Gericht zieht.
Die Strafe des Eifersüchtigen wird durch das Parlament im König-
reich der Gerechten ausgesprochen. Er wird auf ewig verbannt,
soll seine Tage als Sklave in der Republik der Wahrheit be-
schliefsen. Er und seine Nachkommen bis ins vierte Glied dürfen
1 Diese Beschreibung des Liebesreiches ist durchaus originell, und
Cyrano verdankt Sorel (Francion p. 316) nur eine Anregung. Cf. Em. Roy,
La vie et (es ceuvres de Ch. Sorel, Paris, Hachette, 1891, p. 386—87.
Cyrano de Bergerac. 153
nicht in die Provinz der Liebenden zurückkehren, und er darf,
bei Todesstrafe, keine Hyperbel brauchen. Die Frau vermählt
sich nach ihrer Heilung mit ihrem Retter, hat dann aber mit ihm
den angeführten Rechtsstreit. Dafs der Angeklagte nicht spricht,
kommt von einem ausdrücklichen Verbot. Er darf den Mund
erst vor dem Richter wieder öffnen.
Auf eine Entfernung von drei Meilen verkündet Campanella
die Annäherung Descartes', und die Zweifel Cyranos werden ge-
hoben durch dessen Erscheinen. Sie verlassen den Kondor und
begrüfsen sich. Die Möglichkeit des Vorhersehens einer ab-
wesenden Person erklärt Campanella so: 'Es gehen von allen Kör-
peru Stoffe (especes), d. h. körperliche Bilder {Images corporelles)
aus, welche in der Luft herumfliegen. Trotz ihrer Beweglichkeit
behalten sie Gestalt und Eigenschaften der Dinge, von denen sie
sprechen, und dringen, weil sie sehr subtil sind, durch unsere
Organe, ohne sie anzuregen, bis in die Seele, welche sie auch
ganz entfernte Dinge sehen machen/ Wie das geschieht, wollen
die beiden Cyrano später zeigen.
Hier bricht der Text unerwartet ab, und wir sind ohne
Mittel, zu sagen, was und wieviel nachher noch hätte kommen
sollen; denn alles spricht dafür, dafs Cyrano selbst den Roman
nicht zu Ende führen konnte. Ob sich die mysteriöse 'Histoire de
rFAincelle' hier oder bei dem Kampf der Remora und Salamandre
hätte anschliefsen können, wage ich bei dem Mangel an allem
Material nicht zu entscheiden.
S ch 1 u f s w o r t.
Und nun? Wird mir gelingen, was der gelehrte P. Brun
gegenüber der Tradition und der geistreiche Emile Magne gegen-
über dem Theaterstück Rostands erstrebten, nämlich an die Stelle
eines Phantoms den wahren, den historischen Cyrano zu
setzen? Ich fürchte nein; denn abgesehen davon, dafs es sehr
schwer hält, Anschauungen, die auf der poetischen Einbildungs-
kraft von Tradition und Bühne beruhen, mit den nüchternen
Vorstellungen, welche uns Urkunden und Manuskripte liefern,
zu korrigieren, ist eben der Charakter Cyranos selbst ein so kom-
plexer, dafs auch eindringendstes Studium nicht in alle Falten
seiner Seele blicken lälst. Das ist leicht begreiflich, weil er selber
in den schwierigsten Fragen, welche Religion und Wissenschaft,
oft in Konkurrenz, noch öfter in Konflikt gegeneinander, gerade
im 17. Jahrhundert so lebhaft beschäftigten, nicht zu völliger
Klarheit in sich zu gelangen vermochte. Und dies nicht nur aus
äufseren Gründen, die allerdings viel hemmender wirkten, als man
sich dies heutzutage vorstellt, sondern doch hauptsächlich darum,
154 Cyrano de Bergerac.
weil er bei einer ungewöhnlichen Begabung auf literarischem und
wissenschaftlichem Gebiet und trotz einer starken Hingabe an
seine Stoffe doch nicht das Genie besafs, welches überall bis ans
Ende geht und erst am Ziele Halt macht. Nicht dafs er nur
ein Dilettant gewesen wäre oder ein geschickter Macher: im
Gegenteil, er hat beinahe überall neue Wege gefunden und neue
Forderungen aufgestellt, aber er hat diese nicht selber erfüllen
können. Und daran hätte wohl auch ein längeres Leben nicht
viel gebessert. Aber zweifellos war er einer der geistvollsten
und kenntnisreichsten Franzosen der ersten Hälfte des 17. Jahr-
hunderts, und sein Ruhm wäre längst fest begründet, wenn das
Werk seines Lebens von Freund und Feind nicht so übel be-
handelt worden wäre. Zu einer vorurteilslosen Würdigung ist
jetzt sicher die Zeit gekommen, und wenn meine Schrift ein Ver-
dienst hat, so ist es das, dafs sie die Mittel dazu reiner bietet
als die bisherige Literatur. Ich scheide damit für einmal von
Cyrano — ungern genug, denn er hat es noch jedem angetan, der
sich eingehend mit ihm beschäftigte, dieser ungezogene Liebling
der Musen.
Beilage B.1
Beschreibung des Manuskripts von Cyranos
Voyage dans la Lune.
Das in einem alten Einband von geprefstem Leder bucbförmig ein-
gebundene Manuskript (Oktavformat) ist sehr schön und gleichmäfsig ge-
schrieben in einer willkürlichen, aber konsequenten Orthographie und
Interpunktion. Es weist nur sehr wenige Selbstkorrekturen des Schreibers
Und nur ganz vereinzelte von späterer Hand auf. Auch offenbare Ver-
schreibungen sind sehr selten, und absichtlich ausgelassen scheint ein ein-
ziges Wort (Ortsname) gegen den Schlufs zu. Handschrift und Ortho-
graphie weisen auf das 17. Jahrhundert hin. Es enthält 152 auf dem
ßecto paginierte Blätter und ein unbeschriebenes mit zweimal durch-
strichener Pagina 135. Zeilenzahl 21 — 23.
Auf dem Deckel steht inwendig von alter Hand und in schlechter
Schrift:
VI. 11.
^ Livre rare et (unleserlich) il ien a trois Exemplaires en France.
Dann folgt ein Vermerk wahrscheinlich von M. Deullin d'Epernay,
welcher das Manuskript 1890 der Bibliotheque Nationale schenkte:
Paye fr. 66. 70 vente Monmerque n° 3891 mars 1861
Hierauf von der Hand von M. de Monmerquö:
Ce livre a ete ecrit sous Louis XIII.
II y est fait mention de Tristan l'Hermite poete-attache ä Gaston.
II est de Cyrano de Bergerac, mais je suis etonne qu'il aie ete imprime
et qu'il est ici, car il y a des passages bien hardis pour le temps.
1 Beilage A ist oben, Bd. CXIV, S. 125—7, abgedruckt.
Cyrano de Bergerac. 155
II a ete imprime dans les ceuvres de Cyrano de Bergerac V. lor p. 288
ed. d'Amsterdam 1710, mais avec de grands retrancbements que la hardiesse
du livre et plus souvent son impertinence necessitaient.
Cette circonstance donne de la curiosite a ce petit mss. J'indiquerai en
les soulignant les passagcs retranches a l'impression.
De Monmerque* hat dies anfangs mit [ ] versucht, aber später auf-
gegeben. Auf der ersten (nicht paginierten) Seite steht aufgeklebt die
Bibliotheksnummer
FE.
N O U V. ACQ.
4, 5 5 8.
Es folgen fünf leere weifse Seiten, dann folgt am Bande oben rechts
mit A bezeichnet:
A Lauteur Des Estats et
Empires de la Lune ou de
L'autre monde.
Epigramme,
Accepte ces six mesehans vers
Que ma main tescrit de trauers
Tant en moy La Frayeur abonde
Et permets qu'aujourd'huy J'Euite ton abord
Car autant qu'une affreuse mort
Je crains les vens de Lautre monde
R de P
Darunter wieder:
FR nouv. acq. 4558
Auf der Bückseite von A steht:
Autre du Mesme
au mesme
Ton Esprit qu'en son vol nul Obstacle n'arreste,
Descouure vn autre monde a nos Ambitieux,
Qui tous Esgallement respirent Sa conqueste,
Comme vn noble chemin pour arriver Aux cieux
Mais ce n'est point pour Eux que la palme S'apreste ;
Si J'Estois du conseil des destins et des dieux
Pour prix de ton audace on chargeroit ta teste
Des couronnes des Roys qui captiuent ces lieux.
Mais non Je m'endedis L'Inconstante Fortune
Semble auoir trop d'Empire en celuy de la lune
Son pouuoir ny paroist que pr tout renuerser.
Peut estre verrois tu dans ces demeures mornes
des le premier Instant ton Estat s'Eclipser
et du moins chacque mois en retresser les bornes
De P.
Es folgt noch vor dem Text Cyranos ein leeres weifses Blatt, ge-
zeichnet B.
156 Cyrano de Bergerae.
Auszug c.
PH-« '-"-' Cette terre cy est La Lune que vous voy6s de vre globe et ce Heu
(V ou vous march^s est [le paradis uiais c'est le Paradis Terrestre ou
q'oüI Jamals entre quo six personnes, Adam Eue, Enoc, moy qui suis le
vuicil helie, St Jean L Evaugeliste, et vous, vous scauds bien cornme Los
deux premiers en furent banis mais vous ne Scave's pas cöe ils arriuerent
en vostre monde. Scache\s donc qu'apres auoir taste tous deux de la
pomme deffendue Adam qui craignoit que Dieu irrite* par sa presence ne
rengregeast sa punition considera La Lune Vostre terre cö le seul refuge
ou il so pouuoit mettre a L'abry des poursuittes de Son createur] ores
v on | ce temps L'imagination chez Lhöe Estoit Si forte pour n'auoir point
Encore este* corrompue ny par les desbauches, ny par la crudite' des ali-
mens, ni par Lalteration des maladies, qu'Estant alors Excite du Violent
ilesir d'aborder cet azile & que toutte Sa masse estant deuenue Legere
par le feu de cet anthousiasme il y fut enleue de la mesme sorte qu'il
s'est veu des philosophes Leur imagination fortem1 tendue a quelque chose
Estre Empörtes en L'air par des rauissemens que vous appeles extatiques.
[Eue] que L'Infirrnite de Son Sexe rendoit plus foible et moins cbaude
n'auroit pas eu Sans doute L'imagination assez Vigoureuse pour vaincre
pag. 23, par la contention de sa volonte le poids de la matiere mais par ce qu'il
z. l v. o. y auojt tres peu [qu'elle auoit este* tir6e du corps de son mary] La Sim-
patbie dont cette moitiee Estoit encore li6e a son tout La porta vers
luy a mesure qu'il montoit cöe Lambre se faict suiure de la paille, cöe
Laimant se tourne au Septentrion, d'ou il a Este arrache" et Adam attira
Louurage de sa coste cöe la mer attire les fleuues qui sont sortis d'elle.
Arriv^s qu'ils furent en Vostre terre ils s'abituerent entre la mesopotamie
et L'arabie les bebreux l'ont connu Sous le nom d'adam et les Idolatres
Sous le nom de Prometh6e que Leurs poetes feignirent auoir desrobe le
feu du ciel a cause de ses descendans qu'il engendra pour ueus d'vne ame
aussi parfaicte que celle dont Dieu L'auoit remply, ainsy pour babiter
pag. 23 v" Vostre | monde, Le premier hf>e Laissa celuy cy desert, mais le tout-sage
ne voulut pas qu'vne demeure si heureuse restast sans habitans il permit
peu de Siecles apres qu'Enoc Ennuye" de la compagnie des hommes dont
L Innocence se corrompoit eut Enuie de les abandoner mais ce Sl Per-
sonage ne Jugea point de retraite asseur£e contre L'ambition de ses parens
qui S'esgorgeoient desja pour le partage de vre monde, si non la terre
bien heureuse dont Jadis Adam son ayeul Luy Avoit tant parle\ toutte
fois comment y aller L'Escbelle de Jacob n'estoit pas Encore inventeV
La grace du tres baut y supplea car eile fit qu'Enoc s'avisa que le Feu
du ciel descendoit sur les holocaustes des Justes et de ceux qui estoient
pag. 24 r», agreab les deuant la face du Seigneur Selon la parole de Sa bouebe,
z 1 L'odeur des Sacrifices du Juste est monte Jusques a moy un Jour que
cette Flame diuine estoit aebarn^e a consommer une victime, qu'il
offroit a PEternel de la Vapeur qui S'Exaloit il remplit deux Grands
vases qu'il luta hermetiquement et se les attacha sous les esseles, La fume'e
aussitost qui tendoit a S'Eslever droit a Dieu ce qui ne pouuoit que par
miracle penetrer du motal poussa Les vases en baut et de la sorte En-
leuerent auec eux ce S' höe, quand il fut monte* Jusques a La Lune et
qu'il eust Jette les yeux Sur ce beau Jardin vn epanouissem1 de Joye
casi surnaturel Luy fit connoistre que c'estoit le Paradis Terrestre ou son
pag. 24 v°, grand pere auoit autres-fois demeure, il deslia promptement les vaisseaux
z. 1 v. o. qn>\\ avoit eeinet cöe des aisles autour de ses Espaules et le fit auec tant
de bonheur qu'a peine estoit il en L'air quatre toises au dessus de La
Lune Lorsqu'il prit congd de ses nageoires, L'eleuation cependant Estoit
assez grande pour le beaueoup blaisser sans le Grand tour de sa robe ou
le vent s'engouffra & L'ardeur du feu de la charite* qui le soustint aussy:
Cyrano de Bergerac. 157
pour les vases ilz monterent tousjours jusques a ce que dieu les en-
chässa dans le ciel et c'est ce qu'aujourdhuy vous appellez Les Balances
qui nous montrent bien tous les iours qu'elles Sont Encore pleines des
odeurs du sacrifice d'un | Juste par Les mfluences fauorables qu'elles in- Pae- 25 r°>
spirent sur L'horoscope de Louys le Juste qui Eust les balances pour z' 1 v" °"
asceudant. il n'Estoit pas Encore toutte fois en ce iardin, il ny arriua
que — quelque ternps apres. Ce fut lorsque desborda le deluge, car les
Eaux ou vre monde S'Engloutit monterent a vne nauteur Si prodigieuse
que L'arche voguoit dans les cieux a coste" de la lune, Les humains ap-
perceurent ce globe par la Fenestre mais la reflection de ce grand corps
opacque s'af'foiblissant a cause de leur proximite' qui partageoit sa lumiere
chacun d Eux crut que c'estoit un canton de la terre qui n'auoit pas
Este" noye ; II ny eust qu vne fille de Noe noinmee Acbab qui a cause peut i>ag- 25 v°,
Estre qu'elle auoit pris Garde qu'a mesure que le nauire haussoit ilz ap- Z- v' °"
procboient de cet astre, Soustint a cors et a cry qu'asseurement c'Estoit
la lune, on eut beau luy representer que la Sonde iettee on n'anoit trouue
que quinze coudees d'Eau. eile respondit que le fer auoit donc rencon-
tre" le dos d vne baleiue qu'ilz auoient pris pour la terre que quand a eile
qu'elle estoit bien asseuree, que c'estoit la lune en propre personne qu'ilz
alloient aborder. Enfin cöe chacun opine pour son semblable touttes
Les autres femmes se le persuaderent en suitte, Les voila donc malgre
la deffence des hoes qui Jettent L'Esquif en mer Achab Estoit la plus i)as- 26 r°>
hazardeuse aussy voulut eile la premiere essayer le peril, eile se lance ' v' °"
allegrement dedans et tout son sexe L'alloit ioindre sans vne vague qui
separa le bateau du nauire on eust beau crier apres eile, L'appeller cent
fois lunaticque protester qu'elle seroit cause qu'un Jour on reprocheroit
a touttes les Femmes d'auoir dans la teste vn quartier de la lune Elle
se mocqua d'Eux, la voila qui vogue hors du monde les animaux suiui-
rent son exemple car la plus part des oyseaux qui se sentirrent L'aisle
asses forte pour risquer le voyage impatiens de la premiere prison dont
on eust encore arrestl | leur liberte* donnerent Jusques la, des quadrupedes i)ag- 26 v "•
mesmes les plus courageux se mirent a la nage il en Estoit sorty pres de ' v' u'
mille auant que les filz de Noe pussent fermer les Estables que la foulle
des animaux qui s'Eschapoient tenoient ouuertes; la plus part aborderent
ce nouueau monde; pour L'Esquif il alla donner cöre vn costau fort
agreable ou la genereuse Achab descendit et ioyeuse d'auoir connu qu'en
effect cette terre la estoit la lune ne voulut point se rembarquer pour re-
joindre Ses freres, eile s'habitua quelque temps dans une grotte et cöe un
Jour eile se promenoit balancant si eile seroit fachee d'auoir perdu la
compagnie des siens ou si eile en seroit bien aise eile apperceut vn höe
qui | abbatoit la Gland; La ioye d'vne teile rencontre la fit voler, aux P*£- .27 r°,
Embrassements, eile en receut de reciproques car il y avoit encore plus ' v"
longtemps que le vieillard n'auoit veu de visage humain c'Estoit Enoch
le iuste, il vesquirent ensemble et sans que le naturel impie de ses En-
fans et L'orgueil de sa femme L'obligea de se retirer dans les bois ils
auroient acheue" ensemble de filer leur iours auec toutte La douceur dont
dieu benit le mariage des Justes; La tous les Jours dans les retraittes
les plus sauuages de ces affreuses solitudes ce bon vieillard offroit
a Dieu d'vn esprit espure son ceur en holocauste, quand de l'arbre
de science que vous scaves qui Est en ce Jardin, vn Jour estant tombe
vne pomme dans la riuiere | au bord de la quelle il est plante' eile i,a"- '~'7 '
fust portöe a la mercy des vagues hors le Paradis un vn lieu ou le ' >-
pauure Enoc pour sustenter sa vie prenoit du poisson a la pesche ce
beau fruit fut arreste dans le filet, il le mangea, aussitost il connut ou
estou le paradis terrestre et par des secrets que vous ne scauries con-
ceuoir si vous n'aues mangö cöe luy de la pomme de science il y vint
demeurer.
lr^ Cyrano de Bergera« .
Tl fault maintenant que ,lo vous raconte la facon dont J'y suis venu:
vous u'auc's pas oublie Je pense que ie me nomine helie car ie vous l'ay
dit naguere Vous scaures donc que J'estois en vre monde et que J'abitois
auec Elisee vn hebreu cöe nioy sur les bords du Jourdain ou ie uiuois
pag. 28 r\ parmy les Liures | d'vne vie assez douce pour ne la pas regreter encore
z. l t. o. qU'cnc s'escoulast, cependant plus les Lumieres de mon Esprit croissoient
plus eroissoit aussy La connoissance de celles que ie n'auois point, iainais
nos prestres ne me ramenteuoient Adam que le Souuenir de cette pbilo-
sophie parfaicte qu'il auoit possedee ne me fit souspirer; ie desesperois de
la pouuoir acquerir, quand un Jour apres auoir sacrifie pour L'Expiation
des foiblesses de mon Estre mortel ie m'endormis et L'ange du Seigr m'ap-
parut en Songe; aussi tost que ie-fus eueille ie ne lnanque" pas de tra-
uailler aux choses qu'il m'auoit prescrites: ie pris de L'aiman environs
deux pieds en carre" ie les mis au Fourneau puis lors qu'il fut bien purge,
pag. 28 v . precipite et dissous i'en | fire" L'attractif, calcine tout cet elixir et le re-
'" duisis en vn morceau de la grosseur enuiron d'une balle mediocre.
En suitte de ces preparations ie fis construire vn chariot de fer fort
Leger et de la a quelques mois tous mes engins estans acheuez i'entre
dans mon industrieuse charette : vous me demauderes possible a quoy bon
toit cet attirail. Saches que L'ange m'auoit dit en Songe que si ie uou-
lois acquerir vne Science parfaicte cöe ie la desirois; ie montasse au
monde de la lune ou ie trouuerois dedans le Paradis d'Adam L'arbre de
science parcequ'aussitost que J'aurois taste de son fruit mon ame seroit
esclaire de touttes les veritez dont vne creature est capable voila donc le
pag 29 r», voyage | pour lequel i'auois basty mon chariot, enfin ie monte dedans et
z °" Lorsque ie fus bien ferme et bien appuye sur le siege ie nie fort hault
en l'air cette boule d'aiman, or la machine de' fer que i'auois forgee tout
expres plus massiue au milieu qu'aux extreniitez fut enleu^e aussi tost
et dans vn parfaict Equilibre a cause qu'elle se poussoit tousjours plus
viste par cet endroit La, ainsy donc. a mesure que i'arriuois ou l'aiman
m'auoit attire et des que i'estois saute iusques la, ma main le faisoit re-
partir: mais L'interrompis-je comment Landes vous vre balle si droit au
dessus de vre chariot quil ne se trouuait Jamais a coste, ie ne vois point
pag. 29 t», de rnerueille en cet auanture me dit il, car L'aiman poussoit qu'il estoit
" v' °' en Lair attiroit le fer droit a soy, et par consequent il estoit impossible
que ie montasse iamais a coste: ie vous confesseray bien que tenant ma
boule a ma main ie ne Laissois pas de monter parce que le cbariot cou-
roit tousjours a L'aimant que ie tenois au dessus de luy mais la saillie
de ce fer pour embrasser ma boule estoit si Vigoureuse qu'elle me faisoit
plier le corps en quatre doubles; de sorte que ie n'ose tenter qu'une tois
cette nouuelle experience a la verite- c'estoit un spectacle a veoir bien
estonnant, car le soin auec lequel iauois polly L'acier de cette maison vo-
pag. 30 r°, laute reflessissoit de tous costez la Lumiere du Soleil | si viue et si aigue
/.. 1 v. o. qUe -e croy0{s m0y mesme Estre empörte dans vn chariot de feu: Enfin
apres auoir beaucoup ru6 et volle" apres mon coup, i'arriue cöe vous aues
faict en vn terme ou ie tombois vers ce monde cy, et parce qu'en cet
instant ie tenois ma boulle bieu serree entre mes mains mon chariot dont
le siege me pressoit pour approcher de son attractif ne me quitta point,
tout ce qui me restoit a craindre Estoit de me rompre le col: mais pour
m'en Garantir ie regettois ma boule de temps en temps affin que ma
machine, se sentant naturellem1 rattiree prit du repos et rompit ainsy la
force de ma cheute, puis enfin quand ie me vis a deux ou trois cens toises
pag. 30 v», pres de terre ie Lance | ma balle de tous costez a fleur du chariost tantost
z' '• °- de ca tantost dela, Jusques a ce que mes Yeux le descouurirent, aussy
tost ie ne manqne" pas de la ruer dessus et ma machine L'ayant suiuie ie
me Laisse tomber tant que ie me Discerne pres de briser contre le Sable
car alors ie la iette seulement vn pied par dessus ma teste, et ce petit
Cyrano de Bergerac. 159
coup la esteignit tout a faict la roideur que luy auoit imprime" le precipice
de sorte que ma cheutte ne fut pas plus violente que si ie fusse tombe
de ma hauteur. Je ne vous representeray point L'Estonnem1 dont me
Saisit La rencontre des merueilles qui sont ceans par ce qu'il fut a peu
pres semblable a celuy dont ie vous viens de voir consterne, [vous scaures
seulement que ie rencontre" des le lendemain. L'arbre de vie par le moyen v*s- 31 1°,
duquel ie m'empecbö de vieillir, il consornma bientost et fit exaler le
serpent en fum^e.
A ces mots venerable & sacre" Patriarcbe : Luy dis-je ! ie serois bien
ayse de scauoir ce que vous entend^s par ce serpent qui fut consomme'
Lui d'vn visage riant me respondit ainsy.
J'oubliois o mon filz a vous descouurir vn secret dont on ne peut
pas vous veoir instruit, vous scaures donc qu'apres qu'Eue et son mary
eurent mange dela pomme deffendue, Dieu pour punir le serpent qui les
en auoit tentez le relegua dans le corps de Lhomme il n'est point ne
depuis de creature humaine qui en punition du crime de son premier
pere ne | nourrisse vn serpent dans son ventre issu de ce premier vous le Pa£- 31 v°
nommes les boyaux et vous les croyets necessaires aux fonctions de la vie,
mais aprenes que ce ne sont autre cbose que des serpens pliez sur eux
lnesmes1 en plusieurs doubles quand vous entend£s vos Entrailles crier
c'est le serpent qui siffle et qui suiuant ce naturel gloutton dont Jadis
il incita le premier büe a trop manger demande a manger aussy, car
Dieu qui pour vous cbastier vouloit vous rendre mortel cde les autres
animaux vous fit obseder par cet insatiable affin que si vous luy donni£s
trop a manger vous vous Estouffassies ou si Lors qu'auec les dents in-
uisibles dont cet affame mort vostre Estomacb vous luy refusi£s sa pi-
tance il criast, il tempestat, il degorgeast | ce venin que vos docteurs pa?. 32 i»
appelent La bile, et vous Escbauflast tellem: par le poison qu'il inspire
a vos arteres que vous en fussi£s bien tost consume, Enfin pour vous
monstrer que vos boyaux sont vn serpent que vous aues dans le corps
— 2 souven£s vous qu'on en trouua dans les tombeaux d'Esculape de
Scipion d'Alexandre de Cbarles martel et d'Edouard d Angleterre qui se
nourrissoient Encore des cadaures de leurs hostes, En Effect luy dis-ie
en L'Interrompant i'ay rernarque" que coe ce serpent Essaye toujours a
s'Escbapper du corps de Lnome on luy voit la teste et le col sortir au
bas de nos ventres mais aussy Dieu n'a pas permis que Lbome seul en
fut tourmente" il a voulu qu'il se bandast contre La femme pour luy
Jetter son venin et que L Enflure durast | neuf mois apres l'avoir picquee v*g- 32 v°
et pour vous monstrer que ie parle suiuant La parolle du seigy c'est qu'il
dit au serpent pour le maudire qu'il auroit beau faire tresbucher La
femme en se roidissant contre eile qu'elle luy feroit enfin baisser La Teste,
ie voulois continuer ces fariboles, mais bebe m'en empescba song^s dit il
que ce lieu cy est sainct, il se teut en suitte quelque temps cöe pour se
ramenteuoir de l'endroit ou il estoit demeure puis il prit ainsy La parole.
Je ne taste du fruict de vie qyö de cent ans en cent ans son Jus a
pour le goust quelque raport auec L Esprit de vin, ce fut ie crois cette
pomme qu Adam auoit mangle qui fut cause que nos premiers peres
vesquirent si Ion temps — 2 pour ce qu'il estoit eoule" dans leur | semence p^g. 33 r°
quelque chose de son Energie Jusques a ce qu'elle s'esteignit dans les
eaux du deluge.
L'arbre de Science3 est plante" vis a uis, son fruict est couuert d'vne P:isf- 33 r»,
Escorce qui produict L'ignorance dans quiconque en a gouste et qui sous
L'Espoisseur de cette pelure conserve les spirituelles vertus de ce docte
1 Zweites s von meames von späterer Hand.
2 — nur um die Linie auszufüllen.
3 Pag. 33 r° Z. 4 fährt fort wie Brun p. 369.
100 Ovrauo de Bergerac.
manger. Dieu autrefois apres auoir chasse" Adam de cette terre bien-
heureuse de peur qu'il n'en retrouuast le chemin Luy frotta les Genciues
de cette Eseorce, il fut depuis ce tenips la plus de quinze aus a radotter
et oublia tellement touttes choses que luy ny ses descendans iusques a
Moyse ae se souuinrent seulement pas dela eroation, mais les restes dela
pag. 33 v« vertu de cette pesante Eseorce | acheuerent de se dissiper par la chaleur
et La clarte" du Genie de ce Grand prophete: Je m'adresse" par bonheur
a l'vue de ces poinmes que la maturite" auoit despouill^e de sa peau et
ma saliue a peine L'auoit mouillee q/? la pbilosophie vniuerselle m'ab-
sorba, il me sembla qu'un nombre ihfiny de petits yeux se plongerent
dans ma teste et ie sceus le moyen de parier au Seigneur: quand depuis
J'ay faict reflexion sur cet Enleuement miraculeux ie me suis bien
ymagine" que ie n'aurois pas peu vaincre par les vertus oecultes d vn
simple corps naturel La Vigilance du Seraphin que Dieu a ordonne" pour
La Garde de ce paradis, mais par ce qu'il se piaist a se seruir de causes
pag. 34 ) secondes ie creus qu'il m'auoit | inspire- ce moyen pour y entrer cöe il
voulut se seruir des costes d'Adam pour luy faire vne femme quoy qu'il
peust Le former de terre aussy bieif que luy.
Je demeure" Lon temps dans ce Jardin a me promener sans compagnie
mais enfin cöe L'ange portier du lieu Estoit mon prineipal hoste il me
prit enuie de le saluer; vne heure de chemin termina mon voyage, car au
bout de ce temps iarriue en vne contr^e ou mille esclairs se confondans
en vn formoient vn Jour aueugle qui ne seruoit qu'a rendre L'obscurite
visible; ie n'Estois pas encore bien remis de cette auanture que iapper-
ceux deuant moy vn bei adolescent et Je suis me dit il L'archange que
pag. 34 v° tu | cherche, ie viens de Lire dans Dieu qu'il t'auoit suggere" les moyens
de venir icy et qu'il vouloit que tu attendisse sa volonte il m'Entretint
de plusieurs choses et me dit entre autres.
Que cette Lumiere dont J'auois paru effraye n'Estoit rien de formi-
dable qu'elle s'alumoit presque tous les soirs quand il faisoit la ronde
par ce que pour euiter les surprises des sorciers qui Entrent partout sans
estre veus il estoit contrainet de iouer de L'Espadon auec son Espee
flamboyaute autour du paradis terrestre et que cette lueur estoient Les
Esclairs qu'Engendroit son acier ceux que vous apperceues de vre monde
adjousta-il sont produit par moy. Si quelques fois vous les remarques
15 i° bien Loin c'est a cause | que les nuages d'vn climat esloigne" se trouuans
disposez a receuoir cette impression fönt rejaller jusques a vous ces legeres
images de feu, ainsy qu'vne vapeur autrem' situ£e se trouua propre a for-
mer L'arc en ciel, ie ne vous instruiray pas daduantage aussy bien la
pomme de science n'est pas long d'icy, aussi tost que vous en aurds mange"
uous serais docte cöe moy mais sur tout Gard6s vous d'vne mesprise, la
pluspart des fruicts qui pendent a ce vegetant sont enuironnez d'vne Es-
eorce de laquelle si vous tastes vous descendres au dessous de lhöe au
lieu que le dedans vous fera monter aussy hault que L'ange.
Elie en Estoit la des Instructions que Luy auoit donne le Zeraphin
pag. 35 V quand vn petit home nous vint Joindre; c'est Icy cet Enoc | dont ie vous
ay parle" (me dit tout bas mon condueteur) cöe il acheuoit ces mots, Enoc
nous presenta un panier piain de ie ne scay quels fruits semblables aux
pommes de grenades qu'il venoit de descouurir ce iour la mesme en vn
boccage recule i'en serrois quelques vnes dans mes poches par le com-
mandement d'Elie Lorsqu'il luy demanda qui i'estois. C'est vne auanture
qui merite un plus long entretien repartit mon Guide, ce Soir quand nous
serons retir£s il nous contera luy mesme les miraculeuses particularitez
de son voyage.
Nous arriuasmes en finissant ce cy sous vne Espece d'hermitage faict
de branches de palmier ingenieusement entrelaäsees auec des mirthes et
lag. 36 r° des orangers : la | i'apperceus dans vn petit reduit des monceaux d'vne
Cyrano de Bergerac. 161
certaine filoselle si blanche et si deliee qu'elle pouuoit passer pour lame
de la nege ie vis aussy des quenouilles respandues ca et la, ie demande"
a mon conducteur a quoy elles seruoient, a filer me respondit-il quand
le bon Enoc veut se debander de la meditation tantost il habille cette
filasse tantost il tisse de la toille qui sert a bailler des chemises aux onze
mille vierges, il n'est pas que n'aye"s quelque fois rencontre" en vre monde
ie ne scay quoi de blanc qui voltige en automne Enuiron la Saison des
semailles, les paisans appellent cela cotton de nrö Dame c'est la bourre
dont Enoc purge | son Lin quand il le carde. pag. 36 v<
Nous n arrestames gueres sans prendre conge d'Enoc dont cette cabane
Estoit la cellule et ce qui nous obligea de le quitter si tost fut que de
six en six heures il fait oraison et qu'il y auoit — ' bien cela qu'il auoit
acheue" la derniere.
Je supplie" en cbemin helie de nous acbeuer L histoire des assomptions
qu'il m'auoit entamöes et luy dis qu'il en Estoit demeure" ce me sembloit
a celle de S* Jean L Euangeliste.
Alors Puisque vous n'auös pas me dit-il la patience d'attendre que la
pomme de Scauoir vous enseigne mieux que moy touttes ces choses ie
veux bien vous les apprendre scach^s donc que Dieu a ce mot ie ne scay
pas comme | Le diable s'en mesla tant y a qJ3 ie ne pus pas m'empescher pag. 37 r«
de L'Interrompre pour railler.
Je m'en souuiens luy dis je Dieu fut vn Jour aduerty que L'ame de
cet Euangeliste estait si detach^e qu'il ne la restenoit plus qu'a force de
serrer les dents et cependant Lheure ou il auoit preueu qu'il seroit enleue"
ceans Estoit presque Expire" de facon que n'ayant pas le temps de luy
preparer vne machine il fut contraint de ly faire estre vistement sans
auoir le Loisir de l'y faire aller.
[Ehe pendant tout ce discours me regardoit auec des yeux capables
de me tuer si ieusse Este" en Estat de mourir d'aure chose que de faim:
abominable dit-il | en se reculant tu as L'impudence de railler sur les pag. 37 v>
choses sainctes au moins ne seroit-ce pas impunement si le tout sage ne
vouloit te laisser aux nations en exemple fameux de sa misericorde, va
impie hors d'icy, va publier dans ce petit monde et dans L'autre car tu
es predestine" a y retourner La haine irreconciliable que dieu porte aux
ath^es.
A peine eut il acheue" cette Imprecation qu'il m'empoigna et me con-
duisit rudement vers la porte : quand nous fusmes arriues proche vn grand
arbre dont les branches chargees de fruict se courboient presque a terre
voicy Larbre de scauoir me dit-il ou tu aurois puise" des Lumieres in-
conceuabl6s sans ton | irreligion. pag. 38 v
II n'Eut pas acheue" ce mot que feignant de Languir de foiblesse ie
me Laisse" tomber contre vne brancne ou ie derobe" adroittement vne pomme
il s'en faloit encore plusieurs ajambees que ie n'eusse lepied hors de ce
parc delicieux cependant La faim me pressoit auec tant de violence qu'elle
me fit oublier que i'estois entre les mains d'un prophette courrouce, cela
fit que ie tire" vne de ces pommes dont i'auois Grossy ma poche ou ie
cache" mes dents mais au heu de prendre vne de Celles dont Enoc m'auoit
faict pnt, ma main tomba sur la pomme que iauois cueillye a l'arbre de
science et dont par malheur ie nauois pas despouille" L'Escorce.] | i'en pag. 38 v<
auois a peine Gouste" qu'une Espaisse nuit tomba sur mon ame ie ne vis
plus ma pomme plus d'helie aupres de moy et mes yeux ne reconnurent
pas en toutte L'emisphere vne seule trace du Paradis terrestre et auec tout
cela ie ne Laissois pas de me souuenir de tout ce qui m'y estoit arriue\
1 — zum Ausfüllen der Linie.
Bern. H. Dübi.
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 11
Kleinere Mitteilungen.
Zur Quellenkunde und Textkritik der altengl. Exodus.
Trotz der vielen Arbeiten und Aufsätze, die bereits der altengl.
Exodus gewidmet sind, ist sowohl die Frage nach der eigentlichen
Quelle der merkwürdigen Dichtung noch ungelöst, wie auch manche
schwierige oder verderbte Stelle unerklärt. Ohne etwas Abschliefsen-
des bieten zu können, möchte ich wenigstens einige Beiträge zum
Verständnis des Gedichtes veröffentlichen, die vielleicht andere auf
den richtigen Weg führen.
a) Zur Quellenkunde.
V. 47. druron deofolgyld.
Vgl. dazu Bedas Pentateuch-Kommentar, Exod. Kap. 1 2 (Migne,
Patrol. lat. 91, Sp. 307): Hebraei autwmnant, quod nocte illa, qua
egressus est populus Israel, omnia templa Aegyptiorum destructa sunt,
sine terrae motu; und Petrus Comestor, Hist. schol. Exod. Kap. XXVII
(Migne 198): In egressu etiam eorum, terrae motu facto, multa templa
Aegypti cum idolis suis corruerunt. — Bright hat Mod. Lang. Notes
XVII, 424 ff. darauf hingewiesen, dafs die Bibelstelle Num. 33, 4:
Nam et in diis eorum exercuerat ultionem zu dieser Tradition Anlafs
gegeben haben wird; Eusebius1 von Caesarea, Praep. evang. IX, 27,
berichtet nach Artapanus, dafs fanaque tum plurima corruisse.
V. 290 ff. erzählt der Dichter, dafs auf die Aufforderung des
Moses hin der vierte Stamm, Juda, zuerst durchs Rote Meer gezogen
sei, wofür ihm auch die Herrschaft verliehen wurde. Ihm folgten
dann die Stämme Rüben und Simeon. Vgl. hierzu Comestor a. a. 0.
Kap. 31 : Et advocans Moyses singulas tribus secundum ordinem na-
tivitatis suae hortabatur eos, ut ipsum praeeuntem sequerentur. Cum-
que timuissent intrare Rüben, Simeon et Levi, Judas primus aggres-
sus est iter post eum, unde et ibi meruit regnum. — Offenbar haben
der Dichter und Comestor (f 1178) aus derselben Quelle geschöpft,
die mir leider trotz alles Suchens bisher nicht zu finden gelungen ist.
In der Bibel steht davon kein Wort.
V. 579 ff. wird berichtet, wie sich die Israeliten die Schätze und
Waffen der im Roten Meere umgekommenen Ägypter aneigneten.
Ähnlich sagt Comestor a. a. O. : et tulit Israel arma mortuorum. Dies
1 Ich zitiere nach der lat. Übersetzung in der Ausgabe von Fr. Vi-
gerus, S. J., Coloniae 1688.
Kleinere Mitteilungen/ 163
scheint auf Josephus, Antiq. jud. II, 14, zu beruhen, wo es in Ruf-
fins Übersetzung1 heifst: Postea vero armis Aegyptiorum per fluctus
et violentia ventorum allatis exercitui Hebraeorum, Moses et hoc arbri-
tratus Dei permissione factum, ut neque armis egerent, Jiaec exiit col-
ligens : Hebraeosque his muniens duxit eos per desertum . . . Auch
Eusebius a. a. O. Kap. 29 berichtet nach Deraetrius: qui fluctibus
obruiti non fuissent, ülorwn sese armis induisse.
b) Zur Textkritik.
V. r<3. baelce oferbrsedde byrnende heofon,
hälgan nette hätwendne lyft.
Statt bcelce ist offenbar balge 'mit einem Balge, einem Überzug'
zu lesen, vgl. V. 309 : sances — sanges. Auch V. 81 : segle ofer-
tolden zeigt, wie sich der Dichter die Schutzwolke denkt, vgl. Ps. 1 04,
39: expandit nubem in protectionem eorum und 1. Kor. 10, 1: quo-
niam patres nostri omnes sub nube fuerunt. Johnson übersetzt daher
im Journ. of Germ. Phil. V, 44 ff. ganz richtig bcelce mit 'canopy'.
V. 79 ff. drihta gedrymost. Dgegscealdes hleo
wand ofer wolcnum: hsefde witig god
sunnan sidfset segle ofertolden.
Das unerklärte dcegscealdes hleo von V. 79b ist wohl in dceg-
sweal(o)ctes hleo 'Schutz gegen die Tageshitze' zu bessern ; swealod, die
nebentonige Entwickelung von sweolod (vgl. Bülbring, Ae. Elemb.
§ 422), bedeutet in dieser Zusammensetzung dasselbe wie fcerbryne
V. 70 a, byrnende heofon 73 b, hätwendne lyft 74 b und ligfyr 77 b;
nach der Vorstellung des Dichters hat Gott ein Schutzdach zwischen
den Wolken und dem oberen Himmel, der Bahn der Sonne, ge-
schaffen, um die Israeliten gegen deren Strahlen zu schützen.
V. 161 ff. ergänze ich:
hreopon herefugolas hildegrtedige,
deawigfedere ofer drihtneurn,
[herge on laste; hrsefn üppe göl,]
wonn wselceasega. Wulfas sungon etc.
indem ich mit Kluge on hwcel vor hreopon streiche und mit Bright
hrcefn uppe göl nach Elene 52 b ergänze. Zu herge on laste vgl. ebd.
30 a: lädum on laste.
Kiel. F. Holthausen.
Zum ae. gerefa.
Obgleich sich die erprobtesten Kräfte um die Aufhellung dieses
zuerst von Liebermann Anglia Bd. LX gedruckten ae. Textes2 be-
müht haben, ist doch noch manche Stelle der Aufklärung dringend
bedürftig geblieben. Ich wage im folgenden einige neue Deutungs-
versuche.
Mir hier in einem alten Kölner Druck von 1533 zugänglich.
Jetzt auch Gesetze der Angelsachsen I 453 ff.
11*
164 Kleinere Mitteilungen.
1. bycgan 'to bear in mind\
"ic eal geteallan ne maeig, ])cet god scirman bycgan sceal" (Ge-
refa §12; Liebermann, Ges. der Ags. I 454 = Kluge, Ags. Leseb.3
S. 49, Z. 45). Die Bedeutung 'kaufen' ergibt für bycgan an unserer
Stelle keinen passenden Sinn; man erwartet ein Verb von der Be-
deutung 'bedenken, überlegen, bear in mind' (vgl. § 18, Kluge Z. 72
'Hit is earfode eall to gesecganne, Ipcet se bedencan sceal, de scire
bealt'). So hat denn Zupitza (Anglia IX 262) bygän emendiert, im
besonderen Hinblick auf § 3 (Kluge Z. 13) 'forgyme [he] da ding
to begänne 7 to bewitanne', etc. Wenn Sweet im Student1 's Diction-
ary für bycgan auch die Bedeutung 'get done, see after' angibt, so
stützt er sich offenbar allein auf unsere Stelle.
Erlaubt uns etwa das booflic der Lindisfarne Gospels, unser
bycgan in behycgan aufzulösen ? 1
2. ippingiren.
"He sceal f ela tola to tune tilian . . . cimbiren, tigehoc, nsefebor,
mattuc, ippingiren, scear", etc. (§ 15, Ges. der Ags. 455, Kluge
Z. 52). Was ist mit dem Worte ippingiren gemeint? Zumeist stellt
man es zu yppan und übersetzt es mit 'Brech-, Hebeeisen'. 2 Kluge
allerdings scheint diese Deutung nicht anzuerkennen, da er das Wort
im Glossar zu seinem Ags. Leseb. einfach mit einem Fragezeichen
versieht.
Ich möchte der Vermutung Ausdruck geben, dafs im Original
des Gerefa gar nicht ippingiren, sondern cippingiren gestanden
hat: der (auch sonst nicht allzu sorgfältige) Kopist hätte für das
mattuc cippingiren der Vorlage mattuc ippingiren geschrie-
ben, sich also einer Haplographie schuldig gemacht. Wir gewönnen
damit einen zweiten Beleg für das Verb ae. cippian, das Etymon
von ne. chip, das wir sonst nur aus dem von Lye angeführten Partizip
forcyppod 'praecisus' kennen. Die Bildung der Zusammensetzung
cippingiren wäre der von huntifnjgspere, screadungtsen usw. zu ver-
gleichen. „ '. .
3. timplean.
Unter den in § 15 aufgeführten Webegeräten erscheint (Kluge
Z. 57) ein timplean, zu dem Liebermann Anglia IX 257 bemerkt:
1 Das Mnld. kennt den Lautübergang beh- > b in ausgedehntem Mafse :
behaghel > baghel, behaghen > baghen, bellende > bende, behoef > boef, behoren
> boren usw.
2 Ae. yppan erscheint nur mit der übertragenen Bedeutung 'eröffnen,
offenbaren' (vgl. me. üppen 'disclose' und das Adj. yppe 'offenbar'); doch
hat an. yppa, worauf mich Pogatscher freundlichst aufmerksam macht,
noch die ursprüngliche Bedeutung 'auf-, in die Höhe heben'. Im Hin-
blick darauf wäre„übrigens (Zusammenhang von ippingiren mit yppan
vorausgesetzt) die Übersetzung 'Hebeeisen' oder 'Ziehhaken' der obenange-
führten vorzuziehen ; das Wort würde ein ähnliches Werkzeug bezeichnen
wie das kurz vorher genannte tigehoc.
Kleinere Mitteilungen. 165
,Dem Worte timplean, das dem Zusammenhange nach einen zur
Weberei gehörenden Gegenstand bezeichnet, steht der Übersetzer rat-
los gegenüber.' Im Hinblick auf tum 'Wolle karden' bei Halliwell
(vgl. Anglia 1. c. 263) gibt er Ges. der Ags. 455 die Übertragung
'Karden ..?' Sweets Angabe (Stud. Diction.): 'timple once, a. tim-
plean f. an implement of weaving' hilft uns auch nicht weiter. Kluge
(Ags. Leseb.) verzichtet auf jede Erklärung: 'timplean?'
Liefse sich unser timplean nicht in Verbindung bringen mit me.
tempyll (Cathol. Anglic), ne. temple, frz. temple (f.), templu etc.,
dtsch. Tempel, Tömpel 'Sperrrute, Spannstock, Breithalter' ? l Dem
Worte dürfte ein lat. templa zugrunde liegen, das bei frühzeitiger
Übernahme ins Ae. zu timpfejl (st. F.) oder timpfejle (schw. F.) wer-
den mufste (cf. gimm < getnma; ae. tempfejl < templum ist später
entlehnt worden, vgl. Pogatscher QF 64 § 123). 2 Allerdings macht
die überlieferte Form timplean Schwierigkeiten. Dürfen wir es in
timpelan emendieren ? Oder hatte die Vorlage etwa timple am V 3
4. sceactele.
Unter den Webegeräten in § 15 figuriert des weiteren ein scea-
dele (Kluge Z. 58). Liebermann übersetzt es Anglia IX 263 mit 'Schiff-
chen', fügt Ges. der Ags. 455 dieser Übersetzung jedoch ein Frage-
zeichen bei. Kluges Glossar begnügt sich mit diesem letzteren. Auch
Sweets 'scapel (m.) weaving implement' fördert uns nicht. Sollte das
Wort nicht zu an. skeict 'the slay or weaver's rod' zu stellen und
das ea demgemäfs als lang anzusetzen sein (sceäctel /".)?
Halle a. S. Otto Ritter.
Eine verlorene Handschrift der Sprüche Hendings.
Eine verlorene oder wenigstens jetzt verschollene Handschrift
der Sprüche Hendings befand sich noch Ende des 14. Jahrhunderts
in der Bibliothek der Priorei St. Martin zu Dover. Dies lehrt uns
der im Jahre 1389 vom Bruder John Whytefeld zusammengestellte
Katalog dieses Klosters (jetzt MS. Bodley 920 der Bodleiana zu Ox-
ford), welcher kürzlich von R. James 4 veröffentlicht worden ist. Dort
wird nämlich als No. 170 eine Handschrift aufgeführt, welche fol-
genden Inhalt hatte:
1 Vgl. Karmarsch, Grundriß der mechanischen Technologie, 1841, II
352; Lueger, Lex. lechn. s. v. Weberei; Prechtl, Technolog. Encyclop. XX M4.
2 Das e in me. tempyll, ne. temple deutet auf Neuentlehnung aus dem
Frz. hin.
3 am 'weaver's reed' kommt in der Aufzählung von Webegeräten
Oerefa § 15 nicht vor; das amb in genanntem Paragraphen ist nicht not-
wendig als am aufzufassen — die Vorlage könnte ein [..-.. e]amb ent-
halten haben.
4 The Ancient Libraries of Canterbury and Dover, ed. by M. R. James,
Cambridge 1903, p. 107—495.
166 Kleinere Mitteilungen.
Libellus de matre beati Thome Can-
tuarieusis Electus igitur ante constituc'
Actus in exilium beati Thome Cant. 10 a Honor et gloria beati
Vita beati Thome Cantuariensis in
gallicis 20 a Adeu loenge et soun
Fabula de wlpe medici1 in angl. 34 b Hit by-ful~ whylem
Parabole Isopi greci metrificate 38b Adaneis satus
La romonse de Ferumbras Seygnours ore escut'
Gcsta Octouiani [sie/] imperatoris
in gallicis 123 a Le deu qui en la crois
Stulticie mundi principales in gal-
licis 164 b Qui nul bien ne soyt
Reeordacio passionis in gallicis 166 a Vn poy escutes
Libellus de caritate in gallicis 173 a Chescun home dere
Gesta Karoli magni in gallicis 178 b Ore escutx seignouris
Cato in gallicis 199 b Seignours oyex
Mrönü [?] vtilitas in gallicis 203 b Ore vox volum monstrer
Prouerbia Hendung [sief] in angl. 206a Jhesu Orist al ßys
Der angeführte Inhalt stimmt zu keiner der drei uns bisher be-
kannten Handschriften, in denen die Sprüche Hendings vorkommen ;
also handelt es sich hier um eine vierte verschollene Aufzeichnung
dieses Werkes. Den Anfangsworten nach zu urteilen, wie sie unser
Katalog anführt (Jhesu Christ al pys), mufs die Hending- Version des
Dover -Ms. der Überlieferung in Digby 86 am nächsten gestanden
haben; denn nur hier lautet der Anfang Jesu Crist al ßis worldes
red (Angl. IV, 191) gegenüber al folkis rede in der Cambridger und
Londoner Handschrift. Auch sonst scheint die Dover-Handschrift
ein ähnliches Gepräge wie Digby 86 gehabt zu haben. Denn wie
letztere bietet sie nebeneinander französische, lateinische und eng-
lische Texte 3 und unter letzteren sogar ebenfalls eine Fuchs-Fabel,
deren Verlust wir um so mehr bedauern müssen, als sie uns vermut-
lich ein interessantes Seitenstück zu den spärlichen Vertretern mittel-
englischer Fabeldichtung, insonderheit zu The Vox and the Wolf von
Digby 86, geliefert haben würde.
Gegenüber dem nicht geringen Bestände an französischen 4
Handschriften in Dover ist es auffallend, dafs der Katalog nur noch
1 So! vielleicht für medico? (James).
2 Die (im Oxford Dictionary fehlende) Präteritalform biful ist mehr-
mals belegt im jüngeren Layamon-Text (westl. Mittelland) und in dem
ebenfalls im westlichen Mittellande (Gloucestershire) und noch im 13. Jh.
entstandenen südlichen Legendär. Wahrscheinlich wird auch die obige
Dover-Handschrift, wie die drei anderen Hending-Mss., der ersten Hälfte
des 14. Jh. angehört haben.
3 Vgl. Codicem manu scriptum Digby 86 descripsit ... E. Stengel,
Halle 1871.
4 James zählt S. 85 24 Handschriften mit französischen Texten auf.
Auch die weltliche Literatur Frankreichs war darin nicht schlecht ver-
treten. Aulser den bereits oben angeführten Werken nenne ich nur:
No. 364 Le romonse du roy Charles la Playst vos; No. 3t>5 Le romonse
de Athys (Gröber II, 1, S. 588) la Qui sagis est; No. 366 Le romonse de
la Rose Seyntys gens; No. 367 Polistoria Bruti et Britonum la Qui reut
Kleinere Mitteilungen. 167
eine zweite Handschrift mit einem englischen Text aufführt: es ist
dies die Handschrift No. 355, welche unter allerhand lateinischen
medizinischen Werken an fünfter Stelle enthielt:
Sinonoma herbarum 25 b Affa a pe kessur1
Offenbar ist damit ein ähnliches lateinisch-englisches medizinisches
Pflanzenglossar gemeint wie die Sinonoma Bartholomei oder die Sy-
nonyma des Petrus Paduensis, welche Mowat für die Anecdota Oxo-
niensia 1882 bew. (in 'Alphita') 1887 veröffentlicht hat.
Würzburg. Max Förster.
Die Bibliothek des Dan Michael von Northgate.
Die drei alten Bücherkataloge von Christ Church Priory und
St. Augustine's Abbey zu Canterbury und der St. Martin's Priory zu
Dover, welche M. R. James unlängst veröffentlicht hat (The Ancient
Libraries of Canterbury and Dover, Cambridge 1903), werfen nach
den verschiedensten Seiten hin interessante Streiflichter auf die
Geisteskultur des englischen Mittelalters. Namentlich wird aber die
englische Literaturkunde manchen Gewinn aus dieser Veröffentlichung
ziehen können, wofür heute hier auf ein Beispiel hingewiesen sei,
dessen Ausschöpfung ich künftiger Forschung überlasse.
Die Persönlichkeit des Dan Michael aus Northgate, welcher uns
bisher nur aus dem Epilog zu seinem Ayenbiie of Inwyt (1340) als
Benediktinermönch von St. Augustin zu Canterbury bekannt war,
gewinnt für uns einen neuen Zug durch die eben genannte Ver-
öffentlichung. Wir lernen ihn nämlich daraus als einen grofsen
Bücherfreund und Handschriften Sammler kennen, der, dem Umfange
seiner Bibliothek nach zu urteilen, wohl über einige Mittel verfügt
haben mufs. Der uns erhaltene Katalog des St. Augustin - Klosters
(jetzt Ms. 360 des Trinity College zu Dublin), welcher kurz vor 1497
angelegt ist, verzeichnet nämlich nicht nur den Inhalt der einzelnen
Handschriften, sondern gibt auch in sehr vielen Fällen den Namen
der ehemaligen Besitzer bezw. Donatoren derselben an. Auf diese
Weise erfahren wir, dafs noch Ende des 15. Jahrhunderts von den
1837 Handschriften des Klosters mindestens 25 aus der Bibliothek
des 'Michael de Northgate' herstammten ; 2 darunter auch (als No.
sauoyr; No. 369 Historia Turpini archiepiscopi (Gröber II, 1, 719): Sy co-
mence lestorye; No. 373 Prophetia Merlini in gallicis 13a Oy eomeme aeune;
No. 390 Liber Cathonis la Catoun estoit; No. 390 a Bestiarius in gallicis
166 a Qui byen comece; No. 413 Lapidarius in gallico 83a Hom trouex.
1 Das a bedeutet vermutlich anglice, im übrigen ist mir die Glosse
unverständlich.
2 Es sind dies die Handschriften No. 69. 647. 649. 767. 782. 783.
804. 841. 861. 876. 1063. 1077. 1155. 1156. 1170. 1267. 1275. 1536. 1548.
1595. 1596. 1597. 1604. 1654. Auiserdem wird in einem Verzeichnis aus-
geliehener Bücher (in Ms. Ff. 4. 40) ein Diwrnale Michaelis de Norgate
(James S. 503) genannt.
168 Kleinere Mitteilungen.
1536) ein Liber in anglico Michaelis de Northgate cum CC 2° fo. ire
vor alse, das eich auf Grund jener alten Signatur (CG) und der An-
fangsworte des zweiten Blattes (ire vor alse) sicher mit dem uns er-
haltenen Arundel-Ms. 57 des Ayenbite of Inwyt identifizieren läfst,
welches höchstwahrscheinlich Michaels Autograph darstellt. ' Über-
schauen wir kurz den Inhalt der übrigen 24 Handschriften, der auf
ein recht bedeutendes Bildungsniveau unseres Mönches schliefsen
läfst, so springt uns zunächst der starke Bestand an theologischen
Werken, vor allem mystisch-asketischer Richtung, in die Augen, was
indes bei dem Verfasser des Ayenbite kaum zu verwundern ist. Stau-
nend sehen wir aber, dafs Dan Michael auch ein sehr starkes Inter-
esse für Medizin, Mathematik, Astronomie, Chemie und sonstige
Naturkunde besessen hat. Von theologischen Schriftstellern, die sich
in seiner Bibliothek befanden, seien hier nur genannt Petrus Co-
mestor, Bernhard v. Clairvaux, 2 Hugo v. S.- Victor, Helinand v. Froid-
mont, Robert v. Flamesbury und Edmund v. Canterbury; von medi-
zinischen Gallen, Dioskurides, Rhasis, Gerber, Afflacius (?), Gilbert, 3
Bernard Gordon, Henri de Mondeville, sowie das therapeutische Ge-
dicht Regimen sanitatis Salernitanum ; von naturwissenschaftlichen
Aristoteles, Hermes,4 Albertus Magnus, Roger Bacon, Petrus de Ma-
harncuria, Marbod, Kyrannos, John Holywood, Giovanni Campano
und Richard Grosseteste. 5 Dafs er, wie doch zu vermuten, ein Exem-
plar seiner Quelle, der Somme des vices et des vertus des Laurent du
Bois (Gröber 1027), besessen hat, ist aus dem Katalog nicht direkt
erweislich; doch mag sich dies Werk unter anonymen lateinischen
Titeln wie Summa de confessione (No. 649) u. a. verbergen.
Aufser Arundel 57 sind noch drei weitere von den in Michaels
Besitz gewesenen Handschriften uns erhalten, nämlich die No. 1155,
1156 und 1170 des Katalogs als Ii. I. 15 Un. Libr. Cambr., Bod-
ley 464 und Corp. Christi Oxf. 221. Autopsie würde wohl fest-
stellen können, ob diese von derselben Hand wie Arundel 57 ge-
schrieben sind, also auch vielleicht Autographen des Dan Michael
1 Eine Seite in Faksimile veröffentlichte daraus die Palceographical
Society, Vol. III, plate 197.
2 Dessen Stimulus amoris, von dem Michael zwei Abschriften (No.
767 und 804) besafs, mag auf die Titelfassung des englischen Werkes Ein-
fluss gehabt haben, wenigstens sofern, wie ich annehmen möchte, Ayenbite
of Inwyt eher 'Stachel, Sporn, Antrieb des Gewissens' heilst als einfach
'Gewissensbifs'.
3 Die auffallende Namensform Gilbertyn, welche Chaucer C. T. Prol.
434 (im Reime) hat, erklärt sich aus dem zu Oilbertus gebildeten Adjek-
tiv, wie auch obiger Katalog S. 348 liest: Gilbertina practica puerorum.
4 Angesichts der etwas kargen Angaben, die Skeat im Oxford Chau-
cer V 432 zu Hermes (Trismegistus) macht, sei auf die reichen Nachweise
bei Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi (Leip-
zig 18983), Bd. III, S. 482 f., hingewiesen.
5 Näheres über die meisten der genannten Namen in Gröbers Über-
sicht über die lateinische Literatur.
Kleinere Mitteilungen. 169
darstellen. Auch wären sie bei einer erneuten Quellenuntersuchung
des Ayenbite wohl zu berücksichtigen.
Im Anschlufs hieran sei noch darauf hingewiesen, dafs, wie
James S. 510 zeigt, eine Handschrift des Poema Morale, Digby 4,
sich identifizieren läfst mit einer Eintragung in dem alten Kataloge
des Christ-Church-Klosters zu Canterbury (in Galba E. IV ; angelegt
zwischen 1315 — 1331), wo das englische Gedicht als Rithmus Anglice
(No. 954) bezeichnet ist. Diese Tatsache, im Verein mit dem aus-
gesprochen kentischen Sprachcharakter der Digby- Version, macht es
wahrscheinlich, dafs diese Abschrift des Poema Morale auch in Christ
Church entstanden ist.
Würzburg. Max Förster.
Zu Lydgates Seereta secretorum.
Die beiden ehemaligen Ashburnham-Mss. No. 132 und 134,
welche Th. Prosiegel leider, weil damals in Privatbesitz befindlich,
bei seiner trefflichen Arbeit (1903) über die Handschriften von Lyd-
gates Seereta Secretorum nicht benutzen konnte, sind jetzt im Fitz-
william-Museum zu Cambridge allgemein zugänglich geworden, wo
sie nach freundlicher Mitteilung von Mr. M. R. James die Signaturen
McClean-Ms. No. 180 und 181 tragen werden.
Würzburg. Max Förster.
Die mittelenglische Version von Claudians
De consulatu Stilichonis.
Ein neues Beispiel für reimlosen Septenar.
In seiner 'Englischen Metrik', Bd. II (1888), S. 455, hat J. Schip-
per die Ansicht ausgesprochen und im 'Grundrifs für germanische
Philologie' noch in der 2. Auflage, Bd. II, 2 (1905), S. 210, wieder-
holt, dafs der reimlose Septenar des Ormulum 'ganz ohne Nachfolge
geblieben' sei, und dafs erst im 16. Jahrhundert wieder unter dem
Einflufs der antiken Strophen Versuche mit reimlosen Versen ge-
macht seien. Dem gegenüber möchte ich darauf hinweisen, dafs ein
reimloser Vers, und zwar ebenfalls ein Septenar, in einem Werke
aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts vorkommt, welches frei-
lich, soweit ich sehe, bisher von der Anglistik nicht beachtet ist. 1
Es handelt sich um eine mittelenglische Bearbeitung eines Teiles2
des panegyrischen Gedichtes De consulatu Stilichonis, welches von
dem spätrömischen Hofpoeten und kaiserlichen Geheimsekretär Clau-
dius Claudianus3 im Jahre 400 abgefafst worden ist. Die mittel-
englische Version ist uns zusammen mit dem lateinischen Original
1 Inzwischen ist das Gedicht gedruckt von E. Flügel in Anglia
XXVIII 255—297.
2 Übersetzt sind nur Liber II, V. 1 — 413.
1 1 3 Vgl. über ihn: Th. Birt in seiner unten zu nennenden Ausgabe
(Berlin 1892); Vollmer in Pauly's Real - Enzyklopädie III (18'J9), 2652 ff.
170 Kleinere Mitteilungen.
im Additional-Ms. 11814 des Britischen Museums überliefert. Nach
Ausweis des Kolophons (translat and wrete at Cläre 1445) ist sie im
Jahre 1445 (oder kurz vorher) entstanden und zwar auf dem Schlosse
Cläre in SufFolk, das damals dem Herzog Richard von York gehörte,
der lobend in den Einleitungsversen genannt wird. Möglicherweise
haben wir es also mit dem Autograph des Übersetzers zu tun, der
höchstwahrscheinlich in dem Hofkreise des Herzogs von York zu
suchen ist.
Als Beispiel für den sehr freien Versbau sei hier der Anfang
des Gedichtes hergesetzt, welchen ich dem Faksimile der Palseogra-
phical Society (Vol. III, plate 200) entnehme, unter Regelung der
Interpunktion und des Gebrauches von Kapitalen und Einführung
eines schrägen Striches an Stelle des die Zäsur bezeichnenden um-
gekehrten Semikolons.1
Pref ace.
In Ruffynes legende, which late was write, / Stilico hath preysingts
armyd.
Our Muse now more mylde with losyd stryngis / in songe shal gyn
to teile,
3 With what maners and with what love / this dred pWnce rulyd the
world e,
With whos preyers he lyst be mevid to clothe him in his roobys
And grauntid oo yere thestate to take, / as consiüers vsid before.
Benygnyte ia descryed techyng Stilico the prynce.
6 The keper of the worlde, Clemencia callyd, ' which chase hir first place
In Iupiters girdil, that partith a-sundir / grete hetis trotn he colde,
Which grettest is namyd of hevenly duellers ; / for Clemens first had
ruthe
9 Of the vnshaply begynnyng worlde, / wha« al hing lackid dieu forme,
And with her bright chere put thirkenes aside, / yivyng lijte to
erthys.2
This goddesse the, Stilico, as temple vsith / and as offryng at awtrys,
12 Where frankencens and swete odourys ' to hir with fire is yove.
Her principal sees high in thy brest / she hath prövided to be,
The techyng evir, that thou sholdist deme / and nevir as manhode holde
15 Oo man reioise a-nothirs peyne, / or othirs deth desire;
That in thi peas thou sholdist so breke / cruel Martys decrees,
As by the to longe haterede / occasion noon were yove;
18 That to trespassours thou sholdist pardon / frely askid graunte,
And ire soone shuldist put awey; / seldome thou shuldist it meve;
Onmevable thou owist not endure, / wha» benygne preyers be offrid ;
21 To truthe distroye al aduersauntts ; / and thingis to the submytted
Nevir sett in herte as the lyon doothe, / which3 ovirthrowith wilde
boolys
And smaler beestis lettyth renne beside ; / not oonys vpon hem lokith.
24 Thus by Clemens taught is Stilico, / as childe enformyd by mastresse.
1 Nur in wenigen Versen, wie z. B. bei Z. 4, fehlt dasselbe.
2 Am Rande hier folgende Bemerkung von derselben Hand: Cle-
mencia dwellith in the midde-girdil, for sehe is (über d. Zeile) not hoot with.
veniawns ne coolde with pusillanimite.
3 Dahinter ist in der Hdschr. ein gladly ausradiert.
Kleinere Mitteilungen. 171
Ein Vergleich mit dem lateinischen Original, das ich hier nach
der gleichen Handschrift folgen lasse, zeigt, dafs die englische Ver-
sion eine sehr freie ist.1
Pref atio.
Hactenus armatae laudes. Nunc qualibus orbem
Moribus et quanto frenet metuendus amore,
3 Quo tandem flexus trabeas auctore togantes
Induerit fastisque suum concesserit annum,
Mitior incipiat fidibus iam Musa remissis.
Claudiani de consulatu Stilichonis liber incipit.
6 Principio mundi custos dementia magni,
Quae Jovis incoluit zonam, quae temperat aethram
Frigoris et flammae medio; quae maxima nutu
9 Caelieolum. Nam prima chaos dementia solvit
Congeriem miserata rüdem vultuque sereno
Discussit tenebras, in lucem saecula fudit.
12 Haec dea pro templis et ture calentibus aris
Te fruitur posuitque suas in pectore sedes.
Haec doeet, ut poenis hominum vel sanguine pasci
15 Turpe ferumque putes; ut ferrum Marte cruentum
Sic cum pace premas; ut non infensus alendis
Materiem praestes odiis; ut sontibus ultro
18 Ignovisse velis, deponas otius iras,
Quam moveas, precibus nunquam implacabilis hostis,
Obvia prosternes prostrataque more leonum
21 Despicias, alacres audent qui frangere tauros,
Traneiliunt praedas humiles. Ac iste magistra
Dat veniam victis; hac exortante calores ...
Eine nähere Untersuchung des Versbaues, wie der übrigen mit
dem Gedichte verknüpften Fragen mufs ich dem künftigen Heraus-
geber desselben überlassen. Es sei nur hier schon darauf hingewiesen,
dafs der vorliegende Septenar in der Taktfüllung weit vom Ormulum
absteht und in seinem ungemein freien Bau vielmehr an die alten
Volksballaden erinnert. Aus diesen wie aus anderen Gründen möchte
ich es denn auch, solange nicht neue Bindeglieder nachgewiesen
sind, dahingestellt sein lassen, ob unser Dichter wirklich an Orm an-
geknüpft hat. Wahrscheinlicher dünkt mir, dafs er selbständig 2 auf
das Aufgeben des Reimes im Septenar gekommen ist, sei es in Nach-
ahmung der zeitgenössischen alliterierenden Dichtung oder in direkter
1 daudians Werke sind jetzt am besten herausgegeben von Th. Birt
in Monumenta Germaniae, auct. antiquiss. t. X (Berlin 1892). Es seien
daher die von unserer Handschrift abweichenden Lesarten von Birts kri-
tischem Text (S. 203 ff.) hier angegeben : :J> rogantes, 6 magni . . . mundi,
8 mediam natu, 11 Discussis tenebris, 16 siccum p. premas, 18 iram, 19
hostis] obstes, 20 prosternas, 21 ardent, 22 Hac ipse, 23 Das. Diese Ab-
weichungen lehren, dafs unsere Handschrift in eine Klasse (x) mit Birts
V und P gehört (vgl. Birt S. 103). Birt erwähnt unsere Handschrift auf
S. 126, hat sie aber wegen ihres textum corruptissimum nicht weiter benutzt.
2 Es bedarf wohl kaum des Hinweises, dafs auch sonst (Orm, G. Har-
vey usw.) inhaltlich gering zu bewertende Dichter in formeller Beziehung
metrische Neuerer gewesen sind.
172 Kleinere Mitteilungen.
Anlehnung an den ihm vorliegenden antiken Hexameter. In letz-
terem Falle hätten wir in unserem Gedichte den frühesten Vorläufer
der antikisierenden Richtung zu sehen, die erst in der Hochrenais-
sance in England zu voller Entfaltung gelangte.
Literargeschichtlich dürfte das Gedicht namentlich bemerkens-
wert sein als ein neuer Beweis für die Beliebtheit1 des Claudianus
im Mittelalter, welche uns durch die zahlreichen Abschriften seiner
Werke aus dem 12. — 15. Jahrhundert, sowie durch Chaucers Be-
kanntschaft mit seinem Raptus Proserpinae2 auch sonst hinreichend
bezeugt ist.
Würzburg. Max Förster.
Miszellen zur englischen Wortkunde.
1. Ae. sceota 'Forelle'
wird von Bosworth-Toller, Sweet, Schröer usw. mit langem Diph-
thong (eo, eo) angesetzt. Weist die neuenglische Form des Wortes:
shote, shoat, shot — nicht vielmehr auf ein ae. sceota hin?
2. Me. milternisse < mildhertnis
zweifelt Mätzner, Sprachproben I 54, Anm., Wörterbuch IH 584, zu
Unrecht an: Formen mit ausgestofsenem t kommen bereits in ae. Zeit
vor, wie die Zusammenstellungen von Klaeber, Modern Language
Notes XVHI 244, lehren. Ich lasse dahingestellt, ob es sich einfach
um eine 'Ekthlipsis' des t zwischen r und n handelt, oder ob die
Verbindung tn zunächst durch den 'faukalen Verschlufslaut' -f- n
ersetzt wurde, wofür dann stimmloses n -}- n, und schliefslich ein-
fach n eintrat.3
3. Ne. chafer, chaffer
mit stimmlosem f gegenüber ae. ceafor wird durch frühen Anschlufs
an cliaff zu erklären sein ; die lautgesetzliche Entwickelung hätte zu
ne. *chaver geführt.4
4. Ne. donkey.
'As the original pronunciation apparently rimed with monkey . . .,5
suggestions have been made that the word is a deriv. of dun adj. (cf.
dunnock hedge-sparrow), or, more probably, a familiär form of Dun-
can (cf. the other colloquial appellations, Bicky, Neddy)' schreibt das
New English Dictionary. Zur Unterstützung der ersteren Ansicht
1 S. Th. Birt a. a. O. p. 78—158.
2 Siehe die Nachweise in Skeats Oxford Chaucer VI, 385 unter Clau-
dian.
3 Vgl. die Entwickelung von anlautendem Im im Englischen.
4 Vgl. das dial. cheever (< cefer, Erf. Gl.). — Ne. trifte 'zermalmen'
(ae. trifuliari) dürfte durch trifte < afrz. trufle beeinflufst sein.
5 Die heute übliche Aussprache mit o ist eine 'spelling pronunciation'.
Kleinere Mitteilungen. 173
möchte ich kurz an dtsch. Grauchen, Gräuling 'Esel' erinnern. Übri-
gens hat dunnock im Cant auch die Bedeutung 'cow' aufzuweisen (cf.
Groses Dictionary of the Vulgär Tongue).
5. Ne. flix, flick, fleck
'the für of various quadrupeds' l ist nach dem N. E. D. 'Of unknown
origin: possibly connected with Fly v.' Sollte flix nicht einfach
eine Variante zu flax sein ? Während ae. fleax zu me. ne. flax führte,
entwickelte sich die Nebenform flex zu flix weiter (vgl. me. nekename
> nickname, reek > rick, seek > sick usw.). Diesem Auseinander-
gehen in lautlicher Beziehung entsprach eine Differenzierung der
Bedeutung; während flax seinen ursprünglichen Sinn beibehielt, nahm
flex, flix die Bedeutungen 'Flachshaar* > 'Haar' > 'Pelz' an.
Was das Verhältnis von flix zu flick und fleck betrifft, so sind
die beiden letzten Formen gerade so aus flex, flix hergeleitet wie
dial. kick, keck aus kix. kex (cf. E. St. 30, 381), dial. flock aus phlox,
vulg. chay aus chaise, wie cherry, me. cheri aus cheris, pea aus pease
usw. : zu der fälschlich als Plural gefafsten -s-Form (*flick-s) hat man
einen neuen Singular durch Abwerfen ebendieses -s gebildet.
6. Ne. jowl, jole.
'Jowl, jole, the jaw or cheek ... M. ~E.jolle; all the forms
are corruptions of M. E. chol, chaul, which is a contraction of M. E.
chauel (chavel), the jowl. — A. S. ceafl, the jaw; pl. ceaflas, the jaws,
chaps' (Skeat, Concise Etymol. Diction. s. v.). Erklärt sich der stimm-
hafte konsonantische Anlaut von jowl vielleicht durch Anlehnung
an jaw, me. jowe (< ae. *ceowe -f- frz. joue)? Oder ist die Form
mit j zunächst eingetreten in Verbindungen wie cheek by jowl,'2 wo
sich das ursprüngliche ch von chol vor dem Akzent ( Vernersches
Gesetz!) in den entsprechenden stimmhaften Laut verwandelt hätte?
Dieselbe phonetische Erklärung hat Read, Mod. Lang. Notes XVI 254,
für ajar (< a -f- char) vorgeschlagen ; vgl. auch Sweet H. E. S. § 928.
Das Englische kennt den Übergang von [ts] zu [dz] bez. das
Nebeneinander der beiden Lautgruppen noch in verschiedenen an-
deren (überwiegend einsilbigen) Wörtern.3 Wie weit es sich auch da
im einzelnen Falle um Akzentvarianten handelt, wird kaum festzu-
stellen sein. Bei französischen Lehnwörtern ist überdies zu berück-
sichtigen, dafs sich im Französischen selbst gelegentlich ein Schwan-
ken zwischen ch und g beobachten läfst. Ich habe in die folgende
Liste, die (zumal in ihrem zweiten Teile) keine Vollständigkeit be-
ansprucht, auch einige Fälle zweifelhafter Natur mit aufgenommen.
1 Die Bedeutung wird von Flügel, Muret und Schröer nicht ganz zu-
treffend mit 'Flaum, Milchhaar' angegeben.
2 Die Belege im N. E. D. scheinen darauf hinzudeuten.
3 Über each, which, such vgl. Sweet a. a. 0.
174 Kleinere Mitteilungen.
jace, jass < chace (cf. N. E. D.);
jacolatt, jocklat < chocolate (cf. N. E. D. und D. D.);
jack-tep ? < * cheak teß (Langland) ;
jam 'drücken' neben chamfpj ; jamble neben chamble;
jar 'knarren' seit dem 16. Jahrh. neben charre, char/ej < ae.
ceoiran; ähnlich jarg, jirk neben chark, chirk < cearcian;
jatter, jadder dial. neben chatter;
jaudie neben chawdy (dial.);
Jauncey (Name) < Giauncey (nach Bardsley, Diction. of English
and Welsh Surnames);
jawn < chawn (cf. N. E. D.);
jeer 'verspotten' ? < cheer;
jercock neben chercock (dial.);
jerque 'untersuchen' ? < ital. cercare;
jiee neben chice (dial.);
[JW9 hy joivl (17. und 18. Jh.) < cheek b.j.; wohl Assimilation]
jiggin neben chiggin (dial.) 'a call to horses to go on' (cf. chuck) ;
jink 'Klang, klingen' neben chink;
[jolt-head[edJ neben vereinzeltem cholt- „ , cholter- „ ; cf . N. E. D.]
joop, jupe neben choop (dial.) l ;
jower neben chower 'to grumble' (dial.);
jowl, jole 'the external throat or neck when fat or prominent' etc.
< chowle, me. cholle, choll, ae. ceole {ceolor);
jowter (sowohl sb. 'pedlar' wie vb. 'to grumble') neben chowter
(dial.);
juck neben chuck (falls nicht == jouk < jokier) ;
junk 'Klumpen' neben chunk (dial.).
IL
bodge neben botch;
[crenge, cringe neben crenche, crintch beruht wohl auf ae. *cren-
gan neben *crencan]
fidge neben fitch (dial.);
grudge < grutch (afrz. grouchier);
hodge-podge < hotchpotfch] ;
lunge neben lunch (dial.) 'to cut unevenly*;
me. nage neben nache(-hone) (afrz. nache, nage);
me. nuthage neben nothache;
scorge (Chesh.) < scoreh;
scrange < scranch (dial.) 'to Scratch';
slinge neben slinch (dial.);
sludge neben slutch;
1 Neben [tsup] erscheint auch die Lautform [sup]; geht diese direkt
auf ae. heöpe < heope zurück (vgl. me. shö ? < heö) ?
Kleinere Mitteilungen. 175
smudge neben smutch;
splodge neben splotch;
trudge ? zu frz. trucher.
III.
Challand (Name) ? < Jalland < Julian (so Bardsley, Diction. of
English Surnames);
cliarve (Shetl. und Orkn.) 'grofs' < an. djarfr ; ist die Zwischen-
stufe * jarve in der Adverbialform jarvally 'actively' er-
balten ?
chee (-up) dial. = gee, interj.;
cheege (kent.) < jig, frz. giguer;
Choice (Name) < Joyce ;
CJiubb (Name) < Jubb, Job; —
[bulch < bulge ist vielleicht nicht lautlich zu erklären, vgl. das
N. E. D.]
fletch 'befiedern' ? < fledge ;
munch, dial. maunch, maunge? < frz. manger.
7. Ne. raddle 'Hürde; Zaunstecken'.
'raddle Obs. exe. dial. Also 6 radel ... 8 roddle, 9 ruddle
[a. AF. reidele (Wright Vocab. 168), OF. reddalle, ridelle, rudelle
(14th c. in Du Cange) a stout stick or pole, the rail of a cart (so
mod. F. ridelle), of obscure origin]' New English Dictionary s. v. Am
einfachsten erklärt sich das Wort, dessen Hauptbedeutung 'a wattle
or hurdle made of rods' ist,1 und das erst im 16. Jahrh. aufzutauchen
scheint, doch wohl aus einer Nebenform von hurdle — herdel, har-
del — , in der das r umgesprungen war; aus *hredel resp. *hradel
mufste natürlich sofort redel, radel mit stimmhaftem Anlaut werden.2
Jedenfalls dürfte an urverwandtschaftlichem Zusammenhang mit lat.
crates, gr. xuoralog usw. nicht zu zweifeln sein. — Ob nicht auch
agfrz. reidele, afrz. reddalle etc. mit me. hirdel, herdel (> *ridel, * redel)
in Verbindung zu bringen sind ? 3
8. Ne. dial. seither s 'Schere'.
Das Wort scissors erscheint in den englischen und irischen
Dialekten vielfach in der Gestalt scithers [si-d8(r)z], also mit dem
Lautübergang [z] < [3]. Dieser Wandel, den das D. D. unerörtert
1 Die Bedeutungen 'Zaunstecken, Querholz' möchte ich für sekundär
halten.
2 Die Metathese des r könnte mit unter dem Einflüsse des sinnver-
wandten wreath(e) erfolgt sein.
3 Ich sehe nachträgüch, dafs der Grundgedanke der obigen Erklärung
schon von anderer Seite (Ogilvie, Cent. Dict.) ausgesprochen worden ist,
und bin um so mehr erstaunt, ihn im N. E. D. nicht erwähnt zu linden.
176 Kleinere Mitteilungen.
läfet, dürfte kaum phonetisch zu erklären sein; vermutlich liegt An-
lehnung an das sinnverwandte heimische scytfie vor.
9. Ne. skedaddle 'ausreifsen'
möchte ich als 'Streckform' von dial. scaddle 'to run off in a fright'
auffassen; ähnlich wird in dem viel umstrittenen bambooxle eine
Streckbildung zu booxle zu erblicken sein. — Hoffentlich regt der
interessante Aufsatz H. Schroeders über 'Streckformen' im Deutschen
(P. B. B. 29) bald einen Anglisten dazu an, der fraglichen Erschei-
nung im Englischen nachzugehen. Namentlich aus den Dialekten
würde mancherlei beizubringen sein.
10. Ne. dial. yeild, yeld, yell 'unfruchtbar'.
Schröer stellt das Wort mit einem Fragezeichen zu dial. geld
(< an. geldr 'barren'). Aber kann ein Zweifel bestehen, dafs yefijld
mit dem zweimal belegten ae. gelde 'effeta' (Wr. W. 226, 22, 394, 26;
lautlich = an. geldr) identisch ist?
Halle a.S. Otto Ritter.
Byrons Gedichte To Mr. Murray
(Ausg. von Coleridge, VH 56, 76):
'Strahan, Tonson, Lintot of the times,
Patron and publisher of rhymes,
For thee the bard up Pindus climbs,
My Murray,' etc.;
'For Orford and for Waldegrave
You give much more than me you gave;
Which iß not fairly to behave,
My Murray I' etc.
schliefsen sich in Strophen- und Refrainbildung mit harmloser Parodie
an Cowpers Gedicht To Mary an:
'The twentieth year is well-nigh past,
Since first our sky was overcast;
Ah, would that this might be the last!
My Maryl' etc.
Halle a. S. Otto Ritter.
Eine Shakespearesche Redewendung bei Annette von Droste-
Hülshoff.
In Annettes Schilderungen : 'Bei uns zu Lande auf dem Lande'
(sämtliche Werke herausgeg. von Ed. Arens; Leipzig, Max Hesse,
5. Bd., S. 77) lesen wir: 'Diese junge Rheinländerin stiftet überhaupt
einen greulichen Brand im Schlosse an; die westfälischen Herzen
seufzen ihretwegen wie Öfen.' Es scheint, als ob der Heraus-
geber die auffallende Wendung, zu der er nichts bemerkt, für West-
Kleinere Mitteilungen. 177
falen eigentümlich gehalten hat. Der Dichterin schwebte aber un-
zweifelhaft die Stelle Shakespeares As You Like It II, 7, 139 ff. vor:
All the world's a stage,
And all the men and women merely players:
They have their exits and their entrances;
And one man in his time plays many parts,
His acts being seven ages. At first the infant,
Mewling and puking in the nurse's arms.
And then the whining school-boy, with his satchel
And shining morning face, creeping like snail
Unwillingly to school. And then the lover,
Sighing like furnace, with a woeful ballad
Made to his mistress' eyebrow.
To sigh, seufzen soll hier den langgezogenen Ton bezeichnen, den
grüne Scheiter im glühenden Ofen von sich geben. Dafür gebraucht
man aber im Deutschen 'singen'. Vgl. M. Heynes Artikel im Deut-
schen Wörterbuch, Bd. 10, sp. 1084.
Northeim. R. Sprenger.
Kentisch hionne: Hirnhaut.
Aethelberhts Gesetz 36 lautet in der einzigen Hs., dem Codex
Roffensis um 1120, und in allen Drucken: Gif sio uterre hion ge-
brocen worctep, X scillingum gebete; gif butu sien, XX scillingum ge-
bete. Der gelehrte und geistvolle Price, der um 1830 das Beste an
der jetzt B. Thorpe zugeschriebenen Ausgabe getan hat, vergleicht
dazu aus nordischem Rechte Stellen, in denen hinna, in ganz ähn-
lichem Zusammenhang der Gliederverwundungen, gebüfst wird. Un-
glücklicherweise mischte er (h)innod und eine Stelle Aelfreds über den
äufseren und beide Schädelknochen mit hinein. Da nun J. Grimm *
die Verwandtschaft mit dem nordischen Worte ablehnte, blieb sie
unbeachtet; als 'Kopfknochen' ward hion zweifelnd in den Wörter-
büchern erklärt, und ich wagte nur 'Hirn..' zu übersetzen, teilweise
auch veranlafst durch die Wahrscheinlichkeit, dafs diese Tafel der
Gliederbufsen, die mit dem Kopfhaar beginnt und bei den Fufszehen
endet, hinter den Knochen, wohl des Schädels, vom Hirn sprechen werde.
Mit der Annahme eines leichtesten Schreibfehlers kann geholfen
werden : man lese hion, die normale Abkürzung für hionne, wie denn
poh unzählige Male für ponne steht, auch im Codex Roffensis.2 Jene
Abkürzung ward öfter von den Schreibern übersehen; daher steht
in einigen Hss. viermal pon, 3 wo originalere Texte ponne zeigen.
Diesem Übersehen sind die zweimaligen hi statt hine im Codex Rof-
fensis Wihtrsed 27 zuzuschreiben.
Während im Westsächsischen das schwache fem. hinne lauten
würde, fällt dialektisch der a-Umlaut zu hionne nicht auf ; vgl. ionna
innen, ionnad Eingeweide, geonact garrit, siondan sind.4
1 Kleine. Sehr. V, 318. 2 Wif 3. 7. 3 Mein Wörterbuch zu Oesetxen
d. Agsa. 4 Sievers § 160, 3, S. 257, 14; Sweet Oldest Engl, texts p. 507 f.
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 12
178 Kleinere Mitteilungen.
Sagen wir heute von der Haut, sie werde zerrissen oder ge-
spalten, so kennt Aelfred 70 den Fall gif sio hyd sie tobrocen; des
'Brechens' wegen braucht man also nicht an einen Knochen zu den-
ken. — Da Auge, Hand und Fufs nur 50 Schilling im Kenterrecht
kosten, erscheint jene Bufse für heilbare Wunde, auch wenn diese
den Schädel spaltete, hoch genug, entspricht auch ungefähr ver-
wandten Rechten.
Die 'äufsere Hirnhaut' ist die dura rnater; berührt die Wunde
beide Hirnhäute, so hat sie jene durchdrungen und trifft die pia rnater.
Das friesische Recht nennt jene kann, diese helibrede, '' membrana,
qua cerebrum continetur. Nordisch wird hinna:- dura rnater erklärt.
Die mittlere, Spinnwebenhaut des Hirns, scheint den Alten unbekannt.
Berlin. F. Liebermann.
Bemerkungen zum Beowulf.
6 ff. syddan cerest weard | feasceaft funden; (or,) he ßces frofre
gebad, \ weox under wolcnum, \ weordmyndum pah usw. Der Ge-
danke ist sehr ähnlich dem im Eingang des Ludwigsliedes ausge-
sprochenen: kind uuarth her faterlos; des uuarth imo sdr buoz, I
holöda inan truhthi, magaczogo uuarth her sin ; gab er imo dugidi usw.
In der verwandten Beowulfstelle, V. 16 f.: htm ßces liffrea, | wul-
dres waldend, woroldare forgeaf fasse ich (im Gegensatz zu
Earle, Trautmann, Schücking) him gleichfalls als Singular: als Er-
satz dafür (Earle: 'in consideration thereof), d. h. für die schlimme,
herrscherlose Zeit verleiht Gott dem Königssprofs Ruhm (es folgt
eine Periode des Glanzes). Dem Dichter ist es ganz gewifs nicht so-
wohl um das Volk der Dänen als um das Herrschergeschlecht zu tun.
120. Die Gründe gegen wiht unhcelo und für wiht unfalo
brauchen nicht wiederholt zu werden. Doch sei die Frage gestattet,
ob nicht unhcelo schliefslich doch das richtige sein könne? Wäre es
nicht möglich, dafs dieser (einzigartige) Ausdruck für den teuflischen
Unhold als Gegensatz zu einem hcelubearn ('Crist' 586, 754) geprägt
wurde?
183 ff. wa bid ßcem de sceal | ßurh slidne nid: saivle bescufan
in fyres fceßm. Die Bedeutung des verschieden aufgefafsten ßurh
slidne nid ist meines Erachtens verkannt worden. Allerdings könnte
man daran denken, es 'durch verderbliche Schlechtigkeit' zu über-
setzen, aber ein solcher indirekter Vorwurf gegen die Dänen wäre
unangebracht, da dieselben eher wegen ihrer Unwissenheit bemitleidet
werden (V. 178 ff.). Ich verstehe nid als 'tribulatio, afflictatio' (Grein),
wie in V. 423, 2404 (bealonid), 3 und ßurh als Bezeichnung der Art
und Weise (oder der begleitenden Umstände), s. B.-T. s. v. ßurh,
A HI, 6, 7; vgl. ßurh egsan 276, ßurh ßearlie ßrea Jul. 678; /. Germ.
Phil. 4. 104. Also: 'in furchtbar unheilvoller Weise'.
1 Richthof en, Altfries. Wb. s. v. a Fritzner, Ordbog s. v.
3 So vielleicht auch in Finnesb. 10: disne folces nid fremman.
Kleinere Mitteilungen. 179
484 f. donne was ßeos medoheal on morgentid \ drihtsele dreor-
fah, ßonne dceg lixte. Es scheint mir nicht ganz richtig, wenn L. L.
Schücking in seiner gründlichen Abhandlung über 'Die Grundzüge
der Satzverknüpfung im Beowulf (1904) S. 122 meint, dafs 'der
temporale Nebensatz die nähere Bestimmung zu dem Adverb [donne]
gibt'. Vielmehr wird ponne dceg lixte als nähere Bestimmung
(ausführende Variation) enger zu on morgentid gehören; vgl. Epist.
Alex. 714: da on morgne, mid py hit dagode (u. Mod. Lang. Notes
18. 246). Ähnlich ist die Funktion der durch die Konjunktionen
ßonne, ßcer eingeleiteten Sätze z. B. in sum in mcedle mceg modsnot-
tera folcrcedenne ford~ gehycgan, \ ßcer witena biß worn cetsomne
Crceft. 41; sunt bid wiges heard ... ßcer bord stunad ib. 39; se de
ivorna fela ... guda gedigde ... ßonne hnitan federn Beow. 2542.
572 f. Wyrd oft nered \ unfeegne eorl, ßonne his eilen deah.
Schückings Versuch (a. a. O. S. 121) einer neuen Erklärung von ßonne
his eilen deah: 'dann hält seine Kraft noch aus' ist entschieden ab-
zulehnen mit Rücksicht auf 1) die Bedeutung von dugan, 2) das
analoge gif his eilen deag Rats. 73. 9 (schon von Schücking zitiert)
und Andr. 460, vgl. Rats. 62. 7, und besonders 3) die fast sprich-
wörtlich ausgeprägte Idee der Dualität von Geschick (Gott) und
eigener Kraft. Vgl. Beow. 670, 1056 f., 1270 ff., 1552 ff.; Andr.
459 f.: ßcet ncefre forlceted lifgende Ood | eorl on eordan, gif his eilen
deah (allein schon beweiskräftig); ferner z. B. Laxdsela Saga, c. 15:
ok med ßvi at menn vdru hraustir ok ßeim vard lengra lifs audit, ßä
komask ßeir yfir äna ... — Weitere Parallelen, u. a. aus Chaucer,
bei Cook, Mod. Lang. Notes 8. 58; Gummere, Oermanic Origins 236 f.
'God helps those that help themselves'. x Vgl. Grimm, D. MA III 5.
982 ff. Die folgende Auffassung, welche die Emendationen von
Sievers, Rieger (Zupitza, Trautmann) berücksichtigt, sei der Erwägung
empfohlen: sißdan ceßelingas eorles creefte j ofer heanne hrof hand
seeawedon, | feondes fingras (foran ceghwylc wees | stidra ncegla style
gelicost), \ heeßenes hondsperu hilderinces | eglu, unheoru.
1319 f. freegn gif him wäre \ cefter neodladu niht geteese. Es
liegt nahe, neodladu nicht nur mit freondlapu 1192, sondern auch
mit worldladu 'Crist' 664, Andr. 635 zusammenzustellen. Nach Ana-
logie der Bedeutung von wordladu 'sermocinatio, loquela' könnte man
vermuten, dafs freondlapu 'Freundlichkeit' und neodladu 'Wunsch,
Verlangen' bezeichne (zur Etymologie von ladu vgl. Meringer, Ind.
Forsch. 16. 111 ff.? Uhlenbeck, P. u. B. Beitr. 30. 298). Es wäre
jedenfalls ein Vorteil, wenn von der Bedeutung 'Einladung' abge-
1 Auch no peet yäe byfi | to befleonne 1002 erweckt den Anschein einer
— auf einen bestimmten Fall bezogenen — sprichwörtlichen Redensart:
'niemand kann dem Schicksal entrinnen.' Vgl. etwa Atlamal 48. 3: skg-
pum vißr manngi; Vatnsdaela Saga, passim; Volsunga Saga cap. 30, 36;
R. M. Meyer, Altgerm. Poesie 45ti. (Die vorgeschlagene Einschaltung von
deaä oder fyll Beow. 1003 wäre keine Verbesserung.)
12*
180 Kleinere Mitteilungen.
sehen werden könnte, cefter neodlaäum (Ettmüller, Wülker, Holt-
hausen, oder neodlade [Sweet]; neodladu nach Sievers § 253, a. 2
[Wyatt] wäre bedenklich) 'nach seinem (Hrodgars) Wunsche' würde
vortrefflich passen. Cosijns neadläctum (nydlääum) liegt etwas abseits.
1337 ff. Der neuerlichen Erklärung dieser Stelle durch Schücking
(S. 5 f.), wonach nu in V. 1338 (als Konjunktion) mit nu in V. 1343
(als Adverb) korrespondierte und nu seo hand liged, | se pe eow wel-
hwylcra wilna dohte sich auf Beowulf bezöge, stehen erhebliche
Schwierigkeiten entgegen. 'Nun fehlte die Hand' ist eine mehr als
gewagte Übersetzung. Nicht nur ist das Präsens (im Hauptsatz) statt
des Präteritums bedenklich, sondern licgan = 'fehlen', d. h. 'nicht
dasein', mit Bezug auf einen konkreten Gegenstand, ist geradezu un-
glaublich; kann man auch z. B. in V. 1041 f. (ncefre on ore leeg \
widcupes wig) das Verbum mit 'faiP übersetzen (Earle, Garnett, Wyatt,
L. Hall, Cl. Hall, Tinker, Child), so doch nur im Sinne von 'sich
nicht bewähren'. Überdies, auf wen sollte sich eow beziehen? Auf
Beowulf s Mannen? Dann fehlte ein vernünftiger Zusammenhang
zwischen dem Relativsatz und seinem Hauptsatz. Oder auf die
Dänen (von denen einige sich in der Umgebung des Königs befunden
haben müssen)? Aber Hrodgars Ansprache ist unzweideutig an Beo-
wulf (und sein Gefolge) gerichtet. Die ungezwungene Interpretation
ist: 'nun liegt die [freigebige] Hand darnieder, die euch früher Gaben
austeilte'1 (s. Grein s. v. dugan ad fin.!). iEschere, der hochange-
sehene Hofmann — dessen Tugenden nach seinem Tode in ein über-
trieben glänzendes Licht gestellt werden — , mag in der Tat Ge-
schenke gespendet haben. Bezieht man sincgyfa auf Hrodgar, so
schafft man eine neue Schwierigkeit, wie man aus Trautmanns künst-
licher Deutung ersieht.
1732 f. (geded him swa gewealdene worolde dalas, \ side rice,)
pcet he his selfa ne mceg | [for] his unsnyttrum ende gepencean be-
deutet schwerlich: 'dafs er selbst ... seines Reiches Grenze nicht er-
denken kann' (Heyne, Socin, Simons, L. Hall, Cl. Hall, Child) oder
'that he himself may not for his folly think of his end' (Kemble,
Thorpe, Grein, Arnold, Tinker), sondern 'dafs er sich das [zeitliche]
Ende desselben [des Reiches, seiner Herrschaft] nicht vorstellen
kann' (so wahrscheinlich Garnett, Wyatt, Earle). Die erstgenannte
Übersetzung würde eine unvernünftige Übertreibung in sich schlie-
fsen, die zweite würde nicht genau genug in den Zusammenhang
passen. Das grofse Reich wird dem Manne so vollständig in die
Hand gegeben, dafs er nicht daran denkt, dafs es jemals wieder aus
seinem Besitz in den seines Erben übergehen werde (vgl. V. 1750 f.,
1755 fehtt oper to). Zu dem Gebrauch von gepencean läfst sich ge-
hycgan stellen in Gudl. 17 f.: forpon se mon ne pearf \ to pisse wo-
1 Man wird an die sinnige Legende von der freigebigen Hand Oswalds
erinnert {'ne forealdige peos hond afre' Bed. 166. 10; H. E. III c. 6).
Kleinere Mitteilungen. 181
rulde wyrpe gehycgan. (Vgl. auch Heliand 261: endi ni cumid, \
tlies uuiden rikies giuuand.)
Trautmanns Konjektur selßa ist übrigens vielleicht nicht ganz
neu; schon bei Ettmüller (1840) heifst es: 'dafs er seiner Saide selber
nicht kann in seiner Unklugheit ein Ende denken'.
2289 f. he to forSt gestop \ dyrnan crcefte dracan heafde neah.
Die auf Heyne zurückgehende Übersetzung 'er war zu sehr vorwärts
geschritten' (so Socin, Wyatt, Simons, L. Hall, Cl. Hall, Tinker,
Child; freilich auch schon Thorkelin: nimis ultra perrexit) sollte nicht
immer von neuem wiederholt werden, to zeigt ohne Zweifel die Rich-
tung an, genau so wie z. B. in geong sona to | setles neosan Beow.
1785; ßat se [sc. darod] to ford gewat | ßurh done cepelan JEßelredes
ßegen Maid. 150. Also mit Grein: 'der fort hinzu ging', oder ge-
nauer: 'er war vorwärts darauf zu gegangen'. Zur Nebeneinander-
stellung der zwei Adverbien vgl. z. B. auch Beow. 2364: ße him
foran ongean \ linde bceron.
2453. ßonne se an hafact \ ßurh deades nyd dceda gefondad. Die
handschriftliche Lesart scheint weniger bedenklich als die vorgeschla-
genen Verbesserungen, hafad: . . . dceda gefondad ist = 'hat die Be-
kanntschaft [schlimmer] Taten (vgl. Bugge, Tidsk. f. Phil. 8. 67) ge-
macht', oder 'hat seh. T. ausgekostet' (nicht ganz genau: 'hath by dint
of death learned the lesson of his deeds' Child), und nyd pafst nicht
übel zu dead, vgl. neidfaru, nydgedal.
2499 ff. ßenden ßis sweordßoladJ, \ ßcet mec cer ond sid oft gelceste, j
syddan ic for dugedum Dceghrefne weard | to handbonan, Huga cem-
pan. Wie früher — im Gegensatz zu den anderen Herausgebern — •
Grein, Ettmüller und Arnold, so will jetzt Schücking (S. 119) einen
neuen Hauptsatz mit syddan anfangen. Die Folge dieser Inter-
punktion ist, dafs die Dseghrefn-Episode, aus dem natürlichen Zu-
sammenhange gerissen, gänzlich in der Luft schwebt. Was hindert
uns denn aber, anzunehmen, dafs das Schwert in enger Beziehung
zu Beowulfs Kampf mit Daeghrefn stehe? Kann nicht Beowulf den
Hugen erst mit blofser Faust erschlagen und ihm dann sein Schwert
abgenommen haben ? — Heynes Vermutung, dafs Hygelac von Dzeg-
hrefns Hand gefallen sei (V. 121 Off., 2 5 03 f.), mag das richtige treffen.
2525 f. Man ergänzt feehdo (Schubert, Barnouw, Trautmann)
oder besser feohte (Bugge, Holthausen, Socin7), was richtig sein kann.
Jedenfalls aber darf man dann weordan nicht als 'sich ereignen' auf-
fassen, sondern, wie aus dem folgenden swa unc wyrd geteod zu ent-
nehmen ist, als 'ausschlagen', 'zu einem Resultat führen' (vgl. 2530 f.,
2535 f., auch 685 ff., 1490 f.), analog dem Gebrauch von weordan in
V. 207 1 : to hwan syddan weard \ hondrees hceleda. Nicht unmöglich
wäre übrigens furdor (wie in der bekannten Parallelstelle Maid. 247).
Finnesburg 8b: nu scyneCt ßes mona. Hierzu bemerkt Boer
(Z.f.d.A. 47. 143): 'ßes ist zu tilgen'. Auch Trautmann und Holt-
182 "Kleinere Mitteilungen.
hausen verwerfen pes (und schreiben : seyned per möna). Aber pes
klingt echt und ist durchaus idiomatisch. Vgl. deos lyft Rats. 58. 1 ;
8. 4; Exod. 430; Mos eorete Met. 20. 118; pes middangeard Rats.
67. 1, inpeosne middangeard (= in mundum) Bed. 212. 19, pas miclan
gemetu middangeardes 'Crist' 826; on piosne wind (= in uentum)
Bed. 440. 24; pes lytla wyrm Rats. 41. 76; peos beorhte sunne Gen.
811; piss swearte dust (Par.) Ps. 77. 27 usw. S. auch Anglia 27.
276 und die dort angeführte Literatur.
The University of Minnesota. Fr. Klaeber.
Das Mätzn ersehe Wörterbuch.
Nach dem im vorigen Jahre erfolgten Tode Hugo Bielings,
des langjährigen Mitarbeiters Eduard Mätzners und Fortsetzers
seines letzten grofsen Lebenswerkes, ist die Beendigung des im Ver-
lage der Weidmannschen Buchhandlung in Berlin erscheinenden
mittelenglischen Wörterbuches ( Altenglische Sprachproben nebst einem
Wörterbuch' vom Unterzeichneten übernommen worden.
Die erste Lieferung erschien im Jahre 1872, die letzte, bis 'mis-
bileven' reichend, 1900, der Druck steht bei 'moine', und Material ist
noch für den Rest von M vorhanden, der 1906 als Abschlufs des
dritten Bandes erscheinen wird. Es gilt jetzt, das Wörterbuch mit
Hilfe einer gröfseren Organisation und Arbeitsteilung zu einem raschen
Ende zu führen. Zu diesem Zwecke soll nicht mehr, wie bisher ge-
schehen, die me. Literatur zurzeit nur auf einen Buchstaben hin
durchgesehen und ausgezogen, es soll vielmehr das Material für N
bis Z auf einmal planmäfsig gesammelt werden.
Es ergeht nun an die deutschen Anglisten, insbesondere an alle
diejenigen, die ein Werk der me. Literatur herausgegeben oder be-
arbeitet haben, der Ruf, sich durch Übernahme eines oder mehrerer
Denkmäler an der Sammlung der Belege nach gewissen jetzt im Druck
vorliegenden Grundsätzen zu beteiligen oder einzelne das Wörterbuch
fördernde Beiträge zu liefern und mit dieser praktischen Betätigung
wissenschaftlichen Interesses eine Ehrenpflicht der anglistischen, ja
der deutschen Wissenschaft überhaupt erfüllen zu helfen.
Freundliche Zusagen werden erbeten an den Herausgeber
Privatdozent Dr. Heinrich Spies, Berlin W. 57, Kur-
fürstenstrasse 4.
Mundartgrenz en.
In seinem Aufsatz 'Gibt es Mundartgrenzen' hat Gauchat hier
1903 einen Überblick über die Fortschritte der Mundartengeographie
auf romanischem wie germanischem Gebiete gegeben, der mit seinen
eigenen Ergebnissen als Erforscher des französischen Sprachgebietes
der Schweiz abschliefst. Es ist eine Grundfrage der Sprach- und Kul-
turgeschichte, deren wechselvolle Beantwortung im Laufe der letzten
zwei Jahrzehnte er uns darbietet. Die sprachliche Zerlegung eines
Kleinere Mitteilungen. 188
Volksganzen in mehr oder weniger selbständige Teile, die bis zur
Abzweigung neuen Volkstums vom alten geben kann, ist identisch
mit dem Mundartenleben; die Aufdeckung des Verhältnisses zwischen
Sprache und Volkstum in ihrem Werden ist Sache der Mundarten-
geographie. Daneben kommt dieser noch eine besondere Bedeutung
für unsere sprachwissenschaftliche Erkenntnis zu. Mundartgrenzen
sind der räumliche Ausdruck innerer Vorgänge und Zustände; sie
stehen in gesetzmäfsigem Zusammenhange mit letzteren und müssen
uns Aufschlüsse geben über deren Wesen und zwar solche, die wir auf
keinem anderen Wege erhalten können. Gerade hier hat Gauchat
meines Erachtens nicht die volle Summe des Erarbeiteten gezogen;
einige Ergänzungen mögen mir gestattet sein.
Aus Gauchats Darstellung ist zu ersehen, dafs das Wissen über
die Mundartgrenzen hüben wie drüben, bei Germanisten wie bei
Romanisten, dieselbe Entwickelung durchlaufen hat, in der wir drei
Stufen unterscheiden können. Bei ihrer Durchmusterung empfiehlt
es sich, die tatsächlichen Feststellungen von den darauf gegründeten
Ansichten zu sondern. Die ursprünglichste, von jeher bekannte Tat-
sache ist die, dafs es Lautgrenzen gibt; d. h. dafs in zwei benach-
barten Orten nicht nur einzelne Wörter in verschiedener Lautgestalt
erscheinen können, sondern dafs sämtliche oder die meisten Wörter,
die einen bestimmten Laut enthalten, im Nachbarort diesen Laut
durch einen anderen ersetzen. Die Spottnamen und Spottverse, die
zur Kennzeichnung sprachlicher Verschiedenheit unter dem Landvolk
üblich sind, beziehen sich fast durchweg auf Lautgrenzen. Solche
Lautgrenzen wurden denn auch von den ersten Grenzforschern fest-
gestellt, einzeln und mit anderen zusammen, Punkte und Punktreihen,
d. h. Grenzen, die mehrere Orte von ihren Nachbarn trennen. Aber
das waren nur sehr vereinzelte, fast zufällige Funde; der weite dunkle
Raum blieb der Theorie offen. Das Nächstliegende war, die Laut-
grenzen in Gedanken durch das ganze Sprachgebiet hindurchzuziehen
und zwar so, dafs es in gröfsere Teile zerlegt wird, die sich scharf
voneinander abgrenzen. Die so erhaltenen Mundartgebiete entsprechen
dem Stamme, der sie bewohnt; es ist der Bereich der Stammesmund-
art, die der Ausflufs der leiblich -seelischen Sonderart sämtlicher
Sprachgenossen ist. — In dieser Ursacherklärung war ein Denkfehler.
Nach ihr mufsten die sprachlichen Merkmale sich auf das Stammes-
gebiet beschränken, die Sprachgrenzen sich rings um dasselbe zu-
sammenschliefsen. Für scharf umgrenzte Gebiete, die durch sich
schneidende Sprachgrenzen entstehen, wie sie Ascoli aufstellen wollte,
war kein Entstehungsgrund zu finden. Verhängnisvoller für sie war
aber die Betonung einer zweiten Tatsache, der, dafs allmähliche Über-
gänge neben den schroffen vorhanden sind, dafs Laute von Ort zu
Ort sich allmählich wandeln, dafs einzelne Wörter von Ort zu Ort
in neuen Lauten erscheinen. Und wie man früher die schroffen
Übergänge fälschlich verallgemeinert hatte, so geschah es jetzt mit
184 Kleinere Mitteilungen.
den allmählichen. Die Wellentheorie mufste die Stammestheorie ab-
lösen, die völlige Leugnung von Mundartgebieten deren gesetzraäfsige
Aufstellung. — Nun kam die Zeit der planmäfsigen Erhebungen.
Statt nach der Bestätigung vorgefafster Meinungen sich umzusehen
und einzelne Funde rasch zu verallgemeinern, unternahmen es Ger-
manisten, ein gröfseres Sprachgebiet auf das Verhalten in bezug auf
eine möglichst grofse Reihe von Merkmalen hin zu prüfen. Fischers
Schwäbischer Atlas erschien. Er brachte die Bestätigung der Wellen-
theorie. Äufserste Regellosigkeit der Grenzlinien; keine irgendwie
erkennbare Grundlage für dieselben. In dem Gewirr einige lockere
Anhäufungen, 'Bündel, Linien ungefähr gleicher Gesamttendenz'; doch
auch Lautgrenzen stücke, zum Teil mit anderen zusammenfallend. In
einzelnen werden physikalische, in Verbindung mit diesen auch poli-
tische und konfessionelle Grenzen erkannt, doch nur als äufserste Aus-
nahmen. Der Verkehr entscheidet; seine Grenzen sind von den ver-
schiedenartigsten Umständen bedingt, die sich unserer Wahrnehmung
entziehen. — Mit diesem Ergebnis waren viele unzufrieden. Bohnen-
berger unternahm es, einzelne dieser Fischerschen Grenzen nachzu-
prüfen und ihr Verhalten zu politischen und physikalischen Schranken
zu untersuchen; doch entfernte er sich nicht weit genug vom Fischer-
schen Verfahren, um grundsätzlich Neues zu gewinnen. Ich selbst
schlug den Weg der eingehenden, mündlichen Durchforschung meiner
Heimatgegend ein, eines beschränkten Gebietes, 60 Quadratmeilen,
doch überreich an Mannigfaltigkeit der Sprache, der Natur und der
Geschichte; und mit seinen 200 Ortschaften an sich schon grofs
genug, um allgemeine Ergebnisse liefern zu können. Meine Baar-
mundartenkarte zeigte folgendes:
1) Lautgrenzen Regel, Einzelwortgrenzen Ausnahme.
2) Zerspalten von Lautgrenzen höherer Ordnung in solche nie-
derer Ordnung häufig.
3) Zerfliefsen von Lautgrenzen (Ablösung von schroffen durch
unmerkliche Übergänge) selten.
4) Vereinigung der Lautgrenzen zu Bündeln (d. h. Zusammenfall,
nicht Annäherung) häufig. (Gauchat hat sich durch das Wort 'Bün-
del', das Fischer für vereinzelte, lockere Anhäufung braucht, zu dem
Irrtum verleiten lassen, ihm die grundsätzliche Aufstellung von
Grenzbündeln zuzuschreiben.)
5) Zusammenfall der Sprachgrenzen (sei es Laut, Wortschatz,
Beugung oder Fügung) mit politischen Grenzen Regel, mit nur phy-
sikalischen Ausnahme.
6) Entschiedenes Vorherrschen der neupolitischen Schranken
(hier letzte drei Jahrhunderte).
Das geographische Gesamtbild ist nicht mehr das der regellos
wirbelnden Wellen; es zeigt vielmehr eine täuschende Ähnlichkeit
mit durch Dürre zerrissenem Erdreich. Durch tiefe Furchen sind
manche Gebiete allseitig voneinander getrennt; wir haben fertige
Kleinere Mitteilungen. 185
Sprachlandschaften, aber auch unfertige; solche, die nach einer Seite
hin allzu schwach abgegrenzt sind, um dem Nachbar gegenüber einen
gewissen Grad von Selbständigkeit zu behaupten. — Ebenso gründ-
lich hat sich das kulturgeschichtliche Bild verändert. Die Sprache
führt kein Sonderleben mehr, frei von allem, oder allem feststellbaren,
Einflufs der Kulturumgebung; wir sehen sie vielmehr eng an die
politischen Verbände gefesselt und ihrem Wechsel unterworfen, dem
sie mehr oder weniger zögernd, aber sicher folgt.
Alle Einzeluntersuchungen, die inzwischen über das geographische
und geschichtliche Verhalten von Mundartgrenzen ausgeführt wurden,
stimmen in ihrem sachlichen Ergebnis mit meinem Befund überein,
treten zum mindesten nicht in Gegensatz zu demselben, und bilden
damit die willkommene Bestätigung meiner politischen Theorie. So
die von Wrede, der sich ganz dazu bekennt; so Bohnenbergers k-ch-
Grenze, obwohl ihm selbst diese Tatsache entging; so auch, was
Gauchat uns in seinem Aufsatz mitteilt. Es sind auch hier wieder
ausschliefslich jungpolitische Grenzen, solche, die in den letzten drei
bis vier Jahrhunderten bestanden, von denen in weitem Umfange der
Zusammenfall mit Mundartgrenzen nachzuweisen ist. Physikalische
sind wohl zu beobachten, altpolitische zu vermuten, aber nirgend
ohne die Begleitung jungpolitischer Grenzen. Aber auch Gauchat
zieht die naheliegende Folgerung nicht. Der dunkle Begriff der
Stammverwandtschaft drängt sich in seine Erwägungen und trübt
sie. Auch Bremer hält ja noch an dem Worte 'Stamm' fest; doch
hat er es inzwischen aufs deutlichste als politischen Begriff gefafst.
Und ich glaube auch einen Weg zu sehen, auf dem dieses Festhalten
an der Bedeutung mittelalterlicher Verbände mit der klar erwiesenen
Wirkung der neuzeitlichen sich vereinbaren läfst. Ich denke dabei
nicht an die sogenannten konstituierenden Faktoren, Druck, Dauer
und Ton, über deren geographische Grenzen man noch so gut wie
nichts weifs, und die man geneigt ist, für unverrückbarer zu halten
als Laute und Formen. Das Verhältnis von Nord- und Südschwä-
bisch legt mir die Vermutung nahe, dafs auch diese Seiten der
Sprache raschen Wandels fähig sind, nicht in ihrem ganzen Zu-
sammenspiel, so wenig wie der gesamte Lautschatz auf einmal, son-
dern in ihren ablösbaren Teilen. Die politischen Grenzverschiebungen,
die von so sicherer Wirkung auf die Sprachverbände sind, tragen
die Laute nicht allzu weit über ihre alten Grenzen hinaus. Leichte
politische Schranken sind fähig, sie festzuhalten. Dem raschen, aber
kurzen Sprung vorwärts folgt eine lange Ruhepause. Das ist wohl
die Regel. Die Art der geschichtlichen Vorgänge ist für die Weite
des Sprunges und die Dauer der Pausen freilich entscheidend. Wäre
unser Volk nach dem Verschwinden der Stammesherzogtümer in
ebenso grofse, innerlich gleichartige Stücke zerlegt worden von völlig
neuer Umrahmung, dann hätten die heutigen Mundartgrenzen nichts
mehr zu tun mit den alten. So wie die Dinge liegen, dürften die gro-
186 Kleinere Mitteilungen.
fsen mittelalterlichen Sprach verbände gewissermafsen noch den Unter-
grund bilden für die heutigen : in den alten Grenzen nur da, wo diese
in neuen fortlebten, im übrigen aber in einem Gewirr von neuen,
nicht allzu weit von den alten, die der Sturm zerzauste.
Zu dem geographischen Gesamtbilde der Mundartgrenzen, als
Rissen in dürrem Erdreich, wie ich es oben gezeichnet habe, ist noch
ein Zusatz zu machen. Die zerf liefsenden Lautgrenzen sind nicht
darin ausgedrückt; nicht blofs ihrer geringeren Häufigkeit wegen,
wie die Einzelwortgrenzen, deren Spur im Gesamtbilde verschwindet,
sondern ihrer inneren Verschiedenheit wegen. Wir haben es eben mit
Grenzen für festen und solchen für flüssigen Lautstoff zu tun, wenn
das Bild erlaubt ist. Jene sind spaltbar, diese zerfliefsbar. Jene
umgrenzen abgestorbenen Lautwandel, geschichtlich gebundene Laut-
herrschaft, Massen fertiger Wortformen, diese lebendigen Lautwandel,
freie Lautherrschaft, Teile des Lautsystems. Jene sind die erstarrten
Formen dieser. Jene spalten sich und verwittern durch Abbröcke-
lung von Einzel Wörtern, diese entstehen durch Veränderungen im
Lautsystem. Diese Scheidung von lebendigen und toten Lautgrenzen,
von Lautwandel und Wortverdrängung ist ein weiteres Ergebnis
meiner Baarmundartenkarte ; es ist die notwendige Ergänzung zudem
geographischen und geschichtlichen Bilde und stellt neben dieser die
dritte, innersprachliche Seite der neugewonnenen Anschauung dar.
Die Art der Verbreitung sprachlicher Neuerungen weist auf die
Entstehungsvorgänge zurück. In politischen Verbänden, straffen und
lockeren, vollzieht sich die Übertragung des Neuen von einem Men-
schen zum anderen; daher kann auch die Quelle nur der einzelne sein.
Was bestimmt nun die Richtung, in der dieser tonangebende einzelne
seine Sprache, vor allem seine Sprachlaute verändert? Leichte Ver-
änderungsneigungen bestehen innerhalb der engsten Sprachgemein-
schaft jederzeit nach allen Richtungen hin; sie werden nur durch den
ausgleichenden Zwang des Verbandes im Zaum gehalten. Die Frage
nach der Entstehungsursache im strengen Sinn ist unlösbar. Gleich-
wohl gibt es vorherrschende Veränderungsneigungen, deren Ursache
wir im Lautsystem suchen müssen. Die Diphthongierung vokalischer
Längen, die sich auf dem Gebiete der germanischen Sprachen mit
auffallender Ähnlichkeit an den entlegensten Orten, völlig unabhängig
voneinander, vollzieht, hat Wrede aus den gleichartigen Druckver-
hältnissen zu erklären versucht. Dafs sie sich aber nicht überall
vollzieht, obwohl den ähnlichen Systemen entsprechend auch überall
ähnliche Neigungen vorauszusetzen sind, zeigt deutlich genug, dafs
es sich hier um keinen gesetzmäfsigen Vorgang handelt. Aus dem
System folgt keine Veränderung mit Notwendigkeit. Folgerichtig
wirkende Grundneigungen mögen für den einzelnen, für die Quelle
gelten, für die Gemeinschaft nicht. Das eine nimmt sie an, das an-
dere verwirft sie. Das zeigt deutlich die ungleiche Verbreitung der
Ergebnisse schlaffer Nasenlautgebung in Schwaben. Die einzelnen
Kleinere Mitteilungen. 187
Teile des Systems sind frei veränderlich; sie liegen selbstständig
nebeneinander; sie können sich gegenseitig beeinflussen, aber müssen
es nicht.
Für die Ursache der Veränderungsrichtung gibt es kein Gesetz ;
wohl aber für die mechanische Wirkung des veränderten Teiles im
Lautsystem, zunächst in der Rede des einzelnen. Es ist das, was
man Lautgesetz heifst innerhalb des fertigen Systems und Laut-
wandel im Hinblick auf die Veränderung desselben. Wo keine Ver-
änderung im System die Ursache veränderter Redeteile ist, da liegt
nicht Lautwandel, sondern Wortverdrängung vor. — Neben dieses
mechanische Gesetz der gleichmäfsigen Wirkung des Systems tritt
das politische Gesetz der völligen Sprachgleichheit unter den Gliedern
des engsten politischen Verbandes, der Ortsgemeinde. Die grofse
Tatsache der einheitlichen Ortsmundart, mit der sich keine andere
Spracheinheit an Strenge vergleichen kann, zeigt die Kraft der poli-
tischen Verbände am deutlichsten. Die vom einzelnen ausgehende
Neuerung wird entweder auf die Gesamtheit übertragen oder ganz
abgelehnt, sei es am Ort der Entstehung oder am fremden. Der poli-
tische Zusammenhang, Nachwirkungen eingerechnet, bestimmt die
Richtung, nach welcher die Neuerung 6ich verbreitet, und den Weg,
den sie durchläuft, doch ist die Frage, warum sie im einzelnen Fall
an dieser und nicht an jener Schranke Halt macht, wohl ebenso un-
lösbar wie die nach der besonderen Entstehungsursache.
Die klare Scheidung von Entstehung und Übertragung in der
Geschichte der sprachlichen Neuerungen macht es auch möglich,
Wortformen zu verstehen, die aus keinerlei Lautwandel erklärt wer-
den können. Für die Gesamtmasse der fertigen lautlichen Verände-
rungen ist als Regel zu setzen, dafs sie aus Lautwandel entsprangen,
als Lautwandel auf eine Reihe von Mundarten sich übertrugen, dann
aber auch als fertige Ergebnisse des Lautwandels in Einzelwörtern
(unter Bevorzugung von Lautgruppen: vgl. oben Zerspalten von Laut-
grenzen). Die Übertragung von Einzelwörtern brauchte sich aber
nicht auf diese Nachkommen des Lautwandels zu beschränken, ob-
wohl sie das Massenvorbild unterstützte. Bisweilen mufste es auch
geschehen, dafs der tonangebende einzelne statt eines neuen Lautes
ein lautlich verändertes Einzelwort ohne Lautsippe zur Geltung
brachte. Fast in jeder Mundart gibt es solche Wechselbälge, oft
ganze Reihen solcher, die jeder Bemühung spotten, sie rechtmäfsig
unterzubringen. Es sind die Brüder der Analogiebildungen.
Die Einheit der Ortsmundart erfährt vorübergehende Trübung
durch Neuerungen, die aus ihr selbst oder den Nachbarmundarten
stammen, sich unmerklich, dem Sprechenden unbewufst, in ihrem
Schofs durchsetzen und sie eine Zeitlang in die Sprache des älteren
und des jüngeren Geschlechts scheiden. Sie erfährt gewaltsame Stö-
rung durch Neuerungen, die von oben her aus der Verkehrssprache
auf sie eindringen, die bewufst übernommen werden, sie in verschie-
188 Kleinere Mitteilungen.
dene Stufen der Anpassung zersplittern oder sie vollständig besei-
tigen. Dort spielt der Lautwandel, hier der Lautzwang seine Rolle;
die Wortverdrängung zeigt nur Gradunterschiede. Der erstere Vor-
gang gehört dem natürlichen Leben der Mundarten an; der letztere
ist ihr Zusammenstofs mit der gesteigerten Kultur. Sie verhalten
sich gleichsam zueinander wie Schichtenbildung und Eruption ; wage-
recht und senkrecht wirkende Kräfte sind auch hier im Spiele, wenn
wir die Wirkung von Mundart auf Mundart, die nebeneinander in
derselben Sprachschichte liegen, mit wagerecht, die von Verkehrs-
sprache auf Mundart, die in verschiedenen Schichten übereinander
liegen, mit senkrecht bezeichnen dürfen. Aus der Betrachtung der
natürlichen Lebensvorgänge sind letztere soviel wie möglich aus-
zusondern.
Was Gauchat als der ganze sichere Gewinn der bisherigen
Mundartengeographie erscheint: der häufige Zusammenfall von Laut-
grenzen und die gelegentliche Wirkung politischer Schranken (ganz
unverständlich ist mir, warum er sie auch noch geringen physi-
kalischen zuspricht, obwohl sie nie und nirgends gezeigt worden ist),
ist nur ein bescheidener Teil dessen, was mir schon lange feststeht,
und was er schweigend übergeht Ich hoffe, gezeigt zu haben, dafs
es sich bei diesem Rest um Dinge handelt, die der Mitteilung wert
sind. Ich habe sie hier nur skizzenhaft, vielleicht auch nicht mit der
wünschenswerten Klarheit behandelt. Sie finden sich ausführlich
vorgetragen und auf sachliche Erhebungen gegründet namentlich in
folgenden Arbeiten:
Die Mundarten des oberen Neckar- und Donaulandes. Programm.
1898.
Li her die Notwendigkeit der kartographischen Aufnahme der Mund-
arten {Württemberg. Korrespondenzblatt, 1899).
Sätze über Sprachbewegung {Zeitschrift für hochdeutsche Mundarten,
1900).
Über Mundartengeographie {Alemannüz, 1901).
Verkehrs- und Schriftsprache auf dem Boden der örtlichen Mundart
{Die Neueren Sprachen, 1901).
Konsonantenlängen im Schwäbischen {Die Neueren Sprachen, 1903).
Gauchats Karte, so lehrreich sie ist, erfüllt einige wesentliche
Bedingungen noch nicht, die erforderlich sind zur Gewinnung klaren
und vollen Aufschlusses über die Fragen, die uns hier bewegen.
Zunächst erfahren wir von ihm selbst, dafs nur ein Teil der Grenzen
eingetragen ist; das Hinzutreten der fehlenden wird die besonderen
Züge des Bildes verschärfen. Für das tatsächliche Bild der Zu-
sammenhänge sind ferner aber folgende Dinge unerläfslich : 1) die
Abstufung der Stärke der Lautgrenzen nach Zahl und Häufigkeit
der zugehörigen Wörter, der Ausdruck des numerischen Stärkegrades.
2) Die Berücksichtigung sämtlicher Orte. Solange das nicht ge-
schieht, sind eine Menge Linien rein willkürlich und stören den Aus-
Kleinere Mitteilungen. 189
druck des Gesetzmäfsigen. 3) Die mathematische Behandlung der
Zeichnung, die Punkt 2 zur Voraussetzung hat. Wo ideale Herr-
schaftsgebiete zusammenstofsen, kann die geographische Grenze ver-
nünftigerweise nur durch eine gerade Linie zur Darstellung gebracht
werden und zwar in gleicher Entfernung von den Mittelpunkten.
Beliebig gekrümmte Linien durchschneiden sich blind und lassen
Flächenstücke zwischen sich, die sinnlos sind und das Bild fälschen.
Gesteigerte Klarheit ist auch hier der Lohn der Strenge. Wünschens-
wert ist ferner noch die deutliche Unterscheidung der Grenzen für
lebendigen und für abgestorbenen Lautwandel; denn mit jenen er-
halten wir die Abgrenzung der in der Gegenwart herrschenden Laut-
systeme. Besondere Beachtung verdient auch das Zerfliefsen der
organischen Lautgrenzen (Beispiel: Entnasalierung mit schroffen und
sanften Übergängen) und sein Gegenstück: das Zerbröseln der un-
organischen (Beispiel: Eindringen diphthongierter Formen in geringer
und in Überzahl) ; die verhältnismäfsig seltenen Punkte, an denen in
der Gegenwart fast durchweg Bewegung herrscht.
Stuttgart. C. Haag.
Die Societe des Textes franc;ais modernes,
von der hier CXIII, 154 die Rede war, hat sich endgültig konsti-
tuiert (Mai 1905). Sie zählt vorläufig gegen 150 Mitglieder. An
ihrer Spitze steht ein aus G. Lanson (als Vorsitzendem), F. Brunot,
E. Courbet, H. Chamard, E. Huguet (als Schriftführer) und M. Ro-
ques (als Schatzmeister) gebildeter Vorstand. Im Verwaltungsrat
sind auch Belgien und die Schweiz, sowie Deutschland, Amerika und
Dänemark vertreten. — Statuten und Geschäftsordnung können von
Prof. E. Huguet, 30 rue Guilbert, Caen (Calvados), bezogen werden.
In einer Einleitung dazu entwickelt Lanson in beredten Ausführun-
gen das Arbeitsprogramm der neuen Gesellschaft. Unter den Texten,
die zunächst für die geplanten kritischen Neuausgaben in Aus-
sicht genommen sind, befinden sich die Werke von Heroet, Ron-
sard, Du Bellay, D'Aubignä, Pasquier, D'Urfö, Sorel,
Mairet, B. de St-Pierre, Senancour, Stendhal. Vol-
taires Leitres sur les Anglais werden von einem Bande begleitet
sein, der die polemische Tagesliteratur vereinigt, die sich mit den
Lettres beschäftigte. — Die Veröffentlichungen der neuen Gesellschaft
werden auch bei uns das gröfste Interesse finden, und der niedrige
Jahresbeitrag (10 Frs.) wird ihr hoffentlich zahlreiche Mitglieder
sichern. H. M.
Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Ernst Martin, Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel,
herausg. und erklärt. Zweiter Teil : Kommentar (Germanistische Hand-
bibliothek, begründet von Julius Zacher, IX, 2), C, 630 S. 8.
Martin hat mit diesem zweiten Band seiner Ausgabe das unentbehr-
liche Hilfsbuch für Parzivallektüre und -Studium geschaffen. Lange ver-
laust und gewünscht, kommt uns der Rarzivalkommentar sofort mit einem
Reichtum an Einzelheiten und in einer besonnenen Durcharbeitung, die
Lehr- und Lernzwecke aufs beste fördert. Gewifs, wer beim ersten Lesen
z. B. zu xwivel 1, 1 auf got. tveifls, zu unfruot 5, 15 auf got. frods ('zu
frathjan'), zu videhere, 19, 12 auf ahd. fidula usw. verwiesen sieht, wird der-
gleichen zunächst für überflüssig halten ; aber die praktische Verwendung
des Buches beim Unterricht lehrt dann doch, dafs dem Lernenden auch
solche Elementaria willkommen sind, und es entdeckt sich auch der Nutzen
so mancher anderen Abschweifung. Den vollen Wert des Kommentars
wird überhaupt der praktische Gebrauch immer mehr ins Licht stellen.
Die Wolframliteratur ist durchaus benutzt und an geeignetem Ort
auch im Kommentar zitiert. Es fehlt aber auch nicht die zusammen-
fassende Übersicht: Martin gibt sie in der sehr reichhaltigen Einleitung.
Sie ist keineswegs bares Referat über das bisher Gewonnene, Vermutete,
Bondern bringt zur Geltung und begründet die persönliche Ansicht des
Verfassers, dort, wo er fremde Ansichten zu berichtigen oder zu bekämpfen
Anlafs hat. Ganz besonders ist das in den zwei Kapiteln über Wolframs
Quellen und über die Sage der Fall : Martin hält mit Recht an Kyot fest
(wozu ich noch bemerken möchte, dafs die S. XXXIX genannten Unge-
nauigkeiten in Wolframs Angaben über Kyot unter der Voraussetzung
wegfallen, dafs Wolfram Motive, die er der Quelle entnahm, mit eigenen
Zutaten versehen habe), und dem Mosaik von Motiven, aus dem die Hypo-
these vom geistlich -legendarischen Ursprung der Gralsage aufgebaut ist,
stellt er — mit verwandter Methode — seine eigene Anschauung von ihren
keltisch -volkstümlichen Ursprüngen entgegen. So durchaus erwünscht
diese einleitenden Übersichten, so bequem und nützlich die Aufnahme
und Einarbeitung des Wertvollen aus der Wolframliteratur ist, so geben
dem Werk den besonderen und individuellen Wert die eigentlichen Sinn-
erklärungen : sie sind ohne jene gelehrten Voraussetzungen nicht denkbar,
ebensowenig aber ohne das Hineinleben in Stil und Gedankenkreise Wolf-
rams, das bei aller philologischen Hingabe des Unterschiedes zwischen
Damals und Heute deutlich sich bewuist bleibt. Eine grofse Anzahl
schwieriger Stellen ist im Kommentar einleuchtend erklärt. Auch bei
den Sinnerklärungen hat Martin den Kreis der Benutzer weit gedacht:
neben jenen höchst erwünschten stehen denn auch elementare.
Die folgenden Bemerkungen zu Einzelheiten wollen nicht mehr Kritik
sein, sondern kleine Beiträge zur Erklärung, wie sie sich teils durch Mar-
tins Kommentar, teils gegen ihn beim seminaristischen Unterricht ergaben:
ich beschränke mich dabei auf Textstücke und Stellen, die der Unterricht
gerade berührte.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 191
Zu 1, 4 parrieren ist hervorzuheben, dafs die Vorstellung unverxaget
mannes muot sprachlich 1) das Ganze sein kann, das durch zwei in ihm
enthaltene Gegensätze sich parrieret, 2) einer der Gegensätze innerhalb
eines übergeordneten Ganzen, das dadurch 'bunt' wird. Mir wird nicht
klar, welcher der beiden Meinungen sich Martin anschliefst, denn sein
Satz 'ein xwiveln ohne verzagen' werde hier 'als buntfarbig' bezeichnet,
läfst Undeutlichkeiten übrig. Und eine Folge dieser Undeutlichkeit scheint
mir die Auslegung von 1, 7 der als: 'der noch xwivelt' — während doch
wahrscheinlich der gemeint ist, in dessen unverzagtem mannes muot der
xwivel mit einem — guten — Gegensatz zu ihm verbunden ist. — 1, 25
alwdr ist schwerlich nachgesetztes attributives Adjektiv, sondern machet
kurxe freude ahcdr wird bedeuten: 'verwirklicht (nur) kurze Freude'. —
Bei 1, 26 — 30 gibt es noch andere Möglichkeit als die von Martin heran-
gezogene: die varhte, gegen die Wolfram och ruft, mufs doch auf jene
Gesellen sich beziehen, die ihn an der Innenfläche seiner Hand, wo kein
Haar wächst, raufen. Martin versteht dieses Bild von falschen Freunden,
die sich in des anderen Vertrauen einschleichen — aber es kann doch
auch auf jene gehen, die seine vorangehenden Worte mifsverstehen, in
einer Weise deuten, die einem Raufen an unbehaarter Handfläche ver-
gleichbar ist. Die vorhte und das von ihr ausgepreiste och sind dann
humoristische Steigerung. — 5, 15 unfruot ist Gegensatz zu wise 5, 11 und
verurteilt eben jene Erbsatzung, die Alter und Armut zusammenjocht.
Die sonst ja mögliche Bedeutung 'trübselig' spielt hier denn keine Bolle.
— 6, 15 merte ist wie an den anderen zwei von Martin zitierten Stellen
rein phraseologisch, nicht prägnant ('noch mehr zeigt'). — Zu 6, 19 hant-
gemcelde, dax man möhte sehen, davon der herre müese jehen sins namen
und siner vriheit ist wohl die Art des Satzes dax man möhte sehen zu er-
örtern— Relativsatz? oder, wie ich deuten möchte, Konsekutivsatz: ...'ein
Eigen, so dafs man den Rechtstitel erkenne, auf Grund dessen er auf
Namen und Freiheit Anspruch erhebe.' — 7, 4 empfiehlt es sich, das Ot-
fridische theist nicht auf thax ist, sondern the ist zurückzuführen. — 9, 23
iedoch, nicht mit Martin 'auch so schon', sondern einfach 'aber', als Gegen-
satz zum Vorhergehenden uud zu den Versuchen des Königs, ihn zu
halten. — 10, 24 mins herxen kraß ist hier nicht 'Besinnung und Tat-
kraft' — das verhindert das parallele diu süexe miner ougen — , sondern
(so wie dieses) eine Umschreibung für Gandin. — 14, 15 wird mit gernden
siten als 'mit Ruhmbegier' aufgefafst; aber es erhält seine besondere hie-
sige Bedeutung durch das Wappensymbol des Ankers, von welchem es
99, 15 der anker ist ein recken xil heilst; dazu gehört ferner 15, 2 der
herre muose fürbax tragen disen wäpenlichen last in manegiu lant und 16, 1
sin eilen strebte sunder wanc (= fürbax gern 556, 22): alles das weist auf
die Bedeutung 'als einer, dessen Sinn aufs Wandern steht'. Man mag zu-
gleich an den gernden valken denken. — 26, 26 min wipheit was unbewart
läfst sich bedeutungsvoller auffassen, als Martins Paraphrase tut; denn
23, 2ti dax er entsldx ir herxe gar . . . dax beslox da vor ir wipheit gibt den
deutlichen Fingerzeig: 'Meine Weiblichkeit war unbehütet (= neigte sich
ihm zu), als er um mich warb. [Hier setze ich Punkt.] Dafs es nicht
zum Heil ihm ausschlug, das betraure ich' usw. ; 27, 9 widerspricht nicht,
ebensowenig die scharfakzentuierte Pointe 28, 9 ich enwart nie ivip decheines
man. — 114, 7 ir freude ist hier wohl nicht 'das, was sie erfreut', son-
dern bedeutungsvoller 'die Freude, die sie schaffen'. — 114, 22 wipheit
< 'weibliches Gemüt' — dazu palst aber 114, 23 nicht recht. Ich über-
setze: 'Es ist vielmehr ihre Eigenschaft als Frauen [um deren willen mir
ihre Verstimmung gegen mich wie mein Benehmen gegen sie leid tut], weil
ich ungebührlich über sie geredet und daher mir selber Schande gemacht
habe, und das soll auch nicht mehr geschehen' (das Ganze als Parenthese).
— 115, 8 min reht] nicht 'meinen Rechtsgrund', sondern 'meine Art'.
192 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Fälle, daXs der Kommentar an (Schwierigkeiten oder Eigentümlichkeiten
Wolframs vorbeiging, fanden sich selten: so vermifste ich 10, 27 und 12,
28 ein Wort über die Bedeutung des ein (und ist doch ein rihtcere; da ist
lihte ein ungeloube bi)\ 91, 8 Luke! ob der werdekeit, 106, 20 die md. Form
die für der bleiben ohne Bemerkung. Machte die Note zu 11, 26 tilgende
ei)i bernde rts den 'g. pl. von bernde abhängig', so war ein Wort über die
Art dieses Genitivobjekts (hier wie in dem ebenso gedeuteten lones bernde
vart 128, 26) nötig.
Zwischen die Anmerkungen zu 81, 2 und 91, 16 ist Widerspruch ge-
raten : zu 91, 16 sagt Martin, dafs die Beziehung der Verse 80, 30 ff. auf
Galoes und Annore mit Unrecht geschehe, und den Vers 81, 2 hatte er
selbst in diesem Sinne erklärt. Joseph Seemüller.
Die Gedichte Oswalds von Wolkenstein, herausgegeben von J. Schatz.
Zweite verbesserte Ausgabe. Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht 19U4.
312 S. 8°. 6 Mk.
Als man vor ein paar Jahren erfuhr, dafs eine neue Ausgabe der
Gedichte Oswalds von Wolkenstein demnächst erscheinen würde, da freute
sich gewifs jeder, der au der Kultur- und Literaturgeschichte des ab-
sterbenden Mittelalters ein tiefer gehendes Interesse nahm. Die frisch-
lebendige, wiewohl im einzelnen nicht ganz zuverläfsige Studie Ladendorfs
(Neue Jahrbücher für das Mass. Altertum usw. 7 [1901] S. 133 ff.), im Grunde
der erste Versuch einer wirklichen Charakteristik des Wolkensteiners, hatte
wohl bei manchem den Wunsch rege gemacht, die eigenartigsten Blüten
von Minnesangs Winter in einer dem heutigen Staude der Forschung an-
gemessenen Edition zu lesen und womöglich auch zu besitzen. Denn die
alte Ausgabe Beda Webers, dessen Leistungen wir nicht unterschätzen
wollen, nachdem 6ie Wackerneil in seinem lehrreichen und anziehenden
Buch über ihn (Innsbruck 1903) in die rechte Beleuchtung gerückt hat,
genügte doch längst nicht mehr den Ansprüchen der modernen Wissen-
schaft und war überdies nur noch für einen respektablen Phantasiepreis
im Buchhandel zu erstehen. Die neue Ausgabe erschien 1902 als 'Publi-
kation der Gesellschaft zur Herausgabe der Denkmäler der Tonkunst in
Osterreich' (vgl. Behaghel, Literaturblatt für germ. und roman. Philologie 1903,
S. 367 ff.; Wustmann, Anzeiger für deutsches Altertum 29, S. 227 ff.). Sie
hatte einen grofsen Vorzug: ihr war die Musik beigegeben. Oswald Koller
hatte diesen Teil bearbeitet. Wir wissen so wenig von der Musik der
Minnesinger und müssen immer dankbar sein, wenn uns ein Kundiger
über diese heikle Materie neuen Aufschlufs gibt. Jeder Philolog hat die
unabweisbare Pflicht, sich damit vertraut zu machen, sollte er sich zu-
nächst dabei auch etwas ungemütlich fühlen. Hier wie stets ist eine
Vogelstraufspolitik nicht am Platz. Den Text hatte Joseph Schatz auf
Grund der Handschrift A (Pergamenths. Nr. 2777 der Wiener Hofbiblio-
thek) hergestellt, die etwa 1425 — 1427 auf Oswalds Anregung hin zustande
gekommen ist; er hatte ferner die übrigen Handschriften genau beschrieben
und ihren kritischen Wert erörtert, die Gedichte völlig neu nach der mut-
mafslichen Zeitfolge geordnet und eine Anzahl Erläuterungen und Exkurse
beigefügt; dazu trat dann noch eine kurze, möglichst auf historisch be-
glaubigte Tatsachen gestützte Vita des Wolkensteiners. Es war viel, was
wir da bekamen, viel, aber nicht genug. Wer an Wackernells gehaltvolle
Einleitung zu seiner Ausgabe von Hugo von Montfort (Innsbruck 1881)
dachte, fand sich enttäuscht. Die Sprache, die Metrik, die Poetik, die
literarhistorische Stellung des Wolkensteiners — all das blieb künftiger
Untersuchung vorbehalten. Und schliefslich: die Publikation war schön
ausgestattet, aber sie war unhandlich und teuer.
Vor kurzem hat Schatz, 'vielfach geäufserten Wünschen entsprechend',
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 193
eine zweite, weit handlichere und billigere Ausgabe der Gedichte Oswalds
von Wolkenstein in die Welt gesandt. Sie bietet etwas mehr und er-
heblich weniger als die erste Veröffentlichung. Mehr, denn hier sind auch
die Lesarten aus der Handschrift C (Papierhs. des Innsbrucker Ferdinan-
deums F 1950), die in der ersten Ausgabe nur gelegentlich notiert wurden,
durchweg aufgenommen worden. Weniger, denn hier fehlen die Anmer-
kungen der ersten Ausgabe und der gesamte musikalische Teil. Im übrigen
zeigt sie ungefähr das gleiche Bild. Herübergenommen ist der Lebens-
abrifs des Wolkensteiners, die Beschreibung der Handschriften und im
wesentlichen auch der Text der Gedichte. Leider hat Schatz, durch andere
Arbeiten gehindert, die schon in der ersten Ausgabe angekündigte Dar-
stellung der Sprache des Wolkensteiners noch nicht liefern können; erst
wenn er es getan, wird sich meines Erachtens über die Art seiner Text-
behandlung gewinnbringend reden lassen. Auch eine literarhistorische
Untersuchung verspricht er für die Zukunft; die in der ersten Ausgabe
veröffentlichten Anmerkungen sind für eine zusammenfassende Erklärung
der Gedichte zurückgestellt worden. Etwas viel Zukunftsmusik, aber wir
müssen immerhin zufrieden sein, dafs wir nun Oswalds Gedichte in einer
jedenfalls besseren und wohlfeileren Ausgabe haben als zuvor.
Nur noch eine Bemerkung zur Biographie des Wolkensteiners. Sie
will Tatsächliches bieten und weicht jeder Vermutung geflissentlich aus;
wo es irgend angeht, werden urkundliche Zeugnisse beigebracht, hier und
da aber auch die Gedichte selbst als Quellen herangezogen. Gewifs mit
Recht; denn bei Oswald liegt die Frage nach dem biographischen Gehalt
seiner Lieder anders als etwa bei Reinmar und Walther. Gleichwohl kann
man auch bei ihm in dieser Beziehung nicht vorsichtig genug sein. Es
ist doch sehr gewagt, zu behaupten, dafs man 'seinen Angaben ... durch-
wegs Vertrauen entgegenbringen' dürfe (S. 5), wenn man noch auf der-
selben Seite sagen mufs, dafs Oswalds Mitteilungen über seine Sprachen-
kenntnis (Schatz 64, 21 ff. = Weber 1, 21 ff.) 'mit der nötigen Einschränkung'
aufzunehmen seien.
Berlin. Hermann Michel.
Fr. Stahl, Wie sah Goethe aus? Berlin, G. Reimer, 1904.
Wenn wir uns einmal fragen, wie eigentlich einer von unseren besten
Bekannten aussieht, so treffen wir gewöhnlich in unserem Bewufstsein
nur ein verschwommenes Bild, weil die vielen Einzeleindrücke sich gegen-
seitig beeinträchtigen. Von grofsen Männern, die wir nie gesehen, haben
wir oft eine viel deutlichere Vorstellung, weil Ein bekanntes Bild sich uns
durch wiederholte Betrachtung fest eingeprägt hat. Wie Goethe, Napoleon,
Bismarck aussahen, glauben wir genau zu wissen. Aber ist das Porträt,
das Stieler oder Schmeller, David, Lenbach malten, zuverlässig?
Ikonographische Studien haben z.B. für Wieland Weizsäcker, für
Friedrich den Grofsen v. Taysen, für Bismarck Graf Yorck mit grofsem
Erfolg unternommen. Stahl sucht die Geschichte von Goethes äufserer
Erscheinung an der Hand der Dokumente zu schreiben; die literarischen,
obwohl gut ausgewählt, treten dabei neben den künstlerischen zu sehr
zurück, so dafs wir z. B. über die charakteristischen Augen und ihre
Wirkung wenig hören. Auch sind zwei verschiedene Dinge nicht immer
sorgfältig gesondert: eben die wirkliche Erscheinung und der Eindruck,
den sie nervorrief. Es ist ja bekannt, dafs Goethe durch seine straffe
Haltung gröfser schien, als er war. Auch die Atmosphäre, die seine Ge-
stalt und sein Gesicht verbreiteten, gehört schliefslich zu der Erscheinung
selbst. Die zunehmende Vergeistigung, die Stahl gut beobachtet, gehört
sowohl dem Dichter, der immer tiefer im Grofsen aufging, als den Künst-
lern, die ihn mit immer größerer Ehrfurcht beschauten.
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 13
194 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Lehrreich sind die Interpretationen, die Stahl einzelnen Bildern, wie
dem Tisehbeinschen in der Campagna, dem der Gräfin Egloff stein, bei-
gegeben hat. Gegen Kügelgen ist er ungerecht; seine Auffassung hätte
nicht fehlen dürfen, wie wir denn den 25 Tafeln gern noch mindestens
halb so viel beigefügt hätten, z. B. ein Uniformporträt und selbst Thackerays
Karikatur. Doch auch so ist das Kaleidoskop lehrreich genug. Wie sich
Goethe eine 'Maske' für die Gesellschaft bildet (S. 38) und sie wieder
fallen läfst (S. 45), das ist recht ergötzlich geschildert.
Es sollen ebensolche Bild erfolgen mit Kommentar zunächst für Bis-
marck, Rembrandt, Schiller folgen. Die letzte wird für den typischen
Prozefs des Idealisierens besonders lehrreich sein. Aber auch hier (wie
bei Bismarck!) sollte man das Gegengewicht der Zerrbilder nicht ganz
vernachlässigen.
Berlin. Richard M. Meyer.
Goethe, Iphigenie auf Tauris. Ed. by K. Breul. Cambridge, at the
University Press, 1904 (Pitt Press Series), 2 ed. LXXXIV, 254 S.
3 sh. 6 d.
An dieser vortrefflichen Ausgabe für englische Studenten wird den
deutschen Leser die Einleitung interessieren, die mit aufserordentlicher
Umsicht die Geschichte dieser 'Gelegenheitsdichtung' (S. XIV) schreibt.
Die 'römische' Iphigenie wird von der 'deutschen' (S. XVIII) sorgfältig
abgehoben; ebenso fast zu reinlich unterschieden, was in ihr griechisch
sei, was deutsch (S. XLIV). Der Charakter des Orest wird (S. XXIII)
vielleicht zu entschieden als Hauptfaktor der Entstehung betrachtet und
Lessings Einflufs auf das Metrum doch wohl (S. XXVI) unterschätzt.
Besonders dankenswert ist in dem Zusammenhang der literarischen Ein-
flüsse der Hinweis auf das Singspiel (S. XXIII).
B. R. M. M.
Zur Schillerliteratur des Jubiläumsjahres. I.
1. L. Fulda, Schiller und die neue Generation. Stuttgart, Cotta,
44 S. 8.
2. Schillers Sämtliche Werke. Säkular- Ausgabe. In 16 Bänden gr. 8.
In Verbindung mit Richard Fester, Gustav Kettner, Albert Köster,
Jakob Minor, Julius Petersen, Erich Schmidt, Oskar Walzel, Richard
Weifsenf eis herausgegeben von Eduard von der Hellen. Stuttgart,
Cotta, 1904 u. 1905. Preis des Bandes: geh. M. 1,20, in Leinw. geb.
M. 2, in Halbfranz geb. M. 3. Der heutigen Rezension liegen zu Grunde:
Band I (Gedichte, ed. von der Hellen), XXII, 360 S. Band IV (Don
Carlos, ed. Weifsenfeis), XLIV, 332 S. Band VI (Maria Stuart, und
Jungfrau von Orleans, ed. Petersen), XXX, 402 S. Band IX. (Über-
setzungen, ed. Köster, 1. Teil: Macbeth, Turandot, Parasit, Neffe als
Onkel), XXIV, 409 S. Band X (deren 2. Teil: Phädra, Iphigenie in
Aulis, Phönizierinnen, Virgil), XX, 292 S.
3. Pantheon-Ausgabe. Berlin, S. Fischer. Schillers Gedichte, ed.
WeiTsenfels. XL, 411 S. 16. Preis M. 3.
4. Marbacher Schillerbuch. Zur hundertsten Wiederkehr von Schillers
Todestag, herausgegeben vom Schwäbischen Schiller verein. Stutt-
gart, Cotta, 1905. X, 380 S. gr. 4.
5. O. Harnack, Schiller. (Aus Bettelheims Sammlung 'Geisteshelden').
Illustrierte Ausgabe. Berlin, Ernst Hofmann u. Co. XIII, 476 S. 8.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 195
6. K. Berger, Schiller. Sein Leben und seine Werke. In 2 Bänden.
I. Band, 1. u. '?. Auflage. Mit Photogravüren nach Graff. München,
C. H. Beck, 1905. VIII, 630 S. 8. Preis M. 6, geb. M. 8,50.
7. Julius Hartmann, Schillers Jugendfreunde. Mit zahlreichen Ab-
bildungen. Stuttgart, Cotta, 1904. 368 S. 8.
8. Kuno Fischer, Schillerschriften. 2. Auflage, Neu-Ausgabe. Erste
Reihe. Schillers Jugend- und Wanderjahre in Selbstbekenntnissen.
Schiller als Komiker. 8. Geh. M. 6, fein Halbfranzband M. 8. Aus
der 'Ersten Reihe' sind einzeln zu haben: 1. Schillers Jugend- und
Wanderjahre in Selbstbekenntnissen. Zweite neubearb. und vermehrte
Aufl. 8. Geh. M. 4, Leinwandband M. 5. 2. Schiller als Komiker.
Zweite neubearbeitete und vermehrte Aufl. 8. Geh. M. 2. Schiller-
schriften. Zweite Reihe. Schiller als Philosoph. (1. und 2. Buch.)
8. Geh. M. 6, fein Halblederband M. 8. Aus der 'Zweiten Reihe' sind
einzeln zu haben: 3. Erstes Buch: Die Jugendzeit 1779 — 1789. 8. Ge-
heftet M. 2,50. 4. Zweites Buch: Die akademische Zeit 1789—1796. 8.
Geh. M. 3,50. Beide Teile fein Leinwandband M. 7,50. Heidelberg,
Carl Winter.
9. (Pitt Press Series). Schiller, Geschichte des Dreifsigj ährigen
Krieges (Buch III), abridged and edited by Karl Breul, University
Reader in Germanic. Cambridge, Universitv Press. 1904. XXXII,
194 S. kl. 8. 3 sh.
'Goethe und Schiller — echtes und ewiges Doppelgestirn ! Denn wenn
Goethe der Sonne gleicht, die den Tag erst zum Tage macht, so gleicht
Schiller dem Mond, den die Menschen als ihren gütigen Freund, ihren
zuverlässigsten Führer verehren, so oft es Nacht wird.' Mit diesen Worten
schliefst Ludwig Fulda seinen gedankenreichen und formvollendeten
Vortrag, Worten, die wir vor allem uns gesagt sein lassen dürfen, die wir
uns täglich an 'die neue Generation' zu wenden haben. Und wenn Goethes
Mutter, mit ihrem feinen Gefühl die Zusammengehörigkeit der Weimarer
Dioskuren früher und tiefer erfassend als viele unter den Zeitgenossen,
ihrem Liebling im Hinblick auf den grofsen Freund zurief: 'Eure Werke
sind vor die Ewigkeit geschrieben,' so halten wir an diesem guten Worte
so fest wie an der nicht willkürlichen und äufserlichen, sondern organi-
schen Verbindung Goethes und Schillers, trotz des Verdammungsurteils,
das Nietzsche gegen dies Wörtchen 'und' im allgemeinen und gegen den
'Moraltrompeter von Säckingen' im besonderen geschleudert hat. Für uns
sind Schiller und Goethe keine ausschliefsenden Gröfsen ; auch das viel
gebrauchte Wort von der gegenseitigen Ergänzung beider hat nur in dem
seine innerste Berechtigung, was beide gemeinsam haben, nicht in dem,
was sie trennt; gerade das, was die beiden Grofsen eint, bedingt ihre Be-
deutung für die Ewigkeit. Mit den landläufigen Gegensätzen, wie Rea-
lismus und Idealismus oder Individualismus und Universalisinus usw., ist
hier wenig getan; gewifs geht Goethe von der handgreiflichen Wirklich-
keit aus; aber weder als Forscher noch als Dichter bleibt er bei ihr
stehen; er fordert vom Poeten nicht die photographische Beschreibung,
sondern die Epitomierung der Natur; diese aber kann nur so erfolgen,
dafs der Dichter dasjenige, was ihm in dem Gewirr der realen Tatsachen
bedeutsam erscheint, hervorhebt, das Unbedeutende wegläfst, Ursache und
Wirkung genauer und fester verkettet usf., das alles aber doch nur auf
Grund einer eigenen, teils in bewufster Gedankenarbeit errungenen, teils
intuitiv aufleuchtenden Anschauung von dem ewigen Verlauf der Dinge,
kurz auf Grund einer eigenen Weltanschauung; das ist im Grunde ge-
13*
196 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
nomnien doch wieder ein Idealismus ', und es verschlägt an sich nicht viel,
ob Schiller die beherrschenden Ideen stärker betont oder Goethe sie er-
raten läfst; die Sache ist dieselbe, nur die Form eine andere; und der-
selbe Goethe, den man für einen rücksichtslosen Individualisten zu er-
klären liebt, hält doch so streng fest an der inneren Bestimmtheit mensch-
lichen Wollens und Handelns: 'Nach dem Gesetz, nach dem er angetreten'
mufs der Goethische Mensch seines Daseins Kreise vollenden. Und wie
fern steht Schiller anderseits im Leben und im Schaffen dem Pöbel, der
grofsen Masse, wie fern steht er dem Schwärm derer, die ihn als Schutz-
heiligen eines engherzigen Chauvinismus auf religiösem oder politischem
Gebiete anrufen zu dürfen wähnen; und wie berühren sich die beiden
Grofsen schliefslich in ihren letzten Worten an ihr Volk, d. h. nicht an
die empirische Masse der Zeitgenossen, sondern an das Volk über und
hinter der gemeinen Gegenwart, an das sich schliefslich jeder tiefere
Künstler wendet: wenn Schiller den trotzigen Individualisten Teil durch
eigene Erfahrung zum Vorkämpfer einer nationalen Bewegung reifen läfst,
so endet Faust, die gewaltigste Individualität, die jemals über die Bretter
der Bühne geschritten ist, in der durch innere Erlebnisse und durch die
Wahrnehmung der Folgen eigenen Handelns bewirkten freiwilligen Über-
windung alles Egoismus, in der bewufsten, erzieherischen Arbeit an seinen
Mitbürgern. Der eine führt sein Volk zum Befreiungskampfe, der andere
zur ernstesten Arbeit ... ein lässiges 'Glück' des Philisters, ein Leben
ohne Gefahren und Entbehrungen erschien keinem von beiden lebenswert,
weder dem grofsen Dulder, dem die Parze vorzeitig den Lebensfaden
durchschnitt, noch dem grofsen Arbeiter im Staatsdienste, der bis ins
höchste Greisenalter hinein geschafft hat wie wenige seines Volkes, der
nie Zeit hatte, müde zu sein, der fast das ganze Wissen seiner Zeit sein
eigen nennen durfte, vor allem aber an sich selber arbeitete, unentwegt
fortschreitend auf dem Entdeckungswege nach Neuland, nach wissenschaft-
lichen, künstlerischen, sittlichen Errungenschaften.
Darum also gehören uns die beiden nach wie vor zusammen, inson-
derheit auch im Hinblick auf die deutsche Schule; denn wenn wir auch,
wie Fulda richtig betont, nicht mehr eine Schillerfeier begehen können
wie 1859, wo das gewaltige nationale Sehnen nach Einheit und Freiheit
in dem Namen Schüler gleichsam ein Symbol fand, an das es sich an-
klammern konnte, so sind wir doch heute weit davon entfernt, das er-
reicht zu haben, was Schiller erstrebte; und nicht blofs im Hinblick auf
politische und soziale Umwälzungen einer nahen oder fernen Zukunft,
woran Fulda denkt, 'wenn Wogen und Stürme das. jetzt friedlich dahin-
gleitende Boot der herrschenden Klassen eines Tages wieder beunruhigen
und wenn das scheinbar Feste ins Wanken gerät', sondern auf bedeut-
samere und tiefere Wandlungen, die äufserlich nicht so ins Auge fallen,
um so mehr aber zum Bewufstsein erhoben und vor allem dem Gefühl nahe
gebracht werden müssen, verlangen wir eine Schillerrenaissance, eine nicht
blofs vermehrte, sondern vertiefte und aufs neue durchgeistigte Beschäfti-
gung mit Schiller : im Hinblick auf die ästhetisch-sittliche Erziehung un-
seres Volkes. Der verhältnismäfsig geringe Ertrag, den unsere heutige
Übersicht auf dem Gebiete der philosophischen Schillerforschung zu ver-
zeichnen hat, ist bedeutsam dafür, wie wenig man sich eigentlich mit dem
abgibt, worin die Ewigkeitsbedeutung Schillers ruht. Gerade jene Zeit,
die hier und da gewifs in echter und wahrer Begeisterung, vielfach aber
sicherlich auch mit jenem faulen Enthusiasmus, von dem Goethe als von
'eingepökelter Herings wäre' redet, dem grofsen Landsmanne zujubelte, ge-
1 Vgl. Schiller über die Weltauffassung des ernsten Realisten, Schriften
(Goedeke) X, 519 f.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 197
rade sie hat den einzigen, der mit Schillers künstlerischen und volks-
pädagogischen Idealen Ernst zu machen suchte, hat Richard Wagner
mit Spott und Undank ohnegleichen belohnt und ihm ein Martyrium
bereitet, das oft Zug für Zug demjenigen des gefeierten Meisters zu ver-
gleichen ist. Man versenke sich wieder in Schillers Weltanschauung, die
nur in ihrer speziellen Anwendung auf einzelne Fragen des gesellschaft-
lichen Lebens seiner Zeit veraltet, in ihrem Kern noch lange nicht ver-
arbeitet, geschweige denn überholt ist, und man wird finden, wie modern,
ja wie weit unserer Zeit vorausgeeilt dieser grofse, tapfere Mensch, dieser
tiefe und wahrheitsfreudige Denker ist. Da kommt es denn nicht darauf
an, ob wir in politischer, kultureller und künstlerischer Hinsicht heute
anderer Meinung sind als damals, was Fulda ganz richtig hervorhebt,
auch nicht auf die veränderte Stellung der Frau oder auf unseren Um-
gangston, der dem Pathos so abgeneigt ist, dafs er den Künstler und den
Redner herabzerrt; auch nicht das kann uns in seinem Genüsse beein-
trächtigen, dafs wir heute entschieden naturalistischer geworden sind als
Schiller, dafs wir in der dichterischen, insbesondere dramatischen Dar-
stellung eine ganz erheblich breitere Heranziehung der konkreten Elemente
des Daseins ästhetisch aufzunehmen und zu verarbeiten vermögen und
dementsprechend fordern als vor hundert Jahren; das alles will wenig
sagen ; so gut wir uns in die Stube eines schlesischen Fuhrmanns oder in
die Höhlen russischer Finsternis hineinzuversetzen und, was Schiller zu
seiner Zeit noch nicht vermochte, auch im Lebenslauf der Enterbten das
'grofse, gigantische Schicksal' wiederzufinden vermögen, können wir solche
Abstraktionsfähigkeit auch ganz gut einmal Schiller gegenüber zur An-
wendung bringen und uns zu dem Ton der Genieperiode, der Empfind-
samkeit, des Klassizismus zurücktasten ... es lohnt sich schon, einmal
mit Schiller ein Kind seiner Zeit zu werden, weil er uns dann ebenso wie
seine Zeitgenossen über die eigene und scbJiefslich auch über unsere Zeit
hinauszuführen vermag, bis dahin, wo das Zeitliche schwindet und das
Ewige, soweit es dem Menschen durch die Kunst zugänglich gemacht
werden kann, seinen Glanz verbreitet.
Ist Schiller eines derjenigen Genies, die ihrer eigenen Zeit voraus-
geeilt sind, dann hat jede neue Generation die Pflicht, sich aufs neue mit
ihm auseinanderzusetzen und zu zeigen, wie weit sie seinen Idealen ent-
gegengegangen ist; sie hat ferner mit den Hilfsmitteln, die sich die wissen-
schaftliche Methode inzwischen erobert hat, aufs neue an seine Werke
heranzutreten und zu versuchen, ob sie diese nun besser versteht als eine
frühere Zeit; sie hat endlich diese neuen Erkenntnisse für die Schule und
das grofse deutsche Publikum fruchtbar zu machen und dadurch Schillers
Gedanken zur erneuten Überführung ins Leben zu verhelfen; das ist
Arbeit genug, auch wenn die Schillerforscher nicht das Glück haben wie
ihre Genossen im Goethearchiv, neue Entdeckungen im reichsten Mafse
verwenden zu dürfen ; in Wahrheit ist doch auch hier genug zu tun ; wie-
viel neues Licht haben die beiden grofsen Biographien von Minor und
Weltrich über den Dichter und seine menschliche und künstlerische Jugend-
entwickelung zu verbreiten gewufst; diese Arbeiten sind nicht abgeschlossen,
es scheint, als sollten beide Werke Fragmente bleiben; da heifst es zu-
greifen, zum mindesten hier und da die einzelnen Punkte aufhellen; und
da Goedekes grofse 'historisch-kritische Ausgabe' weder dem Literarhisto-
riker noch dem Textkritiker heute völlig genügen kann, so wäre eine
wahrhaft wissenschaftliche Schillerausgabe doch ein dringendes Bedürfnis.
Leider ist aber bis heute von einer solchen nichts ans Tageslicht getreten.
Immerhin können wir unseren Lesern eine ganze Reihe von wert-
vollen Ausgaben, biographischen und erklärenden Schriften vorlegen, die
zur kräftigen Wiederbelebung einer tätigen Versenkung in Schillers Werke
geeignet sind.
108 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Die vornehmste unter allen literarischen Jubiläum sgabon ist jeden-
falls die 'Säkularatmgabe' der 'Sämtlichen Werke' Schillers in 16 Bänden,
die unter Leitung von der Hellensim Cottaischen Verlage erscheint,
ein würdiges Gegenstück zu der dortselbst veranstalteten Goetheausgabe.
Wir haben hier endlich eine klassische Edition für das deutsche Haus,
eine solche, die nicht nur durch relative Vollständigkeit und würdigste
A^lsstattung, sondern auch durch kritische Gediegenheit und durch er-
klärende Beigaben aus der Feder hervorragender Fachleute sich vor
allen uns sonst bekannten auszeichnet. Freilich mufs betont werden, dafs
die Wissenschaft aus dieser Ausgabe zwar reichen Nutzen ziehen kann,
insbesondere aus den exegetischen Teilen, dafs es sich aber um eine spe-
zifisch wissenschaftliche Ausgabe, die etwa im akademischen Unterricht
oder Einzeluntersuchungen zugrunde gelegt werden könnte, nicht han-
delt; der Text ist zwar nach kritischen Grundsätzen hergestellt, entbehrt
aber des kritischen Apparates; jene Vollständigkeit, wie sie Gödekes frei-
lich in Hinsicht auf die Textgestaltung hier überholte Edition dar-
bietet, ist nicht angestrebt. Wir sind aber weit entfernt, dem verdienten
Verfasser aus seiner durch die Bestimmung der Ausgabe bedingten Zu-
rückhaltung einen Vorwurf zu machen ; seine selbständige, sorgfältige Ar-
beit darf nicht unterschätzt werden.
Bietet er uns doch gleich im ersten Bande etwas ganz Neues und
Eigenartiges in der Anordnung der Schillerschen Gedichte. Bekanntlich
rührt die Reihenfolge, an die wir von Jugend auf durch die landläufigen
Ausgaben gewöhnt sind, mit ihrer Einteilung in 'drei Perioden' nicht von
Schiller selbst, sondern von Körner her. Die Ausgabe der Gedichte von
1800 berücksichtigte die Jugendlyrik so wenig, dafs sie für einen späteren
Herausgeber, der minder hohe Ansprüche stellte als der gereifte Dichter
selbst, nicht bindend sein konnte. Die zweite Sammlung von 1803 nahm
zwar eine grofse Anzahl der ältesten Arbeiten auf, aber ohne die von
Schiller beabsichtigte Umschmelzung. Aus beiden Bänden wollte dann
der Dichter für die von seinem Verleger Crusius vorbereitete 'Prachtaus-
gabe' eine Auswahl in ganz neuer Anordnung treffen. Die Drucklegung
dieser im Plane fertiggestellten Ausgabe hinderte zunächst Krankheit,
dann der Tod Schillers und späterhin geschäftliche Verhältnisse. So blieb
es denn in der Folgezeit meistens bei Körners recht willkürlicher Anord-
nung, bis in neuerer Zeit einzelne Herausgeber, u. a. der verdiente Beller-
mann, eine chronologische Reihenfolge herzustellen versuchten. Schiller
hatte nicht an eine solche, sondern an eine Anordnung nach inhaltlichen
und ästhetischen Gesichtspunkten gedacht. Wie feinsinnig diese durch-
geführt ist, zeigt der nun durch von der Hellen bewirkte Abdruck der
Gedichte nach seinen Intentionen in vier Büchern, deren erstes und zweites
die Lieder und Balladen, deren drittes und viertes die Gedankendichtungen
bringen. Im 'Anhang' führt von der Hellen alle diejenigen Gedichte auf,
die in den Sammlungen von 1800 und 1803 stehen, aber in die Pracht-
ausgabe nicht mit übergehen sollten, so u. a. die 'Phantasie' und 'Die
Entzückung an Laura', 'Graf Eberhard der Greiner von Württemberg',
'Die berühmte Frau' und die Rätsel, und endlich soll der uns noch nicht
vorliegende zweite Band als 'Nachlese' bringen, was von jenen beiden
Sammlungen ausgeschlossen wurde. Die Stücke aus der Aneide sind mit
anderen Übersetzungen im zehnten Bande vereinigt. Wie weit die 'Nach-
lese' reichen wird, läfst sich heute noch nicht sagen, doch hoffen wir im
Interesse des Publikums auf einen durch keine Prüderie verkürzten Ab-
druck der 'Anthologie'. Es ist hohe Zeit, dafs unsere gebildeten Zeit-
genossen endlich einmal den wahren Schiller auch in den Jahren seiner
Entwickelung kennen lernen. — Minder als die Textgestaltung wird die
Erklärung des ersten Bandes alle Ansprüche befriedigen, was ja durch die
Natur der Sache gegeben ist. Von der Hellen beschränkt sich im grofsen
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 199
ganzen auf die Entstehungsgeschichte der Gedichte, in die er hier und da,
z. B. beim 'Lied an die Freude', den Abdruck unterdrückter Strophen
einflicht. Dafs der Erklärer sich nicht in Einzelheiten verlieren wollte,
ist wohl verständlich, aber für die 'Künstler', für 'Das Ideal und das
Leben', auch für die 'Glocke' und den 'Spaziergang' mufste entschieden
mehr geboten werden, als hier geschieht. Im allgemeinen sucht er den
Gehalt der bedeutenderen Nummern in ein kurzes Schlagwort zusammen-
zufassen, wobei er meistens, aber nicht immer glücklich ist. Ich sehe in
Leanders Tat nicht eine Versuchung der Götter wie von der Hellen
S. 3ü9 (zum 'Taucher') ; läge eine solche vor, so hätten nach Schillers An-
schauung die Himmlischen längst einschreiten müssen; an Hybris könnte
man höchstens bei den kühnen Worten der Hero denken ; das Verhalten
des Jünglings aber möchten wir lieber mit dem des Ritters Toggenburg
auf eine Linie stellen, dessen unüberwindüche Liebe unser Erklärer S. 311
wohl zu würdigen weifs.
Erwähnt sei hier gleich noch die vornehm ausgestattete Pantheon-
ausgabe der Gedichte, in der Weifsenfeis eine im grofsen ganzen an
Körner sich anschliefsende, doch mannigfach erweiterte und auch in der
Reihenfolge oft selbständige Auswahl mit sehr knappen Bemerkungen,
aber mit einer gehaltvollen, das allmähliche Ausreifen der Weltanschauung
des Dichters darstellenden Einleitung des Dichters veranstaltet hat. Eine
besonders wertvolle Beigabe bilden die Reproduktionen der Schillerporträts
von Graff, Doris Stock und Weitsch, ferner Frau von Kalb von Tischbein
und Lotte von Simaaowitz, endlich Schillers Geburtshaus und eine Hand-
schriftprobe.
Weilsenf eis verdanken wir auch die Bearbeitung des 'Don Carloß'
in der Jubiläumsausgabe. Eine sehr ausführliche Einleitung erklärt das
Werk auf Grund seiner Quellen und der gerade hier besonders wichtigen
Entstehungsgeschichte. Wir wüfsten seiner, gründliche Beherrschung des
Materials beweisenden knappen, doch vielsagenden Zusammenfassung wenig
hinzuzufügen; nur die Entwickelung, die Marquis Posa durchmacht, die
dramatische Bedeutung des Widerspruchs zwischen seiner besonnenen Art
in den ersten und seiner Schwärmerei in den letzten Akten scheint uns
nicht ganz den Absichten des Dichters gemäfs erfafst, und den 'Briefen
über Don Carlos' ist der Herausgeber hier noch nicht gerecht geworden.
Seinem Text legt Weilsenfels im ganzen die Fassung zugrunde, die der
Dichter selbst im 'Theater' (1805 ff.) letztwillig drucken liefs, geht aber
in Einzelheiten oft auf die älteren Drucke zurück, besonders wo es sich
um willkürliche Schlimmbesserungen fremder Hand und um einzelne, von
Schiller selbst später nicht absichtlich, sondern unter dem Zwange des
von ihm zugrunde gelegten Abdrucks von 1801 fallen gelassene, ältere
metrische Besserungen handelt. Seinen reichen Anmerkungen geht ein
Abdruck des Bauerbacher Entwurfes und der ersten Szene in der Thalia-
fassung von 1785 voraus.
Weit kürzer als Weifsenf eis fafst sich Petersen in den Einleitungen
zum sechsten Bande, der 'Maria Stuart' und die 'Jungfrau von Orleans'
bringt, doch geben die Anmerkungen reichlichen Aufschlufs über das Ver-
hältnis der Dramen zu den historischen Quellen. Petersen sieht in der
'Jungfrau' wie späterhin im 'Teil' eine Reaktion des Temperaments gegen
die im 'Wallenstein' und in der 'Maria' bewährte Objektivität gegenüber
dem Stoff. Ob wirklich Schiller die Geschichte der englischen Königin
blofs mit der 'reinen Liebe des Künstlers' behandelt hat? Wir hoffen an
anderer Stelle nachzuweisen, dafs selbst Wallenstein gegenüber die Kühle,
mit der Schiller an seinen Stoff herantrat, allmählich doch einer wärmeren
Stimmung Platz machte; aber während hier der Gegenspieler, Octavio,
eine zwar kleinliche, aber doch im ganzen würdige Rolle spielt und dem
Helden gegenüber in unseren Augen steigt, sinkt Elisabeth, wie Petersen
200 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
richtig darstellt, vor uns von Stufe zu Stufe, so dafs sie schliefslich wohl
äulserlich den Sieg davonträgt und sich rühmen darf, 'Königin von Eng-
land' zu sein, in Wahrheit aber eine sehr empfindliche moralische Nieder-
lage erlitten hat. Diesen äufseren Erfolg bei innerem Zusammenbruch und
gänzlichem Überwiegen des egoistisch-leidenschaftlichen Elements, gegen
das im Anfang noch ein menschliches Gefühl ankämpfte, fanden wir schon
bei König Philipp, und meisterhaft hat es später Hebbel in seinem Hero-
des durchzuführen gewufst. Auch das ist Tragik, dies allmähliche Hin-
sinken, gegen das der Träger des Charakters sich vergeblich zu wehren
strebt. So wird auch Wallenstein allmählich zum vollendeten Egoisten.
Dem gegenüber steht die Figur Marias, die mit ihrer schrittweisen Läute-
rung uns das Herz abgewinnt und entschieden auch dem Dichter ab-
gewonnen hatte. Zu ihr steht er anders als zu Wallenstein; von diesem
wenden sich die Getreuesten und Edelsten der Seinen allmählich ab,
Marias Getreue halten bis zuletzt bei ihr aus, ja in ihren Augen steht
sie schliefslich wie eine Heilige da, Bie rechtfertigen sie nicht blofs, sie
beten sie fast an und lenken dadurch unser eigenes Herz, wie ihre Worte
das Sprachrohr der Gefühle des Dichters sind. Dem gegenüber kann auch
die bekannte Briefstelle vom 19. Juni 1799 nicht verfangen (Jonas VI 46) :
'Meine Maria wird keine weiche Stimmung erregen, es ist meine Absicht
nicht, ich will sie immer als ein physisches Wesen halten, und das Pa-
thetische mufs mehr eine allgemeine tiefe Rührung als ein persönliches
und individuelles Mitgefühl sein. Sie empfindet und erregt keine Zärt-
lichkeit, ihr Schicksal ist, nur heftige Passion zu erfahren und zu ent-
zünden. Blofs die Amme fühlt Zärtlichkeit für sie.' Das beweist nur,
dafs Schiller während der ersten Phase seiner Ausarbeitung (das Stück
war erst ein Jahr später fertig!) sich mit der Absicht einer möglichst
objektiven Darstellung trug; der Schlufs ist ihm augenscheinlich erst
später aufgegangen, wie ja bekanntlich auch der Beschlufs des Wallenstein
seine tieftragische Gestaltung erst in der letzten Periode der Tätigkeit am
Werk erhielt. Aus ebendiesem Grunde möchte ich hinsichtlich der 'Jung-
frau von Orleans' das Böttigersche Zeugnis nicht so ohne weiteres ver-
werfen, wonach Schiller zunächst im Anschlufs an die Geschichte Johannas
Feuertod in Rouen erwogen hätte. Freilich, 'Schillers Art war es nicht,
ohne entschiedenen Plan ins Blaue hinein zu arbeiten' (Petersen, S. 21),
wohl aber hatte er meist mehrere Pläne zur Verfügung, die einander nicht
selten kreuzten. Hier handelte es sich nur um den Eindruck auf den
Zuschauer, nicht zwar einen gemein theatralischen, sondern um die 'In-
okulation' des grofsen Schicksals, und dieser Zweck verlangte das Durch-
kämpfen der Heldin bis zur freiwilligen Anerkennung des Unumgänglichen,
bis zu der von Schiller geforderten 'moralischen Selbstentleibung', da die
Heldin mit freundlich dargebotenem Busen das Geschofs vom sanften
Bogen der Notwendigkeit empfängt. Das konnte sie dem Holzstofs gegen-
über so gut bewähren wie angesichts des Todes im Kampfe. Was den
Dichter dennoch abschreckte, war wohl ein anderes. Die Gerichte, denen
sich ein Karl Moor oder ein Präsident Walter überliefern, bleiben hinter
der Szene und dürfen, so erbärmlich uns die äufsere Weltordnung er-
scheinen mag, gegen die der Räuber und Ferdinand angekämpft haben,
doch immer auf Respekt, auf innere Anerkennung bei uns rechnen, sie
sind die irdischen Vollstrecker des allmächtigen Schicksals, gegen das die
Helden in die Schranken getreten sind. Der englische Gerichtshof aber,
vor dem Johanna erscheinen sollte, mufste notwendig widerwärtig und
abstofsend wirken, und eine Unterwerfung unter seinen Spruch hätte dem
heroischen, erhebenden Abschlufs Eintrag getan ; gerade die Ahnung eines
höheren Schicksals, mit dem sich die Heldin identifizieren sollte, wäre
doch durch eine derartige theatralische Anschauung unterbunden worden. —
Petersen legt der 'Maria Stuart' den ersten Druck (1801) zugrunde, be-
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 201
rücksichtigt aber auch die älteren Bühnenmanuskripte und die englische
Übersetzung von Mellish, leider auch diese ohne Kenntlichmachung der
betreffenden Abweichungen. Für die 'Jungfrau' konnte der Herausgeber
das für die Neuausgabe im 'Theater' (1805) von Schiller eigenhändig und
sehr stark durchkorrigierte Exemplar des ersten Druckes benutzen.
Für die Herausgabe der Schillerschen Übersetzungen (Band IX und
X) war Albert Kost er, der Darsteller 'Schillers als Dramaturgen', der
berufene Mann. Die Einleitungen geben im grofsen ganzen die Resultate
jenes gröfseren Werkes wieder. Auch heute noch steht Köster auf dem
Standpunkte, dafs Schiller, der in seiner Jugend Macbeth 'teuflisch' nannte
(Schriften I, 'M\), späterhin einen 'edlen Feldherrn' in ihm sah, 'der nur
der Versuchung der Hexen und seines Weibes erliegt'. Ein solcher Held
wäre in der ganzen Schillerschen Dramatik unerhört, und gerade die Frei-
heit, die sich Schiller in ethopoetischer Hinsicht allen seinen Vorlagen
gegenüber nimmt (trefflich hat das Köster selbst für die 'Turandot' nach-
gewiesen !), hätte am wenigsten hier eine heteronomische Beeinflussung
eines Mannes, der sich doch im Kampfe seiner Haut zu wehren weifs, zu-
gestanden. Auch von Wallenstein heilst es, zu schwer sei für sein schlimm
verwahrtes Herz die Versuchung gewesen, aber das schlimm verwahrte
Herz ist das erste und die Versuchung das zweite; auch für Gestalten
wie Max Piccolomini kommt es zu einer Trübung ihrer seelischen Har-
monie, aber sie bleibt vorübergehend, und sie finden, mögen sie auch
physisch zugrunde gehen oder des Lebens überdrüssig werden, doch
moralisch ihr Gleichgewicht wieder. Zu diesen Naturen gehört Wallen-
stein nicht, der sich selber sagt, dafs er nicht ohne Wunsch durchs Leben
gehen könne, dafs seine Natur ihn zur Erde herniederziehe, unter deren
Oberfläche schlimm geartete Dämonen hausen. Gewifs verfolgt er edle
Zwecke, aber dazu bedarf er der Macht, und diese 'Macht ist's, die sein
Herz verführt'. Genau so steht es mit Macbeth. Die Versuchung ist
eben nicht das Ausschlaggebende, der letzte Grund des Unheils liegt im
eigenen Charakter, und um das so klar und deutlich als möglich zu
machen, hat Schiller die Hexenszene am Eingang so bedeutsam erweitert.
Hier wird dreimal ganz klar ausgesprochen, dafs es auf den Menschen
selbst, auf seine innerste Anlage ankomme, wie er sich der Prophezeiung
gegenüber verhalten werde. Einen Banquo läfst die Wahrsagung ziemlich
kalt, Macbeth wird aufs tiefste von ihr betroffen, weil sie an seinen Lebens-
nerv rührt. Schon lange hat er von Herrscherwürde geträumt, nun scheint
sich die Erfüllung darzubieten. Die Tragik liegt aber bei ihm wie bei
Wallenstein und der Königin Elisabeth darin, dafs er, zum mindesten nach
Schillers Auffassung, keine Renaissancenatur im Sinne der Übermenschen
der italienischen Dynasten ist, dafs ihm das robuste Gewissen fehlt, worüber
Richard III. verfügt. Was er um seiner Leidenschaft wegen tun mufs,
das bereitet ihm aus sittlichen Gründen Schauder, und es bedarf eines
gewaltsamen Anlaufs, um über diese Bedenken hinwegzukommen. Dieser
Anlauf nun erfolgt auch hier auf ganz parallele Weise wie bei Wallen-
stein : der energische Abfall zum Egoismus und zur Sinnlichkeit, die Um-
wandlung zum krassen Tyrannen fällt mit der Hingabe an den Aber-
glauben, an das bewufste Erforschenwollen des Unergründlichen zusammen ;
hier sucht Macbeth selbst die Hexen auf, um bei ihnen Rats zu holen ;
und getreu dem Wink ihrer Meisterin, die schon böse darüber ist, dafs
sie einem schwachen Menschen Ungeheures zugemutet haben, verblenden
sie ihn nun bis zur Bewufstlosigkeit und lassen ihn auf diese Weise in
sein Verderben rennen. Wie Wallenstein, ficht dieser Macbeth zuletzt
blofs noch um sein äufseres nacktes Leben; sein Herrschertrieb ist zum
Selbsterhaltungstrieb herabgesunken. 'Betrüglich' sind die Wahrsagungen
der Hexen nicht, insofern sie sich nachher als falsch herausstellten, son-
dern insofern sie von dem abergläubischen und durch Leidenschaft ver-
202 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
blendeten Menschen als Bestimmung aufgefaist werden, die er mit irdischen
Mitteln zu verwirklichen habe. Banquo wartet ab, was das Schicksal
bringt, und strebt der Königswürde für seine Nachkommen nicht nach;
'mit dem Geschick in hoher Einigkeit' erreicht er ohne Eingriff in den
natürlichen Verlauf der Dinge das in Aussicht gestellte Ziel. — Wenn
anderseits Köster meint, der Wortreichtum der Schillerschen Bearbeitung
gegenüber dem Original sei darin begründet, dafs es Schiller 'häufig genug
Selbstzweck war, schöne Verse zu dichten, für die erstrebte neue Kunst
der Bühnendeklamation', so möchten wir auf den weiter unten zu Bartels'
Aufsatz herangezogenen Ausspruch des Dichters über die Notwendigkeit
einer ausgiebigeren Diktion verweisen.
Auf die treffliche Einleitung zu 'Turandot', die alles für das weitere
Publikum zur literarhistorischen Orientierung Unentbehrliche mit muster-
gültiger Knappheit bringt und Gozzis dichterische Eigenart und Technik
scharf beleuchtet, sei nur mit dem Ausdruck des Dankes verwiesen. Was
die 'Phädra' angeht, so hätten wir gern eine Erklärung dafür gehört,
warum Schiller unter den französischen Klassikern allein Racine von der
sonst allgemeinen Verurteilung ausnahm; die bei aller formellen Gebun-
denheit doch unverkennbar realistische Darstellung des emotionellen Lebens,
die diesen Dramatiker vor dem descartisch vernunftkühlen Corneille aus-
zeichnet, mochte wohl den Ausschlag geben. Das meint wohl Karoline
Wolzogen mit ihren auch bei Köster angeführten Worten: 'Diese grol'se
Darstellung der Menschheit in ihrer Allgemeinheit und ewigen Natur-
wahrheit ergriff uns im tiefsten Inneren und entzückte uns.' Leider .geht
Köster, der in den Einleitungen zu den euripideischen Stücken die Über-
setzertechnik Schillers so eingehend und klar erörtert, auf die Auffassung
der griechischen Figuren nicht ein. Die Anmerkungen zur Tphigenia' hat
er in seinem reichen Kommentar mit verarbeitet, sie sollen aufserdem noch
einmal unter den 'Vermischten Schriften' im Zusammenhang gebracht
werden ; wie gern hätten wir aus der Feder des feinsinnigen Herausgebers
eine Auseinandersetzung über den Charakter des Agamemnon usw. ge-
lesen !
Leider reicht der hier zur Verfügung stehende Raum nicht zu, um
einem so inhaltreichen Werke wie dem Marbacher Schillerbuch, das den
Reigen der Forschungen billig eröffnet, in allen seinen Teilen gerecht zu
werden. Für die prachtvolle Ausstattung haben wir unseren Dank wohl
der Verlagsbuchhandlung abzustatten, die auch für eine im ganzen treff-
lich gelungene Wiedergabe einer sehr grofsen Anzahl von Porträts Schillers
und der Seinigen, von Abbildungen seiner Wohnstätten usw. Sorge ge-
tragen hat. Hier nur ein kurzer Überblick über das Wichtigste des Ge-
botenen mit einzelnen, mehr gelegentlichen Bemerkungen. Erich Schmidt
teilt einen Brief Humboldts an Frau von Stael über Schillers Tod mit,
Alexander von Gleichen-Rufswurm berichtet über das 'Schillermuseum
zu Greifenstein', Baumeister versucht 'Schillers Ideen vor seinem
Dichterberuf' zu entwickeln. Über das Thema eines der bedeutendsten
Beiträge: 'Freiheit und Notwendigkeit in Schillers Dramen' von Theo-
bald Ziegler, habe ich mich inzwischen in einem eigenen Buche ge-
äufsert. Feinsinnig verfolgt Walzel die Andeutungen über bildende
Kunst in Schillers Werken. 'Nicht seine Begabung, nicht eine anregungs-
reiche künstlerische Umgebung hat Schiller dem Reiche der Plastik und
Malerei zugeführt. Und doch möchten wir nicht missen, was innerhalb
seines Schaffens diesem Reiche angehört. Der Philosoph Schiller hat hier
Anschauungen gefunden für seine Lieblingsideen ; der Phantasie des Dich-
ters ist diese Anschauung eine Quelle geworden, aus der sie gern schöpft.
Dem Dramatiker, der von einer musikalischen Stimmung ausging, er-
standen durch die bildende Kunst plastische Ruhepunkte für die Melodie
seiner tragischen Muse.' Mit besonderer Freude Degrüfsen wir die Bei-
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 203
träge der amerikanischen Germanisten. Da spricht M. Dexter Learned-
Philadelphia über 'Schillers literarische Stellung in Amerika', F. Richter-
St. Louis über den Schillerverein in Amerika und Otto Schneider-
Evanston über 'Schiller als Bannerträger des deutschen Gedankens in
Amerika'; ganz kurz, aber bedeutsam sind die Ausführungen Franckes
über 'die innere Verwandtschaft von Naturalismus und Symbolismus'.
'Sowohl Naturalismus wie Symbolismus sind Ausflüsse einer intensiv ge-
steigerten Subjektivität, eines fieberhaft gespannten Interesses an dem
Innenleben.' Leichter wiegt P fisters Aufsatz über 'Schiller als Kriegs-
mann' oder ein Beitrag wie die 'Teilstudien' Auerbachs, die Bettelheim
aus dem Nachlafs abdruckt. Biographische Ausführungen geben Kraufs,
'Friedrich Schiller in der Ludwigsburger Lateinschule', H. Fischer,
'Schiller und die Seinigen bei Hermann Kurz', Pfeiffer über 'Schiller
in der Karlsschule'; auch Weizsäcker über 'Christophines Schiller bilder'
gehört dahin. Für uns bedeutsamer sind die literargeschichtlichen Aus-
führungen. Geschickt führt Kilian ('Don Carlos auf der Bühne') seine
aus der Reclamschen Bibliothek bekannte, ausgezeichnete Don Carlos-
Bearbeitung ein. Weniger spricht uns der Aufsatz von Westen holz
'Wallenstein und Macbeth' an, der bei weitem nicht so tief in das psycho-
logische Problem des 'Wallenstein' eindringt als die obenerwähnte Arbeit
von Ziegler. L. Geigers Aufsatz 'Schiller und Diderot' ist wichtig durch
seine Vergleichung zwischen der Erzählung 'Merkwürdiges Beispiel einer
weiblichen Rache' mit dem Original, weniger durch den kurzen Hinweis
auf die verschiedene Gestaltung des gleichen Stoffes, des Motivs der
'Bürgschaft' bei beiden Dichtern. Adolf Frey weist die Beziehung zwischen
'Schiller und Matthisson', insbesondere im 'Spaziergang' nach, verfolgt
auch Spuren der Einwirkung des Lyrikers bis in den 'Teil' hinein, dessen
Held dem von jenem verherrlichten Berufe des Gemsjägers obliegt. Treff-
lich wägt er in einer Analyse des Schweizerdramas die durch die fest-
stehenden Motive bedingten Schwierigkeiten ab, die sich der dramatischen
Komposition in den Weg stellten und bei dem eiligen Abschlufs des Werkes
sich nur um so fühlbarer machten. Sehr wertvoll für den deutschen
Unterricht sind seine Ausführungen über Gefsler, minder zwingend er-
scheinen seine Bedenken gegen den Schlufs der Eingangsszene. Inter-
essante Studien über 'Schillers Balladentechnik' bietet Bulthaupt, und
Litzmann erfafst 'Schillers Balladendichtung' als Ganzes, um auf ihren
tiefen Gehalt und ihre formale Vollendung hinzuweisen. Mit Recht be-
tont er den hohen künstlerischen Wert dieser kleineren Werke des Dich-
ters und verwahrt sich gegen ihre handwerks- und gewohnheitsmäfsige
Behandlung in der Schule. 'Die Folge ist, dafs die Jungen alle Freude
und allen Respekt vor dem Kunstwerk verlieren und mit Schillerschen
Balladen den Begriff und die Vorstellung von unerträglicher, moralisieren-
der Pedanterie und höchstens von einer Reihe schön klingender Verse
verbinden lernen. Wenn wir so fortfahren, so werden wir Schiller uns
und unseren Kindern bald völlig verleidet haben. Hier wäre ein War-
nungsruf, videant consules, am Platze. Denn es handelt sich um einen
geistigen Raubbau, der uns unermefslichen Schaden tut.' Diese Gefahr
können Aufsätze, wie die beiden zuletzt genannten, die sich teilweise mit-
einander berühren, gar wohl vermindern, und darin beruht der Wert
solcher Mahnrufe, dafs die Meister der Wissenschaft selbst Hand anlegen,
um die Zustände zu bessern. Nur gilt, was Litzmann von den Balladen
sagt, noch mehr von den Dramen. Was uns not tut, ist ein wissenschaft-
lich exakt fundierter und von künstlerischem Nachempfinden getragener
grofser Gesamtkommentar zu Schillers Werken — eine Arbeit, um deren
Anbahnung und Förderung sich unsere Akademien im Jubiläumsjahre
verdient machen dürften!
Wertvoll durch die mutige Zerstörung altererbter Irrtümer ist auch
204 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
der Aufsatz von Otto Harnack über 'Schiller und Herder'. Vielleicht
geht er etwas zu weit in der Behauptung, Weimar sei zur Klassikerzeit
überhaupt keine literarische Stadt gewesen, aber das kann man ihm ohne
weiteres zugeben: 'Was die grofsen Dichter anzog und festhielt, waren
die Persönlichkeiten des Herzogs und seiner Mutter, die es verstanden,
die verschiedensten Individualitäten zu fesseln ; für sich aber lebte jede
dieser Individualitäten isoliert, wohl fanden sie sich bisweilen für eine
Strecke Wegs mit einer anderen zusammen, aber nur soweit es der Gang
des eigenen Geistes ihr wünschenswert machte. Selbst mit dem spät ge-
schlossenen Freundschaftsbund Schillers und Goethes steht es nicht
anders.' Und ausgezeichnet ist die Auseinandersetzung über die schliefs-
liche Trennung Herders von der Horengenossenschaft, der er nur schein-
bar eine Zeitlang angehört hatte; vielleicht hätte Harnack hier die Farbe
etwas kräftiger auftragen und auch der weiblichen Einflüsse gedenken
sollen, die hier im Spiele waren, immerhin war es gut, den Nachdruck
darauf zu legen, dafs bei dem grollenden Ausweichen Herders weniger
kleinliche Verbitterung als ein klares Bewufstsein davon entscheidend war,
dafs jede der grofsen Naturen ihre eigenen Wege ging; das Ziel mochte
das gleiche sein, die Weggenossen aber konnten nicht Schulter an Schulter
dahinsteuern. Dagegen möchte ich nicht gleich für die erste Weimarer
Zeit und besonders für die Jenaer Jahre das Verhältnis der beiden Männer
so kühl auffassen, wie Harnack tut. Dieser übersieht augenscheinlich
manches wichtige Dokument, wie den Brief (Jonas Nr. 271) an Körner
vom 15. Mai 1788: 'Ich habe mich mit Herder über historische Schrift-
stellerei, Magnetismus und verborgene physische Kräfte unterhalten. Er
ist sehr für die letzteren ... so sagt er von sich, dafs ihm das erste Zu-
sammenkommen mit einem fremden Menschen ein dunkles physisches
Gefühl erwecke, ob dieser Mensch für ihn tauge oder nicht. Herder neigt
sich äufserst zum Materialismus, wo er nicht schon von ganzem Herzen
daran hängt. Sein letzter Teil der Ideen wird, wie er mir sagt, nicht
herauskommen. Fertig ist er längst; warum er damit zurückhält, mochte
ich ihn nicht fragen, weil es wahrscheinlich seine verdriefsliche Ursache
hat. Vielleicht kann ich ihn im Manuskript von ihm erhal-
ten, und dann sollst Du auch dabei zu Gaste sein. Ich bin willens,
Herdern diesen Sommer sozusagen zu verzehren.' Diese Stelle
zeigt, dafs von einer gegenseitigen Interesselosigkeit, wie sie Harnack
S. 75 konstatiert, keine Rede sein kann ; und dafs Schiller die 'Ideen'
nicht blos gelesen, sondern auch für seine eigenen historischen Arbeiten
benutzt habe, hoffe ich in Kürze an anderer Stelle nachweisen zu können.
Auch kann man nicht Herder so ohne weiteres als Kulturhistoriker,
Schiller als vorwiegend politischen Geschichtschreiber hinstellen, wie das
S. 76 geschieht. Auch Schiller hat das allgemeine Kulturelement theo-
retisch und praktisch scharf betont. Freilich hat Harnack sehr recht
damit, dafs Schiller immer wieder bei der Herausarbeitung der grofsen
Menschen anlangt, die eigentlich die Geschichte 'machen', und ebenso
klar legt unser Berichterstatter den Grundunterschied der Weltanschauung
dar, der Herder von den beiden grofsen Freunden trennte. Herder strebt
nach Humanität an sich, Goethe und Schiller meinen, 'dafs jede Tätigkeit
nur dadurch zu ihrer höchsten Stufe gelange, dafs sie Selbstzweck wird';
wir werden sagen können : Herder fafst die Humanität in realistischem,
die beiden Klassiker in nominalistischem Sinn auf; es geht ihnen mit
ihr wie Luther mit der Religion und dem Christentum, sie ist nicht eine
Sache für sich, sondern gleichsam eine Methode, andere Sachen anzu-
fassen; der Künstler, der Gelehrte, der Staatsmann, sie alle haben auf
ihrem besonderen Betätigungsfelde an der Herausarbeitung des allgemein
Menschlichen mitzuarbeiten; dabei läfst sich klar und scharf etwas den-
ken; Herders Begriff der Humanität aber schwebt in der Luft und ist
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 205
im Grunde genommen von seiner eigenen Individualität abhängig; je
enger und kleiner diese allmählich wurde, um so mehr mulste er an Wirk-
samkeit ins Grofse einbüfsen.
Weniger zufrieden sind wir mit dem Beitrage Adolf Bartels' über
'Schillers Theatralismus'; der Verfasser verwahrt sich gegen den Vorwurf
der Schillerfeindschaft ; wir wollen diesen nicht aufs neue erheben, mag
Schiller befeinden, wer will und sich's zutraut. Wenn aber Bartels in
der Stelle seiner Literaturgeschichte, die er hier ausschreibt, die Behaup-
tung aufstellt : 'Ich bin allerdings der Ansicht, dafs das spezifisch Schiller-
sche (im Drama, wohlverstanden, besser noch in der dramatischen Ge-
staltung) überwunden werden mufs, ja längst überwunden ist, da alle
Schillerianer von Auffenberg bis Wildenbruch in der Hauptsache ge-
scheitert sind' — dann müssen wir doch sein Verständnis billig einiger-
mafsen anzweifeln; denn alle Formen der Schillerschen Dramatik fliefsen
aus dem Bestreben hervor, seine von Bartels höchlichst gepriesene Welt-
anschauung an dem bestimmten dramatischen Problem, das er bearbeitet,
zum Ausdruck zu bringen. Weil aber Schiller zwar überkommene For-
men verschiedener Art zur Verfügung hatte, seine Weltanschauung aber
neu und einzig war, so sehen wir ihn in der Form bald hier, bald dort
tastende Versuche wagen, so dafs von einem 'spezifisch Schillerschen' in
der dramatischen Gestaltung eigentlich kaum die Rede sein kann. Bartels
wirft nun Schiller 'Theatralismus' vor, d. h. den 'blofsen Schein an Stelle
des das Leben spiegelnden Scheins, im tiefsten Grunde natürlich das Un-
vermögen, das Leben wahrhaft zu gestalten, dann natürlich auch das quasi
geschäftliche Raffinement, das die durch das Theater mögliche Wirkung
genau studiert hat und nun statt des wirklichen Gewitters das brillante
Feuerwerk abgibt.' Natürlich stellt Schiller diese Unarten nicht in ihrer
äufsersten Form dar, und 'a priori verwerflich ist sie ja nicht, so wenig
wie die Rhetorik, es kommt auf den Gebrauch an.' Ich glaube aber, wenn
der Theatralismus wirklich den blolsen Schein .statt des ästhetischen Scheins
verwendet, dann ist er ein für allemal vom Übel und darum verwerflich.
Also entweder hat Schiller auf den blolsen Schein hin gearbeitet oder
nicht, das ist die Kernfrage. Wer seinen Briefwechsel aufmerksam durch-
gearbeitet hat, wer seine Prosaschriften, insbesondere die ästhetischen Briefe,
wirklich kennt,1 wird anderer Meinung sein und hohe Achtung vor Schillers
künstlerischem Ernst davontragen ; wer in seinen Dramen Wort für Wort
nachwägt, der wird jedenfalls kaum in die Lage kommen, irgendwo auch
nur die Ansätze zu einer blofs sinnlichen oder Wirkung um ihrer selbst
willen nachzuweisen, die nicht aus dem dramatischen Gefüge mit Not-
wendigkeit hervorginge. Freilich, aus dem dramatischen Gefüge im Sinne
Schillers. Und ihm ist es ja vor allem darum zu tun, in dem Einzel-
schicksal, das sich da vor uns abspielt, das Ewige, Bleibende, Natur-
gemäfse hervorzuheben ; wer dies seinen Hörern zum Bewufstsein bringen
will, braucht mit Rücksicht auf das tiefe Verständnis, das unser Publikum
dem Gehalt eines Dramas entgegenzubringen pflegt, szenische und Aus-
drucksmittel, die an und für sich betrachtet wohl den Eindruck reiner
Theatralik machen können. Aber Bartels glaubt, aus einem Briefe Schillers
das Geständnis seiner theatralischen Arbeitsweise herauslesen zu können.
Ist das richtig, dann können wir nichts Besseres tun, als Schillers Dramen
sofort aus dem Lehrplan unserer Schulen herauszustreichen: Theatralik
bietet unser öffentliches Leben genug, wir brauchen uns nicht auch noch
in der Schule mit Phrasenschwindel herumzuschlagen und ihn gar als
1 Vgl. über den Scheinbegriff besonders den sechsundzwanzigsten Brief, z. B. :
'Nur, soweit er aufrichtig ist (sich von allem Anspruch auf Realität ausdrücklich
lossagt), und nur, soweit er selbständig ist (allein Beistand der Realität entbehrt),
iat der Schein ästhetisch.'
20G Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Bildungsmittel zu verwenden. Nun lautet die Stelle, in der Schiller einen
Vergleich zwischen sich und Goethe zieht, folgendermal'sen (Jonas II, 238):
'Er hat weit mehr Genie als ich und daher weit mehr Reichtum an Kennt-
nissen, eine sicherere Sinnlichkeit und vor allem diesem einen durch
Kunstkenntnis aller Art geläuterten und verfeinerten Kunstsinn, was mir
in einem Grade, der ganz und gar bis zur Unwissenheit geht, mangelt.
Hätte ich nicht einige andere Talente, und hätte ich nicht soviel
Feinheit gehabt, diese Talente und Fertigkeiten in das Gebiet des Dramas
hinüberzuziehen, so würde ich in diesem Fache gar nicht neben ihm sicht-
bar geworden sein. Aber ich habe mir eigentlich ein eigenes Drama nach
meinen Talenten gebildet, welches mir eine gewisse Excellence darin gibt,
eben weil es mein eigen ist. Will ich in das natürliche Drama ein-
lenken, so fühle ich die Superiorität, die er und viele andere Dichter aus
der vorigen Zeit über mich haben, sehr lebhaft.' Es erhebt sich sofort
die Frage, welcher Art denn nun diese besonderen Talente Schillers sein
mögen, und Bartels ist alsbald mit der Auskunft bereit, das sei 'doch nur
so zu deuten, dafs der Dichter sich der ihm aus seinem Talent erwachsen-
den Notwendigkeit, im Drama bisweilen das theatralische Surrogat für
die wahrhaft dramatische Darstellung zu geben, selber bewufst war.' Das
heifst interpretieren! Nun geht aber alles rein Theatralische allemal aufs
Sinnliche, und gerade darin hatte doch Schiller einen Goethe als superior
anerkannt! Wenn nur Bartels die nächsten paar Zeilen hinzugezogen
hätte, so wäre er auf den Kern der Sache gestofsen. 'Denn ohne ein
grofses Talent von der einen Seite hätte ich einen so grofsen Mangel von
der anderen nicht so weit bringen können, als geschehen ist, und es über-
haupt nicht so weit bringen können, um auf Goethe zu wirken.' Und
darauf kam es ihm vor allem an. Wenn Richard Wagner einmal im Hin-
blick auf Beethoven sagt, der Deutsche wolle seine Musik nicht blofs
fühlen, er wrolle sie auch denken bezw. sich etwas dabei denken, so können
wir Beethoven in dieser Hinsicht unmittelbar neben Schiller stellen. Goethe
ist ein so allgewaltiger Beherrscher der Sinnlichkeit, dafs er durch die
blofse Anordnung des realen Lebens den Zuschauer mit fortreifst, wohin
er ihn haben will; Schiller mangelt eine Anschaulichkeit in diesem Grade,
er kann den Hörer nicht unmittelbar empfinden lassen, dafs da eine
Einzelhandlung von symbolischem Werte sich abspielt, er braucht ein
Bindeglied zwischen Bühne und Zuschauerraum, die volle Wirkung wird
durch intellektuelle Hilfe vermittelt, Schiller will den Hörer auf eine
Höhe heben, von der aus er Handlung und Leiden des Helden freier,
unter dem Gesichtspunkte der Notwendigkeit überschauen, mit der Frei-
heit der Vernunft darüber urteilen kann. Darin liegt seine Stärke, und
diese hat er mit gutem Rechte ausgebildet. Darauf beziehen sich alle
seine Studien, alle seine Experimente. Den tieferen Gehalt des Dramas
möglichst klar herauszustellen, teils durch das mehr oder minder subjektiv
gefärbte Aussprechen der wirkenden Gesetze, teils durch eine scharf aus-
geprägte Form der Katastrophe, die ihre Wirkung auch auf den Durch-
schnittshörer nicht verfehlen kann. Denn darauf eben kommt es Schiller
an, diesen durch die ästhetische Anschauung 'das unvermeidliche Schick-
sal zu inokulieren, wodurch es seiner Bösartigkeit beraubt und der An-
griff desselben auf die starke Seite des Menschen abgelenkt wird.'1 Dazu
ist die Möglichkeit völliger Substitution des Hörers unter die Gestalten
des Dramas nötig, und diese ist von der unbedingten Wahrhaftigkeit der
Darstellung abhängig; diese aber verwechselt Bartels mit der Wirklich-
keit, mit dem Realismus, wenn er 'geradezu erschrickt', dafs in dem Auf-
satz 'Über die tragische Kunst' das 'unbedingt Wahre, das blofs Mensch-
liche in menschlichen Verhältnissen' als eigentlich tragisch ergiebig hin-
1 Schriften X, 228.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 207
gestellt wird, weil die Kunst 'bei diesem allein, ohne darum auf die Stärke
des Eindrucks Verzicht tun zu müssen, der Allgemeinheit desselben ver-
sichert ist.' Daraus will Bartels nämlich eine jede Individualisierung aus-
schliefsende Verallgemeinerung der Figuren ableiten und betont Schiller
gegenüber als eigentliches Element des Ästhetischen das Spezifische! Ich
glaube, in Wahrheit ist Schiller von dem, was Bartels fordert, in Theorie
und Praxis gar nicht so weit entfernt. Denn nicht von den Charakteren
und der Motivierung menschlicher Pläne und Handlungen im einzelnen
fordert Schiller, wenn wir genauer zusehen, jene Allgemeingültigkeit, son-
dern von den letzten Prinzipien des Handelns; in bezug auf diese soll
Einheit zwischen dem Publikum und dem Dichter walten, damit der Rollen-
tausch zwischen dem Zuschauer und dem Helden auf der Bühne nicht
erst eine intellektuelle Zwischentätigkeit nötig habe. In die heldenmütige
Aufopferung eines Leonidas werden wir uns alle hineinversetzen können,
nicht aber in den Richterspruch des ersten Brutus, wie Schiller meines
Erachtens mit vollem Rechte betont; wenn sich der Zuschauer erst davon
überzeugen mufs, dafs unter bestimmten Verhältnissen, wie sie die römische
Doktrin mit sich brachte, eine Tat wie die des Brutus nötig und begreif-
lich wurde, vor der er doch selber zurückschauert, so ist seine eigene Er-
hebung zur ästhetischen Anschauung des Schicksals, das sein eigenes
Leben durchwaltet, aber durch die empirische Wirklichkeit zumeist ver-
dunkelt wird, zum mindesten behindert; und wenn wir ehrlich sein wollen :
sucht denn ein moderner Dramatiker, sobald er ein Problem wie das vor-
liegende zu lösen hat, uns wirklich zeitweilig zu alten Römern zu machen ?
Beruht nicht die ganze Gröfse der Shakespearischen Römerdramen darauf,
dafs seine Helden eben in psychologischer Beziehung so gar nicht römisch
sind? Wird man nicht den Anschlag eines Coriolan unmittelbar aus dem
allgemein Menschlichen bezw. den Renaissanceanschauungen, in denen
Shakespeare lebte, ableiten müssen, um ihn verständlich zu machen?
Anders handelt auch Schiller nicht, und wer die grofsartige Individualität
Wallensteins verkennt, die uns doch so gewaltig zu Herzen spricht, dem
ist nicht zu helfen. Zitiert man aber eine Schillersche Abhandlung, dann
mufs man sich mit Schillers Gedankengängen so genau als möglich ver-
traut machen. Hier können wir nur so viel sagen, dafs Schiller seinem
eigenen Geständnis nach in der angezogenen Schrift stark mit Kantischen
Gedanken arbeitet; wenn er das 'blofs Menschliche' nennt, mit dessen
Hülfe er auf das wirken will, was allen Menschen gemein ist, so handelt
es sich da um gesetzmäfsige Verhältnisse wie das allgemein gültige Moral-
prinzip des kategorischen Imperativs; wie aber dieser für Kant nur ein
Formales ist, das bald diesen, bald jenen spezifischen Inhalt annehmen
kann, so bietet Schillers Theorie und Praxis für das Spezifische, Charak-
teristische den weitesten Raum und verlangt nur die stete Beziehung auf
das allgemein Menschliche, ohne die eine unmittelbare, eine ästhetische
Anschauung durch den Zuhörer nicht möglich ist. Auf diese kann Schiller
nicht verzichten um des Zweckes willen, den er der tragischen Dichtung
überhaupt zuschreibt. Man mag diesen Zweck verwerfen und damit die
ganze Schillersche Kunst; wenn man aber über sie urteilen will, mufs
man sie doch als Ganzes bis in ihre psychologischen Wurzeln hin ver-
folgen : 'Wollt ihr nach Regeln messen, was nicht nach eurer Regeln Lauf,
der eignen Kunst vergessen, sucht davon erst die Regel auf!' Jedenfalls
wird niemand, der Schillers Kunsttheorie im Zusammenhang durchdenkt
und seine dramatische Praxis damit vergleicht, eine äufserliche, unmittel-
bare Wirkung einzelner Teile konstruieren können. Nur ein paar Bei-
spiele dafür. Jene wunderbare Einmischung Albas in die Schlufsszene
des 'Egmont', die Goethe so widerwärtig war, und die zum Glück nicht
in unsere Bühnenpraxis eingedrungen ist, läfst nicht, wie Goethe meinte,
auf besondere Grausamkeit Schillers schliefsen, was Bartels auch ganz
208 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
richtig hervorhebt; es handelt sich aber auch nicht blofs, wie er meint,
um ein 'rednerisches Unterstreichen', um die unorganische Herausarbeitung
eines Akzents, sondern um die letzte Durchführung der dramati-
schen Entwickelung des Charakters; denn darin äufsert sich das
gewaltige Schicksal in seinen Dramen, dafs es die Natur herstellt, nicht
blofs im grofsen Weltlauf, sondern in allen einzelnen Figuren ; und die-
jenigen, die auf eine abnorme Einseitigkeit angelegt sind, erscheinen am
Schlufs auf dem Gipfelpunkt dieser Entartung; ein Fiesko ist am Schlüsse
nur noch der Despot, Wallenstein sinkt vor unseren Augen, König Philipp
droht, furchtbare Zeichen seiner Macht und Grausamkeit aufzurichten ;
und dieser finstere Alba, der den Unschuldigen zum Tode führen läfst,
sollte so einfach von der Bühne scheiden, wie wir ihn zuletzt sahen, gleich-
sam als Werkzeug höherer Befehle, während doch persönlicher Neid, klein-
liche Eifersucht, wenigstens nach Schillers Auffassung, offenbar mit im
Spiele waren? Nein, er mufs am Schlufs als der Bösewicht dastehen,
nicht zum Schreckbild, sondern um der dramatischen Entwickelung an
seinem Teile ihre Rundung zu geben. Ein anderes Beispiel, das viel be-
rufen ist. Max und Thekla erscheinen nicht, um dem Verlangen des
Pöbels nach der 'belle passion' nachzugeben; sie bilden, wie uns Schillers
Briefwechsel zur Genüge zeigt, in ihrer idealen Lebenshaltung nicht nur
ein Gegengewicht gegen die blofs realistische Handlungsweise der Haupt-
figuren, sondern ein Hilfsmittel für den Zuschauer, um zu jener höheren
Warte zu gelangen, von der aus der Untergang des Helden als eine ver-
nünftige Zweckmäfsigkeit erscheinen mufs. Endlich und vor allem: die
Schillerschen Sentenzen sind keine Glanzstücke, sind nicht auf äufserliche
Wirkung berechnet, im Gegenteil wollen sie eine möglichste Vertiefung
des Eindrucks beim Zuschauer üben, sie wollen ihn zur Auffassung der
Handlung von jenem höheren Gesichtspunkt anleiten, also nicht etwa
moralische Belehrung im einzelnen geben, sondern im Gegenteil zur ästheti-
schen Anschauung des Ganzen verhelfen. 'Ich lasse', sagt der Dichter
selbst, 'meine Personen viel sprechen, sich mit einer gewissen Breite her-
auslassen; Sie haben mir darüber nichts gesagt und scheinen es nicht zu
tadeln. Ja Ihr eigener Usus sowohl im Drama als im Epischen spricht
mir dafür. Es ist zuverlässig, man könnte mit wenigen Worten auskom-
men, um die tragische Handlung auf- und abzuwickeln, auch möchte es
der Natur handelnder Charaktere gemäfser erscheinen. Aber das Beispiel
der Alten, welche es auch so gehalten haben und in demjenigen, was
Aristoteles die Gesinnung und Meinung nennt,1 gar nicht wortkarg ge-
wesen sind, scheint auf ein höheres poetisches Gesetz hinzudeuten, welches
eben hierin eine Abweichung von der Wirklichkeit fordert. Sobald man
sich erinnert, dafs alle poetischen Personen symbolische Wesen sind, dafs
sie als poetische Gestalten immer das Allgemeine der Menschheit darzu-
stellen und auszusprechen haben, und sobald man ferner daran denkt,
dafs der Dichter sowie der Künstler überhaupt auf eine öffentliche und
ehrliche Art von der Wirklichkeit sich entfernen und daran erinnern soll,'2
dafs er's tut, so ist gegen diesen Gebrauch nichts zu sagen. Aufserdem
würde, deucht mir, eine kürzere und lakonischere Behandlungsweise nicht
nur viel zu arm und trocken ausfallen, sie würde auch viel zu sehr
realistisch, hart und in heftigen Situationen unausstehüch sein, dahingegen
eine breitere und vollere Behandlungsweise immer eine gewisse Ruhe und
Gemütlichkeit auch in den gewaltigsten Zuständen, die man schildert,
hervorbringt' (Jonas V, 418, an Goethe). Goethe erkennt nur immanente
Gesetze als im Menschenleben wirksam an, er arbeitet mit dem Dämoni-
schen und erreicht den Eindruck des Lebenswahren durch seine grofs-
1 TJfros xal Sidvoia.
1 Vgl. die oben gestreifte Lehre vom ästhetischen Schein.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 20!)
artige 'Sinnlichkeit', die Schiller an ihm neidlos anerkennt, durch eine
wunderbare Fülle von Einzelheiten, die durch ihre Zusammenstimmung
den Zuschauer zur völligen Aneignung des Dargestellten zwingen. Schiller
ist einerseits die Gabe des 'Schauens in irdischen Dingen nicht in dem
Mafse verliehen wie Goethe, anderseits kommt es ihm mehr auf die
transzendenten Gesetze an, zu denen er den Zuschauer hinleiten will;
darum stört ihn alles, was die Aufmerksamkeit von den Hauptsachen,
vom Bedeutsamen abzieht; wollte er sich nun in reaüstischen Formen
ausdrücken und doch die Überfülle des Nebensächlichen, nicht streng Zu-
gehörigen, Indifferenten, wie sie das reale Leben bietet und eine natura-
listische Kunst mit verwerten mufs, ausscheiden, so bliebe ein karger Rest
übrig, der eher illusionszerstörend wirken könnte; daher arbeitet Schiller
mit wenigen Einzelmomenten, aber diese sucht er zu erschöpfen; er geht
nicht in die Breite, sondern in die Tiefe, bis in jene Tiefe, wo wir den
Erscheinungen einigermafsen auf den Grund kommen. Wenn das theatra-
lisch ist, dann, aber auch nur dann, ist Schiller der gröfste Theatraliker
unter unseren Klassikern.
Zum Schlufs nur noch einen Beleg dafür, wie Schiller selbst über
das blofs Theatralische dachte: 'Die Kunst mufs den Geist ergötzen und
der Freiheit gefallen. — Aus diesem Grunde verstehen sich diejenigen
Künstler und Dichter sehr schlecht auf ihre Kunst, welche das Pathos
durch die blofse sinnliche Kunst des Affekts und die höchstlebendigste
Schilderung des Leidens zu erreichen glauben. Sie vergessen, dafs das
Leiden selbst nie der letzte Zweck der Darstellung und nie die un-
mittelbare Quelle des Vergnügens sein kann, das wir am Tragischen
empfinden.' ' —
Der Rest des Bandes mufs rasch erledigt werden. Wohlwill mustert,
ohne viel Neues, besonders an tatsächlichem Material, beizubringen, die
Beziehungen zwischen 'Schubart und Schiller', R. Vi sc her teilt aus seines
Vaters Vorträgen über neuere deutsche Poesie den Abschnitt 'Friedrich
Hölderlin' mit. Wertvolles neues Material dagegen bringt Seuffert:
sechs 'Wieland - Briefe' aus dem Marbacher Schiilermuseum, die freilich
nicht vorzugsweise für die Schillerkunde in Betracht kommen. Wichtiger
für unser Thema sind die 'Ungedruckten Briefe an Schiller', die uns
Hartmann mitteilt. Sie stammen zum gröfsten Teil von Fr. von Hoven,
dann von Conz, Haug und L. Schubart und illustrieren somit Hartmanns
Buch über Schillers Jugendfreunde. Wertvolle Urkunden und Briefe 'Von
und an Schiller' teilt Güntter mit und beleuchtet damit bedeutsame
Wendepunkte in Schillers Leben, Jonas schildert die Schwiegermutter
des Dichters, Louise von Lengefeld, Ernst Müller macht Mitteilungen
'aus dem Nachlafs von Karoline von Wolzogen', Petersen aus dem Brief-
wechsel zwischen Schillers Witwe und Cotta.
Sehr willkommen zum Jubiläum erscheint, in zweiter Auflage, Har-
nacks Schiller, diesmal im Festgewande, d. h. mit reichem und treff-
lichem Bilderschmuck, leider in einer das Auge ermüdenden Druckaus-
stattung; unter den heute fertig vorliegenden Schillerbiographien immer
noch die gediegenste, obwohl der Verfasser auf kritische Auseinandersetzun-
gen über strittige Punkte grundsätzlich verzichtet und sich mit Rücksicht
auf sein Publikum mehr berichtend als diskutierend verhält. Was die Aus-
einandersetzung des Vorworts mit den Kritikern der ersten Ausgabe be-
trifft, so billigen wir Harnacks Unterdrückung rein literaturgeschichtlich
interessierender Abschnitte, wie z. B. der Nachgeschichte der Räuber,
zumal ja die literarischen Vorbedingungen der Werke im ganzen voll ge-
würdigt werden; ebenso danken wir ihm für seine Sparsamkeit hinsicht-
lich der Anekdoten aus der Kinderzeit, hätten aber das Milieu mit Leitz-
1 Schriften X, 155.
Archiv f. n. Sprachon. CXV. 14
210 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
mann hier und da etwas breiter ausgeführt sehen mögen. Wichtig und
entscheidend für den Wert des Buches ist Harnacks Auffassung Schillers
als einer sich stetig entwickelnden Energie, die nirgends in den Zustand
der Ruhe und Stagnation übergeht. Auch für alle Einzelfragen, für
Schillers Ästhetik und Ethik, für seine äufsere dramatische Technik wie
für die Gestaltung seiner Charaktere mufs der chronologische Standpunkt
entschieden durchgeführt werden; freilich wird dann überall das Bleibende
und Unabänderliche hervortreten, aber ebenso scharf werden sich die immer
wechselnden und sich immer vervollkommnenden Formen abheben, in
denen das Bleibende seinen Ausdruck findet. Im übrigen schöpft Harnack
die Urkunden nach Möglichkeit aus, wo es sich um wirkliche Aufhellung
des Seelenlebens seines Helden handelt, vor allem in der viel umstrittenen
Frage nach Schillers Verhältnis zu Liebe und Ehe. Ich glaube Harnack
auch hier recht geben zu müssen: er war der Dichter und der Mann der
Freundschaft, nicht der Liebe, wenigstens nicht der sinnlichen Liebe; er
betrachtete die Leidenschaft immer nur als einen vorübergehenden Zu-
stand, der durch die vernünftige Natur des Menschen überwunden werden
müsse, und sah eben in der bleibenden Liebe nur eine Form der reinen
Freundschaft, wie sein nichts weniger als anstöfsiges Doppelverhältnis zu
den Schwestern Lengefeld zur Genüge dartut. Hätte Schiller sein Ver-
hältnis zur Gattin nicht vorzugsweise als Freundschaft aufgefafst, wie
wäre es ihm dann möglich gewesen, in den 'Idealen' der Liebe mit den
anderen Traum- und Wahnvorstellungen den Laufpafs zu geben und nur
'der Freundschaft leise, zarte Hand' und die 'Beschäftigung, die nie er-
mattet', zu feiern, ohne die Gattin aufs tiefste zu verletzen, was kein Ver-
nünftiger für seine Absicht halten wird ? Schiller überwand die Anstürme
der Leidenschaft ohne Verbitterung, ohne quälenden Schmerz. Gerade
darum möchte ich aber auch die 'Resignation' nicht in so pessimistischem
Sinne erklären, wie Harnack S. 129 tut. Der Held des Gedichtes ist nicht
ohne weiteres mit dem jungen Schiller zu identifizieren, der sich eben von
Frau von Kalb losgerissen hat, denn ihm schwebten ganz sicherlich nicht
egoistische Erwägungen über den Ausgleich im Jenseits vor! Dazu war
er zu edel, und darum bezieht sich die strenge Abweisung, die er dem
Schicksal in den Mund legt, nicht auf ihn selbst. Auch möchten wir
aus den Worten über 'Hoffnung' und 'Genufs' nicht so sehr schneidenden
Hohn heraushören als eine sehr frühe dichterische Formulierung von
Schillers sittlicher Weltanschauung. Was er hier 'Hoffnung' nennt, ist
ihm später die reine, ästhetische Anschauung, die Freude an der blofsen
Form; an ihr finden edlere Naturen ihr Glück, gemeine nur im sinn-
lichen Genufs. Zwischen beiden steht der unglückliche Halbmensch, den
das Gedicht schildert, der sich den Genufs versagt, ohne sich doch über
die Begierde erheben zu können; er findet keinen Ersatz für das, was er
sich versagt; so erkennt Schiller keine Ausgleichsmoral mit lüsternen
Blicken auf das Jenseits an, sondern nur eine prinzipielle Entsagung aus
Ekel vor der Leidenschaft; eine solche kann den Menschen zum Glück
führen; auch hier gibt es eine 'Hoffnung', denn die Vollkommenheit, die
der Mensch erstrebt, wird nicht mit einem Schritt erreicht, sondern in
unablässig treuem Streben, das sein Ziel niemals, weder in dieser noch
in jener Welt erreicht, das aber an sich schon Glücks genug verleiht. —
Übrigens kommt Schillers Weltanschauung und insbesondere seine Ästhetik
in der zweiten Auflage des Buches besser fort als in der früheren. Harnacks
Ansichten über Schillers philosophische Entwickelung sind ja aus seinem
gröfseren Werk über die klassische Ästhetik der Deutschen hinreichend
bekannt, er bleibt ihnen auch hier getreu. Von den Beziehungen zu Fichte
erfahren wir wenig, nur die derbe Abfertigung in den Xenien wird her-
vorgehoben. Immerhin hätte eine ausreichende Darstellung der gegen-
seitigen Durchdringung von Schillers Anschauungen mit denen seiner
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 211
Umgebung im Hinblick auf den Zweck des Buches entschieden zu weit
geführt, und gerade die Beschränkung, die sich Harnack überall auferlegt,
zeigt den Meister, der den Stoff wahrhaft beherrscht, äufserlich und inner-
lich, wie er denn mit eigenem Urteil auch über seinen Helden nirgends
zurückhält und weder in der Jugendgeschichte noch in der Darstellung
des Verhältnisses zu Goethe irgendwelchen Beschönigungen und Ver-
tuschungen huldigt.
Diese mutige Objektivität ist auch dem neuesten Biographen, Karl
Berger, nachzurühmen, von dessen Biographie zur Weihnachtszeit der
erste Band erschien; sie wird nicht Fragment bleiben, wie es die monu-
mentalen Arbeiten von Minor und Weltrich bisher geblieben sind; sie
wird aber auch, wenn diese einst fertig vorliegen, ihren Platz neben ihnen
zu behaupten wissen. Waltet über ihr auch nicht jener volle, künst-
lerische Zauber, der Bielschowskys Goethebiographie zu einem klassischen
Werke unserer wissenschaftlichen Literatur macht, so werden wir doch
immer dankbar zu der trefflichen, gediegenen und geschmackvollen Arbeit
zurückgreifen, um sie als rechtes Hausbuch zu empfehlen. Das sei denn
auch schon heute getan; eine ausführlichere Würdigung versparen wir
uns, bis wir das Werk als Ganzes überblicken können.
Eine wahrhaft köstliche Gabe hat uns Hartmann mit seinem Buche
über 'Schillers Jugendfreunde' dargeboten. Auf Grund sorgfältigster lite-
rarischer und archivalischer Studien entwirft er Lebens- und Charakter-
bilder aller irgendwie bedeutenderen Persönlichkeiten jener an originellen
Geistern und Charakterköpfen so fruchtbaren Zeit, in der sich auch der
junge Schiller emporringen mufste. Nach einer kurzen Einführung über
Schillers freundschaftliches Talent, wenn man so sagen darf, das allent-
halben rückhaltlos anerkannt wurde (eine Darstellung der Freundschafts-
motive in den Jugendwerken wird leider nicht gegeben), setzt die Dar-
stellung gleich mit der Lorcher Zeit ein und geht von der ehrwürdigen
Gestalt des Pfarrers Moser aus, dem der junge Dichter in den 'Räubern'
nachher ein ehrendes Denkmal setzen sollte. Im übrigen ist Hartmann
leider der Frage nicht genügend nachgegangen, wie weit die einzelnen
dieser scharf umrissenen Persönlichkeiten, mit denen sein Buch uns be-
kannt macht, Schiller als Modelle für seine dichterischen Figuren gedient
haben mögen. Der von Schiller sehr ungünstig beurteilte K. Kempf
scheint mir bestimmt auf die Gestaltung Franz Moors hinübergewirkt zu
haben; man sagte ihm un kam eradschaftliches Verhalten und Neigung zur
Intrige nach ; ' was hier von dem Gegner gilt, dafs Schiller sein Bild in
der Phantasie abrundete, bis die Abnormität 'Franz' zum Vorschein kam,
das mag in höherem Grade noch von den Freunden gelten. Was diese
anlangt, so fafst Hartmann den Begriff im weitesten Sinne. Auch die
Freunde unter den Lehrern, vor allem der treffliche Abel, 'der engel-
gleiche Mann', einer der liebenswürdigsten unter den deutschen Popular-
philosophen, dessen Lebensbeschreibung niemand ohne innere Teilnahme
lesen kann, auch Drück und Nast werden behandelt. Den Löwenanteil
trägt, wie billig, der 'engere Freundeskreis' davon, Scharffenstein, Petersen,
Haug und Lempp, wozu noch Schubart, Dannecker und Zumsteeg kommen.
Hoven hat schon vorher, unter den Kameraden der Ludwigsburger Zeit,
die gebührende Beachtung gefunden. Es folgen die Mediziner und endlich
der ganze weitere Freundes- und Bekanntenkreis, ein Andreas Streicher,
Hetsch, Heideloff, Grammont usw., lauter dem Schillerforscher wohlver-
traute Namen, die uns nun zum Glück keine blofsen Namen mehr bleiben ;
äufserlich und innerlich werden sie uns nähergebracht, denn den statt-
lichen Band schmückt eine grofse Anzahl trefflich reproduzierter Silhouetten
und Porträts, auch Heideloffs instruktiver Stich: 'Die Erhebung der Karls-
1 Schriften I, 16.
14*
212 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
akademie zur Hochschule 1782' ist beigegeben. Rechtfertigt schon allein
dieser reiche Bilderschnmek eine eindringliche Empfehlung des Werkes
insbesondere für die Benutzung im deutschen Unterricht, so werden sich
für die Schule noch weit fruchtbarer die abgedruckten Mitteilungen der
Freunde über ihr Leben, insbesondere aber über ihren Verkehr mit Schiller
erweisen. Hier tritt uns die Jugendzeit des Dichters in greifbarer Deut-
lichkeit vor Augen, und wie weit den einzelnen Verfassern zu trauen ist,
wieviel mehr wir dem grundehrlichen Conz folgen dürfen als dem Klatsche-
reien nicht ganz abgeneigten Petersen, ergibt sich aus der Darstellung
selbst zur Genüge. Die Hauptsache ist, dafs das biographische Material
für Schillers Jugendzeit hier mit einer Vollständigkeit ausgebreitet ist,
die bisher einfach unerreicht dasteht. Kuhns 'Schiller, Zerstreutes als
Bausteine zu einem Denkmal' (1859) hatte manche der früher in Zeit-
schriften gedruckten Aufzeichnungen wiederholt, Kurz, Weltrich u. a.
hatten aufserdem für ihre künstlerischen und gelehrten Arbeiten die reichen
Schätze des Cottaischen Archivs einsehen und benutzen dürfen, aber das
Material war eben verzettelt und somit für die Schule im ganzen un-
benutzbar. Diesem Mangel ist nun abgeholfen, und auch der Forscher
wird für den abermaligen, übrigens hier und da, z. B. bei Petersen, ver-
mehrten und erweiterten Abdruck dankbar sein. Dafs Hartmann keine
unbedingte Vollständigkeit anstrebt, ist manchmal peinlich, z. B. von
Abel möchten wir mehr erfahren, als er mitteilt; dafs er dagegen gerade
bei Petersen mit dessen hämischen Exzerpten aus Eberhards verständnis-
losen Mäkeleien Mafs hält, ist nur zu loben. Im ganzen, eine höchst
dankenswerte Arbeit, die sich der Wissenschaft durch Zuführung reichen
biographischen und psychologischen Materials förderüch erweist.
Nur hingewiesen sei hier auf die zum Jubiläum erscheinende Neu-
ausgabe der Schillerschriften von Kuno Fischer, über die keine Lob-
sprüche mebr zu verlieren sind. Der schwer erkrankte Verfasser hat keine
Umarbeitung vornehmen können, auch sind wohl seine Ansichten über
den Entwickelungsgang der Schillerschen Philosophie bis zuletzt sich
gleich geblieben. Wer diese Ansichten nicht teilt, wird sich doch an der
in ihrer Art vollendeten Darstellung erfreuen.
Erwähnt sei zum Schlufs eine Neuauflage von Breuls englischer
Schulausgabe des dritten Buches der 'Geschichte des Dreifsigjährigen Krie-
ges'; der Herausgeber hat den Text in den ersten Partien etwas gekürzt,
übrigens auf alle Weise für das Verständnis gesorgt. Seine geschickte
Einleitung berichtet über die Entstehungsgeschichte, die Quellen, die Vor-
züge und Mängel des Schillerschen Werkes, legt die Komposition des
dritten Buches im besonderen dar und gibt einen freilich unselbständigen
Abrifs der Geschichte des ganzen Krieges, der durch eine Karte illustriert
wird. Im Anhang werden Szenen aus dem 'Wallenstein' und reichhaltige
bibliographische Angaben dargeboten. Das Hauptverdienst des Heraus-
gebers ruht unstreitig in den sehr reichhaltigen sachlichen (besonders
kulturgeschichtlichen) und sprachlichen, übrigens mehr lexikalischen als
syntaktischen Anmerkungen, aus denen auch der deutsche Leser manches
lernen kann, wenngleich er nicht mit jeder Erklärung ohne weiteres ein-
verstanden sein mag. Hier und da dürften sich kleine Zusätze empfehlen.
Bei den Zusammensetzungen mit = 'fürt' (11, 4) sollte, gerade im Hinblick
auf Oxford, das deutsche 'Ochsenfurt' nicht fehlen, 'Anstand' = 'appearence'
(12, 22) mufste aus dem Gebrauch der Klassiker, vor allem Goethes,
stärker belegt und synonymisch erläutert werden, der 'Belt' (12, 27) ist
mit der 'Ostsee' im allgemeinen doch nicht ohne weiteres identisch, wenn-
gleich Schiller das Wort so gebraucht; zur Personifizierung des Namens
aber mufste aufser der 'Huldigung der Künste' Wallensteins Gespräch mit
Wrangel als näherliegend herangezogen werden (v. 230, Goedeke); zu
'Wagehals' (14, 7) konnten andere imperativische Eigennamen aus dem
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 213
Deutschen und Englischen beigebracht werden, der synonymische Artikel
'Schiefsgewehr' (87, 3) sollte den Ausdruck 'Flinte' enthalten und er-
klären usw. Jedenfalls wild der Herausgeber bei späteren Neuauflagen,
die wir seiner trefflichen Arbeit im Interesse des Verständnisses unserer
Nachbarn für die deutsche Literatur herzlich wünschen, selber auf die
weitere Vervollkommnung- seiner Interpretationen bedacht sein.
Wir brechen unseren Bericht heute ab und werden nach dem Jubiläum
den Best der Ernte in die Scheuern zu bringen suchen.
Heidelberg. Robert Petsch.
Franz Deibel, Dorothea Schlegel als Schriftstellerin im Zusammen-
hang mit der romantischen Schule. (Palaestra, herausgegeben von
A. Brandl, G. Koethe u. Erich Schmidt, XL.) Berlin, Mayer u. Müller,
1905. 188 S. M. 5,60.
Dorothea Schlegel ist als Persönlichkeit eigentlich gar nicht so inter-
essant, wie man von der mit Friedrich Schlegel verheirateten Tochter
Moses Mendelssohns erwarten sollte. Sie war witzig, aber nicht geistreich
wie Caroline; formgewandt, klug, leidenschaftlich — und schliefslich hat
man doch überall den Eindruck einer Natur zweiten Banges.
Vielleicht hat dies Gefühl den Verf. bestimmt, die Schriftstellerin
Dorothea ausschliefslich von der literarischen und gar nicht von der
psychologischen Seite zu betrachten. Was er aber unternimmt, hat er in
erschöpfender Weise geleistet und über sein Thema heraus auch die Zu-
sammenhänge des 'Florentin' mit Goethe beleuchtet. Nur kommt selbst
innerhalb des Literarischen das Menschliche etwas zu kurz: über d' Alton
müfste doch mehr gesagt werden, zumal D. selbst (S. 47) mit vollem Becht
bemerkt, dafs der merkwürdige Mann Gegenstand romantischer Legenden-
bildung wurde.
Am glücklichsten sind die Übersetzungen Dorotheas ausgenutzt, wie
D. denn auch allgemein scharfsinnige Bemerkungen über das Wesen der
Übersetzungskunst (S. 146) macht. In der Tat kommt die Evolution der
Moral bei dem Schlegelschen Ehepaar in der veränderten Stellung, die sie
vor und nach dem Sündenfall zu erotischen Problemen einnehmen, be-
sonders deutlich zur Anschauung.
Beigegeben sind aufser einem wichtigen Brief an Tieck nach Fried-
richs Tode (S. 179) Briefe an Brinckmann — klassische Denkmale des alten
Berlinisch in der Zeit, in der noch Schriftsteller wie Arnim, Tieck und
besonders Dorothea selbst das Geheimnis des Dativs nicht zu erraten ver-
mögen. Auch inhaltlich lassen sie in die engen Verhältnisse des Familien-
und Freundesklatsches hineinsehen; in bezug auf die Überschätzung, per-
sönlicher Beziehungen zu Nebenpersonen hatte Dorothea bei dem Über-
gang in die Romantik nichts mehr zu lernen. Übrigens ist auch bei ro-
mantischen Liebhabereien, wie Anekdote und Witz (S. 75 f.), an verwandte
Erscheinungen des Naturalismus zu erinnern; Fr. Schlegel hat nicht um-
sonst für Lessing geschwärmt.
Berlin. Richard M. Meyer.
Franz Zinkernagel, Die Grundlagen der Hebbelschen Tragödie.
Berlin, Georg Reimer, 1904. XXXIV, 188 S. Preis 3 Mk.
Zwei leitende Gedanken bewegen den Verf. Er will zeigen, 'wie das
gesamte Hebbelsche Gedankensystem, von einer alles befruchtenden Grund-
idee ausgehend, unabhängig von fremden Einflüssen, sich organisch aus
sich selbst entwickelt, um schliefslich in einem neuen Dramentypus dem
Ganzen den krönenden Abschlufs zu geben' (S. V.). Aber er will, auch
'die tiefgehende Bedeutung 'des Hebbelschen Lebenswerkes für die Ästhe-
214 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
tik des Tragischen' nachweisen (S. 187). Jener Absicht dient der Haupt-
teil des Buches, die vier Kapitel, die sich mit Hebbels Persönlichkeit, Welt-
anschauung, dramatischer Theorie, dramatischer Produktion beschäftigen,
■während in Einleitung und Schlufsbetrachtung Ilaum gegeben ist, 'die
entwickelungsgeschichtliche Stellung der Hebbelschen Tragödie' festzu-
legen.
Der Grundrifs ist klar und sieht vielversprechend aus. Und das Ge-
bäude, das der Verf. mit redlichem Bemühen und nicht ohne schrift-
stellerisches Geschick darauf errichtet hat? Ich will gleich von vorn-
herein gestehen, dafs ich in einigen wesentlichen Punkten Widerspruch
erheben mufs. Da die Schrift Z.s der Erstling des Verf. ist, so ist die-
sem Umstand allerdings manches zugute zu halten.
Zunächst ist festzustellen, dafs im wesentlichen aus der gleichen Ab-
sicht, die Z. zu seiner Darstellung getrieben hat, auch das Buch von
Scheunert, Der Pantragismus usw., entstanden ist. Liest man nun die
Kritik, die Z. in seinem Vorwort von der Scheunertschen Arbeit gibt, und
die, stark vom Gefühl der Existenzberechtigung der eigenen Arbeit dik-
tiert, doch wohl absprechender und ausdrückliche Erklärungen Scheunerts
mifsachtender ausgefallen ist, als billig sein dürfte, so darf man erwarten,
dafs Z. seine Sache wesentlich besser macht. Ich will zugeben, dafs ein
Ansatz dazu vorhanden ist, sofern Z. nachdrücklicher und ausführlicher,
als es Scheunert auf den ersten Seiten seiner Arbeit tut, die Persön-
lichkeit Hebbels mit ihrem individuellen Erleben zum Ausgangspunkt
der gedanklichen Entwickelung macht. Nun fragt es sich nur, ob es Z.
gelungen ist, sich mit vollem Verständnis in die Persönlichkeit des Dich-
ters einzuleben und einzufühlen.
Nach meiner Kenntnis mufs ich die Frage verneinen. Das Bild Heb-
bels, das dem Verf. vorschwebt, ist durch persönliche Velleitäten getrübt,
verzerrt, unvollständig. Man wird von niemandem verlangen, dafs er sich
selbst verleugne, aber man darf verlangen, dafs bei Wertungen, die man
vorzunehmen gedenkt, vor allen Dingen die sich messenden Werte klar
herausgestellt werden. Das unterläfst Z., indem er von seinem persönlichen
sittlichen Standpunkt, von der Meinung aus, die er von 'Sittlichkeit' hat,
über die 'Sittlichkeit' Hebbels, über des Dichters 'sittliches' Ringen sich
abzusprechen erlaubt, ohne auch nur sich darüber klar zu sein, dafs hier
zwei grundsätzlich verschiedene Anschauungen einander gegenüberstehen.
Ja, man ist versucht zu fragen, ob allererst dem Verf. die eigene Auffas-
sung denn auch klar und deutlich zu Bewufstsein gekommen ist. Jeden-
falls gibt Z. im ganzen Verlauf seiner Arbeit nirgends unzweideutig seinen
Standpunkt an.
Dafür redet er um so mehr von dem Mangel an sittlichem Gefühl bei
Hebbel (S. 27, 136), dem die 'Sittlichkeit' nur ein Verstandesmoment ge-
wesen sei. 'Vergebens suchen wir in seinen Tagebüchern Spuren wirk-
licher Selbsterziehung, aufrichtiger Selbstprüfung, wahrer sittlicher Arbeit'
(S. 28). Der Mangel an sittlichem Gefühl sei 'die Achillesferse der Hebbel-
schen Natur' (S. 37) gewesen. Z. gebraucht gelegentlich die Floskel vom
'harten Panzer seines Herzens' (S. 137), und jene berüchtigte Auffassung
der 'poetischen Gerechtigkeit' blickt verstohlen aus den Worten des Verf.
hervor, dafs 'ohne irgendwelche wirkliche sittliche Schuld' das Schicksal
der Hebbelschen Menschen, gemäfs den Intentionen des Dichters, sich er-
eignet (S. 177). Und vollends charakteristisch ist das abschliefsende Ur-
teil Z.s: 'Nicht seine Theorie an sich trägt die Schuld, wenn das Welt-
bild, das er (Hebbel) unseren Blicken entrollt, unserem innersten Bedürf-
nis nicht ganz zu genügen vermag. Der Grund liegt vielmehr im Wesen
seiner sittlichen Natur. Ihm fehlte die grofse, der Menschheit sich hin-
gebende Liebe, die das in der Welt verkörperte grofse Sittengesetz voll
gläubigen Vertrauens umfafst und sich ihm nicht nur als der die Welt
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 215
beherrschenden Notwendigkeit voll bewundernder Eesignation unterwirft.
Aber vielleicht war Hebbels neues Kunstgesetz nur um diesen Preis mög-
lich, und es wird Aufgabe der Zukunft bleiben, Hebbels Schuldbegriff
mit dem Glauben an eine weltbeglückende Sittlichkeit in eine höhere
Einheit aufzulösen' (S. 186 f.). Solche emphatische Behauptungen werden
auf ihr richtiges Mals zurückgeführt, wenn man zugibt, dafs Hebbel keine
bequeme Natur war, dafs er nicht die 'Läfslichkeit' passiver Naturen hatte,
dafs er als Mensch wie als Dichter an sich und andere Ansprüche stellte
und ihm allerdings nicht der bequeme und faltige 'Mantel der christ-
lichen Nächstenliebe', in der populären Auffassung des Wortes, zur Ver-
fügung stand. Was für Hebbel wahrhaft sittliche 'Liebe' war, das zeigt
ebenso jenes Gedicht aus seiner Frühzeit, das für ihn 'im Sittlichen eine
Epoche' bildete (Tagebücher I, 576), wie jenes andere, 'in schweren Leiden'
geschriebene aus der Spätzeit 'Der Brahmine'.
Also, es mangelt Z. an einer klaren Einsicht und Erkenntnis von
Hebbels sittlichem Standpunkt, und es fehlt ihm ein brauchbarer Mafsstab,
um sich über diesen Standpunkt ein zureichendes Urteil bilden zu können.
Es wäre einem künftigen Doktorand zu empfehlen, gerade einmal das
Werden der sittlichen Auffassung Hebbels, in dessen Theorie 'Sittlich-
keit und Notwendigkeit' eine so bedeutende Rolle spielen, mit möglichster
Genauigkeit zu untersuchen. Überhaupt möchte ich es für die künftige
Hebbelforschung am erspriefslichsten halten, nachdem die Bücher von
Scheunert und Zinkernagel vorliegen, in denen die unzulängliche Centonen-
methode den Bau leitet, vorerst von weiteren zusammenfassenden Dar-
stellungen Abstand zu nehmen und vor allem einmal dem geistigen Wer-
den, der seelischen Entwickelung Hebbels in seinen einzelnen Stadien die
Aufmerksamkeit zuzuwenden. Gewifs werden die Schriften der beiden
genannten Autoren dabei als Fermente nützliche Dienste leisten.
Aus dem bezeichneten Grundmangel bei Z. erklärt sich im übrigen
die Mischung von richtigen Einsichten und schiefen Auffassungen, die ich
hier nicht im einzelnen entwirren will. — Beiläufig: Elise Lensing (geb.
18. Oktober 1804) war nicht zwei (S. 25), sondern fast neun Jahre älter
als Hebbel.
Dagegen habe ich noch ein entschiedenes Bedenken gegen die Ein-
leitung Z.s: 'Die Hauptentwickelungsphasen der vorhebbelschen Tragödie.'
Gleich der erste Satz macht den freundwilligen Leser stutzig: 'Die Tra-
gödie ist die Darstellung des Widerstreites zwischen Weltwillen und Ein-
zelwillen.' Eine kühne Behauptung, deren historische Beglaubigung man
erwartet. Der Verf. gibt denn auch etwas, das so aussieht. Prüft man
indessen das Gewebe dieser Einleitung genauer, so erkennt man, wie brü-
chig es ist. Der Verf. macht sich nämlich die Arbeit ziemlich leicht, in-
dem er seine ganze Ausführung auf die Autorität Goethes stützt, dessen
geistreicher Aufsatz 'Shakespeare und kein Ende', vor allem die Auslas-
sungen darin über das 'Sollen' und 'Wollen' der antiken und neueren
Tragödie, allerdings auch Hebbel ausserordentlich plausibel vorkamen.
Aber so geistreich die Goetheschen Apercus auch sein mögen, es bleibt
die Frage, ob der heutige Stand der Altertumswissenschaft sie dean auch
rechtfertigt. Die Antwort lautet: Nein! Anstatt jene Anschauungen ein-
fach als wissenschaftlich feststehend zu adoptieren, hätte der Verf. nur
einen Blick in die doch wohl leicht zugänglichen Einleitungen von U. von
Wilamowitz-.Möllendorf zu den von ihm übersetzten 'Griechischen Tra-
gödien' zu werfen brauchen. Er hätte dort, in der Einleitung zur äschy-
leischen 'Orestie' hinreichenden Aufschlufs gefunden (vgl. Griech. Trag.'
Bd. II, 14 — 29): 'Wer den Ödipus und den Agamemnon verstanden hat, der
ist all das Gerede von dem blinden oder erhabenen Schicksal der Griechen
und ihrer Tragödie los. Dafs dieser Wahn so weithin Geltung hat, ist
nur ein Beweis, wie fern der gräzisierende Klassizismus vor hundert
216 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Jahren dem Verständnis des echt Hellenischen gestanden hat, vornehmlich
weil er der Sohn des Rationalismus der Aufklärung war' (ib. S. 26 f.). Ich
überlasse es Zinkernagel, die Konsequenzen daraus zu ziehen.
In seinem ausgedehnten Vorwort bespricht Z. die neueren Arbeiten
zur Hebbelforschung. Was er da u. a. über die von Poppe sagt, mufs
deren Verfasser, bei allem Dank gegen die Anerkennung, im wesentlichen
als an sich vorbeigeredet bezeichnen.
Frankfurt a. M. Theodor Poppe.
Fritz Stahl, Wie sah Bismarck aus? Berlin, G. Reimer, 1905. Mit
28 Tafeln. 3 M.
Das Ich, lehrt der bedeutende Wiener Philosoph Mach, ist unhaltbar :
es gibt nichts als sich folgende Einzelmomente ohne Einheit. Stahl sucht
an der äufseren Erscheinung Bismarcks, wie früher Goethes, diese Mei-
nung zu widerlegen : eine Reihe gut gewählter Bilder zeigt in dem Gründer
des Reiches durch allen Wechsel der Erscheinungen den bleibenden Pol.
Darin ruht das besondere Interesse des Büchleins. Sorgfältig verfolgt der
Verf. das Entstehen des eigentlichen 'historischen' Bismarckbildes; aber
er weifs es schon in den prähistorischen Teilen des Schulknaben, des Stu-
denten, des Abgeordneten nachzuweisen. Vielleicht betont der feinsinnige
Kommentar freilich auch die Züge zu stark, die sich in der Physiognomie
am deutlichsten abspiegeln. Etwa der Humor, der so wichtig für das
weltgeschichtliche Bild des ersten Kanzlers ist, spielt bei ihm kaum eine
Rolle, weil Porträts, die ihn wiedergeben, in der Sammlung fehlen; oder
der Berserker, der so furchtbar losbrechen konnte. Aber wie der eigent-
liche monumentale Bismarck aus seinem Geist sich seinen Körper und
vor allem sein Haupt baute, das macht das hübsche Schriftchen mit Ge-
schick anschaulich.
Berlin. Richard M. Meyer.
Dr. Jan v. Rozwadowski, Wortbildung und Wortbedeutung. Eine
Untersuchung ihrer Grundgesetze. Heidelberg, C. Winter, 1904. 109 S.
Nach dem Titel kann man sich nicht wohl eine Vorstellung machen
von dem, was das Buch enthalten mag. In Form und Inhalt behandelt
es ein sprachphilosophisches Problem. Zunächst beschäftigt es eich mit
den Prinzipien der Wortbenennung. Gegenstände werden nach einem
dominierenden Merkmal benannt, das sich verändern, wechseln oder sogar
schwinden kann. Jedenfalls ist die Tatsache, dafs es vorhanden ist oder
war, von Wichtigkeit für die Bedeutungsentwickelung. Anschaulich wird
dies dargetan an dem Kompositum (Regenschirm — Schirm), das in seiner
Zweigliederigkeit die Vorbedingung nicht nur des Bedeutungswandels, son-
dern auch der Neuschöpfung enthält. Denn das Kompositum kann je
nach Art und Beschaffenheit ein Simplex werden, das in seiner einheit-
lichen Form die Geschichte seiner Entstehung und den Wandel der Gestalt
nicht mehr erkennen läfst. Wenn dieser Vorgang sich fortwährend vor
unseren Augen vollzieht, so sind wir berechtigt, denselben als ein Wort-
schöpfungsprinzip anzusehen, das auch in vorhistorischer Zeit schon galt
und das Wurzelnomina geschaffen hat. Soweit es sich um Benennung
eines Gegenstandes handelt und dieser nicht absolut neu ist, ist also ein
diesen bezeichnendes Simplex im Prinzip von dem Kompositum nicht ver-
schieden. Den Ausgangspunkt zu diesen Ausführungen gibt dem Verfasser
Wundt, gegen dessen sprachpsychologische Anschauungen er heftig polemi-
siert; die Form ist zuweilen recht unerquicklich. Er wirft ihm vor, dafs
er das Gesetz der Zweigliederigkeit als Prinzip des Bedeutungswandels
nicht erkannt habe. Dieses sieht der Verfasser auch in der Entstehung
der einzelnen Satzteile, nicht nur des Substantivs, sondern auch des Verbs
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 217
und Adjektivs. Substantiv und Satz sind im Prinzip dasselbe, verschieden
sind sie nur in der Art der apperzeptiven Gliederung derselben Gesamt-
vorstellung. Der Satz ist das Resultat der Zerlegung dieser in ein identi-
fiziertes und in ein unterscheidendes Glied. Das auf der Synthese der
Apperzeption beruhende Element ist das Substantiv. In diesem Zusam-
menhang behandelt der Verfasser auch die häufig aufgeworfene Frage, ob
es eingliederige Sätze gibt. Das Gesetz der zweigliederigen Apperzeption
sieht er sogar wirksam auf rein lautlichem Gebiet und erklärt mit seiner
Hilfe z. B. das Verhältnis der Formen: Gast — Gäste! Auch hier, meint
er, finde eine Gliederung einer Gesamtvorstellung stets statt, wenn man
sie in den Anfangsstadien auch nicht verfolgen könne (S. 95). Dies ist
lediglich eine Theorie und weiter nichts als eine solche. Der Verfasser,
Vertreter der vergleichenden Sprachwissenschaft an der Universität Krakau,
präsentiert sich hier als vollendeter Sprachphilosoph. Die Erfahrung hat
gelehrt, dafs verläfsliche Erkenntnis auf sprachvergleichendem Gebiet nur
erreichbar ist innerhalb der Grenzen und auf dem Boden des tatsächlich
Gegebenen, die exakte Forschung mufs erst viel weiter gediehen sein, ehe
man an eine fruchtbringende Vereinigung von Sprachgeschichte und Sprach-
psychologie, wie sie vereinzelt in Paul erfolgreich vertreten ist, in gröfse-
rem Mafstabe denken kann.
Tübingen. W. Franz.
Emil Sulger-Gebing, Hugo v. Hofmannsthal. Eine literarische Studie.
(Breslauer Beiträge zur Literaturforschung, herausgegeben von M. Koch
und Gregor Sarrazin, III.) Leipzig, M. Hesse, 1905. M. 2,50, Sub-
skriptionspreis M. 2,15. 93 S. 8.
Die Schrift will (S. 81) nicht der Kritik, sondern der Einführung in
das Wirken des Wiener Dichters dienen. Sie tut es mit Takt und Liebe,
doch ohne die Vertiefung des literarhistorischen Hintergrundes, die diese
merkwürdige Figur erst ganz verständlich machen würde. Seine Be-
ziehungen zur deutschen Romantik (S. 5 f., 29) und zur romanischen
Kunst (d'Annunzio S. 21, die Düse S. 22) darf das Wienerische seiner
Poesie nicht vergessen lassen; und wenn er auch das eherne Gesetz (S. 16)
gar wohl kennt, das Problem des Todes (S. 54) ernst anfafst — es ist
doch kein Zufall, sondern ein Problem, weshalb er einen Prolog für
Schnitzler geschrieben hat! Ebenso zeigt S.-G. fein des Dichters Stel-
lung zu den grofsen Fragen: Natur (S. 4) und bildende Kunst (S. 19),
Leben (S. 8) und Traum, Antike (S. 71) und Moderne; aber die Grund-
lage seiner philosophischen Stimmungen (S. 27) kann aus dem 'Heimweh
nach der Jugendlichkeit' (S. 13 — ein wunderschöner Ausdruck des Dich-
ters!) allein nicht aufgeklärt werden. Was Hofmannsthal zur Renaissance
zieht (S. 31 f.), was die beiden grofsen Gruppen seiner Menschen (S. 25)
scheidet, das müfste doch aus seinem eigenen Wesen gedeutet werden ;
der Verf. aber läfst den Dichter (S. 21 f.) allzusehr hinter dem bunten
Teppich seiner Werke verschwinden.
Eingehende Studien über Sprache und Verskunst wird man hier nicht
erwarten, so sehr auch die Virtuosität zu ihnen locken mag; doch wird
Hofmannsthals Dichtung mit den Vorbildern bei Otway (S. 43) und
Euripides (S. 75) geschickt verglichen. Unverständlich freilich bleibt mir
(S. 24) das Lob der Übersetzung von Renards 'Fuchs'; diese eilige Wieder-
gabe, die etwa 'la derniere des elenderes' (das verworfenste Weib unter
der Sonne) mit 'die Letzte der Letzten' verdeutscht, scheint mir in ihrer
Hast des sorgfältigen Künstlers geradezu unwürdig.
In dem Hervorzaubern von Stimmungen sieht S.-G. (S. 18) mit Recht
Hofmannsthals gröfste Kraft. Durch die Reihe seiner nach Gattungen
übersichtlich geordneten Werke verfolgt er diese Kunst in sympathischer
Besprechung. In einer glänzend vollständigen Aufzählung der Schriften
218 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
macht rieh der Verf. dann noch besonders um den Literarhistoriker ver-
dient, der wohl weife, dafs so ziemlich nichts schwerer ist, als alle Ar-
beiten auch nur eines wenig produktiven Modernen zu sammeln.
Berlin. Richard M. Meyer.
Dr. Bruno Busse, Wie studiert man neuere Sprachen? Ein Rat-
geber für alle, die sich dem Studium des Deutschen, Englischen und
Französischen widmen. Stuttgart, Wilhelm Violet, 1904 (Violets Studien-
führer).
Dr. Busse rechtfertigt sein Unterfangen, einen neuen Ratgeber für
Neuphilologen zu schreiben, mit der Bemerkung, dafs die vorhandenen
fast alle die Germanistik mehr als stiefmütterlich behandelten, während
doch erfahrungsgemäfs Deutsch immer das beliebteste Kombinationsfach
im Staatsexamen war. Sein Buch sollte also als bequemes Nachschlage-
buch für drei miteinander eng verbundene und auch durch die Praxis
aufeinander angewiesene Fächer zuverlässigen, wenn auch knappen Rat
geben. Nicht als ob Busse den gleichmäfsigen Betrieb von Deutsch, Fran-
zösisch und Englisch zum Zweck der Erwerbung einer Fakultas für Ober-
klassen in allen drei Fächern empfehlen möchte ; denn er hält trotz gegen-
teiliger Behauptungen an der Meinung erfahrener Dozenten und Schul-
männer fest, dafs die Aufgabe, zwei moderne Sprachen zugleich zu be-
herrschen, die durchschnittliche Leistungsfähigkeit übersteige. Aber
die Sache liegt nun einmal so, dafs Französisch und Englisch fast immer
zusammen genommen werden, und danach hat denn auch Busse sein Buch
eingerichtet. In acht aufeinander folgenden Kapiteln spricht er von der
Berufswahl und den deutschen Universitäten ; vom Begriff und Umfang
der germanischen und romanischen Philologie und den Anforderungen der
Praxis; von der praktischen Ausbildung; vom wissenschaftlichen Studium
im engeren Sinne; von Studien plan, Promotion, Staatsexamen und von
der pädagogischen Vorbildung. Was er darüber zu sagen hat, deckt sich
naturgemäfs vielfach mit den Ausführungen seiner Vorgänger; aber er
bringt es, in lebendiger Erinnerung an seine eigene, noch nicht lange zu-
rückliegende Studienzeit, mit solchem Eifer und solcher Frische vor, dafs
er des Eindruckes auf seine Altersgenossen sicher sein kann. Zwar fehlt
es den Studenten auch nicht an Rat und Belehrung von Seiten der Do-
zenten, die ja heute nicht mehr in unzugänglicher Höhe über ihnen thro-
nen und unbekümmert um die Bedürfnisse der Schule ihre Weisheit ver-
künden; allein man läfst sich doch einen Weg am liebsten von dem
weisen, der ihn selber eben erst gegangen ist.
Besonders wohltuend berührt die Wärme, mit der Busse die Not-
wendigkeit einer streng wissenschaftlichen Vorbildung für den künftigen
Lehrer verteidigt, ohne darum die Erfordernisse der Praxis zu übersehen.
Denn Wissenschaft und Praxis befehden sich keineswegs, und die Uni-
versität, die zwar vornehmlich die eine pflegt, sucht daher, in richtiger
Erkenntnis des Verhältnisses zwischen beiden, doch auch die praktische
Ausbildung der neuphilologischen Studenten nach Möglichkeit zu fördern.
Zur reinen Schule der Sprechfertigkeit und zur ausschliefslichen Verabrei-
chung dessen, was der künftige Lehrer brühwarm seinen Jungen vorsetzen
will, wird sie aber hoffentlich der laute Ruf radikaler Reformer mit ihrer
allzu beschränkten Vorstellung von den Aufgaben eines 'brauchbaren
Schulmeisters' niemals herabdrücken. Es mag zugestanden werden, dafs
der praktischen Ausbildung der Studenten auf unseren Universitäten lange
Zeit nicht die gebührende Sorge zuteil wurde. Ihre Bedeutung ist gewifs
nie unterschätzt worden, aber die Verhältnisse lagen zu ungünstig. So
klagten die Lehrer über Vernachlässigung dieser wichtigen Seite der Vor-
bildung für ihren künftigen Beruf, und die Dozenten hinwiederum be-
riefen sich darauf, dafs die Kandidaten die praktische Grundlage fürs
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 219
wissenschaftliche Studium billigerweise von der Schule mitbringen müfsten.
Man bewegte sich da in einem beständigen Zirkel. Nun ist in dieser Hin-
sicht überall vieles besser geworden. Busse weist in einer Anmerkung
auf S. 61 auf die idealen Zustände hin, die in Berlin für das Englische
zu bestehen scheinen. Auch wir in Greifswald haben, freilich mit be-
scheideneren Mitteln, einen englischen Konversationskurs eingerichtet,
nachdem schon lange vorher auf Anregung des Lektors Ashby eine 'De-
bating Society' nach englischem Muster gegründet werden war, die meh-
rere Jahre bestand, aber aus mancherlei Ursachen ihren Zweck nicht voll-
kommen erfüllte. Es kann sein, dafs man den praktischen Bedürfnissen
der neuphilologischen Studenten nicht an allen Universitäten so hilfreich
entgegenkommt wie in Berlin; allein ich möchte doch, im Gegensatz zu
Busse, glauben, dafs das Gebotene überall ausreichen würde, um den For-
derungen der Prüfungsordnung zu genügen, wenn nur die Gelegenheit,
zu lernen, insbesondere auch von den Lektoren zu lernen, immer recht
fleifsig benutzt würde. Gerade die kleineren Universitäten gewähren bei
der Möglichkeit eines engeren persönlichen Verkehrs mit den Lektoren in
dieser Hinsicht manche Vorteile. Immerhin bleibt auf dem wie auf allen
Gebieten der selbständigen Arbeit des einzelnen noch vieles überlassen.
Busse gibt verständige Batschläge für die zweckmäfsigste Ausnutzung der
Mittel, die dem Studierenden zur Erlernung der modernen Sprache ge-
boten sind. — Unter den Handbüchern der Phonetik wäre auch Otto
Jespersens Lehrbuch der Phonetik, autorisierte Übersetzung von Hermann
Davidsen, 1904, Leipzig und Berlin, Druck und Verlag von B. G. Teub-
ner, zu erwähnen. — Statt A. Westen mufs es heifsen Western. — Bei-
läufig bemerkt: Was meint Busse mit dem 'Schwund des r', der als Lon-
dinismus nicht zu empfehlen sei? Er denkt dabei wohl an den Mangel
jener von Lloyd beschriebenen koronalen Artikulation der Vokale vor
dem r bei folgendem Konsonanten oder in pausa? Der ist aber nicht nur
in London, sondern überhaupt im gebildeten Südenglisch* heute allgemein;
vgl. Storm I-, S. 450 und 463. — Was den wünschenswerten Aufenthalt
im Auslande betrifft, so glaube ich auch, dafs die geeignetste Zeit dafür
unmittelbar nach dem Abschlufs der Studien sein würde. Jedenfalls mufs
man, wenn er wirklich nutzbringend werden soll, möglichst gut dafür
vorbereitet sein, sonst kehrt man mit all den Mängeln, die man mitgenom-
men hat, und noch dazu mit einem ungerechtfertigten Dünkel wieder
heim; denn man darf ja nicht glauben, dafs einem im fremden Lande die
Sprache und alles übrige, was man lernen will, von selbst angeflogen
kommt. — Die Zahl derer, die als 'Repef iteurs eHrangers' nach Frankreich
gehen, scheint sich zu mehren. Busse rät vorläufig von der Übernahme
einer solchen Stelle noch ab, allein nach dem, was ich von Studenten
darüber erfahren habe (es sind gegenwärtig fünf von uns so beschäftigt),
darf man sie unter bestimmten Voraussetzungen vielleicht doch empfehlen.
Ein umfangreiches Kapitel widmet Busse dem wissenschaftlichen Stu-
dium im engeren Sinne; denn das ist es, 'was dem Universitätsstudium
seinen eigentlichen Charakter verleiht' und den, der sich ihm mit Lust
und Liebe ergibt, über den Banausen erhebt, der 'stets ängstlich die Para-
graphen der Prüfungsordnung zu Rate zieht, um ja nicht einmal zu viel
zu tun'.
In den einzelnen Paragraphen handelt Busse von der allgemeinen und
der vergleichenden Sprachwissenschaft, vom Lateinischen, von der deut-
schen, englischen und französischen Philologie, von der historischen Gram-
matik, von der Lektüre, der Literaturgeschichte und den Hilfsdisziplinen
(Schriftwesen, Metrik, Mythologie und Heldensage, Geschichte). Prak-
tische Hinweise auf die vorhandenen hauptsächlichsten Hilfsmittel, auf
passende Verteilung der einzelnen Teilgebiete auf die Zeit des Studiums
und ähnliches schliefst er an allgemeine Bemerkungen über die in Frage
kommenden Wissensgebiete an. Hier wäre nun insbesondere bei den Lite-
220 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
raturangaben freilich vieles nachzutragen und manche Ungenauigkeit zu
verbessern. Das Englische namentlich ist nicht allzu gut weggekommen.
So heifst das bekannte Buch von Zupitza-Schipper (jetzt in 7. Auflage er-
schienen): 'Alt- und mittel englisches (nicht altenglisches und neueng-
lisches) Übungsbuch'. — 'The Student' s Chaucer' ist doch nur von Skeat
allein, nicht von Skeat und Morris herausgegeben. — Für die mittelenglische
Lektüre empfiehlt Busse unter anderem 'The Ormulum', ed. R. M. White
(und R. Holst). Er wird doch hoffentlich nicht im Ernst verlangen, dafs
einer das ganze langatmige und trockene Werk durchlesen soll, während
er für Uterarisch ungleich bedeutsamere Denkmäler anscheinend nur auf
Auszüge in Chrestomathien angewiesen ist. Bei der Gelegenheit möchte
ich übrigens nicht unterlassen, neben der Tauchnitx 'Collection of British
Aidhors' und neben den Bänden der 'English Library' von Heinemann
und Balestier, die Busse als Textbücher für neuenglische Lektüre erwähnt,
die Benutzung der vortrefflichen, von M. Förster besorgten Neuausgabe
von Herrigs 'Glassical Authors' den Studenten recht warm ans Herz zu
legen. — Die Zahl der empfehlenswerten Literaturdarstellungen liefse sich
ebenfalls leicht vermehren. Im übrigen aber glaube ich, dafs der Student
immer am besten tut, in betreff der Hilfsmittel zum Selbststudium sich
an die Weisungen der Dozenten zu halten und auch die Bücher der
Seminarbibliothek fleifsig zur Hand zu nehmen.
Die Zeit vom Beginn des Studiums bis zum Staatsexamen schlägt
Busse, entsprechend der jetzt üblichen Praxis, auf zehn Semester an und
stellt für die zweckmäfsigste Ausnutzung derselben sehr umfassende Stu-
dienpläne auf: 1) für Germanisten, 2) für Anglisten, 3) für Romanisten,
wobei jedesmal die Verbindung von zwei sprachlichen Hauptfächern mit
einem solchen Nebenfach vorausgesetzt wird. Dafs die genaue Befolgung
dieser Pläne kaum einmal möglich sein wird, gesteht Busse selbst zu.
Aufgefallen ist mir nur, dafs S. 124 'historische Grammatik' und 'Einfüh-
rung in das wissenschaftliche Verständnis der lebenden Sprache' als zwei
getrennte Vorlesungsgegenstände nebeneinander gestellt werden. Ich habe
bisher immer gemeint, die Aufgabe der historischen Grammatik bestehe
eben darin, dafs sie in das 'wissenschaftliche Verständnis' der lebenden
Sprache einführe. 'Historical grammar tries to explain the phenomena of
a language by tracing them back to their earlier stages in that language'
(Sweet). Vorausgesetzt werden mufs natürlich die Kenntnis der lebenden
Sprache und, was auch Busse S. 52 betont, phonetische Schulung — hier
berühren sich also Wissenschaft und Praxis — ; dazu aber auch eine
wenigstens elementare Kenntnis der Tatsachen der älteren Sprachperioden
(vgl. Busse S. 97), denn sonst wird einer von der Masse des ihm völlig
fremden Stoffes erdrückt und schreibt sich im Kolleg nur einen roten
Kopf an. Das ist mir von Studenten oft genug bestätigt worden. Ich
halte es daher für sehr bedenklich, Studenten schon im zweiten Se-
mester den Besuch einer Vorlesung über historische Grammatik zu empfeh-
len, wie es die meisten der bisher aufgestellten Studienpläne zu tun pflegen.
Man braucht nur einmal einen Blick in das Kollegienheft eines solchen
Neulings zu werfen, um mit Schaudern den Greuel der Verwirrung zu
bemerken, den ein Dozent bei so Unvorbereiteten anrichten kann.
Zum Schlüsse noch ein Wort über die Promotion, worüber Busse im
6. Kapitel spricht. Es handelt sich darum, ob die Promotion in jedem
Falle zu empfehlen sei, und ob sie vor oder nach dem Staatsexamen er-
folgen solle. Die erste Frage beantwortet Busse nach Erwägung der
Gründe für und wider mit ja. Ich möchte ihm nicht unbedingt recht
geben. Ein Student mit Durchschnittsbegabung und Fleifs kann ein guter
Lehrer werden. Er kann so viel Wissenschaft in sich aufnehmen, als die
richtige Ausübung seines Berufes erfordert; aber die Befähigung, durch
selbständige Forschung die Wissenschaft zu fördern, braucht er "darum
noch nicht zu besitzen. Nun meint zwar Busse S. 133, derJKandidat
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 221
habe im -wesentlichen nur den Nachweis zu liefern, dafs er es gelernt habe,
wissenschaftlich zu arbeiten . . . ; im übrigen verböte ja schon die enge Be-
frenzung des Themas samt der verhältnismäfsigen Unerfahrenheit des Kandi-
aten, (an eine Dissertation) allzu grofse Ansprüche zu stellen. Aber das ist
es eben, was mich etwas bedenklich macht: die Gefahr, dafs bei Massen-
produktionen die Ansprüche zu niedrig gestellt werden und die deutschen
Universitäten mit Recht den Vorwurf verdienen könnten, die 'Dissertation-
mongery' zu befördern. Wer freilich das Zeug dazu hat, 'an seinem Teile
an dem stolzen Bau der Wissenschaft mitzuarbeiten und aus eigener Kraft
eine wissenschaftliche Aufgabe zu lösen' — und Busse selbst hat es ja
rühmlich dargetan — , der mag sich immerhin ein Thema für eine Disser-
tation geben lassen, obwohl es mir wünschenswerter und auch für die
Wissenschaft keineswegs nachteiliger schiene, wenn einer im Verlauf seiner
Studien selber auf etwas stiefse, was ihn zu eingehender Forschung und
Bearbeitung anreizte.
Die zweite Frage, ob man vor oder nach dem Staatsexamen promo-
vieren soll, entscheidet Busse im ersten Sinne. Die Gründe, die er dafür
anführt, sind ja einleuchtend. Aber auch hier habe ich einige Bedenken.
Wer durch die Verhältnisse darauf angewiesen ist, sich vor allem mög-
lichst bald eine feste Grundlage für seine künftige Existenz zu schaffen,
dem rate ich unter allen Umständen, seinen Blick zunächst auf das Staats-
examen zu richten und seine ganze Kraft dafür einzusetzen; denn nie-
mand weifs im voraus genau, wie lange ihn eine Dissertation aufhalten
werde. Mancher hat schon mehr Semester damit verbracht, als er sich
vorgenommen, und hat während der Zeit auf verschiedenen Wissens-
gebieten Lücken offen lassen müssen, die dann beim Staatsexamen in un-
erfreulicher Weise zutage kamen. Auf jeden Fall sollte man, wie auch
Busse rät, erst in den späteren Semestern an die Wahl und Bearbeitung
eines Themas für eine Dissertation gehen. Einer der von Busse S. 134
erwähnten Vorteile der Promotion vor dem Staatsexamen erweist sich
übrigens für Anglisten und Romanisten als trügerisch : eine englische oder
französische Dissertation darf, da sie in der Regel deutsch geschrieben
sein mufs, in Preui'sen nicht als schriftliche Prüfungsarbeit angerechnet
werden.1 Für Dissertationen aus anderen Fächern besteht kein solches
Verbot. So kann z. B. einem Germanisten, der promoviert hat und beim
Staatsexamen eine Lehrbefähigung im Deutschen und Englischen oder
Französischen für Oberklassen erwerben will, die Anfertigung einer schrift-
lichen Hausarbeit erlassen werden; der Examinator im Englischen oder
Französischen mufs sich dann, oder darf sich wenigstens, mit einer Klausur-
arbeit des Kandidaten begnügen, die also in diesem Falle für die Bewer-
bung um eine Fakultas für die erste Stufe allein schon als ausreichend
erachtet wird. Aber zusammen mit einer Dissertation auf dem Gebiete
des Englischen oder Französischen reicht die Klausurarbeit für jenen
Zweck nicht mehr aus; es mufs noch eine schriftliche Hausarbeit hinzu-
kommen, und die einzige Vergünstigung, die dem Kandidaten gewährt
werden kann, ist die, dafs durch eine Entscheidung des Vorsitzenden der
Prüfungskommission im Einvernehmen mit dem betreffenden Examinator
das Thema für die Hausarbeit dem Bereiche der Dissertation entnommen
werden darf. Man sieht, es wird den Neuphilologen nicht gerade leicht
gemacht, ihr Ziel zu erreichen. Busses Studienführer kann ihnen durch
seine Ratschläge manchen Um- und Irrweg ersparen.
Greifswald. M. Konrath.
1 Nur eine Teil Übersetzung der Diss. in die Fremdsprache wird nachgefordert.
In zehn Jahren Berliner Tätigkeit sah ich noch nicht Einen zur Doktorsprüfung
gelangen, der die Staatsprüfung bereits gemacht hatte. Dafs möglichst viele Neu-
sprachler den Doktor machen, empfiehlt sich sowohl behufs ihrer besseren Aus-
bildung als zur Hebung ihres Ansehens in Kollegenkreisen. A. B.
222 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Ernst Otto, Typische Motive in dem weltlichen Epos der Angel-
sachsen. Berlin, Mayer & Müller, 1901. 91 S.
Der Verfasser dieser Abhandlung hat es unternommen, gewisse Ge-
danken, die Heinzel (Stil der altgerm. Poesie) in den Umsissen festgelegt,
Richard M. Meyer (Die altgerm. Poesie nach ihren formelhaften Elementen
beschr.) auf breitester Basis weiter ausgeführt und in historischen Zusam-
menhang gebracht hatte, für einen Teil der ae. Dichtung, das weltliche
Epos, noch einmal in ausführlicherer Weise zu belegen. Er schöpft sein
Material aus Beowulf, Finn, Widsid, Waldere, Byrhtnöd und den histo-
rischen Gedichten der Sachsenchronik und legt es vor, in ein straffes
Schema gespannt, etwas zu sehr statistisch und darum beim Lesen oft
recht ungeniefsbar. Er behandelt im ersten Teil Lebewesen (A. Mora-
lische Eigenschaften: Gott, König, Gefolgsleute, Ungeheuer. B. Geistes-
kräfte. C. Stimmung. D. Aufsere Eigenschaften. E. Lebenslauf), im
zweiten Zuständliches (Waffen, Schatz, Szenerie), im dritten Vor-
gänge (Kampf, Reden, dream, Begräbnis, Schiffahrt, Körperliche Übungen
und Spiele, Kunst und Wissenschaft), im vierten Urteile und Empfin-
dungen des Dichters. — Die Fülle dieses auf knappen Raum zu-
sammengedrängten Materials macht die Arbeit nützlich und brauchbar,
wenn auch vieles nicht neu und manches nicht typisch ist. Leider sind
die Zitate nur selten ausgedruckt, so dafs man des Nachschlagens in den
Quellen nicht überhoben wird. Indem der Verfasser seine Ergebnisse mit
den über das geistliche Epos der Angelsachsen bekannten Tatsachen ver-
gleicht, sowie Parallelen aus dem As., Ahd. und An. heranzieht, folgt er
der Methode seiner Vorgänger. Manches bleibt dabei aber doch recht an
der Oberfläche. Wie in solchen Fällen eine Vertiefung zu erreichen ge-
wesen wäre, zeigt z. B. ein Vergleich zwischen dem, was der Verfasser
über die Frau in der weltlichen Dichtung sagt, im Vergleich zu Roeders
Darstellung (Familie bei den Angelsachsen), die Otto nicht zu kennen
scheint.
Bremen. Heinrich Spies.
Leonhard Wroblewski, Über die altenglischen Gesetze des Königs
Knut. Diss. Berlin, Mayer & Müller, 1901. 60 S.
Diese Untersuchung reiht sich anderen Arbeiten an, die in jenen
Jahren über altenglische Gesetze erschienen sind. Die Einleitung (Knuts
Verhältnis zur altenglischen Sprache) schildert, um eine Voraussetzung
für die im Gesetzbuch zu erwartende Sprache zu gewinnen, kurz die Um-
gebung des Königs: Traditionen der Regierung, Knuts religiöse Stellung,
seine geistliche und weltliche Umgebung, die ausschliefsüch aus Süd-
engländern, insbesondere aus Westsachsen, bestand. — Kap. II befafst
sich mit der Überlieferung und dem gegenseitigen Verhältnis der Hand-
schriften der Gesetze sowie eines ebenfalls zur Untersuchung herangezoge-
nen Erlasses Knuts vom Jahre 1020. — Kap. III bildet den Hauptteil
der Arbeit: Die Sprache der Handschriften (Vokalismus und Konsonan-
tismus).
Der Verfasser, der gute Kenntnisse und gewissenhafte Arbeitsweise
verrät, geht von den westgerm. Lauten aus und behandelt unter jedem
sämtliche ae. Entsprechungen, wobei er verwandte Arbeiten zum Vergleich
heranzieht. Was zunächst die Quantitätslehre anlangt, so vermag ich hier
den Ausführungen des Verfassers grundsätzlich nicht zuzustimmen. Er
erklärt, Länge des Vokals wird (u. a.) durch Akzente bezeichnet, und
zählt dann die Fälle auf, in denen sich auf Vokalen oder Diphthongen
Akzente finden. Diejenigen Fälle, die sich nicht lautgesetzlich erklären
lassen, werden durch Analogie zu erklären gesucht, wenngleich der Ver-
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 223
fasser auch so vorsichtig ist, ein Fragezeichen hinzuzusetzen (so heönan
nach heo, odäe nach öp, öper, hwcene = hwone nach hwcem etc.). Meines
Erachtens ist der Verfasser hier im Irrtum ; sein an und für sich löbliches
Bestreben, möglichst zu erklären und nicht nur zu konstatieren, hat ihn
dazu verführt, Erklärungen um jeden Preis zu geben. Solange nicht
zwingendere Gründe und sichere Belege aus anderen Denkmälern beigebracht
werden, müssen wir in diesen Fällen einfache Schreibfehler sehen, zumal
das Me. in keinem dieser Fälle Dehnung aufweist. Dasselbe läfst sich
in der Qualitätslehre beobachten. Man vermifst ein festes Prinzip, nach
dem Schreibungen als Schreibfehler gebucht oder als Formen mit laut-
lichem Wert angesetzt werden. — Im Schlufs der Arbeit sind die Resul-
tate zusammengestellt. Die in allen oder mehreren Handschriften vor-
kommenden Eigentümlichkeiten werden dem Original zugewiesen. Die
Eigenheiten einzelner Handschriften werden als spät oder dialektisch ge-
deutet und geschieden. — Der wenig übersichtliche Druck und der Mangel
einer fortlaufenden Paragraphenzählung erschweren sehr die Orientierung
und das Zitieren.
Ein paar Einzelheiten (von vielen) seien hier noch angefügt: Warum
wird sccel (S. 23 § 5) als 'Partikel' bezeichnet? — S. 34 § 1, 2 gehört
streng genommen nicht dahin. — S. 36 § 4, 2 -ig in penig als 'Zusammen-
ziehung von -mg' zu bezeichnen, dürfte nicht ganz korrekt sein. Es han-
delt sich um denselben Vorgang, der neuerdings in zahlreichen Fällen, als
Gegenstück zur Einschiebung von n anläfslich der Betrachtung von nightin-
gak, eingehend erörtert ist. — S. 40, 3. Die Zusammensetzung der Pro-
zente (622/3 + 30Va + 7l/s) stimmt nicht. — S. 48 § 1. Unter 1) heifst es
w > u vor / z. B. saule, unter 2) / > u z. B. liues. Das ist zum min-
desten schief ausgedrückt. — S. 51, 6 heifst es, 'lythum für lytlum könnte
Analogiebildung nach dem synonymen lythwön sein'. Hier liegt doch
zweifellos einfacher Schreibfehler vor.
Bremen. Heinrich Spies.
Oskar Boerner, Die Sprache Robert Mannings of Brunne und
ihr Verhältnis zur neuenglischen Mundart (Studien zur englischen
Philologie, herausgegeben von Lorenz Morsbach, XII). Halle, Max
Niemeyer, 1904. VII, 313 S. 8. M. 8.
Eine gründliche Untersuchung der Sprache Roberd Mannings mufs
aus mehreren Gründen als ein sehr wichtiger und hochwillkommener Bei-
trag zur englischen Sprachgeschichte betrachtet werden. Denn wir haben
hier einen Dichter vor uns, der Werke von grofsem Umfange hinterlassen
hat, so dafs wir mit einem besonders reichhaltigen Material arbeiten kön-
nen ; besonders wichtig ist aber der Umstand, dafs wir über die Heimat
und die Lebenszeit des Dichters recht genau unterrichtet sind. Dadurch
gewinnen wir zuverlässige Anhaltspunkte für die Beurteilung anderer
Denkmäler aus benachbarten Gegenden. Robert Manning, der ungefähr
1260 in Brunne (jetzt Bourn) im Süden von Lincolnshire geboren war
und in den vierziger Jahren des 14. Jahrhunderts höchst wahrscheinlich
in derselben Gegend sein Leben beendigte, verlebte ohne Zweifel den weit-
aus gröfseren Teil seines Lebens innerhalb der Grenzen seiner heimatlichen
Grafschaft. Es ist deshalb anzunehmen, dafs er an seinem heimatlichen
Dialekt festhielt; diese Annahme wird auch durch die Schlüsse, die sich
aus Roberds Persönlichkeit und äufseren Lebensumständen ziehen lassen,
durchaus bestätigt. Er mufs entschieden, wie Boerner bemerkt, in einer
Sprache geschrieben haben, die der Umgangssprache seiner Heimatsgegend
ziemlich nahekam. Infolge dieser Umstände wird seine Sprache für die
englische Sprachkunde, besonders für die Lokalisierung und Datierung
der me. Denkmäler, um so wichtiger.
224 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Trotzdem waren die bisherigen Untersuchungen über Roberds Sprache
recht dürftig jedenfalls vollkommen unzureichend. Die einzige Spezial-
arbeit vor der hier zu besprechenden Arbeit ist die Göttinger Dissertation
von G. Hellmers, Über die Sprache Hob. Mannings of Brunne und über
die Autorschaft der ihm zugeschriebenen Meditations on the Supper of our
Lord (1885), mit Fortsetzung erschienen zu Goslar in demselben Jahre.
Die Lautlehre wird hier sehr knapp abgefertigt. Was in anderen Arbeiten
über Roberds Sprache zu finden ist, ist noch spärlicher.
Mit um so gröfserer Freude ist eine Detailuntersuchung wie das uns
vorliegende Buch zu begrüfsen. Der Hauptwert des Buches scheint mir
in dem ungemein grofsen und mit rühmenswertem Fleifs und lUmsicht
gesammelten Material zu liegen. Aus diesem Material hat der Verfasser
auch Schlüsse allgemeinerer und weittragenderer Natur gezogen, die er
an besonderen Stellen, namentlich am Ende der verschiedenen Abschnitte,
fein sauber zusammenstellt.
Diese Schlüsse sind selbstverständlich so gut wie ausschliefslich gram-
matischer Natur. Einen Punkt will ich aber hier zuerst herausgreifen,
weil er auch für die Literaturgeschichte wichtig ist, nämlich die Frage
nach der Autorschaft der Roberd zugeschriebenen Meditations on the Supper
of our Lord. In seiner obenerwähnten Arbeit hatte Hellmers darzutun
versucht, dafs sie sehr wohl von Roberd verfafst sein könnten, da die
Sprache in den Med. von derjenigen in den anderen von Roberd of Brunne
sicher verfafsten Werken nicht wesentlich abweicht. Boerner aber glaubt
nun einen gröfseren Einschlag südlicher Elemente konstatieren zu können.
Gegen die Verfasserschaft Roberds fallen nach der Ansicht Boerners auch
Unterschiede hinsichtlich der Verskunst und der Reimtechnik ins Gewicht.
In dem Boernerschen Buche wird, wie schon angedeutet, eine unge-
meine Menge Detailfragen erörtert. In ziemlich vielen Fällen kann ich dem
Verfasser nicht beipflichten ; über einige von diesen läfst sich wohl streiten,
aber in mehreren scheint mir jedoch die irrtümliche Auffassung des Ver-
fassers auf der Hand zu liegen. Einige Ungenauigkeiten — zwar meistens
geringfügiger Art — wären auch leicht zu vermeiden gewesen. Auf alle
diese Punkte kann ich hier nicht eingehen. Einige werde ich am Schlufs
dieser Anzeige beispielsweise erwähnen, will aber gleich hervorheben, dafs
sie den Wert der Arbeit nur in sehr geringem Maise beeinträchtigen, und
dafs sie uns ihre Verdienste nicht vergessen lassen dürfen.
Nach einer kurzen Einleitung wird zuerst die Überlieferung der Werke
behandelt. Interessant ist dabei die Tatsache, dafs der Text der Chronik
einen ganz anderen und zwar nördlicheren Sprachcharakter aufweist als
der der Handlung Synne. Die Verschiedenheiten rühren aber lediglich von
den Schreibern her; denn, wie Boerner (und vor ihm Hellmers) hervor-
hebt, ist es nicht denkbar, dafs Roberd zur Zeit der Abfassung der
Chronik einen mehr nördlich gefärbten Dialekt sprach als zur Zeit, wo
er die H. S. schrieb. Mit Recht werden in der ganzen folgenden Dar-
stellung die Erscheinungen in den drei Werken (Chron., H. S., Meditations)
streng auseinander gehalten.
Danach folgt ein Abschnitt über die Verskunst und Reimtechnik des
Dichters, dem sich Abschnitte über das auslautende -n und das auslau-
tende -e anreihen. Das auslautende -n ist im allgemeinen weggefallen,
nur in hochtoniger Silbe ist es lautgesetzlich erhalten geblieben. Daraus
zieht der Verfasser den Schlufs, dafs auch für den Havelok kein -n mehr
anzunehmen sei. Statt der reichen Materialsammlung oder wenigstens
neben ihr hätte ich etwa eine kurze Besprechung der Fälle, in denen -n er-
halten ist, erwartet, da uns ja die Ausnahmen weit mehr als die Hauptregel
interessieren. Aus der Untersuchung über das End-e ergibt sich, dafs der
Prozefs des Verstummens des -e noch nicht abgeschlossen war, dafs Ro-
berd ein Wort mit verstummtem -e allemal da verwenden konnte, wo er
es im Reime nötig hatte.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 225
Der nun folgende Abschnitt über die Lautlehre (S. 55 — 209) nebst
einer Übersicht über dialektische Formen (S. 2U9 — 211) bildet entschieden
den Kern der Arbeit. Die Lautlehre umfafst nur den Vokalismus und
zwar nur den Vokalismus der Keimwörter ; sie zerfällt in zwei Abschnitte :
in dem ersten wird der germanische, in dem zweiten der aufsergermanische
Bestandteil behandelt. Wir haben es hier also mit einer Darstellung zu
tun, die sich von den meisten derartigen Arbeiten dadurch vorteilhaft ab-
hebt, dafs sie die Schreibungen nur ausnahmsweise berücksichtigt und
nur die Reime für beweiskräftig hält. Hier und dort geben die Reim-
untersuchungen auch zu Emendationen Anlafs, von denen manche mir
sehr gelungen erscheinen. Die Darstellung gewährt gelegentlich auch
Einblicke in die Konsonanten lehre, besonders in die Frage über die Ent-
wickelung von Vokal -f- w, j, h, ht.
Die. folgenden Abschnitte (S. 212 — 271) behandeln nun: die Flexions-
lehre, Übersicht über die dialektischen Formen aus der Flexionslehre,
dialektische Abweichungen der Meditations von der Handlyng Synne und
der Chronik, Listen der altnordischen und der französischen Lehnwörter
nach Wortklassen geordnet.
Danach setzt (S. 271) die Vergleichung von Roberds Sprache mit der
neuenglischen Mundart ein. Wir finden hier die folgenden Kapitel: Cha-
rakteristik der ne. Mundart, Vokalismus der ne. Mundart, Konsonantis-
mus im Me. und im Ne. und zuletzt einige Resultate und Schlulsbemer-
kungen. Wenn man von einigen literarischen Entlehnungen bei Roberd
absieht, so steht es nach der Darstellung Boerners fest, dafs in der
Mundart seit Roberds Zeit keine durchgreifenden Verschiebungen ein-
getreten sind.
Es würde uns zu weit führen, auf alle interessanten Details, die aus
dem Buche herauskommen, einzugehen. Statt dessen will ich, bevor ich
schliefse, mich mit einigen Spezialfragen beschäftigen, worin ich dem Ver-
fasser nicht beistimmen kann. l
S. 35 sagt Boerner (betreffs des auslautenden -n): 'wenn aber trotz
der allgemeinen Regel im part. praet. das -n zum Teil erhalten ist, so
mögen hier Ursachen gewirkt haben, die noch nicht ermittelt sind.' Als
'unermittelt' sind doch diese Ursachen kaum zu bezeichnen! S. 42 be-
spricht Boerner ein paar Ortsnamen aus Lincolnshire, die auf frühen Ver-
lust von -n deuten sollen, und die er den von Bradley gesammelten Bei-
spielen gegenüber anführt, die das -n meist gewahrt haben und demnach
südliche Formen repräsentieren sollen. Die von Boerner angeführten Fälle
beweisen aber gar nichts, da sie beide altnordische Bildungen sind. Frisebi,
Frisatorp sind, wie Saxby, sicher von den Nordleuten in Lincolnshire ge-
bildet (ursprünglich Frtsaby, Frisaporp, Saxby). -by, -ßorp sind typische
nordische Ortsnamenkomponenten. S. 56. In me. pakk, ne. dial. thack
'roof ist der /t-Laut vollkommen lautgesetzlich. In ae. pcec gen. pceces etc.
na. pl. pacu, gen. pl. paca, dat. pl. paeum kann kein ts entstehen. Wes-
halb man also, um die A-Form in der Gegend Roberds zu erklären, an
eine Einwirkung des altn. pak denken könnte, ist mir unklar. S. 58. Was
der Verfasser mit an. kl&pdi (sie ! so auch S. ö8) meint, verstehe ich nicht.
S. 04. Betreffs des Verhältnisses von altostn. grees zu altwestn. gras ver-
weise ich auf den Aufsatz von Ekwall in Nordiska Studier, tillegnade Adolf
Noreen S. 247 ff. S. 70. Ohne mich auf die Frage nach der ursprünglichen
Quantität des ne. crumb (ae. erüma oder crüma'l) einzulassen, mufs ich es
sonderbar finden, dafs Boerner das Sb. als erüma ansetzt, aber das dazu
1 Da in Gothenburg, wo ich dieses schreibe, sehr wenige Hilfsmittel für dus
Studium von Roberd Manning (einstweilen nicht einmal eine einzige Ausgabe einer
Manningschen Arbeit) vorhanden sind, bin ich aufserstande gewesen, vieles, was ich
gern nachprüfen wollte, näher zu untersuchen. Es gilt dies besonders für die Keim-
wörter, deren Bedeutungen aus Boerners Arbeit sich öfters nicht erschliefaen lassen.
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 15
226 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
gebildete Verb *crymman (nicht cryn/ari) schreibt. Schon Orrm hat emm-
mes. — Als verwandt zu aglyfte^ 'erschrocken' betrachte ich schwed. dial.
gluft 'Öffnung', norw. dial. glyfs 'Öffnung', me. glopnen 'be astonished, terri-
fied' usw.; die ursprüngliche Bedeutung war 'offenstehen, gaffen'. S. 71.
fytte (H. £.7756) mit 'ae. 7 vor mehrfacher Konsonanz' verstehe ich nicht;
die Ausgabe von H. S. steht mir aber nicht zur Verfügung. S. 75. Dafs
britn 'wild, wütend' aus einer ae. Grundform mit 'unfestem y' stammt,
wird wohl niemand glauben. — Kutte 'to cut' ist sicher nicht dem Kel-
tischen entlehnt; denn wie wären dann die entsprechenden skandinavischen
und niederländischen Formen zu erklären? Vgl. übrigens Ekwall, Shake-
spere's Vocabulary S. 15 Anm. 4. S. 79. Wie ae. cnafa aus älterem ae. Inapa
entstanden sein kann, ist mir unklar. S. 82 Anm. 2 ist mir völlig unbe-
greiflich und wohl verderbt. S. 102 mom. 4 anm. 1. 'Anglia IX' und
'Beowulf 1001'. Der Verfasser sagt, dafs wend {Chr. 1771) ein Versehen
für wond ist, das 'in beiden Handschriften steht'. Von wem rührt dann
das Versehen her? S. 106. Zu der Schreibung iverd 'world' sind die Formen
des Wortes in den modernen nordischen Sprachen zu vergleichen, wo l nicht
mehr gesprochen wird ; im Dänischen wird es nicht einmal mehr geschrie-
ben. S. 112. Im Reim wonde 'fear, hesitate' : husbonde ist wohl o in hus-
bonde eher aus ö in ostn. böfajnde als aus ü in dem von Boerner angeführten
büandi zu erklären. Die Überschrift ( : y 'reimt mit o an. Ursprungs')
pafst übrigens schlecht zu 'husbonde (an. büandiy. S. 121. Aschwed. lä>ra,
dän. Imre stammt aus dem Deutschen und kann nicht das me. lere er-
klären. S. 135. An. heäan hat kurzes e! S. 138. Sehr verwirrend für den
Leser ist, dafs hier nach einer Anmerkung in Petit Fälle in gewöhnlichem
Druck gegeben werden, die nur die Fortsetzung der Anmerkung bilden.
Solche redaktionelle Fehler sind in ziemlicher Menge vorhanden. Es mag
kleinlich aussehen, auf solche Aussetzungen einzugehen; aber gerade bei
einer Arbeit, die ihren Wert hauptsächlich als Nachschlagebuch behaupten
wird, spielt doch die Übersichtlichkeit, ja sogar eine zweckmäfsige Ver-
wendung der verschiedenen Schriftarten eine gewisse Rolle. S. 145. y in
pryde ist nicht auf das Franz. zurückzuführen, sondern ist durch ana-
logischen (funktionellen) Umlaut von ü in dem aus dem Franz. entlehnten
prüd entstanden. S. 154. Me. cöme sb. ist nicht eine Nachbildung zu
an. kväma, sondern entstammt solchen nordischen Formen, wo ö laut-
gesetzlich ist. S. 155. Ein ae. jewän < an. vciii kann ich nicht belegen.
Ae. jewan bedeutet 'wanting, diminished'. S. 156. Ein Orrmsches lafe <
ae. geleäfa kann ich nicht sicher belegen : eine solche Lesart soll zwar V. 1537
vorkommen, scheint mir aber kaum korrekt. S. 15.9. Die etymologische
Gleichstellung von an. rot und ae. wyrt ist unhaltbar. S. 166. Me. may
enthält nicht ai < an. öe + J. S. 192. Me. file 'a worthless person', womit
Boerner nichts anzufangen weifs, glaube ich in meinen Loan-words richtig
erklärt zu haben. Das f spricht entschieden gegen die Annahme, dafs
es eine Variante von vile sei, erklärt sich aber ungezwungen aus an. -fyla
'a worthless person'; vgl. an. mannfyla 'rascai' (a term of abuse).
Obwohl meine Bemerkungen noch bedeutend vermehrt werden könn-
ten, mache ich hier Schlufs, da sie alle zu speziell sind, als dafs ich mit
ihnen hier mehr Raum in Anspruch nehmen möchte. Auf die ziemlich
zahlreichen Druckfehler einzugehen, finde ich auch zwecklos.
Göteborg. Erik Björkman.
Grace Fleming Swearingen, Die englische Schriftsprache bei
Coverdale, mit einem Anhang über ihre weitere Entwicklung in den
Bibelübersetzungen bis zu der Authorized Version 1611. Berlin, Mayer
& Müller, 1904. 52 8. 8.
Tndem die Verfasserin Arbeiten von Sopp, Roemstedt, Hoelper,
Dibelius u. a. sich als Muster dienen läfst, versucht sie, die Stellung Cover-
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 227
dales in der Entwickelungsgeschiehte der englischen Schriftsprache zu
fixieren. Ihre Darstellung und die daraus erhaltenen Ergebnisse beziehen
sich aber hauptsächlich auf die Orthographie. Die Aussprache Coverdales
ist übrigens — das mufs zugestanden werden — für die von der Ver-
fasserin behandelten Fragen ziemlich belanglos. Coverdale, der aus York-
shire gebürtig war, schrieb die Londoner Schriftsprache mit Sorgfalt und
Regelmäfsigkeit. Die Sprache (oder eher die Orthographie) in Coverdales
Bibel (1535) wird mit der Chaucers und mit den Sprachformen Caxtons,
Tindales und Tottels verglichen. Auch die orthographischen Eigentüm-
lichkeiten der Drucker Wynkyn de Worde und Pynson werden zum Ver-
gleich herangezogen. Die Ergebnisse der Untersuchung fafst die Ver-
fasserin (S. 43 — 46) handlich zusammen. In der Schreibung der Cover-
daleschen Bibelübersetzung macht sich in mehreren Hinsichten eine uni-
formierende Tendenz geltend. So wird z. B. Vokallänge vor einfachem
Konsonanten konsequent durch End-e bezeichnet. Für mehrere Wörter,
deren Orthographie bei Tindale, Bale und Tottel schwankt, ist bei Cover-
dale eine bestimmte einheitliche Schreibung durchgeführt.
In dem Anhange wird die Stellung einiger späteren Bibeldrucke (der
Craumerschen Bibel 1539, der Geneva-Bibel 1557, der Rheims-Bibel 1582
und der Authorized Version 1611) zu der Coverdaleschen Bibel behandelt.
Wie Coverdales Orthographie im wesentlichen nur eine Uniformierung
von der Tindales ist, so zeigen die späteren hier untersuchten Drucke eine
immer bestimmtere Einheitlichkeit in der Orthographie, wobei Coverdales
Stellung als Zwischenglied sich deutlich erkennen läfst.
S. 36 — 42 wird auch eine kurze Darstellung der wichtigsten Eigen-
tümlichkeiten der Flexion bei Coverdale gegeben.
Mehrere Irrtümer und Ungenauigkeiten kommen vor. Sie sind aber
für die Zwecke der Arbeit belanglos, und ich finde mich nicht veranlafst,
darauf weiter einzugehen. Ein Beispiel möge genügen: a in ae. grass-
hopper soll nach der Ansicht der Verfasserin aus grass 'durch Volks-
etymologie' genommen sein.
Für denjenigen, der ein Gesamtbild von dem Entwicklungsgänge der
englischen Orthographie sich schaffen will, wird unser Büchlein gewifs
nicht ohne Bedeutung sein.
Göteborg. Erik Björkman.
John Erskine, The Elizabethan lyric. A study. Columbia University
■ Press, 1903. XVI, 344 S.
Die hohe Entwicklung der dramatischen Literatur in dem England
des 16. Jahrhunderts hat lange Zeit hindurch eine arge Vernachlässigung
und Verkennung der Bedeutung jener Epoche für die englische Lyrik
hervorgebracht; erst die Einzelstudien der letzten Zeit auf den verschie-
denen Zweigen der damaligen Lyrik haben ein gröfseres, allgemeineres
Interesse auf sie gelenkt. Der Verfasser des obigen Buches will nun eine
zusammenfassende Darstellung der gesamten Lyrik der Elisabeth - Zeit
geben. Er geht dazu aus von einer allgemeinen Besprechung über Form
und Inhalt der lyrischen Dichtungen, die zwar von einer scharfen Be-
obachtungsgabe des Verfassers zeugt, die Grenzen dieser Dichtungsart
aber so eng zieht, dafs der grölsere Teil der Goetheschen, Heinischen oder
Burnsschen Lyrik kaum vor den aufgestellten Anforderungen bestehen
könnte. Im zweiten Kapitel folgt eine kurze Übersicht über die Geschichte
der Lyrik im Alt- und Mittelenglischen. Diese Einleitung hätte, um mit der
dem Verfasser gestellten Aufgabe im Einklang zu stehen, den Zweck haben
müssen, zu zeigen, wie die einzelnen Themen und Formen der englischen
Lyrik in der Literatur zuerst auftraten, wie sie sich weiter entwickelten
und welches ihr Bestand im Anfang des 16. Jahrhunderts war; so dafs
man erkennen konnte, was die zu behandelnde Epoche an heimatlichen
15*
228 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Bestandteilen übernehmen konnte und was von aulsen dazutrat. Dieser
Aufgabe wird die Einleitung infolge ihres allzu starken bibliographischen
Charakters nicht im vollen Maf'se gerecht. Auch in dem Hauptteile tritt
dieser Charakter des Buches zum Schaden des Ganzen zu stark hervor;
die Methode der chronologischen Aufzählung der einzelnen Erscheinungen
mufste ihre Mängel zeitigen. Zwar ist das vorhandene Material fleiisig
und geschickt gesammelt, so dafs das Ganze eine erschöpfende und ver-
läi'sliche Zusammenstellung bietet, aber von dem Mangel einer durchgrei-
fenden Verarbeitung und klaren Anordnung des Stoffes ist die Arbeit,
vielleicht infolge der beobachteten Methode, nicht freizusprechen. Dafs
die Einteilung in Miscellany- und Sonnet-Periode etwas Verschwommenes
an sich hat, mufste Erskine selbst erkennen, wenn er z. B. den Passionate
Pilgrim, der doch sicher zu den Miscelfanies gehört, nicht bei diesen, son-
dern bei den Sonetten behandelt, Englands Helicon und Davisons Poet.
Rhapsody bei den ersteren. Ein anderer Nachteil, den die rein chrono-
logische Anordnung mit sich bringt, besteht darin, dafs die dichterischen
Persönlichkeiten zu sehr in den Hintergrund treten und ein Gesamtbild
derselben durch die wiederholten Einzelbesprechungen ihrer Werke nicht
mögüch wird.
Bei der Besprechung der Miscellany- Periode geht Erskine von den
Mss.-Misc. der Zeit Heinrichs VIII. aus, zu denen er auch die Sammlung
Wynkyn de Wordes 153U rechnet, die jedoch im Druck erhalten ist und
das erste in England gedruckte Liederbuch darstellt. Bei den gedruckten
Miscs. hätte eine allgemeine Charakteristik der Entwicklung ihres Ge-
dankeninhalts und ihrer äufseren Eormen manches zu bieten vermocht.
So scheint mir, um nur eins hervorzuheben, nirgends die wachsende Vor-
liebe jener Zeit für den Stabreim, die unter dem Einflufs des wieder
populär gewordenen Piers Plowman und Norths Gwerara-Ubersetzung von
neuem auflebte, so zutage zu treten wie gerade in den Miscs. Den Höhe-
punkt erreichte sie wohl in der Gorg. gallery of gallant inventions, bei
Turberville und Churchyard ; aber auch in Spensers Schäferkalender macht
sie sich deutlich bemerkbar. Auch über die Persönlichkeiten in den Miscs.
hätte einiges gesagt werden müssen. Beim Paradise of d. devices scheint
es mir nahe zu liegen, in dem Oxforder Musiker Eichard Edwards, einem
der Hauptbeiträger, den Redakteur des Ganzen zu erblicken, nach dessen
Tode die Sammlung herausgegeben wurde. Einer Klage von W. H. (William
Hunis) über falsche Freundschaften folgt von Edwards, gleichsam als
redaktionelle Anmerkung:
If suche false shippes haunte the shore,
titrike down the sailes and trust no more.
Ist der ebenfalls unbekannte Herausgeber des Phoenix Nest 1593, R. S.,
vielleicht mit dem Richard Smith identisch, der 1594 Constables Diana
mit mehreren Sonetten anderer Dichter als Mise, herausgab? Turbervilles
Epitaphs etc. verlegt Erskine nach 15/0; sie waren aber schon 1567 in
zweiter Auflage erschienen ; die Nachahmungen aus dem Klassischen, von
denen eine erwähnt wird (S. 102), sind Übersetzungen aus der Anthologia
Qraeca, die T. wahrscheinlich in lateinischer Übersetzung vorgelegen hat
(Koeppel, Anglia XIII 09).
Sowohl in der Mise- als auch in der Sonett-Periode hat Erskine den
Einflüssen der kontinentalen Literatur noch nicht bis zu dem notwendigen
Grade nachgeforscht; die Lyrik der Elisabeth-Zeit kann nur im engsten
Anschlufs und stetem Vergleich mit der französischen und italienischen
Literatur studiert werden. In vielen Fällen haben wir es nicht nur mit
Konventionellem und Nachempfundenem zu tun, sondern mit direkten
Entlehnungen. So sind sogar unter den Beispielen, die Erskine als Proben
aus den einzelneu Dichtern abdruckt, manche nur Übertragungen. Dem
S. 130 angeführten 'Care-charmer sleep' von Daniel hegt ein Sonett von
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 229
Desportes (Amours d'Hippolyte I xxv) zugrunde, wie auch dem S. 137
abgedruckten 'If this be love' (Amours de Diane I xxix). Das Gedicht
Fletchers 'In tyme the strong' (S. 146) entstammt der Anthologia Oraeca;
das Spensersche 'Faire is my love1 (S. 156) ist die Übersetzung eines So-
netts von Tasso 'Bella e la donna mia'. Die Form von Frage und Ant-
wort, die nach Erskine Grimauld eingeführt haben soll, hat ihre Vorlage
in der Epistel 'In simulacrum Occasionis' der Anthologia Oraeca; Gri-
mauld, der unabhängig von den Italienern schafft, ist überhaupt typisch
für den Einfluls der Klassiker. Einen Einflufs Ronsards auf Lodges Lyrik
stellt Erskine in Abrede; Sidney Lee, Elixabethan Sonnets I xvm, führt
nicht weniger als fünf direkte Übersetzungen an. Selbst die Verwendung
religiöser Stoffe zu Sonetten stammt aus der französischen Literatur, in
der schon 1577 die Sonnets spirituels des Abbe" Jacques de Billy erschienen.
Ebenso stark tritt dieser kontinentale Einflufs in den Songbooks zu-
tage, wo es Erskine auch mit Recht hervorhebt. Als ergänzend möchte
ich noch anführen, dafs das S. 222 abgedruckte 'Brown is my love' eine
wörtliche Übersetzung des italienischen Madrigals 'Bruna sei tu ma bella'
von Ferabosco ist. Auch die Triumphs of Oxiana haben ein kontinentales
Vorbild in den Triomfi de Dori, von denen sie sogar den Refrain ent-
lehnten.
Auch in den Songbooks führt die Anordnung nach chronologischen
Gesichtspunkten Nachteile mit sich: es tritt der Unterschied zwischen den
einzelnen Gattungen der Madrigale, Ballets und Airs nicht genügend her-
vor. Ungenau ist auch, wenn Erskine mit diesen zusammen die Catches
bespricht oder sie gar aus ihnen sich entwickeln lassen will. Die Catches
sind englisches Erbgut und gehören der Volks- und nicht der Salonmusik
an; schon ihre Verwendung in der zeitgenössischen dramatischen Literatur
(vgl. Shakespeare, Twelfth night II 3 und lempest III 2) läfst darauf
schliefsen, dafs sie den unteren Volksschichten angehörten. In den Ballets
1595, zu denen Morley übrigens durch die Balletti Castoldis angeregt wurde,
verwechselt Erskine das Lied 'My bonny lass she smyleth' mit dem von
Lodge 'My bonny lass thyne eye'; beide haben aufser der Anrede an die
Geliebte nichts gemeinsam. Für Byrds erstes Liederbuch ist 1588 ange-
geben ; aus einer Eintragung in die Buchhändlerregister vom 6. November
1587 (Collier, Transcr. II 477) geht aber hervor, dafs es schon 1587 er-
schienen war.
Das Kapitel über die Lyrik im Drama zeichnet sich durch seine Voll-
ständigkeit aus. Eine Tabelle aller Erscheinungen der betreffenden Epoche
auf dem Gebiete der Lyrik bildet den Schlufs des Buches, das allerdings
eine abschliefsende Geschichte der Elisabethanischen Lyrik noch nicht
liefert, infolge der Fülle und genauen Anführung des Materials aber als
ein guter Fortschritt jenem Ziele entgegen zu begrüfsen ist.
Berlin. Wilhelm Bolle.
Eimer Edgar Stoll, John Webster; the periods of his work as
determined ;by his relations to the drama of his day. Cam-
bridge, Harvard Cooperative Society, 1905. 216 p.
Kleine Typen, enger Druck, viel Belesenheit, ein Stil wie telegraphiert,
ernste Sachlichkeit ohne Spur von Eitelkeit und dazu eine vorzügliche
literarhistorische Methodik, wie man sie selten findet: diesen Eindruck
macht Stolls Buch, das nicht blofs für die Erforschung Websters, sondern
der ganzen nach-Shakespearischen Dramatik einen bedeutenden Fortschritt
bildet.
Das erste Kapitel stellt die Chronologie der Websterschen Dramen
fest und sucht die noch viel schwierigeren Verfasserfragen aufzuhellen.
Von Stücken, die man Webster vermutungsweise zuwies, werden 'Ihracian
wonder' und 'The weakest goeth to the wall' abgelehnt, während 'Cure for
230 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
a cucl:old' sich als ein ziemlich sicheres Werk von Webster erweist. Den
Dramen, an denen er in seiner Frühzeit mitarbeitete, gilt das zweite Ka-
{ritel. 'Wyattf' woran er wohl nur geringen Anteil hatte, beruht wesent-
ich auf Holinsheds Chronik, mit etwas Einflufs von Shakespeares 'Hein-
rich VI' B. Es ist eine Historie volkstümlicher Art, nicht von jener Mar-
iowischen Tragik wie 'Richard II' oder 'Richard IIP. Etwas selbständiger
betätigte sich Webster in der Induktion zu 'The malcontent' . Aber auch
noch in den bürgerlichen Komödien 'Westward ho' und 'Northward ho'
ringt er sich nicht zu viel Originalität durch, sondern bleibt ein enger
Nachahmer Dekkers. Einzelnes kommt zugleich aus den 'Merry wives of
Windsor' herüber. Das dritte Kapitel ist den Stücken gewidmet, in denen
sich Webster freier gibt und sein Charakteristisches schafft: 'White deviV
und 'Duehess of Malfi'. Bei jenem führte die Quellenuntersuchung nicht
auf das Dokument, durch das die italienische Mordgeschichte zur Kennt-
nis Websters gelangte, obwohl Stoll eigene Forschungen auf italienischen
Bibliotheken darüber anstellte. Dagegen konnte er bei 'Duehess of Malfi'
aulser Painters 28. Novelle noch Sidneys 'Arcadia' als unmittelbares Vor-
bild erweisen. Die Abhängigkeit im Stoff hat aber Stoll mit Recht als
sekundär betrachtet gegenüber der Entwickelung des ganzen Typus der
Rachetragödien, zu dem die genannten Stücke beide gehören. Indem er
mit weitem und eindringendem Blick diese Gattung mustert, unterscheidet
er hauptsächlich zwei Klassen : die Tragödien des richtenden Rächers, mit
überwiegend sittlicher Auffassung, viel melodramatischem Beiwerk und
deutlichen Einflüssen Senecas; und die des machiavellistischen Rächers,
mit stärkerer Betonung eigenwilligen Temperaments und ohne übernatür-
liche Motive. Erstere Art ist zuerst bei Kyd zu finden, letztere bei Mar-
lowe. Webster gehört zur ersteren; Zwischenglieder, die von Kyd zu ihm
überleiteten, waren Werke von Chapman und Tourneur; von Shakespeare
kamen nur einige Wahnsinns- und Knabenmotive mit herein. Das Schlufs-
kapitel beschäftigt sich mit 'Hie devil's law-case', 'Appius' und 'Cure for
a cuckold', derberen Stücken, in denen Webster in die Nachahmung zu-
rückversank, besonders von Fletcher und Massinger, gelegentlich auch
von einer Volks- oder Advokatenszene Shakespeares. Das Ganze gipfelt
naturgemäls in einem sorgsam abgewogenen Urteil über Websters Erfin-
dungskraft. Zwei Exkurse, über 'The atheist's tragedy' und über Fletchers
Einflufs auf Chapman, sind als Anhang beigegeben.
Manches hat Stoll sichergestellt, vieles wahrscheinlich gemacht. Er
weils selbst, wie viele Schwierigkeiten durch die Ungenauigkeit der mei-
sten Neudrucke, die Unsicherheit der Verfasserschaft und Mitverfasser-
schaft, die Überfülle der möglichen Stoff- und Stilquellen und den Verlust
zahlreicher Dramen für den Forscher entstehen. Aber wer wird auch von
einer Verarbeitung philologischen Materials ein Abschliefsen erwarten?
Anregung hat er reichlich gegeben, indem er es verstand, die richtigen
Entwickelungsf ragen auf zu werfen, wie betreffs der Rachetragödie, der
Knabengestalten, der Volksaufläufe u. dgl. Dadurch hat er seiner Studie
ein weit über Webster hinausgehendes Interesse verliehen und sie für
jeden, der das ältere Stuartdrama wissenschaftlich anfafst, unentbehrlich
gemacht.
Berlin. A. Brandl.
Alexander GUIs Logonomia Anglica. Nach der Ausgabe von 1621
diplomatisch herausgegeben von Otto L. Jiriczek (Quellen und For-
schungen, XC). Strafsburg, Karl J. Trübner, 19U3. (Preis M. 7,50.)
Unsere Kenntnis der englischen Lautentwicklung vom 15. Jahrhundert
bis auf die Gegenwart ist vornehmlich aus den Angaben von Gram-
matikern und Orthoepisten der vergangenen Jahrhunderte geschöpft, und
Ellis gebührt das groi'se Verdienst, durch Mitteilung reichlicher Auszüge
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 231
dies Material zugänglich gemacht und die Grundlinien der Entwicklung
festgestellt zu haben. Damit ist aber die Aufgabe, vor der unsere For-
schung steht, noch nicht völlig gelöst. Geht man näher auf sie ein, so
merkt man bald, dafs Ellis' Auszüge nicht immer ausreichen, dals wir
viele Zeugnisse erst in ihrem vollständigen Zusammenhang richtig deuten
können und daher die wichtigeren Gewährsmänner Neudrucke verdienen.
Darauf habe ich schon vor einem Jahrzehnt hingewiesen, aber gewifs nur
dem Ausdruck gegeben, was anderen, die sich mit diesen Grammatikern
beschäftigt haben, ebenso lebhaft vor Augen getreten ist. Einer Anregung
Brandls folgend, hat es nun Jiriczek unternommen, eines der wichtigsten
dieser Quellenwerke, von einem Mann, der als Altersgenosse Shakespeares
und Lehrer Miltons besonderes Interesse beanspruchen darf, in einem
Neudruck uns vorzulegen.
Die Aufgabe war gerade bei diesem Autor viel schwieriger als zu er-
warten war. Gills 'Logonomia Anglica' ist eine englische Sprachlehre im
weitesten Sinne des Wortes — sie bietet aufser der eigentlichen Gram-
matik auch eine Stilistik und Metrik — und sucht namentlich eine neue,
rationelle Orthographie einzubürgern, in welcher die zahlreichen Beispiele
und Sprach proben wiedergegeben sind. In der ersten Auflage von 1619
ging nun Gill sehr radikal vor und verwendete so viel neue Zeichen, dafs
er damit schon beim Druck, man kann sagen, Schiffbruch litt: die oft
minuziösen Unterschiede zwischen den Lettern kamen so schlecht heraus,
dafs es nötig war, die einzelnen Exemplare handschriftlich durchzukorri-
gieren. So berichtet er selbst in der zweiten Auflage (vgl. 25, 10 des Neu-
drucks), und in der Tat zeigen alle bekannten Exemplare des ersten
Druckes fast auf jeder Seite solche Verbesserungen, nicht selten in recht
bedeutender Anzahl. Zwei Jahre später (1621) veranstaltete Gill eine
neue, inhaltlich fast gar nicht veränderte Auflage, in welcher er ein be-
deutend einfacheres orthographisches System zur Anwendung brachte, das
sich beim Druck als durchführbar erwies. Diese Ausgabe letzter Hand
mufste natürlich dem Neudruck zugrunde liegen. Aber wenn sie auch
den handschriftlichen Verbesserungen in den Exemplaren der ersten Auf-
lage in der Regel gerecht wird, so finden sich doch in einer Beihe von
Fällen Abweichungen, und es ergibt sich die Frage, ob etwa nur Druck-
fehler oder Versehen der zweiten Auflage vorliegen, oder ob Gill eine an-
dere Lautung lehren wollte als früher. Dazu kommt aber noch weiter,
dafs manche jener Besserungen nicht in allen Exemplaren stehen, somit
zu erwägen ist, ob sie wirklich von Gill gewollt oder vielleicht nur von
einem Helfer irrtümlich eingefügt sind (denn er selbst kann doch schwer-
lich alle Exemplare durchkorrigiert haben). Diese verwickelten Verhält-
nisse haben es sehr schwierig gemacht, einen Neudruck zu liefern, der
uns das gesamte Material der Zeugnisse Gills in übersichtlicher Form zu-
gänglich macht, und es gehörte kein geringes Mafs von Entsagung und
Ausdauer dazu, diese unsäglich mühevolle Kleinarbeit durchzuführen.
"^ Jiriczeks Ausgabe bietet nun einen genauen Abdruck der zweiten Auf-
lage und eine Zusammenstellung solcher Abweichungen von den hand-
schriftlichen Besserungen der ersten, die irgendwie von Belang sein können.
Dieser Beschränkung wird man nur zustimmen können. Absolute Voll-
ständigkeit war bei der Sachlage überhaupt nicht zu erreichen — sie
würde eine genaue Vergleichung jedes einzelnen Exemplars der ersten Auf-
lage erheischt haben — , und sie wäre auch von geringem Nutzen gewesen.
Für den einzigen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Auflagen,
die Scheidung von rj und >jg, die in der zweiten gleichmäfsig durch ng
bezeichnet sind, hat Jiriczek das gesamte Material besonders und sehr
lehrreich zusammengestellt (S. XLII). Aufserdem enthält die Einleitung
alle Behelfe, um Gills Angaben und Schreibungen richtig zu deuten. Be-
sonders wertvoll ist das Glossar am Schlufs, welches sämtliche Transkrip-
tionen verzeichnet und bei seinem beträchtlichen Umfange (ca. 2600 Stich-
232 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Wörtern) uns erst einen vollen Einblick in die Sprechweise Gills gibt. In
Einzelheiten würde man vielleicht die Einrichtung des Buches anders
wünschen. So fände ich es sehr nützlich, wenn im Glossar durch ein
einfaches Zeichen bei den betreffenden Wörtern auf die in der Einleitung
mitgeteilten abweichenden Lesungen der ersten Auflage hingewiesen wäre.
Diese selbst hätte man lieber am Fufse der Seite gesehen, eine Anordnung,
die doch wohl nicht so schwer durchführbar gewesen wäre. Aber im
ganzen verdient das Vorgehen Jiriczeks gewifs allen Beifall.
Da ich im Besitz der ersten Auflage der Logonomia Anglica bin
und nach dem Dargelegten jedes einzelne Exemplar an handschriftlichen
Besserungen zum Teil Neues bietet, möchte ich zunächst zur Varianten-
liste, S. LV ff., einige Ergänzungen bringen, meist Fälle, in denen mein
Exemplar die zu erwartenden Korrekturen im Gegensatz zu dem Ox-
forder aufweist, also bestätigt, was bereits zu vermuten war. Ich setze sie
gleich in die Orthographie der zweiten Auflage um.
Abroad: die auffällige Schreibung abräd (d = a in all) ist in mei-
nem Exemplar ganz deutlich am Rande zu abröd (ö = o in spoken) ge-
bessert (S. 54 Z. 4). Die Vermutung Jiriczeks, dafs blofs ein Versehen
vorliegt, nicht etwa schon ein Beleg für die Aufhellung zu dem heutigen
Laut, bestätigt sich also.
All: al in Kap. XV, 16, Z. 2 (= Neudruck 83, 21) ist zu dl gebessert.
Fault: faut ist zu fdlt gebessert.
Haste: hast gebessert zu hast (ä = o in tale).
Manure: bereits richtig manvr gedruckt (v = u in duke).
Refuse: für das refüx der zweiten Auflage (Neudruck 136, 19), mit
einem ü, das entweder [u] wie in but oder [u] wie in soon anzeigt, wäh-
rend sonst refvx erscheint (v = u in duke), bietet mein Exemplar das zu
erwartende refvx, und zwar schon gedruckt.
Walk: wäkt auch bei mir nicht verbessert.
Youth: die Bemerkung 'ergänze 27, 13' beruht auf einem Versehen.
An Stelle von 72, 13 ist 27, 13 zu setzen.
Bezüglich des ng in offspring und nothing S. XLV Anm. 2 stimmt
mein Exemplar mit dem Oxforder überein, im Gegensatz zum Londoner.
Von den geringfügigen textlichen Varianten, die in der Einleitung
besprochen sind, ist eine an etwas versteckter Stelle erwähnt und daher
leicht zu übersehen. Im Kap. V wird erklärt, dafs au (z. B. in lawn,
pawn) wie d klinge, d. h. wie der Laut in all, der anderwärts dem deut-
schen langen a gleichgestellt wird. Dann fährt Gill fort: 'at vbi vere
diphthongus est, a, deducitur in d, vt du, alue imperium, duger terebra.'
Was soll das heifsen? Diese Stelle enthält offenbar einen Fehler! In der
ersten Auflage hiefs es, wie Jiriczek allerdings S. LVII Anm., aber in
einem ganz anderen Zusammenhang, erwähnt: 'u deducitur in ü' (ü =
dem Laut in too). Dies ist verständlich: Gill glaubt ein langes u als
zweite Komponente zu hören. Woher die seltsame Änderung in der
zweiten Auflage kommt, ist schwer zu ersehen. Da er du, duger transkri-
biert, könnte man vermuten, er habe schreiben wollen : 'd deducitur in &',
d. h. der Laut von all gehe in ein u als zweite Komponente über. An
dieser Stelle wäre es wohl besonders angemessen gewesen, die Lesart der
ersten Auflage am Fufse der Seite zu sehen.
Fragen wir uns nun, welche Förderung unserer Forschung aus die-
sem Neudruck erwächst, so müssen wir in erster Linie anführen, dafs wir
nun Gill in seiner Eigenart erkennen und daher seine Zeugnisse besser
beurteilen können. Er stellt zunächst ganz streng die Forderung nach
einer Lautschrift auf : wie der Maler bei der Wiedergabe des menschlichen
Gesichts die lebendigen Züge nachbilde, so müsse man auch 'ä vivä voce
verba describere' (14, 16). Aber in der Praxis gäbe es doch Rücksichten,
die zu Abweichungen führen. Es sei personx, nicht persnx, geschrieben,
weil in den Ableitungen personal und personaliti das o noch nicht ge-
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 233
8chwunden ist. Der Gelehrte, der das Etymon vor Augen habe, solle
skolar, onor schreiben — Gill tut dies tatsächlich. Wenn aber der Unge-
lehrte seinen Ohren folgend skoler, oner schreibt, so mache er, Gill, sich
nichts daraus. Weiter sucht er Unterschiede der Bedeutung zum Aus-
druck zu bringen 'quoad fieri potest & sonus permittit'. Er hält 7 'ich',
ei 'Auge' und ci 'ja' auseinander (14, 38) und tadelt sogar Grammatiker,
die ei als Aussprache von I lehren (13, 33). Aber an einer anderen Stelle
(30, 18) erklärt er, dafs in ei 'Auge' und ei 'ja' 'sonus vocalis exiguum
distat ab illo qui auditur in äjn tuus & mjn meus', und von j, d. i. 'i crassa',
sagt er 24, 17: 'fere est diphthongus ei'. Er hat also klärlich in den
Wörtern, die wir heute 1, eye und aye schreiben, denselben Laut ge-
sprochen, wie auch alle drei auf me. t zurückgehen (vgl. Angl. 14, 272),
und ist nur durch die Verschiedenheit der Bedeutung zu verschiedenen
Transkriptionen veranlafst worden. Noch wichtiger sind die Bemerkungen
über seine Kücksichtnahme auf die 'consuetudo' (15, 10 ff.). Er bezeugt
unter anderem, dafs in folk, fault, balm, half, tall; walk das l häufig ('fre-
quentius') ausfällt; weil aber die 'eruditi' es nicht abwerfen, schreibe er
teils mit Rücksicht auf diesen Brauch, teils im Hinblick auf die Etymo-
logie (deutsch voll; halb) fölk, fält, bälm usw. Wir haben also hier ein
klares Zeugnis für das Bestehen von Doppellautungen — einerseits volks-
tümlich-fortschrittlichen, anderseits gelehrt-konservativen — und erkennen
deutlich die Entstehung von spelling-pronunciations, die später eine so
grofse Rolle spielen.
Gills Angaben über die einzelnen Laute sowie seine Transkriptionen
sind allerdings zumeist schon von Ellis gebucht. Aber auch abgesehen
davon, dafs sie vielfach erst im Zusemmenhang ins richtige Licht rücken,
ist es doch von grofser Wichtigkeit, dafs wir nun die ursprünglichen Um-
schriften Gills vor uns haben und die Umdeutungen Ellis' kontrollieren
können, die in gewissen Fällen nicht den Wert eines Zeugnisses, sondern
einer Konjektur haben. Dies gilt namentlich von seiner Wiedergabe des
Gillschen ng teils durch n, teils durch ng, die jetzt durch die Mitteilungen
Jiriczeks über die erste Auflage zum Teil berichtigt wird. Auch im ein-
zelnen ergeben sich Berichtigungen. So hätte nach Ellis III 882 Gill in
dem Worte aye aufser der obenerwähnten noch eine andere Aussprache
gekannt, den ««'-Diphthong, durch den er sonst me. ai wie in day wieder-
gibt. Ihre Erklärung hat mir Angl. 14, 273 einige Schwierigkeiten ge-
macht. Nun stellt sich heraus, dafs Gill deutlich zwischen aye 'ja' und
ay 'immer' scheidet_und den erwähnten a«-Diphthong nur dem letzteren
zuweist, in bester Übereinstimmung mit dem, was die Sprachgeschichte
erwarten läfst. Weiter ist es bei schwankenden Umschriften nicht un-
wichtig, die Zahl der Belege für jeden Fall und besonders auch die An-
gaben der ersten Auflage übersehen zu können, und endlich hat Ellis
doch nicht alle bei Gill transkribierten Wörter in sein Glossar aufge-
nommen, so dafs seinen 2100 Stichwörtern bei Jiriczek 2600 gegenüber-
stehen.
Ist nun auch Gills Buch vor allem für die Lautgeschichte von Wert,
so dürfen wir seine Bedeutung in anderen Richtungen keineswegs über-
sehen. Die phonetischen Ausführungen des Verfassers nehmen keinen so
grofsen Raum ein, vielmehr wendet er der Grammatik, Stilistik und
Metrik sein Hauptaugenmerk zu. Wir können aus seiner Logonomia
ersehen, was für Ansichten auf diesen Gebieten ein feingebildeter Ge-
lehrter und hervorragender Schulmann der Stuart-Zeit hatte, und das ist
für die Beurteilung mancher literarischer Erscheinungen recht lehrreich.
(Vgl. Jiriczek in Kochs Studien xur vergleiehetiden Literaturgeschichte II
129 ff.);
Wir sind somit dem verdienten Herausgeber für seine mühevolle Ar-
beit zu Dank verpflichtet und können nur wünschen, dafs sein Bei-
spiel bald Nachahmung ifinde und auch die übrigen wichtigeren Gram-
234 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
matiker des 16. und 17. Jahrhunderts uns in Neudrucken vorgelegt wer-
den. Brotaneks kürzlich ins Leben gerufene Serie von 'Neudrucken früh-
fieuenglischer Grammatiken' eröffnet uns ja erfreulicherweise die besten
Aussichten.
Graz. K. Luick.
Martin Wolf, Walter Scotts Kenilworth. Eine Untersuchung über
sein Verhältnis zur Geschichte und zu seinen Quellen. Würzburger
Dissertation. Leipzig 1903. 77 S.
Es gewährt immer wieder einen besonderen Reiz, die Entstehung eines
dichterischen Kunstwerkes zu verfolgen, zu sehen, wie der Dichter sich
seinen Stoff formt und die Elemente zu einem harmonischen Ganzen zu-
sammenfügt. Freilich wird es uns nicht immer so leicht gemacht wie in
dem vorliegenden Falle, wo es sich um wohlbekannte historische Erschei-
nungen handelt und man bezüglich der Quellen schwerlich in die Irre
gehen kann ; hat doch Scott, der ja nach den Worten des Verfassers 'ein
ganzer Philolog' (besser: 'Antiquar') war, das Wesentliche schon ange-
deutet.
Nachdem Scott in zwei Romanen die Geschichte der Maria Stuart
behandelt hatte, lockte es ihn, auch die Figur der Elisabeth in einem
seiner Werke zu verewigen. Schon früh hatte er sich für Mickles Ballade
'Cumnor Hall' begeistert, in der die verlassene Gattin Leicesters ihr Leid
klagt. Diese griff er jetzt wieder auf und machte das Verhältnis Lei-
cesters zur Königin wie zu Amy Robsart recht eigentlich zum Mittelpunkt
der Handlung. Als Hauptquelle benutzte er Elias Ashmoles Antiquities
of Berkshire, der seinerseits die Schmähschrift 'Leicesters Commonwealth'
ausschreibt. Daneben kommen Nauntons Fragmenta Regalia sowie die
Schilderungen der Feste zu Kenilworth (1575) von Laneham und Gas-
coigne in Betracht; die beiden erstgenannten Werke hatte Scott selbst
(1808 bezw. 1821) herausgegeben.
Dafs der Dichter von der historischen Wahrheit hier stark abgewichen
ist, war schon längst bekannt. Der geheimnisvolle Tod Amys hat nichts
mit den Festen auf Kenilworth zu tun, sondern erfolgte schon fünfzehn
Jahre vor diesen (S. 12). Das Motiv der Entführung Amys und die Ver-
heimlichung der Ehe vor Elisabeth ist mit Absicht von anderen Personen
herübergenommen und auf Amy übertragen. Die Enthüllung eines solchen
Verhältnisses war wahrscheinlich der Grund, dafs die Festlichkeiten so
schnell abgebrochen wurden (S. 14, 19). Vielleicht ist eine Vermischung
mit einem ähnlichen Ereignis denkbar, das drei Jahre später zu Green-
wich eintrat. Am stärksten ist die Abweichung von der Geschichte bei
der Darstellung von Leicesters Charakter. Warum Scott hier geändert
hat, ist S. 34 ff. richtig auseinandergesetzt. Es ging eben nicht an, den
Liebling der Königin als den verworfenen Schurken zu kennzeichnen, wie
er in den (freilich etwas getrübten) Quellen uns entgegentritt.
Nur in einem Punkte mufs ich dem Verfasser der Abhandlung, die
sonst alles Lob verdient, widersprechen. Es handelt sich um die Charak-
teristik Varneys, an der der Verfasser Anstofs nimmt, indem er den Aus-
führungen von Warner (Illastrations of Novels by the Author of Waverley
II, 349) zustimmt (S. 40). Warner nennt Varney ein 'moral monster' und
findet, dafs durch die Schilderung seines Endes (er stirbt durch Selbst-
mord) die poetische Gerechtigkeit verletzt werde. Nun wird niemand Var-
neys Handlungsweise beschönigen, aber er handelt doch nicht aus blofser
Ruchlosigkeit, sondern weil er seinem Herrn zu nützen glaubt, dem er
zu Dank verpflichtet ist, und mit dessen Hilfe er eine höhere soziale
Stellung zu erreichen hofft. Die Haupttriebfeder bei ihm ist also sein
Ehrgeiz, an sich kein unedles Motiv. Auf welche Weise aber Varney
seinen Tod findet, das ist etwas, das dem modernen Leser gleichgültig
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 235
bleibt. Wesentlich ist nur, dafs er das Ziel seines Ehrgeizes so wenig wie
sein Herr erreicht. Ganz verkehrt ist es endlich, wenn Warner den Dichter
tadelt, weil er sich die Gelegenheit entgehen läfst, aus dem Ende des
Sünders für den Leser eine moralische Lehre zu ziehen. Wie oft mufs
man es wiederholen, dafs der Dichter in erster Reihe künstlerische und
nicht sittliche Tendenzen zu verfolgen hat!
Berlin. Georg Herzfeld.
Oscar Wilde, De profundis, herausgegeben und eingeleitet von Max
Meyerfeld. Berlin, S. Fischer, 1905. VIII, 115 S.
In der grofsen Reihe von Autobiographien, die in England von Johann
von Salisbury bis zur Gegenwart geschrieben wurden, ist dies vielleicht
die merkwürdigste, gewifs die geistreichste. Für die Merkwürdigkeit sorgte
in erster Linie das Erlebnis des Autors; kein englischer Dichter hat jemals,
wie er, wegen eines Sittenvergehens im Zuchthause gesessen, nachdem
er vorher der verwöhnte Liebling der feinen Welt gewesen. Aber noch
auffälliger ist der starke Mut zum Leben, zum Schaffen, ja zum Ruhme,
mit dem der Sträfling, die Hände noch wund vom Säckenähen, hier vor
Mit- und Nachwelt tritt. Seine Schrift ist nicht so sehr eine Erzählung
als vielmehr eine Reihe Reflexionen zur Selbstaufrichtung, untermischt
mit brennenden Augenblicksbildern aus seinem Vorleben, seiner zwei-
jährigen Haft und der Gerichtsverhandlung, eingestreut aufs Geratewohl
und mit wenigen, tief subjektiven Worten hingeworfen. Man sieht, ohne
dafs es ausdrücklich festgestellt wird, wie der ganze Sinn Wildes in der
ästhetischen Richtung der siebziger Jahre wurzelte; Paters 'Renaissance'
hat den seltsamsten Einflufs auf ihn gehabt (S. 28); nur Künstler, nur
Schönheitskenner wollte er um sich haben; von der Frucht aller Bäume
im Garten der Welt gelüstete ihn zu essen. In solch schrankenloser
Genufsfreude wuchs sein Individualgefühl nicht blofs in die Höhe, son-
dern wild ins Kraut; die unmittelbare Folge davon hat er selbst in die
frappanten Worte gekleidet: 'Was mir das Paradoxe in der Sphäre des
Denkens war, wurde mir das Perverse im Bereich der Leidenschaft' (S. 14).
Er macht also kein Hehl aus der Verirrung, in die er mit dem Sohn des
Marquis von Queensberry verfallen war; doch nicht das Urteil der Phi-
lister, der gegen Schönheit Gleichgültigen, erkennt er an; diese Leute
deuten auf das Zuchthaus in Reading und sagen : 'Dahin führt einen
Menschen das Künstlerleben.' Einsichtiger und milder, meint er, würde
Jesus über ihn gesprochen haben, denn seine Religion sei eine der Schön-
heit, sein Wesen individuell wie das keiner anderen Persönlichkeit. Und
hiemit beginnt Wilde einen Hymnus auf das Neue Testament, das viel
seelischer sei als die Mythologie der Griechen mit ihrem grausamen Apoll.
Die geistreiche, ja bizarre Seite des Büchleins ist hier am stärksten aus-
geprägt; Wilde bringt es fertig, den Natursinn des Franz von Assisi in
sein System einzureihen und selbst den 'Taciteischen' Ernst des Dante.
In einem der angehängten Briefe an seinen Freund und Testaments-
vollstrecker Robbi (Robert Rols) stellt er eine Liste der Bücher auf, mit
denen er, sobald in Freiheit gesetzt, ein neues Leben anheben möchte:
Flaubert, Stevenson, Baudelaire, Maeterlinck, Dumas pere, Keats, Mar-
lowe, Chatterton, Coleridge, Anatole France, Gautier, Dante und die ganze
Literatur über ihn, Goethe und die ganze Literatur über ihn; dem letz-
teren zuliebe nimmt er sich vor, wieder Deutsch zu lernen. Es ist ein
höchst bestechender und etwas verzweifelter Versuch, sich aus dem
Sumpfe auf die Planke des Übermenschen zu retten, mit bemerkenswerter
Neuerung gegenüber St. Augustin, der sich durch Selbstanklage und Zer-
knirschung auf den Überchristen hinausspielte. Die Schrift wird sich
wegen dieses kunstphilosophischen Hintergrundes unter den hervorragen-
den Autobiographien der Welt dauernd einen Platz bewahren.
236 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Ungewöhnlich ist auch die Art ihres Erscheinens. Sie kam zuerst
'made in Oermany' heraus , in der sorgfältigen Übersetzung des als
Essayisten bekannten Dr. Max Meyerfeld, der mit Gewissenhaftigkeit den
Inhalt und auch den Stil des Originals zu bewahren trachtete. Vielleicht
könnte der Ausdruck manchmal schlagender und kühner sein. Wenn es
z. B. bei Wilde heifst, das englische Volk sage von einem Sträfling nicht,
er ist im Gefängnis, sondern 'in trouble', so habe ich das Gefühl, es
müsse schlankweg der Ausdruck 'im Unglück' gebraucht werden; Meyer-
feld schwächt ab: 'ist in ihrer Sprache eben einfach ins Unglück
geraten' (S. 11). Wenn Wilde bemerkt, Byrons 'relations tvere to the
passion of his age . . . mine were to something more noble', so ist es zwar
vorsichtig zu übersetzen : 'er hatte Beziehungen zu der Leidenschaft seiner
Zeit' (S. 13); doch möchte ich eher wagen: 'er vertrat, er spiegelte
die Leidenschaft seiner Zeit'. Aber welcher Übersetzer hat es noch
jedem recht gemacht? Danken wir ihm lieber für die knapp und takt-
voll orientierende Einleitung, sowie für die angehängten Briefe, die das
Ganze zu einer praktischen vita nuova ergänzen und abrunden. An-
ders ging der brave Robert Bofs vor, der im Februar 1905, zwei Monate
nach der deutschen Ausgabe, die englische folgen liefs. Rofs hat vor
allem eine Menge unterdrückt. Gleich zu Anfang hat er neun Sätze ge-
tilgt, darunter den charakteristischen Eingang: 'Zwischen Gilles de Retz
und dem Marquis de Sade sollte ich eingereiht werden.' Hier, bei der
Auslassung der Gerichtsszene (S. 91) und öfters hatte er gewifs mit dem
Anstandseifer der englischen Gesellschaft zu rechnen. Aber er schaffte auch
wee, was auf ihn selbst Bezug hatte; sagen wir: aus Bescheidenheit; ob-
wohl es leichter ist, vor dem Gefängnistor auf den verfemten Kameraden
zu warten als sich vor aller Welt schwarz auf weifs zu ihm zu bekennen.
Das Mifslichste jedoch sind die positiven Änderungen, die er, ohne es zu
vermerken, am Texte vornahm. So sagt Wilde bei Meyerfeld (S. 4), dafs
seine Frau 'in jenen Tagen sehr gütig und liebenswert' war; bei Rofs
hingegen lesen wir: 'my wife, always Hnd and gentle to me' (S. 14). Daraus
folgt: .niemand darf das Denkmal benutzen, ohne bei jedem Satze Meyer-
felds Übersetzung nachzuschlagen. Zwei Drucke werden ausgeboten ; der
eine vielfach untreu in bezug auf den Inhalt, der andere in fremder
Sprache. Wahrhaftig, die Verlegenheit von R. Rofs erinnert an die von
Thomas Moore, als er die nachgelassenen Tagebücher Byrons herausgeben
sollte. England hat kein Glück mit seinen autobiographierenden Dichtern,
diese hinwieder haben wenig Glück mit ihren Herausgebern. Gut ist es,
dafs Shakespeare seinen Lebensroman in Sonetten beschrieb, die sich in
poetisch umflorten Bildern bewegen und zur Not sogar allegorisch deuten
oder doch deuteln lassen ; und mit Genugtuung sehen wir einen deutschen
Schriftsteller als unbefangenen Verbreiter und Verfechter von Wildes
Kunst, so zwar, dafs seine Übersetzung von Wildes 'Duchess of Padua',
deren Original nicht erscheinen darf, von den Engländern in einer Rück-
übersetzung aus dem Deutschen gelesen werden mufs.
Berlin. A. B ran dl.
W. Sattler, Deutsch-englisches Sach Wörterbuch mit besonderer Be-
rücksichtigung der Grammatik, Synonymik und der Realien. Mit Zi-
taten und einem alphabetischen Verzeichnis der englischen Wörter.
Leipzig, Rengerßche Buchhdlg. (Gebhardt & Wilisch), 1904.
Rascher als man vielleicht erwarten mochte — Bücher in Lieferungen
bringen selten gerade die angenehmsten Überraschungen — , hat sich das
stattliche Buch seinem Abschlufs genähert. Vor nicht langer Zeit kün-
digte ich das Erscheinen der zwei ersten Lieferungen an, und jetzt .liegt
bereits die elfte Lieferung vor, mit der das Buch selbst vollständig ist.
Zur bequemeren Benutzung desselben soll in diesem Jahre noch ein Ver-
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 237
zeichnis der in ihm behandelten englischen Worte erscheinen, das etwa
15 0UU Wörter umfassen wird. Mit ihm wird dem Leser ein passe-partout
in die Hand gegeben, der leichten und allseitigen Zutritt zu den reichen
Schatzkammern des Werkes gestattet. Eine Lebensarbeit ist hier nieder-
gelegt, und sie bedeutet einen wesentlichen Fortschritt und eine stattliche
Bereicherung der Bibliothek der Lehrenden und Lernenden. Wer sich von
dem Reichtum der hier zusammengetragenen Information aus den ver-
schiedensten Wissensgebieten überzeugen will, der schlage einmal das Stich-
wort Ländernamen auf. Er wird staunen, nicht allein ob der Menge des
Gebotenen, sondern auch ob der Eigenart des Mitgeteilten. Auf S. 514
liest er z. B. Interessantes und Unterhaltendes über die Spitznamen des
Amerikaners: er erfährt die Geschichte und den Ursprung von Uncle Sam
und Brother Jonathan. Der an sich oft insipide Stoff bekommt durch
derartige Zutaten die nötige Würze. Die Artikel, in denen es auf idio-
matischen Wortgebrauch, grammatische Unterscheidung und Gliederung
ankommt, sind zum Teil geradezu Glanzleistungen, die Zeugnis ablegen
von des Verfassers Beherrschung des Sprachschatzes und sicherem In-
stinkt. Ganz besonders aufmerksam machen möchte ich auf Artikel wie
machen oder Wirt. Allerdings war der Autor nicht überall so reich mit
Material ausgestattet, so glücklich in der Verarbeitung des Stoffes, so klar
und scharf im Urteil wie gerade hier. Die Arbeit ist zu ausgedehnt und für
den einzelnen zu ermüdend, um nicht Stellen aufzuweisen, die die Kritik
herausfordern. So hat z. B. der Artikel so (S. 737) nicht meinen Beifall,
weder in der Anordnung noch nach dem Inhalt. Bei trotx sollte das stark
archaische maugre, das wahrscheinlich zu keiner Zeit in weiteren Kreisen
volkstümlich war, nicht an erster Stelle erwähnt sein und das ungelenke
notwitlistanding nicht an zweiter. Die Rücksicht auf die Etymologie sollte
bei der Gruppierung ganz schwinden. Hiermit berühre ich einen Punkt,
der geradezu ein wunder Fleck ist. Auf Etymologie hätte der Verfasser
entweder ganz verzichten sollen oder das reproduzieren, was Autoritäten
an gesicherter Erkenntnis bieten. Verben wie glorify, horrify (S. 543) sind
doch entschieden keine Komposita von fio\ Ich will auf die Sache nicht
näher eingehen, denn hier wäre viel zu bessern und richtigzustellen. Der
Autor war entschieden nicht gut beraten. Anstatt sich an einen Fremden
zu wenden, wie er es getan hat, hätte er lieber der eigenen Kraft ver-
trauen sollen. Bei seit, since (S. 727) steht z. B. in Klammer: d. h. sith-
hence, seit da. Derartige Zutaten kommen wohl auch auf Rechnung des
von ihm engagierten Etymologen. Auch auf dem Gebiet der Realien, da
wo es sich um Lebensgewohnheiten, Lebensart und Sitten der Engländer
handelt, war ich zuweilen im Zweifel, ob ich dem Urteil eines Helfers
oder dem des Autors gegenüberstehe. Unter drunkenness, Trunkenheit
(S. 812) liest man: 'früher auch in den besseren Ständen allgemein'. Was
soll ein derartig summarisches und unzutreffendes Urteil?! — Manche
Seiten des englischen Sports haben den Verfasser sehr interessiert, so die
Fuchsjagd, über die er eine reiche Literatur gelesen. In ihrer Wider-
spiegelung in der Sportliteratur, ebenso wie in ihrer praktischen Hand-
habung seitens der Jagdbediensteten ist sie fast zu einer Wissenschaft ge-
worden, die man am besten in der vornehmsten und umfangreichsten
Sportzeitschrift 'The Field' studiert. Sie bringt Sportnachrichten aus der
ganzen Welt, vor allem auch aus den englischen Kolonien. Über den
Kostenaufwand Angaben zu machen, den die Fuchsjagd, der vornehmste
und teuerste Sport von allen, für den einzelnen erfordert, ist sehr schwer,
da dieser sich nach den Mitteln, Lebensgewohnheiten und Neigungen des
Individuums richtet. In dem field ist man bei aller sonstigen gesell-
schaftlichen Abstufung und Exklusivität in England von einer weitgehen-
den Toleranz und Liberalität. Die Gesellschaftsunterschiede sind für den
Jagdtag aufgehoben. Jeder, der mitreiten will, ist willkommen, erscheint
er auch auf einem Wagenpferd oder auf einem Esel. Von dem Nicht-
238 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
begüterten erwartet man weder eine Subskription noch einen indirekten
Beitrag. Es gibt nicht wenige Meuten, deren Unterhalt ausschlielslich
von dem Masler of the Eounds, einem reichen, sportliebenden Herrn, ge-
deckt wird. 5000 Pfund Sterling pro Jahr betrachtet man als die Summe,
die ausreicht für erstklassiges Material an Pferden und Hunden, der hunts-
man bezieht allein ein Gehalt von 800 Pf. St. im Jahre. Die Fuchsjagd
ist auf dem Lande in England der Sport par excellence. Aufser Fasanen-
und Kaninchenjagd treiben viele countrygentlemen überhaupt nichts an-
deres. Es ist sehr anerkennenswert, dafs der Verfasser sich so eingehend
mit dem Gegenstande beschäftigt hat, der für die englische Nation eine
so tiefgehende Bedeutung hat. Das field ist die Bildungsstätte der vielen
Offiziere, die Englands Ansehen und Macht in den Kolonien haben grün-
den und mehren helfen. Ein tüchtiger Fuchsjäger ist in den meisten
Fällen identisch mit einem leistungsfähigen und tapferen Offizier. Der
Kontinentalgermane hinter seiner grofsen Brille sieht in ersterem mit Vor-
liebe einen geistig nicht ganz normalen Herrn, der um ein Nichts den
Hals riskiert. Der Hinterwäldler in einer schlecht gelüfteten, raucherfüllten
Stube schaut gern bei endlosen Schoppen mit selbstgefälliger Überlegen-
heit auf den herab, der Tag für Tag in harten Strapazen um Gesund-
heit und eine wahrhaft vornehme Unterhaltung in der freien Natur be-
müht ist. Dafs der Sport der Engländer gleichbedeutend ist mit Ge-
sundheit, Männlichkeit in Denken und Handeln, dafs er Energie, Mut
und Ausdauer erfordert, ahnt er nicht, auch ahnt er nicht, dafs hier ein
Stück des ungeheuren Erfolges der Nation liegt. Es ist Zeit; dafs wir
die Kraftquellen des Nachbarvolkes erkennen und richtig einschätzen lernen.
Vorurteil auf unserer Seite mufs überwunden werden, zumal es auf der
anderen Seite leider auch sehr mächtig ist. Ich bin sicher, dafs das
Sattlersche Werk, das auf jeder Seite Anregung zum Studium der Sprache,
der Sitten und des Charakters des fremden Volkes bietet, das Seinige zur
Lösung dieser hohen und nationalen Aufgabe beitragen wird.
Tübingen. W. Franz.
Festschrift, Adolf Tobler zum siebzigsten Geburtstage dargebracht
von der Berliner Gesellschaft für das Studium der neueren
Sprachen. Braunschweig, George Westermann, 1905. VI, 477 S. 8 °.
M. 8 (für Mitglieder der Gesellschaft M. 4).
Zum zweiten Male darf ich von einem Festgeschenke berichten, das
aus Anlafs einer für mein Leben bedeutungsvollen Tatsache mir von
Freundeshänden überreicht worden ist. Was ich mit Bezug auf die vor
zehn Jahren mir gewidmete Festschrift im Archiv Bd. XCV, S. 198 ein-
leitend gesagt habe, gilt in der Hauptsache auch von der mir jetzt vor-
liegenden, und meiner Dankbarkeit wüfste ich heute keinen anderen Aus-
druck zu geben als damals; man nehme die dort gebrauchten Worte als
jetzt von Herzen wiederholt an. Eine gewisse Verschiedenheit der Um-
stände liegt allerdings insofern vor, als heute nicht von nah und fern
zusammengetretene ehemalige Schüler die freundlichen Spender sind, son-
dern ausschliefslich Mitglieder eiuer Berliner wissenschaftlichen Vereini-
gung, von denen nur manche, bei weitem nicht alle, durch ihre Mitglied-
schaft eine Verbindung mit mir aufrechterhalten, in die sie vor Jahren
zuerst als meine Schüler getreten sind. Drei von den Beteiligten gehören
zu der von mir seit Jahren geleiteten Gesellschaft allerdings nicht als
ordentliche Mitglieder, und die Freude, sie in unserer Mitte zu sehen,
wird uns kaum einmal zuteil; aber die Gesellschaft sieht es als wertvolle
Auszeichnung an, dafs sie bereit gewesen sind, als Ehren- oder als korre-
spondierende Mitglieder zu ihr in Beziehung zu treten, und ich habe allen
Grund, mich ihrer Teilnahme an der mir erwiesenen Ehrung ganz beson-
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 239
ders zu freuen. Ihre Arbeiten stehen an der Spitze der fünfundzwanzig,
von denen ich hier in Kürze Rechenschaft zu geben habe.
Gusta„v Gröber eröffnet den Band mit einer in gereimten Versen
gegebenen Übertragung des Dit dou vrai aniel. Das altfranzösische Ge-
dicht ist bekanntlich nichts weniger als eine gewandte, glatte, lebendige,
das Wesentliche geschickt heraushebende Erzählung, und der Übersetzer
hat sich gehütet, anderes als eine getreue Wiedergabe des Originals vor-
zulegen, hat vermieden, es durch moderne Künste heutigem Geschmack
näher zu bringen. An einigen Stellen scheint seine Auffassung des nicht
immer völlig klaren Textes von der meinigen etwas abzuweichen, was mir,
hätte ich das Gedicht noch einmal herauszugeben, Anlals zu neuer Er-
wägung geben würde. In Z. 19 scheint maistre mir 'Herr' (der über Ein-
sicht verfügt), nicht 'Lehrer' zu bedeuten. Z. 136 tritt der Sinn des
compere 'büfse' nicht hervor. Die Verse 206 bis 209 habe ich als Fort-
setzung der Rede des zweiten Sohnes angesehen und dies durch den Ge-
dankenstrich nach 209 angedeutet. 311 kann Gröbers Auffassung leicht
die richtige sein, wie auch Z. 356 gegen seine Gestaltung des Textes sich
kaum etwas einwenden läfst. Dagegen finde ich 390 bis 392 den Gedan-
ken des Dichteis in der Übersetzung nicht wieder: 'den beiden älteren
Söhnen ist ihre Feindseligkeit gegen den jüngsten nicht zu verdenken,
da dessen eigene Glieder (die Christen) ihn im Stiche lassen', und Z. 426
vermisse ich den Gedanken der Vorlage: 'man ist (ja schon) dem gekränk-
ten Nächsten Hilfe schuldig, wenn man sie gewähren kann; und hier
handelt es sich um unsere eigene Angelegenheit.'
Frau Carolina Michaelis de Vasconcellos verbreitet sich in
einer sehr gelehrten, aber auch höchst lehrreichen Einleitung über Fund-
stätten, wo portugiesische Sprichwörter zu treffen sind, und über die
mancherlei Namen, mit denen man in Portugal zu verschiedenen Zeiten
diese anziehenden Erzeugnisse des Volksgeistes belegt hat. Daran schliefst
sich die Vorführung von ihrer ungefähr tausend, die alle mit dem Buch-
staben a beginnen und alphabetisch aneinander gereiht sind. Man mag
daraus auf den Umfang des Schatzes schliefsen, der noch zu heben bleibt.
Hie und da ist etwas aufgenommen, das zwar durch volkstümliche Aus-
drucksweise anzieht, als Sprichwort aber nicht gelten darf, wie z. B. A
bom santo te encomendaste ; A essoutra porta, que esta nab se obre; A mim
nab, que sou perro velho ; A quantos cai a pascoa ? cai este ano no domingo.
Auch über die Zugehörigkeit von Sentenzen, wie A Deus nab se mente,
kann man verschiedener Ansicht sein. Aber auch was vielleicht fehlen
dürfte, möchte man nicht missen. Schlimmer ist, dafs, aus einem un-
bekannten Zusammenhang gelöst, sehr viele von den aufgeführten Sprüchen
ihren Sinn nicht erkennen lassen, so dafs man ihnen gegenübersteht wie
einer Glosse, zu der das Glossierte fehlt. Wenn es heilst A faxenda de
raix farta, mas nab abasta, so erführe man gern, an welche unentbehrliche
Zugabe zum Grundbesitze zu denken ist, ob an Betriebskapital, an Ver-
ständnis für das Gewerbe, an Bewässerung; vielleicht aber will der Spruch
auch gar nicht mehr sagen, als er sagt. Was mag der Sinn von 182, 190,
193, 205, 223, 352 sein? Möge die gelehrte Verfasserin, die in so dichtem
Rohr sitzt, recht oft derer gedenken, die sich so schöne Pfeifen nicht
schneiden können.
Karl Sachs gibt nach einer Einleitung, in der mir die wünschens-
werte Klarheit des Gedankens namentlich auch bei dem Versuch einer
Einteilung des Gesammelten nicht erreicht scheint, eine lange Reihe fran-
zösischer Interjektionen oder solcher Dinge, die wenigstens er so nennt
(z. B. ä bientot, aux armes, bis, ä cheval, chargex). Auf irgendwelche Son-
derung von anderem Gesichtspunkte als dem des Alphabetes aus, auf jede
Aufklärung über die Gebrauchsweise ist verzichtet. Bisweilen wird genau
angegeben, wo etwas gefunden ist; andere Male wird nur ein Autor, als
Gewährsmann genannt, manchmal fehlt jede Angabe einer Quelle. Über
240 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
den mir nicht sicher scheinenden Sinn von bour bour hätte ich mir gern
durch Prüfung des Zusammenhanges Gewii'sheit verschafft; aber an der
zitierten Stelle habe ich nichts Hergehöriges gefunden.
Alois Brandl bezeugt bei einem Gönner seiner Knabenjahre, dem
Naturforscher, Arzt und Dichter Adolf Pichler, eine warme Verehrung
für Dante, die sich in zahlreichen direkten Äufserungen, aber auch durch
manche Anklänge in des Tiroler Sängers Gedichten bekundet.
Nach einem kurzen Blick auf die spanischen Romantiker der zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts kennzeichnet George Carel die drei
hervorragendsten spanischen Lyriker der letzten Jahrzehnte, Nunez de
Arce, Campoamor und Bäcquer, in ihren Hauptwerken. und gibt eine An-
zahl Proben daraus in ebenso gewandter wie getreuer Übersetzung.
Hermann Conrad, der in früheren Aulsätzen schon mehrfach auf
verschiedenartige Unzulänglichkeiten des 'Schlegel-Tieckschen' Shakspere
hingewiesen hat, geht hier mit Baudissins Antonius und Kleopatra in ein
strenges Gericht. Man wird seinen Ausstellungen und der Art, wie er
das Mifsratene ersetzt, Beifall nicht versagen können.
Max Cornicelius geht mit dem oft bekundeten feinen Sinn und
jener gründlichen und ausgebreiteten Kenntnis alles in Betracht kommen-
den Stoffes, ohne die er nie urteilt, romauischen Einflüssen in Gottfried
Kellers Dichtung nach. Spuren romanischer Einwirkung weii's er darin
reichlicher und sicherer nachzuweisen, als manch einer erwarten mag, der
in seinem Keller auch leidlich Bescheid zu wissen meint. Sollte man nicht
denken, der herrliche Has von Überlingen stammte von dem freilich kin-
derlos verstorbenen Don Quixote? Aber man weifs ja durch Baechtold
ganz genau, wo die köstliche Figur dem Schweizer Dichter vor Augen
getreten ist. Auf die Wiederkehr eines Zuges aus Molieres L'Amour
medecin I, 1 im 'Fähnlein der sieben Aufrechten' habe ich später im
Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung vom 23. August 1905, Beilage zu
Nr. 233, hingewiesen.
Otto Driesen hat in mündlichem Verkehr mit den in verschiedene
Gruppen sich sondernden Angehörigen des Standes, der Abfälle auf der
Strafse sammelt und sie durch Verkauf verwertet, mit löblichster Vorsicht
und unter Kontrolle durch Fachautoritäten reiche lexikalische Ausbeute
zur Kenntnis der in diesem Berufe üblichen Sondersprache zusammen-
gebracht und das einzelne Gewonnene ausgiebig erklärt, wobei auch manche
sachliche Belehrung abfällt. Man erfährt hier wiederum, wie wenig zu-
verlässig manchmal die Auskunft über mancherlei argot ist, die man etwa
aus realistischer schöner Literatur oder aus Wörterbüchern des argot ge-
winnen zu können hofft, die aus jener schöpfen. Dem Echten mischt
sich da gar zu leicht Gemachtes, gelegentlich individuell Geschaffenes bei.
Max Goldstaub, den von ihm schon so vielfach geförderten Phy-
siologusstudien treu und immer neues, mannigfaltigstes Material herbei-
ziehend, verfolgt diesmal die über das Brüten des Vogels Straufs ver-
breiteten wunderlichen Einzelheiten, das Legen zur Zeit des Erscheinens
der Pleiaden, das Bergen der Eier im Sande, wo die Sonne sie zum Aus-
kriechen bringt, das Ausbrüten durch die Kraft des eigenen, starr darauf
gerichteten Blickes der einander ablösenden Alten, das Bergen der Eier
im Wasser u. dergl. Die Wege nachzuweisen, auf denen Kunden solcher
Art von Volk zu Volk, von Zeit zu Zeit sich verbreitet haben, ist in der
Regel kaum möglich; zu unsicher ist meist das Alter der auf uns ge-
kommenen Fassungen, zu zahlreich sind die Möglichkeiten der Konta-
mination, des Mif'sverständnisses bei der Herübernahme. Aber von Wert
ist auch schon die Darlegung des kaum übersehbaren Reichtums der Über-
lieferung.
Georg Herzfeld macht nach englischen Quellen mit der geschicht-
lichen Persönlichkeit des Alchimisten, Astrologen und Geisterbeschwörers
John Dee (1527 bis 1608) genauer bekannt, dessen zu seiner Zeit nicht
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 241
alleinstehendes Treiben noch bis tief ins 17. Jahrhundert hinein in Eng-
land wohl bekannt war und nach Herzfeld vermutlich die Ursache dafür
wurde, dafs der Graf Hamilton den in seiner Novelle L' enchanteur Faustus
erzählten Vorgängen England zum Schauplatze gab. Diese Novelle selbst
ist lange als eine der Quellen (neben Hans Sachs) für die siebente Szene
im ersten Akte des zweiten Teiles des Faust erkannt.
Adolf Kolsen gibt von der verheifsenen Gesamtausgabe des Guiraut
(oder, wie jetzt verlangt wird, Giraut) de Bornelh eine neue Probe in einer
auf Grund aller Handschriften ausgeführten Bearbeitung der zwei Kreuz-
lieder (bei Bartsch Grdr. 242, 6 u. 41). Man vermifst da nichts von dem,
was bei solchem Anlafs zu verlangen ist, weder Einblick in die Verhält-
nisse der Handschriften und Rechtfertigung der Wahl der Grundlage,
noch Darlegung der formalen Besonderheiten jedes Stückes ; weder Über-
sicht über den Gedankengang jedes Liedes noch genaue Übersetzung des
(natürlich von allen Varianten begleiteten) Textes; und reichliche Anmer-
kungen rechtfertigen die dem Texte gegebene Auslegung und klären über
grammatische oder lexikalische Schwierigkeiten auf. Der Dichter gehört
bekanntlich zu denen, die einem gewissenhaften Philologen besonders viel
zu schaffen machen; und es wird kaum ausbleiben können, dafs dem
Herausgeber hier oder dort Zustimmung versagt werde. So möchte ich
I, 9 Qu'apodera oder Qu'empodera peehatx, 23 den (im Sinne des Dativs)
schreiben, 26 dels seus feritx verstehen 'von den durch ihn Getroffenen',
80 die Auffassung von non so'n deslonhatx als non sum inde remotus für
unzulässig halten wegen der Stellung des tonlosen Adverbium n und die
Lesart s'es für son vorziehen. Aber hier kann auf dergleichen kleine Be-
denken nicht eingegangen werden. Wir dürfen die von Kolsen mutvoll
unternommene Arbeit mit bester Hoffnung begleiten.
Gustav Krueger sucht die Frage zu beantworten, 'was ist slang,
beziehungsweise argot?' Er geht von unzulänglichen Definitionen und von
dem Schwanken im Gebrauch der Zeichen aus, deren sich verschiedene
Wörterbücher, oft genug auch ein und dasselbe Wörterbuch, bedienen, um
das Familiäre, das Niedrige, das Rotwelsch und dergl. als solches kennt-
lich zu machen. Er gibt Beispiele der vielen Arten von Ausdrücken, die,
neben der gemeinsamen Sprache der Gebildeten hegend, gelegentlich mit
wechselnder Absicht und Wirkung in diese aufgenommen werden, und
handelt von den psychologischen Ursachen, die dazu führen.
Albert Ludwig betrachtet im Anschlufs an früher schon mit gutem
Erfolg von ihm in Angriff genommene Studien Lope de Vega diesmal im
Verhältnis zu Ariosto, indem er die Komödie Los üelos de Rodamonte, das
lange Epos La Hermosura de Angelica, endlich die aus diesem hervor-
gegangene Komödie El Premio de la Hermosura kennen lehrt, eingehend
prüft und nach ihrem künstlerischen Wert und ihrem Verhältnis zu Ariosto
(und zu Bojardo) kennzeichnet, was um so dankenswerter ist, als diese
Werke alle wenig bekannt sind, das bedeutendste davon auch in der neue-
sten Biographie des spanischen Dichters (der von Rennert, Glasgow 19U4)
kaum besprochen wird.
Emil Mackel beschäftigt sich in zwei voneinander unabhängigen
Aufsätzen mit Beziehungen zwischen dem Niederdeutschen und dem Ro-
manischen, insbesondere dem Französischen, indem er in dem vorange-
stellten aus lautlichen Erscheinungen der älteren Periode des Nieder-
deutschen auf den Stand der lautlichen Entwickelung des Romanischen
in der Zeit schliefst, in welcher aus diesem Wörter in jenes übergingen,
und im zweiten sehr einleuchtend dartut, dafs die in grofser Zahl vor-
handenen französischen Fremdwörter im heutigen Niederdeutsch weder
zur Zeit der Hansa noch zu der des Dreifsigj ährigen Krieges, noch auch
zu derjenigen der französischen Fremdherrschaft zu Anfang des 19. Jahr-
hunderts Aufnahme gefunden haben, sondern aus der hochdeutschen Sprache
der vornehmeren Kreise zur Zeit, wo diese am meisten mit dem in Mode
Archiv f. n. Sprachen. GX.V. 16
242 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
gekommenen Französisch aufgeputzt war, auch in die niederdeutsche Sprache
der unteren Stände und des täglichen Lebens sich hineingedrängt haben.
Man wird gleichartige Erscheinungen, die auch in anderen deutschen Mund-
arten begegnen, nicht anders erklären dürfen.
Wilhelm Mangold ist bei der Fortsetzung seiner sorgsamen und
erfolgreichen Studien über Pflege französischer Dichtung durch Friedrich II.
und ihm nahestehende Franzosen abermals auf Inedita gestofsen, die er
hier bekannt macht und mit allen irgend wünschbaren Erläuterungen
ausstattet, Dichtungen oder sagen wir lieber Verse von Gresset an den
königlichen Gönner für seinesgleichen, der ihn vergeblich zu sich zu ziehen
suchte, sich mit schriftlicher Lobhudelei begnügen mufste. Wer dergleichen
über sich ergehen zu lassen sich in die Lage brachte, der erlitt für seine
Mifsachtung der gleichzeitigen Dichtung seines Volkes eine schwerere Strafe,
als ihm zum Bewufstsein kommeu konnte.
Pedro de Mugica hat immer noch nicht, so lange er nun 6chon in
Deutschland lebt und so oft er neben Zeitungen seiner spanischen Heimat
mit seinen Aufsätzen auch gelehrte Zeitschriften unseres Landes bedenkt,
sich in den Ton gefunden, der in diesen zu herrschen pflegt. Wir ande-
ren, soweit wir schwimmen können oder es „zu können meinen, steigen
gleichmütig zu unserer Erfrischung und zur Übung der eigenen Kraft in
das vertraute Element hinab, streben mit ruhigen Stöfsen irgendeiner
lockenden Klippe, einer freundlichen Bucht zu und kehren, wenn wir uns
dort nach Verlangen umgesehen haben, zufrieden und erquickt zu unserem
Ausgangspunkte zurück. Ihn zieht es weniger in die kühle Weite hinaus ;
er bleibt in der Nähe des Landes und sieht kritischen Auges denen zu,
die sich zu Schwimmausflügen anschicken oder von mifsglückten Unter-
nehmungen zurückkommen. Und da er findet, dafs bereits erlebter oder be-
vorstehender Mifserfolg zumeist aus unzulänglichem Können oder schwäch-
lichem Wollen sich erkläre, so sagt er ihnen, und zwar höchst unverhohlen,
wo seiner Meinung nach es ihnen gebricht, taucht sie auch wohl einmal
zur Strafe auf ein paar Sekunden unversehens unter oder spritzt ihnen
Wasser ins Gesicht, bis ihnen Hören und Sehen vergeht, und macht sie
zum Gespötte der Umstehenden. Besonders oft, uud so geschieht es auch
in der vorliegenden, in die Form eines witzigen Gesprächs gebrachten
Kundgebung, richten sich seine Grausamkeiten gegen die spanische Aka-
demie und insbesondere gegen die für deren Wörterbuch verantwortlichen
Mitglieder ('acade-memos' oder 'club de los inütiles' u. dergl.). Manzoni
braucht einmal, freilich bei ganz anderem Anlafs, den Ausdruck Segno
d'immensa invidia e di pietä profonda. Ob die spanische Akademie ersteres
ist, weifs ich nicht; für unwahrscheinlich kann ich es nicht halten. Aber
es wäre zu begreifen, wenn sie letzteres für solche würde, die mit ansehen,
wie mit ihr umgesprungen wird, ohne dafs sie sich wehren kann oder
mag, vielleicht ohne dai's sie es auch nur ahnt. Werden solche Angriffe
etwas bessern? — In Frankreich haben der Lexikographie der Landes-
sprache die Arbeiten von Littre- und die von Darmesteter, Hatzfeld, Thomas
mehr Förderung gebracht als alle Sarkasmen, die jemals über die Aka-
demie ergangen sind. Der Hinweis darauf sei mein Dank für mehrere
unverdient freundliche Aufserungen, in denen der Verfasser seinem Wohl-
wollen für mich Ausdruck gibt.
Alfred Eisop behandelt in seinen Miszellen zur neufranzösischen
Syntax, die auf weit ausgedehnter, namentlich auch mittelfranzösischer
und mundartlicher, übrigens nebenher italienischer Lektüre ruhen, eine
grofse Zahl noch kaum zur Sprache gebrachter Erscheinungen. Sie haben
grofsenteils das miteinander gemein, dafs neben Konstruktionsweisen, die
in Betracht der ersten Bedeutung gewisser Verba zunächst als deren allein
natürliche oder berechtigte gelten müssen, andere Konstruktionen auf-
treten und jene wohl sogar verdrängen, die nur bei gewissen anderen, mit
jenen ersten sinnverwandten Verben ihr gutes Recht von vornherein haben.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 243
Anhangsweise ist von solchen Fällen die Rede, wo gewisse Satzelemente,
die im zusammenhängenden Sprechen bis zu fast völliger Unwahrnehm-
barkeit einschwinden, ein zweites Mal, eigentlich überflüssigerweise, ver-
lautbart werden, damit der durch sie dargestellte Gedankengehalt beim
Hörer doch auch zu seinem Rechte komme (hierher gehört ja auch die
Wiederholung des Artikels in le lendemain u. dergl.). Das der Tiefe zu-
strebende Verfahren des Verfassers, das überall die Denkvorgänge zu ent-
hüllen strebt, die in Sprachvorgängen sich spiegeln, wird bei denkenden
Grammatikern auch diesmal Beifall finden.
Felix Rosenberg hebt aus der langen Reihe der dramatischen Be-
arbeitungen des Estherstoffes (zu den 1891 durch Emile Picot im sechsten
Bande des Mistere du Viel Testament, S. VI — LXIII, aufgezählten sind
seither noch verschiedene hinzugefunden) eine Anzahl verständig ausge-
wählter hervor, an denen zu veranschaulichen ihm wohl gelingt, wie, sei
es verschiedenes Mafs von künstlerischem Vermögen, seien es herrschende
religiöse Bestrebungen, hier bestimmte, im Augenblick gehegte persönliche
Absichten, dort hinwieder die rein dichterische Gabe des Eindringens in
die Tiefen menschlicher Empfindungsweise zur Entstehung so ungleich-
artiger und ungleichwertiger Kunstwerke haben führen können. Dafs
unter den gestaltenden Geistern Racine, Lope, Grillparzer (auch Goethe)
erscheinen, erhöht das Interesse des geschickt behandelten Gegenstandes.
Siegbert Schayer unterzieht an einem ganz geringen Quantum ältest-
französischen Textes der Untersuchung die Arten, wie Gedankenzusammen-
hang zwischen selbständigen (Haupt-) Sätzen in sprachlichem Ausdruck
zur Erscheinung kommt. Konjunktionen (für deren Wesen übrigens eine
wohlerwogene Definition not tun würde) spielen dabei eine ganz untergeord-
nete Rolle, eine weit wichtigere die persönlichen und die demonstrativen
Pronomina, auch die blofs in der Verbalflexion gegebenen Subjektsbezeich-
nungen, ferner Einzelaussagen im Verhältnis zu vorangegangenen um-
fassenderen, Parallelismus der Satzgestaltung und anderes. Achtsame Fort-
setzung des hier Begonnenen wird gewifs zu wertvollen Ergebnissen führen.
Giovanni Speranza knüpft an eine nur wenig auf einzelnes ein-
gehende Erwähnung der Liebe Michelangelos (den er immer Buonarotti
nennt) zu Vittoria Colonna, durch welche Liebe erst er ein wahrhaft
grofser Künstler geworden sei, Betrachtungen, denen es meines Erachtens
zwar nicht an rhetorischem Pomp, wohl aber an Schärfe und Klarheit des
Gedankens fehlt, über Materialismus und Idealismus in der Kunst. Um der
Vierzahl der Künste willen, in denen Michelangelo Grofses vollbracht hat,
nennt ihn die Überschrift nicht eben glücklich l'uomo dalle quattro anime.
Heinrich Spies beschäftigt sich eindringlich mit der Frage der
Echtheit der Chaucer von manchen zugeschriebenen, von manchen aber
auch abgesprochenen retractatio. Er führt die bisher abgegebenen Vota
vor, tritt dann aber in selbständige Prüfung der Sache ein und äufsert
sich schliefslich, ohne zu verhehlen, dafs ein durchaus zwingender Beweis
sich nicht führen lasse, zugunsten der Ansicht, dafs die Stelle allerdings
von Chaucer herrühre, dafs sie ihrem Inhalte nach sich in Übereinstim-
mung befinde mit Aufserungen ähnlicher Art, die der Dichter anderwärts
getan habe, und dafs er so, wie es geschehen, sich am ehesten in der Zeit
habe aussprechen können, wo er mit der Durcharbeitung des für die spätere
Persones Tale in Betracht kommenden religiösen Stoffes fertig gewesen sei.
Willy Splettstöfser führt von Alneris Tragödien Agamennone und
Oreste die Handlung vor, zeigt, wie sie gemäfs dem Verlaufe des dar-
gestellten Geschehens auf den Zuschauer wirken müssen, und welche Trieb-
federn ihres Tuns die bei diesem Dichter bekanntlich immer nur in ganz
geringer Zahl auftretenden Personen in Taten und Worten zu erkennen
§eben. Gelegentliche Blicke auf die Behandlung, welche die nämlichen
Itoffe bei Alten und bei Neueren gefunden haben, lassen Alfieris künst-
lerische Eigenart deutlicher erkennen. Des Dichters eigenem Urteil über
16*
244 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
den Agamennone kann der Verfasser des Aufsatzes nicht beistimmen, der
das Werk bei weitem höher einschätzt.
Gustav Thurau verhilft mir, und vermutlich wie mir so auch
manchen anderen, zu einer ersten Bekanntschaft mit Theodore Botrel,
einem 1870 in Dinan geborenen fruchtbaren Dichter volkstümlicher chan-
sons, die, übrigens in gutem Französisch und in den bisher allgemein
üblich gewesenen Versmafsen abgefafst und selbstverständlich zum Vor-
trag im Gesang bestimmt, Eindrücke, Anschauungen, Gedanken, Stim-
mungen zu ansprechendem Ausdruck bringen, wie sie in des Verfassers
bretonischer Heimat wurzeln oder, soweit sie allgemein menschlich sind,
von dort ihre besondere Färbung empfangen haben. Wer der Volks-
kunde Teilnahme zuwendet, wird, wenn er von dieser Dichtung Kenntnis
nimmt, gar wohl auf seine Rechnung kommen, auch umgekehrt zu ihrem
rechten Verständnis bei der Volkskunde wirksame Unterstützung finden.
Der Verfasser lehrt eine grofse Menge Literatur kennen, die zum Gegen-
stande seiner Abhandlung in Bezug steht; er weist auch auf sachliche
Berührung hin zwischen seinem 'Barden' und Loti oder Maupassant und
gewährt willkommene Aufschlüsse über dessen Lebensverhältnisse.
Hans Willert gibt eine reiche Sammlung von neuenglischen Zu-
sammensetzungen aus reimenden Stämmen oder Wörtern und von
Wortgruppen aus reimenden und durch Konjunktion verbundenen
Wörtern (nach Art der deutschen 'Klimbim', 'holterpolter'; 'Sang und
Klang', 'schlecht und recht', 'Ach und Krach'), die er nicht aus Wörter-
büchern zusammengeklaubt, sondern bei ausgedehnter Lektüre in zusam-
menhängender Rede selbst aufgetrieben hat und darum auch sämtlich zu
belegen vermag. Künftige Lexikographen und Grammatiker werden an
dieser Fundgrube nicht achtlos vorübergehen dürfen. Vermisse ich an
der verdienstlichen Arbeit etwas, so ist es ein Versuch, festzustellen, unter
welchen Umständen die Sprache solche Wege der Wortbildung einschlägt,
und wie es kommt, dafs das gewählte Mittel dem empfundenen Bedürfnis
Genüge tut. Der Stellen, wo von den nämlichen Erscheinungen schon
früher die Rede gewesen ist, hat der Verfasser, wie billig, gedacht.
Georg Ebeling versucht, die 'syntaktische Etymologie', wie ich
dergleichen gern nenne, von tant soit peu und damit zugleich die der
gleichartigen Sätze der älteren Sprache zu geben, in welchen bei eben-
falls vorantretendem tant, bei Inversion des (meist pronominalen) Sub-
jektes und des Verbums im Konjunktiv, gleichfalls der Sinn einer Ein-
räumung gegenüber negativem Hauptsatze vorliegt. Er findet die Er-
klärung der gewifs nicht ohne weiteres durchsichtigen Ausdrucksweise in
einer Kontamination, infolge deren z. B. passer ne pot, tant ne fu forx
und passer ne pot, ja fust il forx zu passer ne pot, tant fust il forx zu-
sammengeflossen wären, von welchen drei, sämtlich üblich gewesenen Rede-
weisen wenigstens die letzten beiden in der Tat als fast gleichbedeutend
gelten dürfen. Die Annahme derartiger Entwickelung als überhaupt un-
zulässig zu bezeichnen, würde mir übel anstehen, habe ich doch selbst
mehr als einmal in ähnlichem Zusammenfliefsen zweier im Grunde ver-
schiedenartigen Wendungen die Erklärung einer dritten gesucht. Das
hier Angenommene aber scheint mir schwer denkbar, weil die beiden zu
vereinigenden Ausdrucks weisen gar so verschieden sind, 1. nach dem
Verhältnis zum negativen Vordersatz (Kausalität dort, Einräumung hier),
2. nach dem Modus des Verbums (Indikativ dort, Konjunktiv hier), 3. nach
dem Wesen der Rede (negativ dort, positiv hier). Ich habe mir meiner-
seits das tant in dem vorliegenden Falle als ursprünglich mit einer
Gebärde gesprochen gedacht, die ebenso eine groi'se Menge, einen hohen
Grad angedeutet hätte wie im deutschen 'ich mache mir daraus nicht
soviel' eine andere Gebärde eine geringste Menge angedeutet hat oder
noch andeutet. Diese Verwendung von tant als einmal üblich gewesen
anzusehen, geben, wie mir scheint, solche Stellen ein Recht, wie ne puet
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 245
avoir tresliaute honnour, tant ait d'avoir, s'il ne set les bons honnorer, Cleom.
488 ; Quant je m'aroie tant pene, Ne vos aroie dit anuit L'appareil, RViol.
S. 276 ; n'en poroie avoir joie, Quant tant m'en serai peneis, Bern. LHs.
399, 1. Wer Ebelings andere Arbeiten kennt, dem braucht man nicht
erst zu sagen, dafs er sich immer mit grofser Sorgfalt ausdrückt, dafs
ihm für die verschiedenartigsten syntaktischen Erscheinungen überaus
reichliche, durch ihn selbst zusammengebrachte Parallelstellen zur Ver-
fügung stehen und — dafs er seine Leser mit solchen gern auch dann
überschüttet, wenn es des Beweises der Gewöhnlichkeit eines lange be-
kannten Vorkommnisses kaum mehr bedarf. Meine oben gegebene Auf-
fassung des tant hätte er übrigens auch bei Dubislav, Über Satzbeiord-
nung für Satzunterordnung im Altfranzösischen, (in Berlin entstandene)
Dissertation aus Halle 1888, S. 18 ff. finden können, dem ich freilich in
der Deutung eines grofsen Teiles seiner Belegstellen nicht beistimmen kann.
Damit wäre ich denn am Ende meiner Berichterstattung angelangt,
einer Berichterstattung, die freilich auch nicht jede bescheidene Andeutung
etwa abweichender Ansicht oder schüchterner Mifsbilligung ausgeschlossen
hat. Die Gesellschaft, von der das inhaltreiche Buch ausgegangen ist,
hat denjenigen, den sie seit neun Jahren immer wieder an ihre Spitze
nötigt, durch die gutmütige Geduld verwöhnt, womit sie seine Bemer-
kungen über die in ihrem Schofse gehaltenen Vorträge hinnimmt, und
durch das Vertrauen, das sie unter allen Umständen in seine gute Ab-
sicht setzt. Wird er zu dem Buche oftmals dankbar und gern zurück-
kehren als zu einem Beweise anhänglicher Gesinnung und zu einem Denk-
mal erfreulichen und gewifs nicht ganz vergeblichen Zusammenarbeitens,
so mag es anderen schon durch seinen reichen und mannigfaltigen In-
halt, abgesehen von der Entstehung, wert werden. Es wird auch nach
aufsen zeigen, wie viele und wie tüchtige Kräfte die Gesellschaft in sich
vereinigt. Und die, deren Namen oben zu lesen stehen, sind doch erst
ein kleiner Teil der gesamten Mitglieder; mit ihnen stehen in Reih' und
Glied zahlreiche andere Männer, die bei anderen Gelegenheiten nicht
minder glänzende Beweise ihres Vermögens gegeben haben. Zeuge eines
friedlichen und erspriefslichen Zusammenwirkens der einen und der an-
deren und eines viel versprechenden Nachwuchses noch ein Weilchen zu
bleiben, würde mir eine herzliche Freude sein.
Berlin. Adolf Tobler.
George N. Oleott, Thesaurus linguae latinae epigraphicae. Band I,
Lieferung 1. A — AB. Rom, Loescher & Co. (Bretschneider & Regen-
berg), 1905. 24 S. 8.
Die Verzettelung und nachherige lexikographische Verarbeitung des
in den rund 200 000 bisher veröffentlichten lateinischen Inschriften ent-
haltenen sprachlichen Materials durch einen einzelnen Gelehrten ist, wie
sich der Verfasser in der Vorrede treffend ausdrückt, 'the work of a pygmy
struggling against a giant'. Mögen die den Amerikanern eigene zähe Aus-
dauer und die treffliche epigraphische Schulung Oleotts, von der schon
1896 seine Dissertation 'Studies in the word formation of the Latin in-
scriptions' Zeugnis abgelegt hat, das grofsartige Unternehmen, dessen Be-
deutung speziell für den Romanisten besonders zu betonen überflüssig sein
dürfte, glücklich zum Ziele führen. Soweit der geringe Umfang des dem
Referenten vorliegenden Probeheftes Schlüsse zuläfst, ist in bezug auf Kor-
rektheit und Vollständigkeit das Beste zu erwarten. Zugrunde gelegt sind
die von dem jeweiligen Herausgeber adoptierten Lesungen, auf deren kri-
tische Nachprüfung der Verfasser sich nicht einlassen zu können erklärt,
was man ohne weiteres begreifen wird. Leider ergeben sich hieraus ge-
wisse Übelstände, wie hier an einem Beispiel gezeigt sein mag. CIL. xn
186 druckt Hirschfeld mit dem Codex Filonardianus SEX ■ IVL ■ CAE
246 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
ARXITECTOR und löst auf in Sex. Jul(ius) Cae[cüianus ?] archüecl{us) or,
indem er hinzufügt: scilicet ipsius arcus in quo titulus legebatur. Zufolge
dieser irrtümlichen Auflösung fehlt der hier zutage tretende, wohl älteste
Beleg für das mehrfach bezeugte vulgärlateinische architector im Thesaurus
linguae latinae II 464, und es steht zu befürchten, dafs auch der Thesaurus
linguae latinae epigraphicae Oleotts ihn nicht verzeichnen werde. Hoffen
wir, dafs dergleichen Fälle nicht allzu zahlreich vorkommen.
Wir sehen der Fortsetzung des monumentalen Werkes mit lebhaftem
Interesse entgegen.
La Chaux-de-Fonds. Max Niedermann.
A. Walde, Lateinisches etymologisches Wörterbuch. Lieferung 1.
Heidelberg, Carl Winters Universitätsbuchhdlg., 1905. 80 S. 8. (Das
Werk soll in etwa 10 Lieferungen von je 5 Bogen zum Subskriptions-
preise von M. 1,50 erscheinen.)
Nachdem die in den letzten Jahren von verschiedenen Seiten ge-
machten Anläufe, die Wissenschaft mit einem brauchbaren etymologischen
Wörterbuch des Lateinischen zu dotieren, insgesamt ohne Resultat ge-
blieben sind, hätten wir kaum zu hoffen gewagt, dafs das von A. Walde
in der unter der Leitung von Hermann Hirt herausgegebenen Sammlung
indogermanischer Lehrbücher angekündigte in verhältnismäfsig so kurzer
Frist den Fachgenossen zugänglich sein würde. Zwar liegt dem Refe-
renten zurzeit erst ein Spezimen von 80 Seiten vor, allein der Wintersche
Verlag verspricht den Rest noch für dieses Jahr, und es liegt kein Grund
vor, die pünktliche Erfüllung dieses Versprechens in Zweifel zu ziehen. '
Der Plan des Werkes und seine Durchführung verdienen ungeteilte An-
erkennung. Im allgemeinen ist das Prinzip der alphabetischen Anordnung
befolgt, doch wird am Schlufs eines jeden Artikels jeweils ausdrücklich
auf die anderswo eingereihten Ableger der betreffenden Sippe hingewiesen,
also z. B. s. v. ago auf agito, ambiguus, agäso, indägo, prodigus, abiga,
ambages, agina, exämeti u. s. f. Der Romanist konstatiert mit Vergnügen,
dafs auch der spezifisch vulgärlateinische Wortschatz mit einbezogen er-
scheint (acedia, aciarium, amiddola amandola, auca, bacca, blatta 'Motte',
bruta u. dgl.). Dankenswert sind ferner die zahlreichen Literaturangaben,
gegen deren Unterdrückung in sprachwissenschaftlichen Handbüchern der
Referent schon zu wiederholten Malen hat protestieren müssen. In jedem
Falle den wirklichen Urheber einer Etymologie zu ermitteln, ist ja wohl
ein Ding der Unmöglichkeit; jedenfalls aber darf Walde das Zeugnis nicht
vorenthalten werden, dafs er sich aufs gewissenhafteste bemüht hat, jedem
das Seine zukommen zu lassen. Eigene Sammlungen würden uns ge-
statten, eine Anzahl von Nachträgen sowie auch die eine oder andere Be-
richtigung beizusteuern; da wir indessen auf das Werk zurückzukommen
gedenken, sobald es einmal vollständig vorliegt, so wollen wir damit lieber
zuwarten. Wir schliefsen diese vorläufige Anzeige mit den besten Wün-
schen für den rüstigen Fortgang der Arbeit und dem aufrichtigsten Dank
für das bisher Gebotene.
La Chaux-de-Fonds. Max Niedermann.
Dr. Wilhelm Münch, Geh. Regierungsrat, Professor, Didaktik und
Methodik des französischen Unterrichts (Sonderausgabe aus Bau-
meisters 'Handbuch der Erziehungs- und Unterrichtslehre für höhere
Schulen'). 2. umgearb. Aufl. München, C. H. Beck, 1902. IV, 179 S.
Münchs schönes Buch, das in der ersten Ausgabe (1895) vereint mit
Glaunings 'Didaktik und Methodik des englischen Unterrichts' erschien,
1 Korrekturnote vom 11. September 1905: Bis heute sind uns fünf Liefe-
rungen zugegangen.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 247
liegt jetzt selbständig in umgearbeiteter und erweiterter Auflage vor, und
zwar so lange schon, dals, glaube ich, es keinen Lehrer des Französischen
gibt, dem es nicht schon geistiger Besitz geworden sei, dem es nicht schon
Anregung und Förderung auch durch das viele Neue, das es enthält, ge-
geben habe.
Das Buch fiel bei seinem ersten Erscheinen in eine Zeit heilsen
Kampfes, eiue Zeit, wo manche der Reformer noch alles Alte mit Stumpf
und Stiel auszurotten und etwas gänzlich Neues an dessen Stelle zu setzen
sich vermafsen. Es verrichtete ein Friedenswerk im schönsten Sinne des
Wortes; es vereinte, wie es der persönliche Einflufs des Verfassers so oft
auf den Philologentagen getan hat, ehrliche Gegner, die auf verschiedenen
Wegen doch demselben hohen Ziele zustreben. Und ein Friedens werk
bleibt dem Buche auch nach seinem neuen Erscheinen zu verrichten. Der
Kampf ist von neuem entfacht: der Königsberger Zeit- und Streitschrift
nach könnte man glauben, die einst Triumphierenden seien jetzt in vollem
Bückzuge begriffen, alle die Arbeit, die sie getan haben, sei nur von
schädlicher Wirkung gewesen, nur in einer Rückkehr zum alten Zustande
bestehe das wahre Heil. Reaktion und Gegenreaktion. Ehrliche Gegner
werden sich wieder in Hinblick auf das gleiche hohe Ziel zusammenfinden.
Arbeit bleibt nie ohne Nutzen; so begeistertes Streben kann fehlen und
über das Ziel hinaustreffen, aber nicht verloren gehen.
Münchs Buch war ein grofses Ereignis in der Geschichte der Bestre-
bungen um die Gestaltung nicht blofs des französischen, sondern des
ganzen neusprachlichen Unterrichtes. Wenige Schriften sind, glaube ich,
nach 1895 auf diesem Gebiete erschienen, die nicht von den hier fest-
gelegten Ergebnissen ausgehen, nicht zu den hier aufgeworfenen Fragen
Stellung nehmen. Hat das Buch einen Boden geschaffen, auf dem recht
verschiedenartige Ansichten zusammentreffen können, so ist dies doch nicht
durch schwächliche Kompromisse geschehen, durch die kein dauernder
Friede zustande kommt. Der Verfasser wirkt durch die guten Gründe,
mit denen er seine Ansichten zu stützen, die er abweichenden entgegen-
zustellen weifs, durch das hohe Gerechtigkeitsgefühl, das ihn auszeichnet,
durch den vornehmen Ton, der sich ruhige Entgegnung erzwingt. Infolge
seines eigenen Entwickelungsganges steht Münch mitten in der unterricht-
lichen Bewegung, kennt Ideal und Wirklichkeit, das Ziel und die Wege,
es zu erreichen, und zugleich hoch genug über ihr, um dem Einzelfache
seinen Platz in dem Gesamtorganismus der Schule anzuweisen.
'Oft war dasjenige in Wahrheit Streit um das Ziel, was als Streit um
die Methode angesehen und durchgeführt wurde' (S. 3). Wie bei jedem
Unterrichtsfache, so kommen beim französischen drei Momente miteinander
zur Geltung: 'Der Wert der inhaltlichen Aneignung oder des stofflichen
Besitzes, die Ausnutzung zu formaler Schulung und die ideal anregende
Kraft' (S. 4). Die drei Bestandteile sind zu verschiedenen Zeiten ver-
schieden betont, oft ist eins dem anderen zuliebe vernachlässigt worden.
Ein Gleichgewicht, soweit es bei der Natur jedes einzelnen Faches mög-
lich ist, herzustellen, soll das Ideal des Lehrers sein, und bei der Lösung
dieser Aufgabe will ihm die reiche Erfahrung des Verfassers helfen.
Welches sind die älteren Unterrichtswege gewesen, welche Erwägungen
haben zu den neueren Bestrebungen geführt? 'Sicherheit des Könnens
und geistige Bildung' ist unser Ziel, sollte es sein. Wir haben das letz-
tere Ziel mit allen gemeinsam; wir legen auf das erstere mehr Gewicht,
als es nach gewissen Richtungen früher allgemein Brauch war. Knapper,
klarer, umsichtiger, vollständiger als (S. 15 — 19) die 'schwebenden Ein-
zelfragen' formuliert sind, die auf den verschiedensten Gebieten unseres
Faches zur Erörterung stehen, scheint mir eine Gesamtdisposition des
Ganzen kaum gegeben werden zu können. Die Erörterung alles Wesent-
lichen, auf das sich die Fragen beziehen, bildet den Inhalt der folgenden
Kapitel. Jedermann, der die erste Auflage kennt, weifs, in wie ausführ-
248 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
licher und gründlicher Weise die nach den Einzeldisziplinen (Aussprache,
Sprechen, Anschauungsunterricht, Grammatik, schriftliche Arbeiten, Lek-
türe, "Wortschatz, Nebengebiete: Synonymik, Stilistik usw.) geordneten
Abschnitte den Gesamtstoff behandeln. So ausgeprägt der Standpunkt
des Verfassers ist, Anhänger und Gegner werden mit gleichem Nutzen
seinen Erörterungen folgen, und es wird kaum eine wichtige Frage geben,
in der man sich vergebens an den umsichtigen Berater wendet. Der grofse
Zug, der durch die einleitenden Betrachtungen ging, zeigt sich auch bei
der Erörterung der Einzelfragen. Nie verlieren wir den Zusammenhang
aus den Augen. Jeder einzelnen Betätigung des nach so vielen Seiten
hin sich erstreckenden sprachlichen Unterrichtes weifs der Verfasser, nach
sorgfältiger Abwägung seiner Bedeutung für das Endziel, den gebührenden
Platz anzuweisen. Alle möglichen Einwendungen kommen zur Sprache,
das Für und Wider, das sich aus Umfang des Stoffes, Stundenzahl, Vor-
bildung des Lehrers (s. bes. S. 46 ff.) wie des Schülers ergeben könnte,
wird sorgsam geprüft. So sehr die Erörterung bei jeder Disziplin ins
einzelne geht, verliert sie doch nie darum die grofsen Gesichtspunkte aus
den Augen ; sie berücksichtigt auch, nachdem sie das Ideal hingestellt,
vorsichtig die oft grausame Wirklichkeit; sie weist, ohne darum, berech-
tigtes Streben zu entmutigen, Übertreibungen, die sich durch Übereifer
für neuerschlossene Gebiete (z. B. Phonetik) nach gewissen Seiten hin er-
geben haben, in die Schranken zurück.
Die 'Fragen', die in der ersten Auflage etwa anderthalb Seiten füllten
(8 und 9), nehmen trotz ihrer knappen Fassung in der neuen Auflage
fast fünf Seiten des grofsen Formates ein. Entsprechend gröfseren Raum
braucht natürlich auch ihre Erörterung: das Buch hat jetzt im ganzen
179 Seiten statt der 107 der ersten Fassung. Eine Erweiterung, Bereiche-
rung, eine Umformung, die die fortgesetzte Arbeit auf diesem Gebiete
zeigt, haben fast alle Kapitel erfahren; der Literaturnachweis am Ende
beweist, wie aufmerksam der Verfasser auch in seinem sehr veränderten
Wirkungskreise neueren und neuesten Erörterungen zu folgen gewufst hat.
Die Änderungen, die die neue Auflage erfahren hat, scheinen mir im
letzten Grunde weniger grundsätzlicher Natur zu sein als solche — sei es
Erweiterungen, sei es Einschränkungen — , die fortgesetzte Überlegung
und mehr noch Erfahrungen der Praxis mit sich gebracht haben und
weiter mit sich bringen werden. Schon ein Vergleich der vorangeschickten
Fragen, die, wie ich schon sagte, den Plan des Buches geben, zeigt, wie-
viel Neues die sieben Jahre, die zwischen den beiden Ausgaben liegen,
angeregt haben, wieviel Erwägungen hinzugekommen sind, wie manches
zum scheinbar definitivem Abschlufs, manches wieder zum Schwanken
gebracht worden ist. So ist, um nur ein paar Beispiele zu geben, im
Kapitel über die Aussprache neben vielen Einzelheiten (Dauer, tj 27) und
Erweiterungen (Richtigkeit der Einzellaute, § 23), besonders die Erörte-
rung, ob 'familiär oder akademisch', ganz umgearbeitet und zu einer 'Ent-
scheidung' (S. 28) geführt worden. Die Bedenken, die Verf. schon früher
den durch Passy hervorgerufenen Übertreibungen entgegensetzte, sind
(Koschwitz wird zitiert) zu einer ausführlichen Zurückweisung des extre-
men Standpunktes geworden, wobei der verschiedenen Stilarten, der all-
gemeinen Fertigkeit, der Entwickelung des Schülers in gleichem Mafse
Rechnung getragen wird. Noch gröfsere Erweiterung hat das Kapitel
über die 'Sprechübungen' in dem Zusatz S. 45 — 50 und dem neuen Ab-
schnitt über den 'Anschauungsunterricht' (S. 50 — 56) erfahren. Ja, der
Besitz der fremden Sprache, die Fertigkeit, sich ihrer zu bedienen, ist
und bleibt eins der Ziele, die uns der Verfasser vorschreibt. 'Wenn dieses
Können nicht am Wege aufgerafft, nicht auf zufällige und äufserliche Art
angeeignet worden, unter einer schulmäfsigen Zucht und Überwachung
und in planvollem Stufengans erworben worden ist, dann ist es auch vom
erzieherischen Standpunkt aus etwas recht Schätzbares' (S. 40); und 'alles
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 24P
in allem kann ich überhaupt nicht umhin, einen französischen Unterricht,
der dem Sprechen der fremden Sprache eine solche breite Rolle einräumt,
für den vollkommneren zu erklären, für diejenige Form, welche eigentlich
verwirklicht werden müfste — wofern es die persönlichen Be-
dingungen ermöglichen und der nöti ge Tiefgang des Unter-
richts gewahrt wird' (S. 47). "Verf. warnt davor — möchten wir auch
diese seine Stimme hören — , Meinungsverschiedenheiten auf diesem Ge-
biete gleich auf Böswilligkeit und Unfähigkeit zurückzuführen. Es sei
beiden Lagern zugerufen. Wie die Sprechübungen, unter nötiger Wahrung
des Tiefganges, nicht nur den Unterricht begleiten, sondern ihn durch-
ziehen können, wird in mustergültiger Weise an dem ganzen Gange, ins-
besondere für den Anschauungsunterricht mit seinen verschiedensten Hilfs-
mitteln gezeigt, wobei die 'Grenzen für Wert und Ziele' nicht übersehen
worden sind. Dafs überall der nötige Tiefgang zu wahren ist, lehren uns
die Kapitel über die Grammatik wie über die Lektüre. Auch hier finde
ich wohl weitere Ausführungen, aber keine grundsätzlich veränderte Stel-
lungnahme. Dafs der Grammatik eine andere Rangstellung als vielfach
bisher angewiesen wird, verhindert ebensowenig die Schätzung ihres Wertes
und ihrer Wichtigkeit für den bildenden Unterricht, wie der Umstand,
dafs viele Vorschriften, die sich von Lehrbuch zu Lehrbuch fortschleppten,
ohne in der Sprache eine Daseinsberechtigung zu finden, jetzt über Bord ge-
worfen sind, was ja nebenbei auch in neueren griechischen und lateinischen
Grammatiken geschehen ist. Dafs die induktive Methode, wenn sie wirk-
lich ernst betrieben wird, und soweit sie bei der uns zur Verfügung ste-
henden Zeit möglich ist, nicht blofs einen schöneren Weg' darstellt, son-
dern auch zu erfreulicheren Resultaten als der alte Gang, von der 'Regel'
zur Anwendung, führt, scheint mir keinem Zweifel zu unterliegen. Man
nehme nicht immer, wenn das Lob der 'alten grammatischen Methode'
gesungen wird, die Leistungen einzelner trefflicher Lehrer, die an der
Hand jedes Lehrbuches den Geist der Sprache erkennen, sagen wir be-
scheidener, das Wesen einer sprachlichen Erscheinung erkennen lassen
konnten. Nehmen wir die verbreitetsten Lehrbücher, Plötz etwa und
Gesenius in der älteren Gestalt, und fragen wir, was der Durchschnitts-
unterricht mit diesem Wirrwarr von fertig gegebenen 'Regeln', deren
eigentlich keine einzige sich mit der doch Leuten wie Plötz sicher ver-
trauten Erscheinung deckte, für eine wirkliche Geistesschulung anzufangen
wufste. Ich weifs wohl, dafs der grammatische Teil mancher als sehr
'praktisch' erkannter neuer Lehrbücher, wenn auch nicht schlechter als
die alten Arbeiten, so doch sehr fern von einem Ideal ist, weifs aber
auch, dafs für die meisten Fachlehrer, mögen sie noch so entschie-
dene 'Reformer' sein, mögen sie auch der Fertigkeit einen noch so gro-
fsen Wert beilegen, doch Tobler nicht vergebens gelehrt und Lücking
nicht umsonst seine 'Schulgrammatik' geschrieben hat. Mit der An-
ordnung des Stoffes in konzentrische Kreise bin ich voll einverstanden,
möchte sie z. B. auch auf die Formenlehre des Verbs, wo der An-
schauungsunterricht zuerst nur eine Erlernung der Präsensformen aller
gebräuchlichsten Verben erfordert, übertragen wissen, was meines Er-
achten» diesen schwierigen Gegenstand bedeutend erleichtern würde. Auch
für die Art, wie der Unterricht vertieft, wie die Ergebnisse der Wissen-
schaft zur Aufhellung verwandt werden können, sind kostbare Winke ge-
geben. Und in der Erörterung über die Notwendigkeit, das Mafs, den
Nutzen der grammatischen Übungen zeigt sich wie überall die klare Be-
sonnenheit, die das einmal klar erkannte Ziel im Auge behält, ohne sich
von verführerischen Phrasen ('das Übersetzen ist eine Kunst, die die Schule
nichts angeht') täuschen zu lassen. 'Ein wirklich völliges Nebeneinander-
gehen der Muttersprache und der fremden im Bewußtsein kann demjenigen
nicht als das Wünschenswerte erscheinen, der an das Bedürfnis oines ein-
heitlichen} Bewufstseins, eines klarentund geschlossenen Vorsttllungslebens
250 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
für die Schule denkt' (S. 69). Die als 'noch offen' hingestellte Frage, ob
auch die Grammatik, wenigstens auf der Oberstufe, in der fremden
Sprache zu behandeln sei, möchte ich des Schülers wegen, wie die 'Lehr-
plane', mit einem Nein beantworten. Das Mafs der geistigen Arbeit, das
meines Erachtens bei einem guten grammatischen Unterrichte von dem
Aufnehmenden verlangt wird, scheint mir jede weitere Erschwerung durch
das fremde Idiom auszuschliefsen. Natürlich sind die neueren Bestim-
mungen für französische Schulen in bezug auf orthographische und gram-
matische Eigentümlichkeiten erwähnt werden und wird ihre Berücksichti-
gung auch uns auferlegt.
Dem Kapitel über die schriftlichen Arbeiten ist ein besonderer Ab-
schnitt 'Briefe' und eine kurze Erörterung über den Briefwechsel zwischen
Schülern verschiedener Nationen hinzugefügt worden. Sorgfältiges Ab-
wägen, bevor zu- oder abgesprochen wird, zeichnet auch diese Erörte-
rungen aus, die in zweifelhaften Dingen der Eigenart der Schüler wie
der Lehrer volle Freiheit zu lassen sich bemühen.
Und dann kommen wir zu dem schwierigsten Kapitel des sprach-
lichen Unterrichts, der Lektüre. Noch gründlicher und ausführlicher
als bisher bemüht sich der Verfasser, sich mit den verschiedensten Grund-
sätzen, nach denen zunächst die Wahl der Lektüre getroffen wird, aus-
einanderzusetzen. Er erwägt den traditionellen Standpunkt, den idea-
listisch-moralischen, den humanistischen, wissenschaftlichen, literarhisto-
rischen, sprachlichen, ethnologischen, wie in der alten Auflage, jedoch
ausführlicher und mit Hervorhebung der Tatsache, dafs die letztgenannten
sehr erstarkt sind und nun vor allem im Sinne des praktischen Bedürf-
nisses gelten sollen. 'Solche Rücksicht mit derjenigen auf bildende Wir-
kung (dies nur weniger in einem abstrakten Sinne genommen als früher
üblich) zu verbinden, mufs möglich sein.' Wie wünschenswerter Freiheit
durch die Rücksicht auf Schule und Klasse, auf Lebensalter und Be-
fähigung ebensosehr wie durch allgemeine im Früheren entwickelte Ge-
sichtspunkte Beschränkung auferlegt wird, zeigen nach den grundsätz-
lichen Erörterungen auch die Einzelausführungen über die Stoff kreise und
Einzelstoffe (S. 94—104). Dafs man hier am häufigsten Einwendungen
erheben und Zusätze machen möchte, ergibt sich aus der Natur der Sache;
jedoch wird man auch da die erstrebte Objektivität des Urteils anerkennen
und selbst bei seinen Lieblingsautoren sich gerechten Bedenken nicht ver-
schliefsen können. Nur eine Abschätzung scheint mir zu hart und ein-
seitig zu sein, die über die poetische Literatur der Franzosen : 'Die Poesie
der Franzosen ist nicht unsere Poesie, ihr Feuer, macht uns nicht er-
glühen, ihr Pathos bewegt uns nicht im Innersten.' Ich glaube, hier ist
zu ausschliefslich die bei uns in Deutschland bevorzugte Schulpoesie ins
Auge gefafst worden, die epische Stoffe naturgemäfs bevorzugt, und in
der das Pathetische einen zu grolsen Platz einnimmt. Ich glaube schon
bei den Romantikern, in den Naturstimmungen Lamartines, den kleinen
Liedern Mussets, den menschlich -einfachen Empfindungsgedichten, die
auch in jeder Sammlung V. Hugos zu finden sind, besonders dann aber
bei Sully Prudhomme und den neueren Lyrikern, die allerdings zum Teil
germanisches Blut in den Adern haben, dichterische Erzeugnisse zu finden,
die sich den Perlen jeder anderen Literatur an die Seite zu stellen vermögen.
Bei der Behandlung der Lektüre ist jetzt eine grundsätzliche Er-
örterung der 'Frage ob Übersetzen oder Nichtübersetzen' hinzugekommen:
'die Deutung, Übersetzen oder Umsetzen?' Nachdem die Bedingungen des
Verzichts auf das Übersetzen — und ihrer sind nicht wenige, und sie zu
erfüllen, ist nicht leicht — entwickelt worden sind, wird eine Vermitte-
lung anzubahnen versucht, indem die beiden Wege„ als nacheinander, dann
nebeneinander empfohlen werden: 'doch soll die Übung an und mit dem
fremden Text. schon auf dieser (Unter-)Stufe den breiteren Raum ein-
nehmen, die Übersetzung immer nur als Hilfe empfunden werden, nicht
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 251
als Zweck und Ziel.' Man sieht deutlich den fortschrittlichen Standpunkt
des Verfassers ; dem Wunsche aber, dafs das, was bei grofser Kunst mög-
lich ist, in Zukunft einer weit grösseren Zahl von Lehrern als jetzt mög-
lich werde, tritt doch der weise Eat zur Seite (108), dafs fürs erste die
Mehrzahl am richtigsten es noch nicht wagen möge. Unrecht wäre es,
wenn 'das Lossagen bei unzulänglicher Kraft geschähe, ein Fliegenwollen
ohne rechte Flügel (109).'
Wie bei dem folgenden Kapitel über den 'Wortschatz' ein Abschnitt
'Erweiterung der Aufgabe' hinzugekommen ist, der ein Inbewegungsetzen
des Stoffes durch allerlei Gruppierungen behandelt, einen Blick auf die
Wortbildung, Wortgeschichte und die Bedeutungsentwickelung wirft, und
von ihrer Verwendbarkeit für den Unterricht spricht, so haben auch die
Erörterungen über die Nebengebiete (Synonymik, Stilistik, Verslehre, Lite-
raturgeschichte, Sprachgeschichte) manche Bereicherung im einzelnen er-
fahren, sind auch um ein ganzes Kapitel 'Kulturgeschichte und Landes-
kunde' vermehrt worden.
In dem dritten Teil: 'Die Organisation des Unterrichts' ist (S. 149)
ein Abschnitt über die 'Höheren Mädchenschulen' hinzugekommen, der
der natürlichen Wesensanlage der Mädchen in kurzen, aber treffenden Be-
merkungen gerecht zu werden versucht; ein Anhang (S. 158) behandelt
schliefslich 'Die Person des Lehrers'. Dafs am Ende die Fachliteratur in
ihren wichtigsten Erscheinungen, nach Gebieten geordnet, bis auf die
Gegenwart fortgeführt worden ist, erwähnte ich bereits.
Ich habe den reichen Inhalt des Buches nicht erschöpfen können,
brauche es auch nicht, denn jeder Fachmann kennt es. Ich hätte die
beiden Auflagen Zeile für Zeile vergleichen müssen, um festzustellen, wie-
viel im einzelnen hinzugekommen ist. Ich habe nur die Hauptsachen er-
wähnt, die, die bei der Lektüre der zweiten Auflage jedem auffallen, der
die Gedanken der ersten sich zu eigen gemacht hat. Ich weifs nicht, ob ich
überall die Unterschiede richtig getroffen habe, denn auch so habe ich nicht
Seite für Seite vergleichen wollen, sondern mich auf das verlassen, was das
aus dem Buche Erarbeitete in mir geworden war. Auch die zweite Auf-
lage wird in jedes Fachmannes Hand und so die Nachprüfung leicht sein.
Man weifs nicht, was man an dem Buche mehr bewundern soll, die
gewaltige Arbeitsleistung oder die Bescheidenheit, mit der die Vorrede es
in die Welt schickt. Möchten wir aus beiden lernen. Ist es nötig, bei
jeder Kleinigkeit vom Sachlichen aufs Persönliche zu gehen? Da wird,
um nur ein kürzliches Beispiel zu geben, an der einen Stelle mit den Ein-
wendungen gegen die schon wegen ihrer Seltenheit harmlosen Vorlesungen
durch nationale Rezitatoren gleich von den 'Stellungen gesprochen, welche
neuerdings anfangen, wackelig zu werden' {Zeitschrift für französischen
und englischen Unterricht IV, 3, 193). Flugs tönt es von der anderen
Seite zurück, dafs möglicherweise der Lehrer 'in den Augen der Schüler
bei einem Vergleich mit dem Rezitator allzu ungünstig abschneiden und
seine eigene Stellung womöglich erschüttert sehen' könne (Hartmann,
Mitteilungen der deutschen Zentralstelle für fremdsprachliche Rezitationen,
No. 19, S. 10). Man vergleiche einmal, mit welcher vornehmen Ruhe
Münch ganz anders tiefgehende Meinungsverschiedenheit zur Sprache zu
bringen weifs, und man wird endlich einmal aufhören, was den Gründen
an Durchschlagskraft fehlt, durch die Kraft der Ausdrücke zu ersetzen.
Die zweite Auflage der 'Methodik und Didaktik' Münchs möge uns
allen ein täglich gebrauchtes Handbuch werden.
Berlin. Theodor Eng wer.
Arnold Schröer, Prof. Dr., Die Fortbildung der neusprachlichen
Oberlehrer und das Englische und Französische Seminar an
der Handels-Hochschule in Köln. (Sonderabdruck aus der Fest-
252 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
schrift zum XI. Deutschen Neuphilologen tage, Pfingsten 1804, in Köln.)
Köln a. R., Paul Neubner, 1904.
Auch für den sich dem praktischen Lehrberuf an der Schule zuwen-
denden jungen Mann ist die Universität nicht das Ende, sondern der
Anfang seiner wissenschaftlichen Arbeit, sie ißt die Einführung in das,
was den Inhalt seines ganzen Manneslebens bildet.
Aus den besonderen Aufgaben, die dem Lehrer einer lebenden fremden
Sprache zufallen, beantwortet sich die Frage nach den Bedingrungen und
der Art seiner Fortbildung folgendermafsen : Sie mufs eine Fortsetzung:;
der wissenschaftlichen Sprachbeobachtung sein, wie sie auf der Universität
angebahnt worden ist. Dazu ist nötig Gelegenheit zur Beobachtung, d. h.
Gelegenheit, geeignete Ausländer dauernd beobachten und konsultieren zu
können. Dazu ist aber ferner eine reiche Fachbibliothek erforderlich, die
die theoretische Erkenntnis jederzeit zu fördern bereit steht. Das Leben
des gereiften Mannes aber ist nicht Rezeption, sondern Produktion. Pro-
duktiv kann auch derjenige sein, der nie eine Zeile zum Druck befördert;
auch der ist produktiv, der die überkommene Erkenntnis durch selbstän-
diges Denken weitergestaltet und sich so zu einer fortschreitend wert-
volleren Lehrerindividualität entwickelt. Wir brauchen keine seichte prak-
tische Schulmeisterei in der Schule und gelehrt scheinende Allüren aufser-
halb der Schule, sondern wissenschaftliche Anregung aus der Schule und
wissenschaftliche Anregung für die Schule.
Die trefflichen Bemerkungen des Verfassers werden in einer Reihe
von Anmerkungen nach gewissen Richtungen hin weiter ausgeführt. Nach
einem Blick auf die historische Entwickelung des Universitätsunterrichts
in unserem Fache wird die Bedeutung des wissenschaftlichen Studiums
für die Erkenntnis der lebenden Sprache, das Verhältnis von Wissenschaft
und Praxis beleuchtet und gezeigt, wieviel gerade für die wandelbare lebende
Sprache wissenschaftlich für den zu tun bleibt, der beständig Anregung
dazu durch die Bedürfnisse seines Unterrichts erhält. Sehr treffend scheinen
mir die Bemerkungen über die Grenzen der Autorität des Ausländers, der
auch im besten Falle eben nur 'Beobachtungsobjekt' sein kann, und über das
Verhältnis des wissenschaftlichen Vertreters des Faches zu seinen Lektoren.
Dafs dieser so charakterisierten, notwendigen Weiterbildung des Leh-
rers neue Möglichkeiten zu den bisherigen, den im Amte befindlichen
Männern nur selten erreichbaren, geschaffen werden, sollten alle meines
Ei achtens mit Freuden begrüfsen. Und wenn die Bedingungen dafür,
hervorragende Fachgelehrte, geeignete fremde Lektoren, reiche Bibliotheken,
dank der Opferwillisrkeit städtischer Körperschaften zusammenkommen, so
scheint es mir natürlich im öffentlichen Interesse geradezu geboten, dafs
diese, wenn auch ursprünglich vielleicht zu Sonderzwecken vereinten
Kräfte nach den verschiedensten Seiten hin fruchtbar gemacht werden.
In voller Erkenntnis dessen hat sowohl Schröer der Handels-Hochschule
in Köln wie Morf der Sozial - Akademie zu Frankfurt a. M. Kurse anzu-
gliedern sich bestrebt, die Vereinigungspunkte für die neusprachlichen
Lehrer nicht nur der Stadt, sondern der Provinz geworden sind. Das
philologische Seminar in Köln, das sich bei Vorträgen und Diskussionen
in fremder Sprache auch weiteren Kreisen, Mittelschullehrern und Lehre-
rinnen öffnet, will in wissenschaftlicher Weise der Praxis dienen, ähnlich
wie jetzt auch anderen gelehrten Berufen (den Medizinern z. B. die Aka-
demien für praktische Medizin) Fortbildungsanstalten nach der Universi-
tätszeit geschaffen werden. Das Frankfurter Seminar hat, wie ich aus
dem 'Bericht des Rektors über die zwei ersten Studienjahre, W.-S. 1900 02
bis S.-S. 1903' (Jena, Fischer, 1904) ersehe, eine englische Sektion nur für
Lehrer, dagegen zwei Abteilungen in der romanischen Sektion, die unter
rler Leitung Morfs stehen, "eine"'für Lehrer, eine 'für 'Studierende der
neueren Sprachen. '6 Der von der Unterrichts Verwaltung genehmigte Kursus
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 253
für Studierende, der ein Sommer- und ein Wintersemester umfaist, ist im
April 1903 ins Leben getreten. Seither ist auch am englischen Seminar
der Akademie eine Abteilung für Studierende eingerichtet worden, und es
hat sich in ähnlicher Gliederung auch ein germanisches Seminar zum ro-
manischen und englischen gefügt.
Wir können den jungen Anstalten auch in dieser über ihre ursprüng-
liche Bestimmung hinausgehenden gemeinnützigen Betätigung nur von
Herzen Glück wünschen ; der Ruf ihrer Leiter bürgt für das Gelingen der
Aufgabe, die sie sich gestellt haben.
Berlin. Theodor Eng wer.
Anialia Cesano. Hans Sachs ed i suoi rapporti con la Lettera-
tura Italiana. Roma, Ofücina poligrafica Italiana, 1904. 108 S. gr. 8°.
Es freut mich immer, wenn Ausländer sich die deutsche Literatur
zum Arbeitsfelde wählen, vorausgesetzt natürlich, dafs sie sich ihrer Auf-
gabe gewachsen zeigen und entweder die Forschung weiterführen oder
doch eine das Thema beherrschende geistvolle Zusammenfassung der bis-
herigen Forschungsergebnisse darbieten. Die vorliegende Arbeit ist zwar
löblich und anerkennenswert in der Absicht, aber leider in der Ausfüh-
rung nach beiden Seiten hin wenig glücklich.
Schon die beigegebene 'Bibliografia' läfst das erkennen. Sie ver-
zeichnet verschiedene brauchbare Werke, aber daneben auch teils recht
veraltete, teils wertlose, teils durch moderne Leistungen längst überholte,
so z. B. 0. Haupt, Leben und dichterische Wirksamlceit des E. Sachs, 18ö8;
Lützelberger, E. Sachs, 1874; R. Genöe, H. Sacfis, 1888; Westermeyer,
H. Sachs, der Vorkämpfer der neuen Zeit, 1874, usw.; oder Werke, die mit
den einschlägigen Fragen wenig oder nichts zu tun haben, so z. B. Bla-
sis Della vita e delle opere di Pierre delle Vigne (1861); Goethes Elegien;
L. Hirzel, Qoethes ital. Reise; Klein, Geschichte des Dramas u. dgl. mehr.
Dagegen fehlen die neueren und neuesten, geradezu unentbehrlichen Schriften
und Ausgaben: von der Ausgabe der Werke des H. Sachs in der Biblio-
thek des Literarischen Vereins sind nur die ersten von A. von Keller her-
ausgegebenen 12 Bände angeführt, die anderen (Bd. 13 — 2h), von E. Goetze
besorgten, mit ihren wichtigen Nachträgen zu den früheren Bänden fehlen,
ebenso E. Goetzes Ausgaben der Fastnachtspiele, der Fabeln und Schwanke
(Bd. 1 — 5), seine Monographie über H. Sachs in der 'Bayerischen Biblio-
t/iek' usw. Der Name des Altmeisters E. Goetze kommt — unglaublich!
— nirgends in dem Buche vor. Man vermifst ferner Ch. Schweitzers
Buch über H. Sachs, Dreschers Abhandlung H. Saclis und Boccaccio
(Festschrift zur Hans Sachs-Feier, hg. von Max Koch), des Referenten
Untersuchungen über Quellen der Fastnachtspiele, Fabeln, Märchen und
Schwanke des H. Sachs {Germania, Bd. 66 u. 37, Festschrift E. Sachs
Forschungen, hg. von A. L. Stiefel 1894, Zsch. f. vgl. Literaturgeschichte,
Bd. 6, 8, 10, Studien %. vgl. Literaturgeschichte, Bd. II, 2 usw.), worin die ita-
lienischen Quellen einen breiten Raum einnehmen, und Goedekes Grund-
rifs, von anderen Werken oder Abhandlungen, sei es solchen, die zum
H.Sachs-Jubiläum 1894, sei es solchen, die später erschienen,1 zu schweigen.
1 Zu den Abhandlungen, die noch speziell für das Thema in Betracht kämen,
wären u. a. Mac Mechan, The Relation of II. Sachs lo the Decameron (Halif. 1889),
und W. Abele, Die antiken Quellen des II. Sachs (Cannstadter Realschulprogramme
1897, 1899), zu zählen, die indes beide nach Form und Inhalt wenig empfehlens-
werte Leistungen sind, jener wegen seines pedantischen Schematismus, seiner Seich-
tigkeit und Unvollständigkeit, dieser durch seine schlechte Anordnung, seine trockene
geistlose Behandlung, die sich oft mit einer öden Aufzählung begnügt, und dann
sein Heranziehen von Dichtungen, die mit dem Altertum nichts zu tun haben
einerseits und seinen Lücken anderseits.
254 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Unter solchen Umständen ist es erkärlich, dafs die Abhandlung den
wissenschaftlichen Anforderungen in keiner Weise entspricht. Cesano kennt
nur einen Bruchteil der in Betracht kommenden Werke des Dichters und
kennt nicht die über die Quellen des H. Sachs bereits erschienenen Ar-
beiten und was über seine Schaffensweise, über sein Verhalten den Quellen
gegenüber schon feststeht. Anstatt auf der früheren Forschung umsichtig
weiter zu bauen, sucht die Abhandlung mühsam aufs neue das Material
zusammen, wobei viel wertloses Gestein und Schutt aufgehäuft, aber ge-
rade das naheliegendste beste Material vernachlässigt wird.
Die Arbeit zeugt noch von genügender Vertrautheit mit den grofsen
italienischen Dichtern der Frührenaissance, was aber über den Nürnberger
Meistersinger darin gesagt wird, ist nur eine auf zum Teil flüchtiger und
unkritischer Lektüre der angegebenen Literatur beruhende Zusammen-
stellung, in der Richtiges und Unrichtiges untereinander laufen. Sicher-
lich hat Verfasser auch einen Teil der besprochenen Dichtungen des H.
Sachs gelesen, dafür sprechen schon die zahlreichen Zitate, ob aber immer
verstanden, das mufs ich bezweifeln.
In der Anlage der Abhandlung ging Cesano (im 1. Kapitel) von dem
richtigen Gedanken aus, 'Cenni biografici', d. h. Bemerkungen über den
Lebensgang des H. Sachs, über das Milieu, in dem seine Dichtungen ent-
standen, sein Verhalten zur Reformation, zum Meistergesang usw., dem
eigentlichen Thema voranzustellen. Der Plan der Arbeit wäre soweit als
gelungen zu bezeichnen ; es bleibt aber zu bedauern, dafs Cesano im Haupt-
teil der Arbeit, im 2., 3. und 4. Kapitel, so verfährt, als ob H. Sachs die
italienischen Autoren ohne Vermittelung von Übersetzungen 'studiert' habe,
und erst im 5. Kapitel mit der Frage nachhinkt: 'Come Hans Sachs
conobbe le opere del Boccaccio.' Entschieden hatte diese Frage voran-
zugehen, und Verfasser durfte nicht sowohl die Originale als vielmehr
die Übersetzungen bei der Vergleichung mit dem Nachahmer zugrunde
legen.
Wenn ich jetzt zu Einzelheiten übergehe, so will ich mich bei der
Aufzählung der Unrichtigkeiten, soweit sie die Biographie des Dichters
und den Meistergesang betreffen, nicht aufhalten; ich will auch nur neben-
her bemerken, dafs die deutschen Zitate vielfach ganz entstellt wieder-
gegeben sind, was nicht immer auf Rechnung des Setzers geschrieben
werden darf:1 meine Bemerkungen sollen sich nur auf das eigentliche
Thema, auf die Beziehungen des H. Sachs zu der italienischen Literatur
beschränken. Als Quellen des H. Sachs sind in dem italienischen Buche
die Cento novelle antiche, Petrarcas De rebus memorandis, De remediis
utriusque fortunae, I trionß und Le Epistole, Boccaccios De claris mulieri-
bus, De casibus virorum illustrium, De Genealog. Deorum, und Filocolo be-
zeichnet. Das ist einerseits zu viel, anderseits zu wenig. Es sind zu
streichen die Cento novelle anticJie, Petrarcas Trionfi und Epistole und
Boccaccios De Oenealogia Deorum, welche H. Sachs nicht kannte. Dafür
wären als Vorlagen des Meisters anzuführen: Ph. Beroaldus,2 Poggio3
Bracciolini, Enea Silvio Piccolominif Polidoro Virgilio,5 ferner ist es sehr
wahrscheinlich, dafs Sachs noch einige italienische Schwank- und No-
1 So z. B. gewifs nicht Silbentrennungen wie folgende : Spru-chgedicht (S. 13),
nüt-zliches (S. 27), Ba-uer (S. 77 bis), sit-tliches (ibid ), Schw-ank (S. 100) usw.
2 Vgl. meine Abhandlung Über die Quellen der H. Sachsscken Dramen (Ger-
mania 36, S. 4 ff.).
3 Dem H. Sachs deutsch vorgelegen in Steinhöwels u. Braut-Adelphus' Esopus.
4 Seine Erzählung von Eurialus und Lucretia bearbeitete H. Sachs durch Ver-
mittelung des N. von Wyle in einem Meistergesang.
5 Mehrfach von H. Sachs ist seine durch M. Tatius Alpinus 1537 verdeutschte
Schrift De verum invenloribus zu Meisterliedern benutzt worden.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 255
vellendichtungen, so z. B. die Facette des Piovano Arlotto,1 durch die
Vermittelung seines des Italienischen kundigen Freundes Niclas Braun
kennen lernte.2
Von dem ungeheuren Einrlufs, den Boccaccio durch seine drei Werke
auf den Meistersänger ausübte, hatte Cesano bei weitem nicht die richtige
Vorstellung. Auch das über Petrarcas Einwirkung auf H. Sachs Gesagte
erschöpft in keiner Weise den Gegenstand.
Um mein Urteil zu belegen, schreite ich sogleich dazu, einzelne Stellen
aus der Arbeit anzuführen: S. 10 sagt Cesano, dafs nach dem Erlöschen
der Linie der Hohenstaufen 'la letteratura italiana e la tedesca rimangono
estranee l'una all'altra fino a H, Sachs.' [Aber H. Vintler, Arigo, Stein-
höwel, A. v. Eyb, H. Folz, Seb. Brant-Adelphus u.a.?] Ferner: 'H. Sachs
. . . senza aver vissuto in Italia . . . sente il fascino d'una vita piü allegra,
d'una letteratura piü libera di quella del suo paese e la studia e innamo-
ratosene non se allontana piü.' Leere Phrasen ! Die italienischen Autoren
in ihren meist sehr holperigen Übersetzungen waren für H. Sachs stoff-
liche Quellen nicht besser und nicht schlechter wie seine anderen. —
Falsch ist, dafs dem H. Sachs (S. 19) 'Plauto', ferner Ambrosio, Isidoro
'erano famigliari'. — S. 22 heifst es: 'Erano gia apparsi (von H. Sachs),
e vero dal 1517 al 1549, due o tre componimenti di questo genere
(Dramen) etc.' Das ist unrichtig. Bis 1549 hatte Sachs bereits 18 Fast-
nachtspiele und 20 Tragödien bezw. Komödien geschrieben. — S. 29 lesen
wir von H. Sachs: 'attiravano pure la sua attenzione i primi nostri
scritti in volgare . . . e lo accendevano d'entusiasmo i grandi uma-
nisti italiani del secolo XIV. Cosi conobbe e in parte rese note al
suo popolo Le novelle antiche . . . Le n. antiche lo attraevano per la
profonda psicologia e per la morale che racchiudono etc.' Alle
diese Dinge, von denen die H. Sachs-Forschung nichts weifs, kann Cesano
nur auf übernatürlichem Wege, etwa durch ein nächtliches Gesicht er-
fahren haben. — Eigentümlich ist folgende Motivierung (S. 43) : 'H. Sachs
amrniro le opere del Petrarca, ma egli non pote e non volle fermarsi a
lungo sul grande Aretino, sia forse perche dolente di non poterne
leggere il Canzoniere, sia perche quanto alle idee religiöse, si sentiva
troppo lontano dal poeta.' Ich halte es nicht für nötig, hier etwas hinzu-
zufügen. — S. 45 zählt Cesano die Spiele 'Wie Oott der Herr Adam und
Eva ihre Kinder segnet ed anche Die ungleichen Kinder Eva' (mufs heifsen
Eve) unter die besten Dramen, 'che H. S. ha composto ispirandosi all
antico testamento.' Dafs der Dichter sich hier nicht aus der Bibel,
sondern aus anderen Quellen seine Inspiration geholt hat, ist längst be-
kannt (vgl. Germania, H. S. 33 — 35). — 'Frau Warheit will niemandt her-
bergen — heifst es S. 45 weiter — fu composta su di un capitolo delle
Bestemmie e cose serie del Pauli. Raccontono il Pauli ed H. Sachs
come le quattro donzelle — Ignis Aqua Aer e Veritas stabilissero d'infor-
marsi ä vicenda delle loro sedi etc.' Hieran ist erstens die Übersetzung
bestemmie für Schimpf (und Ernst) — also lautet bekanntlich der Titel
von Paulis Schwankbuch — falsch und zeugt von ungenügender Kenntnis
der deutschen Sprache des 16. Jahrhunderts. Cesano hätte scherxi oder
burle schreiben müssen. Dann ist es nicht wahr, dafs in Sachsens Spiel
die 'quattro donzelle' vorkommen, Cesano hat offenbar das Stück nicht
gelesen. — S. 30 wird Sachsens Schwank Der kecker mit den dreyen selt-
samen stuecken auf die Cento novelle anticke zurückgeführt, in der er sich
übrigens nur in der Ausgabe von Giunti 1572 befindet. Sachs entnahm,
wie längst bekannt, die vielverbreitete Erzählung Pauli 423. — S. 63
steht: 's'ispirö (H. S.) alle novelle antiche che erano volte in tutte
1 Vgl. meine H. Sachs- Forschungen, S. 78 — 83, 188 — 189; Studien z. vergl.
Lit. Gesch. II, S. 161 — 165.
2 Vgl. Zeitschrift f. deutsche Philologie, Bd. 32, S. 484.
"256 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
le linguc e del Petrarca lesse i libri Rerum memor., il trattato De re-
mediis utriusque fortunae e le Lettere (in Latein). Del Boccaccio conobbe
le opere latine, lette probabilmente nelle traduzioni tedescbe.' Hierzu
sei bemerkt: von Übersetzungen der C. n. a. ist nicbts bekannt. Petrar-
cas beide ersten Werke las Sachs nur in den deutschen Übersetzungen
von Vigilius (1541) bezw. Stahl-Spalatins (15b2), die keinem H.
Sachs - Forscher fremd sind, und Boccaccios lateinische Werke nicht nur
wahrscheinlich, sondern sicher in den nicht minder bekannten Über-
setzungen von Steinhöwel und H. Ziegler. Wenn Cesano (S. 64) im
Anschlufs an des letzteren Übersetzung der De casibus virorum illustriimi
(1545) sagt: 'prima di lui Jacopo Micillo (Micyllus) aveva fatto il me-
desimo lavoro per il De Oenealogia Deorum,' so ist zu erinnern, dafs dieser
Humanist zwar den lateinischen Text der Oenealogia 1532 'cum annota-
tionibus' (Basilea apud J. Hervacium), aber keine Verdeutschung veröffent-
licht hat. — Unrichtig ist auch, was Cesano S. 83 sagt: 'bisogna considerare
che H. Sachs, dopo la Hroswitha, tu il primo scrittore drammatico etc.'
Endlich ist noch zu erwähnen, dafs (Jesano in einer sonst rühmlichen
Begeisterung für H. Sachs oft in der Wertschätzung seiner Leistungen
zu weit ging. So heifst es z. B. S. 2b : 'piü vicina alla perfezione sono le
commedie ispirate alle novelle del Boccaccio.' — Ferner S. 46: 'le tra-
gedie di Jocasta e di Clitemnestra possono annoverarsi fra i migliori
drammi del poeta.' — S. 86 : 'La Lisabetta . . . si potrebbe giudicare un
perfetto lavoro drammatico se avesse uno sviluppo maggiore.' — S. 91
bis 92 : 'Questo meisterlied, {Die schererin mit der nasen) — betreffs dessen
'il poeta si e fondato senza dubbio sulla novella VII, 8 (des Decamerone)'
— che per la vivacitä e per l'umorismo potrebbe dirsi . . . uno degli
scherzi piu perfetti ed allegri, prova piutosto come il poeta gia nel 1538
fosse tanto compenetrato dello spirito boccaccesco da ritrarlo in modo
meraviglioso, pur.allontanandosi dalle concezioni del grande novellista.'
Das sind riesige Übertreibungen, zu denen Cesano teils das leicht zur Ein-
seitigkeit führende Spezialstudium, teils die mangelhafte Kenntnis des
Deutschen, teils — und dies zeigt besonders das letzte Zitat — die ganz
ungenügende Bekanntschaft mit den übrigen Quellen des H. Sachs und
mit seiner Schaffensweise verführte. Die schererin mit der nasen geht, wie
bereits Goedeke, Dichtungen des R. Saclis I, 1U8 — von Cesano noch
eigens zitiert — , angab, auf Das Buch der Beispiele der alten Weisen
(Bidpai) und nicht auf Boccaccio zurück, und alle Vorzüge, die darin zu
finden sind, gehören so ziemlich dem alten indischen Fabelbuch.
Nicht minder wie in der Beurteilung der Originalität und der künstle-
rischen Leistungen des Meistersingers verläfst Cesano auch betreffs seiner
Moralität den festen Boden der Tatsachen. So lesen wir S. 43, dafs
H. Sachs unter seinen Boccaccios De claris mulieribus entlehnten Ge-
dichten 'non ripete le avventure della sciocca Paolina, ne quelle della
greca Leena etc.' In Wahrheit hat S. von beiden Stoffen je einen Meister-
gesang (1537 bezw. 1544) gedichtet. S. 70 heilst es: 'Egh (H. S.) sceglie
. . . le novelle (Boccaccios) esenti da immoralitä, e quando tratta argomenti
che alquanto si allantanano dai suoi severi principi si affretta a far cono-
scere le conseguenze del male.' Leider verdient H. Sachs dieses hohe Lob
nicht. Nicht nur hat er einige der bedenklichsten Novellen des Floren-
tiners (wie z. B. II, 7 und V, 4), sondern auch viele der widerlichsten
Zoten Poggios und anderer in Meisterlieder verwandelt, ohne jede Moral.
München. Arthur Ludwig Stiefel.
Schädel, Bernhard, Mundartliches aus Mallorca. Halle a. S., R. Haupt,
19U5. 43 S.
jg Diese interessante Mitteilung über die lebenden Mundarten von Mal-
lorca, die der Verfasser in Erinnerung an gemeinsame Arbeit im roma-
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 257
nischen Seminar zu Zürich mir zu widmen den freundlichen Gedanken
hatte, setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Die ersten 29 Seiten gehen
mit kurzen Einleitungen, die über die Sprachverhältnisse der Insel orien-
tieren, sechs volkstümliche Stücke in phonetischer Umschrift (nach Böh-
mer): zwei prosaische (Märchen) von Manacor (aus Jordi des Reco,
Aplech de Bondayes Mallorquines, Ciutat de Mallorca 1896 — 1904) und vier
gereimte von Söller (aus J. Rullan, Liter atura populär mallorquina,
Söller, 1900). Der Rest enthält 'Bemerkungen zum Mallorkinischen'. Beide
Teile bieten eine Belehrung, wie sie nur der zu geben vermag, der im
lebendigen Verkehr mit Land und Leuten auf Grund eingehender fach-
männischer Kenntnisse liebevoll beobachtet und gesammelt hat.
Im nördlichsten und im südlichsten Teile des katalanischen Sprach-
gebietes, im Roussillon und in Valencia, ist das einheimische Idiom,
dort vor dem Hochfranzösischen und hier vor dem Kastilischen, zum
blofsen Vulgärdialekt herabgesunken. Barcelona aber besafs hinreichende
geistige Selbständigkeit, um der Muttersprache das Interesse der Gebil-
deten zu erhalten. Auf Barcelonesischer Basis hat sich, wie einst die alt-
katalanische Schriftsprache, so auch das Literärkatalanisch der Renaixeiisa
des vorigen Jahrhunderts entwickelt. Dieses Literärkatalanische ist auch
dem gebildeten Mallorkiner geläufig: es ist die interne Literatursprache
der Insel, neben der das Kastilische die Sprache des offiziellen Verkehrs
und eines auch für Spanien berechneten Schrifttums ist. Aufser diesen
beiden Schriftsprachen besteht der mallorkinische Dialekt als Um-
gangssprache auch der Gebildeten.
Aber auch innerhalb dieses mallorkinischen Idioms sind wachsende
zentripetale Kräfte wirksam : die Hauptstadt Palma beherrscht den Ver-
kehr, und vor der Palmesaner Sprechweise schwindet die Sonderart der
Lokaldialekte zusehends. Der ländliche Gelegenheitsdichter (gluxddo; glu-
sddö V, 5 scheint Druckfehler) verstummt. Wie Schule und Kirche sich
zu der Entwickelung der Dinge stellen, sagt uns Schädel leider nicht.
Zwei dieser Lokaldialekte gibt Schädel in seinen Märchen und Ge-
dichten lautlich wieder : den der Stadt Manacor und den des abgelegenen
Tales Söller. Jener steht dem Palmesaner Idiom nahe; die Mundart der
Sollerichs aber ist von ausgeprägter Eigenart — oder sie war es wenig-
stens, bis die Poststrafse das einsame Tal für Palma erschlofs. Diese
Eigenart, welche die alten Leute und die Bewohner der Huerta noch be-
wahrt haben, stellt Schädel dar. Ein Vergleich seiner Transkriptionen
mit der traditionellen Graphie zeigt, wie wenig wir bisher von der wirk-
lichen Lautgestalt des Vulgärmallorkinischen gewufst haben.
Ich bedaure, dafs Schädel die Texte nicht mit einer Übersetzung oder
wenigstens mit einem Glossar der schwierigeren Wörter versehen hat. Er
schreibt doch auch für solche, die aus dem Katalanischen kein Haupt-
studium gemacht haben, und denen einschlägige Hilfsmittel nicht zur
Verfügung stehen. Seine inhaltsreiche, so viel Neues bietende Studie ist
ein Vorläufer weiterer, umfänglicherer Arbeiten:1 das Interesse für diese
1 Schädel ist — ich hoffe nicht indiskret zu sein — mit einer Darstellung
der katalanischen Mundarten auf breitester Basis beschäftigt. Das Unternehmen
erfreut sich der Mitarbeit anderer, auch einheimischer Sprachkundiger. Wir haben
alle Ursache, diesen neuen Gaben mundartlicher Forschung mit Spannung entgegen-
zusehen: hoffentlich wird sich unter ihnen auch ein Sprachatlas befinden. — Bei
diesem Anlafs sei ein Wort über das Transkriptionssystem gestattet. Schädel hat
für seine Zwecke Böhmers Zeichen nicht nur ergänzt (was ja unanfechtbar ist —
welchen Lautwert hat o S. 34? — ), sondern sie auch teilweise modifiziert. Er läfst
für palatales l das Zeichen ly bestehen, ersetzt aber das t% (für palatales k bezw.
pal. t) durch k. Solche Modifikationen sind nicht nur deshalb unzweckmäfsig,
weil sie aus dem System (Notierung der Palatalisierung durch -y, -%) herausfallen,
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 17
258 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
zu wecken und überhaupt die romanische Mundartenforschung zu fördern,
ist das schöne Ziel seiner Bemühungen. Wer aber fördern und wirken
will, mufs den anderen die Nachfolge möglichst leicht machen.
In seinen 'Bemerkungen' gibt Schädel eine Reihe äufserst interessanter
sprachlicher Beobachtungen, mit denen er auch manche überlieferte Mei-
nung richtigstellt.1 Der Wandel von d zu e bereitet sich in Palma vor
und geht augenscheinlich von der Kombination tyß, aus.2 Das Mallork.
kennt ein hochtoniges 0 aus lat. e (drat). Die Sandhierscheinungen der
Konsonanten sind sehr mannigfach; insbesondere bemerkenswert ist die
Wirkung von .<? : s -f- s > ts; p -f- s > ts, wonach die Artikelform eis von
Schädel sehr wohl auf ipse zurückgeführt werden darf (S. 42). Er hat
überhaupt der wechselnden Lautgestalt des Artikels eine eingehende und
sehr aufklärende Darstellung gewidmet: ipse ist gemeinmallorkinisch; nur
Pollensa scheint von alters her ille verwendet zu haben; wo sich sonst
(neben ipse) ille findet, da ist es als vornehmere Form aus dem festländi-
schen Katalanisch eingeführt worden. — Zweifelhaft ist mir, ob S. 35 die
Filiation der Entsprechungen des latein. ge,i richtig ist. Fornalutx hat
nur y (yent, cf. altspan. yente), Söller hat dyent, aber nach Vokalen Zent;
Palma hat dZent und nach Vokalen ebenfalls Zerit. Die entscheidende
Indikation scheint mir, wie Schädel selbst, darin zu liegen, dafs auch die
nach Pausa stehenden Formen in Söller und in Palma den Verschlufs-
laut zeigen {dyent, dZent): danach ist der Verschlufslaut wohl überhaupt,
auch in Fornalutx, die ältere Lautstufe. Nach Vokal hat sich der
Verschlufs gelöst, und der an dessen Stelle tretende Reibelaut hat sich in
Fornalutx verallgemeinert; in Söller und Palma hat sich seine palatale
Artikulation gegen die Alveolen zu verschoben, Z, und in Palma ist von
dieser Verschiebung auch der Verschlufslaut selbst (dy > dZ) ergriffen wor-
den. Es ist dabei nicht aufser acht zu lassen, dafs trotz ihrer Graphie die
dy, dZ nicht mit d zusammengesetzte Laute, sondern einheitliche
palatale, resp. palatal-alveolare (stimmhafte) Explosivae sind. Dafs ihre
Reduktion zu homorganen Reibelauten im Gemeinmallorkinischen nur nach
Vokalen eintritt, kann sehr wohl, wie Schädel meint, ein Fingerzeig für
die Entwickelung von dy, dZ zu y, Z in anderen romanischen Idiomen sein.
Gewifs ist es Schädel gelungen, davon zu überzeugen, dafs unser
Wissen von den katalanisch-mallorkinischen Idiomen viel lückenhafter ist,
als die Ausgaben entsprechender Texte uns vermuten liefsen. Seine Mit-
teilungen haben aber auch davon überzeugt, dafs er der Mann ist, um
diese Lücke unserer Kenntnis auszufüllen. Die romanistische Forschung
darf auf diesem Wege von ihm reiche Förderung erwarten. H. M.
sondern auch weil auf diese Weise jeder Forscher sich tatsächlich eine neue Um-
schrift schafft. Es empfiehlt sich aus praktischen Gründen, bei einer der bisherigen
phonetischen Graphien zu bleiben. Gewifs sind ny, ly, dy, 1% etc. sehr unglück-
liche Zeichen, aber sie haben den praktischen Vorzug ererbter und weiter Ver-
breitung. — Übrigens würde ich aus ebeusolchen praktischen Erwägungen zur
umfänglichen Darstellung des Katalanischen das System Gillieron wählen, was
auch immer gegen einzelne Zeichen eingewendet werden mag. Auch der Alias
lingvislique de la Suisse romande tut dies. Wir würden dann fär Sprachkarten, die
von Guernesey bis nach den Balearen, vom Val d'Anniviers bis nach Bordeaux
reichen, eine einheitliche Graphie haben!
1 Das palatale k (resp. t), von dem S. 35 die Rede ist, ist an-, in- und aus-
lautend ein weitverbreiteter Laut romanischer, speziell auch galloromanischer Mund-
arten, so dafs ich die Bemerkung des Verfassers nicht verstehe.
a Es wäre sehr erwünscht, über den Umfang der Erscheinung Näheres zu
hören. Verhält sich hier betontes ä und nebentoniges o gleich? Cf. Salvion ia
Untersuchungen zum Lombardischen (Sludi di fil. romanza VIII 1 ff ). '
Verzeichnis
der vom 13. Juni bis zum 1. Oktober 1905 bei der Redaktion
eingelaufenen Druckschriften.
The American Journal of philology. XXVI, 2 [Review : Eoot's Classi-
cal mythology in Shakespeare].
Zeitschrift für österreichische Volkskunde. XI, 3, 4 [M. Haberlandt,
Über Raufwerkzeuge der lnnviertler Bauernburschen. — J. Blau, Vorn
Briseltabak und seiner Bedeutung im Volksleben der Böhmerwaldgegend
um Neuern. — J. Franko, Eine ethnologische Expedition in das Bojken-
land. — Kleine Mitteilungen etc.].
Festschrift, Adolf Tobler zum siebzigsten Geburtstage dargebracht
von der Berliner Gesellschaft für das Studium der neueren Sprachen.
Braunschweig, G. Westermann. VI, 477 S.
Meyer-Einteln, Wilhelm, Die Schöpfung der Sprache. Leipzig,
Grunow, 1905. XVI, 256 S.
Gutro, Emil, Das Doppelwesen des Denkens und der Sprache. Ber-
lin u. Neuyork, Internationale physio-psychische Gesellschaft. XV, 279 S.
Dittrich, Ottmar, Die Grenzen der Sprachwissenschaft. Ein pro-
grammatischer Versuch [S.-A. aus Neue Jahrbücher f. d. klassische Alter-
tum, Geschichte und deutsche Literatur, XV]. Leipzig u. Berlin, Teubner,
1905. 20 S.
Breysig, Kurt, Die Entstehung des Gottesgedankens und der Heil-
bringer. Berlin, Bondi, 1905. XI, 202 S.
Skeat, W. W., A primer of classical and English philology. Oxford,
Clarendon Press, 1905. VIII, 101 S. 2 sh.
Horovitz, Josef, Spuren griechischer Mimen im Orient. Mit einem
Anhang über das ägyptische Schattenspiel von Friedrich Kern. Berlin,
Mayer & Müller, 1905. 104 S.
Wolf, Johannes, Geschichte der Mensural-Notation von 1250 — 1460.
Nach den theoretischen und praktischen Quellen bearbeitet. Teil I: Ge-
schichtliche Darstellung. X, 424 S. M. 14. Teil II: Musikalische Schrift-
proben des 13. bis 15. J ahrnunderts. VIII, 150 S. M. 8. Teil III: Über-
tragungen. VIII, 202 S. M. 8. Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1904.
Festschrift zur Feier des 50jährigen Bestehens der Liebig-Real-
schule zu Frankfurt a. M. am 18. Juni 1905. Gestiftet von Freunden
der Schule. Leipzig und Frankfurt, Kesselringsche Hofbuchhdlg., 1905.
VI, 157 S. [Darin: F. Bothe, Zur Geschichte der Anstalt. S. 1—46. —
F. Dörr, Vom Unterricht in den neueren Sprachen seit 1890. S. 63 — 78.]
Literaturblatt für germanische u. romanische Philologie. XXVI, 6 — 9
(Juni — September).
Modern language notes. XX, 6 [A. S. Cook, Notes on Shelley. —
K. Sills, Another word on Dante'« Cato. — L. H. Holt, Notes on Ben
Jonson's Volpone. — G. L. Swiggett, Notes on the Finnsbury fragment.
— Reviews, correspondance].
17*
260 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
Die neueren Sprachen ... herausgegeben von W. Vietor. XIII, 3
[H. Büttner, Die schriftlichen Klassenarbeiten, ein Vorschlag zu ihrer
Reform. — K. Meyer, Über Shakespeares Macbeth (Schlufs). — R. J.
Lloyd, Glides between con^onants in English (V). — Besprechungen. —
Vermischtes].
Schweizerisches Archiv f. Volkskunde, hg. v. E.^Hoffmann-Krayer
und J. Jeanjaquet. IX, 1 [E. A. Stückelberg, Über Pergamentbilder.
— A. Rossat, Les Paniers, poeme patois (suite). — S. Meyer, Volkstüm-
liches aus dem Frei- und Kelleramt. — Miszellen : A. Zindel-Kressig, Die
Knabenschaften von Sargans. — E. Hoffmann-Krayer, Zum sog. Hecker-
lied. — M. K. F., Ein Auswandererlied. — J. Jeanjaquet, Formulettes
enfantines„de la Suisse romande accompagnant l'öcorcage du saule. —
A. Ithen, Über Tänze im Kanton Zug. — Bücheranzeigen. — Kl. Chronik.
— Bibliographie].
Neuphilologische Mitteilungen, hg. vom Neuphilolog. Verein in Hel-
singfors, 1905, N°. 3 [A. Wallensköld, La simplification de l'orthographe
francaise. — Besprechungen. — Die schriftlichen Maturitätsproben im
Frühjahr 190J. — Protokoll des Vereins. — Eingesandte Literatur. —
Mitteilungen].
Modern philology. III, 1 [J. L. Lowes, The dry sea and the carre-
nare. — J. E. Matzke, Some examples of French as spoken by English-
men in Old French literature. — O. Heller, Ahasver in der Kunstdich-
tung. — G. F. Reynolds, Some principles of Elizabethan Staging, part IL
— H. C. Sills, References to Dante in 17th Century Engl, literature. —
R. Holbrook, 'Maitre Patelin' in the Gothic editions, by P. Levet and
G. Beneaut. — G. L. Swiggett, Schlegel's fragment 'Die Amazonen', a dis-
cussion of its authorship].
Modern language teaching. I, 5 [R. J. Lloyd, The Standard English
of the 20. Century. — F. C. Johnson, French methods of teaching. —
W. G. Hartog, The teaching of French composition. — R. H. Allpress,
A visit to a reform - gymnasium. — F. R. Robert, The teachers' guild
holiday course at Santander. — W. 0. Brigstocke, Modern language asso-
ciation. — The king Alfred school society. — Review].
Wychgram, J., Stephan Waetzoldt [S.-A. aus 'Frauenbildung',
IV. Jahrgang]. Leipzig u. Berlin, Teubner, 1905. 18 S.
Vrba, Dr. K. F., Relativ obligates Französisch und Englisch am
Gymnasium [S.-A. aus Österreichische Mittelschule XIX. Jahrg., 3. Heft].
Im Selbstverlage des Verfassers. 22 S.
Ford, J. D. M., 'To bite the dust' and symbolical lay communion,
1905 [S.-A. aus den Publications of the Mod. Association of America XX,
197 — 230. Eine interessante, wohldokumentierte Untersuchung 1) über die
Redensart, die der Titel gibt (franz.: mordre la poussiere; deutsch: die
Erde (ins Qras) beifsen; span. : morder la tierra etc.), und die wohl aus
dem antiken modere terram hervorgegangen ist, und 2) über die Not-
kommunion des sterbenden Kriegers: span. comulgar de la tierra, auch
italienisch; vgl. deutsch: ein brosemen von der erden brechen; altfranz.
acomenier de l'herbe, deren Ursprung (heidnische Elemente) unbestimmt
gelassen wird].
Nagl, J. W., und Zeidler, J., Deutsch - österreichische Literatur-
geschichte. 27. Lieferung, bez. 10. Lieferung des Schlufsbandes. Wien,
Fromme. S. 433—480. M. 1.
Hollander, Lee Milton, Prefixal S in Germanic together with the
etymologies of Fratze, Schraube, Guter Dinge. Diss. Baltimore, Fürst,
1905. 34 S.
.Weise, Oskar, Prof. Dr., Ästhetik der deutschen Sprache. 2. verb.
Auflage. Leipzig u. Berlin, Teubner, 1905. VIII, 328 S.
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 261
Wülfing, J. Ernst, Was mancher nicht weifs. Sprachliche Plaude-
reien. Jena, Hermann Costenoble, 1905. VIII, 192 S. Geb. M. 2,50.;
Henschke, Margarete, Deutsche Prosa. Ausgewählte Eeden und
Essays. Zur Lektüre auf der obersten Stufe höherer Lehranstalten zu-
sammengestellt. Mit 4 Abbild, und 7 Tafeln. 2. Aufl. Leipzig u. Berlin,
Th. Hofmann, 1905. XVI, 423 S. Geb. M. 3,50.
Lessing, G. E., Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und
Poesie. Für den Schulgebrauch hg. von Dr. Martin Manlik. Mit einer
Abbildung. 1. Auflage (Freytags Schulausgaben und Hilfsbücher für den
deutschen Unterricht). Leipzig, Freytag; Wien, Tempsky, 1904. 128 S.
Geb. M. 0,60.
Goethe, W. v., Dichtung und Wahrheit. In Auswahl. Mit Einlei-
tung und Anmerkungen versehen von Schulrat Dr. Leo Smolle (Graebers
Schulausgaben klassischer Werke). Leipzig, Teubner. XII, 83 S. M. 0,50.
Bäum er, Gertrud, Dr. phil., Goethes Satyros. Eine Studie zur Ent-
stehungsgeschichte. Leipzig, Teubner, 1905. 125 S.
Schiller, Friedrich v., Maria Stuart, ein Trauerspiel. Für den Schul-
gebrauch hg. von Edmund Aelschke. 1. Aufl. (Freytags Schulausgaben
und Hilfsbücher für den deutschen Unterricht). Leipzig, Freytag; Wien,
Tempsky, 1904. 171 S. Geb. M. 0,80.
Schlegel, Friedrich, Fragmente und Ideen. Hg. von Franz Deibel.
Mit dem Porträt Schlegels und dem Faksimile einer Briefseite (Die Frucht-
schale. Eine Sammlung, III). München u. Leipzig, Piper. XXVlII, 290 S.
Spiefs, Heinrich, Dr., Direktor am Gymnasium in Bochum, Die
Lyrik des 19. Jahrhunderts. Für den Schulgebrauch herausgegeben (Frey-
tags Schulausgaben und Hilfsbücher für den deutschen Unterricht). Leip-
zig, Freytag; Wien, Tempsky, 1905. 232 S. Geb. M. 1,50.
Graf, Emma, Dr.y Eahel Varnhagen und die Bomantik (Literarhisto-
rische Forschungen, hg. von J. Schick und M. Frh. v. Waldberg, XXVIII).
Berlin, Felber, 1903. 106 S. M. 2,20.
Melchior, Felix, Heinrich Heines Verhältnis zu Lord Byron (Lite-
rarhistorische Forschungen, hg. von J. Schick und M. Frh. v. Waldberg,
XXVII). Berlin, Felber, 1903. X, 170 S. M. 3,50.
Platen, August Graf von, Tagebücher. Im Auszuge hg. von Erich
Petzet. Mit Porträt, Abbildung des Grabmals und Faksimile der letzten
beiden Tagebuchseiten. (Die Fruchtschale. Eine Sammlung, IL) München
u. Leipzig, Piper. XX, 400 S.
yj Hebbel, Friedrich, Sämtliche Werke. Historisch -kritische Ausgabe
besorgt von .Richard Maria Werner. Dritte Abteilung. Briefe, 2. Band
1839—1843: Hamburg- Kopenhagen - Hamburg -Paris, Nr. 92— 172. Ber-
lin, Behr, 1905. VIII, 370 S. M 3.
Vierordt, Heinrich, Ausgewählte Dichtungen. Mit einem Vorwort
von Ludwig Fulda. Heidelberg, Winter, 1906. VIII, 152 S. Kart. M. 1.
Lilien fein, Heinrich, Heinrich Vierordt, das Profil eines deutschen
Dichters. 1. und 2. Auflage. Heidelberg, Winter, 1905. IV, 70 S.
Kart. M. 1.
Plawina, Oswald, Aus Zeit und Leben, Gedichte. Tuntschendorf,
Veith, 1905. 78 S. M. 1.
Menge, Karl, Dr., Dispositionen und Musterentwürfe zu deutschen
Aufsätzen. 2. verbesserte Auflage von Prof. Dr. O. Weise. Leipzig u.
Berlin, Teubner, 1904. VIII, 127 S.
Vietor, Wilhelm, Prof., Deutsches Lesebuch in Lautschrift (zugleich
in der amtlichen Schreibung). Als Hilfsbuch zur Erwerbung einer muster-
gültigen Aussprache. Erster Teil: Fibel und erstes Lesebuch. 2., durch-
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Neuyork, Lemcke & Büchner; Amsterdam, Sülpke; Kopenhagen, Ursin,
1904. XII, 158 S. 1
262 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
Methode Toussaint-Langenscheidt. Brieflicher Sprach- und Sprech-
unterricht f. d. Selbststudium der schwedischen Sprache von E. Jonas,
E. Tuneid, C. G. MorSn. Berlin, Langenscheid t. Brief 27—30 zu M. 1.
Englische Studien. XXXV, 2 [J. Laidler, A history of pastoral drama
in England until 1700. — J. S. Starkey, Henry Reynolds, 'The tale of
Narcissus'. — W. J. Lawrence, A forgotten restauration playhouse. —
Besprechungen. Miszellen].
Beiblatt zur Anglia. XVI, 6 — 9 (Juni — September).
Scottish historical review. II, 3 [A. Lang, The household of Mary
Queen of Scots in 1573. — R. C. MacLeod, Side lights from the Dun-
vegan charter ehest. — Th. Duncan, The Queen's Maries. — G. A. Sin-
clair, The Scots at Solway Moss. — Archibald Black Scott, Nynia in
northern Pictland. — J. C. Watt, Dunnottar and its barons. — W. R.
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The battle of Glenshiel. — E. Dupont, Le Chäteau de Brix, en Norman -
die. — Review].
Bausteine, Zeitschrift für neuenglische Wortforschung, unter Mitwir-
kung des neuphilologischen Vereins in Wien hg. von Leon Kellner und
Gustav Krüger. Berlin, Langenscheidt, 1905. I, 1, 83 S. Jährlich
6 Hefte, M. 18 [L. Kellner, Suggest, Suggestion, suggestive. — H. Richter,
Chatterton's Rowley- Sprache. — Kleine Notizen, Fragen und Antworten,
Bücherschau, Plauderecke, Zitierschlüssel. A. Mussafia f]-
Beowulf nebst dem Finnsburg-Bruchstück. Mit Einleitung, Glossar
und Anmerkungen herausgegeben von F. Holthausen. I. Teil: Texte
und Namensverzeichnis (Alt- und mittelenglische Texte, hg. von L. Mors-
bach und F. Holthausen, III). Heidelberg, C. Winter; Neuyork, G. E.
Stechert, 1905. VII, 112 S. M. 2,20.
Bibliothek der angelsächsischen Prosa, begründet von Christian W. M.
Grein, fortgesetzt von Richard Paul Wülker. 0. Band. Kleinere angel-
sächsische Denkmäler I: 1. Das Lseceboc. 2. Die Lacnunga mit gram-
matischer Einleitung. 3. Der Lorica-Hymnus mit der angelsächsischen
Glossierung nebst einer Abhandlung über Text und Sprache des Denk-
mals. 4. Das Lorica-Gebet und die Lorica - Namen. Herausgegeben von
Günther Leonhardi. Hamburg, Grand, 1905. 242 S. M. 10.
Derocquigny, Dr. Jules, A contribution to the study of the French
element in English. A thesis submitted to the faculty of letters, Univer-
sity of Lyons. Lille, Bigot, 1904. 176 S.
Schoenwerth, Rudolf, Die niederländischen und deutschen Bearbei-
tungen von Thomas Kyds Spanish Tragedy (Literarhistorische Forschungen,
hg. von J. Schick und M. Frh. v. Waldberg, XXVI). Berlin, Felber, 1903.
CXXVIII, 227 S. M. 8.
Koeppel, E., Studien über Shakespeares Wirkung auf zeitgenössische
Dramatiker (Materialien zur Kunde des älteren englischen Dramas, hg. von
W. Bang, IX). Louvain, Uystpruyst; Leipzig, Hanassowitz ; London, Nutt,
1905. XI, 103 S. M. 5,60.
Vershof en, Dr. Wilhelm, Charakterisierung durch Mithandelnde in
Shakespeares Dramen (Bonner Beiträge, XX). Bonn, Hanstein, 1905. 157 S.
Shakespeares ausgewählte Dramen. II : The merchant of Venice, er-
klärt von H. Fritsche, 2. Aufl. bearb. von L. Proescholdt. XXX,
104 S., Anm. 61 S. Geb. M. 1. — VII: Julius Caesar, erklärt von Alex-
ander Schmidt, neue Ausgabe von Hermann Conrad. 114 S., Anm.
113 S. Geb. M. 1. (Weidmannsche Sammlung.) Berlin 1905.
Lees Trauerspiel Theodosius or the force of love von Dr. Fritz Reaa
(Literarhistorische Forschungen, hg. von J. Schick und M. Frh. v. Wald-
berg, XXX). Berlin u. Leipzig, Felber, 1904. 219 S. M. 4,50.
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 263
Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend. Ins Deutsche über-
tragen und mit einer Einleitung versehen von Paul Ziertmann, Ober-
lehrer (Philosophische Bibliothek, 110). Leipzig, Dürr, 1905. XV, 122 S.
Derocquigny, Dr. Jules, Charles Lamb, sa vie et ses ceuvres (Tra-
vaux et memoires de l'universite* de Lille. Nouvelle se'rie. I: Droit,
Lettres. Fascicule 3). Lille, au siege de l'universit6, 1904. 415 S. 12 fr.
Dalrymple, Cochrane Maxton, Dr., Kipling's Prosa (Marburger
Studien zur englischen Philologie, IX). Marburg, Elwert, 1905. 104 S.
Collection of British authors. Tauchnitz edition. ä M. 1,60.
Vol. 3814: Marie Corelli, Free opinions.
„ 3815: F. F. Moore, The white causeway.
„ 3816 — 7: M. Pemberton, Mid the sick arrows.
„ 3818: E. W. Hornung, Stingaree.
„ 3819—20: 'Rita', Queer Lady Judas.
„ 3821: H. G. Wells, A modern Utopia.
„ 3822: Agnes and Egerton Castle, Rose of the world.
„ 3823—4: E. Kobins (C. E. Kaimond), A dark lantern.
„ 3825: Jerome K. Jerome, Idle ideas in 1905.
„ 3826—7: M. E. Braddon, The rose of life.
„ 3828: A. E.W. Mason, The watchers.
„ 3829: B. M. Croker, The old cantonment with other stories of
India and elsewhere.
„ 3830: W. D. Howells, Miss Bellard's Inspiration.
„ 3831: Helen Mathers, The ferryman.
„ 3832 — 3: E. F. Benson, The image in the sand.
„ 3834: A. Ch. Swinburne, Love's cross-currents.
„ 3835: Fiona Macleod, The sunset of old tales.
3836: Dorothea Gerard, The improbable idyl.
„ 3837: Kobert Louis Stevenson, Tales and fantasies.
fl 3838: Lady Broome, Colonial memories.'
„ 3839—40: Richard Bagot, The passport.'gS
Kruisinga, M. A., Ph. D., A grammar of the dialect of West Somer-
set, descriptive and historical (Bonner Beiträge zur Anglistik von M. Traut-
mann, XVIII). Bonn, Hanstein, 1905. VI, 182 S. M. 6.
Curme, Prof. G. O., A grammar of the German Language designed
for a thorough and practical study of the language as spoken and written
to-day. New York, The Macmillan Company; London, Macmillan, 1905.
XX, 662 S. M. 3,50.
Dammholz, R., Prof. Dr., Englisches Lehr- und Lesebuch. Aus-
gabe B. IL Teil, Oberstufe. Band I: Grammatik. 2. Aufl. Hannover
u. Berlin, Carl Meyer, 1904. XIV, 255 S. Geb. M. 2,70.
Dubislav, Prof. Dr. G., und Boek, Prof. Paul, Methodischer Lehr-
gang der englischen Sprache für höhere Lehranstalten unter besonderer
Berücksichtigung der Mädchenschulen in zwei Teilen. Erster Teil: Lese-
und Elementarbuch. Mit einer Karte von England, einem Plan von Lon-
don und einer Tafel der englischen Münzen. Zweite Auflage. Berlin, Weid-
mannsche Buchhdlg., 1905. XII, 203 S. Geb. M. 2,50.
Görlich, E., und Hinrichs, H., Kurzgefafstes Lehr- und Übungs-
buch der englischen Sprache für Realschulen, Realgymnasien, sowie für
Reformschulen und Gymnasien. Paderborn, Schöningh, 1905. XII, 348 S.
Mitcalfe, Constance, English made easy. Eine neue Methode, Eng-
lisch lesen, schreiben und sprechen zu lernen. Besonders geeignet für
Privat- und Pensionats-Unterricht. Dresden, Folze, 1905. X, 145 S. Geb.
M. 2,50.
Plate, H., Lehrgang der englischen Sprache. IL Mittelstufe. Me-
thodisches Lehr- und Übungsbuch mit beigefügter, auf das Lesebuch
Bezug nehmender Sprachlehre. 61., der Neubearbeitung 8., Auflage, durch-
264 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
gesehen von Oberlehrer Dr. Karl Münster. Leipzig, Dresden, Berlin,
L. Ehlermann; Friese & Lang, Wien I, Brännerstrafse 3. VIII, 368 S.
Geb. M. 2,90.
Reichel, Dr. K., und Blümel, Dr. Magnus, Lehrgang der englischen
Sprache. Lese- und Übungsbuch. Mit einem Plane von London und
einer Karte des britischen Weltreiches. Breslau, Trewendt & Granier,
1905. VIII, 254 S. M. 5.
Röttgers, Prof. Benno, Englische Schulgrammatik. Bielefeld und
Leipzig, Velhagen & Klasing, 1905. XII, 280 S.
Schw,icker, A., Lehr- und Lesebuch der englischen Sprache nach
der direkten Methode. Mit mehreren Abbildungen und einem Lieder-
anhange. 14. Auflage. Hamburg, Meifsner, 1905. VIII, 312 S. M. 1,20.
Sevin, Ludwig, Elementarbuch der englischen Sprache nach der
analytischen Methode bearbeitet. 2. Teil. 2. Auflage. Karlsruhe, Biele-
feld, 1905. VIII, 228 S. M. 2,80.
Selections from English poetry. Auswahl englischer Dichtungen von
Dr. Ph. Aronstein. Mit 14 Illustrationen (Velhagen & Klasings Samm-
lung französischer und englischer Schulausgaben. English authors 104).
Bielefeld u. Leipzig, Velhagen & Klasing, 1905. XII, 316 S. M. 2.
Beer, Taco H. de, und Irving, El. Jane, The literary reader,
a handbook for the higher classes in schools and for home teaching.
III. The nineteenth Century. Part IL 4. ed. revised by Taco H. de Beer.
Halle, Geseniu s, 1905. XII, 520 S.
Mason, Ch. M., The counties of England, ausgewählt und erklärt
von Dr. Otto Budke, Prof. am Realgymnasium in Stralsund. Mit fünf
Abbildungen und einer Karte von England. Berlin, Weidmann, 1904.
VIII, 190 S. Geb. M. 1,60.
Fulda, Ludwig, Unter vier Augen, Lustspiel in 1 Aufzug. Zum
Übersetzen aus dem Deutschen in das Englische bearbeitet von Dr. Ph.
Hangen (Englische Übungs-Bibliothek, 21). London, Nutt; Dresden,
Ehlermann; Glasgow, Bauermeister; Neuyork, Dyssen & Pfeiffer, 1905.
VIII, 83 S. Geb. M. 0,80.
Romania, p. p. P. Meyer et A. Thomas. N° 134 (avril 1905)
[A. Thomas, Gloses provencales inödites, tirdes d'un ms. des Derivationes
d'Ugucio de Pise. — G. Huet, Sur qqs formes de la legende du Chevalier
au cygne. — P. Meyer, Notice du ms. 305 de Queen's College, Oxford
(legendier francais). — R. Weeks, Etudes sur Aliscans (suite). — M&anges :
P. Meyer, L'inscription en vers de l'epee de Gauvain. — G. Raynaud,
Une nouvelle version du fabliau de La Nonnette. — A. Thomas, Ponthus
de La Tour-Landri; — Norm, caieu 'moule'; — franc. milouin; — prov.
colonhet et colonhier 'fusain'. — A. Dauzat, Prov. bodosca, bedosea. —
C. Nigra, trekawda (Hte-Savoie), trekawde, trakude (Aoste) etc. — Correc-
tions: A. Mussafia, Per il Tristano di Beroul ed. Muret. — Comptes ren-
dus. — Periodiques. — Chroniques].
Revue des langues romanes. XLVIII, 3 [P. Barbier, fils, Le mot
bar comme nom de poisson en frangais et en anglais. — A. Roque-Ferrier,
Jana de Mourmeiroun, essai de restitution d'un chant populaire Mont-
pellidrain. — F. Castets, I Dodiei Ganti, compl^ments ä l'introduction. —
A. Vidal, Les deliberations du conseil communal d'Albi de 1372 ä 1388. —
Bibliographie].
Archivio glottologico italiano, fondato da G. J. Ascoli, continuato
sotto la direzione di C. Salvioni. Torino, Ermanno Loescher, 1905.
Vol. XVI n° 3, Seite 395 — 658. Lire 12,50 [C. Salvioni, Appunti sull'an-
tico e.moderno lucchese. — Cremon. scutumaja = soprannome (von co-
stume). — Lomb. rierdt = pipistrello. — S. Santangelo, II vocalismo del
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 265
dialetto d'Aderno (Catania). — C. Salvioni, bugliolo, bugno. — Venez. va-
nexa = porca, ajuola (von maneggia, terra maneggiata). — Friul. puinte
= feccia (* ponita). — P. E. Guarnerio, II Sardo e il Corso in una nuova
classificazione delle lingue romanze. G. vertritt die Meinung, dafs das
Korsische mit Unrecht zum Sardischen gezogen werde, wie dies W. Meyer-
Lübke, Einführung S. 16, tut; das Korsische gravitiere zum festländischen
Italienisch, speziell zum Toskanischen. — C. Salvioni, boulanger, weist das
Wort auch im Lomb. nach. — G. Toppino, II dialetto di Castellinaldo
(Piemontesisch). — C. Salvioni, Santhiä (= Santa Agata). — Poesie in
dialetto di Cavergno (Valmaggia). — Rassegna bibliografica. — Indice del
volume, ein vortrefflicher Index, der über 50 zwei- bis dreispaltige Seiten
füllt. — Aggiunte e correzioni].
Studj romanzi, editi a cura di E. Monaci (Societä filologica romana).
Roma, deposito presso Erm. Loescher, 1904. Heft III, 155 S. Lire 7
[E. Monaci, Per la toponomastica italiana. — G. J. Ascoli, Ricordi con-
cernento la toponomastica italiana. — E. G. Parodi, La data della com-
posizione e le teorie politiche de\V Inferno e del Purgatorio di Dante, ein
hochinteressanter Aufsatz zur Entwicklungsgeschichte des Danteschen
Ghibellinismu8; Inferno wäre demnach nicht später als 1306 abgeschlossen
und Purgatorio zwischen 1308 und 1313 geschrieben. — S. Santangelo, II
manoscritto provenzale U. — G. Marchesi, La prima traduzione in volgare
italico della Farsaglia di Lucano e una nuova redazione di essa in ottava
rima. — C. Nigra, Note etimologiche e lessicali. — G. J. Ascoli, Intorno
ai consinuatori cörsi del lat. ipsu; der Verf. nimmt willkommene Ver-
anlassung, von der Stellung des Korsischen unter den roman. Sprachen
zu reden, und hebt, unter Berufung auf seinen berühmten Aufsatz im
VIII. Bande des Archivio (S. 111), Zusammenhänge zwischen Korsisch und
Sardinisch hervor, ohne Guarnarios Ansicht abzulehnen. — G. Crocioni,
Lo studio sul dialetto marchigiano di A. Neumann-Spallart. — G. Bertoni,
Un nuovo testo volgare del sec. XIII. — Un nuovo accenno alla rotta di
Roncisvalle. — Notizie].
Romanische Forschungen, Organ für romanische Sprachen und Mittel-
latein, hg. von K. Vollmöller. XVI, 3 [M. Huber, Visio Monachi de
Eynsham, zum erstenmal kritisch herausgegeben. — P. Marchot, Etymo-
logies. — L. Jordan, Peros von Neeles gereimte Inhaltsangabe zu einem
Sammelkodex, mit Einleitung und Glossar zum erstenmal herausgegeben.
— J. Luzi, Die sutselvischen Dialekte (Lautlehre). — A. Reiff, Historische
Formenlehre des Dialekts von Bournois-Besancon]. XVII. Band [C. De-
curtins, Rätoromanische Chrestomathie, VI. Band : Oberengadinisch, Unter-
engadinisch: Das siebzehnte Jahrhundert, XVI, t>56 S.]. XVIII. Band
[C. Decurtins, Rätoromanische Chrestomathie, VII. Band: Oberengadinisch,
Unterengadinisch: Das achtzehnte Jahrhundert, VIII, 494 S.]. XIX, l
[G. Wenderoth, E. Pasquiers poetische Theorien und seine Tätigkeit als
Literarhistoriker, vgl. Archiv CXII, 234. — R. Reis, Die Sprache im
Libvre du hon Jehan, due de Bretagne des Guillaume de St-Andre* (14. Jahr-
hundert). — P. C. Juret, Etüde grammaticale sur le latin de s. Filastrius].
2 [A. Sechehaye, L'imparfait du subj. et ses concurrents dans les hypo-
thltiques normales en francais. — Fr. Fizet, Das altfranzösische Jeu-
Parti. — E. Fehse, Sprichwort und Sentenz bei Eustache Deschamps
und Dichtern seiner Zeit. — J. Ulrich, Drei romanische Fassungen der
beiden Jakobsbrüder. — G. Baist, banse; bouleau; bride; buiron; eagot;
caraffa; conjogle; corma; guige; hote, hocque, ho; pieton; royaume; toenard;
triege].
Socidte" amicale Gaston Paris. Bulletin 1905. 39 S. — La biblio-
theque Gaston Paris donn^e ä l'Ecole des Hautes Etüde» par la Marquise
Arconati Visconti en memoire de son pere Alphonse Peyrat Paris, Impr.
Nationale, 1905.^8 S.
JtiG Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
Aus romanischen Sprachen und Literaturen. Festschrift Heinrich
Morf zur Feier seiner 25 jährigen Lehrtätigkeit von seinen Schülern dar-
gebracht. Halle a. S., M. Niemeyer, 1905. 427 S. M. 12.
Spingarn, J. E., La critica letteraria nel rinascimento, saggio sulle
origini dello spirito classico nella letteratura moderna. Traduzione italiana
del Dr. Ant. Fusco, con correzioni e aggiunte dell'autore e prefazione
di B. Croce. Bari, Laterza e figli, 1905. XII, 358 S. Lire 4. [Spingarns
Buch, das bekanntlich zuerst 1899 in englischer Sprache erschienen ist,
ist eine gut dokumentierte Geschichte der Poetik der Eenaissance (d. h.
in der Hauptsache des 16. Jahrhunderts) und behandelt in drei Teilen
erst Italien, dann Frankreich und endlich England. Spanien fehlt. In
der Vorrede nimmt B. Croce von neuem Stellung zu Saintsburys
History of eriticisme, der im kürzlich erschienenen dritten Bande auf seine
und Spingarns Kritik geantwortet hat. — In der Darstellung der Ent-
wickelungsgeschichte der poetischen Theorien Frankreichs kann ich Spin-
üarn nicht überall folgen, wofür ich auf meine Gesch. der neueren franz.
Literatur, I, verweise. Spingarns Darstellung der Einführung der Unites
de temps et de Heu im 17. Jahrhundert gibt einfach die traditionellen Irr-
tümer wieder.]
Ebeling, G., Probleme der romanischen Syntax. Erster Teil. Halle
a. S., Niemeyer, 1905. 178 S. [1) non ... altro che .... — 2) Vom Con-
dicionalis im Rumänischen. — 3) il a du venir = er mufs gekommen sein.
— 4) Span, ique ojos tan Jiermosos! = Welch schöne Augen. — 5) tutto
= lauter; cf. zum gemeinrom. sono tutti pagani das unflektierte tot um
gentes sunt der Peregrinatio ad loca sancta, zitiert in Wölfflins Archiv IV,
270. — 6) non che mit folgendem Infinitiv. — 7) dispiacere non mi dis-
piacete = mifsfallen tut Ihr mir nicht, wozu zu bemerken, dafs nicht nur
im Engadin (S. 122), sondern auch am Rhein das Verbum finitum mit
cha, che eingeführt wird, z. B. ira ch'ei maven in gron tschancun ('sie
gingen ein gutes Stück', im Volkslied vom Signur Completi); dafs das
Bergellische neben dir ye l d%es auch par dir ye l dZes kennt (cf. Gott.
Nachrichten, 1886, S. 90) ; zuerst ist die Erscheinung überhaupt wohl von
Gärtner, Gredner Mundart, 1879, S. 75, erwähnt worden. — 8) non la sta
cosi — das ist nicht der Fall. — 9) che hai paura = hast Du Furcht ? —
10) irons tornoiier moi et vos. Es ist ein sehr gehaltreiches Buch mit
einer reichen Fülle vcn Material und feinen Beobachtungen, das sich
Toblers Beiträge in Darstellung und Druck erfolgreich zum Muster ge-
nommen hat].
Zeitschrift für französ. Sprache und Literatur, hg. von D. Behrens.
XXVIII, 2 u. 4, der Referate und Rezensionen erstes und zweites Heft.
Revue des Etudes Rabelaisiennes. II, 1 [P. Toldo, Rabelais et Honore"
de Balzac. — J. Barat, L'influence de Tiraqueau sur R. — H. Clouzot,
Les amities de R. en Orlöanais et la lettre au bailli du bailli des baillis.
— Melanges. — Comptes rendus. — Chronique. — Supplements : Statuts,
liste des membres. — Reimpression de l'Isle sonnante, introduction].
Bulletin du Glossaire des patois de la Suisse romande. IV, 1 et 2
[L. Gauchat, L'origine du nom de La Giaux-de-Fonds ; la chaux < calmis,
kelt. Wort, das unbebautes Land bezeichnet; de fonds bleibt rätselhaft.
— J. Surdez, Pronostics et dictons agricoles. Patois du Clos du Doubs,
Jura bernois. — A. Neveu, Djua de Tsalande (Weihnachtsspiele), patois
de Leysin. — R. Chassot, Katiljon la chdrchyere (Catillon la sorciere),
patois de Villargiroud, Fribourg. — E. Muret, Additions aux proverbes
de Lens. — Compte rendu].
Gobineau, Comte A. de, Amadis, poeme. CEuvre posthume. Por-
trait de l'auteur grave" ä l'eau-forte. Paris, Plön, 1887. XLIV, 556 S. —
Les religions et les philosophies dans l'Asie Centrale. Troisieme Edition.
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 267
Paris, Leroux, 1900. X, 543 S. — Trois ans en Asie (1855—58). Nouv.
Edition. Paris, Leroux, 1905. VI, 500 S.
Gobineau, Graf, Nachgelassene Schriften, hg. von Ludwig Sche-
mann. Dichterische Werke : I. Alexandre le Mac^donien, trage*die en cinq
actes. 2. Aufl. Strafsburg, Trübner, 1902. IX, 101 S. M. 2. — Alexan-
der. Tragödie in fünf Aufzügen. Deutsch von Ludwig Schemann. 2. Auf-
lage. Strafsburg, Trübner, 1904. VIII, 107 S. — Die Renaissance. Histo-
rische Szenen. Deutsch von Ludwig Schemann. Neue durchges. u. verb.
Auflage. 3. und 4. Tausend. Strafsburg, Trübner, 1904. _ M. 5. — Asia-
tische Novellen. Deutsch von Ludwig Schemann. Mit einem Lebensbild
des Autors. Leipzig, Reklam, Univers. -Bibl. N° 3103 — 4.
Wahlund, C, Un acte in^dit d'un opera de Voltaire, public- d'apres
deux anciennes copies manuscrites de la Bibl. Koyale de Stockholm ; avec
des facsimil^s. Upsala, Almqvist & Wiksells, 1905. 59 S.
Weidmannsche Sammlung franz. u. engl. Schriftsteller mit deutschem
Kommentar. Berlin, Weidmann, 1905 :
Le Cid von P. Corneille, hg. und erklärt von Fr. Strehlke. Zweite
völlig umgearb. Aufl. von Dr. Fr. Meder. 113 S. und 25 S. An-
merkungen.
Auswahl aus Victor Hugo. Erklärt von Dr. O. Weifsenfeis.
V, 248 S.
Cherbuliez, V., Die Kunst und die Natur, I. Übersetzt von
H. Weber. Ascona, C. v. Schmidtz, 1905. 125 S. M. 2,35.
Jordan, L., Die Sage von den vier Haimonskindern [Münchener
Habilitationsschrift]. Erlangen, Junge, 1905. X, 198 S.
Bamann, O., Die burlesken Elemente in Rabelais' Werk [Würz-
burger Dissert.]. München, Dr. C. Wolf & Sohn, 1904. 63 S.
Knoblauch, K., Das Verhältnis der Chroniques admirables zu den
Chroniques inestimables und zu Rabelais [Würzburger Dissert.]. Jena,
A. Kämpfe, 1904. 76 S.
Kammel, Dr. W., Die Typen der Helden und Heldinnen in den
Dramen Victor Hugos [S.-A. aus dem 32. Jahresber. der k. k. deutschen
Staatsrealschule in Prag -Kleinseite]. Prag, Statthalterei-Buchdruckerei,
1905. 42 S.
Rall, Ed., A. de Musset, ein echter Romantiker [Würzburger Dissert.].
Aschaffenburg, Schippnersche Druckerei, 1905. VIII, 92 S.
Pellissier, G., Le mouvement litteraire contemporain, 36me Edition.
Paris, Plön, 1902. VII, 302 S.
Francois, A., La grammaire du Purisme et l'Academie francaise
au XVIIIe siecle. Introduction ä l'ötude des Commentaires grammaticaux
d'auteurs classiques. Paris, Soc. nouv. de librairie et d'6dition, 1905. XV,
279 S. Fr. 5. [Dieses Buch behandelt einen sehr wichtigen Abschnitt
aus der Geschichte der sprachlichen Theorien Frankreichs und stellt ihn
auf Grund eingehender Erforschung auch des handschriftlichen Materials
(Archiv der franz. Akademie) vortrefflich dar. Das Archiv wird in einer
ausführlicheren Besprechung auf diese bedeutsame Leistung zurück-
kommen.]
Plattner, Ph., Ausführliche Grammatik der französischen Sprache.
Eine Darstellung des modernen französischen Sprachgebrauchs mit Be-
rücksichtigung der Volkssprache. III. Teil: Ergänzungen. Erstes Heft:
Das Nomen und der Gebrauch des Artikels. Karlsruhe, J. Bielefeld, 1905.
231 S. M. 3,60.
Metzger, Prof. Fr., und Ganzmann, O., Lehrbuch der franzö-
sischen Sprache auf Grundlage der Handlung und des Erlebnisses. Für
lateinlose und Reform-Schulen. Mit Zeichnungen von Hellmut Eichrodt.
I. Stufe. 2. vollst, umgearb. Aufl. Berlin, Reuther & Reichard, 1905.
X, 250^S. Geb. M. 2.
268 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
Mistral, Fr., Mirfcio, provenzalische Dichtung. Deutsch von August
B ertlich. Vierte Auflage. Mit Mistrals Bildnis. Stuttgart und Berlin,
Cotta, 1905. XXXIV, 25!» S. [Mit Freuden begrüfst man den Erfolg
dieses Meisterwerkes deutscher Übersetzungskunst, dem hier nach fünf
Jahren wieder eine neue Auflage zuteil wird. Die Einleitung, die aus
persönlicher Kenntnis der Menschen und der Dinge des Felibrige heraus
geschrieben ist, ist etwas erweitert und berichtet auch vom halbhundert-
jährigen Jubiläum des Feliberbundes im Mai 1904.]
Lewent, K., Das altprovenzalische Kreuzlied [Berliner Dissert.]. Er-
langen, Junge, 1905. 128 S.
Lef evre, Ed., L'anne'e felibreenne (2e annee, 1904). Deuxieme Supple-
ment du Catalogue feUibr£en et de la bibliographie Mistralienne. Mar-
seille, Ruat, 1905. 54 S. [Eine sehr willkommene und nützliche Chronik
und Bibliographie der Feliber-Bewegung, mit der Liebe gemacht, die auch
das Kleine (z. ß. die Ansichtskarten) nicht vergifst.]
Schädel, B., Mundartliches aus Mallorca. Halle, R. Haupt, 1905.
43 S.
Giornale storico della lett. italiana, dir. e red. da F. Novati e
R. Renier. Fase. 134 — 5 [U. Cosmo, Giuseppe Baretti e Jose* Francisco
de Isla. — Varietä: V. Pirazzoli, Sopra due f rammen ti poetici dell'Ariosto.
— R. Bergadani, Nota sulla questione delle Filippiche. — Rassegna biblio-
grafica. — Bolletiuo bibliografico. — AnnuDzi analitici. — Pubblicazioni
nuziali. — Communicazioni ed appunti. — Cronaca]. — Supplemento N°8:
A. Farinelli, Appunti su Dante in Ispagna nell' Etä Media. — F. Cavicchi,
Intorno al Tebaldeo. — Varietä: F. Pasini, Un plagio a danno di Vin-
cenzo Monti].
Bulletin Italien. V (1905), 2 [Paget Toynbee, Dante and the legend
of St. John the Evangelist {Farad XXV, 100—2; 112—24). — P. Duhem,
Albert de Saxe et Leonard de Vinci, IL — L.-G. Pellissier, Un traite" de
g£ographie politique de l'Italie ä la fin du 15e siecle. — M. Paoli, Lenau
et Leopardi. — M61anges et documents : L. Auvray, Inventaire de la col-
lection Custodi, VI. — Bibliographie].
Dante Alighieri, La Divina Commedia, con postille e cenni intro-
duttivi del prof. Raff. Fornaciari. Edizione minuscola ad uso delle let-
ture pubbliche e delle scuole. Milano, Hoepli, 1904. XXII, 577 S. In 64°.
Lire 3. [Fornaciari hat seinem Text und Kommentar die Ausgaben T. Ca-
sini-*, L. G. Passerini und G. A. Scartazzini4 zugrunde gelegt und sich
in Kommentar und in der Einleitung über Dantes Leben und den Sinn
seines Gedichtes der gröfsten Kürze befleifsigt. Seine Ausgabe soll der
Schullektüre dienen und besonders ein Hilfsmittel für Hörer von Dante-
Vorlesungen sein. Die Kleinheit des Formats (7 X 1- cm) und das ge-
ringe Gewicht des leichten Papiers (75 g) machen das Büchlein facil-
mente tascabile. Der Druck ist aufserordentlich scharf. Diese bequeme
Ausgabe erscheint in hohem Mafse preiswürdig.]
Fucini, Renato (Neri Tanfucio). Le veglie di Neri, paesi e figure
della campagna toscana. Settima edizione, quarta illustrata da artisti
fiorentino. Milano, Hoepli, 1905. 251 S. 13 X 25 cm. Lire 5,50. [Die
unvergleichlichen Schilderungen des toskanischen Landvolkes, die Fucini
in seinen 'Abenden von Neri' (1882) gegeben, liegen hier in einer ent-
zückend illustrierten Ausgabe vor.]
Scartazzini, A. G., Enciclopedia Dantesca, continuato dal prof.
A. Fiammazzo. Volume III: Vocabolario-concordanza delle opere latine
e italiane di Dante Alighieri, preceduto dalla biografia di G. A. Scartaz-
zini. Milano, Hoepli, 19U5. LXXII, 667 S. Lire 8. [Der erste Band
dieser umfangreichen Enciclopedia ist 1896 (S. 1 — 1169), der zweite 1899
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 269
(S. 1170 — 2200) erschienen. Scartazzini selbst plante einen Supplenient-
band, der allerlei Lücken ergänzen und Nachträge bringen würde. Dar-
über ist der Unermüdliche 1899 gestorben. Es war ein glücklicher Gedanke
des Herausgebers, an die beiden ersten Bände zunächst ein vollständiges
Repertorium des ganzen bei Dante vorkommenden Sprachmaterials, eine
sogenannte Konkordanz, zu fügen, ehe in einem vierten Bande der ver-
sprochene Nachtrag erscheint. Eine solche Konkordanz, die alle Werke
Dantes, auch die lateinischen und apokryphen, umfafst, ist ein wirkliches
Bedürfnis. Für De vulgari eloquentia ist der kritische Text der Societä
dantesca (Rajna), für alle übrigen Werke die Ausgabe Moore {Oxforder
Dante, 1894), für einzelne Apokrypha Fraticelli zugrunde gelegt. Die
Ausführung dieser mühevollen Arbeit scheint sehr gewissenhaft zu sein.
Leider schreibt Fiammazzo einen gezierten Stil, der der Klarheit seiner
Einleitung erheblichen Eintrag tut.]
Passerini, G. L., e Mazzi, C, Un decennio di bibliografia Dan-
tesca (1891—1900). Milano, Hoepli, 1905. VII, 668 S. Lire 12. [Passe-
rini und Mazzi arbeiten an einer alle Zeiten und Länder umfassenden
Dante-Bibliographie. Möge es ihnen gelingen, ein solches Riesenunter-
nehmen zu glücklichem Ende zu führen ! Welch wertvolles Arbeitsinstru-
ment ihre Bibliographie sein wird, das zeigt dieses Spezimen, das ein
Jahrzehnt der Dante-Forschung inventarisiert: die fruchtbarste und wohl
kontroversenreichste Periode, welche diese Forschung kennt. Dieser Band
bietet eine musterhafte Arbeit. An die Aufführung der Edixioni und
Traduxioni Dantescher Werke (226 Nummern) schliefst sich das nach den
Verfassernamen geordnete Verzeichnis der Seritti intorno a Dante, N° 227
bis 4285, wozu noch hundert Nummern Nachträge kommen. Die einzelnen
Ausgaben und Monographien sind mit Verweisen auf die bedeutenderen
Rezensionen versehen — wo am ehesten noch kleine Lücken zu ergänzen
wären. Nicht selten orientiert eine kurze Bemerkung über den Inhalt
oder Charakter der angeführten Schrift. Drei Indices ermöglichen die
volle Ausbeutung des Buches : ein Personen- und ein Sachregister sowie
eine Liste der Textstellen aus Dantes Werken, mit denen die Forschung
dieses Jahrzehnts sich befafst hat.]
Porena, M., Delle manifestazioni plastiche del sentimento nei per-
sonaggi della Divina Commedia. Lavoro premiato con premio di primo
grado nella Gara Dantesca fra i professori di scuole secondarie dell'anno
1900. Con due appendice. Milano, Hoepli, 1902. XI, 190 S. Lire 4.
[Feine Bemerkungen eines künstlerisch empfindenden Menschen über die
Plastik der Danteschen Figuren. Unter den Personen des Purgatorio
fällt insbesondere Matelda durch ihre plastische Gestaltung auf. Dem
Rätsel ihrer symbolischen Bedeutung widmet Porena einen der beiden
appendici (p. 133 — 165): er erkennt in ihr die die irdische Glückseligkeit
bildende Vereinigung von tätigem (Lia) und beschaulichem (Rachele)
Leben.]
Sanvisenti, B., I primi influssi di Dante, del Petrarca e del Boc-
caccio sulla letteratura spagnuola, con appendici di documenti inediti.
Milano, Hoepli, 1902. XVI, 463 S. Lire 7,50. [Dieses Buch hat das
unbestreitbare Verdienst, zum erstenmal im Zusammenhang darzustellen,
in welchem Mafse die Werke der drei grofsen Florentiner die Literatur
Spaniens beeinflufst haben. Dafs Sanvisentis Information noch recht
lückenhaft ist und oft genug an der Oberfläche sich bewegt, haben seither
Farinellis Studien gezeigt. Es ist nicht das kleinste Verdienst dieses
Buches, dafs es augenscheinlich den Anstofs dazu gab, dafs Farinelli mit
den Resultaten seiner gründlichen Forschungen hervorgetreten ist: La for-
tuna del Petrarca in Ispagna, cf. Archiv CX1V, 269; II Corbaccio nella
Spagna medievale in der Festgabe für Ad. Mussafia (1905); Boccaccio in
Ispagna hier CXIV, 397 ff. und nun auch:]
270 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
Farinelli, A., Appunti su Dante in Ispagna nell etä Media [S.-A.
aus Qiorn. storico della lett. üaliana, Supplem. n° 8]. Torino, Loescher,
1905. 105 S. [Dante heifst hier: die Commedia, denn seine Opere minori
waren im Spanien des 15. Jahrhunderts wenn nicht völlig unbekannt,
so doch literarisch wirkiingslos, wie Farinelli zeigt, der mit der sicheren
Gelehrsamkeit, die man längst an ihm kennt, den Spuren des divino
poema bei den Katalanen und den Kastiliern nachgeht, viel Neues auf-
weisend, manches Alte berichtigend. (Dafs der allegorische 'dezir' des
Villasandino {Cancionero de Baena n° 34, anno 1407) auf Dantes Canzone
Tre donne beruhe, hat mich freilich nicht überzeugt.) Auch den Portu-
giesen, die von Santillana und Juan de Mena lernen, widmet er einige
Seiten. Ob die Katalanen auch als 'dantistas' die Brücke zwischen Italien
und Spanien geschlagen haben, mufs ungewifs bleiben. Aber hervorragend
ist ihr Anteil auf alle Fälle, und die Ver> Übersetzung d.es Katalanen Febrer
ist der flüchtigen Prosawiedergabe Enrique's de Villena überlegen. Ob-
schon das 15. Jahrhundert in der Fülle seiner allegorischen Dichtung eine
günstige Prädisposition zur Erfassung der Commedia besafs, so ist doch
die Nachahmung rein äufserlich geblieben, beim ersten, Imperial, wie dann
auch bei den besten, Santillana und Mena, die für manche poetce minores
die einzige — mittelbare — Quelle einiger Dante- Kenntnisse gebildet
haben. Es fehlte in Spanien wie in Frankreich der grofse Künstler.
Dafür lockte den Nachempfindenden die leichtere Verständlichkeit des
Roman de la Rose oder die elegante, einförmige Glätte des Maestro Alen
Gharrotier, muy claro poeta modemo. Wo sie das Feld beherrschen, da
ist der Weg zum wahren Dante versperrt — da dient Dante nur dazu,
den landläufigen Allegorien einige Ornamente zu liefern. Wie diese Orna-
mentik im einzelnen beschaffen ist, das illustriert mit immer neuen Bei-
spielen und zeigt in immer neuer Beleuchtung diese schöne Arbeit Fari-
nellis.J
Novati, Fr., II Petrarca ed i Visconti. Nuove ricerche su documenti
inediti. 76 S. mit einer Tafel [S.-A. aus F. Petrarca e la Lombardid\.
Milano, Tipografia Cogliati, 1904. [Novati beleuchtet auf Grund von fünf
unedierten und einem bisher kaum beachteten Dokument Petrarcas Be-
ziehungen zu den Visconti, d. h. im wesentlichen des Dichters Aufenthalt
zu Mailand (1353—61). Neues Licht fällt auf den persönlichen Freundes-
kreis Petrarcas: in dem Erlebnis eines Freundes sieht Novati das ent-
scheidende Motiv, das Petrarca bewog, das gefährliche Mailand zu ver-
lassen.]
Subak, G., Noterelle sarde. 27 S. [S.-A. aus dem Archeografo triestino
serie III, vol. II]. Trieste, Stabilimento G. Caprin, 1905. [Subak gibt
hier im wesentlichen Ergänzungen zu seinen Bricciche sarde, Triest 1903,
und behandelt: 1) tuta 2) osca 3) matessi 4) igüe, igussu, iguddäe 5) La
terza persona del plurale nei verbi 6) nuraghe 7) dae = lä dove 8) alicunu
9) Spigolature dall 'Altlogudoresisches' del Meyer-Lübke 10) dittus, ogiu,
buthegaiu 11) inoghe 12) Approposito delle nuova edizione della Garta de
Logu.]
Foerster,W., Sulla questione dell'autenticitä dei codici di Arborea.
Esame paleografico. Con una zincografia nel testo e due tavole in foto-
tipia. 32 S. [S.-A. aus d. Memorie della R. Accademia delle Scienxe di
Torino, serie II, vol. 55]. Torino, Clausen, 1905. [In der Masse der ge-
fälschten 'Urkunden von Arborea' hat Förster zwei echte Stücke des
15. Jahrhunderts gefunden: eine Hafenordnung von Castelsardo (logudo-
resisch) und ein unediertes tatein. -katalanisches Notariatsprotokoll. Zu
dieser interessanten Publikation vgl. Zs. f. rom. Phil. XXIX, 250 ff.]
Methode Toussaint-Langenscheidt. Brieflicher Sprach- und
Sprechunterricht für das Selbststudium der italienischen Sprache von
Dr. H. Sabersky, unter Mitwirkung von Prof. G. Sacerdote. Berlin,
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 271
Langenscheidt. Brief 27 — 30 zu M. 1. — Taschenwörterbuch der ita-
lienischen und deutschen Sprache. Mit Angabe der Aussprache nach dem
phonetischen System der Meth. Toussaint-Langenscheidt, zusammengestellt
von ü. Sacerdote. Teil I: Italienisch - Deutsch. Berlin - Schöneberg,
Langenscheidt, 1905. XXXVI, 470 S. Geb. M. 2.
Bulletin hispanique. VII, 2 [H. de la Ville de Mirmont, Ciceron et
les Espagnols. — J. Saro'ihandy, Remarques sur la conjugaison catalane,
eine Übersicht, die ursprünglich für die zweite Auflage des Gröberschen
Grundrisses bestimmt war. — C. Michaelis de Vasconcellos, Algumas pa-
lavras a respecto de pücaros de Portugal, eine sehr interessante Ergänzung
von Morels Artikel über span. comer barro (Tonerde essen) in den Me-
langen Wahlund 1896: pücaro, biicaro (< poculum) bezeichnet das poröse
Tongefäfs, das, aromatisch zubereitet, zur Parfümierung der Zimmer
diente — besonders seit der Entdeckung Amerikas — , und dann auch die
aromatische Tonpastille, welche die spanischen und portugiesischen Schönen
im 17. Jahrhundert leidenschaftlich naschten. — E. Menmee, D. Juan
Valera. — Varidtäs: A. Morel-Fatio, D. Nuno de Mendoca. — Bibliogra-
phie. — Sommaire des Revues consacr^es aux pays de langues castillane,
catalane ou portugaise. — ChroniqueJ.
Revista de archivos, bibliotecas y museos. Numero extraordinario en
comemoraciön del Centenario del Quijote. Mayo 1905 [M. Menendez y
Pelayo, Cultura literaria de M. de Cervantes y elaboraciön del Quijote,
Festrede, gehalten in der Aula der Madrider Universität. — Infantin Dona
Paz de Borbön, Torneo en el Palatinado en lt>13: aus Anlafs der Hoch-
zeit des Kurfürsten Friedrich V. mit Isabella Stuart wurde bei den Hof-
festlichkeit im Heidelberger Schlofs auch ein Turnier abgehalten, zu wel-
chem D. Quijote de la Mancha, caballero de la triste figura alle benach-
barten Ritter einlud. — P. Torres Lanzas publiziert zum erstenmal voll-
ständig den Text jener Eingabe, mit welcher Cervantes 1590 um ein Amt
in Westindien bittet. — A. M. de Barcia, Exposition conmemorativa de
la publicaeiön del Quijote. — Em. Cotarelo, Bibliografia de los principales
escritos publicados con ocasiön del tercer centenario del Quijote].
R. Menendez Pidal, Sobre Aluacaxi y la elegia ärabe de Valencia
[S.-A. aus dem Homenaje d D. Francisco Codera en su jubilaciön del pro-
fesorado, S. 393 — 409]. Zaragoza 1904. [Die spanische Königschronik ent-
hält Transkription und Übersetzung einer arabischen Elegie, welche die
Not der vom Cid belagerten Stadt Valencia beklagt, und deren Dichter
Aluacaxi sich im Sinne einer Übergabe der Stadt ausspricht. Menendez
Pidal restituiert mit Hilfe des Arabisten J. Ribera den Urtext in ara-
bischer Graphie, begleitet ihn mit phonetischen Bemerkungen und erweist
die Bedeutung der Elegie gegenüber den Zweifeln Dozys.]
Morel-Fatio, A., Un taux autographe de Cervantes. Paris, Librairie
Henri Leclerc, 1905. 15 S. [Das Musee Dobree zu Nantes bewahrt einen
kurzen Brief des Cervantes auf, dessen Unechtheit Morel paläographisch
und sprachlich erweist.]
Valera, Juan, Discurso que por encargo de la R. Academia espanola
escribiö Exemo. Sr. D. Juan Valera para conmemorar el tercer centenario
de la pubücaci6n del Quijote. Madrid 1905. 37 S. [Die Rede ist leider
ein Fragment geblieben. Der Tod hat Valera verstummen lassen, nach-
dem er kaum begonnen, von den allgemeinen Betrachtungen zum speziellen
Teil überzugehen.]
Farinelli, A., Cervantes. Zur 300jährigen Feier des Don Quijote.
Festrede, gehalten in Zürich am 6. März 1905 im Auftrage des Lesezirkais
Hottingen [S.-A. aus der Beilage zur Allgem. Zeitung N° 113 — 1151. Mün-
chen 1905. 39 S. [Eine sehr schöne Gedenkrede, deren Verf. mit vollen
272 Verzeichnis der eingelaufenen DruckHchriften.
Händen aus dem reichen Arsenal der vergleichenden Literaturgeschichte
schöpft.]
Cirot, G., Mariana historien. Bordeaux, F6ret et Fils, 1905. XIV,
481 S. Fr. 15.
Hanssen, Fr., Sobre el metro del poema de Fernän Gonzalez. San-
tiago de Chile, Imprenta Cervantes, 1904. 29 S. [Cf. Archiv CXIV,
248 — 50; Hanssen vertritt die Meinung, dafs der Verf. des Gedichts wie
auch z. B. Lopez de Ayala aus nationaler Gewöhnung die aus Frankreich
importierte ciuxderna via ä silabas cuntadas mit einheimischen Romanzen-
versen durchsetzt habe.]
Felix Jose" de Augusta, Fray, Misionero Apostölico Capuchino
de la provincia de Baviera, Gramätica Araucana. Valdivia, J. Lampert,
1903 (B. Herder, Freiburg i. B.). XVI, 408 S. M. 5.
Maerkel, Prof. Dr. Paul, Der Kulturwert des Russischen. Pro-
framm des Askanischen Gymnasiums zu Berlin. Berlin, Weidmann, 19u5.
'rogr. 55. 30 S. M. 1.
Kawraysky, Dr. Th. v., Deutsch-russische Handelskorrespondenz
(Göschens Kaufmännische Bibliothek, 6). Leipzig, Göschen ; St. Petersburg,
Wolff, 1905. IX, 250 S. Geb. M. 3.
Zur Entstehung des Märchens.
(Fortsetzung.)'
IV. Das indische Märchen.
In keinem anderen Lande ist der Reichtum au Märchen so
unübersehbar wie in Indien. Und auch in keinem anderen Lande
hat das Märchen eine dem indischen vergleichliche Geschichte
und Bedeutung. Schon vor den Zeiten des Rigveda, mindestens
im dritten Jahrtausend vor Christus, sind Märchen für Indien
bezeugt, und wir finden ihre Spuren in allen folgenden Jahr-
hunderten. Der Buddhismus hat um diese Märchen das Gewand
seiner Lehre gehängt, in den ersten Jahrhunderten unserer Zeit-
rechnung entstanden dann die ersten Märchensammlungen, die
spätere Zeiten beständig bereicherten und erweiterten. Um das
12. Jahrhundert vollendet der bedeutendste unter den uns be-
kannten indischen Märchendichtern, Somadeva, seinen Kathäsa-
ritsägara (Ozean des Stromes der Erzählungen), nicht viel später
wurden die anderen Märchensammlungen abgeschlossen: der
Siddhapati (entsprechend den 'sieben weisen Meistern'), die Cuka-
saptati (70 Erzählungen des Papageien), die Smhäsanadvatrirncati
(32 Erzählungen des Thrones), die Vetaläpancavitncati (25 Er-
zählungen des Geistes), das Pantschatantra ('Fünfbuch') und der
Hitopadeca ('Die nützliche Anweisung').1 Diese Sammlungen leben,
in die neuindischen Dialekte übertragen, als Schul- und Unter-
haltungsbücher noch heute, und aufser diesen durch die Tradition
geheiligten Märchen leben noch viele andere, unendlich mehr,
als wir nach den vorhandenen Aufzeichnungen und Sammlungen
ahnen können.2
. 1 Vgl. auch von der Leyen, Das indische Märchen, Preufs. Jahrbücher
99, 62 f. (1900).
2 Natürlich enthalten nicht alle diese Sammlungen Geschichten, die
nur in ihnen und sonst nirgend erscheinen. Die buddhistischen Jfitaka's
z. B. kehren (meist freilich verändert) im Pantschatantra, Somadeva etc.
wieder, die Cukasaptati und der Siddhapati haben eine Reihe Geschichten
gemeinsam (Bolte, Zeitsehr. des Vereins f. Volkskunde, 1905, 229), zwischen
Cukasaptati und Pantschatantra gibt es viele Berührungen usw. Sogar
innerhalb eines Werkes, innerhalb des Kathäsaritsägara von Somadeva
(übers, von Tawney, Bibliotheca Indica, Calcutta 1881 — 87) z. B., wird
dieselbe Geschichte zwei- und dreifach erzählt. Ich nenne folgende Mär-
chen der auch darin aufgenommenen Vetälapaücavimcati (XII, 75 f.):
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 18
274 Zur Entstehung des Märchens.
Einer sqlchen Kontinuität und einer solchen ehrwürdigen
literarischen Überlieferung können sich, um das zu wiederholen,
auf der ganzen Welt nur die indischen Märchen rühmen. In
anderen Ländern, Arabien etwa ausgenommen, wird das Märchen
erzählt, aber selten aufgezeichnet, es gehört nicht zur Literatur,
dem Inder galt das Märchen als Kunstpoesie, dem er alle Fein-
heiten und Künstlichkeiten verschwenderisch schenkte, durch die
er jene auszeichnete. Auch die tiefste Philosophie und Lebens-
weisheit hat man seit den Tagen des Buddhismus dem Märchen
fortdauernd anvertraut, so dafs wir heute die Märchen oft weniger
um ihrer selbst als um der wundervollen überall in sie einge-
streuten Sprüche willen bewundern. Unseren deutschen Ro-
mantikern schwebte, nachdem sie den Roman als ein für ihre
Universalität zu enges Gefäfs verworfen, das Märchen als ihre
Kunst vor: darin fügten sich die Motive leicht und ohne Zwang,
anmutig und schillernd, aneinander wie Perlen an eine Schnur,
Lieder unterbrechen verlockend und sehnsüchtig die Erzählung,
weisheitschwere Sprüche, Gleichnisse und Symbole führten in die
letzten Tiefen und zeigten dem ahnenden Blick den Urgrund
alles Seins und aller Kunst, das Kindlichste und Harmloseste
stand heiter und lieblich neben dem gereiftesten Ernst und den
letzten Erkenntnissen der Philosophie und Weisheit. Das Mär-
chen umschlofs als reichste, vielfältigste und himmlischste Kunst
das ganze Leben, während der Dichter ohne jeden Zwang, in
künstlerischer Willkür die buntesten Einfälle aneinander zu reihen
schien. Die Romantik hat ihr Ideal fast niemals, hier und da
nur in den Märchen des Novalis, erreicht, ihre Kunst war der
Fülle und dem Reichtum der Märchenmotive nicht gewachsen,
sie wurden von den Märchen beherrscht, aber sie herrschten nicht
über das Märchen, und sie gerieten auch zu gern in leere Spiele-
reien. Die Inder haben, in ihrer Art, erreicht, was die Roman-
tiker erreichen wollten: ihr Märchen hat die tiefste Weisheit auf-
genommen und zugleich das übermütigste Leben und die selt-
samsten Wunder, alles nicht nebeneinander, sondern eins wirkt
immer sonderbar und überraschend auf und gegen das andere,
und das Märchen hängt unlösbar eng mit Wundern und mit
Leben zusammen. Auch ist gerade der kunstvolle Aufbau, die
sichere Herrschaft über die Motive, die erstaunliche Gabe, alle
nur möglichen Wirkungen aus ihnen herauszuholen, beim indischen
Märchen bewundernswert. Wollte jemand heute im Ernst jeden
Rahmen = VII, 38 (Tawney I, 349) ; 1 = XII, 171 (Tawney II, 157) und
= I, 4 (Nr. I + XV, Tawney I, 44); 3b = XVIII, 124 (Tawney II, 617);
4 = IX, 53 (Tawney I, 519); 6 und 12 = V, 25. 26 (Tawney I, 194 f.);
vgl. auch XVIII, 120 (Tawney II, 569 f.), 14 = XVI, 112 (Tawney II,
493); 16 = IV, 22 (Tawney I, 174); 17 = III, 15 (Tawney I, 104), vgl.
auch VT, 33 (Tawney I, 294).
Zur Entstehung des Märchens. 275
Einflufs des indischen Märchens auf das anderer Völker ab-
leugnen, das müfste er zugeben: für kein anderes Land — auch für
Arabien nicht Tausendundeine Nacht — bedeutete das Märchen
das alles, was es für Indien bedeutet, und als Abbild der indischen
Seele behält das indische Märchen immer einen unvergleichbaren
Wert für die Erkenntnis der ganzen menschlichen Kultur.
Wir mufsten ja während unserer Betrachtungen wiederholt
auf das indische Märchen andeutend hinweisen. Diese Hinweise
nehmen wir, wie schon gesagt, wieder auf und erweitern sie zu
einem Vergleich des indischen Märchens und der indischen Mär-
chenkunst mit den Märchenmotiven und Märchen der anderen
Völker. Dabei bitte ich schon im voraus, zu entschuldigen, wenn
ich schon Bemerktes wiederhole und etwas schulmeisterlich breit
auftrete; aber ohne das könnte ich die komplizierten Entwicke-
lungen nicht erklären.
I. Rahmenerzählungen. Unter den Sagenmotiven, die ein-
mal schreckhafte Träume waren, hatten wir (Archiv CXIII, 257)
auch das mannigfach variierende Motiv genannt: einem Menschen
wird eine Frage oder ein Rätsel vorgelegt, und wenn er die Ant-
wort darauf nicht findet, so wird er getötet. Dies Motiv er-
weitert sich — ganz analog einem ähnlichen, von dem Unge-
heuer, das jährlich ein Menschenopfer verlangt, bis ein Held
kommt und es besiegt — oft dahin, dafs der Fragende, ein böser
Geist, eine Sphinx oder eine grausame Prinzessin, einen nach
dem anderen, der keine Antwort weifs, wirklich tötet, bis der
Held kommt, der sich nicht durch den Untergang aller früheren
schrecken läfst, die Frage richtig löst und den Geist dadurch
vernichtet. Aus dem einen Rätsel sind dann auch — man denke
an die Turandot-Fassungen unseres Motivs ' — mehrere Rätsel
geworden, und der Prinzessin, die selbst so grausame Rätsel
stellte, wurde von dem glücklichen Sieger auch ein Rätsel auf-
gegeben, damit sie selbst einmal die Qualen derer empfinde, die
sich umsonst um eine Lösung mühten.
In Indien gab es nun dies Märchen:2 Ein Bettler schenkt
einem König eine Frucht mit Juwelen, er verlangt dafür, dafs
dieser ihm einen Leichnam hole, in dem ein zauberkräftiger Geist,
ein sogenannter Vetala, sich aufhalte. Der König holt den Leich-
nam, erfährt aber von dem innewohnenden Geist, der an der
Furchtlosigkeit dieses Herrschers seine Freude hat, dafs der Bett-
ler ihn vernichten wolle, er tötet darum diesen und wird selbst
der Zauberkräfte mächtig, die der Geist verleihen kann.
1 Zu Turandot: Liebrecht, Zur Volkskunde 153; Chauvin, Bibliografie
des Ouvrages . . . Arabes V, 191 f.
2 Somadeya VII, :'.S (Tawney I, 349).
18*
276 Zur Entstehung des Märchen».
Als Zusatzmotiv wurde nun zu diesem Märchen das Motiv
erfunden : der König kann den Geist nur an seinen Platz bringen,
wenn er schweigt. Aber der Geist erzählt dem König Geschich-
ten, und diese enden alle so drastisch und unerwartet, dafs dem
König gegen seinen Willen immer Ausrufe des Entsetzens, Er-
staunens oder der Bewunderung entfahren. Bei jedem dieser
Ausrufe verschwindet der Geist, der König läuft hinter ihm her
und holt ihn wieder ein, und das wiederholt sich vierundzwanzig-
mal, bis der König schweigt und seinen wirklich sehr mühselig
verdienten Lohn empfängt. *
So waren aus einem Märchen fünfundzwanzig Märchen ge-
worden und das alte Grundmärchen doch erhalten geblieben, als
eines mit vielen Einschachtelungen, mannigfaltiger und span-
nender. Diese Spannung hat man noch erhöht, indem man nicht
seltsame Pointen, sondern Fragen an das Ende der Geschichten
setzte: der Geist stellt sie dem König, um dessen Ansicht über
die Personen, Ereignisse und Probleme der mitgeteilten Ge-
schichten zu hören. Dabei bedroht er den König — und damit
sind wir wieder bei dem alten Alptraummotiv angelangt — mit
dem Tode, wenn er diese Fragen, die er absichtlich dumm und
unwissend stellt, nicht richtig beantwortet. Der König gibt die
verlangten Antworten, immer fein und geistreich, aber sowie er
zu Ende ist, verschwindet der Geist, bis er endlich selbst dieses
Hin- und Herlaufens müde wird und dem König eine Frage stellt,
die dieser trotz allen Nachdenkens nicht richtig lösen kann.2 Er
schweigt daher, erreicht sein Ziel, tötet den falschen Bettler und
wird dann mit so viel Ruhm und Anerkennung überhäuft, dafs
uns sogar seine Mühe gering scheint. — Das ist der Rahmen
der indischen Vetälapancavimcati. Die alte einfache und grau-
same Alternative in unserem Motiv haben also die Inder in ein
sehr künstliches Dilemma umgewandelt: wenn der König schweigt,
ward er getötet, wenn er redet, bringt er sich um den Lohn sei-
ner Kühnheit, um den Geist. Er entschliefst sich, da er dem
Bettler sein Versprechen halten will, zum Reden, und das wieder-
holt sich vierundzwanzigmal, bis sich der Geist des Königs er-
barmt.
Die Erweiterungen des alten Fragemotivs in den aufser-
indischen Fassungen wie in der Sage von Ödipus, der Turandot
bestrebten sich, den Helden recht hervorzuheben, weil er vor
einem Wagnis nicht zurückschreckte, bei dem seine Vorgänger
1 So in der mongolischen Fassung der Vetälapancavimcati, vgl. von
der Leyen, Indische, Märchen 122/25; Preufs. Jahrbücher 99 (1900), S. 65;
Jülg, Die Märchen des Siddhi-Kür, Leipzig 1866.
2 Vater und Sohn heiraten Mutter und Tochter, aber der Vater die
Tochter und der Sohn die Mutter, beider Paare Kinder heiraten sich
wieder, wie sind nun alle miteinander verwandt?
Zur Entstehung des Märchens. 277
alle den Tod fanden. Nur die Turandot-Dichtung, d. h. eine
orientalische Dichtung, steigerte auch die Bedeutung des Motivs,
indem sie die Rätsel vervielfältigte und an Sieger und Besiegte
verteilte. Im Indischen tritt der Held zurück, den Inder ver-
lockt das Motiv selbst, er versucht, es zu dehnen, zu ver-
vielfältigen, zu verkünsteln und schliefslich zu mildern. Dies ver-
künstelte Motiv bringt er in eine seiner alten Geschichten hinein,
und er weifs die Spannung immer aufrecht zu erhalten, indem
der König jedesmal eine neue Gelegenheit findet, seinen Scharf-
sinn und seinen überlegenen Geist zu zeigen.
Es wird also im Indischen zweierlei erreicht: eine alte Ge-
schichte künstlich verlängert und ein auch anderen Völkern be-
kanntes Motiv in ein höchst abwechselungsreiches Frage- und
Antwortspiel verwandelt. Dabei zeigt sich eine Vorliebe für das
Massenhafte und ein Geschick in der Variation, das andere Völ-
ker nicht von weitem erreichen.
Die Vetälapancavimcati kam nun als Ganzes nicht nach
Europa. Unser erstes Beispiel gibt also nur eine Probe von der
indischen Erzählungskunst, wie sie sich bei einem einheimischen
und einem internationalen Motiv bewährte. Ganz ergebnislos für
die Frage nach dem Einflufs der indischen Märchen auf Europa
ist aber auch dies Beispiel nicht: wir dürfen im Anschlufs daran
behaupten, dafs die Technik der Rahmenerzählung, die uns hier
zum erstenmal begegnet, und die auch abendländische Märchen-
sammlungen kennen, in Indien erfunden und ausgebildet wurde.
Ich will diese Behauptung durch einige Beispiele beweisen.
Throne, an denen die Kunst ganzer Völker ihr Bestes ver-
schwendete, Throne, die Macht und Herrlichkeit ihrer Besitzer
zur sinnenfälligsten Geltung brachten, schildern uns Dichtung
und Phantasie der Völker gern, vor allem die des Orients. Zu
diesen Thronen führen goldene Stufen empor, der Thronsessel
funkelt von Juwelen, Edelsteinen und den erlesensten Kostbar-
keiten, seltsame und ungeheuerliche Tiere halten daran Wacht:
und es wird sogar erzählt, dafs diese Tiere wie wirkliche Tiere
ihre Stimme erschallen liefsen, und dafs sie vermittels eines
künstlichen Mechanismus den König auf den Thronsessel hoben,
wenn er den Thron bestieg.
Derart etwa wird in spätjüdischer Dichtung der Thron des
Salomo geschildert.1 Von ihm wurde aufserdem gefabelt, dafs
die sämtlichen Tiere — ein wildes und ein zahmes standen sich
jeweils gegenüber — ein mifstönendes Geschrei erhoben, sobald
jemand vor dem Thron eine Lüge aussprach, und dafs Nebu-
kadnezar den Thron besteigen wollte, die Tiere des Thrones aber
1 Vgl. Paulus Cassel, Wissenschaftliche Berichte der Erfurter AJcademie
I (1853), 56—133.
278 Zur Entstehung de* Märchens.
machten ihm diese Besteigung unmöglich. Erst Kyrus war des
Thrones wieder würdig.
Diesem letzten Motiv ist die folgende indische Geschichte
bei Somadeva ähnlich:1 Ein König kommt in eine menschenöde,
wunderbare Stadt, er erblickt dort einen edelsteinprangenden
Thron und will sich daraufsetzen: ein Geist verbietet es ihm,
dieses Thrones seien nur Unsterbliche würdig. Aber als der
König sich zu erkennen gibt als Boten des berühmten Vikramä-
ditya, darf er den Thron besteigen, und die Geister dienen ihm.
Dies Märchen wurde zu einem Rahmenmärchen ausgebildet:
der Thron, hiefs es, war nach dem Tode seines berühmten ersten
Besitzers vergraben, und wer über dem Throngrabe lebte, dem
teilten sich besondere Gaben mit, sei es ungewöhnliche Klugheit, -
sei es ungewöhnliche Freigebigkeit.3 Durch diese Gaben wurde ein
kluger König aufmerksam, er liefs an der Stelle nachgraben und
fand einen prachtvollen Thron, rechts und links umgaben ihn im
Halbrund je sechzehn Figuren. Als er sich nun auf den Thron
niederlassen will, erhob sich eine der Figuren und hielt ihn zurück ;
du darfst nicht auf den Thron, sagt sie, es sei denn, du wärest
gerecht und klug wie jener König, dem er gehörte. Und sie er-
zählt ihm eine Geschichte von der Weisheit jenes Herrschers.
Wie die erste, so die folgenden: bis der König alle zweiund-
dreifsig Geschichten hörte und nun, da er die gesamte Weisheit
jenes Thronbesitzers in sich aufnahm, auch auf dessen Thron
sitzen darf.
Hier hat sich also eine Geschichte zu zweiunddreifsig ver-
vielfacht, die Klugheit des ersten Thronbesitzers wird aufserdem
1 XVIII, 124 (Tawney II, (514 f.).
2 So bei Jülg, Mongol. Märchen, Innsbruck 1860, 197 f., und ursprüng-
lich auch in der persischen, einer indischen Rezension entstammenden
Fassung, Senguehassen Battisi (deren Held Bekermadjiet), S. 45 f. Diese
persische Fassung, mir nur aus der sehr seltenen Übersetzung Lescalliers
(Le trone enchante, traduit du persan, New York, imprimerie de Desnoues,
1817) bekannt, hat für den Märchenforscher vielerlei Interesse. Einmal durch
merkwürdige Motive (Toter Vogel wird, wie er ergriffen werden soll, lebendig
und entfliegt immer seinem Verfolger; Traummotiv? — König regiert nur
für einen Tag und wird nachts von einem bösen Geist aufgefressen, ebenso
alle seine Nachfolger, vgl. Frazer, Golden Boagh, Einleitung), dann durch ihre
merkwürdige Mittelstellung zwischen der mongolischen und der späteren
indischen, von Albrecht Weber herausgegebenen Form der Throngeschichte,
drittens durch ihre Beziehungen zum persischen und türkischen Papageien-
buch, viertens durch ihre Ähnlichkeiten mit der indischen Vetälapanca-
vimcati, von der sie offenbar eine Reihe Märchen übernahm: der Inhalt
beider Sammlungen, insofern sie von den Taten und Abenteuern eines
klugen und tapferen Königs erzählen, berührt sich ohnehin vielfach, frei-
lich kommt der König vom verzauberten Thron dem Ideal des buddhisti-
schen Herrschers näher.
3 So im späteren Indischen, vgl. Albrecht Weber, Indische Studien XV
(1878), 217 f.
Zur Entstehung des Märchens. 279
nicht einfach behauptet, sondern sie lebt in einer Fülle von Ge-
schichten immer von neuem auf, der König wird so lange zurück-
gehalten, bis er die ganze Weisheit des Thrones hört, und dabei
ist das Motiv von höchst eigentümlicher Wirkung, dals diese
toten Bildsäulen Leben erhalten, aber nur, damit sie das Ver-
mächtnis des früheren Herrschers der Nachwelt überliefern kön-
nen, dann sinken sie wieder in die alte Leblosigkeit zurück. Die
Inder haben hier ein altes Motiv nicht allein kompliziert, ver-
vielfacht, seinen Schlufs hinausgeschoben, wie in der Vetäla-
pancavimcati auch, sie haben es äufserlich ins Märchenhafte und
zugleich innerlich ins Lebenstiefe gesteigert: und das ist auch
eine Kunst, deren nur sie fähig waren.
Auch die Cukasaptati x entstand aus einem einfachen Mär-
chen: Ein Kaufmann verreist und läfst seine Frau unter dem
Schutz eines Papagei enpaares zurück. Kaum ist er aus dem
Kause, so will die Frau das Ehebrechen anfangen, der jüngere
Papagei warnt sie, trotz Abraten des älteren, und wird von der
erbosten Herrin sofort umgebracht, der ältere Vogel schweigt,
erzählt aber dem zurückkehrenden Kaufmann alles, was er mit
ansah, und fliegt davon. 2 Solche Anekdoten von Frauen, die
unter dem Schutze kluger Vögel zurückgelassen werden, wenn
der Mann verreist, waren keine indische Spezialität, die alten
Griechen kannten und verbreiteten ähnliches auch.3 In den
Cukasaptati wird der unbequeme Warner, eine Krähe, gleichfalls
umgebracht; nun aber kommt die Erweiterung: der Papagei
schweigt nicht, er fordert die Frau sogar auf, zu gehen und
ihre Jugend zu geniefsen, nur, fährt er fort, wenn du ertappt
wirst, sei so klug wie . . ., und nun erzählt er eine Geschichte,
meist vom Ehebruch. Im spannendsten Moment, wenn wir glau-
ben, nun wird die Schuldige ertappt, und wenn wir gar keine
Lösung mehr sehen, hält er ein und erzählt nicht weiter, bevor
ihm die Frau versprochen, sie werde heute nicht gehen. Das
wiederholt sich siebzigmal, bis der Kaufmann wiederkommt, seine
Frau ist ihm nun treu geblieben, der Papagei wird belohnt, und
das Märchen endet in eitel Glück und Frieden.
1 Tiextus) s{implicior), übersetzt von E. Schmidt, Kiel 1894; T(extus)
o(r?iatior), übers, von demselben, Stuttgart 1899.
2 Vgl. Jätaka, übers, von Cowell, Nr. 98 und 145. — Die Geschichte
ist auch dahin erweitert, dafs nur e i n Papagei existiert, der schweigt,
dem zurückkehrenden Manne aber das Betragen der Frau erzählt, und
diese täuscht nun, indem sie den Käfig verdunkelt und Lärm macht, dem
Vogel ein Gewitter vor. Als er am folgenden Morgen dem Kaufmann von
diesem Gewitter erzählt, hält dieser ihn für einen elenden Lügner und
glaubt der Frau. Dies Märchen kam durch den Siddhapati nach Europa.
Vgl. Chauvin, Bibliographie Arabe VIII, 36 f.
3 Vgl. Marx, Griechische Märchen von dankbaren Tieren und Verwandtet
S. 54 Anm. 2. 77.
280 Zur Entstehung des Märchens.
Bei dieser Erweiterung konzentriert sich die Spannung auf
den erzählenden Papagei, und es ist einfach erstaunlich, wie der
Papagei seine Geschichten in Szene setzt, und wie er sie immer
gerade so abbricht, dafs ein Ausweg unmöglich scheint und wir
uns doch immer besinnen, wie er wohl sein möchte. Freilich
wiederholt sich die gleiche Pointe in der Cukasaptati zu oft,
wir werden ihrer überdrüssig, und das Raffinement hebt sich
durch sich selbst auf. Das ist auch eine Eigentümlichkeit, eine
der Kehrseiten der indischen Erzählungskunst.
Die Rahmenerzählung der Cukasaptati drang über die in-
dischen Grenzen hinaus zu den Persern und zu den Türken, '
kam also an die Schwelle des Abendlandes.
Die Rahmenerzählung des Siddhapati ist in Indien verloren,
läfst sich aber aus den aufserindischen Fassungen herstellen und
kam nach dem Abendlande. In ihr (d. h. in dem Teile, der uns
hier interessiert) sind zwei Geschichten verbunden und dann er-
weitert. Einmal eine der vom Weib des Potiphar sehr ähnliche:
die Frau eines Königs will dessen Sohn verführen, er sträubt sich,
sie verklagt ihn beim König, er habe ihr nachgestellt; der König
glaubt ihr und will ihn zum Tode verurteilen. Zweitens die
durch eine Doppelgeschichte, eine von einem schlechten Mann
und eine von einer schlechten Frau gerade in Indien oft aus-
getragene Streitfrage: wer ist schlechter, die Männer oder die
Frauen?2 Beide Fabeln sind im Siddhapati derart ineinander
geschoben: der zum Tode verurteilte Prinz muf's sieben Tage
schweigen infolge eines bestimmten Gelübdes und kann sich nicht
verteidigen. Daher gibt der König den Befehl zur Hinrichtung,
aber in diesem Augenblicke tritt ein Minister vor und gebietet
Einhalt: der König möge der Frau nicht glauben, die Frauen
seien heimtückisch und schlecht; zum Beweis erzählt er eine
Geschichte. Der König, überzeugt, zieht den. Hinrichtungsbefehl
zurück. Da erhebt sich die Frau, um eine Geschichte von der
Niedertracht der Männer vorzutragen, mit dem Erfolge, dafs der
König den Hinrichtungsbefehl wiederholt. Ein zweiter Minister
erwidert mit einer Geschichte von der Niedrigkeit der Frauen,
und so geht es weiter, bis die sieben Tage mit Geschichte und
Gegengeschichte ausgefüllt sind, der Prinz sprechen darf und die
gerechte Strafe über die schuldige Frau kommt.
Man erkennt leicht die gleiche Technik wie in den früheren
Fällen: wie in der Vetälapancavimcati entsteht die Rahmen-
geschichte aus zwei Fabeln: die Geschichten werden immer in
dem Augenblicke vorgetragen, in dem es sich um Tod oder Leben
1 Tuti Nameh, übers, von Iken, Stuttgart 182 1 ; Tuti Nameh, das Papa-
geienbuch, übers, von Georg Rosen, Leipzig 1858.
2 Vgl. z. B. Vetälapancavimcati Nr. 3.
Zur Entstehung des Märchens. 281
handelt, und sie können immer neue Aufmerksamkeit verlangen,
da es sich um eine unlösbare Frage handelt, deren Lösung doch
immer von neuem versucht wird.
Dieser Siddhapati blieb uns in vielen abendländischen und
morgenländischen Rezensionen erhalten, er wanderte durch die
ganze mittelalterliche Welt und hinterliefs in ihrer Literatur über-
all tiefe Spuren, denn er war eins der verbreitetsten und gelesen-
sten Märchenbücher.1
Auch die Rahmenerzählungen des Pantschatantra — es sind
in den ersten vier Büchern einfache, in der buddhistischen Lite-
ratur erhaltene Fabeln, durch eine Fülle von Geschichten aus-
einandergerissen, die immer wieder eine in die andere geschoben
werden*2 — kamen von Indien nach anderen asiatischen Ländern
und nach Europa, wo man sie übersetzte, umarbeitete und er-
weiterte. 3
Da nun die vorgeführten Beispiele zeigen, dafs in Indien
die Technik der Rahmenerzählung besonders produktiv ist, dafs
sie dort fein ausgebildet und virtuos beherrscht wurde, da zwei
dieser indischen Rahmenerzählungen aufserdem nach Europa
kamen und die Vorliebe für Einschachtelungen eine orientalische
ist, darf man die Inder getrost die Erfinder der Rahmenerzäh-
lungen nennen. Wenn abendländische Erzähler, etwa Boccaccio
und seine Nachahmer, ihre Geschichten in einen Rahmen ein-
ordnen, so folgen sie bewufst oder unbewufst dem indischen
Vorbilde.
Wir konnten auch die seltsame Vollendung der indischen
Erzählungskunst in verschiedenen Fällen verfolgen. Und wir be-
obachteten, dafs diese Erzählungskunst von Geschichten und Mo-
tiven ausgeht, die gar nichts Besonderes oder Bemerkenswertes
haben, die auch andere Völker erfanden oder erfinden konnten.
Das ist eben der Schlüssel für die Beantwortung der Frage
1 Bibliographie jetzt bei Chauvin Bd. VIII (1904) Syntipas, bes. 33 f.
2 Buch I = Jätaka 349; Buch II = Jätaka 306; Buch III = Jätaka
270; Buch IV = Jätaka 208 (vgl. 57. 224. 342).
3 Die Rahmenerzählung von Tausendundeiner Nacht ist wohl auch in
Indien entstanden. Jedenfalls begegnet ihr Hauptmotiv schon frühzeitig
in der indischen Literatur, und die Auffassung der Frauen, die daraus
spricht, ist durchaus buddhistisch. Der Inhalt ist im Indischen etwa der:
Zwei Männer, empört über die Untreue ihrer Frauen, ziehen in die Welt
und sehen abends einen Drachen, der aus seinem Innern eine Frau heraus-
holt, er ergötzt sich mit ihr und schläft dann ein. Sie bemerkt die Frem-
den, die sich versteckt hatten, verlockt sie zum Beischlaf und zeigt ihnen
an Ringen, die sie besitzt, dafs sie den Drachen, der bei ihr, die er in
sich aufbewahrte, jede Untreue ausgeschlossen wähnte, schon hundertmal
betrog. Jätaka 4:56; Somadeva X, 63 (Tawney II, 79), X, 64 (Tawney
II, 9:-5; dort seltsam mit der Geschichte vom Meisterdieb verbunden);
Chauvin V, 190. VIII, 59. — Man vergleiche auch Ariost, Rasender Roland,
28. Gesang.
282 Zur Entstehung des MärchenB.
nach dem Einflui's der indischen Märchen : diese Märchen haben
genau die gleiche Herkunft wie die der anderen Völker auch,
nirgends aber sind diese Motive mit solchem Geschick erfafst,
nirgends alle nur möglichen Wirkungen so erkannt, nirgends sind
sie so märchenhaft gesteigert und vervielfältigt wie in Indien.
Dadurch wurden diese Märchen zu so einzigartigen Gebilden,
deren Zauber sich die ganze Welt nicht entziehen konnte.
Aber es bedarf noch mancher Beispiele, bis diese Behaup-
tung einleuchtend und überzeugend bewiesen ist.
II. Zauber- und Verblendungsmärchen. Ich führe
nun einige Märchen mit Zauberei, Spiegelung und ähnlichen Mo-
tiven vor: die ersten zeigen, dafs die Inder aus allgemeinen und
auch sonst verwerteten Motiven Märchen schufen, die uns als
etwas ganz Neues überraschen, die späteren, dafs gerade die in
Indien emporgehobenen Märchen nach Europa wanderten.
Wir greifen zuerst wieder auf Bekanntes zurück. Viele Völker
kennen, wie wir erfahren, das Motiv vom Zauberschlaf (vgl. oben
Archiv CXIII, 253): die Inder erzählen es märchenhafter, zauber-
schöner und zugleich tiefer als alle anderen: nur der Leib eines
Mädchens weilt auf dieser Erde, ihre Seele schläft in einem
fremden, goldenen Wunderland, und sie darf nur dem gehören,
der in dies Wunderland eindringt. — Und: die goldene Pracht
des Paradieses stellen auch die Märchen anderer Völker weh-
mütig und resigniert der dürftigen Armut dieser Erde gegenüber
— in keinem Märchen aber erscheint der Gegensatz so unmittel-
bar, so demütigend und so hoffnungslos wie im indischen: nach
langer Wanderung, nach kaum überwindlicher Mühsal erkämpft
sich der Märchenheld den Eingang zum Paradies, und in einem
Augenblick wird er vom Himmel auf die Erde herabgeschleudert. '
Schon primitive Völker und die alten Kulturvölker erst recht
hatten, wie wir bemerkten, an Zauberstückchen ihre Freude: ein
Zauberer täuscht etwa einem Mädchen einen reiisenden Strom
vor, sie hebt die Röcke ganz in die Höhe und sieht unter dem
Gelächter der Anwesenden zu ihrer Beschämung, dafs sie einen
kleinen Bach, der ihr kaum die Füfse netzte, für den ungeheuren
Strom gehalten.2
Die jüdische Sage erzählt ein sehr ähnliches Motiv, aber
nicht als Zauberstück, sondern als Sinnestäuschung: König Salomo
hat in seinem Palast einen kristallenen Fufsboden; als die Köni-
gin von Saba kommt und diesen sieht, hebt sie die Röcke hoch
1 Vgl. von der Leven, Indische Märchen 187 f. ; Benfey, Pantschatantra
I, L52.
2 Vgl. oben Archiv CXIII, 266, wo auch über die Herkuuft des .Mo-
tivs, ausserdem Voretzsch, Epische Studien 264; [Liebrecht, Zur Volks-
feinde 115.
Zur Entstehung des Märchens. 283
in die Höhe, in der Meinung, es sei Wasser, und zeigt dabei
ihre Beine. Salomo hatte die Herrscherin absichtlich getäuscht,
um zu erfahren, ob sie dämonischer Abkunft sei und tierische
Beine habe.1
Im Indischen erscheint das gleiche Motiv mehrfach variiert.
Die Cukasaptati (textus simplicior 60) berichtet vom klugen Hari-
datta, dem ein anderer Fürst seine Prunkhalle zeigte; als er die
von mannigfachen Edelsteinen funkelnde Halle erblickte, konnte
er nicht unterscheiden, ob sie aus Wasser oder fester Masse be-
stehe, da warf er eine Betelnufs hin, erkannte, dafs es kein
Wasser war, und ging heim.
Im Indischen und Jüdischen ist die Sinnestäuschung das
Hauptmotiv, die Königin von Saba unterliegt ihr, der kluge in-
dische Minister beugt ihr vor.
Auch nach der entgegengesetzten Richtung haben die Inder
das gleiche Motiv gesteigert. Im Mahäbhärata hat der König
Judhishthira einen kristallenen, mit lotosgleichen Edelsteinen be-
deckten Estrich, den hält Durjodhana für einen Wasserteich und
zieht seine Kleider in die Höhe, nachher hält er einen wirklichen
Teich für einen künstlichen und fällt hinein.
Die Inder verdoppeln hier die Sinnestäuschung und erhöhen
dadurch ihre Komik. Denn der Getäuschte, der zum Schlufs
wirklich ins Wasser fällt, gerade darum, weil er die erste Be-
schämung vermeiden will, wirkt viel komischer als der, der nur
einmal begreiflicherweise einen Kristallboden für Wasser gehalten
hat. Dieser Kristallboden scheint im Indischen einem Teich da-
durch noch ähnlicher, dafs ihn Edelsteine bedecken, die den
Lotosblumen im Teiche gleichen.
Da nun nur im Indischen und Jüdischen der Kristallboden
und die Sinnestäuschung statt der Verzauberung begegnen, liegt
die Annahme nahe, dafs die jüdischen und indischen Versionen
unmittelbar zusammenhängen. Wer der Gebende war, ob Juden
oder Inder, läfst sich kaum feststellen. Jedenfalls haben die
Inder dies Spiegelungsmotiv vielfältiger zur Geltung gebracht,
sie haben es auch zu einer Reihe anderer, lustiger und tief-
sinniger Geschichten ausgesponnen.2
1 Wilhelm Hertz, Rätsel der Königin von Saba (Gesammelte Abhand-
lungen S. 421 f. 427 Anm. 2).
2 Ich erwähne hier die folgenden : Cukasaptati, textus omatior 50 :
Eine Stiefmutter mifshandelt ihren Stiefsohn. Dieser, um sich zu rächen,
sagt dem Vater: ich habe einen zweiten Vater. Der glaubt der Verleum-
dung und mifshandelt nun die Frau; sie ahnt die Hache ihres Stiefsohnes
und verspricht ihm feierlich die beste Behandlung, wenn er den Vater
versöhne; da zeigt der Sohn dem Vater dessen Bild im Spiegel: das ist
mein zweiter Vater, sagt er. Und nun leben alle drei im Frieden. — Zu
vergleichen wäre damit die Geschichte Cukasaptati. t. s. 28, t. o. 37 (s. Lieb-
recht, Zair Volkskunde 135 ; Chauvin VIII, 98) : Eine Frau geuiefst ihren Lieb-
284 Zur Entstehung des Märchens.
Uns allen ist ein Spiegelungsmotiv ans einer wunderhübschen
griechischen Fabel bekannt: ein Hund trägt ein Stück Fleisch im
Maul, sieht, wie sich dasselbe Fleisch im Wasser spiegelt, hält
es für ein anderes, gröfseres, und schnappt danach, wobei ihm
sein Fleisch fortfällt, so dafs er nun gar nichts hat. '
Die Inder erzählen eine ganz ähnliche Fabel so: ein Schakal-
weibchen mit einem Stück Fleisch im Maul kommt an einen
Flufs, an dessen Ufer ein grofser Fisch liegt. Es legt das Fleisch
fort und schnappt nach dem Fisch: aber ein Geier stürzt sich
aus der Luft herab und entführt das Fleisch, und der Fisch
taucht in das Wasser zurück.
Dem Inder war das eine Tier der griechischen Fabel nicht
genug, er verdreifachte die Tierzahl und führte Schakal, Fisch
und Geier in die Fabel ein: ein Tier des Landes, eins der Luft
und eins des Wassers. Das indische Schicksal bestraft den gie-
rigen Schakal mit ausgesuchter Bosheit: gerade die geringeren
Tiere, Geier und Fisch, überlisten ihn und er ist doppelt be-
trogen, durch zwei Ereignisse, die er gar nicht erwartet, und die
blitzschnell gleichzeitig kommen. Aber dies Raffinement gehört
nicht in eine Geschichte, die gerade durch ihre Einfachheit so
eindringlich wirkt, und durch dies Raffinement verschwand gerade
das Wesentliche an ihr, dafs der Hund ein wirkliches Fleisch
um eines gespiegelten willen fallen läfst. Im Griechischen straft
sich vor allem die Dummheit, im Indischen die Gier des Tieres:
es ist hier keineswegs aus Zufall ein Weibchen. Und im In-
dischen wird die Fabel noch weiter gebildet: die tierische Gier
wird mit der noch gröfseren und verblendeteren menschlichen
haber unter einem Baum, als ihr Mann sie ertappt, lügt sie, der Baum sei
verhext, wer unter ihm liege, erscheine doppelt, und zwar habe er als Mann
immer eine Frau und als Frau einen Mann neben sich liegen. Sie steigt
zur Probe sofort auf den Baum und entrüstet sich über den Mann, der in
den Armen einer anderen liege: er glaubt ihr und ist versöhnt. — Und
nun eine ernsthafte Geschichte buddhistischer Färbung (Somadeva XII, 72 ;
Tawney II, 182): Ein Papagei klagt seinem gestorbenen Weibchen nach.
Buddha, auch als Papagei, mahnt ihn, die nutzlose Klage zu lassen: das
Weibchen sei als anderer Papagei wiedergeboren und habe ihn längst ver-
gessen. Er führt den törichten Vogel ans Wasser und zeigt ihm sein
Spiegelbild: das ist deine Frau. Der Papagei, entzückt, holt ihr die
schönste Frucht und läfst sie ins Wasser fallen, tieftraurig sagt er dem
Buddha: sie nahm sie nicht. Ja, antwortet er, du bist ihr eben gleich-
gültig. Und dann nimmt er den Vogel mit sich und schaut, zärtlich sich
an ihn schmiegend, mit ihm in ein anderes Wasser, und nun überzeugt sich
der Witwer wirklich, dafs sie ihn vergessen, bei einem anderen Trost ge-
funden, und ist geheilt. — Ursprünglich war das gewifs eine lustige Fabel,
die die Dummheit des Papageien verspottete, durch den Buddhismus
wurde ein wunderlich weiser Betrug daraus, und die Anschauung klingt
deutlich hindurch: die ganze Welt ist solche trügerische Spiegelung.
> Pantschatantra IV, 8; Jätaka 374; Benfey I, 79. 179. 348; Schiefner
Ralston, Tibetan tales 229.
Zur Entstehung des Märchens. 285
verglichen. Das ist ein echt buddhistischer Gedanke. Eine Frau
— erzählt das Pantschatantra — stahl ihrem Mann das Vermögen
und ging mit einem Schelm auf und davon. Sie kamen an einen
Flufs: da sagte der Schelm, er wolle erst das Geld und dann sie
hinübertragen, und damit sie noch leichter würde, solle sie ihm
auch ihre Kleider geben. Sie tat es, und er ging davon, so dafs
sie ohne Geld, ohne Kleider und ohne Manu sitzen blieb. In
diesem Zustande sah sie das Schakalweibchen, das sich um sein
Fleisch brachte, und glaubte< das Tier verhöhnen zu müssen, das
aber den Hohn treffender zurückgab: ihre, der Menschin, Tor-
heit sei noch viel gröfser.
Wir haben hier ein Beispiel, dafs eine wunderhübsche, wirk-
same kleine Geschichte durch die indische Erzählungskunst ent-
stellt, in ihrem Wesen unkenntlich gemacht und in etwas ganz
anderes verwandelt wird: eben weil die Inder von ihrem Raffine-
ment und die Buddhisten von ihrer Weltanschauung nicht lassen
können, bringen sie beides in Fabeln, die das gar nicht vertragen.
Die Entstellung zeigt somit, unwiderleglicher noch als die Steige-
rungen und Vertiefungen von Motiven, die wir kennen lernten,
wie eng indisches Raffinement, indische Erzählungskunst und
indische Weltanschauung zusammenhängen.
Benfey behauptete nun, dafs die meisten indischen Tierfabeln
aus Griechenland stammten, während die Märchen, mit der Ge-
schichte von den Ohren des Midas als einziger Ausnahme, von
Indien aus durch die übrige Welt gewandert seien. Diese Schei-
dung läfst sich nicht aufrechterhalten. Auf die indischen Fabeln
kann ich hier nicht eingehen: mir scheint, dafs sie selbständiger
sind, als Benfey zugab, die Untersuchungen anderer müssen
zeigen, was an ihnen original war und was stark genug zum
Einflufs auf andere Völker. Die indischen Märchen aber sind
von denen anderer Völker nicht so unabhängig, wie Benfey
meinte, manche griechische Geschichte, wohl auch jüdische und
ägyptische, drangen in sie ein — wir werden noch manches derart
zu betrachten haben — und wurden weiterentwickelt; entwickelt
freilich durch eine Erzählungskunst, die aufserhalb Indiens nicht
ihresgleichen hat. — ■
Ich komme nun noch einmal zu den Visionen. Dem durch
Haschisch Berauschten erscheint 'ein kleiner Stein als gewaltiger
Felsblock, ein schmales Rinnsal als breiter Strom' (vgl. oben Archiv
CXHI, 266). In einem indischen Märchen ist von einem Prinzen
erzählt, den ein Geist (Räkschasa) verfolgt. Als dieser ihn packen
will, wirft er etwas Erde hinter sich, es entsteht ein Berg. Der
Räkschasa übersteigt ihn und kommt dem Prinzen wieder nahe:
er wirft etwas Wasser hinter sich, es entsteht ein Strom, der
Räkschasa durchschwimmt ihn; er wirft Dornen hinter sich, es
entsteht ein Wald, der Räkschasa will ihn durchschreiten, da
286 Zur Entstehung des Märchens.
wirft er Feuer hinein, und vor dem gewaltigen Brande kehrt
der Kiese um.1
Diese Episode des indischen Märchens hat die Eigentümlich-
keiten der indischen Erzählungskunst: das gleiche Motiv, vierfach
variiert und vierfach gesteigert, und es bleibt nicht ein Erzäh-
lungsmotiv, es greift rettend und helfend in die Handlung ein:
im Moment, in dem wir den Verfolgten verloren glauben, wirft
er Erde, Wasser, Dornen und Feuer hinter sich, und zu unserer
staunenden Überraschung vergröTsern sich und wachsen diese un-
scheinbaren Dinge ins unendliche, bis auch der Geist mit über-
irdischen Kräften vor ihnen umkehrt.
Die gleiche Verfolgungsgeschichte — natürlich variieren die
zurückgeworfenen Gegenstände — erscheint auch als Episode in
vielen aufseriudischen Märchen; freilich nirgends so klar und an-
schaulich erzählt wie im indischen selbst. Da nun die Entwicke-
lung dieser Episode aus dem einfachen Motiv durchaus der Ent-
wicklung entspricht, die wir bei den auf Indien beschränkten Mär-
chen beobachteten, haben wir hier ein sehr augenfälliges Beispiel
von dem Einflufs und der Wirksamkeit eines indischen Märchens. 2
Der Zauberer ist, wie ich vielleicht schon zu oft betonte,
bei allen Völkern charakterisiert durch seine unbegrenzte Ver-
wandelungsfähigkeit. Er kann jede Gestalt annehmen, die er an-
nehmen will, er kann etwa als Vogel und Fliege, als Fuchs und
als Stier, als Gerstenkorn und als Ring, auch als Mensch,3 er
kann zu ungeheurer Gröfse anschwellen und zu unbemerkbarer
Winzigkeit zusammenschrumpfen. Aus diesem Glauben haben
sich märchenhafte Geschichten früh entwickelt. Von Zeus er-
zählten die Griechen, er habe eine Zauberin Metis, die verschie-
dene Gestalten annehmen konnte, verschluckt, als sie in eine
Fliege sich verwandelte.4 Dieser Geschichte steht sehr nahe die
uns durch den gestiefelten Kater bekannte: der gestiefelte Kater
bittet einen mächtigen Zauberer, er solle sich doch in eine Maus
verwandeln, der Zauberer erfüllt die Bitte, der Kater stürzt auf
die Maus zu und verschluckt sie.3
1 Somadeva VII, 39; vgl. Hertel, Bunte Geschichten 101 ff.
2 Vgl. Eeinhold Köhler I, 173. 175; Cosquin Nr. 32; Benfey, Göttinger
Gelehrte Anzeige», 1862, 1220 f.
3 Man vergleiche die Geschichten, in denen ein Zauberer die Gestalt
eines anderen, der verreist ist, annimmt, bis er schliefslich entlarvt wird.
Die abwechselungsreichste und überraschendste dieser Geschichten entstand
auch in Indien und hat sich von dort aus verbreitet; siehe oben Archiv
CXI V, 1 Anm. 4 ; dazu Lescallier, Trotte enchante 130 f. ; Chauvin VIII, 157.
4 Vgl. Andrew Lang, Myth, Ritual and Religion 1, 314. Bei Saxo
Grammaticus kann die Zauberin Harthgrepa alle Gestalten annehmen
(I, 21 ed. Holder S. 37).
5 Vgl. Reinhold Köhler: zu Laura Gonzenbach Nr. 65 (Zs. des Vereins
für Volkskunde 6, 165); Kieme Schriften I, 28. 371. 416. 558; Archiv für
Zur Entstehung des Märchens. 287
Die Inder kannten solche Geschichten auch, und am hüb-
schesten ist eine dieser Art und indischer Herkunft in Tausend-
undeiner Nacht erzählt: Ein Fischer fand einen in einer Flasche
verschlossenen Geist und befreite ihn aus seiner Haft. Da ver-
wandelte sich der Geist sofort in ein fürchterliches Ungeheuer
und rief dem Befreier zu, er müsse ihn nun morden. Doch jener
antwortete, er glaube nicht, dafs dies Ungeheuer, was der Geist
nun sei, vorher in der kleinen Flasche habe Platz finden können,
und bat ihn, er möge doch wieder zurückkriechen: der Geist,
stolz auf seine Kunst, erfüllte die Bitte, der Fischer verschlofs
sofort die Flasche und warf den Geist ins Meer zurück.1
Dies indische Märchen unterscheidet sich von den euro-
päischen, insofern wir bei ihm erleben, wie der Geist zuerst ohn-
mächtig ist, dann überwältigend und toddrohend anschwillt und
zum Schlufs infolge seiner törichten Eitelkeit sich wieder in seine
frühere Ohnmacht zurückbringt. Aufserdem triumphiert im In-
dischen ein Mensch, kein Tier mit übernatürlichen Kräften und
kein Gott, über den Geist.
Die Geschichte in Indien ist also sinnenfälliger, im Aufbau
symmetrischer, wir sehen den jähen Übergang von Ohnmacht
zur Übermacht und zur Ohnmacht zurück, und die Geschichte
ist im Inhalt freier, im menschlichen Sinne reicher als die euro-
päischen Parallelen. Darum hat sie sich auch in der ganzen
Welt durchgesetzt und lebt bei vielen Völkern, auch bei den
Deutschen, als Volksmärchen. Sie gelaugte namentlich durch
die Vermittelung der Araber nach dem Abendlande. —
Zauberer liebten es, ihre Künste im Wettkampfe zu erproben
und zu vergleichen, davon erzählten die Völker gern, denn solche
Wettkämpfe enthielten gleich mehrere Zauberstücke und -geschien-
ten auf einmal. Aus dem alten Ägypten sind uns Geschichten von
Zauberwettkämpfen erhalten, und an den mit diesen verwandten
Rätselwettkämpfen hatten die Dichter der Edda die gleiche Freude
wie die des Orients.'2 Es wurden auch Verwandlungswettkämpfe
erzählt: alte Mythen, aus dem Veda und der Edda, melden als
kühne Tat eines Gottes, dafs er, in einen Vogel verwandelt,
einen Trank raubte, und dafs der Besitzer des Trankes, auch als
Vogel, ihn verfolgte.3
Die Inder haben ein Märchen, darin verfolgen sich zwei
Zauberer und messen sich gleichzeitig in einem Verwandlungs-
slaw. Philologie VII, 314; Cosquin I, xxxii; ders., Les contes populaires et
leur origine, 1895, S. 23; Wünsche, Sagenkreis vom geprellten Teufel, 1905, 97.
1 Vgl. oben Archiv CXIII, 267 und die dort angegebene Literatur.
Dazu Chauvin VI, 25 Anna. 3.
2 Vgl. von der Leyen, Märchen in Edda 51; ß. Köhler III, 365 f.
3 Kuhn, Herabkunft des Feuers2 138; von der Leyen, Germanist. Ab-
handlungen für Paul 147 f.; Usener, Götternamen (1895) 204 Anm. 1.
288 Zur Entstehung des Märchens.
wettkampf, aber in einem Kampf auf Leben und Tod. Beide
verfolgen sich zuerst als Vögel, der Verfolgte wird zum Ring
an der Hand einer Königstochter, der Verfolger, in einen Mann
verwandelt, kauft ihn der Königstochter ab, der Ring verwandelt
sich in Gerstenkörner, der Mann in einen Hahn, der die Gersten-
körner auffrifst, das letzte Gerstenkorn in einen Fuchs, der den
Hahn totbeifst. Schlag auf Schlag folgen sich die Verwand-
lungen, so dafs wir kaum Atem holen können; eine Verwand-
lung ist überraschender als die andere, und immer bleiben der
Verfolgende und der Verfolgte zugleich in fortwährend wechseln-
der Lebensgefahr, wir wissen bis zum Schlufs nicht, wer Sieger
bleibt, und endlich siegt gerade der Verfolgte, von dem wir
dachten, dafs er doch unterliegen würde.
Kein anderes Volk hat einen Verwandlungskampf so auf-
regend, mit dieser Fülle von Überraschungen und in diesem
überstürzenden Tempo erzählt wie die Inder. Wir erkennen —
und damit beweist sich, dafs dies Märchen nur in Indien ent-
standen sein kann — auch sofort die Eigentümlichkeiten ihrer
Erzählungskunst: Vervielfältigung eines alten Motivs, dies Motiv,
der Verwandlungsvvettkampf, wird gesteigert zu einem Kampf
auf Leben und Tod, und die Spannung bleibt während des
ganzen Märchens die gleiche. Dies Märchen ist nun wieder sieg-
reich durch die ganze Welt gezogen, in Einzelheiten abweichend,
im grofsen und ganzen das gleiche, kehrt es fast bei allen euro-
päischen Völkern wieder, von der Türkei bis zur Bretagne und
bis zum hohen Norwegen.1
Die echt indischen Eigentümlichkeiten des Märchens werden
recht anschaulich, wenn man es mit einem anderen verwandten
Inhalts vergleicht, das sich auch weit verbreitet hat, mit dem
Märchen vom Riesen ohne Seele. Dessen Seele ist meist 'ein-
geschachtelt' — in einem Ei, dies in einem Vogel, der in einem
Widder. Der Held, der den Riesen besiegen soll, hat dies Ge-
heimnis erfahren, und mit Hilfe dankbarer Tiere bemächtigt er
sich der Seele: ein Hund besiegt ihm den Widder, ein Habicht
die auffliegende Ente, ein Fisch holt das aus dieser herabfallende
Ei aus dem Wasser; er zerdrückt es und tötet dadurch den
Riesen. Das Märchen entsprang, wie schon dargelegt wurde (oben
Archiv CXV, 8 Anm. 2), aus uralten Vorstellungen von der Seele,
diese Vorstellungen wurden ineinander geschachtelt. Die Vor-
gänge entwickeln sich hier nun langsam, einer nach dem anderen,
man möchte fast sagen programmäfsig, wir sind gar nicht im
Zweifel, dafs der Held die Seele des Riesen endlich packt, und
von dessen Qual und Angst hören wir gar nichts oder wenig,
1 Clouston, Populär Tales and Fietions 1,413; Benfey I, 410; R. Köhler
I, 138.
Zur Entstehung des Märchens. 289
je nach der wechselnden Begabung der Erzähler; denn weit von
dem Riesen wird seine Seele gefangen und vernichtet, er selbst
ist eigentlich gar nicht dabei. Die ganze Lebendigkeit, die atem-
lose Spannung und die überschnelle Steigerung1 des indischen
Märchens fehlt hier.2
1 Ein ähnliches überstürzend rasches Tempo hat die indische Ge-
schichte von den Honigtropfen im Siddhapati, vgl. Chauvin VIII, 41 f.:
Tropfen von Honig, den ein Jäger gefunden, fallen bei einem Bäcker auf
die Erde, Mücken setzen sich auf den Honig, die Katze des Bäckers stürzt
sich auf die Mücken, der Hund des Jägers auf die Katze, tötet sie, der
Bäcker tötet den Hund, der Jäger entzweit sich mit dem Bäcker, die
Dörfer der beiden bekriegen sich.
2 Dies Märchen begegnet auch in modernen indischen Sammlungen,
und diese erhöhen die Spannung sofort: die Seele ist etwa in einem Vogel,
dem langsam Federn, Flügel, Füfse ausgerissen werden, bis er stirbt, und
der Riese verliert zu gleicher Zeit unter gröfsten Qualen eins seiner Glieder
nach dem anderen (Frazer2 III, 353 f.). Von diesen modernen indischen
Märchen möchte ich bemerken, dafs sich ja manchmal wertvolles und
seltenes Erzählungsgut unter ihnen verbirgt — ich erinnere etwa an
Landes, Cordes et Legendes Anamites, Paris et Saigon 1884 — 86, und an
Minayeff (Minaef), Indnskia Skaslci y Legendy, Petersburg 1877 — , sehr
viele aber — man lese nur die Sammlungen von Frere Old Deccan Days,
London 1868, und Steel and Temple, Wide-aivake stories, Bombay 1884 —
enthalten Märchen europäischer Herkunft, die durch Missionare und Euro-
päer nach Indien getragen sind. Ihr ganzer Stil, ihre Breite, der kind-
liche Ton der Erzählung ist von den alten indischen Märchen grund-
verschieden. Wenn also frühere Forscher — ich nenne etwa Reinhold
Spiller, Programm der 1 hur gauischen Kantonschule 1892/93, dazu Vogt,
Dornröschen-Thalia (Germanist. Abhandlungen XII, 195) — bei europäischen
Märchen, die nicht in alten indischen Sammlungen erschienen, dem Mär-
chen von Dornröschen und Schneewittchen etwa, aus solchen modernen
indischen Märchenbüchern Parallelen aufbrachten, diese ohne weiteres für
die ältesten Formen der Märchen erklärten und aus ihnen die europäischen
herleiteten, so war dies sehr verkehrt: die indischen Formen sind hier die
abgeleiteten, die europäischen die ursprünglichen. — Der ausgezeichnetste
Kenner des modernen indischen Märchens, der darin zugleich höchst inter-
essante Varianten zu alten indischen Geschichten entdeckte, und dem
Sammlungen zugänglich wurden, die aufser ihm, soviel ich weils, nie-
mandem zugänglich sind, ist Emanuel Cosquin. Man vergleiche auch
dessen Angaben über Märchensammlungen aus Asien und Afrika in Les
contes populaires et leur origine, Paris 1895, 15 und 15 Anm. 1.
München. Friedrich von der Leyen.
(Portsetzung folgt.)
ArchiT f. n. Sprachen. CXV. 19
Wielands 'Metamorphose' in seiner eigenen Beurteilung.
Eine Metamorphose nennt Wieland selbst mit kühner Er-
weiterung des Begriffes die geistige Wandlung, die ihn zum
Dichter des 'Don Sylvio' und der 'Comischen Erzählungen' ge-
macht hat,1 und deutet damit an, wie grofs auch in seinen
Augen die Veränderung ist, die mit ihm vorgegangen : er ist ge-
wissermafsen eine andere Person geworden. 'Non surrt qualis eram'
ruft er mit Horaz aus,2 und wiederholt klingen briefliche Schilde-
rungen des Gegensatzes zwischen einst und jetzt in ein 'Voilä
bien du changement !' aus.3 Es ist ihm wohl bewufst, dafs auch
seine Leser denselben Eindruck haben müssen. Selbst sein da-
maliger Intimus Zimmermann gesteht in einem Schreiben an
Tscharner i : 'son Systeme present est le rebours de son Systeme passe.'
Auch die Vorwürfe und Anfeindungen, die ein so tiefgehen-
der Wechsel der ganzen Lebensanschauung zu erregen pflegt,
kommen Wieland nicht unerwartet, und im Hinblick auf sie wird
es ihm schwer, Farbe zu bekennen. Wenn Zimmermann in seinem
Buche 'Von der Erfahrung in der Arzneykunst' (I, 211) schreibt:
'Einem Arzte . . . soll es ebenso wenig schwer fallen, der Welt zu
gestehen, dafs er im Irrthum war, als es izt einem Wieland schwer
fiele, zu gestehen, dafs er den Horaz dem Plato, den Chaulieu
dem Young . . . vorzieht/ so steht das in direktem Widerspruch
zu dem, was ihm der Freund selbst kurz zuvor geklagt hatte:
'Je ne sens, que trop, combien il est difficile et presque impossible de
rentrer de bonne grace dans ce bas-monde, apres avoir debute par des
voyages dans l'autre.'^ Der 'Don Sylvio' geht ohne den Namen
des Verfassers in die Welt, und Gefsner und Zimmermann gegen-
über begründet Wieland diese Vorsicht mit dem drohenden Spotte
des Publikums.6 Zimmermann mufs sich wegen seiner öffent-
lichen Anspielung den Vorwurf der 'Waschhaftigkeit' gefallen
lassen. 'Sie haben nicht bedacht, dafs der Schaden, den Sie mir
1 Ausgeiu. Briefe II, 195. 2 Ebenda 194. 3 Ebenda I 270, II 195.
4 Briefe von Zimmermann, Wieland und Haller an Iseharner, 1881,
S. 52; vgl. a. Ausw. denkw. Briefe W.s I 31.
5 Ausgew. Br. II 195 f. 6 Ebenda 223, Ausw. denkw. Br. I 5.
Wielands 'Metamorphose' in seiner eigenen Beurteilung. 291
durch eine solche Etourderie zuziehen können, gröfser ist als der
nützliche Gebrauch, den Sie etwa in Ihrem Buche von dergleichen
Factis machen können' fügt Wieland etwas gereizt hinzu.1 Er
straft den 'Schwatzer', indem er ihm den 'Endymion' vorenthält,
um weitere Indiskretionen zu vermeiden. Nichtsdestoweniger
lesen wir in einem kurz darauf geschriebenen Briefe an Gefsner:
'Ich hasse alle Gleisnerey, und sobald ich anders denke als ehe-
mals, so scheue ich mich auch nicht, es zu sagen/2
Zwar klagt Wieland bald nach Erscheinen des 'Don Silvio',
man solle doch endlich aufhören, ihn auf Grund seiner litera-
rischen Vergangenheit mit besonderem Mafsstabe zu messen,3
aber alle Angriffe hindern ihn nicht, die 'Cornischen Erzählungen'
ans Licht treten zu lassen, auch nicht das Bewufstsein, Ol damit
ins Feuer zu giefsen.4 Die Kritik äufsert sich seiner Erwartung
gemäfs anerkennend, aber doch befremdet und nicht frei von
Sticheleien. Eine rühmliche Ausnahme macht Abbt, der in der
Allgemeinen deutschen Bibliothek (I, 2, 227) die Erklärung der Me-
tamorphose der Nachwelt überläfst und schlicht und vornehm
sich begnügt, 'schön zu finden, was schön ist, es mag herkommen
von wem es will.'
Die geteilte Aufnahme, die 'Musarion' findet, veranlafst Wie-
land schliefslich doch noch zu einem öffentlichen Bekenntnis,
das er in Form eines Schreibens an Weifse der zweiten Auflage
voranschickt. Er anerkennt die Philosophie der Grazien, die am
Schlüsse der Dichtung so genial erklärt wird, als seine eigenste
Lebensauffassung und betont, wie begreiflich ihm selbst die Ent-
rüstung der 'modernen Sophisten und Hierophanten' sei. Diese
verächtliche Bezeichnung wird in der Hamburgischen neuen Zei-
tung von Gerstenberg zurückgewiesen, dem der Tadel der Ma-
jorität durchaus berechtigt erscheint.3 Noch in den siebziger
Jahren des Jahrhunderts hält der Widerspruch an, zumal von
Seiten der Theologen. Aber auch da noch zeigt Wieland sich
frei von Einseitigkeit, wie ein Brief an F. H. Jacobi6 beweist:
'Ich verdenke es diesen Herrn nicht, dafs sie so urteilen; es war
eine Zeit, da ich ebenso dachte wie Sie.' Stets tröstet er sich
damit, dafs die 'Vernünftigen', die 'Weisen'7 verstehen werden,
dafs sein Abfall von den Idealen der Jugend erfolgt ist, 'sans
que ce qui constitue le vrai merite d'un homme de bien en ait souffert
la moindre alter ation,'* und dafs nur den 'schwachen und guten
Seelen', den 'petites ä?nes'9 — sei ihre Zahl auch noch so grofs —
1 Ausgew. Br. II 226. 2 Ausw. denkw. Br. I 10. 3 Ausgew. Br.
II 244. 4 Ebenda 249 f.
:' Literatur denk male des 18. u. 19. Jahrh. 128, S. 236.
ü Neue Br. W.s, hrsg. v. Hassencamp, 1894, S. 262.
7 Ausgew. Br. I 365, 366. 8 Ebenda II 195.
9 Ebenda 25U u. 196.
19*
292 Wielandß 'Metamorphose' in seiner eigenen Beurteilung.
der Zusammenhang dunkel bleiben mufs, der den Dienst der
Grazien mit der platonischen Schwärmerei von einst verbindet.
Denn dafs ein solcher Zusammenhang besteht, würde nach
Wielands Überzeugung J eine chronologische Darstellung der Ent-
stehungsgeschichte seiner Werke unwiderleglich dartun. Eine
kurze Skizzierung dieser Entwicklung in Heinses Briefen ä be-
ruht vielleicht auf eigenen Aufserungen Wielands, mit dem Heinse
damals in Erfurt verkehrte. — Zur Bekräftigung seiner Ansicht
weist Wieland darauf hin, welch starke Kontraste in Piatos
Werken zutage träten, ohne dafs man ihm je einen Vorwurf
daraus gemacht habe.
Damit stimmt es überein, wenn der Dichter daran festhält,
dafs der Prozefs in seinem Innern ein allmählicher gewesen sei,
so plötzlich und unvermittelt er auch dem Publikum habe vor-
kommen müssen. 'Natürlich und gradatim' ist es damit zuge-
gangen, wie er später an Leonh. Meister schreibt,3 oder, nach
einer Schilderung aus dem Ende der fünfziger Jahre, 'par des
degres presque imperceptibles.' 4 Andeutungen, die eine genauere
Festlegung der Übergangszeit zu ermöglichen scheinen, begegnen
in den Briefen des öfteren, aber sie harmonieren leider recht
wenig. Während es im März 1758 einmal helfst: 'Je eommence
de plus en plus ä me familiariser avee les gens de ce bas-monde,' 5
wird im April des gleichen Jahres diese Rückkehr zum Irdischen
bereits als beendet dargestellt.6 Vier Jahre später liegt sie weit
zurück.7 1764 soll der 'Abfall von der platonischen Partei' 'vor
einigen Jahren' erfolgt sein,8 während eine andere, ziemlich
gleichzeitige Stelle um volle acht Jahre zurückweist.9 Ein Brief
an Gefsner von 1766 10 führt wieder an die Wende der Jahre
1757 und 1758. Diese Datierung der entscheidenden Wendung
ist also die wahrscheinlichste. Freilich, wenn Wieland den 'Cyrus'
und 'Araspes und Panthea' die ersten Früchte der Wiederher-
stellung seiner Seele nennt,11 so fügt er mit Recht hinzu: 'In-
dessen konnte es nicht anders seyn, als dafs damahls alles noch
sehr idealisch in meinem Kopfe war'; denn das erste Werk, in
dem er sich wirklich völlig losgerissen hat von den Traditionen
der Jugend, ist doch ohne Zweifel erst der 'Don Sylvio'.
Der Übergang erstreckt sich also auf mehrere Jahre, und
demgemäfs blickt der Priester der Grazien bereits in manchem
seraphischen Hymnus durch, ebenso wie später die Glut der
einstigen Schwärmerei noch ab und zu leise aufflackert. — Schon
1757 pariert Uz die Angriffe unseres Dichters gewandt durch
den Hinweis darauf, dafs 'der heilige Wieland selbst zuweilen
1 Ebenda 368. 2 Werke (Inselverlag) 9, 34 f. 3 Ausgew. Br. III
385. 4 Ebenda I 270. 5 Ebenda I 259. u Ebenda I 270. 7 Ebenda
I 194. 8 Ausw. denkw. Br. I 9. 9 Ebenda 10. w Ebenda 47. u Ausgew.
Br. III 385.
Wielands 'Metamorphose' in seiner eigenen Beurteilung. 293
schalkhaft schildere' und fuhrt ein schlagendes Beispiel aus den
'Briefen von Verstorbenen' an,1 und die Kritik greift das begierig
auf.2 Wieland selbst nimmt an, dafs schärfer sehende Geister
lauge voraus wissen mufsten, welchen Weg er einmal gehen würde.
'Pour vous et vos semblables vous avez sans doute devine et prevu tont
cela de longue main, et vous en serez aussi peu surpris que moi'
schreibt er 1762 an Zimmermann3 und ein andermal'4 malt er
sich die Freude aus, die 'die Utze, die Lessinge und die Nicolai'
bei der Lektüre des 'Parisurteils' über die Erfüllung ihrer Pro-
phezeiungen haben würden. Rückschauend auf seine früheren
Jünglingsjahre spricht er einmal von dem 'Kampf der sinn-
lichen Liebe mit dem überspanntesten Piatonismus'.3 Wie weit
zurück er die Grundlagen seiner späteren Denkart verlegt, geht
auch aus solchen Aufserungen hervor, in denen von einer 'Rück-
kehr' zu seinem ursprünglichen Wesen die Rede ist. Wir haben
schon von einer 'Wiederherstellung seiner Seele in ihre natürliche
Lage' gehört.6 Ganz ähnlich drückt ein Brief an Zimmermann
es aus mit den Worten 'ce retablissement dans ma forme naturelle'
und 'je me trouve tout naturellement au point d'oü je suis parti il y
a dix ans.'7 Scharf weist aber Wieland stets den naheliegenden
Verdacht zurück, dafs seine religiös- sittliche Begeisterung nur
Heuchelei gewesen sei. Interessant in dieser Hinsicht ist die
Gegenüberstellung des jungen und des gereiften Wieland in Mo-
sers Schrift 'Über die deutsche Sprache und Literatur' 1781 (Werke
9, 149). Er findet etwas Unwahres in den Erstlingswerken. Die
Sprache scheint ihm mehr Empfindung zum Ausdruck zu bringen,
als wirklich in dem Dichter wohnt, während sie später für die
Fülle der wahren Empfindung zu eng ist. — Wie ein Schleier
fällt, nach Wielands eigenen Worten,8 der Pietismus von ihm
ab; seine wahre, ursprüngliche Gestalt kommt zum Vor-
schein. 'Die Natur tritt wieder in ihr Recht ein' urteilt Gersten-
berg, und ein anderer Kritiker findet, dafs der Dichter erst jetzt
in seinem eigentlichen Elemente sei.
Dem allmählichen Auftauchen der wahren Physiognomie
folgt ein wenn auch nicht ebenso langsames, so doch auch länger
zu verfolgendes Verschwinden der letzten unechten Züge. Diese
Zeit hat Goethe wohl im Auge, wenn er in 'Dichtung und Wahr-
heit' sagt: 'Er warf sich auf die Seite des Wirklichen und gefiel
sich und andern im Widerstreit beider Welten,'9 und in dem-
1 In dem 'Schreiben des Verf. d. Lyr. Gedichte an einen Freund'.
- Biblioth. d. schätzen Wissenschaft. I 2, 425. 3 Ausgew. Br. II 19t>.
* Ebenda 249 f. 5 Böttiger, <IÄt. Zustände' I 218.
,; Vgl. auch W.s Briefe an Sophie v. La Roche, hrsg. v. Hörn 1820,
S. 58 ('gueri'), und Teutscher Merkur 1774, I 312.
7 Ausgew. Br. II 195, 194. 8 Ebenda I 365. 9. Werke (Weimarer
Ausg.) 27, 90.
294 Wielands 'Metamorphose' in seiner eigenen Beurteilung.
selben Sinne schreibt Heinse 1771 an Glenn:1 *Die Ideen vom
geprüften Abraham, den Briefen der Verstorbenen und der Hymne
auf die Erlösung liegen noch immer natürlicher Weise zugrunde
in dem Kopfe des göttlichsten Mannes/ Auch Gerstenberg glaubt
zeitweilige Rückfälle in die 'Enthusiastereien' der Jugend bei
Wieland bemerkt zu haben (a. a. O. 390). Mehr scherzhaft ge-
meint ist dagegen Wielands Geständnis: 'feprouve que je nie suis
flatte trop tot d'etre gueri- de Venthousiasme' in einem undatierten
Briefe, der vermutlich ins Jahr 1765 gehört.- Immerhin haben
wir selbst aus seinen alten Tagen Beispiele von merkwürdigen
übertriebenen Gefühlsausbrüchen, die an die Exaltation des Jüng-
lings gemahnen.3 — In diesem Zusammenhang sei schliefslich
noch erwähnt, dafs Wieland bei jeder Gelegenheit hervorhebt,
seine Auffassung der Moral habe sich durchaus nicht wesentlich
geändert/ eine Selbsttäuschung, die ebenfalls zu den letzten
Spuren des inneren Kampfes gerechnet werden mufs.
Piatonismus ist das Schlagwort, mit dem Wieland am lieb-
sten den Zustand seiner Seele in den Jünglingsjahren bezeichnet
(bes. Äusgeiv. Br. I 261 f., II 241, 242, Böttiger a. a. O., I 174).
Plato beherrscht ihn in dieser Zeit ganz. 'Je ne vais plus instruire
les jeunes filles dans les mysteres de la philosophie de Piaton' heifst
es in einem Briefe aus der Übergangsperiode5 und wieder: 'Piaton
a fait place ä Horace.,& Bald nennt er sich 'revenu des reveries de
Platon,"7 bald redet er von einem Verlassen der 'platonischen
Parthey' oder von der 'platonischen Schwärmerey' von einst.8
Im 'Anti-Cato' (Teutscher Merkur 1773, III 110 f.) wird die Ent-
wickelung eines Menschen wiedergegeben, dessen Jugend 'im Arm
der Weisheit und der Tugend in edleren Übungen verfliefst/
Auch hier, wo offenbar eine Selbstschilderung vorliegt, ist Plato
der Lehrer des jungen Weisen. In Gerstenbergs mehrfach zi-
tierter Analyse der dichterischen Persönlichkeit Wielands (a. a.
O. 389) wird ebenfalls betont, dafs die 'ansteckende schwärme-
rische Beredsamkeit' Piatos ihm verhängnisvoll geworden sei. —
Aber nicht nur sein Denken, auch sein Fühlen steht Jahre hin-
durch unter der Einwirkung des Griechen. Er gibt selbst zu,
ein typisches Beispiel eines platonischen Liebhabers gewesen zu
sein.9
Neben Plato hat der junge Wieland natürlich noch andere
Vorbilder und Führer. Am besten unterrichtet darüber die schon
erwähnte Stelle des 'Anti-Cato'. Einen Sokrates, einen Epiktet,
1 Werke (Inselverl.) 9, 34. 2 Br. an Sophie La Boche 58.
3 Böttiger a. a. O. I 197 ; Ausw. denkw. Br. II 109, vgl. a. 106 oben.
4 Z. B. Ausiv. denkw. Br. 1 7. Ausgew. Br. II 224, 241 u. 262 f.
ä Ebenda I 270. u Ebenda II 194 f. 7 Ebenda II 224. 8 Ausw.
denkw. Br. I 9, vgl. auch Ausgeiv. Br. II 262, III 385. 9 Ausw. denkw.
Br. I 198.
Wielands 'Metamorphose' in seiner eigenen Beurteilung. 295
Plutarch und Xenophon verehrt er als die Weisesten der Weisen,
Phocion, Tirnoleon, Diotima sind seine sittlichen Ideale. Von
Zeitgenossen und Vertretern der näheren Vergangenheit ist in
erster Linie der Mentor Bodmer zu nennen; bezeichnet sich doch
Wieland selbst als Bödmeten ! 1 Auch als Anhänger Youngs
bekennt er sich häufig, und er preist gern die Dichtungen der
Elizabeth Rowe. Shaftesbury darf hier ebenfalls nicht fehlen. —
Bald aber hören wir andere Namen erklingen. Young macht
Chaulien Platz, und der einst geschmähte Uz kommt zu Ehren.2
'Je pense sur le Christianisme comme Montesquieu sur son lit de mort;
sur la fausse sagesse des esprits sectaires et les fausses vertus des fri-
pons comme Luden: sur la morale speculative comme Helvetius, sur
la metaphysique — rien du tout; eile n'est pour moi qu'un objet de
plaisanterie.' So lautet ein Bekenntnis aus dem Jahre 1764.3
Bemerkenswert ist, dafs auch Gerstenberg (a. a. O. S. 389) von
einem Übergang 'von Plato zum Buffon oder Helvetius' spricht.
Am liebsten bezeichnet Wieland diesen Übergang als ein
'Herabsteigen' aus höheren Regionen in die irdische Wirklichkeit.4
Denselben Ausdruck adoptiert dann Zimmermann in einem Briefe
an Nicolai (bei Bodemann, 'Zimmermann' S. 293). Die Flüge in
ätherische Räume erscheinen dem reifer gewordenen Dichter als
Verirrungen und Abenteuer, die er durch seine Jugend und durch
Mangel an Erfahrung erklärt.3 Er nennt sie 'puerile Extra-
vaganzen' und 'moralische Don Quixotterien', und mit den Worten
'Man kann nicht immer ein Knabe seyn' emanzipiert er sich von
dem Zwange einer ungesunden Moral.6 Das Vorleben der mensch-
lichen Seele, die seraphischeu Wesen und vieles andere sind ihm
Chimären geworden.7 Nicht von ihm, sondern von einem acht-
zehnjährigen Schwärmer, von einem 'jungen Gelbschnabel' sei Uz
beleidigt worden, heifst es in Briefen an Riedel,8 und diese Aufse-
rung zeigt von neuem, warum Wieland bei anderer Gelegenheit
nach dem Worte 'Metamorphose' griff.
Seine Jugend werke verwirft der umgewandelte Dichter
ebenso rücksichtslos wie seine Jugend i d e a 1 e. Er nennt sich
selbst einen 'strengen Vater gegen seine ersten Kinder'.9 Bod-
mer und Schinz gegenüber ist er freilich sorglich bemüht, jeden
Verdacht, als ob er sich dieser Erstlinge schäme, zu entkräften.10
Ein solcher Verdacht — der völlig berechtigt war, wie andere
1 Ausgeiv. Br. I 365. 2:Ebenda II 250. Ausw. denkw. Br. I 9.
3 Ausgew. Br. II 241.
4 Ausgew, Br. I 368 (vgl. 315 u. 'Cyrus' S. VI), II 195, 250, III 385,
auch I '270, II 227, I 259, II 195, leutscher Merkur 1773, III 111.
5 Ausgeiv. Br. I 261, 315, 366, 'Idris' 6 f.
6 Ausw. denkw. Br. I 9 u. 10, Ausgew. Br. Li. 244. 7 Ebenda II 241.
* Ausw. denkw. Br. I 196, 211. 9 Ausgew Br. I 368, vgl. auch III
315. 10 Ebenda II 92.
29(J Wielands 'Metamorphose' in seiner eigenen Beurteilung.
Aufserungen Wielands beweisen * — war besonders durch die
Vorrede zum 'Cyrus' geweckt worden. Scbinz soll sich nun sein
Urteil nicht nach dieser 'eilfertigen' Vorrede bilden, sondern die
Diskurse zu der Sammlung der 'Poetischen Schriften' abwarten.
Wie wenig diese geeignet waren, Schinzens Vermutung zu wider-
legen, mögen Wielands eigene Worte in der Einleitung zum
'Idris' (S. 6 f.) zeigen: 'Dafs ich dieser Gefahr (nämlich der
Selbstüberschätzung) glücklich entgangen sey, beweisen die Ur-
theile, die ich selbst über meine jugendlichen Poesien in der
neuen Auflage, so im Jahr 1762 zu Zürich davon gemacht wurde,
gefällt habe, und, wie ich hoffe, meine neuern Versuche/ — Die
Verdammung der Jugendschriften wechselt ab mit der schon er-
wähnten Betonung des historischen Zusammenhanges der ge-
samten Produktion.
Wieland gibt uns auch über die Hauptfaktoren selbst Aus-
kunft, die nach seiner Ansicht zusammengewirkt haben, um einen
neuen Menschen aus ihm zu machen. 'Ce qui a le plus contribue,'
schreibt er 1762 an Zimmermann, 'ä operer ou plütot [sie!] ä achever
entierement cette Metamorphose . . . c'etoit principalement la suite de
desastres, de peines, et de miseres qui m'a poursuivi depuis mon re-
tour dans ma patrie."1 Derselbe Sinn liegt in den Worten: J'ai
appris par une longue experience de privations, de peines, de soucis et
de chagrins ce que vaut le plaisir.' 3 Freilich, diese trüben Erfah-
rungen fallen bereits in die Biberacher Zeit und haben, wie Wie-
land selbst zum Ausdruck bringt, das Werk nur zu Ende ge-
bracht. Die Übersiedelung nach dem durch Konfessionsstreitig-
keiten bewegten Biberach und die Übernahme eines öffentlichen
Amtes hatten selbst schon in der gleichen Richtung gewirkt.
Weist doch der Dichter eigens darauf hin, dafs sich die Hirn-
gespinste seiner Jugend in seiner 'süfsen angenehmen Einsamkeit'
(in der Schweiz) besonders üppig hätten entwickeln können.4
'J'ai ete oblige ou de re former mon Platonisme, ou d 'aller vivre dans
quelque desert du Tyrol/ meint er ein andermal.3 Die Gesellschaft,
in die er eigentlich erst in Biberach eintritt, zieht ihn von seinen
Schwärmereien ab und macht ihn zu einem 'angenehmen Gesell-
schafter'.6 Seine Absonderung von der Welt hatte ihn auch in
völliger Unkenntnis des Lebens gelassen.7 So wird denn auch
der jugendliche Träumer im 'Anti-Cato' als gänzlich unerfahren
geschildert.8 Wie aus einem Briefe an Leonhard Meister von
1787 hervorgeht, sind es besonders Graf Stadion und La Roche
gewesen, die als Weltmänner 'unendlich viel zur Erweiterung
und Berichtigung der Welt- und Menschenkenntnis' Wielands
1 Ausw. denkw. Br. I 9 u. 178, vgl. auch Gerstenbergs 'Rezensionen',
S. 139. 2 Ausgew. Br. II 195. 3 Ebenda 223, vgl. 250. 4 Ebenda 195.
5 Ebenda 241. 6 Ausw. denkw. Br. I 200, vergl. allerdings ebenda 37.
7 Ebenda 47. 8 leuischer Merkur 1773, III 111, 112.
Wielands 'Metamorphose' in seiner eigenen Beurteilung. 297
und dadurch zu der 'Revolution in seiner Seele' beigetragen
haben.1 — Noch ein anderes Moment darf nicht übersehen
werden: der Einflufs der Frauen. 'Durch das, was man Erfah-
rung nennt, durch Begegnisse an Welt und Weibern' wurden
ihm die ätherischen Regionen verleidet, lesen wir in 'Dichtung
und Wahrheit'.2 Zwar hatte das weibliche Geschlecht auch vor-
her schon eine wichtige Rolle in Wielands Entwickelung gespielt,
aber damals hatte sich diese Einwirkung nach einer ganz anderen
Richtung geltend gemacht, nämlich gerade nach der Seite der
Weltflucht und Phantasterei.3
Wenn auch ein Autor nicht immer ein einwandsfreier Be-
urteiler seiner selbst sein kann, so sollten doch seine Selbst-
beobachtungen stets die Grundlage der literarhistorischen For-
schung bilden; denn gar vieles muls er besser wissen, als es der
scharfsinnigste Kritiker und Psycholog zu erkennen imstande ist.
1 Ausgew. Br. III 386. 2 Werke (Weimarer Ausg.) 27, 90. 3 Ausgeiv.
Br. I 287, Ausw. denkte. Br. 1 198, Br. an Sophie La Roche 332.
Bonn. Julius Steinberger.
Die Burghsche Cato -Paraphrase.
Abgesehen von den Hauptwerken Langlands, Richard Rolles,
Chancers und Gowers hat kein anderes mittelenglisches Werk
eine solche Verbreitung gefunden wie des Magister Benedict
Burgh Bearbeitung der Disticha Catonis. Mag daher die dichte-
rische Bedeutung dieser nüchternen, langatmigen und unbehol-
fenen Reimerei noch so gering sein, die englische Literatur- und
Sprachgeschichte wird nicht umhin können, auch diesem Werke
ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden als dem typischsten Repräsen-
tanten des literarischen und sprachlichen Niveaus des 15. Jahr-
hunderts. Aus diesem Grunde will ich den Fachgenossen den
kritischen Text dieses Denkmales, den ich seit über neun Jahren
im Pulte ruhen habe, nicht länger vorenthalten, zumal ich die
wichtigsten damit verknüpften literarischen Fragen bereits 1898
in meinem Aufsatze 'Über Benedict Burghs Leben und Werke'
(Archiv Bd. CI, S. 29 — 64) besprochen habe. Auf diese Arbeit
mufs ich den Leser vorläufig für alle Einzelheiten verweisen. Es
sei hier daraus nur wiederholt, dafs die vorliegende Cato -Para-
phrase in sieben zeiligen Chaucer-Strophen wahrscheinlich zwischen
1433 und 1440 für seinen damaligen Schüler William Bourchier,
ältesten Sohn des ersten Grafen Essex, von Magister Benedict
Burgh verfafst ist, der, um 1413 geboren, seit 1433 als magister
grammaticae (?) in Oxford Sprachunterricht erteilte, dann durch
die Familie Bourchier nacheinander die Pfarrpfründen von Mal-
don (? ca. 1438-40), Sandon (6. Juli 1440 bis 24. Sept. 1444)
und Sible Hedingham (19. Okt. 1450 bis 1476) — sämtlich in
Essex — erhielt und schliefslich als Archidiakon von Colchester
(10. Febr. 1466 bis 1483), nachdem ihm auch noch eine könig-
liche Präbende zu Bridgnorth (11. April 1470), ein Kanonikat
an St. PauFs zu London (23. Febr. 1472) sowie eine reiche Stifts-
stelle an St. Stephan in Westminster (8. Juni 1476) übertragen
waren, am 13. Juli 1483 gestorben ist.
Die uns beschäftigende Cato -Version ist, soweit mir be-
kannt, ganz oder fragmentarisch in folgenden 25 Handschriften
und 4 alten Drucken auf uns gekommen:1
1 Sämtliche Handschriften, P und Q ausgenommen, sowie der erste
! »ruck Caxtons und der Coplands liegen mir in Abschriften oder Kol-
lationen vor, au> denen ich gern Interessenten über etwaige Varianten
Mitteilungen machen werde. In meiner Gesamtausgabe der mittelenglischen
Cato -Versionen werdeich natürlich den ganzen Variantenapparat bringen.
Die Burghsche Cato-Paraphrase. 299
a) Handschriften:1
London, Brit. Mus., Ms. Harleian 116, fol. 98a— 124a
„ „ „ „ 172, fol. 52»-71*
„ „ „ „ 271,fol.26a-44'>
„ „ „ „ 2251,* fol. 169a- 178»
„ „ „ „ 4733, fol. 3a- 30a
„ „ „ „ 7333, fol. 25a - 30a
„ „ „ „ Arundel 168, fol. 7 a — 14a
„ „ „ „Additional34193,fol.204a— 223a
London, im Besitz des Herrn Alfred H. Huth, Huth Ms.
Nr. 7, fol. 113a— 134a
Oxford, Bodleian Library, Ms. Rawlinson C. 48, fol.
84a— lllb
„ „ „ „ Rawlinson F. 32,3 fol.
3a — 29b
„ „ .. „ Rawlinson F. 35,4 fol.
la_ 17b
Cambridge, University Library, Ms. Ee. IV. 31, fol.
7a— 24a
Ms. Ff. IV. 9, fol.
86b— 106a
Ms. Hh. IV. 12, fol.
la — 31a
Cambridge, Magdalen College, Pepys Ms. 2006, 5 pag.
211—224
Cambridge, Jesus College, Ms. 56 (früher Q. r. 8),
fol. 78 b — 92 b
Manchester, Chetham Library, Ms. 8009, fol. 49 a — 75 a
York, Hs. des Rev. Canon J. Raine (jetzt im Besitz
seiner Witwe), fol. la— 34 b
Durham, Bishop Cosin's Library, Ms. V. 2. 14, 6 fol.
69a — 92a
Glasgow, Hunterian Museum, Ms. U. IV. 17 (früher
Q. 4. 58), fol. la — 25 b
1 Einzelne versprengte Strophen werden sich vermutlich auch sonst
noch in Handschriften vorfinden. So steht z. B. Str. CXI im Add. Ms.
29 729 auf fol. 288 b (von Stowes Hand).
2 Hd bietet den Cato nur bis V. 613, da die folgenden Lagen, nach
Ausweis der alten Paginierung fol. 184 — 208, verloren gegangen sind.
3 Eine sorgfältige Abschrift von F verdanke ich der unvergleichlichen
Opferfreudigkeit von Prof. A. Napier.
4 Da in R die erste Lage fehlt, beginnt die Handschrift erst mit
V. 427 des Cato.
5 Pm enthält nur die Verse 1—367.
G Eine sehr genaue Kollation von L) hat mir in liebenswürdigster Weise
Rev. Canon W. Greenwell hergestellt.
1)
Ha
2)
Hb
3)
Hc
4)
Hd
5)
He
6)
Hf
7)
A
8)
Ad
9)
Ht
10)
C
11)
F
12)
R
13)
E
14)
Fe
15)
H
16)
Pm
17) Q
18)
M
19)
Y
20)
D
21)
G
800 Die Burghschc Cato-Paraphrase.
22) P = Peniarth (Merioneth, Wales), im Besitz des Herrn
W. E. Wynne, Peniarth Ms. 38
23) Db = Dublin, Trinity College, Ms. E. I. 29, fol. 2a— llb
24) Fb = Cambridge, University Library, Ms. Ff. I. 6,1 fol.
181a— 185b
25) Pc = London, Brit. Mus., Regius 18. D. 2,2 fol. 207 a — 209 a.
b) Drucke:
26) Cx = Druck von William Caxton, erste Ausgabe, 3 4°, ohne
Jahr und Ort;
27) Cx2 = „ „ „ n zweite Ausgabe,4 4°, ohne
Jahr und Ort;
28) Cx3 = „ „ „ „ dritte Ausgabe, s Folio,
ohne Jahr und Ort;
29) Cp = „ „ William Copland,6 London 1557, in klein
Quart.
1 Fb enthält nur 40 herausgerissene Strophen unseres Cato und zwar
in folgender Anordnung : Strophe 39, 30, 18, 17, 13, 20, 21, 34, 38, 37, 42,
40, 53, 56, 57, 59, 79, 78, 80, 81, 77, 76, 83, 85, 166, 162, 164, 22, 25, 27,
31, 32, 91, 93, 94, 96, 100, 101, 102, 104.
2 Pc enthält nur folgende 23 Strophen: 73, 76, 77, 11, 14, 17, 19, 23,
38, 56, m, 70, 8o, 57, 61, 62, 44, 28, 74, 25, 79, 20, 21 (gedruckt in Anti-
quarian Repository IV 182—187 und von E. Flügel in Anglia XIV 471—497 ;
vgl. Zupitza, Archiv XC 296 f.), mit denen laut Angabe der Handschrift
der kunstsinnige fünfte Graf Percy (1478—1527) die Wände eines Ge-
maches auf seinem, 1650 durch die Puritaner zerstörten Schlosse Wressle
am Humber hatte schmücken lassen. Vgl. auch E. Barrington de Fon-
blanque, Annais of the House of Percy, London 1887, Vol. I S. 328.
3 Cx ist mit Type 2, also vor dem 2. Februar 1479, gedruckt. Das
einzige erhaltene Exemplar befindet sich auf der Universitätsbibliothek zu
Cambridge (Signatur: AB. 8. 48. 2). Vgl. W. Blades, 7 he Biography and
Typoqraphy of W. Caxton (London 1861—63), Vol. II S. 52—54 und Plate
XXXIII.
4 Ebenfalls mit Type 2 gedruckt. Einziges Exemplar im Besitz des
Herzogs von Devonshire zu Chatsworth in Derbyshire. Blades II 85.
5 Vor 1481 gedruckt. Die drei bekannten Exemplare befinden sich
im Besitz des St. John's College zu Oxford, des Earl Spencer zu Althorp
in Northamptonshire und des Herrn Maurice Johnson zu Spalding in
Lincolnshire. Blades II 80—82 und Plate XXIX.
6 Der Titel des Coplandschen Druckes lautet: The Godly aduertisement
or good counsell of the famous orator Isocrates, intitled Parcenesis to De-
monicus: icherto is annexed Cato in olde Englysh meter .ANNO DO.
M.D.LVII. Mense Decemb., das Kolophon : Imprinted at London in Flete-
streate, at the signe of the Rose Garland, hy William Coplande. Finished
the ßrst day of January. Anno M.D.LVHJ. Das einzige mir bekannte voll-
ständige Exemplar befindet sich auf der Bodleiana zu Oxford (Signatur:
J. 18. Art. Seid.). Das Exemplar des Britischen Museums (Sign.: Greu-
ville 7792) ist unvollständig und enthält nur den Cato. Für den Nach-
weis eventueller weiterer Exemplare wäre ich sehr dankbar. Das Buch
wurde zwischen 19. Juli 1557 und 19. Juli 1558 in das Register der Lon-
doner Buchhändlergilde eingetragen, wo wir im Reg. A fol. 24 a (= Abefs
Die Burghsche Cato-Paraphrase.
301
Die Handschriften fallen fast sämtlich noch in das 15. Jahr-
hundert; nur Ht ist frühestens um 1500, Pc erst unter Hein-
rich VIII. (1509-47) geschrieben. Wenn man auf den freilich
trügerischen Eindruck der Altertümlichkeit der Schriftzeichen etwas
zu geben wagt, so könnte man C und F vielleicht noch in das
Jahrzehnt vor 1450 verlegen, Q H Hb Fb E wenig später, auch
Ha Db Hd He Hf Pm R D Y G M wohl noch in das dritte
Viertel des 15. Jahrhunderts.
Die Handschriften und Drucke lassen sich, wie ich später
eingehend zeigen werden, zu folgendem Stammbaum anordnen,
v
<-?
VfX I
* f\
\ \
in welchem freilich die Nebenbeziehungen,1 die zwischen meh-
reren Handschriften und Gruppen bestehen, nicht angedeutet
werden konnten. Hb bietet einen stark überarbeiteten Text
und ist zweimal nach irgendeiner Handschrift der /?- Gruppe
durchkorrigiert worden. Ht und Cx enthalten einen Mischtext,
insofern als sie in den Versen 51 — 232 (d. i. Anfang des Cato
Maior) nicht dem im Schema angedeuteten Verhältnis folgen,
sondern mit der Gruppe a, speziell d oder noch richtiger der
Vorlage von Hb zusammengehen: dies erklärt sich am einfach-
Transcript I 79) lesen: To William Coplande to prynte this hohe Galled the
Isocrates Paranensis [!] or admonysion to Demonicus and for his lycense
he geveth to the Iwuse . . . [keine Summe angegeben ; dafs dies Buch aber
niemals gedruckt sei, wie H. R. Tedder im Dictionary of Nat. Bioyr. XII
174 annimmt, ist unrichtig]. Die Sprache Burghs ist in dem Copland-
schen Drucke leicht modernisiert.
1 Ich bemerke aber ausdrücklich, dafs ich für die Annahme solcher
Nebenbeziehungen stärkere Beweise verlange als John Koch in seinem
Aufsatz über 'Das Handschriftenverhältnis in Chaucers Parlement of foules'
{Archiv CXI 64 ff., 299 ff., CXII 46 ff.)- Wer den mittelalterlichen Schrei-
bern so wenig Selbständigkeit uud Nachdenken zutraut wie John Koch,
wird wohl überall zu dem Resultate gelangen, dafs nahezu sämtliche
Handschriften irgendwie miteinander verwandt sind.
302 Die Burghsche Cato-Paraphrase.
sten bei der Annahme, dafs ihre Vorlage x m den genannten
Versen nach einer zu $ gehörigen Handschrift, durchkorrigiert
war. A hat starke Beziehungen zu cp. Fb gehört, soweit die
wenigen Strophen ein Urteil zulassen, in eine Gruppe mit R.
Die Handschrift Pm gehört sicher zur Gruppe ß, doch hat sie
so viele selbständige Lesarten, dafs ich auf Grund des frag-
mentarischen Inhaltes ihr einen näheren Platz nur versuchsweise
anzuweisen wage. Die Anordnung von Q ist nur eine vorläu-
fige. P habe ich noch nicht gesehen, also auch noch nicht be-
rücksichtigen können.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, dafs der Originalwort-
laut am besten repräsentiert wird durch die Gruppe « und inner-
halb dieser wieder durch die Gruppe <9\ Die vier dazugehörigen
Handschriften C F H Q bieten indes sämtlich einen so guten
Text, dafs es schwer ist, zu entscheiden, welcher von ihnen der
Vorzug zu geben ist. Ich habe die Handschrift C zur Grund-
lage meines Textes gewählt, weil sie vermutlich die älteste ist
und auch wohl die geringste Fehlerzahl aufweist. Dabei habe
ich die Textgestalt so konservativ wie möglich gehalten, so dafs
der unten folgende Text im wesentlichen eine Reproduktion von
C ist, mit stillschweigender Einführung moderner Interpunktion,
Auflösung der Abkürzungen mit Kursivdruck, Regelung der gro-
fsen Anfangsbuchstaben und Fortlassung der Cäsurpunkte. Nur
wo ein Vergleich der übrigen Handschriften lehrt, dafs C nicht
den Originalwortlaut bietet, habe ich diesen auf Grund des ge-
samten Variantenmaterials wiederherzustellen gesucht. In allen
solchen Fällen habe ich die Lesart von C sowie die Varianten
der übrigen Handschriften vollständig am Fufse der Seite ver-
zeichnet und im Text selbst durch ein vorgesetztes Sternchen
auf den Variantenapparat verwiesen. Es sind dies im ganzen
236 Fälle: eine gewifs kleine Zahl bei 1134 Versen (nach Abzug
des in C fehlenden Parvus Cato), wenn wir die notwendige Un-
sicherheit handschriftlicher Überlieferung, zumal beim Durchgang
durch mindestens drei Abschriften, in Betracht ziehen; aber doch
eine hohe Zahl, wenn wir bedenken, welch selten günstigen Fall
wir vor uns haben, wo die handschriftliche Überlieferung kaum
zehn Jahre nach der Entstehung des Originales einsetzt! Wenn
schon nach zehn Jahren bei der vierten Abschrift in wenigstens
jedem fünfteD Verse sich ein Fehler eingeschlichen hat, wessen
sollen wir uns da bei Handschriften versehen, die eine hundert-
jährige Überlieferung durchlaufen haben?! Diese Erfahrung
mahnt gewifs zur Vorsicht und Skepsis und ist ein Warnungs-
zeichen für eine Wissenschaft, die so viel mit späten Kopien
und obendrein meist nur einer Handschrift zu arbeiten hat.
Die dem eigentlichen Cato vorausgehenden Breves sententiae
oder, wie sie im Mittelalter heifsen, der Parvus Cato fehlt in
Die Burghsche Cato-ParaphraBe. 303
der Gruppe a. Die Handschrift H bringt ihn zwar am Ende
des Ganzen; jedoch ist ihr Text des Kleinen Cato augenschein-
lich so nahe mit der Gruppe y. verwandt, dafs wir mit Bestimmt-
heit annehmen dürfen, dafs H ihren Parvus Cato erst nachträg-
lich aus y. oder einer mit dieser verwandten Handschrift hinzu-
gefügt hat. Es mufs daher die Frage aufgeworfen werden, ob
die Übersetzung des Parvus Cato überhaupt von Burgh her-
rührt. In der Holperigkeit des Verses, Nüchternheit des Aus-
drucks und Ode des Inhalts steht der Parvus Cato sicher noch
eine Stufe tiefer als der Burghsche Hauptteil, so dafs man ge-
neigt wäre, eine andere Hand darin zu sehen. Indes könnte man
diesen Unterschied doch wohl daraus erklären, dafs die Breves
sententiae, von denen 7 — 10 jedesmal zu einer Strophe zusammen-
gestellt werden mufsten, durch ihre Vielheit und Knappheit dem
ungewandten Übersetzer noch gröfsere Schwierigkeiten bereiteten
als die Distichen, so dafs ich nicht mit Sicherheit den 'Kleinen
Cato' unserem Burgh abzusprechen wage. In meinem unten fol-
genden Texte habe ich daher den Parvus Cato trotz der Un-
sicherheit über seine Echtheit mitabgedruckt und zwar auf Grund
der Handschrift H.
Das lateinische Original, das in den Handschriften meist
jeder Strophe vorausgeschickt ist, habe ich nicht mitabgedruckt.
Doch ist am linken Seitenrande jedesmal auf das entsprechende
lateinische Distichon verwiesen und zwar nach der Zählung der
Cato-Ausgabe bei Baehrens, Poetae latini minores, Leipzig 1881,
Vol. HI 214—235.
I. Hh. IV. 12, fol. 29v
Whan I aduertyse in my remembrance
And see, how feele folk erre greuously
3 In the way of vertuose gouernance,
I haf supposyd in my seif, that I
Aught to support and consell prudently
6 Them to be füll gloriose in lyuynge
And how they shall hem seif to honowr brynge.
II.
Therfore, my *leef childe, I shall teche the,
9 Herkyn me well, the maner and the gyse
How thyn soule inward shall acqueynted be
With thewys good and vertue in all wyse.
12 Rede and conceyue; for he is to dispise,
That redyth aye and *wot not, what is ment.
Suche redyng is not elles but wynd dispent.
III. II. fol. 30r
15 Pray thy God and prayse hym with all thyn hert.
Fader and moder haf in reuerence;
8 leef f. HHfE 13 not wot HHf, noot l
30 1 Die Burghsche Cato-Paraphrase.
Love tbeni well. And be thow neuer to smert
18 To here niennys courcsell; but kepe the tbens,
Till thow be clepyd. Be clene w/tAout offence.
Salue gladly. To hym, that is more digne
21 Than art thy-self, thow sbalt thy place resigne.
IV.
Drede tby mahter. Thy *thynges loke thow kepe.
Take hede to thy household. Loue aye thy wyfe.
24 Plesaunt wordys out of thy mouthe shall erepe.
Be nat irouse. Kepe thy behest as lyfe.
Be tempred with wyne and not to excessiue.
27 Thy wyues word niake non auctorite
In folye. Ölepe no more than nedyth the.
V. H, fol. 30T
In goodly bokys whilome shalt thow rede;
30 And that thow redyst, in thyn *mynd it shytt.
Styre no wyght to wrath. Lye not, I the rede,
Do well to good, and *that *wül eft be quytt.
33 Be not wikkyd, ne to the wykkyd knytt.
Stond in the place of pletyng excersise.
Deme the ryght. Be counseld of the wyse.
VI.
36 Play with a toppe; the dyse loke thow eschewe.
Despise not women; kepe them thy behest.
Skorne neuer wreche; for than thow shalt it rewe.
39 Couette no maraiys *good. Spek few at fest.
Loke [*] thy vengeance be *alway with the lest.
Who *hath done the good, *haf in remembrance.
42 Love euery wyght, and thys shall the avaunce.
VII. Lenvoye. H, fol. 3lr
Behold, iny maister, thys lityll tretyse,
What it is füll of wytt and sapience,
45 Enforceth 30W the mater to complise.
Thynk it is *translate at 30wr reuerence.
Enrolle it therfor in jowr aduertence.
48 *Desyre *to know, what thys Catouw ment.
Whan 3e it rede, lat not jowr hert be thens.
Doth as thys saith with all jowr hoole entent.
Explicit liber parui Catonis
I. 1 VIII. Kawl. C. 48, fol. 84r
51 For why that God is inwardli the witte
Off man and yeueth hym vndirstondyng,
*As ditees seith, therfore shalt thou vnshitte
54 Thyn *herte to thyn souereyn lord and kyng.
Pryncipalli *a-boue alle othir thyng,
Yeuyng hym laude, honour and reuerence,
57 Whiche hathe endued the with excellence.
22 thyng H Ha Hc x 30 mynd] hert HHfE 32 that will] thow shalt H
39 goodes H 40 loke aye H [ ay H Hf 41 Who so ha} HHfE \ haf it H v Hd
46 traiulatyd HvAu 48 Desyreth HrHfFc || to] for H, for to Av 53 .4*]
And r 54 hert C 55 a bauen C He
Die Burghsche Cato- Paraphrase. 305
1. 2 IX.
A-wake, my childe, and love no *slogardye;
In muche sleep look thou neuer delite,
60 Yiff thou purpose [_*] to worship for to stye.
Long sleep and slouthe to vices men excite;
It makith dulle, it makith vnparfite;
63 It fostreth vp the filthes of the flessch;
It palith eek and wastith bloodis fressch.
1.3 X.
Trist weel also: the first of vertuys alle
66 Is to be stille and keep thi tonge in mewe.
Off tunge vnteied * muche härme may falle.
And, leve me weel, this is as gospell trewe:
69 Who can delaviauwce of woord eschewe
And reste with resoura, this is verray text,
To God a-bove that man is aldir-next.
I. 4 XI. fol. 84*
72 Auyse the weel, that thou neuer trauerse
Thi owne sentence; for theroff risethe shame.
Sey nat oon and eft the contrary reherse.
75 Such repugnaunce wille make thy worship lame,
Wher stedefastnesse wil cause the good fame.
For he shal neuer accorde with man on lyue,
78 That with hymsilfe will ay repugne and stryve
i. 5 XII.
Yiff thou aduertise and behold a-boute
The liffe of men and ther maners also,
81 Both of thi silf and othir the withoute,
In myddilerthe thou shalt *nat fynden, who
That in summe parti ne is to vertu */b.
84 Blame no man therfore, iff thou do a-riht;
Sith on erth lakles lyueth ther no wiht.
I. 6 XIII.
Yiff thou suppose thynges shall noye and greeue,
87 Thouh thei be der and of riht grete apprise,
Such as suffreth nat thi profette acheeue,
Yiff thou list be reuled as the wise,
90 Absteyne the from suich thynges in all wise;
For it is more wisdom in sothfastnesse
To pioferr profette than such richesse.
I. 7 XIV. fol. 85^
93 It is a good lessourc for the nones
A *w*ht now to be tempred with corastauwce
And to be glad and mery eft-soones,
96 Nat alwey sad ne liht of contenaunce.
A mannys cheer may hym fui oft avauwce;
For att eche tyme, as the thyng requyrith,
99 So the wiseman viseageth and cheenth.
58 slogardrye CvHd 60 the to r a, ye to Q 67 mvch C 82 nat FAy>] f. d.
übr. 83 fo] so r E, fro v 94 toht C
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 20
806 Die Burghsche Cato-Paraphraae.
1. 8 XV.
Yiff nat credence alwey to thy wiffe,
That for hir ire and hir vnpacience
102 With sharper tonge than is swerd or knyffe
Pleynyth on thi *seruauwt, thouh non offence
Thou fynd in hym ; leer weel this sentence.
105 The wiffe \ville hate and cause for to smerte
Oftyn hyrn, that hir housbonde loueth in herte.
i. 9 XVI.
And iff thou * warne a wiht of his surfette,
108 Althouh he gruchche with frownyng contenauwce
And in his language manace the atid thrette,
Yit f orber nat for *al such displesauwce
m To teche hym amende his gouernauwce.
As thou began, correcte that is a-mysse;
For that is ay a freendli teche i-wisse.
i. io XVII. fol. 85T
114 Ageyns the wordy folk ay füll of wynde
Stryue nat atte all; it may the nat profite.
Such iayissh folk been in conceitis blynde.
117 The witles word auaileth nat a myte.
In woordis feie is wisdom oft füll Ute.
For to euery wiht is youen speche;
120 And yit the wise füll ofte been to seeche.
I. n XVIII.
Love othir men and haue *hem so cheer,
That to thy silfe thy love may moste extende.
123 Looke that no persone be to the mor deer
Than thyn estat; for than shaltt thou offende
And hurte thy silfe and othir folk amende.
126 But ay cherissh othir and love hem soo,
That to thi silffe thou be nat fouwden foo.
I. 12 XIX.
Rumours newe, that flyen as the wynde,
129 Eschew, my child, with al thi dilligence.
Be neuer besy newe * tiefendes *for to fynde;
Such nouelte causeth *ofte offence.
132 It is no witt, it is no sapience,
It hurtith nat a man to be in pes;
But it dothe härme to putt his tonge in pres.
I. 13 XX. fol. 86r
135 Make no promys of othir mennys heste.
Remembre weel, that promys is *v»sure;
And but thou keep it, thi name thou sleste.
138 To serue thi beheste do thou thy eure.
Trist nat the woord of euery creature.
Sum maranys feithe is esy for to breke;
141 For many folke thynke nat as thei speke.
103 servauntis d v 107 werne C 110 al maner C Hc 121 hem] men C
130 Ulkendes C l for f. C Q ß 131 often & 136 vsure C
Die Burghsche Cato-Paraphrase. 307
i. 14 XXI.
With woordis fair whan fauel fedith the,
Be thou nat blent for his fals *flaterie.
144 Latt thyn owne reson alway thy iuge be.
And, in effecte, *ii thyn estate be hybe,
Thouh fauell with his craft wil blynd thyn ye,
147 In al thy *ly/e thou neuer geue credence
More *of thi silfe than to thy conscience.
I. 15 XXII.
Whan thou seest a-nothir mawnys desert,
150 As for his good deedis comendable,
In euery place, preuy and aperte,
Such a wiht with thi good woord enable.
153 And thouh thou haue be riht *ovailable,
Yit of thi good deede make thou no bobbauwce,
And than othir inen shall thy name enhauwce.
I. 1(3 XXIII. fol. 86-r
156 And thou lyve longe an olde ma» shall thou bee.
Age wille approche maugre alle that sey nay.
Than perceyue, behold a-boute and see,
159 How agid *folk been tretid euery day;
And so to purveye for thy silfe assay.
Into stoupyng age whan thou art crepte,
162 Thyng may the helpe, that in youthe was kepte.
1. 17 XXIV.
Charge nat, al-thouh sume mene speke softe,
Ne chauwge no cheer; for oft it is weel bett
165 In secrete wise to speke than crye on lofte.
A man shuld see alwey, wher he wer sette,
And aftir that so schuld he speke or lette.
168 But to the suspect of härme it seemeth
Men speke of hym; he noon othir demyth.
i. 18 XXV.
Whan fortune hathe youe the felicite
171 And sette the on hihe, than war the of a falle;
Than sueth oft ful sharp aduersite.
Fals fortune turnethe as a balle;
174 In hir trost haue thou no sykirnesse att all.
Her perilous play turneth whilom to grame;
The eend is woo, of that began with game.
1. 19 XXVI. fol. 87'
177 Our bretil liff is beer *so ful of doute,
That in verray surete *no wiht may stond.
So sodenly creepe the soulis oute
180 AI a-boute this world in euery lond
Off yong and old; for euery wiht is bonde
To dethe. Therfor sett nat thyn affiauwce
183 In deth of hym, *that may survyue perchaurace.
143 flatiri t 145 if] of C Hb 147 lyve CM 148 of] to C 153 variable
CH Fe 159 folkis C, folkys Hb 173 hinter as ein doth übergeschrieben (v. sp. H.),
wie RRfi lesen 177 so f. a 178 no] ne C 183 that] the C HiV 4, he P
20*
308 Die Burghsche Cato-ParaphraBe.
i. 20 XXVII.
A litil yift youen with good entent
Off thi frend, that lith in pouerte,
186 With riht good cheer such yifte take and hent,
Supposyng ay, that as good wille hath he
And inore than many inen, that richer be.
189 *Peise nat the yifte ne pondre nat the pris.
The entent is good, and *that may the suffice.
i. 21 XXVIII.
Sith nature, that is the firste norice.
192 Hath brouht the hidr all nakid and *al bare,
Thouh thou neuer can richesse acconiplice
But thou arte hold alway in pouertis snare,
195 Yit, no force, make neuer to muche care,
Take pacientli pouerte for the beste.
Richesse is nat of nature, but of *co«queste.
i. 22 XXIX. fol. 87T
198 Thouh deth be fyne of euery creature,
And no wiht on lyue shall from *it escape,
Yit dreede nat deth with ouer besy eure.
201 To lyve in erthe than is but a iape,
Iff thou shalt aftir dethe so alway gape.
Thynk weel to deye, but modifie thi thouht,
204 Or *ell« to lyue auaileth the riht nouht.
i. 23 XXX.
For thi desert if no freende thanke the,
I meen, whan thou haste don thi force and peyne
207 To othir folk ful freendli for to bee,
Iff thei can nat to the grauwtmercy seyne,
Withdrawe thyn hand and so thi silfe restreyne.
210 Blame nat *thy God for theer vnfreendlynesse,
But for such men do aftirwarde the lesse.
I. 24 XXXI.
Sith no richer man ne liveth any-wher,
213 Yiff he *consume his *good*s alle and waste,
But that pouert shall greue hym sore and dere,
Therfor, my child, such goodis as thou haste,
216 Latt nat to soone out of thyn handis be *ra/te.
* Last * tha£ thi good hereaf tir wille the f aill,
Hold, that thou haste; it may the eft availl.
i. 25 XXXII. fol. 88'
219 Behote noma» a thyng to leene hym twise
And faile hym; that is but a vilanye.
Yiff thou may leende, do it in ffreendly wise.
.222 Such cheuysance wil freendlynesse bewrie.
Off thi good deed clamour nat ne crye.
Be nat to wyndy nor of *wordes breeme,
225 Yif a good mann the list appeer and seeme.
189 Preise S'HbCpxHcGDFc Ad 190 that f. C Fb 192 a/a f. C M v
197 coquest C 199 it\ him C Hb M Hc x f 204 eil C 210 thyn C, f. A 213
cosume C 1 good aAdFb 216 raste C 217 Last C, lese Hc, sonst lest || than
CMvJTbfc £ x 224 woorde &
Die Burghsche Cato-Paraphrase. 309
i. 26 XXXIII.
And yiff thou fynde the *sone of dowbilnesse,
The fals dissimulour if thou espie
228 With peyntid woord and hert ful of falsnesse,
Thou maist in no wise better bleer his ye
Than serue hym with his owne trecherie.
231 For *woord*s fair aDd freendlynesse no part
Yeue thou the same and so aart *begyle with aart
I. 27 XXXIV.
Preeve nat a man bi * ouer-peyntid speche.
234 Undir fair woordis ys ofte couerid gyle.
The * woord is gay, but frenship is to seeche.
And as men sey, such craft is in this ile:
237 Summe thynken härm, whan thei hir tonges file.
The whistlyng fouler maketh mery song,
And yit briddis begilethe he a-mong.
I. 28 XXXV. fol. 88*
240 Whan that God hathe youen the children feie
And no richesse, than do thou in this wise:
Teche thy children with *craft«'s for to dele,
243 That with their aart thei may hemsilf cheuyse.
Yiff thou do thus, thou werkist as the wise.
Craft is ful good, and craft is lucratyffe;
246 By craft thei may deffende the nedy liffe.
I. 29 XXXVI.
Haue this conceit; for it is often *seen,
Thynges deer shall ofte abate of prise,
249 And thynges, that of litil valewe been,
In tyme comyng may to grete derthe a-rise.
Remembre this and it *weel aduertise.
252 Thus shalt thou beste the name of chynchery fleme.
And othir men shall the no negard deeme.
i. 30 XXXVII.
A-vyse the weel, latte resou« be thy guyde,
255 Whan othir folk thou art a-boute to blame,
That suche defaute in the be nat aspied;
For if ther be, than *shal£ thou haue the shame.
258 A manys honour such thynges will reclame.
It is ful foule, whan that a man will teche,
Iff that */?is deede a-yens his * woord« preche.
I. 31 XXXVIII. fol. 89'
261 Loke thi desir be grouwdid in a riht
And that it neuer trauers honeste;
For as oft-tymes, as any wiht
264 Desirith more than riht or equite,
Than may his request repellid be.
And it is clepid nycete and grete folye
267 To asken oft thatt me» will ay denye.
226 sones a (sownes Hb) 231 woord C 232 begyle] begyhd Av x Fe Ad,
gylyd C H 233 ouer fair p. C 235 world « Fb 242 craft r, tome crafte Hb
247 seyn C Hb Cp D 251 wille CAd, wolle Hb M Hf, foll Fe 257 shall C 860
ftt's1] u CDbFcAd |j woord CM 261 a ist fortradiert in C
310 Die Burghßche Cato-Paraphrase.
i. 32 XXXIX.
Chauwge nat thi freende, that thow knowest of old,
For any newe in trost, that thou shalt fynde
270 Bettir than he; but in thyn handis hold
Hym, that hathe to the ffreendly been and kynde.
Such eschauwges been ful *often blynde.
273 Thou weenest *to knowe *and yit knowist nat a deel.
To know a freend it is a casuel.
i. 33 XL.
Sith manys liff is fülle of miserie,
276 Whilom in mirthe and aftir in myscheef,
Now in the vale, now in the mont on hihe;
Now man is poore and eft richesse releffe;
279 The shynyng morwe hath ofte a stormy eve —
To * this policie take heed and entend :
Look thou haue lucre in thi labours eende.
I. 34 XLI. fol. S9T
282 Thouh thou may venquyssh and haue the victory
Off thi freend and felawe, yit forbere.
Reffreyn thi silfe; be nat hawteyn ne to hihe.
285 Irous hauwtes ful oft men do dere,
Wher esy softnesse *freend*s inay conquere.
For bi good deedis, sett in lowlynesse,
288 Men be to-gidre *lnytt in freendlynesse.
I. 35 XLII.
The lymytour, that visiteth the wyues,
Is wise i-nouh. Of hyrn a man may leer
291 To *yiuen *girdiles, pynnes and knyues.
This craft is good; *thus dothe the celi freere:
Yiueth thynges smale for thynges, that been deer.
294 Iff thou receyue, gif ay *sumwhat ageyn;
And that wille *norissh *freendes deer certeyn.
i. 36 XLIII.
Toil nat ne stryre with hym, that is thi freende.
297 Bewar of that: make nat thi freend thi foo.
A toilous man may frenship breke and sheende.
Thes baratours, that beth mysreulid soo,
300 Intrike *hemsilfe and *wrappe hem in much wo.
For ire of kynde engendrith nat but hate,
Wher-as accorde *nor«sheth loue algate.
I. 37 XLIV. fol. 90r
303 Whan thi seruant thou takist in diffaute,
Thouh he cannat his necligence excuse,
Yit in thyn ire make nat to fers assaute,
, 306 But with thi maletalent a while take trewse;
Thow shalt fynde ese, this feet if thou vse:
Reule thi passiou« euer bi such mesure,
309 That thou save hem, that be vndir thi eure.
272 oft C 273 to f. t || and] at C 280 this] hü CFb 286 freend a (a freend H)
288 hnyt] sett fr, brought Hb 291 yiue girdils C 292 this C Hb M He Ad, soo FbCp
294 summe thyng & 295 norsshe rY | freend C, thi frend FH 300 kymsilfe C,
themsilft Q H Hb Cp | wappe C 302 norshetk C, norshit F
Die Burghsche Cato-Paraphrase. 311
I. 38 XLV.
'Suffraunce dothe ese', was seid füll yore a-goo.
Suffre thou and haue al thyn entent.
312 Thouh thou niay ouercome, yit do nat soo.
Conquere thoruh suffraunce and be pacient,
But to foul cruelte neuer consent;
315 For it is clepid in vertu excellence
A wiht to lyue in humble pacience.
I. 39 XLVI.
Be nat to scant, be nat to prodigal.
318 Conserue thy thyng goten with labour.
It is f ul faire [*] to be said liberal,
But eschew waste and be no surfetour.
321 Consume nat al thy tresour in an hour.
Whan of tbi labour riseth noon availle,
Nedy pouerte niust the ful soone assaiile.
I. 40 XLVII. fol. 90v
324 Be nat like Sceuola1; for he wold ete
With euery man and at his feest hym feede.
But neuer wiht myht tasten of his mete;
327 Noman to hym, but he to all men yeede.
Be fre of mete, but look that largesse leede
The no ferther then thou may weel atteyne.
330 Be thyn owne freend, thus seith Catouw certeyn.
XLVIII. Lenvoye.
Take heed, sire, how holsumly this clerk
Entretith men -with vertuous doctrine,
333 His firste part of this compendious werk,
In worschip how thei shal ful cleerly shyne,
Gydyng to renoun streiht as any lyne;
336 Whos preceptis obseruen if ye list
And to his good cownsel yowr herte *enclyne,
Riht on your welthe füll weel *it shal be wist.
XLIX.
339 The vertues foure, that men shoold foorth conveie
Loo in this liff, as bridill dothe a beest,
That man nat erre heer in this pereilous weye,
342 Stablisshyng hym, as dothe a stedfast reest,
As sikir guydes, that been worthiest
Mannys lyuyng to sette in gouernaunce,
345 This sage Catoun ful wisely doth regest.
*Preentith his sawes in yowr remembraunce.
Expfocit *pars prima.
II, praef. 1—2 L.
Iff thou list, my child, setten thyn deute
348 Off erthe for to knowe the tilthe and the cultur,
319 for (o tQ 324 seuola Hd %, zeuola uÄFcAd, zevola Pm, zeuela D, yeuola xv
337 ecline C 338 shal it CHv 346 preetith C | pars prima H a] f. C u. a.
1 Wohl jener 'P. Seaeuola', welcher nach Macrobius, Saturnal. III, 13, 11 (ed.
Eyssenhardt), an dem Schlemmerhankett dos Pontifex Maximus Q. Metollus Pius
teilnahm, welches Macrobius ausdrücklich als ein Beispiel von luxuria anführt.
812 Die Burghsche Cato-Paraphrase.
And iff thou wilt be of knowlech perfit
Whi su?»nie is arable and summe is pasture,
361 And whi summe is spreynt with floury pictur,
I conseil the to musen for a while
In the laureat poete greete Virgile.
II, praef. 3—4 LI. fol. 91r
854 And forthermor, my chyld, if that thou list
The vertues of herbes for to discrive, —
It may nowher in erthe bettir be wist,
357 Which be corcsumyng and which be nutritive,
Which hote, which cold, which confortatyve, —
Than reede Macere in his old ditee,
360 Which tellith hem in propre qualite.
H, praef. 4—5 LH.
And iff thou haue desirous fressh corage
To heer of noble Eomayns worthynesse,
363 How that thei venquesshed them of Cartage
And many othir thoruh manly prowesse,
Than reede Lucan; fful weel can he expresse,
866 Who bar hym best in toura and eek in feeld,
And who dide merueillis vndir Martis sheeld.
II, praef. 6—7 LIII.
But he, that list of louers for to reede
369 And in that wise hymsiluen so tauaunce,
As in that craft Naso can teche hym speede.
Summe louyth song, sume harpe, lute and dauwce,
372 Summe othir dyvers thynges of plesauwce;
Summe louyth couertly and list nat been espied;
Summe will be knowe; and *thws writith Ouyde.
II, praef. 8—9 LI V. fol. 91"
376 But yit, my leeff child, iff in auentur
Thyn hert be youe to nomaner of such thyng,
Or iff it be nat al to thyn plesure,
378 That Virgil, Macer, Lucan and Naso bryng,
Yit that thou may be wise in thy lyuyng,
Iff the list to yeue me audience,
381 I shal shewe the doctryne of sapience.
II, praef. 10 LV.
Therfore, my chyld, cum vnto me and leer,
*And I shal the shew the verray *tresur
384 Off sapience, if that the list to heer,
And how thou shalt in good estate endur
And leede thi lyff aftir Goddis plesure.
387 Therfore come neer and leer bi thys reedyng
To be a man vertuous in lyuyng.
n. l LVI.
Ther is no wiht [*], that ferther may reporte,
890 Off thi good deedis, than the strauwger may.
374 thit CHb 383 And f. C | tresour #xYFcy> 389 wiht on lyvt C
Die Burghsche Cato-Paraphraee. 313
Make hym good cheer and shew hym thy disport,
And he shall vttir the, this ie no nay;
393 For *the vnknowe sumtyme to do assay.
Freendis inowe to have *is bettir thyng
Than is freendles a man to been a kyng.
n. 2 LVII. fol. 92'
396 Off Goddis misterie and his werkyng
Make neuer, my child, to *ferre inquirance.
It is foli to muse vpon such thyng.
399 Dispute neuer thi Goddis purueiaunce.
All thyng must be vndir his gouernaunce.
Sith thou art man clad in mortalite,
402 Dispute thou thynges such as mortal be.
iL 3 LVIII.
The dreede of deth that is inordinat, —
I meene, to dreed it ay and neuer cees.
405 Bewar of that, I conceil the algate;
For this is as trewe as gospel *douteles.
Who dreed it so, is alway merthelesse.
408 Whan dreede of dethe a man so * aggreggithe,
It wastithe liff and his tyme abreggithe.
n. 4 LIX.
For * thyng, that is to the vncerteyne.
411 Whan thou art wrothe, look neuer bat nou stryve;
Thi passions esili withdrawe and refreyn.
For ther is no persone in erth on lyye,
414 But that vnresouwles he is als blyue
As besy wrathe * ha^A * kyndled hym on f yre.
And than can he nat deeme the *tro«the for ire.
II. 5 LX. fol. 92T
417 As tyme requerith, so make thyn expence.
Mesure thyn hand aftir thyn proprite
Off thynge, of tyme, and aftir the presence.
420 See that thou spende nomor than nedith the.
And that to spende loke that thyn herte be fre.
A man shold do cost and make his spendyng
423 Considryng tyme and rewardyng the thyng.
II. 6 LXI.
To much is nouht of any maner thyng.
The meen is good and moste comendable.
426 That man stant surest heer in his lyuyng,
With meen estat that halt hym ereable.
Plente and pouerte be nat suffrable.
429 For than is the ship in the see moste sur,
*What tyme [*] the flode excedithe nat mesur.
n. 7 LXII.
Iff thou knowe ouht, that may turne vnto shame,
432 Keep it secre; for nothywg it *bewrye.
393 the] he t, a man Hb 394 is] his CDb A 397 tofore r 406 doutle* />,» l>
408 aggruggith C H Hb Cp A / 410 tlu/ng f. & (that F) 415 hath] had t, hadde Pb
hynled CDb, kenlid M 416 trothe C 430 Whan CCp || tyme that rRDbl, f. Cp Pc
432 bewreye CjHaAzGHcDFc
814 Die Burghsche Cato-Paraphrase.
Be nat to besy such thynges to pro-clame
And publissli, as thou Knowest pryuye.
135 Make nat all men [*] on it to gaur "and crye,
Lest rao deprave, whan thow thi woord hast sowe,
That was before to othir folke vnknowe.
11. S LXIII. fol. 93r
438 Iff thou espie and see a *surfetour,
A theeff, a shrew of much mysgouernaunce,
Trist weel summe tyme that ther snal come an hour,
441 Whan for liis deede he shal suffre penauwce.
Cursed deede askith wrech and vengauwce.
Thouh wikkydnesse for tyme be kept secre,
444 Yitt att the laste will it discurid be.
ii. 9 LXIV.
Thouh that summe tyme natur hathe been vnkinde
And youe a man to be of smal stature,
447 Yit, my child, remembre and haue in mynde
That thou neuer dispise that creature.
For God may sendde hym fortune and good vre,
450 Als oft thei be with good cou^seil allied,
To whom that nature hathe grete *stren5'th denyed.
ii. 10 LXV.
Whan the happithe trauers or [*] haue a-do
463 With oon thou knowist nat egal to thi myht,
Thyn vttrest powere shewe nat * such vnto,
Lest that eft-soone he haue the in such pliht.
456 For it is seen in turment and in */iht:
Fortune chauwgethe ofte withynne an hour,
And he is sconfet, that erst was victowr.
II. 11 LXVI. fol. 93v
459 Off brondis smale be maad thes fires grete.
Withdrawe *the brond, the fier shal eek discrees.
A-gein the knowe, *tha£ herr, loke thou nat bete
462 With woordis feie; *for woord dietrobleth pes.
The man is wise, that can of * woord« cees.
For this is sothe as God *jaf the thi liffe:
465 Off woordis small is bred ful muche striffe.
ii 12 *LXVII.
*Deele nat withe sorcerye ne with surquedrie.
In Goddis hand is all thi sort and fate.
468 Be nat a-boute to calkle thy distanye,
Iff thou be *myserous or ffortunate.
Lat God allone; in hym is all thy state.
471 And that hym list of the for to purpose,
Withoute the can he fulweel dispose.
435 out on ii .'/Hb |] and] or C, f. P 438 suffetour C 451 slrenth CAd#
452 or to Gv 454 such] a man a (ßat man Hb) 456 tiht C 460 thi C Hb
461 that] tha Olli h<rr (', herre Hb, erre F, ar H, here Fe, heir RHa, eyr AXr,
ayr Db Cp, ayere M, eyre D, hyer oi (highere Ad), man x 462 woord for C 463
looord r 464 yeue r Hb E, yeutth H Str. LXVII mit LXXXH vertauscht in a
466 Deyle r, dwel Db 469 yrout C S
Die Burghsche Cato-Paraphrase. 315
n. 13 LXVIII.
Bewar of envye with hir techches feil.
474 Withynne thyn herte looke that she nat reste.
For it is oon of the *peym's of helle.
Whan she soionrneth in a inawnys breste,
477 Than *bre/mithe Fenix withynne his owne neste.
And thouh she may non othir man *myscheez*e,
*Yit Ethna cesith nat hirsilfe to greue.
II. 14 LXIX. f..l. 94r
480 Enforce thyn herte with manlj sufferauwce,
Thouh wrong iugement a-yens the proceede.
Be nat abassbt in woord ne couwtenaunce;
483 For the processour inay reule and leede
The lawe; but trost me weel wrt/zouten dreede,
Long to reioisshen acheueth he nate,
486 Which bi menys vntrewe his goodis gate.
ii. 15 LXX.
Wraththe of olde, that shuld be oute of mynde,
Be nat aboute to make it eft on lyue,
4S9 But the ercvious hathe that tech of kynde.
Such malice, my childe, look thou nat revive;
For such ire of old makithe a new stryve.
492 And who that remembrithe old enmyte,
A wikkid man forsothe, my childe, is he.
n. 16 LXXI.
Thi silfe also looke that thou nat preise
495 Ne dispreise, but lette othir men allone.
Alway aftir prudence thi *woord?s peise.
For thyn avaurat honour shalt thou gete none,
But haue a mokke as faste as thou arte gone.
A man to preise hymsilfe, as seithe the scoole,
Or dispreise moche is token of a foole.
n. 17 LXXII. fol. 94^
501 Whan it is tyme of coste and grete expence,
Bewar of waste, and spend as bi mesure.
Who that to keepe and spende no difference
504 Makith, his goodis may nat longe endure.
The olde sawe seithe: Mesur is tresure.
For in short tyme the good may * stippe a-waye,
507 That was goten in many a sondry day.
n. is LXXIIL
It is *no wisdam alway to be sage.
But sumtyme to seeme nyce and feyn folye,
510 Who that hathe this fet, shal fynde avauwtage.
What tyme and thyng requerithe, that espie;
And than dissimule, that is good policie.
513 Summe tyme to be vnwise in apparence
Among the wise *is clepid ful hih prudence.
475 pei/ns C 47 7 bredilke rt 478 mischeef C, /m/schewe F 479 And yit C
496 woord &E 506 shippt C 508 nat & 514 his L' Ad
316 Die Burgheche Cato-Paraphrase.
ir. 10 LXXIV.
The filthy flessh, in rneuyng bestiall,
516 That fihtithe ay a-yens the soule withynne
Bi force of hir entisment sensuall,
Eschewe, my chyld, and keepe the from hir gynne.
619 That and grace been sette ful ferr atwynne.
And fle of auerice the wikkid fame:
Thes too it be, that causen euyl name.
II. 20 LXXV. fol. 95'
522 Beleve nat in every wihtis sawe;
For sume reporte thynges al othir wise
Than it was don or any man it sawe.
525 And sume have it of custum and of guyse
To feed folk withe flatrie and with lise.
Yif litil trost therfor to suche spekyng;
528 For many folk spekith many a thyng.
H. 21 LXXVI.
Yff thou surfete in drynk for-yete nat that.
Avyse the eft, thou come nat in that snare.
531 Withdrawe thyn hand; feede nat thy throte so fatte;
Drynk, that suffisith the, and *ell&s spare.
To mueh drynk makethe men of wit ful bare.
534 And yit the wyne therof is nat to blame,
But the drynkere makithe hymsilfe lame.
n. 22 LXXVII.
To thi trosty freend, that is ay secre,
537 Shew thi coimseil; to hym thyn herte *bewry.
A trosty freend is [*] ehest of pryuyte;
But'it is hard such *freendes to espie.
540 Trye oute oon a-mong a companye.
And of thy body betake thou the eure
To suche a leche as is trosty and sure.
II. 23 LXXVI1I. fol. 95'
543 Withynne thy silfe a-greve the nat to sore,
Thouh thyng amys sume tyme the betide ;
Dismay the nat in besy wise therfore.
546 Thyn auenture thou muste ueedis a-bide;
Fortune may nat alwey be on thy side;
With harmes to greve in a-waite lith she
549 To reven men welthe and prosperite.
ii. 24 LXXIX.
In thi silffe compasse a-boute before
Thyng to perceyue, that aftir schall befalle.
552 It noieth nat nor greueth half so sore,
That is forseyn, as othir thynges shall.
Sodeyn chauweis disesithe moste of all.
555 It hurtithe lesse, and is in better pliht,
Wheroff beffore a man can haue insight.
532 eil CCx, eh F Hf, elks übr. 537 bewreye CHbGHfDFc 538 the ehest
rRHd^, the cheef Fb, a eh. D 539 freend C («-Schleife vom Korr. 1 ange-
fügt) Fb, a/rend FHEA 556 aman C
fol. %>■
Die Burghsche Cato-Paraphrase. 317
n. 25 LXXX.
Whan dyuers thynges trauers thyn entent,
558 And thow art wrappid in aduersite,
War for wanhope thou be nat lost and shent.
Latt nat dispeir thy witte bereuen tbe.
561 A-bide tbe tyme, tbat sbe sball better be.
Hope is she, *that shal make tbe a sethe;
Hope leuetb nat a man, tbouh man leue tbe brethe.
n- 26 LXXXI.
564 Wban men profre, it is tyme to receyve.
Take thynges, whil thei be in seson.
Tbei profre now, tbat eft will yiftis weyue.
567 Plente nowe will aftirward be gesoura.
Take in tyme; for so comaundithe resoun.
Tbe ballid bed, wbilom füll of heris,
570 Now is bare withoute rasour or sheris.
n. 27 LXXXII.
Prouyde tby silfe and haue delyueraurcce,
Be likly coniectur what may be-tide.
573 Aduertise, my cbilde, in tbi remembraurcce
Affore and aftir, aboute iu euery side.
Folio w God, and lat bym be thi guyde,
576 Tbat batbe al tbyng in bis gouerment,
Futur and passid and tbat, that is present.
n. 28 LXXXIII.
It is a tecche of a deuouryng bouwde
579 To receyue superflue and don excesse,
Til bis receit a-geyn from bym rebounde.
Contente thy nature and flee gredynesse.
582 Foule lustis ay keepe vndir and represse.
Feed nat tbi *lust with all, that she wil craue,
Yff that in helthe thou lust thi body save.
n. 29 LXXXIV.
585 Whan a multitude hathe youen a decre
Or concludith ouht a-yens thyn entent,
Trauers nat yit a-yens the comonte;
588 For iff thou do, thou shalt lihtly be shent.
Dispise nat alone the peples iugement.
In auewture thou plese of hem nat oon,
591 Whil thou wilt impugne hem euerychon.
ii- so LXXXV.
Take good heed vnto thyn owne estate'
To reule thy body weel with good diete.
594 But look with tyme thou be nat at debate,
Thouh thoruh thyn owne *mjsreule and surffete
Seeknesse or sorwe hathe * youen the an hete.
597 The tyme is good, and no dismale ther is,
But men it make, for that thei do amys.
fol. 96v
562 that f. C R | asetk A He, seethe Hc, feith Hf 583 lustes C 595 mysse
x R Fb (in C rewle vom Korr. 2 ergänzt) 596 youe x Hc, yeue R Db He Hd, yeuen
HHaE, gyven D, gytvt M, yau Fe, jel Ad, f. Y
318 Die Burghsche Cato-Paraphrase.
H. 31. LXXXVI.
Dreede no dremys, *so seithe Deutronomy,
600 *ThouA thei be causid of complecciourc,
Or ellis of any nyced fantasie,
Or *of a superflue repleciouw.
603 For dremys be but fals illusiouw.
Whan men be wakyng, thei desire or thynke;
Vpon that thyng thei dreme, whan thei wynke.
LXXXVII. Lenvoye. foi. 97"-
G06 Musithe a while, what all thes maters meen.
A-bidith, sire, and go no ferther yitt.
To reden hem, *aua,üeth not a been,
609 But iff a man the kernel wil *vnkm'tt.
Therfore your mynde and al your hert * vnshitt
And *loke whatt lith vndir the boistous rynde.
612 And 1 dar say, of wisdom and of witt
Plente and foisouw therin shall ye fynde.
LXXXVIII.
Reffressheth you with this holsom diete,
615 That fostreth vertue and keepith on lyue.
To your persone me thynkith it ful meete
For to receyue such a nutrytive,
618 Which your astate shal ay preserue on lyue
In grete honour and keepe yow fro noysaurece,
Oute of dauwger and vices infectyve,
621 Yiff ye will werche aftir this ordynauwce.
LXXXIX.
And in especiall looke, that your deede
May bere trewe *wittenesse and testifie
624 The mateer, that ye beholde and reede.
Looke with your herte as weel as with your eye.
Than, dar I say, sumwhat shall ye espye,
627 That to this werk shall meven *your corage.
Wherfor jour hert, your eye and all applye,
Your silf to reule aftir thes ditees sage.
Explicit secunda pars.
in, praef. 1—2 XC. foi. 97v
630 Behold, what wiht that listith for to reede
In this my ditee, somwhat shall *he fynde,
Wherwith his soule he may fostre and feede
633 With thewes good and it from vices vnbynde.
Come neer, my child, therfore and haue in mynde
Suche doctryne to beer a-wey and leer,
636 *As to thy liff shall be füll leef and deer.
in. l XCI.
The soule resemblith a new pleyn table,
In which as yit apperith no picture,
639 The filisophre seithe withouten fable.
599 so f. C 600 thou C 602 of f. C 608 valetk C (davor o- vom Korr. 2),
vayleth Hb v %, wailithe Ad 609 vnknett C % 610 vnshelt C% 611 loldth r 623
wttenesy C 627 your in C eingefügt von Korr. 2 631 ye G Ö M 636 as] and r S,
as thou Hf
Die Burghsche Cato-Paraphrase. 319
So is the soule but a dedly figure,
Til the tyme ehe be recleymed with the Iure
642 Off doctryne and so gete hir a good babite
To bene expert in connyng and *parfite.
m, praef. 3—4 XCII.
Inprente my techyng in thy soule stedfaste;
645 And ful profitable thou shalt it fynde.
Forsake it nat ne from thyne hert it caste;
For iff that thou exclude oute of thy mynde
648 This lessou», thow art füll bareyn and blynde
Fro vertu. And therof a-wite nat me,
Sith *the deffaute, my sone, is than in the.
in. 2 XCIII. fol. 98r
651 Iff thou lyve iustly keepyng the vpriht,
Neuer declynyng for meed ne *for fauour,
Than stondist thou in a ful holsum pliht,
654 *ThouÄ men maligne with *woordes of *rygoure
Yff thou live thus thi good Uff is thi tour.
We may nat lette the peple to gawre * and crye.
657 But do we weel; if thei sey mys, thei lye.
in. 3 XCIV.
Iff thou be clepid the sothe to testyfye,
Ay sauyng thy worship and honeste,
660 Thi freendis trespace be *nat a-bout to wrie,
Wher as no shame may growe therof to the.
This requiritb ay freendlynesse parde.
663 In wele and woo the trewe *be«yvolence
Bi-twix folke is frensship in existence.
m.4 XCV.
Make besy wacche; and keep thi soule algate,
666 Behold a-boute, aspie the couert treyne,
Whan that fals fauell knockethe atte gate,
He menythe guyle, *thow outeward fair he feyn.
669 He can enoynte softly thyn erys tweyn
*Wifli oile of plesauwce in ful grete foysouw;
But vndir that keepe the from his poisouw.
ni. 5 XCVL fol. 98v
672 Slouth, slogardy and dul idylnesse,
Lacches, tbat causeth to be necligent,
Eschew, my child, with all thi bisynesse;
675 For ydill soule makith tbe body shent.
Ther is on erthe no gretter argument
For to conclude the body vnapte
678 Than that the soule in idilnesse be wrapte.
in. 6 XCVII.
Who that lacketh reste, may nat longe endure;
Therfor a-mong take thyne ese and disporte.
643 />ro/ite C mit Abkürzungsschleife für ro 649 a wyjt Hb, atwyte II K,
attwyteF, awaytHc, wyte ACp« (loyt/.E) v £, awyte o He 650 thi CHb 652 for
f. rRFbYCpy 654 thou C \ woorde rß || rygourye C 656 or CHb || gaule R,
gawle Fb, gnare M, gare Cp, grare? Ha 660 nat f. T^FbDbMA 663 bevyoknce C,
by vyolence Hb 668 thow C Hb 670 which C
320 Die Burghsche Cato-Paraphrase.
681 Delite the neuer in besynesse and eure,
But that whilom thou maist also resorte
To play, recreactouw and conforte.
684 Thou shalt the bettir labour at *the longe,
Whan thou haste merthe thi bisynesse a-monge.
ni. 7 XCVIII.
It is füll hard to plese iche a wiht.
687 Dispreise nomarays deedis nor hem lakke,
Ne *woordes nother. For even so riht
As thou deprauyst hym, byhynde thy bakke
690 ßiht so wol rnen niake the a *moÄ&e and a knakke.
The contrarye thouh [*] men had it sworne,
The skorner shal be guerdoned ay with scorne.
ni. 8 XCIX. foi. ioo r '
693 Whan thi laste sort, that sorn men clepyn fate,
Is good and plesaurate aftir thyn entente, —
Thus meen I, loo, whan thou arte fortunate, —
696 Receyue the good, that God hathe the sent.
Suffre it nat rechelessely to be spente.
For than of wastour thou shalt haue *the name,
699 For grete ryot will causen feble fame.
ni. 9 C.
Into grete age what tyme that thou art krepte
And thou hast richesse and grete habundaunce,
702 Be liberall of good, that thou haste kepte.
Thynk thou hast inowh and suffisauwee.
Latt nat thi good of the haue *gouernauwce;
705 But *gouern it and parte it with thy freende.
Whan thou goste hens, it may nat with the weende.
in. 10 CI.
Grace is youen to men in sondry wise:
708 Sum haue wisdom, and som haue elloquence.
Thes pore folk somtyme thei ben füll wise.
A seruaunt may be of grete sapience,
711 Thauh he be had in litel reuerence.
Beward *Ais wit, if it be worth the while.
Vertue is hid vndir an habite vile.
iii. n CIL foi. ioov
714 This woorldis welthe, ebbynge and flowyng ay
At no certeyn, as is wantourc Aprile,
Thouh thou haue *lost, thou shalt nat the dismay.
717 *Be content with that thou hast for the while.
Sume man ther is, that hathe nouthir cros *ne pile
Now in this world, and yit good auentur
720 Is hym ful nyh. No man can know his vre.
in. 12 CHI.
Wedde nat a wiffe for hir inheritaunce ;
For ehe wol caste it *ful oft in thy berde.
684 <Äe f. tR 6SSwoord&R 690 mowe CHbEGDFc, moppe CpHeHd 601
thouh that C K 698 the f. C 704 goueraunce C 705 goueren C 712 w C 716 lust C,
bat RFbHaAx^g 717 Been C 718 nor tM, »er A, nethyr H 722 toel C, f. llb/3
1 Fol. 99 ist bei der Paginier ung übersprungen.
Die Burghsche Cato-Paraphrase. 321
723 And *if she be noysaunt, ful of greuaunce,
Conetreyne hir nat to biden in tbi yerde.
Off chastyment it is a curside yerde
726 To keepen oon, that wol the ay atwyte.
He is att ese, tbat of such on is quyte.
in. 13 CIV.
Off othir men thow shalt thy myrour make.
729 Conforme tbe to that moste men appreve.
What thou shalt do and *what thou shalt forsake,
A bettir fette maist thou nat *contreve
732 Than to othir *mennys deede releeve.
In al, that perteynethe to thy techyng,
Make othir men a rewle for thy lyvyng.
III. u CV. fol. 101r
735 Attempte no thyng, that sourmouwtith thy myht
Ne that to ffynyssh thow * mauste nat *acche»e;
For than thou stondist foule in thyne owne liht.
738 Ouer his power what man leste to meeve,
With shame his werke moste nedis take leve.
It is foly a man such thynges to begynne,
741 Which to perfourme his wittis be *to thynne.
III. 15 CVI.
Law presumeth, that what *man kepith stille
The cryme of oon, that hath don grete offence,
744 And discurith it nat, he is *als ille,
As is the crywinous for his silence.
Wherfore, my sone, bryng it in audience,
747 That thou perceyuest nat weel don is,
Leste for silence men deeme of the a-mys.
in. 16 CVIL
Whan that the lawe is streit and rigerous,
750 En trete the iuge to *shewm the fauour,
Enclynyng hym for to be gracious.
*An egal iuge may the *parcaase socour,
753 And yit the lawe shal be his gouernoure,
Which he suethe somtyme to modyfie,
In the caas he may a poynt espye.
III. 17 CVIII. fol. 101^
756 What peyn [*] thou suffrest for thi deserte,
Receyue it weel with gre in paciens.
And thouh thi trespace be *preuye and couerte,
759 Yitt, whan thou feelist in thyn aduertence,
That thou arte blemsshed in thi conscience,
Withynne thy silfe than make arbitremewt,
762 Deemyng thy-silfe in thyn owne jugement.
723 if f. CHbD 730 what f. C Hf 731 contryve CHbMHcD, conslryue Fe
732 mannys C Fe, mens A Ad 73C murte C || acchewe C, exchewe IIc, atteyne a
741 to] ful rHb 742 man f. C, a man R v 744 ah R, also Ad, all C A Y Fe,
than x, «* übr. 750 shew C 752 And rRAHfHc, For an (o | parcause C, par-
chas Y, case v {cause %) 756 that thou die Fe Ad 758 pruuye C, pryue v, preue M,
pryvary Hb
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 21
822 Die Burghsche Cato-Parapbrase.
III. 18 . CIX.
Mispende no tyme for slouthe or for lacchesse,
But whiloni reed in bookis olde and wise.
765 Reed and reporte with grete attentyfnesse.
Be reedyng to connyng men may arrise.
Than reed, my sone, and connyng accomplise.
768 Thes poetes writen thynges of grete meruayle
And of snialle credence oftyn, thys is no faile.
in. 19 CX.
A-mong freendis sittyng at the feest
771 Be curteis and demure of thy language.
Who spekith moste, may nat offende leste.
Off flessh and boon nature hathe made a cage
774 The tonge to keepe, that she be nat outrage.
*Than if thou wolt ben losed of *norture,
Refreyne thyn tonge with al thy besy eure.
m. 20 CXI. fol. 102'
777 Some wommen weepyne of pur femynyte,
Whan othir wise thei kan nat her entente
*Acchepe; but yit beware of nyce pite
'780 Thi manly resouw, that it be nat blent.
For suche wepyng thyne hert auhte nat relente.
Some wommen of kynde be euer-moor weepyng
< 783 And vndir that kan thei bothe prikke and stynge.
m. 2i CXII.
That thou haste goten, to thin owne worship vse.
What auailethe richesse withoute honoure?
786 To spare good and worship to refuse
The nygard chynche with peyne and with labour
Is besy. But I reede the nat devour
J789 Withouten resoura thy good excessiffly;
For than muste thou begge of othir *haste'ly.
m. 22 CXIIL
Enprente, my childe, ay sadly in thy mynde,
792 That thou be nat of *deth to *sore adradde,
That shal the from wrecchidnesse vnbynde,
Wher-in thi liff longe thou hast ladde,
795 Til of thy * corps thy soule hathe ben ful sadde.
For riht as dethe is eend of ferfulnesse,
So is she eende of al thy wrecehydnesse.
in. 23 CXIV. foi. io2r
798 *Thi wifis woord suffre and take in gree,
Whan it availeth; for betide it may
Ful ofte, that *of riht grete prudence is she
801 And muste ben a-lowed, this is no nay.
Suffre hir than and hir coneeit assay.
For it is hard, whan thou can nat be stille,
804 Ne hir to suffre thou kanst haue no wille.
775 Thauh C | nature C HbaCp#, nurture R X D Ad 779 acchew C M Ha
HcFc, eschewe Db, askuse Hf 790 hastly CR, hastyly F H Hb Ha Hc (-«7»), hastely
xDaCpAD, hastyfly G He 792 cUd C | tofore C 795 corpus C, cors y 798
this C 800 riht of C
Die Burghsche Cato-Paraphrase. 323
in. 24 CXV.
Goodis, that be youen the of nature,
Comethe eek of thy progenytours.
807 Therfore, my child, with al thi force and eure
Love hem weel and cherissh at all hours.
Thei fostred the and kept in youthe shours.
810 Thi moodir, my child, in especiall,
Iff thou do wele, neuer offende at all.
CXVI. Lenvoye.
Resorte, resorte and hidirward releve.
813 My maister, now her is *an holsom ayr.
For your availe vnto this place retreve,
Wher-as of moralite floures fayre
816 And ewete ful plesauwtly, lo, dothe repeir.
Gadrith therof and makithe yow a gay
And restethe yow heer riht in this *herbe»'re.
819 Behold and see, what thyng is to your pay.
CXVII. fol. 103'
Whane ye haue gadrid floures *to your liste,
Tastethe hem; for thei ben preseruatiffe.
822 Holdithe hem fast and berethe in your *ftste.
For the pestilence ayers infectyffe
I conseil yow, and * ««parte my liff,
825 That ye shall leede your liff in sikirnesse
Thoruh vertue of this conseruatiffe
And eeke atteyne to muche worthynesse.
CXVIII.
828 Thus meve I you vndir protecc«ouw
Off your good grace, what tyme ye reede
Or haue in this mateer inspecciou»,
831 As it biddith, that ye wol don in deede.
And than I dar afferme [*] withouten dreede,
Ye shall *acche#e and be ful vertuous.
834 Heer shal ye fynde, that you may guyde and leede
Streiht to good fame and bryng yow til hir hous.
Explicit tertia pars.
813 rnholsom C 818 herbere C M v £ (erbayre Ad) 820 to f. C, vnto P, at Hb
822 feste C, feystys D 824 enp&rte C, ivqxirte F, in part E, jupard H, jubarte M,
jubard a, juberd A, jeopard Hb Cp D Fe, gewparde Fe, gibarde v, iebardeHt, ieparde Cx
832 afferme it r 833 acchewe C, eschewe a, eschue v
Würzburg. Max Förster.
(Schlufs folgt.)
21"
Zur englischen Wortgeschichte.
l. Carfaoc.
Gar fax, Carfox 'a place where four roads or streets meet;
name of a place formed by the intersection of two principal streets
in various towns, as at Oxford and Exeter' wird vom N. E. D. ohne
Zweifel richtig auf afrz. *carreforcs (carrefors) = lat. quadrifurcus
'four-forked' zurückgeführt. Die lautliche Entwickelung des eng-
lischen Wortes ist nicht ganz klar. Das N. E. D. bemerkt: 'The
total absence of the r in English is . . . notable, especially as fork
was a well-known word from OE. times.' Grofse Schwierigkeit kann
jedoch der Schwund des zweiten r nicht machen: wir haben hier
offenbar einen Fall von totaler Dissimilation. Umgekehrt
mag das a < o der zweiten Silbe auf Angleichung an den Vokal der
ersten Silbe beruhen, wenn es nicht eher aus Mundarten stammt, die
o lautgesetzlich zu ä wandeln (ox > aks, top > tap im Süden und
angrenzenden Mittelland).
Für totale Dissimilation mögen hier den Sammlungen von
Jespersen, E. St. XXIII 461, und Hempl, Loss of r in English
through dissimilation, in: Dialect Notes (published by the American
Dialect Society) I 279 ff, noch einige Beispiele zugefügt werden.
Fevere = February, Cely Papers 1483 (S. 140—142), 1487
(S. 169 f.). Diese für die ältere Zeit vom N. E. D. nicht belegte
Form mit Dissimilation ist heute noch dialektisch: E. D. D. II 319
verzeichnet Febiwerry und N. E. D. schott. febewar. Henslowe schreibt
in seinem Tagebuch 1591—1609 febery (S. 33).
libary für library kann man gelegentlich hören; L. Murray,
English Spelling-Book (York 1804) stellt es unter die vulgär errors
(Kap. 13).
Afrz. orfreis (aurifrisium) erscheint im 15. Jahrh. als orpheis,
offreis, vgl. N. E. D. unter orphrey 'gold embroidery'.
pimrose für primrose, vgl. Wright, Orammar of Windhill, §262;
F. E. Taylor, Folkspeech of South Lancashire, Manchester 1901;
Darlington, Folkspeech of South Cheshire, S. 20.
Für quarter verzeichnet N. E. D. qwatteer 14. Jahrh., für quar-
terage quaterage 15. Jahrh.
Shrewsbury (Seiropesberie) heifst in der örtlichen Auesprache
sroazbri und soazbri.
Zur englischen Wortgeschichte. 325
iransom 'Querbalken' (vgl. traunsum, transum, transounes in
Records of a London City Church 1426—27, S. 65 f., 1487 — 88,
S. 137; E. E. T. &, Original Series No. 125) erklärt Skeat als <a
corruption of lat. transtrum', vgl. jetzt auch seine Notes on English
Etymology, S. 304. Das Etymon ist allem Anschein nach richtig,
nur ist das englische Wort keine corruption, sondern lautgerechte
Entwickelung. Zunächst ist transtrum zu transt(o)m (r — r zu r — 0,
totale Dissimilation) und dann ist stm ganz regelrecht zu sm ge-
worden wie in Christmas.
Wenn in altengl. cwearten aus civeartern 'Gefängnis', beren aus
berern 'Scheune', sceapheorden aus -ern 'Schafstall' ein r geschwunden
ist, so ist daran wohl nicht allein die 'schwachtonige Stellung' schuld
(Pogatscher, Litbl. XXII, 160); es ist wohl kein Zufall, dafs in der
vorhergehenden Silbe schon ein r stand.
I ist infolge totaler Dissimilation geschwunden in mundartlichem
eelak für lilac (Ellis, On Early English Pronunciation V 443, 714)
und chiblain für chil-blain 'Frostbeule' (a. a. O. 237). Vgl. deutsch-
mundartliches Hache = lilachen, Z. f. hd. Maa. I 27. Der Schwund
des k in spetacle(s) = spectacles (E. D. D., Bartlett, Americanisms,
S. 40, vgl. deutsch- mundartliches Spitäkl = Spektakel) wird wohl
auch auf totaler Dissimilation beruhen.
2. foreign.
foreign hat in heutigen Mundarten die Entsprechung des u an
Stelle von o: Wright, E. D. D., belegt furren für Dorset, furrin für
Nord-Yorkshire und östliche Mundarten; auch West - Somerset hat
die Entsprechung des u und ebenso Oldham in Lancashire (nach
einer Mitteilung von Herrn Lektor K. G. Schilling). Die Behaup-
tung von E. Kruisinga, Grammar of the Dialect of West Somerset,
Bonn 1905, § 230, der vorausgehende Labial habe den Übergang
von o > u verschuldet, bedarf keiner Widerlegung, ebensowenig wie
andere 'sporadische' Lautwandlungen ähnlicher Art, mit denen er
operiert.
Der t<-Laut in foreign war früh-neuenglisch auch in der Schrift-
sprache üblich: darauf deutet die Schreibung furraine, 17. Jahrh.
(K E. D.).
Englisches furain geht auf altfrz. fourain (fouran, fourin, vgl.
Godefroy) zurück. Und diese altfrz. Form stellt die lautgesetzliche,
volkstümliche Entwickelung aus lat. foräneus dar: 'vortoniges freies
g vor oralen Konsonanten wird über o zu u\ vgl. cgrona > curone,
mgrire > murir (Schwan-Behrens, Altfranzösische Grammatik 6, § 91).
Dagegen ist frz. forain Lehnwort, und darauf geht engl, foreign mit
o zurück.
3. leachf letch.
Ne. leach, leech, letch mit der jetzt veralteten Bedeutung 'to
water, wet', mit der noch bewahrten 'to cause (a liquid) to percolate
826 Zur englischen Weltgeschichte.
through some material', 'to subjeet to the actiou of per colating water'
wird von Bradley, N. E. D., aus ae. leccan 'wässern' abgeleitet. Da-
mit ist deutsches lecken 'netzen, begiefsen' (nach Ausweis z. B. der
hessischen Mundart mit Umlauts-e) identisch; vgl. D. Wb. VI 481.
Die gemeinsame germanische Grundform ist *lakjan, über dessen
Etymologie man N. E. D., Kluge, Etym. Wtb.,6 S. 241 (leck), und
J. Franck, Etymologisch Woordenboek der Nederlandsche Taal, S. 559,
vergleiche.
Zur Lautform der englischen Wörter bemerkt Bradley: 'The
form letch is normal; the form leach is phonologically obscure.'
Schröer (in der Neubearbeitung von Griebs Wtbch.) verweist auf leak
aus altnord. leka. Die Nebenform leach könnte wohl wirklich eine
Kontamination aus lautgesetzlichem letch -\~ leak (Igk Smith 1568,
S. 43) sein, vgl. N. E. D. leak, 5.
Das Substantiv leach, letch, das in verschiedenen technischen
Verwendungen gebraucht wird (N. E. D.), ist aus dem Verbum ab-
geleitet.
4. Dial. misk 'mist'.
Wright, E. D. D. IV 129, verzeichnet für die Mundarten von
Devon und Somerset misk 'a mist, fog'. Kruisinga, Grammar of
the Dialect of West Somerset (Bonner Beiträge zur Anglistik XVIII),
meint S. 178 (zu § 371): 'mgsk is probably connected with mumj
(— schmutzig).
In Wirklichkeit ist misk aus mist entstanden. Die Entwicke-
lung ist folgen dermafsen verlaufen. Zunächst wurde mist (besonders
vor folgendem konsonantisch anlautenden Wort) zu mis, eine Form,
die auch für West-Somerset bezeugt wird (vergl. fact > fak, cast >
kas usw.). Weiterhin ist eine schöne Beobachtung Elworthys aus
dem Dialekt von West-Somerset zu beachten, die freilich von Krui-
singa in seiner Grammatik ganz übergangen worden ist: 'We hardly
ever sound k after s, except when followed by a vowel, and not
always then — as vlaas "flask", maas "mask'" (vergl. An Outline of
the Grammar of the Dialect of West Somerset, E. D. S. 1877, S. 53).
k nach s ist vor konsonantisch anlautenden Wörtern geschwunden,
vor vokalisch anlautenden geblieben: flask zu vlaas -\- Kons. (vgl.
asked, askt > ast), vlaask -\- Vok. Da neben vlaas auch vlaask, neben
maas auch maask steht, ist zu mis ein misk neugebildet worden.
mist
mis -\- Kons, mist -j- Vok.
misk -\- Vok. mis -{- Kons.
(flask -4- Vok. flas -\- Kons.)
Zur englischen Wortgeschichte. 327
5. rash 'Rasch'.
Der Tuchname engl, rash, dtsch. Rasch wird allgemein auf
frz. ras zurückgeführt, über dessen Herkunft man Körting, Latein.-
rom. Wtb.2, No. 6682, Franck, Etymologisch Woordenboek der Neder-
landsche Taal, S. 773, vergleiche. Auffällig ist die Vertretung des
frz. s durch s im Englischen und Deutschen.
Zur Lautform des englischen Wortes bemerkt Craigie, N. E. D.
VIII 1 57 : 'the origin of the -sh . . . is not clear.' Und wenn Heyne
im D. Wtb. VIII 125 sagt, Rasch sei 'mit einer Verbreiterung des
Auslauts' aus (ar)ras entstanden, so ist damit nichts erklärt.
Es liegt sehr nahe, anzunehmen, dafs der französische (in Arras
gewebte?) Stoff durch niederländische Vermittelung nach
Deutschland und England gekommen ist. Nun entspricht z. B. einem
niederländischen vis (geschrieben visch) im Englischen und im Deut-
schen die Form fis (fish, Fisch). Englischem und deutschem -s steht
niederländisches -s gegenüber: altes -sk ist in mndl. Zeit lautgesetz-
lich zu -s geworden; vergl. J. Franck, Mndl. Grammatik, § 110, 2,
und W. van Helten, Mndl. Spraakkunst, S. 195. Nach dem Muster
von fis : fis u. dgl. wurde ndl. ras zu ras (rash, Rasch) umgebildet.
Es liegt hier also 'analogische Lautsubstitution' vor, wie man sie oft
beobachten kann bei Entlehnungen aus einer Sprache in die andere,
aus einer Mundart in die andere, bei den Wechselbeziehungen zwi-
schen Schriftsprache und Mundart. Vgl. z. B. Zs. f. frz. Spr. XXII
61 ff., Archiv CVII 414.
Rasch ist auch in das Skandinavische übernommen worden und
zwar in der Form rask. sk für s ist Lautsubstitution. Skandina-
vische Grammatiker früherer Zeit setzen engl, sh dem skandinav. sk
gleich.
Ob esthnisches rask 'wollenes Fufstuch der Weiber' (F. Wiede-
mann, Esthnisch - deutsches Wörterbtcch, S. 928) mit unserem rasch
identisch ist, kann ich nicht beurteilen. Zu ital. rascia, das Florio
als rash erklärt, vgl. Körting, Lat.-rom. Wtb., No. 6671.
Auf einen ähnlichen Fall von analogischer Lautsubstitution sei
noch hingewiesen.
Me. pertriche (ne. partridge, afrz. pertris) erscheint im älteren
Schottisch und in heutigen Mundarten Nordenglands und Schott-
lands als pertriJc, partrik, vgl. E. D. D. und Jamieson, Etymologi-
cal Dictionary of the Scottish Language, New Edition, III 445, 450.
Für diese Form mit k gibt es nicht etwa eine unmittelbare altfranz.
Quelle, pertrik mufs aus pertriche entstanden sein.
Einem südhumbrischen ts (ch) entspricht im Nordhumbrischen k;
deshalb wurde in pertrich bei der Übernahme in das Nordhumbrische
ts durch k ersetzt.
Ist so auch feek für fetch zu erklären, das für Cleveland in
Yorkshire (vgl. E. D. S., Original Glossaries HI, S. 2) bezeugt wird ?
S28 Zur englischen Wortgeschichte.
Auf Entlehnung aus dem Südhumbrischen deutet auch fes in Schott-
land : ts ist durch s ersetzt worden ; das ist Lautsubstitution, und
zwar lautmechanische, nicht analogische.
6. Dial. wist 'unlucky'.
Das E. D. D. VI 517 belegt wist neben wisht 'unlucky' und
stellt es sehr einleuchtend zu wish 'verwünschen'. Unaufgeklärt
bleibt dagegen die Lautform: st neben sht. Das Wort ist den Gut-
turallaute, S. 19 f., gesammelten Beispielen von s für sh anzureihen.
In ae. wysct(e) wurde die ungeläufige Lautgruppe skt durch st ersetzt
(vergl. Cosijn, Beitr. VIII 571, und Sievers 3, § 405, Anm. 8); vergl.
asked, askt > äst, ahd. wunseta > wunsta (Notker).
Giefsen. W. Hörn.
Zur letzten Londoner Theaterseason.
London ist auch theatralisch das Zentrum Englands: es er-
hält und sichert die Tradition, es schafft und gebietet über die
Mode. Englisches Theaterwesen kann in der 'town' erschöpfend
studiert werden — freilich nicht in kurzer Zeit, wegen der Über-
fülle des Materials, aber für lange Zeit hinaus, weil der Lon-
doner nirgends konservativer ist als in seinem Theater. Nach
sechs Jahren war es mir unlängst vergönnt, Londons stage-land
wieder abzustreifen, ich habe nichts Neues gesehen, nur anderes
als ehedem. Die Beobachtungen von damals und jetzt zeigen
mir dasselbe Bild, führen mich zum selben Urteil in den Grund-
zügen. In Einzelheiten bin ich freilich auf Neuheiten gestofsen.
Bezeichnend aber ist, dafs dies Neuartige nicht etwa dem Gan-
zen Richtung gibt, sondern blofs nebenher läuft. Es sind Re-
formen, die nicht durchgreifen, Schöpfungen, die nicht ein-
schlagen. Beiden fehlt es an Perspektive in die Zukunft, sie
bleiben im Moment ärmlich isoliert. Doch sind sie nicht minder
wertvoll. Sie werden das vom symptomatischen Standpunkt,
indem sie Mängel zeigen, die sie beheben wollen. Und sie
zeigen überall hin: auf die theatralische Organisation wie dra-
matische Produktion, auf die schauspielerische und szenische
Konvention.
Dafs es mit dem modernen englischen Theater schlecht be-
stellt ist, verhehlen sich auch die Engländer nicht. Nur wollen
sie den Hauptgrund prinzipiell nicht zugeben. Er liegt in der
Organisation. Es gibt nur Privattheater; die müssen aber zu
Geschäftstheatern werden und 'en-suite' spielen. Auf jeder
Bühne wird nur ein Stück gespielt, ohne Abwechselung, so lange
es eben zieht, d. h. verdient. Bricht es jung zusammen nach
ein paar Dutzend Aufführungen, oder erlahmt es nach etlichen
hundert Vorstellungen an Altersschwäche, so wird es durch ein
anderes ersetzt, das sich wiederum auszuleben hat. Dieses
System besitzt einen Vorteil: jedes Stück wird bestens vor-
bereitet, aber zwei Nachteile: für das Drama und für die Dar-
stellung. Autor wie Direktor unterwerfen sich dem Geschmack,
besser Ungeschmack des Publikums beim Ausarbeiten oder Aus-
wählen des Stückes. Die Schauspieler werden zu einseitigen
Routiniers, die talentlosen zu selbstsicheren Handwerkern, die
380 Zur letzten Londoner Theaterseason.
talentvollen zu selbstgefälligen Virtuosen. Sie bleiben unter der
Kunst zurück oder gehen über die Kunst hinaus, denn sie
schaffen nicht erfrischt von den stets wechselnden Forderungen
des Repertoires aus persönlicher Stimmung heraus, sondern ar-
beiten gewohnheitsstarr in endlos gleichem Betriebe.
Dieses En-suite - System steht fest, trotz schüchterner Re-
formversuche nach einem Repertoire - Theater hin. Antriebe
hierzu kommen von verschiedenen Seiten. Sogar vom inner-
circle des Metier. Da ist Tree, der hervorragende Schauspieler
und Direktor von 'His Majesty's Theatre'. Zwei Seelen wohnen
in seiner Brust: als konkurrierender Bühnenleiter mufs er Ge-
schäftsmann sein und soll das jeweilig führende Stück en-suite
spielen; als Künstler möchte er ein Repertoire schaffen. So ge-
langt er zu dem Kompromifs, dafs er die Suite ab und zu mit ver-
schiedentlichen Shakespeare-Dramen unterbricht. Dafs er darin
Paraderollen findet, begreift sich. Das Experiment gelang. Shake-
speare und Tree sind eben zwei Namen, die im theatralischen
London ziehen. An solchen 'literarischen Abenden', wie man
bei uns sagen würde, ist das weitläufige Haus voll von society,
middle-class und mass. In Logen und stalls prangt Eleganz,
das pit zeigt Intelligenz, die gallery steuert Temperament bei.
Ein anderer Versuch war zwar auch geglückt, aber so zahm
angelegt, dafs er sich von vornherein als Episode gab. Ve-
drenne, der Impresario, und Barker, der Schauspieler, hatten
sich zusammengetan, um einen modernen Dramatiker, Bernhard
Shaw, zu lanzieren. Als Haus wurde das niedliche Royal Court
Theatre gewählt (im fernen Südwesten, um an Miete zu sparen),
als Zeit der Nachmittag (um die Mitwirkung von Schauspielern
verschiedener Bühnen des Westens zu ermöglichen). Die Stücke
waren 'Kaviar fürs Volk', das natürlich auch ausblieb. Dafür
erschienen die Theater - Gourmets der oberen und mittleren
Schichten. Nach den Vorstellungen gaVs vor dem Hause ein
kleines Gedränge von carriages und auto's zwischen behäbigen
'busses', worauf jene ladies und gentlemen, die das auch noch
sind, nach dem Westen heimfuhren. So kam das Court Theatre
zu einem Repertoire, wenn auch nur von matinees — unter
dem Zeichen einer literarischen Mode.
Der dritte Versuch scheint mir mifslungen zu sein. Er war
ja auch rein literarisch und ganz prinzipiell geartet, wie schon
der Titel des Unternehmens verkündigte: The Mermaid Reper-
tory Theatre. Also gespielt wurde historisches Drama und zwar
im Great Queen Street Theatre. Dieses liegt bedenklich ver-
winkelt im W. C, wo der erlahmende Westen schon sehr von
der Schäbigkeit des erstarkenden Zentrums abfärbt. Der pom-
pöse Titel der Strafse soll wohl für ihre Enge, ihren Schmutz,
ihre Unbedeutendheit entschädigen. In sie hinein^pafst auch
Zur letzten Londoner Theaterseason. 331
das armselige Haus mit seinem unbequemen Saal. Die Schau-
spieler sind — mit wenigen Ausnahmen — zu jung oder zu alt,
die da glauben, schon oder noch spielen zu können. Das Pu-
blikum ist dünn gesät und in seiner äufseren Erscheinung von
der internationalen Halbschäbigkeit der Intellektuellen, nicht
dekorativ, doch voll ehrlicher Begeisterung, die von kritischem
Feingefühl gemeistert wird, kurzum geistige Auslese, keine Herde,
sondern eine Gemeinde unter dem Banner des gebildeten Ge-
schmacks. Das war auch nötig, denn das Repertoire basierte
auf Ben Jonson, Beaumont und Fletcher, Vanbrugh. Die Stücke
wechselten von "Woche zu Woche, so dafs die Reform hier im
mechanischen Abkürzen des En-suite-Systems bestand.
Das waren die organisatorischen Neuerungen: Halbheiten
und Schwachheiten. Ja vielleicht darf nur Trees Versuch als
zweckbewufster Vorgang gelten, vielleicht ist das Repertoiresystem
in den beiden anderen Fällen blofs eine theatralische Begleit-
erscheinung wesentlich literarischer Experimente. Sieht man von
Shakespeare ab, so war die 'Literatur' auf der Londoner Bühne
blofs durch die Shaw-Matinees und das Mermaid Repertory ver-
treten, mithin unscheinbar, zufallsmäfsig, wirkungslos. Es herrscht
eben ausschliefslich mehr oder minder geschickte Theatralik,
Marktware des Tages. Auch das ist ein durchgehendes Cha-
rakteristikum des Londoner Repertoires (wenn man darunter die
Gesamtheit der aufgeführten Stücke versteht), dafs es durchaus
modern ist. Modern freilich nicht im stilistischen Sinne, son-
dern ganz äufserlich, es werden meist nur funkelnagelneue Stücke
aufgeführt. Dieser Mangel an historischer Tiefe fällt dem Deut-
schen und Franzosen auf. Das nationale Repertoire des Wiener
Burgtheaters geht doch fast 150, das der Comedie francaise
weit über 200 Jahre zurück — ebenso weit wie das lebensfähige
deutsche oder französische Drama selbst. In London vertritt einzig
Shakespeare das 'historische' Drama. Warum? Wohl aus zwei
Gründen. Dem englischen Drama fehlte es seit Shakespeare an
den beiden Eigenschaften, die es vor der Vergefslichkeit des Tages
hätten retten können : an kulturellem Gehalt und an originärer
Form. Jedes lebensfähige Drama mufs seine Zeit spiegeln,
Kulturwerk sein und mufs als Kunstwerk dauernden Formreiz
besitzen. Es hat zugleich Interesse und Gefallen im Publikum
zu erwecken. Besitzt das Drama blofs seinen interessanten Ge-
halt oder blofs seine reizende Form, so wirkt es entweder auf
eine historisch oder auf eine ästhetisch interessierte Gemeinde;
für das naive Publikum, die unbewufst anspruchsvollere Masse,
stirbt es jedoch ab. Nur während der Renaissance war das
englische Theater Zeitspiegel für das Volk. Später verkümmerte
es im Dienste von Klassen und Cliquen. Es unterhielt während
der Restauration Hof und Adel, es erbaute in der Folge braves
882 Zur letzten Londoner Theaterseaeon.
Bürgertum, war bald frivol, bald ehrbar, wurde amüsant oder
sentimental. Oder es lebte noch ausländischen Moden zu Ge-
fallen kosmopolitischer Ästheten, oder es gab sich als Sprach-
rohr von Parteiproblemen und Gesellschaftsstimmungen. Nie
mehr aber gewann es die kraftspendende Bodenständigkeit in
Ganz-England, nie mehr die Bedeutung für die gesamte Nation.
Und so starb es von Periode zu Periode ab, denn diese Pe-
rioden waren keine inneren Entwickelungsphasen, wo die spätere
zur Erbin der früheren wird, sondern isolierte Abschnitte von
blofs chronologischer Folge. Darum versteht der Engländer
das Gestern nicht im Heute wie der Deutsche oder Franzose,
darum ist sein heutiges Theater auch nur von heute.
Freilich Shakespeare lebt. Er hat eben die humane Philo-
sophie, der für das Verständnis keine Ort- und Zeitgrenzen gesetzt
sind, und er hat eine organische Form von unverwelklichem Reiz,
weil sie den umschlossenen Kern symbolisiert. Überdies bietet er
seinen Landsleuten ein Engländertum, das sie als ihre innerste
Eigenart unmittelbar anempfinden, immer noch trotz mehrhundert-
jährigen Kulturwandels. Respekt und Intimität bilden die Grund-
lage von Sh.s dauernder Geltung in London. Das hat freilich
nicht gehindert, dafs mit seinen Werken sehr frei umgesprungen
wird. Sh. auf der heutigen Londoner Bühne — das ist weniger
für ihn als für sie charakteristisch. Direktor, Dramaturg, Re-
gisseur, Darsteller und Publikum gewinnen von Sh. aus Phy-
siognomie. Besonders auffallend ist die Verschiedenheit der
Aufführungen unter sich, nicht etwa nach dem Grade, sondern
nach der Art der Kunstleistung. Man könnte letztlich sagen:
nach ihrem Zweck. Da gibt es einen Sh.-Direktor par excel-
lence. Es ist der nun auch nicht mehr junge Benson. Er reist
auf Sh. im ganzen Königreich herum, da er ja in London nicht
immer nur Sh. spielen kann. Und in der town richtet er sich
mit seiner Truppe meist in peripherischen Häusern ein, denn
er spielt nicht für die Mondänen des Westens und nicht mo-
dern, sondern für die brave middle-class in der Tradition der
Halbvergangenheit. Mittelgute Ausgeglichenheit ist die Signatur
seiner Truppe.
Ist Benson mit der Muse Sh.s solid verheiratet, so kommt
Tree mit ihr über einen scharmanten Flirt nicht hinaus. Sh.
soll seinem Theater den Anstrich einer literarischen Repertoire-
bühne geben im Westen und für den Westen. Da wird denn
auch modern gespielt nach dem Geschmack der eleganten Welt,
d. h. von guten Schauspielern in blendender Inszenierung. Schön-
heit ist die Parole.
Nach anderen Zielen streben andere Direktoren. 'Inter-
essant' ist die Losung von Asche und Poel. Jener raffiniert Sh.
mit hypermodernen Milieukünsten für kulturhistorische Fein-
Zur letzten Londoner Theaterseason. 883
sclimecker, dieser vereinfacht Sh. auf seiner archaistisch -elisa-
bethinischen Bühne für die literarhistorische Orthodoxie.
Endlich die Star- Vorstellungen! Da wird der Dichter vom
Schauspieler erdrückt. Das Drama ist zum Vorwand geworden,
und man kann Sh. nur mehr als Bomben-Rollen-Schreiber stu-
dieren und auch als solchen — bewundern.
Mit dem verschiedenen Zweck ändert sich die Art der Auf-
führungen, vor allem hinsichtlich des Textes. Um das persön-
lich auszudrücken, müfste man sagen: der Dramaturg spielt die
mannigfachsten Rollen; er ist streng konservativ und opfert
keine Zeile, oder er schont das Original nach Möglichkeit pietät-
voll, oder er operiert brutal mit seinem Blaustift. Zwei Fak-
toren diktieren ihm sein Vorgehen, die Bühne und der Schau-
spieler. Nur auf der altlondoner Bühne kann der Text, d. h.
hier das szenische Gefüge, unverändert erhalten bleiben, und so
ist auch blofs der archaisierende Poel völlig texttreu. Unsere
moderne Bühne (und für London besteht sie seit dem Ausgang
des 17. Jahrhunderts) kann mehr und weniger als die alte: sie
ist für das szenische Einzelbild ausdrucksfälliger, aber gegen-
über der Szenengruppierung viel ungelenker. Auf ihr mufs die
Sh.sche Szenenfülle zusammengedrängt werden. Unter diesem
Zwang steht jeder moderne Dramaturg. Aber nur die litera-
rischen bleiben da stehen, wo der Zwang aufhört, die meisten
schreiten unbekümmert weiter vor. Sie streichen an Szenen, oft
ganze Szenen, werfen mehrere, zeitlich und örtlich getrennte
Szenen in eine einzige zusammen, nur um Theaterarbeit zu
sparen. Sinn und Stil der Dichtung werden so der Bequemlich-
keit der Aufführung geopfert. Oder sie tun dasselbe, um ihren
Star glänzen zu lassen: dann werden die 'Szenen ohne Star'
zusammengestrichen oder überhaupt getilgt; die 'Szenen mit
Star' womöglich mit seinem Abgang abgebrochen, um seinen
Rolleneffekt nicht abflauen zu lassen. Um solche Handwerks-
sünden des Dramaturgen zu beleuchten, will ich auf etliche
Hamlet- und Romeo -Aufführungen — es waren ihrer sechs —
zurückgreifen. Den brutalsten Eingriff bedeutet die Streichung
ganzer Szenen. In Hamlet entfällt meist II 1 und IV 1, 2, 3, 4, 6.
Im zweiten Akt wird also auf eine Charakterisierungsszene ver-
zichtet, und der vierte Akt wird von Hamlet purifiziert, es gibt
hier eben keine Glanzstellen für den Star; dafür wird dieser
Akt zum 'Ophelienakt' par excellence. Einmal entfiel sogar
III 3 (des Königs Gebet) — Gott weifs warum. Auch aus Romeo
werden gewöhnlich 6 Szenen ausgeschieden: II 1, III 2, 4, IV
2, 4, V 2, womit auf bessere Motivierung der Fabel oder auf
Stimmungskontraste verzichtet wird. Banal ist es, wenn zwei
(ursprünglich oder zufolge von Streichungen) aufeinander folgende
Szenen, die am selben Ort spielen oder etwa spielen könnten,
834 Zur letzten Londoner Theaterseason.
in eine einzige zusammengezogen werden. So Hamlet III 1 und
2, IV 5 und 7 oder Romeo I 1 und 2, II 3 und 4, IV 3 und
5. Ist eine solclie Operation vom Standpunkt des Ortes eben
noch möglich, so wird sie unsinnig in bezug auf die Zeit —
selbstverständlich auf die ideale Zeit. Der Dichter braucht Pau-
sen, die er durch Lokalwandel markiert oder durch Zwischen-
szenen füllt. Solche Pausen tilgen heifst die Stimmungsskala
einer Szenengruppe völlig verkennen. Raffiniert sind die Ab-
striche am Szenenende. So schliefst in Hamlet III 2 die Schau-
spielszene mit des Königs Flucht und Hamlets Triumph in for-
tissimo und die letzte Szene mit Hamlets Tod. Gleicherweise
in Romeo III 1 mit Romeos Flucht von der Leiche Tybalts und
die letzte Szene mit Juliens Tod. Überschaut man diese 'drama-
turgischen' Eingriffe, so stehen sie immer im Dienste derber
Wirkungen. Nur das Grobstoffliche der Fabel wird gewahrt,
aber feinere Motivierung wird geopfert; Rolleneffekte werden
gesucht auf Kosten eindringlicherer Charakterisierung.
Ist der Dramaturg für die Materie des Stückes verantwort-
lich, so der Regisseur für den Stil. Er hat vor allem zu in-
szenieren. Das geschieht dermalen für Shakespeare in verschieden-
artigster Weise. Dreierlei Tendenzen spürt man aus dem Chaos
heraus: die Inszenierung ist altmodisch, neumodisch oder über-
modern. Der brave Benson repräsentiert die altmodische im
Sinne einer ausgebleichten Tradition: die Dekorationen sind
mäfsig, die Kostüme reich, die Komparserie bleibt ledern, die
Solisten formen sich zu hübschen Gruppenbildern; das Ganze
wirkt typisch flau. Neumodisch wird bei Tree inszeniert: De-
korationen und Kostüme sind prächtig, die Statisten famos dres-
siert, die Solisten ausgezeichnete Mimiker; dazu kommen zwei
Stimnmngsbehelfe für die Bühne, die virtuos behandelt und
reichlichst verwendet werden, Licht und Musik. Kurzum, alles
strebt nach faszinierender Schönheit im Opernstil. Tree melo-
dramatisiert Shakespeare (das Wort im kontinentalen Sinne ver-
standen). Er spielt ja auch für den verweichlichten Westen.
In anderer Art sucht Asche auf sein blasiertes Publikum zu
wirken — als scharfer Charakteristiker. Er betreibt Milieu-
künste als Kulturhistoriker, er sucht Zeitstimmung zu geben.
Sein Hamlet spielt in einem barbarischen Dänemark der Urfabel,
seine Zähmung der Widerspenstigen in einem echten Renaissance-
Italien. Ist dieses überflüssig, so wird jenes falsch. An Hamlet
ist jeder Zoll englische Renaissance, und dafs der uralte Stoff
dem genialen Künstler auch dazu tauglich wurde, beweist nur,
welch inferiore Rolle der Materie im Kunstwerk zugewiesen ist.
Wenn Asche den Stoff über den Geist setzt, so treibt er geist-
lose Meiningerei. Zu diesen reinen Typen der Inszenierung
treten auch Zwittererscheinungen. Nur mit einem stillen Lächeln
'Zur letzten Londoner Theaterseason. 335
konnte ich die Ungleichmäfsigkeit in der Ausstattung der Einzel-
szenen feststellen, als ich den Kaufmann von Venedig im Drury
Lane Theatre gesehen. Der alte Irving spielte den Shylock. Die
Inszenierung war schäbig, ausgenommen die Shylockszenen!
Mit der Inszenierung ist nun erst die eine Hälfte der Arbeit
des stilschaffenden Regisseurs geleistet, die Arbeit für den Rah-
men. Er hat auch für das Bild zu arbeiten, für den Stil der
Schauspieler. Dieses lebende Material ist seinem Bildner nicht
absolut gefügig, das Ergebnis ist hier wesentlich ein Kompromifs
zwischen Regietendenz und Schauspielertradition, und in der
Praxis erweist sich letztere wohl meist sogar als das stärkere
Element. Darum möchte ich den Stil der Darstellung lieber
unter dem Titel 'Shakespeare und seine heutigen Londoner
Schauspieler' behandeln.
Der Schauspieler ist — ob er nun will oder nicht, ob er
es bescheiden eingesteht oder hochmütig leugnet — schliefslich
doch nur der Diener des grofsen Dichters. So folgt er auch
stilistisch den Weisungen seines Herrn. Der Stil des Shake-
speareschen Dramas ist nun nicht einheitlich, es herrscht Stil-
mischung. Historisch besehen war dies aufgespeichertes Erbgut
— vom klassischen und vom volkstümlichen Drama her. Der
grofse Erbe Shakespeare konnte damit zweierlei anfangen, ent-
weder die Stilelemente untereinander ausgleichen oder gegen-
einander ausspielen. Als universaler Geist entschied er sich für
letzteres. Er hat die Absicht auf die Mannigfaltigkeit im Aus-
druck, er strebt nach der Kontrastwirkung seiner Stilmittel. In
seinen Dramen wechseln plastische Deklamation, lyrische Emo-
tion, knappes Referat, preziöse Gewundenheit, derber Jargon
und kerniger Dialekt. Idealismus und Realismus und alle
zwischenlagernden Schattierungen sind vertreten. Unter dem
Gesetz des Gegensatzes verschärfen sich die einzelnen Spielarten.
Der Schauspieler wird vom Dichter mitgerissen. Er wird Spe-
zialist, wenn die Figuren, die er seinem Rollenfach zufolge zu
spielen hat, stileinseitig sind, wie die komischen, oder er wird
stilistisch vielgestaltig, wenn er ein ernstes Fach vertritt, denn
hier wechselt der Stil innerhalb der Rolle nach der Situation.
Immer aber hat sein Spiel scharfe Prägung. Ist er Künstler,
so geht er bis an die Grenze des Erlaubten, ist er Handwerker,
so führt ihn die Übertreibung darüber hinaus. Sein Pathos
wird hohl, seine Rührung breiig, seine Causerie geschwätzig,
sein Bericht trocken. Für die Gesamtwirkung bedeutet solche
Stilmischung Farbenpracht im guten, Buntscheckigkeit im üblen.
Stets ist das der Ausdruck von Kraft, sei es gezügelter oder
ungebändigter. So wird Shakespeare heute von seinen englischen
Schauspielern gespielt, und das ist wohl alte Tradition. Nuancen
hat der jeweilige Zeitgeschmack in den verschiedenen Perioden
836 Zur letzten Londoner Theaterseason.
wohl geschaffen und wieder getilgt, die Grundzüge sind aber ge-
lt lieben — sie stimmen eben zur Dichtung.
Dieser autochthone Shakespeare-Stil fallt uns Deutschen auf
und wird uns in seinen Vorzügen und Nachteilen noch klarer,
wenn wir mit den Londoner unsere deutschen Shakespeare- Auf-
führungen vergleichen. Diese streben nach einer beiläufigen
Ausgleichung der stilistischen Gegensätze, suchen nach einer Art
von Einheitstil. Das schädigt die koloristische Mannigfaltigkeit,
stumpft die Einzeltöne etwas ab, läfst das Detail zurücktreten.
Aber es bringt auch Vorteile: die Charakteristik von Figur wie
Situation verliert an Schärfe, gewinnt aber an Feinheit.
Der Engländer mufs infolge seiner Stilschablonen mehr
typisieren, während der Deutsche mehr individualisieren kann,
denn er ist stilistisch freier. So wirkt jener stärker, dieser tiefer.
In London beruht der mächtige Eindruck der Vorstellung auf
der grellwechselnden Leuchtkraft der Einzelheiten, bei uns auf
der einheitlichen Abtönung des Ganzen.
Woher der Unterschied? Der Engländer spielt seinen Shake-
speare in theatralischer Tradition vor dem ganzen Volk. Mit
seiner Bodenständigkeit ist er urwüchsiger, vor seinem gemischten
Publikum mufs er für dessen gröberen Bruchteil auch greller
wirken. Auf der deutschen Bühne ist Shakespeare fremdes
Lehngut, nicht eine volkstümliche, sondern literarische Erschei-
nung und wird für die Gebildeten gespielt. Hier wird aus ihm
mehr das Form-Feine und Geistig-Tiefe herausgeholt.
Fragt man nach dem Wert der schauspielerischen Einzel-
leistungen, so ergibt sich für die verschiedenen Rollengruppen
die Antwort von selbst. Ausgezeichnet werden die 'Figuren aus
dem Volke' — meist die Repräsentanten der vielgestaltigen
Komik — gespielt. Sie sind ja bodenständig, haben Bühnen-
tradition und bieten Gelegenheit zu hartliniger Charakterisierung
in derb realistischer Manier. Weniger gut sind die geistig und
sozial hochstehenden Figuren. Nur die wenigen wirklich grofsen
Schauspieler halten sich von Deklamation und Geziertheit fern,
bleiben in der Schönheit noch wahr. Fast immer schlecht sind
die mittleren Figuren: statt diskreter Charakteristik herrscht
hier stumpfe Handwerkschablone.
Die interessanteste Shakespeare- Aufführung dieser season
mufs ganz gesondert behandelt werden, denn sie stand nach
Zweck und Mittel und auch bezüglich des Publikums völlig
isoliert im Londoner Gesamtrepertoire. Der Theaterzettel spricht
deutlich genug: 'At the request of the London Shakespeare
League. Romeo and Juliet given by the Elizabethan stage So-
ciety at the Royalty Theatre, London. Under the direction of
Mr. Win. Poel. Last produetion of the society. God save the
king/ Es handelt sich also um ein theatergeschichtliches Experi-
Zur letzten Londoner Theaterseason. 337
rnent: auf der alten Bühne in der alten Weise sollte ein Shake-
spearewerk dargestellt werden. Berufene hatten das Unter-
nehmen unter ihren geistigen Schutz gestellt, einem Auserwählten
unter den Kennern des elisabethinischen Theaters war die Lei-
tung zugefallen. Der äufsere Erfolg — um das vorwegzu-
nehmen — war schwach, nur eine winzige Gemeinde von Inter-
essierten war dem autoritären Rufe nach dem kleinen Theater-
chen gefolgt, der Saal blieb halb leer. Es war die letzte Ver-
anstaltung dieser Art, das grofse Publikum hat die Gesellschaft
völlig im Stich gelassen. Der Durchschnitts - Engländer schaut
eben in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit.
Die Aufführung als solche war in jeder Beziehung lehrreich.
Vor allem in bezug auf die Bühne. Freilich, die richtige alte
Bühne war das nicht, denn sie war im Bühnenraum des mo-
dernen Theaters untergebracht. Das heifst, sie war im Gegen-
satz zur alten vom Publikum distanziert, und das bedeutet, das
Spiel konnte für das Publikum nicht die einstige Intimität ge-
winnen, als die Bühne mit ihrer vorderen Hälfte mitten in die
Zuschauermenge hingerückt war. Hiervon abgesehen, konnte
sie allerdings technisch die alte Bühne darstellen. Über deren
Gestaltung gehen die Meinungen der Forscher bekanntlich ziem-
lich weit auseinander. Wohl darum, weil für die alte Zeit mit
mehreren, wenn auch in den Grundzügen verwandten Bühnen-
typen gerechnet werden mufs. Die Rekonstruktion von Poel
kann also nicht den Anspruch erheben, die altenglische Bühne
darzustellen, darf aber getrost als Verkörperung einer der mög-
lichen gelten. Sie besteht aus einer Vorderbühne und Hinter-
bühne, dazwischen der Vorhang. Dazu kommt die Oberbühne:
sie liegt über dem rückwärtigen Teil der Hinterbühne und hat
ihren eigenen Vorhang, wird also durch den zugezogenen Haupt-
vorhang (zwischen Vorder- und Hinterbühne) gedeckt. Endlich
befindet sich an der Rückwand der Hinterbühne — wieder
durch einen Vorhang isolierbar — die kleine, hinterste Bühne.
Somit ergeben sich zwei Hauptbühnenfelder, die Vorder- und
Hinterbühne, und zwei Nebenfelder, die Oberbühne und die hin-
terste Bühne. Dieser kompliziert scheinende Apparat arbeitet
sehr einfach. Die Schauspieler treten von rechts und links zu
Seiten der schmäleren Hinterbühne nach der breiten Vorder-
bühne vor, sie gelangen hierher auch von der Hinterbühne aus;
diese selbst ist zugänglich durch die drei Türen in ihrer Rück-
wand. Ober- und hinterste Bühne werden direkt aus dem un-
sichtbaren Hinterraum betreten. Die Oberbühne ermöglicht aus
perspektivischen Gründen blofs ein Vordergrundspiel (in un-
serem Fall einzig die Balkonszene). Dekorationen fehlen gänz-
lich, die Wände sind mit Teppichen behangen. Requisiten sind
spärlich vertreten : Bett — Sessel — Altar — Tischchen mit
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 22
838 Zur letzten Londoner Theaterseason.
dem Kräuterkörbchen für den Mönch — Bahre für die schein-
tote Julia. Die Beleuchtung ist stationär, die Nacht wird durch
Fackelträger angedeutet; nur mitunter flammt 'bengalisches
Licht' auf. Der szenische Apparat ist also ungemein ärmlich,
aber sehr gelenkig für die Abfolge der Szenen. Jede Hinter-
bülmenszene kann in ihrem Verlaufe die Vorderbühne in An-
spruch nehmen und dann auf dieser allein weiterspielen, indem
der Hauptvorhang zusammenschlägt. So können mehrere (an-
fängliche ) Hinterbühnenszenen unmittelbar aufeinander folgen.
Die Requisiten werden — wenn nötig — von Dienern vor den
Augen der Zuschauer auf die Vorderbühne getragen und von
da wieder abgeräumt. Es herrscht also grofse Freiheit auf
Kosten der Illusion und in notwendiger Folge weitestreichende
Bühnenkonvention.
Wie wird nun auf dieser Bühne inszeniert? Da die Szene
konventionell ist, kann es nicht auffallen, dafs auch die mise-
en-scene gleiches Gepräge trägt. 'Andeutung statt Ausführung'
wird auch hier zur Devise. Vor allem ist die Bühne klein. So
reicht sie zu für figurenarme Szenen, für monologische, für
Zwei- und Dreigespräche. Ensembleszenen sind aber in reali-
stischer Art nicht darstellbar. Die Bühne geht ferner mehr in
die Breite als in die Tiefe. Das hat zur Folge, dafs die Fi-
guren mehr in Stellung als in Bewegung vorgebracht werden.
Die Gruppierung vollzieht sich typisch: in der Mitte die Haupt-
figuren, an den Flügeln die Nebenfiguren. Oft versteift sich
dies bis zu starren 'lebenden Bildern', wie in antiken Tempel-
giebeln. Oder es wird eine Massenszene pantomimisch ange-
deutet, z. B. die Bankettszene am Schlufs des ersten Aktes durch
eine Reihe von Dienern, die mit Töpfen und Schüsseln um die
Bühne einzeln herumhuschen. Im ganzen macht solche unbe-
holfene Konvention einen kindlichen Eindruck auf uns, die wir
auf diese Konvention nicht geeicht sind. Zu gleicher Zeit wird
einem erst klar, wieviel vom statuesken Klassizismus noch in
der romantischen Tragödie steckt, was unsere heutige, reali-
stische Inszenierung verdeckt.
Auffällig war diese Vorstellung auch in bezug auf die Ko-
stüme. Sie waren in alter Zeit bekanntlich prunkvoll. Damit
sollte wohl das Bühnenbild farbig belebt werden, das unter der
Einförmigkeit der Dekoration hieran argen Mangel litt. Poel
ging hyperhistorisch zu Werke: er opferte der historischen
Kostümtreue die Schönheit, verfolgte das Charakteristische bis
ins Häfsliche hinein, wurde Kulturhistoriker, statt Theaterhisto-
riker zu werden.
Die stärkste Wirkung versprach ich mir vom ununterbroche-
nen Spiel, also von den Stimmungskontrasten zwischen den
Einzelszenen, die in geschlossene Gruppierung rücken. Meine
Zur letzten Londoner Theaterseason. 339
Erwartung wurde enttäuscht. Im wesentlichen stellte sich hei
mir Ermüdung ein, und ich war für eine unhistorische Zehn-
minutenpause hinter Akt III, Szene 1 aufrichtig dankbar. Ent-
weder sind wir Modernen zu schwach geworden für die kon-
staute Aufnahme von immer neuen Bühneneindrücken, oder es
waren diese Schauspieler zu schwach, um durch die Stärke der
Eindrücke auf die Dauer zu fesseln. Schauspielerisch war die
Vorstellung allerdings ziemlich minderwertig, wenn man die Dar-
steller des Romeo und besonders der Julia ausnimmt. Das
Heldenpaar wirkte zwar nicht durch feine oder starke Kunst,
sondern durch die persönliche Note ihrer Darsteller. Es waren
so junge Leute, dafs auch die Jugend ihrer Figuren glaubhaft
wurde, und dies Stück ist ja die Tragödie der Jugend.
Im ganzen erwies das Experiment, dafs die alte Bühne voll-
auf nur als Deklamationsbühne funktioniert, dafs sie als Aktions-
bühne mit konventionellen Notbehelfen wirtschaftet, die auf uns
keine Wirkung ausüben können. Die Vorstellung war lehrreich
vom historischen Standpunkt aus, aber nicht lebendig im Sinne
des Theaters. Hierzu fehlte freilich schon die erste Bedingung:
die volle Künstlerschaft der Spieler.
Scheidet man Shakespeare aus dem Londoner Gesamtreper-
toire aus, weil er sein Publikum in allen Schichten der Bevölke-
rung findet, so gliedert sich alles übrige im Hinblick auf das
Publikum in zwei ziemlich streng gesonderte Gruppen. Sehr
schwach vertreten ist das literarische, sehr stark das modische
Repertoire. Kunstfreude und Unterhaltungssucht sind eben in
London sehr ungleich verteilt.
Das literarische Repertoire.
Shakespeare gehört nicht zum literarischen Repertoire Lon-
dons, er bedeutet da mehr als ein Stück Literatur. Der Eng-
länder wertet ihn nicht einseitig ästhetisch, sein Kult ist ihm
Herzenssache. Hingegen wirbt das literarische Repertoire um
das Interesse der Kunstverständigen. Dünn sind diese gesät,
ärmlich ist also jenes vertreten, ganz besonders hinsichtlich des
älteren Dramas. Das Mermaid Repertory Theatre wollte solches
vorführen. Der Gedanke war verdienstlich, die Tat aber schwäch-
lich. Leider mufste das so werden, und zwar schon aus einem
äufseren Grunde. Das ältere Drama braucht ausgezeichnete
Schauspieler. Weil sein szenischer Apparat unbeholfen war und
oft versagte, mufste der Dichter mit seinem Text, der Schau-
spieler mit seiner Person einspringen, um das Milieu zu ver-
deutlichen und zur notwendigen Wirkung zu bringen. Dieses
trat an den Zuschauer oft nur auf einem Umweg heran, über
den Eindruck auf die Spielfiguren. Die Szene als Bild konnte
keine Stimmung geben, vermochte blofs andeutungsweise zu in-
22*
340 Zur letzten Londoner Theaterseason.
formieren. Der Schauspieler war mithin dem Dramatiker nicht
blofs das wichtigste, sondern fast das einzige Mittel zur Ver-
lebendigung seines Werkes. Das Drama stand und fiel mit der
Darstellung. Gleiches galt auch jetzt für das Mermaid Reper-
tory Theatre. Es verwendete zwar die moderne Bühne, aber
zulolge Geldmangels in primitivster Art, und aus dem gleichen
Grunde standen ihm meist nur ungenügende Schauspieler zu
Gebote. Daran scheiterte das Unternehmen im künstlerischen
Sinne.
Trotzdem blieben die Vorstellungen wertvoll. Sie waren ja
nicht schlecht, nur schwach, und deshalb in der Wirkung auf
das feinsinnige Publikum nur dem Grade nach geringer, als sie
es hätten sein können. So durfte man die Wirksamkeit der
alten Stücke auch hiernach einschätzen. Sie ist — wie bei
jedem Kunstwerk — eine zweifache: zeitlos und zeitlich-gebun-
den. Was heute noch wirkt, wirkt immer; was heute versagt,
hat auf die Zeitgenossen des Dichters gewirkt. Es handelt sich
hier eben um Meisterwerke ihrer Art.
Ich habe zwei Komödien aus der Renaissance- und eine
aus der Restaurationszeit gesehen.
Ben Jonsons 'Silent Wo man' ist im Kern eine Charakter-
komödie, im Stil ist sie possenhaft. Das mindert nicht den
Wert der Hauptfigur, sie bleibt wahr auch in dieser grellen Be-
leuchtung, die Übertreibung wirkt noch lebendig, weil der Dichter
von Lebensechtheit ausgeht. Der Stil wandelt ja nicht den Stoff.
Der Grundstock des Stückes ist nun vielfach umrankt von mon-
dänem Beiwerk. Ben Jonson gefällt sich in aktueller Gesell-
schaftssatire, er hechelt das Gigerltum seines London ausgiebig
durch. Viel Platz wird hierfür aufgebracht und eine Fülle von
falschem Geist für die Geistreichelnden. Der Dichter fand sicht-
lich sein Behagen daran und sein Publikum mächtigen Spafs.
Doch vor uns brennt hier blofs nasses Feuerwerk ab, das elend
erlischt, bevor es noch richtig aufflammt. Nur Kultur hat
die Innerlichkeit, so dafs ihr Verständnis den Tag überdauert,
nicht aber Mode. Unbarmherzige Striche könnten uns das Stück
aus einer literarischen Kuriosität in eine lebendige Komödie
wandeln. Mir als Literarhistoriker war die Darbietung des Ori-
ginals selbstverständlich interessanter, doch verblichene Literatur
zu demonstrieren, ist nicht Sache einer lebendigen Bühne. Das
Publikum will geniefsen, nicht lernen, und es hat ein Recht auf
solche künstlerische Naivität. Theater und Museum sind zweierlei
nach Zweck und Nutzungsart.
Mit Sorge ging ich zum zweiten Stück, zu Beaumont-Flet-
chers 'The Knight with the burning pestle\ Das Drama
gibt sich ja durchaus 'historisclr' als Parodie von damaligen
Theaterverhältnissen auf der Bühne und im Saal. Dennoch war
Zur letzten Londoner Theaterseason. 341
die "Wirkung auf das heutige Publikum stark und andauernd.
Dafs ein Lehrbub den Ritter spielt und als zweiter Don Qui-
chote auf Abenteuer ausgeht, und dies auf einer Bühne, um
welche 'Zuschauer* sitzen, die in täppischer Art von Szene zu
Szene ihre drolligen Forderungen an Stück und Spiel geltend
machen — das alles als lebendigen Vorgang zu empfinden von
der realisierenden Bühne herab, ist wohl die stärkste Zumutung,
die einem modernen Publikum im Theatersaal gestellt werden
kann. Was erklärt den Erfolg? Wohl nur der Umstand, dafs
das Thema, das da abgehandelt und so sonderlich illustriert
wird, uns alle zu innerst trifft: Phantasie wuchert zu Phan-
tasterei auf. Das Grundmotiv ist echt menschlich und erringt
sich darum in jeder Einkleidung Verständnis und Mitgefühl.
An die begründete Tollheit dieser Haupthandlung schliefst sich
eine Nebenhandlung an voll grundloser Narretei. Aber auch
die wirkt, weil in der Verbindung. Lachen steckt an — das
wufste der schlaue Rechner Ben Jonson. Gegen den Schlufs
hin zerfasert sich ihm freilich das lose Gewebe der Handlungen
völlig. Die Maikönig-Szene versagt, müfste also für uns ge-
strichen werden. Um so stärker würde dann das eigentliche
Ende, das groteske 'Sterben des Helden*, einschlagen und ab-
schliefsen.
Schlief slich erhaschte ich noch Vanbrughs 'Confederacy*.
Es ist eine feine Arbeit nach besten Formmustern: die antike,
elisabethmische und französische Komödie haben Modell ge-
standen. Der Inhalt ist Eigenart im Sinne von zeitgenössisch
und bodenständig. Das merkt man an den Figuren: nach Cha-
rakter allzeit gültige Typen, nach Maximen und Manieren aber
Vanbrughsches London. Der Dichter tut so, als triebe er Ge-
sellschaftssatire, und zwar müssen die Bürgerlichen herhalten.
Doch seine Entrüstung weicht gar bald einem zynischen Be-
hagen. So können an den Figuren die Schwächen zu Lastern
werden und diese für die lustigsten Situationen ausgebeutet
werden. Witzige Frechheit ist die Note. Die vielgestaltige
Handlung klarzuhalten, gelang der Kunst des Dichters; seine
feingeprägten Figuren völlig zu vermenschlichen, mifslang den
schwächeren Schauspielern. Vielleicht ist überhaupt zu viel
Kunst im ganzen Stück und wurde dadurch die Wirkung ge-
schmälert. Obwohl das Werk moderner, wurde es vom Publikum
fremder empfunden, wie die kühle Aufnahme bezeugte. Oder
hat der heutige Engländer für Frivolität, soweit sie sich in Geist
und Grazie drapiert, nicht viel übrig?
Das war die 'alte Literatur' auf der Londoner Bühne —
für den Literaturhistoriker ein seltener und anregender Genufs,
für das grofse Publikum ein exotisches Experiment. Es war
eben archaistisches Theater. Der geniale Dramaturg hat ge-
342 Zur letzten Londoner Theaterseason.
fehlt, der den historischen Ballast hätte über Bord werfen sollen.
Ich war Egoist genug, um meinem Schicksal zu danken, dafs
dieser Dramaturg gefehlt hat, aber das Mermaid Repertory
Theatre hat schlechte Geschäfte gemacht.
Besser ist es der 'neuen Literatur' ergangen mit
Bernard Shaw.
Es wurden vier Stücke von diesem sonderlichen Modernen
aufgeführt. Weil viel mehr zur Wahl standen, mufs die Aus-
wahl interessieren. Dabei kommt der Theaterdirektor nicht in
Betracht, denn Shaws Dramen sind alle gleich leicht oder schwer
aufführbar, und auch nicht der Schauspieler, denn begehrens-
werte Rollen finden sich in jedem seiner Dramen. Also ent-
schied die Rücksicht auf das Publikum. Was hat man diesem,
wie der Erfolg zeigte, mit Recht zugetraut? 'You never can
teil', 'Candida', 'Man and Superman' und 'John Bulls other is-
land'.
Sieht man diese Stücke auf ihren Stofikreis hin an, so sind
sie zeitgenössisch und heimisch, spielen in der englisch-irischen
Gegenwart des Publikums. Enger gefafst, geben sich die ersten
drei als Familienstücke, nur das letzte weitet seine Sphäre zu
einem sozialpolitischen Drama. Familieninteresse schlägt mithin
vor, das ist echt englisch im Geschmack des Publikums. Was
ist aber hier die persönliche Note des Dichters? Shaw verweilt
stofflich im Bezirk der Familie, aber geistig greift er weit über
sie hinaus. Seine Probleme erwachsen nicht aus der Familie,
sie spielen nur in der Familie. Die treibenden Motive liegen
nicht latent im Familienleben, sondern werden hineingetragen
von der Eigenart der Figuren. Es sind nicht typische, sondern
individuelle Familienkatastrophen. Das verleiht dem alten Genre
den Reiz der Neuheit. Diese Familienstücke sind Ehedramen
im eigentlichsten Sinne. In 'Man and Superman' zeigt Shaw,
wie die Ehe wird, in 'Candida', wie sie ist, in 'You never can
teil', was aus ihr wird. Aber nicht etwa typisch. Im ersten
Stück wird der siegreiche Kampf des Weibes um den wider-
strebenden Mann geschildert. Der Mann wird geheiratet. Sein
Intellekt sträubt sich dagegen, es hilft ihm nichts, der Instinkt
des Weibes erweist sich als zäher und folgerichtiger, somit als
stärker und siegreich. Dieses zutiefst menschliche Problem,
das sich auf allen Lebensgebieten einstellt, wird hier speziell
am Fall der Eheschließung exemplifiziert. Das Hauptthema
wird noch gewissermafsen glossiert durch eine Nebenhandlung,
wieder vom siegreichen Weibe: die geheim vermählte Frau er-
obert sich den * widerspenstigen Schwiegervater. Im zweiten
Stück 'Candida' dreht sich die Fabel um den boy als Lieb-
haber der modernen Frau des unmodernen Mannes. Boy und
Zur letzten Londoner Theaterseason. 843
man stehen typisch gegenüber als Unreife und Reife, individuell
als Genie und Talent. Es spielt Geist gegen Geist, und die
Folge wäre verworrenes Unglück, träte nicht die in ihrem In-
stinkt selbstsichere Frau lösend und läuternd dazwischen. Das
Ganze ein halber Ehebruch — meinen die Banalen, aber der
Dichter schildert wieder den Kampf von Intellekt und Instinkt —
hier in der Ehe, zufälliger- aber nicht notwendigerweise. Über das
dritte Stück 'You never can teil' ist schwer zu sprechen, denn
es ist geistig genommen ein Fragment. Nur die erste Hälfte
ist real gestaltet, in der zweiten ironisiert der Autor sich und
sein Werk. Dort zeigt er eine zerbrochene Ehe, die sich nicht
einrenken kann. Es ist nichts Besonderes vorgefallen — meint
die Welt, nur passen die Leute, Gatten und Kinder nicht zu-
einander. Als ob es ein bedeutenderes Problem für das Zu-
sammenleben und -wirken gäbe als die ' Harmonisierung wider-
strebender Individualitäten. Ein allgemeines Thema hier in
spezieller Durchführung, und zwar an einer Ehe. Das sind
Shaws 'Familienstücke' der letzten season.
Eigenartig nimmt sich daneben das soziale Drama 'John
Bulls other island' aus. Die irische Frage als Komödie drama-
tisiert oder, deutlicher gesprochen, der Kampf von Irländer-
und Engländertum. Ob das, was der Autor seinem Publikum
sagt, richtig ist, bleibe dahingestellt. Hier handelt es sich nur
darum, wie dem Autor das soziale Problem erscheint. Die
Fabel des Stückes ist einfach. Ein Engländer kommt nach Ir-
land und erobert sich den Kreis, in den er tritt: er gewinnt
die Braut des irischen Freundes zur Frau und die Stimmen der
Nachbarn für das Parlamentsmandat. Wieso? Irland ist im
Niedergang, es phantasiert an seinen Traditionen, es träumt.
Soweit es lebt, lebt es seinen Instinkten, aber die sind krank-
haft geworden. Da kommt der Engländer, die Verkörperung
von praktischem Verstand, ebenso klar wie banal, ganz Energie,
ohne jede Phantasie, modern nach der Formel: von heute und
für heute. Und der Intellekt siegt über den Instinkt, freilich
nur über den kranken und letzlich zum inneren Ruin der iri-
schen Nation. So kehrt auch hier das alte Motiv wieder, nur
dafs es der Dichter am weiteren Stoff darstellt und — im Schein-
sieg des Gegenteils beleuchtet.
Gemeinsam ist allen diesen Dramen noch mehr als das
durchgehende Motiv. Es ist ihre Modernität im eigentlichen
Sinne. Überall stehen die neuen Menschen im Kampf mit den
alten. Diese repräsentieren die Alltagskultur, die anerzogene
Konvention, die Herdenmenschen; in den anderen pulsiert das
Leben kräftiger, sie sind Individualisten, Originale oder Quer-
köpfe, je nach ihrer geistigen Reife, immer Suchende, selten
Findende. Dazu fehlt es ihrem Schöpfer an Klarheit und sieges-
341 Zur letzten Londoner Theaterseason.
sicherem Optimismus. Aber auch schon die Ansätze zu solch
kultureller Modernität verleihen dem Drama Shaws etwas von
der inneren Frische wahrer Kunst. Er bleibt weit hinter Ibsens
geschlossener Weltauffassung und ungebrochenem Wahrheitstrieb
zurück, aber er hat wenigstens die Tendenz nach höherer so-
zialer Moral, und mit Ibsen teilt er die Erkenntnis von der
Gemütskraft und Phantasiegewalt im Menschen.
Und der Künstler Shaw? Wie nach seiner geistigen Phy-
siognomie zu erwarten, besteht seine Kunst in einer Mischung
von blendenden Vorzügen und verdriefslichen Unzulänglichkeiten.
Dieser Wirrwarr ist mit zwei Sätzen zu lösen: Shaw ist grofs
im Kleinen und klein im Grofsen. Er brilliert im Detail. Dazu
gehört vor allem seine Meisterschaft in der Porträtierung. Er
hat das scharfe Auge, das an der Einzelfigur alles Individuelle
sieht, innerlich und äufserlich, er hat auch die sichere Hand,
mit der er die erschauten Figuren klar zeichnet. Ebenso wird
er der Einzelsituation völlig Herr, er arbeitet sie immer pla-
stisch heraus, der jeweilige Vorgang lebt auf der Bühne. Gewifs
nicht zum wenigsten wegen des ausgezeichneten Dialogs. Die
Figuren sprechen natürlich und persönlich aus sich heraus, hin-
sichtlich der Szene aber kernig und in wirksamer Gliederung.
Darum illustriert der Dialog durch Wortwahl und Sprechart
die Person und Situation. Das sind die Elemente der drama-
tischen Kunst, die Shaw absolut beherrscht. In der grofszügigen
Komposition jedoch versagt er. Es fehlt ihm an Einfachheit
und Einheit. Wohl aus zwei Ursachen. Sein beweglicher Geist
drängt ihm Problem auf Problem auf. So kann keines völlig
ausreifen. Die Überfülle führt zur Verkümmerung. Gleiches
gilt für die Gemütsseite. Die Grundstimmung hält ihm nicht
an. So verliert er die Naivität des Schaffens während der Ar-
beit, gewinnt ein neues Verhältnis zu seinem Werk: er stellt
sich darüber, er ironisiert und spielt den Kunst-Kronos, der
seine eigenen Kinder verschlingt. 'You never can teil' ist das
deutlichste Beispiel. In den ersten zwei Akten feines Lustspiel,
wird das Stück mit der zweiten Hälfte zur Farce. Derartige
Entgleisungen fehlen auch sonst nicht, nur 'Candida' ist stilrein.
Dafs Shaw von der Bühne aus wirkt, begreift sich ebenso-
sehr, wie dafs er nicht durchgreift. Die Masse verlangt mit
Recht vom Kunstwerk Klarheit im Inhalt und Reinheit im Aus-
druck. Sie läfst sich alles bieten, aber im Einzelfall auch nur
eines. Ihr gesunder Sinn revoltiert gegen die oberste Stil-
losigkeit von Shaw, der als Künstler zwischen Naivität und
Ironie nicht nur hin und her pendelt, sondern auch in raffi-
nierter Absichtlichkeit die Grenzen zwischen beiden gar oft ver-
schwimmen läfst. Sein Publikum ist klein, aber trotz der Minder-
zahl in Gruppen gespalten. Die einen, die Literarischen, werden
Zur letzten Londoner Theaterseason. 345
von seinem brüchigen Wesen gefesselt, sie interessieren sich für
den ganzen Mann wegen seiner Halbheiten; die anderen, die
Theatralischen, lassen sich von den entzückenden Details seiner
Bühnenkunst faszinieren ; die dritten erfreuen sich als Soziologen
an dem witzigen Satiriker der Gesellschaft. Alle nehmen ihn
ernst, niemand für voll; immer ist er interessant, nie imposant.
Shaw niufs, um auch nur verstanden zu werden, sehr gut
aufgeführt werden. Das geschah durchaus im Court - Theatre.
Dieses Lob beschränkt sich naturgemäfs auf die schauspielerische
Leistung. Für die Inszenierung bietet das 'moderne Konver-
sationsstück' wenig Gelegenheit, die Szenenstimmung machen
hier die Schauspieler. Sie waren vortrefflich — wie immer in
London, wenn sie das Drama zu feiner Charakterisierung zwingt,
sie weder zu hohlem Pathos, noch zu derber Chargierung ver-
leitet. Hier mufsten sie fein arbeiten, denn Shaws Figuren sind
Individuen, oder, wenn er sich mit Typen begnügt, sind sie dis-
kret. Sein erster Interpret von der Bühne herab ist Barker.
Er hat Geist und Gemüt. So kann er seine Gestalten scharf
profilieren und verinnerlichen. Sie haben Tiefe wie bedeutende
Menschen im Leben, sie geben sich in voller Klarheit in der
jeweiligen Situation, aber man fühlt immer, dafs in ihnen noch
weit mehr steckt, als sie zeigen. Dieser unsichtbare Überschufs
bringt sie unserem Mitgefühl um so vieles näher. Barker er-
zielt das mit seinen Figuren. Es ist aber nicht die bewufste
Kunstleistung des Schauspielers, sondern eine ungewollte Zu-
gabe, der Ausflufs seiner starken Persönlichkeit als Mensch; es
wirkt innerlich so reizvoll, wie etwa äufsere Vorzüge äufserlich
scharmieren, Schönheit der Gestalt oder Wohllaut der Stimme.
Dieser individuelle Zauber des Künstlers, der im Moment von
Mensch zu Mensch wirkt, tritt in den Dienst der Kunst, weil
ein solcher Künstler sein Publikum sofort in Stimmung ver-
setzen kann.
Das modische Repertoire.
Das modische Publikum sucht im Theater ganz dieselben
Stimmungen wie das literarische, will sie alle durchkosten vom
düsteren Ernst bis zur tollen Lustigkeit. Der Unterschied liegt
im Mittel. Die einen verlangen Kunst und mit ihr seelische
Wahrheit, den anderen genügt der gleifsende Schein der Kün-
stelei. Statt geistiger und gemütlicher Anregung wollen sie
Nervenkitzel; nicht Erhebung, sondern Zerstreuung ist ihr Ver-
langen. Lassen sich die Literarischen willig nach allen Zonen
und Zeiten fremdesten Menschenlebens entrücken, weil sie fein-
sinnig sich darin immer selber wiederfinden/ so kleben die Mo-
dischen bei' ihrem Stumpfsinn auch geistige an ihrer Scholle.
Nur Zerrbilder des eigenen Selbst dulden sie auf ihrer Bühne.
S46 Zur letzten Londoner Theaterseaaon.
Deshalb ist das modische Repertoire im Stoff bodenständig und
modern, es zeigt 'Lebensbilder' vom Tage und aus der Nachbar-
schaft. Besieht man sich dieses Stoffgebiet auf seine wichtigsten
Provinzen, so sind es drei: Familie, Kaste und Gesellschaft.
Dafs die Schicksale der engsten Lebensgemeinschaft das weiteste
Interesse erzielen, begreift sich: ist doch ein jeder der Familie
für Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft verbunden. Dafs
Lebenskonflikte, soweit sie durch Kastenunterschiede entstehen,
auf Verständnis stofsen, fällt für England nicht auf: ist ja das
politisch freieste Volk sozial das konservativste. Dafs endlich
die 'upper ten' für ihr eigenes Salon- und Hintertreppengetriebe
Neugier aufbringen, liegt auf der Hand. Eigenartig verteilen
sich diese Stoffgruppen innerhalb der Stimmungskala der Stücke.
Das Familienthema wird nicht schwer genommen. Ehebruch ist
französisch, Versündigung von Eltern an Kindern oder von Kin-
dern an Eltern ist deutsch. Die englische Familie ist 'respect-
able', an ihr haften nur läfsliche Sünden, und die liefern kein
Trauerspiel, kaum ein Schauspiel, aber süfse Lustspiele. Anders
steht es um die Kaste. Da versteht der Engländer keinen Spafs,
die Konflikte werden ernsthaft. Sie führen zwar nicht zu tra-
gischen Katastrophen — tragisch und modisch schliefst sich ja
aus — , aber sie streifen ans Unglück, vor dem im letzten
Augenblick gebremst wird. So entstehen aufregende Schau-
spiele. Die Gesellschaft hingegen ist ein variantenreiches Thema.
Sie wird ernst und heiter behandelt und liefert realistische Schau-
und Lustspiele, wenn sie illustriert wird; sie wird auch kriti-
siert und liefert satirische Possen oder parodistische Farcen
unter Preisgabe der realistischen Darstellung.
Hiermit ist das modische Repertoire noch nicht erschöpft.
Den oberen Endpunkt der Stimmungsskala vertritt die unmodische
Tragödie. Auch für sie wird Ersatz gefunden und zwar im
düsteren exotischen Schauspiel. Exotismus liegt hier nicht im
Milieu, auch diese Stücke spielen 'unter uns', sondern in Figur
und Motiv, die pathologisch oder kriminell gestaltet werden.
'John Chilcote, M. P/ gehört mit seinem nervösen Helden
zur pathologischen Serie. Die Fabel ist sensationell im Sinne
eines Kolportageromans: der kranke Held aus der vornehmen
Welt hat einen gesunden Doppelgänger unter den armen Advo-
katen Londons und läfst ihn ab und zu seinen Platz einnehmen
in Gesellschaft und in seinem Heim; nicht einmal die eigene
Frau erkennt den Rollentausch; das gibt kritische Situationen,
bis schliefslich der Kranke stirbt und der Gesunde definitiv an
dessen Platz tritt. Dieses kitzlige Thema schreit nach der
Farce. Doch Katharine Cecil Thurston hat einen dickleibigen,
ernsthaftigen Roman daraus gemacht, und der wurde zum Er-
folg des Jahres. E. Temple Thurston hat den Roman dramati-
Zur letzten Londoner Theaterseason. 347
siert, und George Alexander, der eleganteste Schauspieler, spielt
im noblen St. Jamses' Theatre die Bombendoppelrolle. Bald ist
er gesund, bald krank, immer ernsthaft, sei es sentimental oder
tragisch. Dafs er zusamt dem Stück nicht ausgelacht oder aus-
gezischt wird, scheint unbegreiflich. Aber es wird so gut ge-,
spielt, und das Stück ist in den Einzelszenen so gut gemacht,
dafs man, wenn schon nicht in künstlerische Illusion, doch in
eine nervöse Erregung kommt, in der man sich alles gefallen
läfst. Zum Schlufs schämt man sich seiner Eindrucksfähigkeit,
nimmt sich aber die brutale Erfahrung mit nach Hause, dafs
man im Theater so sehr dem Moment ausgeliefert ist, dafs das
schlechteste Ganze, sofern es sich aus guten Teilen zusammen-
setzt, mit diesen zu wirken vermag.
Kriminalistisch ist die Fabel von C. M. G. Mclellans 'L e a h
Kleschna' gestaltet. Die Heldin ist unfreiwillige Verbrecherin,
vom Vater für sein Metier, den Einbruchsdiebstahl, abgerichtet.
Sie wird vom Helden, den sie eben bestehlen will, gerettet: erst
weckt er mit seiner Grofsmut ihren schlummernden moralischen
Instinkt, dann erhebt er sie durch seine Liebe zu reinem Men-
schentum, endlich legitimiert er die Büfserin durch die Heirat
vor der Welt. Die Fabel ist spannend, die Gegensätze im Mi-
lieu sind interessant — schmutzige Diebeshöhle im plebejischen,
mondäne Villa im aristokratischen Paris, idyllische Landeinsam-
keit voller Tugend. Dazu gesellt sich aber leider die 'moralische'
Entwickelung. Diese Legierung des Kriminaldramas mit dem
Charakterproblem bringt das Stück zu Falle. Die Fabel wendet
sich an unsere Phantasie, und die läfst sich für den Moment
allerlei vortäuschen. Doch die Psychologie weckt unsere Kritik,
und vor der hält sie nicht stand. Der Geist mufs in der Kunst
echt sein oder alles ist verloren.
Wer — um höflich zu sprechen — naiv genug ist, solche
Stücke ernst zu nehmen, der lernt hier das 'Gruseln', und das
ist ja das Surrogat für die tragische Stimmung bei den Armen
im Geiste. Das sind aber für London die Reichen im Lande.
Nicht das Volk, sondern die Gesellschaft füllt dem Direktor die
Kassen und setzt ihn instand, die schlechtesten Stücke rüit
den besten Schauspielern in schönster Inszenierung herauszu-
bringen.
Um eine Note leichter in Stimmung sind die Kastenstücke
und im Wesen um vieles weniger unwahr. Die Fabel wird eben
hier nicht um ein aprioristisch ausgeklügeltes Problem herum
'geschaffen', sondern es liegen reale Lebensverhältnisse zugrunde,
worin der jeweilige Konflikt latent vorhanden ist. Das Was ist
realistisch gegeben, der 'Dichter' hat nur das Wie herauszu-
arbeiten. Schlimmstenfalls kann er den guten Stoff durch Ba-
nalität oder Raffinement schädigen.
348 Zur letzten Londoner Theaterseason.
Hier! 1 er gehört das Schauspiel 'B r o t h e r 0 f f i c e r s' von
Leo Trevor, Es ist ein Militärstück: der Held, ein tapferer
Unteroffizier, der eben Offizier geworden ist, aber nicht 'gentle-
man' werden kann, ein kreuzbraver Plebejer, der sich in die
'Gesellschaft' nicht hineinzufinden vermag. Also eine prächtige
Lustspielfigur. Das hat auch ihr Dichter und noch mehr ihr
Darsteller bestens verwertet. Aber der Dichter wollte mit ihr
'höher hinaus', stellte sie in ernste Herzens- und Ehrenkonflikte
hinein. An sich müfste das nicht unwahr wirken, aber für diese
Figur in ihrer genremäfsig komischen Ausführung wirkt es stil-
los. Zudem verkörpert die ernste Fabel ältestes Theater, wir
würden sagen: Kotzebue. So wirkt der falsche Ernst auf der
Basis echter Lustigkeit doppelt schlecht. Wertvoll am Stück
ist sein englisches Milieu — wahr und lebendig, doch das nützt
dem Ganzen nichts, denn gute Nebensachen können die schlechte
Hauptsache nicht bessern.
Ein anderes Stück derselben Gattung war modernst fran-
zösisches Lehngut: Mirbeaus 'Les affaires sont les affaires' unter
dem Titel 'Bussiness is bussiness'. Dieser Titel war so ziem-
lich das einzig gute, weil treue an der Übertragung, denn sie war
weniger Übersetzung als Überarbeitung. Mirbeau hat ein Kasten-
stück geschrieben, durchaus französisch, doch so tief, dafs genug
allgemein Menschliches übrigbleibt, wenn man das Französische
abstreift. Das Stück konnte also in fremden Kulturboden ver-
pflanzt werden. Sydney Grundy hat das für England versucht,
doch erfolglos, weil er nur äufserlich anglisiert und innerlich
verdorben hat. Die Figuren des Originals scheiden sich in zwei
Gruppen, in die ordinären und vornehmen. Bei Mirbeau sind
jene scharf, diese zart gezeichnet; bei Grundy steht derb gegen
flach. Wenn die ordinären im Original stellenweise, das heifst
an richtiger Stelle, auch komisch erscheinen, so ist das ein or-
ganischer Beisatz zur Charakteristik. Grundy übertreibt das
komische Element, er sucht es zu äufserlicher Theaterwirkung,
er bringt es auf Kosten der Charakteristik. Die Individuen des
Franzosen werden beim Engländer zu Typen, zum Teil sogar zu
Popanzen. Die Gruppe der Vornehmen — sei das die äufsere
soziale oder innere seeliscbe Vornehmheit — werden in der
Kopie ebenfalls typisiert und verblassen zu blutleeren Schemen.
Das war die Arbeit des englischen Nachdichters. Man möchte
sagen: des Nachrichters, denn er hat das Stück umgebracht.
Die Schauspieler taten das ihrige, um diesen Wandel von Men-
schen zu Puppen noch zu verstärken. Freilich Tree war eine
glänzende Ausnahme, er schuf aus der Hauptrolle ein schau-
spielerisches Kabinettstück. Sein Izard war Typus und Indi-
viduum zugleich, denn er war — was er sein sollte — typisch im
Dämonischen als die Verkörperung seiner Leidenschaft, der macht-
Zur letzten Londoner Theaterseason. 349
suchenden Geldgier, individuell als reichgewordener Plebejer mit
einer Fülle charakteristischer Details voller Komik, die aber
nur ein ängstliches Lächeln auslöste. So blieb vom ganzen
Stück als Gutes nur die eine Hauptrolle, alles übrige ging in
Theaterei unter. Die mittleren Schauspieler erwiesen — für
London so bezeichnend — , dafs sie blofs die unwahren Extreme
darstellerisch beherrschen : sie idealisieren in den blauen Himmel
hinauf oder chargieren in den Strafsenschmutz hinab. Einzig
der grofse Schauspieler findet seine Rettung im Genre, das er
mit grandiosen Zügen zu vertiefen weifs.
Die Gattung des Schauspiels war stofflich noch durch das
Gesellschaftsstück vertreten. Erwähnenswert scheint mir nur
'Her own way' von Clyde Fitch. Import aus Amerika, zu-
gleich mit der amerikanischen Truppe. Die Heldin, vermögend
zu Beginn, verliert im Verlauf des Stückes ihr Geld durch ihren
leichtsinnig spekulierenden Bruder; sie liebt einen sympathischen
Offizier und wird geliebt von einem unsympathischen Börseaner.
Dieser intrigiert jenen aus dem Hause hinaus bis nach Kuba
hinüber in den Krieg. Der Offizier fällt, der Börseaner siegt
— fast, denn die Schwester soll sich für den falliten Bruder
opfern. Da kommt der Held doch lebendig zurück. Es war
eine falsche Todmeldung. Der Held heiratet die arme Heldin.
Alles in Ordnung. So am Schlufs des Stückes. Am Schlufs
der Vorstellung aber war Unordnung in meinem Kopf und Her-
zen. Ich wufste nämlich nicht, ob mich das Stück mehr durch
seine Banalität oder durch seine Brutalität beleidigt hatte, und
ob ich Mitleid oder Scham für die prächtige Darstellerin der
Heldin fühlen sollte.
Interessiert hat mich, zu sehen, was sich ein amerikanisches
(und leider auch englisches) Publikum bieten läfst im Hinblick
auf das französische. Der Vergleich zwischen Mirbeau und Fitch
drängt sich auf. Hier und dort dreht sich alles um Geld. Bei
Mirbeau ist es aber Symbol, bei Fitch Fetisch. Dort wird es
zum Prüfstein für die einzelnen Menschen, schafft Vorgänge,
worin sich das Geistige der Figuren spiegelt; hier ist es der
Wertmesser der Menschheit: negativ für Held und Heldin, po-
sitiv für alle anderen. Ich fragte mich nach dem amerikanischen
Stück: ist das alles nur schlechtes Theater oder auch gutes
Kulturbild ?
Wenn die Mondänen ernst werden, werden sie lächerlich.
Besser verstehen sie sich auf das Lachen im Theater. Weniger
unerfreulich als ihr Schauspiel ist ihre Komödie, ja mitunter
wird sie sogar erfreulich. Allerdings sind ihr enge Grenzen ge-
steckt: stofflich mit Familie und Gesellschaft, stimmungsmäfsig
mit den Varianten ungetrübter Heiterkeit. Das grimmige Lachen
der satirischen Komödie mit tiefernster Resonanz fehlt. Gat-
85Q Zur letzten Londoner Theaterseason.
tungsmäfsig ist das Lustspiel, die Posse und die Farce vertreten,
mithin das realistische Lebensbild, dessen gesteigerte Über-
treibung und ein groteskes Puppenspiel. Das liebenswürdige
Familienleben mit seinen kleinen Unarten — wie es der Eng-
länder schaut — pafst natürlich nur für das Lustspiel. Davon
habe ich zwei herzige Dinger gesehen.
'Alice, sit-by-the-fire, a page from a daughters
diary' von J. M. Barrie war echt englisch. Eltern in Indien,
Kinder zur Erziehung in London, beide einander entfremdet.
Die Mutter altmodisch sentimental, das Mädel von altkluger
Reserve und Roman-verlesen. Der Vater starrer Militär, der
Bub gefühlsscheuer Trotzkopf. Die Alten voll Vertrauen, die
Jungen voll Skepsis an sich und der Welt, wie die Halbfertigen
überall und besonders in England, v/o man vorzeitig gentleman
oder lady posiert. Kurz, ein köstliches Quartett aus der Hyper-
kultur von heute. Zu Beginn des Stückes erwarten die Jungen
die Alten. Die Herzlichkeit des Wiedersehens geht in die Brüche,
und dann kommen die komischsten Verkennungen, und immer
gröfser wird die Distanz zwischen den Nahgerückten. Doch am
Ende finden sie sich wieder zusammen, weil sie alle — im Kern
ihres Wesens gesund — zur klaren Natürlichkeit gesunden müssen.
Also endlich ein gutes Stück — ein Lustspiel voll Lebenswahr-
heit trotz dem originellen Thema, eine Komödie von Bedeut-
samkeit, weil sein lustiger Oberbau auf ernstem Grunde steht,
ein Drama mit innerer Entwicklung. Dem Inhalt entspricht
die Form: die Darstellung leicht, mehr andeutend als ausfüh-
rend, die Fabel konzentriert auf die natürliche Dauer eines
Tages, die Situationen flott hingeworfen, die Figuren intim ge-
zeichnet, der Dialog durchaus individuelle Causerie, das Ganze
fast ohne Bühnenkonvention und Theaterei. So wirkt dieses
Stück lustig auf die Oberflächlichen, bedeutsam auf die Scharf-
sichtigen, zart auf die Feinfühligen. Und diese Wirkung wurde
reizend verstärkt durch die Aufführung, besonders in den weib-
lichen Hauptrollen der Mutter und Tochter, von Ellen Terris
als schon 'komische Alte' und Irene Vanbrugh als noch 'naive
Jugendliche' feinster Prägung. Ob das Stück den Weg zu uns
finden wird?
Das andere Familien -Lustspiel war französischer Import.
Pierre Wolffs 'Le secret de Polichinelle' wurde zu 'Everybody's
secret' unter den Händen von R. Marshall und L. N. Parker.
Dabei wurde selbstverständlich das moralische Niveau gehoben.
Während der Übersiedelung des jungen Paares von Paris nach
London wurde das Verhältnis zu einer geheimen Ehe. Das ent-
zieht zwar dem ernsten Problem den Boden, indem der Gegen-
satz zwischen legitimer und illegitimer Moral verwischt wird,
aber es trifft nicht den Kernpunkt des dramatischen Motivs,
Zur letzten Londoner Theaterseason. 351
wie nämlich das Enkelkind die Grofseltern mit den Eltern ver-
söhnt, die Familie leimt. Das Stück ist eine reizende Spielerei,
verlangt also bestes Spiel. Das fand es im Heymarket-Theatre
und würde es in jedem guten Londoner Theater gefunden haben.
Modernes Genre von feiner Charakteristik ist ja das Gebiet, wo
der englische Schauspieler sich auszeichnet.
Im Verfolg der Untersuchung käme nun jene Komödie in
Betracht, die dem Stoff nach Gesellschaftstück, der Art nach
Lustspiel wäre. Diese Spezies gedeiht nicht recht. Figuren
und Situationen sind hier greller als im Familien-Lustspiel, und
das verführt zu Übertreibungen. Als Lustspiel angelegt, ent-
gleist so ein Stück gar oft nach der Posse hinüber. Die be-
liebteste Art ist die Posse selber. Am äufsersten Flügel steht
dann die Farce.
Lustspiel ist noch Pineros 'Gab inet Minister' mit seiner
harmlosen Gesellschaftssatire. Freilich die Satire ist die Neben-
sache und die Lustigkeit die Hauptsache. Das mindert den
Wert des Stückes vom Standpunkt des Problems. Und weil die
Lustigkeit besonders auf dem Gebiet der Charakteristik mitunter
auf Kosten der Natur mit Hilfe der Karikatur bestritten wird,
so verliert das Stück seine Stilreinheit. Es biegt oft nach der
Posse hin ab. Solche Stücke sind schwer zu spielen. Die Dar-
steller, die mit ihrer Wirkung auf den Moment gestellt sind,
greifen gern zu den drastischeren Ausdrucksmitteln. Steht eine
Figur zwischen Lustspiel- und Possenstil, so entscheiden sie sich
meist für die gröbere, aber eindrücklichere Karikatur gegen
das feinere und stillere Genre. So war es auch diesmal: es
wurde durchweg vorzüglich gespielt von den einzelnen, aber
es gab ein stilloses Ensemble durch Stilmischung. Die einen
lebten als herzgewinnende Personen, die anderen wirkten als
zwerchfellerschütternde Figuren.
Schlankweg Gesellschaftssatire betreibt 'Mr. Hopkinson'
von R. C. Curton. Freilich fällt diese tatsächlich doch nur als
Nebenfrucht ab, denn im wesentlichen wirkt diese Posse durch
die Komik ihrer Hauptfigur, des reich gewordenen Plebejers
unter den Aristokraten. James Welch spielt ihn genial. Er ist
der richtige Possenspieler. Unerschöpflich in den lustigen De-
tails seiner Figur, ist er unwiderstehlicher Komiker; weil er nur
charakterisierende Züge hierbei verwertet, wird er zum richtigen
Schauspieler, d. h. Menschendarsteller; dafs er diese Vielheit in
eine organische Einheit zusammenfliefsen läfst, in Einfachheit
verlebendigt, das stempelt ihn zum wahrhaften Künstler, der
grofszügig schafft. Freilich übertreibt er, aber er geht dabei vom
Leben aus und erhält so seiner Figur ein gut Stück Wahrheit
in ihrer Verzerrung. Diese Posse ist ein 'Schauspielerstück',
das erst durch die Darstellung Leben gewinnt wie ein Opern-
352 Zur letzten Londoner Theater eeason.
libretto durch die Musik. Von der Bühne herab vermag sie
zu illusionieren, wenn auch die Vorgänge jenseit der Wahr-
scheinlichkeit und die Gestalten unter der Wirklichkeit liegen.
Freilich diese Wirkung der Posse, dafs wir uns an sie verlieren,
ist auf die Zeit des Spiels beschränkt. Man lebt ein Lustspiel
in der Erinnerung nach, aber man denkt an eine Posse zurück.
Ganz anders wirkt die Farce. Das ist ein Puppenspiel, das
wir uns kaltherzig vorspielen lassen. Figuren und Situationen
sind unmöglich, aber sie sind bedeutsam. Unser Verstand spinnt
die Fäden von diesen Verzerrungen des Lebens zur Wirklich-
keit zurück. Wir geniefsen rein kritisch. Es ist ein Spiel des
Geistes ohne Widerhall im Gemüt. Die Farce kann sehr lustig
und geistreich sein, wenn sie Witz hat, ist aber bar jeden Hu-
mors, weil sich in ihr nichts an unser Mitgefühl wendet. Ein
famoses Exemplar dieser Gattung war R. H. Davis 'Dictator'.
Amerikanischer Import in Stück und Truppe, dessen star W. Col-
lier ein Meister seines Genres ist, d. h. er hat als Sprecher und
Mimiker eine so präzise Technik, dafs man deren unpersönliche
Sicherheit nur mehr mit dem Wort maschinell bezeichnen kann,
ihn selber für eine ideale Puppe erklären mufs. Das Stück hat
einen Schimmer von aristophanischer Ambition mit seiner po-
litisch-sozialen Satire : die zentralamerikanischen Republiken mit
ihren Revolutiönchen werden verhöhnt, die Spanier verspottet
von ihren starkrassigen Nachbarn im sächsischen Norden.
Vom literarischen Standpunkt aus ist das modische Reper-
toire nicht sonderlich fesselnd. Es zeigt im ganzen die inter-
nationalen Züge des Zerstreuungs- Theaters. Wenn ab und zu
ein Stück literarischen Wert besitzt, so hat es den sozusagen
hinterrücks der Gattung gewonnen. Doch nach der kulturellen
Seite hin wirft es seine Streiflichter. Besonders autfällig und
bedeutsam ist die Behandlung des Lehngutes. Die Engländer
importieren wie die Deutschen, nur dafs diese übersetzen, jene
bearbeiten, dafs diese bei ihrem Bildungstrieb das fremde Ori-
ginal rein halten und als solches schätzen, jene ihrem Ge-
schmack angleichen. Hierbei kommt — ästhetisch gewertet —
freilich meist schlechteres heraus, aber in dieser Praxis spiegelt
sich die stärkere Rasse. Als zähe Rasse geben sich die Fran-
zosen. Sie importieren prinzipiell nicht. Das verengt ihnen
den Inhalt ihres Theaters, aber bewahrt die Reinheit der Form.
Noch mufs auf ein künstlerisches Verdienst des modischen
Repertoires verwiesen werden. Es betrifft die Darstellung. Das
hohe Drama hat in England die Schauspielkunst stilistisch nie
gefördert. Das grofse romantische Drama wird von Stilmischung
beherrscht mit der Absicht auf Stilgegensatz. Der Schauspieler,
der alles gern unterstreicht, was der Dichter andeutet, weil er
sich im Moment zur Geltung bringen mufs, verschärft diesen
Zur letzten Londoner Theaterseason. 353
Gegensatz und übertreibt stilistisch. Das klassizistische Drama
übertreibt als Kopie selber und mit ihm sein Schauspieler. Dis-
krete Aufgaben bietet dem Schauspieler nur das 'Konversations-
stück*, um einen möglichst weiten Terminus anzuwenden. Hier
kann sich der Künstler als feiner Charakteristiker betätigen, im
guten Stück mit demselben, im schlechten über dasselbe hin-
aus. Das ist nun auch das Gebiet, wo englische Schauspielkunst
diesen Ehrennamen verdient.
Eine Studie über das Londoner Gesamtrepertoire darf nicht
als abgeschlossen gelten, nachdem man Shakespeare, die paar
ganz alten oder ganz neuen literarischen Dramen und die vielen
nach Stoff und Art modischen Theaterstücke hat Revue pas-
sieren lassen. Es wäre noch über das Schauspiel der unteren
Volksschichten, über das 'Melodrama' und über das 'Historien-
stück', das Melodrama der oberen Klassen, sowie über die all-
seits beliebte Operette zu sprechen. Mir erschienen aber diese
Gattungen seit meinem letzten Bericht (Band CIV, Heft 1/2,
pag. 162 ff.) durchaus unverändert, und ich hätte dem damals
Gesagten nichts beizufügen. Überhaupt sollten und konnten im
obigen nur etliche auffällige Erscheinungen betrachtet, mehr
geschildert als beurteilt werden. Zur Kritik fehlt mir das Ge-
samtmaterial, ich habe ja doch nur 24 Theater besucht und
blofs 46 Stücke gesehen, und noch mehr die kulturelle An-
empfindung, die man als Tourist nicht gewinnen kann. Als
Fremder ist man zwar vor Über- wie Unterschätzungen nicht
gefeit; aber als Fremder hat man auch einen Vorteil: die
Scharfsichtigkeit des Neulings, der nichts als selbstverständlich
hinnimmt und darum vielleicht manches sieht, was der Hei-
mische übersieht. Das kann vielleicht mit seiner notgedrungenen
Einseitigkeit versöhnen.
Innsbruck. R. Fischer.
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 23
Studien zur fränkischen Sagengeschichte.
II. Clothars Sachsenkrieg auf den Arnulfing Ansigisel
tibertragen.
Die Sachsenkriege der merowingischen und kärlingischen Könige
sind zu ihrer Zeit das Thema der fränkischen Nationaldichtung ge-
wesen, bis sie im 8. Jahrhundert von den Kämpfen gegen die
Sarazenen erst in Südfrankreich und noch später in Spanien
abgelöst wurden. Nicht nur, dafs wir mit Hilfe von Sagenresten
und Chroniken eine ganze Reihe von Sagen und Liedern in ihren
Grundzügen wiederherstellen können, die unabhängig voneinander
einzelne heldenhafte Züge aus den Kriegen gegen Sachsen oder Thü-
ringer verherrlichten, es gibt auch eine weitere Reihe von Anspie-
lungen, die uns den Einblick in eine zyklisch geschlossene Gruppe von
Sachsenliedern gewährt, von denen jedesmal das spätere ein früheres
voraussetzt, und die im ganzen genommen nach dem ersten Konflikt
das Motiv der Blutrache weiterspinnen, genau wie in den Lothringern.
Einen Einblick in diese zweite, zyklische Phase der alten
Sachsendichtung gibt uns der Prolog des in später Redaktion er-
haltenen Sachsenkrieges Karls des Grofsen gegen Wittukind:
'Wenn man die Geschichte der Sachsen folgerichtig hören will,' hebt
der Dichter an, 'so mufs das Lied mit den Altvorderen beginnen.'1
Einer der ältesten Merowinger hat nun die Unvorsichtigkeit ge-
habt, dem Sachsen Brunamont seine Tochter Aaliz oder Helois zu
geben, die der Heide zur Frau begehrt. Besser hätte er getan, sie
mit einem Stock zu töten, denn ihre Erben haben den Franken ge-
waltig zu schaffen gemacht. Nacheinander traten die Sachsen Broier,
Justamont, Guiteclin auf und verlangten das Erbe ihrer Urahne, die
fränkische Krone, zugleich Blutrache fordernd für ihre getöteten Väter.
Broier oder Brehier ist derselbe, dessen epischer Name viel-
leicht von einem Thüringerfürsten Bertharius hergeleitet werden kann,
dessen Urbild aber der ähnlich benannte Sachse Bertoaldus ist,
den nach Liber Historiae (Kap. 41) der Franke Clothar an der
Weser erschlug. Eine Tat, die vielleicht die volkstümlichste der
Sachsenkriege war, da wir sie im 12., 13. Jahrhundert auch von
Ogier dem Dänen erzählen hören. Und als dritter im Bunde tritt
1 Tirade III. Qu* de l'estoire as Saunet vuet oir par raison,
Des anciens derrier[e] doit movoir la chanqon.
Studien zur fränkischen Sagengeschichte. 355
nun hier im Sachsenliede ein gewisser Ans eis auf, der gleichfalls
den Ruhm beansprucht, der Brehiertöter gewesen zu sein.1
Seine Tat wird in folgender, echt kärlingische Erfindung ver-
ratender Weise erzählt:
Nach der Unglückshochzeit der Aaliz mit Brunamont wehrten
sich die fränkischen Könige mannhaft, einer nach dem anderen. Bis
der letzte ohne Erbe verstarb. So wählten die Franken als Anwalt
ihrer Sache Gottfried von Paris und nach ihm Garin den Pikarden.
(Andere Hss.: Girard le Pontier. Später wird er genannt: Garins
de Baviere, de Lancele, de Sansuerre.) Das war Anse'is' Vater, der den
Knaben mit der Hirtentochter zeugte, den Knaben, der einst dem
Heiden Brehier an der Maas das Frankenland streitig machen sollte.
Damals hatten Sachsen und Franken beschlossen, die Zwistig-
keiten durch einen Zweikampf zur endlichen Entscheidung zu bringen.
Es war der Tag, an welchem sie Ansei's zum Ritter schlugen. Darauf
setzte man beide Helden auf ein Eiland der Maas über, dort wurde
Brehier besiegt. Wütend zogen die Sachsen ab, aber sie brachen
ihre Eide, die Treulosen, und liefsen nicht davon, die Franken zu
beunruhigen.
Ansei's aber krönten die Franken in St-Denis zu ihrem König.
Gerecht war er und edel und diente Gott. Sein Sohn war Pipin,
der wackere Held, der den Sachsen Justamont erschlug. Wittukind
wollte ihn dann an Karl rächen, — so übernahmen die Söhne nach
ihren Vätern die Geschäfte, einer nach dem anderen.1
Nach dieser ziemlich trockenen aber übersichtlichen Analyse
bringt die Tirade XCVII eine weniger übersichtliche, mit ihrer ver-
worrenen Genealogie ergötzliche Anspielung, die jedoch die Romantik
der Sage etwas stärker hervortreten läfst:
Tot war Karl der Kahle, der das Reich sich erobert hatte, tot
Karl Martell der Arglistige, kein Erbe blieb der Krone, nicht fünften
Grades, nicht sechsten. Zehen Jahre liefsen sie drum Gottfried von
Paris das Land und krönten dann Garin von zum König.
Seine Frau war schön und weise, doch ohne Leibesfrucht. Garin
aber besafs eine Hirtin, die ein gar freundliches Antlitz hatte; von
niedriger Geburt zwar, aber edlen Herzens. Darum wurde auch
ihr Geschlecht späterhin zu einem freien erhoben. Um ihrer Schön-
heit willen wurde Garin ihr zugetan und war eine Nacht lang ihr
Trauter. In dieser Nacht wurde der starke König Anse'is gezeugt,
der Brehier töten sollte, Ansei's' Sohn aber war Pipin, Pipins Sohn
Karl der Grofse.
Wenn man diese beiden Anspielungen miteinander vergleicht,
so mufs man wohl zu der Überzeugung kommen : sie rühren nicht
1 Rohn ström hat diese Erzählung erwähnt in seiner Dissertation:
Etüde sur Jehan Bodel. Upsala 1900, S. 138.
23*
856 Studien zur fränkischen Sagengeschichte.
von derselben Hand her. Wenn auch die Grundzüge der Dichtung
durch beide in gleicher Weise festgelegt werden, so ist doch ein ge-
waltiger Unterschied in der Auffassung zu erkennen. In der einen
werden Dinge berichtet, die in der anderen ausgelassen sind, im
Wortlaut sind sie durchaus unabhängig voneinander, die erste läfst
die Romantik der Sage kaum zu Wort kommen, die zweite widmet
ihr zwar das Hauptinteresse, sucht aber das ihr darin mit der gesell-
schaftlichen Konvention unvereinbare auf ihre Weise zu interpretieren:
Ein niedrig Ding, — aber das Herz war edel,
Ihr Geschlecht wurde drum von Abgaben befreit.
In der ersten ist Anse'is' Mutter Hirten tochter, fllle au vachier,
in der zweiten hörige Kuhmagd seines Vaters.
In der ersten ist Gottfried von Paris nicht nur zeitweilig Statt-
halter. 'Nach ihm' erst wählen sie Garin zum König. In der zwei-
ten ist Gottfried Statthalter auf zehn Jahre. Die phantastische
Unterbringung von Karl dem Kahlen und Karl Martell der zweiten
Anspielung kommt hinzu. —
Unabhängig von Verknüpfungen mit früherer und späterer Ge-
schichte genommen, sind wir im Gebiet echt fränkischer,1 speziell
kärlingischer Sage: Anse'is ist Bastard des im Ehebett kinderlosen
Königs von einer Hirtentochter. Er dient in untergeordneter Stellung
im Heere und wird in nicht näher bezeichneter Weise zum Retter
auserkoren : wie Ansei's zum Sohne einer Kuhmagd, macht die spätere
Sage Hugo Capet zum Metzger. Aussetzen des Neugeborenen (Bueve
v. Hanstone, Doon v. Mainz, Wolfdietrich), einsame Walderziehung
mit Verspottung des naiven Helden bei Eintritt in die Welt ver-
bunden [Siegfried, Parzival, dem alten Frankreich war hierfür Aiol
das Muster), Verbannung des Jünglings gehören ebenfalls hierher.
Besonders häufig findet das 'Martyrium junger Heldenschaft' in
Küche oder auch im Garten statt. Es ist hierin der Hang märchen-
bildender Zentren zu sehen, den Helden aus dem Dunkel oder aus
der eigenen niederen Sphäre als Erlöser erscheinen zu lassen, eine
Anzahl typischer Züge immer wiederholend, was die Theorie hervor-
gerufen hat, alle diese Heldenjugenden seien von einem Märchen-
typus abzuleiten.
Zu diesen internationalen Zügen unserer Anspielung auf Anse'is
kommt seine Bastardschaft, die zwar aus gleichen volkstüm-
lichen Anschauungen entspringt, aber speziell der älteren kärling-
schen Sage angehört. Dir Ursprung liegt in der bestrittenen Ehe
1 Aus früher Merowingerzeit erinnert man sich der romantischen Lieben
Chariberts: die erste zu einer Wollmacherstochter, die ihm die Gattin aus
dem Kopf bringen wollte, indem sie dem flatterhaften Ehemann den Woll-
macher bei der verachteten Handarbeit vorführte. Die zweite, wie hier, zu
einer Hirtentochter. (Gregor IV, 26) 'Habuit et aliam puellam opüionis,
id est pastoris ovium, filiam nomine Theudogildem, de qua et filium fertur
habiMssc.'
Studien zur fränkischen Sagengeschichte. 357
Pipins deß Mittleren mit der Nebengattin Alphaid, aus welcher Karl
Martell entsprofs, der gegen die Söhne aus Pipins erster, rechtmäfsi-
ger Ehe mit Plektrud den Platz behauptete. Diese an romantißchen
Elementen reiche Grundlage hat sich die Sage natürlich zunutze
gemacht, und wir haben ihr bereits ein Kapitel unserer Studien ge-
widmet. In gröfserem Umfang ist dieselbe in einer Übertragung auf
Karl den Grofsen erhalten, der der Sage dadurch ebenfalls zum
Bastard wurde. Als älteste Form dieser Tradition bezeichnete Gaston
Paris seinerzeit diejenige der von ihm benannten Chronique Sain-
tongeoise (Histoire Poetique S. 224). l Eine Alte schiebt Pipin ihre
Tochter statt der Prinzessin aus Ungarland, Bertha, unter. (Das ist
wohl aus der Sage von der untergeschobenen Braut.) Die echte
Bertha soll im Walde ermordet werden, flüchtet aber zu einem
Kuhhirten Pipins (Li vachiers Pepin). Später wird Pipin über
die falsche Bertha aufgeklärt, findet durch Zufall die richtige bei
seinem hörigen Hirten und zeugt, noch ohne sie zu kennen, in der
Nacht des Wiedersehens Karl den Grofsen. Lassen wir an dieser
Stelle der Chronik das Wort: 'Der König sah Bertha; und von dem
Augenblick ab konnte er die Augen nicht von ihr wenden und frug
die Frau des Hirten und den Hirten selber, wer 6ie sei, und der
erzählte, wie er sie gefunden habe. Und der König bat ihn, sie ihm
die Nacht in sein Lager zu geben; der Hirte sagte zu und machte
ihnen ihr Bett auf einem Karren, der vor der Türe stand und mit
Farnkräutern beladen war . . .'
Und nicht anders das franko -italische Gedicht von Berta de
li gran Pie: Eine innere Regung läfst in Pipin eine heftige Neigung
zu der Hirtentochter entstehen. Der Hirt weigert sie ihm, aber sie
ist bereit, ihm den Willen zu tun, weifs sie doch, dafs sie seine recht-
mäfsige Gattin ist, wenn auch in ihrem Lager eine andere weilt.
Zum Hohn deckte ihnen nun der empörte Hirt das Lager auf einem
Karren — aber dieses wohl ursprüngliche Motiv hat auch die Dich-
tung nicht rein bewahrt: der König befiehlt hier, das Lager in
der beschriebenen Weise zurechtzumachen, wegen der grofsen Hitze.
(V. 1130.)
Iste fuit in carro natus bemerkt eine Chronik von Karl dem
Grofsen, und der Prosaroman von Berthe as grans pies führt gar von
char den Namen Charles her, während der flämische Lekenspiegel
Bertha zu einem Dienstwyf erniedrigt {Eist. Poet. S. 227).
Da die Sage von Bertha als die unmittelbare Nachahmung
der historischen von Alphaid ihrerseits als älter anzusehen ist als
unsere Anse'issage, so sehen wir in ihr das Vorbild der entsprechen-
den Züge im Anseis: wie sich Pipin zur vermeintlichen Findlings-
tochter seines Kuhhirten herabläfst, so läfst sie Garin, Anseis' Vater,
die Nacht bei seiner fille au vachier zubringen. Das 'Wie' ist uns
1 cd. F. W. Bourdillon, London 1897.
858 Studien zur fränkischen Sagengeschichte.
in der knappen Anspielung des Sachsenliedes nicht überliefert. Aber
es ist wohl, bei der augenscheinlichen Abhängigkeit von der Bertha-
sage, kaum ein Zweifel, dafs auch hier der Hirt dem König das
Lager in der poetisch-symbolischen Weise unter freiem Himmel be-
reitete, wie Berthas Pflegevater dem Pipin. So gibt sich der erste
Teil der Enfances Anse'is als ein Schöfsling der Berthasage, aus der
Form entsprossen, welche sie in der Chronique Saintongeoise und
der franko-italienischen Dichtung besitzt, und die Gaston Paris, wohl
nicht mit Unrecht, für die primitivste hielt.
Der zweite Teil der Enfances, die Entscheidung des Sachsen -
krieges durch einen Zweikampf, die Besiegung und Tötung Brehiers,
bieten der Quellenforschung kein schwierigeres Problem. Die Sage
ist uns in Verbindung mit historischen Vorgängen bereits im 7. Jahr-
hundert durch das Liber Historiae berichtet; freilich nicht von einem
Anse'is, sondern von dem Merowinger Clothar II. (anno 622).
Dagobert steht an der Weser den Sachsen gegenüber. Im Kampfe
wird ihm eine Locke abgeschlagen, und er sieht, dafs er der Gegner
allein nicht Herr werden kann. Da sendet er durch einen Boten die
Locke dem Vater Clothar 'zum Zeichen der Not'. Gewaltige Freude
herrscht im Frankenlager, als Clothar naht. Der Sachse Bertoaldus
fragt über den Strom hinüber, warum diese Freudenausbrüche? Man
antwortet: Clothar sei da. Ungläubig ruft er: 'Clothar ist ja längst
gestorben!' Da nimmt Clothar den Helm ab und zeigt sein langes,
graues Königshaar. Wütend beschimpft ihn Bertoaldus, Clothar aber
setzt mit dem Pferde über die Weser, besiegt und tötet den Sachsen
im Zweikampf und schlägt die Heiden in die Flucht.
Von Historikern wie Sagenforschern ist längst erkannt, dafs
dieser Bericht eines realen Hintergrundes entbehrt: Weder Gregor
noch der sog. Fredegar wissen von einem solchen Erlebnis Clothars H.
Anders freilich bei Clothar I. : Er ist es gewesen, der im Jahre
531 dem Bruder Theodorich beistehen mufste, die wortbrüchigen Thü-
ringer zu züchtigen. Da nun die Sage zwischen erstem und zweitem
des Namens nie unterscheidet, ist wohl die Übertragung des Liber
Historiae von Clothar I. auf den zweiten lediglich ein Irrtum.
Historisch ist nun, dafs Clothar I. nach Besiegung der Thü-
ringer: Radegundis (die spätere Heilige),1 eine Tochter des bereits
aus dem Wege geräumten Fürsten Bertharius, als Kriegsbeute
mitnahm und ehelichte. Und so ist wohl möglich, dafs dieser ver-
ewigte Schwiegervater wiedererweckt und zum Riesen Bertoaldus
wurde. Warum freilich der Name geändert ist, wäre nicht leicht
1 Nicht vergessen soll werden, dafs Kurth (S. 355 des gen. Werkes)
der Ansicht ist, dafs sich in der Geschichte der Burgunderin Chrotochildis
und ihrer Brüder die Schicksale der jüngeren Radeguudis und der Thü-
ringerfürsten widerspiegeln. Die chronologische Umdrehung scheint die
geistreiche Deutung unmöglich zu machen.
Studien zur fränkischen Sagen geschieh te. 359
zu sagen. Suchier hat (Zeitschr. f. rom. Phil. XVIII, S. 190) auf
einen rebellischen Hausmeier Namens Bertoaldus aufmerksam ge-
macht, von dem Fredegar (IV, 28) berichtet: er wurde durch Leute
Clothars IL getötet, nachdem er den Führer vergeblich zum Zwei-
kampf herausgefordert. Wir hätten also in Bertoaldus zwar den
Thüringerfürsten Bertharius zu sehen, allerdings durch Vermischung
mit einem rebellischen Hausmeier umgetauft.
Aber das Liber Historiae trägt vielleicht ausschliefslich die Schuld
dieser Neubenennung: denn die Tat, die wir von Anse'is hörten,
stimmt zu der von Clothar I. berichteten nicht nur in der Grundlage:
Kooperation, Besiegung im Zweikampf, sondern das bisher wahr-
scheinliche Urbild von Bertoaldus: Bertharius ergibt laut-
gesetzlich Brehier. Das hat schon Suchier bemerkt (a. a. 0.,
vgl. auch Voretzsch, Epische Studien I, S. 229), und es ist schwer
an dieser Tatsache vorüberzukommen. Da nun im 12. Jahrhundert
der typische Sachsenkämpe noch Brehier — Braier, Broier hiefs,
wie der historische Vater von Clothars Kriegsgefangenem Bertha-
rius, so scheint umgekehrt der Name Bertoaldus im Liber Historiae
lediglich auf Kosten dieser Version gesetzt werden zu müssen und
zwar als eine lokal beschränkte Übertragung oder ein Irrtum.
Denn solche Übertragungen finden wir ja auch hier: von einem
Anse'is wird das erzählt, was Clothar getan hat, und zur selben Zeit
wird dieselbe Tat, die Brehiertötung, in einer anderen Gegend von
Ogier erzählt. Alberich von Trois Fontaines schliefslich mufs
die Sage auch noch von ihrem Urbild gekannt haben, denn er spricht
von Ogier, der im Heldengedicht Lotharius Superbus genannt würde.
Nun, diese Dinge sind oft genug besprochen worden. Über
jeden einzelnen Punkt sind Zweifel geäufsert worden, wir werden uns
nicht hier zu erneuter Polemik bequemen. Alle bisherigen Gegner
von Voretzschs Ausführung, dafs Ogiers Schlufstat einem Sachsen-
krieg nachgeahmt sei — auch Settegast, der in diesem Kapitel ledig-
lich Hunnensage sehen wollte und Brehier aus einem Zabergan her-
holte — , werden einsehen, dafs die nun nachgewiesene Anse'isversion,
die organisch zu den Sachsenkriegen gehört, Voretzschs
Ansicht unantastbar macht.
Auch der zweite Teil der Geschichte von unserem Anse'is zeigt
sich als eine Nachahmung von Clothars Sachsenkrieg. Wie dort,
tritt ein unerwarteter Retter auf (Kooperation), — wie dort findet die
Entscheidung an einem Flusse statt, diesmal an der Maas, — wie
dort besiegt der im Mittelpunkt stehende Held den Sachsenkönig im
Zweikampf, der hier Brehier, dort Bertoaldus heilst.
Sind wir also über die beiden Sagenmotive der Enfances rei
Anse'is vollkommen im klaren, so überrascht nur eins. Warum ist
diese Tat, die wir von Clothar I. auf Clothar IL übertragen sehen,
360 Studien zur fränkischen Sagengeechichte.
die wir von dem auch sonst sagenberühmten Ogier erzählen hören
— warum ist sie hier von einem ganz unbekannten Helden erzählt?
Gaston Paris hielt die Persönlichkeit wohl für eine Fiktion Jean
Bodels, des Redaktors der Saisnes (Hist. Poet. S. 22 1)1: 'Cet Anse'is,
fils de Garin le Poyer ou le Picard et d'une fille de vacher, deliira la
France du Saxon Broier, qui pretendait la posseder du chef de son
äieul Floovant. Les Francais reconnaissants couronnerent Anse'is, qui
fut lepere de Pepin. Teile est la singuliere genealogie de Charlemagne
d' apres Bodel; on y reconnait des Souvenirs confus des changements
de dynastie qui eurent Heu en France ä deux reprises . . .'
In der Tat, vergebens suchen wir im Epos nach einem Ansei's, der
als ein Vorbild unseres Helden gelten könnte, der uns den 'epischen
Namen' zu unserer Anspielung lieferte: Anse'is fis Girbert aus
den Lothringern, Anse'is einer der zwölf Pers im ältesten Karlsepos
passen beide nicht, Anse'is de Carthage ist Neffe Karls des Grofsen
und nicht Vorfahr und wohl erst spät überhaupt zu einem solchen
geworden.
Die Rolle unseres Anse'is als König, als Vater Pipins, als
Vorfahr Karls desGrofsen ist zu bestimmt gefafst, um mit irgend-
einer Person identifiziert werden zu können, die nicht historisch an
dieser Stelle steht. Und wenn es eine solche nicht gibt, so hört die
Erfindung der Poeten oder Diaskeuasten nicht mit Jeoffroi de Paris
und Garin le Pohier auf, wo sie ersichtlich ist, sondern schliefst
Anse'is noch mit ein, wie Gaston Paris vermutete.
Eines anderen belehren uns die Genealogien der Arnulfinge.
Da finden wir zu unserer Überraschung, dafs die Angaben des Ge-
dichtes nach unten hin richtig sind: Ansigisus, Ansigisilus
(> Anse'is) ist eine historische Person. Er ist der älteste Sohn des
heiligen Arnulf, Erzbischofs von Metz, des Stammvaters der Kärlinge.
Er ist der Vater Pipins II., der hier als Vater Karls des Grofsen gilt.
— Aber erst Pipin III. ist ja Vater Karls des Grofsen? — Wenn
wir noch ein Zeugnis dafür brauchten, dafs unsere Sage und ihre
Chronologie volkstümlich von geschriebener Chronik unbeeinflufst
ist, so besitzen wir es an dieser Genealogie:
Arnulf
I
Ansigisil
I
Pipin H.
I
Karl [Martell]
Pipin III.
I
Karl [der Grofse].
1 [Vgl- aber seine Legendi de Pepin le Bref in den Melanges J. Havet,
1895, 605 f.]
Studien zur fränkischen Sagengeschichte. 361
Das ist eine Filiationstabelle, welche nur die Chronik ausein-
ander halten kann: zwei Pipin, die beide Vater eines Karl sind,
konnte die Sage nicht auseinander halten, verschmolz die Paare und
kannte dann nur einen Pipin, nur einen Karl. Wie in Nord-
frankreich alle Taten Karl Martells auf Karl den Grofsen übertragen,
Pipin IL und III. zusammengeworfen wurden, das haben wir hier
bereits gestreift und ist so oft und so gründlich behandelt worden,
dafs wir uns mit dem Hinweis auf Pio Rajnas Carlo Magno e Carlo
Martello aus seinen Origini delV Epopea Francese begnügen können.
Wenn Jean Bodel oder einer seiner Kollegen an unseren An-
spielungen etwas erfunden hat, so ist es die Unterbringung von Karl
Martell vor Anseis. Denn durch den eben geschilderten Verein-
fachungsmodus der Sage wurde ja Karl Martell herausgedrängt, der
'gebildete' Interpolator aber, bestrebt, seine teuer erworbenen Ge-
schichtskenntnisse an den Mann zu bringen, auf der anderen Seite
nicht imstande, das Fleckchen wiederzufinden, wo er historisch hin-
gehörte, machte ihn und Karl den Kahlen gar noch dazu — pro
pudor! — zum Ahnen seiner Ahnen.
Also Ansei's ist keine Fiktion Jean Bodels, die Genealogie von
ihm bis zu Karl dem Grofsen keine Reminiszenz aus Chroniken —
echte, lebendige Sage ist es, die wir angetroffen haben, mit ihrem
angestammten Schmucke und ihren ureigenen Irrungen.
Wenn er auch an der Echtheit unserer Sage zweifelt, so scheint
Pio Rajna die Tatsache an sich, dafs unser Ansei's der Arnulfing
Ansigisel ist, erkannt zu haben. Aber aus mir unerfindlichen Grün-
den spielt er in seinem Hauptwerk auf diese Beziehung nur an,
ohne sie näher darzulegen (S. 246 op. cit.): (E a piü forte ragione (als
die Übertragung der Enfances Pepin) rimetto ad altro luogo il parlare
del padre di questo nostro Pipino, Ansegisilo o Anschiso, eroe anch' esso
di canti, vivo ancora nella tradizione poetica del secolo XII, ma al
quäle l'onore di figurare nelV epopea potrebbe essere stato procaeciato
postumente dalla gloria del figlio e degli altri discendenti.
Wenn dem so wäre, wenn die Sage Ansegisus erst dann zum
Objekt gewählt hätte, als seine Enkel und Urenkel die grofsten der
Franken geworden waren, woher dann die Kenntnis seines Namens?
Epische Väter sind freilich jünger als ihre Söhne, diese Erkenntnis
ist ja schon zum Gemeinplatz geworden. Aber dann tragen sie
auch keine historischen Namen! 'Aus einer Chronik sei der
Name übernommen worden!' — Ich schreibe diese Entgegnung nicht
als einen Einwand Rajnas hin, der eine solche, seinem eigenen System
gegensätzliche nicht erheben würde. Ich schreibe sie nur, um daran
zu erinnern, dafs sie schon widerlegt ist, ad absurdum geführt durch
die rein sagenhafte Genealogie, welche Ansei's in unserer Anspielung
mit Karl dem GrofBen verbindet.
Da nun der erste Teil der Enfances rei Anseis Motive aus der
Jugendsage der beiden Karl verwendet, so ist die Form der Sage
362 Studien zur fränkischen Sagengeschichte.
freilich jünger als diese Tradition; und da sie zudem als zweites
Element die berühmte Tat Clothars auf ihn überträgt, so gibt sie
vorab nichts von organisch zu Ansei's gehörendem Sagengut wieder.
Es ist nur der 'epische Name' und seine Stellung, die echt sind. Ein
epischer Name Anseis in dieser Stellung aber setzt verlorene, orga-
nisch zu seinen Taten gehörende Dichtungen über ihn voraus.
Die Persönlichkeit des Ansigisus war den Arnulfingen besonders
teuer aus einem Grunde, den man nicht belachen soll. Denn ein
solches Aufschauen zu einer älteren Kultur, ein solches Bestreben,
mit der höheren Kultur sich äufserlich zu verbinden, zeigt die Er-
kenntnis ihrer Superiorität und ist die Quelle innerer Assimilation:
die Ähnlichkeit des Namens Ansigisus mit Anchises, dem alten
Trojanervater, von dem die Römer sich herleiteten, begründete eine
phantastische Ableitung von den Trojanern. Überall in den Taten
der Bischöfe von Metz (Pertz II, S. 264), dem Epitaphium der Rothaid,
Pipins Tochter (ebda. S. 265), stofsen wir auf sie:
Aber Anchises, ihr wackerer Ahnherr, führt seinen Namen
Von dem greisen Vater des ältesten Römers her.1
Noch Alberich von Trois-Fontaines nennt ihn: Ansigisus
qui et Anchises (ad 644, 685). Mousket nennt ihn Angis (21 512),
ohne von einer Sage über ihn etwas zu wissen.
Es hätte wirklich etwas Bestechendes, in der Übertragung der
Tat von einem Merowing auf einen Arnulfing, von Clothar auf
Anseis, eine familienpolitische Tat des jüngeren Geschlechtes zu sehen,
aber wieder steht uns die echt volkstümliche Art der Enfances Anseis
entgegen: denn eine solche tendenziöse Dichtung würde sich enger
an die Chronik und Chronologie gehalten haben, würde ihn nicht
zum Bastard gemacht haben, sondern ihn nach Anschises etwa Angis
und nicht lautgesetzlich nach Ansigisus: Anseis genannt haben.
Nein! Eine tendenziöse Dichtung sind diese Enfances nicht,
und die Tat, die von dem reifen Manne berichtet wurde, die Rolle,
die König oder Held Anseis historisch und episch gespielt, sie mufs
bestanden haben, um Enfances- Dichtung und epischen Namen
entstehen lassen und überliefern zu können. Und sie hat auch be-
standen, wenn es auch wiederum nur Chroniken sind, die ein Echo
von den ihm gewidmeten Sagen widerhallen. Anseis hat in dem
schon öfters besprochenen, epische Spuren deutlich verratenden Thü-
ringerkriege von 641 historisch eine Rolle gehabt. Zwar nennt ihn
Frede gar (Buch IV, Kap. 87) in diesem Kriege Adalgyselus
(Algiselus), doch läfst Dahn keinen Zweifel an der Identität beider
Persönlichkeiten. Ja, er nennt ihn im Laufe seiner Urgeschichte der
germanischen und romanischen Völker mehrfach Adalgisil, im Re-
gister allerdings nur unter Ansigisel (S. 645, 6). Es 'begegnet
Ast abavus Anschise potens, qui dacit ab üb)
Trojano Anchüa longo posi tempore nomen.
Studien zur fränkischen Sagen geschiente. 363
Adalgisil auch nach Pipins Tode nicht wieder als major domus, viel-
mehr tritt Pipins Sohn Grimoald alsbald in dieses Amt. Einen
Bruch mit Arnulfs Sohn hat man aber um deswillen nicht anzuneh-
men: Adalgisil erscheint 640 als Heerführer in Sigiberts Feldzug
gegen die Thüringer neben Grimoald.'
Der gesprächige Fredegar berichtet aber (IV, 77): Radulf us der
Thüringerherzog war im Kampf gegen die Wenden Sieger geblieben,
und im Hochmut darüber versuchte er mehrmals dem Herzog Adal-
gyselus nachzustellen und wandte sich nach und nach auch gegen
Dagoberts Sohn Sigybertus. Wer den Streit sucht, der hat Kampf
im Sinn ... (IV, 87). Im achten Regierungsjahre des Sigybert (641)
brach er los. Sigybert berief stracks den Heerbann, setzte über den
Rhein, jagte des Thüringers Genossen Fara in die Flucht und drang
ins Thüringerland ein. Ein Schwur einte die Herzöge, Radulf nicht
länger leben zu lassen; aber es kam anders! Radulf baute sich
nämlich ein festes Kastell an der Unstrut und liefs sich ruhig vom
Gegner umzingeln. Sigybert war jung und ungeduldig; und obgleich
die Herzöge Adalgisil und Grimoald ihn ohne Unterlafs bewachten,
befahl er ohne Beratung den Angriff. Radulfus aber hatte ein ge-
heimes Einverständnis mit gewissen fränkischen Herzögen, fiel aus
und brachte den Franken eine empfindliche Niederlage bei. Viele
Tausende von ihnen sollen getötet worden sein. Sigybertus aber, nach-
dem Radulf sich wieder in seine Burg zurückgezogen, safs auf dem
Boden und weinte bittere Tränen über die Verlorenen. Die Mainzer
sollen es gewesen sein, die in diesem Kampfe sich treulos erwiesen.
Kurth ist in seiner Histoire Poetique des Merovingiens S. 466
den sagenhaften Zügen dieser Darstellung gerecht geworden. Frede-
gars Darstellung macht den Eindruck, als ob die Fülle der ihm ge-
fallenden Züge ihn überwältigte und er dadurch vollkommen aus
dem Zusammenhang geraten wäre. Er berichtet (wir haben die Dar-
stellung zu ordnen versucht) von dem planlosen Angriff, dann erst
von der Überwachung des königlichen Prinzen durch Adalgisel und
Grimoald. Er schliefst seine Schilderung ab, dann erinnert er sich
der Untreue der Mainzer und bringt diese Bemerkung als Schlufs
der Kämpfe vor den Verhandlungen, mit denen Sigybert den ge-
fährdeten Rückzug erkaufen mufste. Die Untreue der Mainzer bringt
er mit einer nicht oft von ihm geübten Vorsicht: Die Mainzer 'sollen'
sich in diesem Gefecht untreu erwiesen haben und tatsächlich sind
in der späteren epischen Tradition die Mainzer typische Verräter: der
Dichter des Doon de Maience mufs mehrfach im Laufe des Gedichtes
hervorheben, dafs sein Held nicht jener Doon von Mainz sei, der
gegen Karl den Grofsen zu Felde gezogen, und der Bueve de Han-
stone aus dem Lande gejagt. Jenes 'Mainz' sei eine andere Stadt
jenseit des Meeres. Die weitgehendste Verwendung als Typus hat
dann das Haus Maganxa, die Verrätersippe, in den Reali di Francia
gefunden, jener italienischen Kompilation aus dem Volksepos.
364 Studien zur fränkischen Sagen geschieh te.
Wenn nun die Mainzer später als Verräter gelten, so mufs wohl
einmal in der Geschichte ein Anlafs zu solcher Anschauung statt-
gefunden haben. Und warum sollte es nicht dieser sein. Nur Frede-
gars Ausdrucksweise könnte darauf deuten, dafs er damals schon
typisch war und deshalb innerhalb des Ganzen Fredegars Argwohn
erweckte. Wenn diese Untreue nicht mit Sicherheit als bereits sagen-
hafter Zug nachzuweisen ist, so sind es die folgenden sicherlich: der
Eid der Herzöge, den Thüringer unter keinen Umständen zu schonen,
der junge unerfahrene König, der weinend über Niederlage und Ver-
luste auf dem Boden sitzt wie ein Kind. Das stammt nicht aus
trockener Chronikenüberlieferung, das gehört zum feinen und zier-
lichen Schmuckwerk, mit dem der Volksmund die Sage zu bekleiden
pflegt. Aber die Sage von Sigyberts Tollkühnheit und Niederlage
hat ihren eigenen Beigeschmack : die Herzöge, die geschworen haben,
Radulf keinen Pardon zu gewähren, stehen ja am Ende beschämt
und eidbrüchig da, und auch der Übergang von jugendlichem Wage-
sinn zu kindischstem Ausdruck der Verzweiflung zeigt eine ungünstige
Gesinnung der Erzählenden gegen den König. Sehr einfach, denkt
man, die Austrasier, aus deren Mitte die Arnulfinge hervorgingen,
erniedrigten das absterbende Königshaus und erhöhten das künftige.
Jedoch ist von einer Erhöhung von Arnulfs Sohn, den die Metzer
Annalen den erlauchtesten Fürsten nennen sollten, wenig zu spüren ;
nichts berechtigt uns, anzunehmen, dafs er den Eid der Herzöge
nicht mitgeleistet hat, und nur die Überwachung des Königs mit
Grimoald vor dem Unglückskampf zeigt seine Überlegenheit — aller-
dings mifslingt ja auch sie!
Soll ich daran erinnern, dafs auch andere Sagen sich bei Frede-
gar vollkommen umgestaltet und zwar volkstümlich umgestaltet
zeigen, dafs Teile der Chronik burgundischen Ursprungs sind,
dafs nur kurze Zeit darauf Burgund in der poetischen Darstellung
seiner Kriege gegen Nordfrankreich sein Heldenepos erhielt, dem-
entsprechend auch in der burgundischen Chronik bereits vielerlei
tendenziös gefärbt erscheint, was die Franken anbetrifft ? So werden
wir wohl kaum fehlgehen, in der Art der Darstellung von Sigyberts
Feldzug burgundische Auffassung zu vermuten. Burgundische Dich-
tung wohl. Den Kern des Berichtes mögen sie von Austrasiern er-
halten haben, entwickelten ihn dann in ihrer Art weiter und ver-
schärften das für die Franken Skandalöse. Grund genug, denke ich,
dem Bericht Fredegars zu mifstrauen und ihn aus den Geschichts-
büchern verschwinden zu lassen, etwa bis auf den Kern — eine
fränkische Niederlage an der Unstrut.
Ich denke mir die Entstehung der Sage folgendermafsen: die
Niederlage Sigyberts an der Unstrut wurde von den Austrasiern in
einer Weise dargestellt, welche den Merowingerprinzen demütigte und
Ansigisel, dessen Rat vorher zurückgestofsen wurde, als den schliefs-
lichen Retter und Rächer auftreten liefs, genau nach dem Muster
Studien zur fränki sehen Sagen geschieh te. 365
des Liedes von Dagobert und Clothar IL, in welchem der
junge König eine Niederlage erlitt, der ältere Fürst die
Scharte auswetzte. Dort erlegte Clothar den Sachsen Bertoal-
dus — im Sachsenlied tötet Ans eis Brehier, dessen Identität mit
Bertoaldus wir schon öfters betont. Also hier finden wir beide
Sagen tatsächlich vermengt. Die burgundische Sage entlehnte
nur den satirischen ersten Teil, der ihr behagte, und in dem sie die
Schande der Austrasier sah. Sie schlofs mit der Niederlage der
Franken, ohne Ansei's eingreifen zu lassen. So geht es aber, wenn
man das eigene Haus beschmutzt.
Die Austrasier verloren umgekehrt mit Abnehmen des Wider-
willens gegen die schwachen, kindischen Epigonen der absterbenden
Rasse das Interesse an dem Sigybert niederdrückenden Anfang, der
trotz allem eine fränkische Niederlage bedeutete, und behielten nur
den, Ansei's erhebenden zweiten Teil, dem sie eine Vorgeschichte im
Stile der Bastardschaft Karl Martells, vulgo Karls des Grofsen vor-
aussetzten. Dies scheint mir die wahrscheinlichste Vermutung zu sein,
welche besonders dadurch sich empfiehlt, dafs sie die beiden bisher
genannten Anspielungen auf Ansei's auf eine Dichtung zurückführt,
die das Schema einer älteren Sachsendichtung, der Sage von Clothar
und Dagobert, getreu kopiert. Wie aber die Merowingersage mit wenigen
überkommenen Themen zu wuchern pflegt und diese immer wieder
erneuert, haben wir ja bereits öfters betont, wobei die Kooperation
eines jungen und alten, tüchtigen und weniger tüchtigen Heerführers
auch bereits als immer wiederkehrend erkannt wurde.
Wir können also für die Figur des Ansei's die aufgeworfenen
Fragen im wesentlichen als gelöst betrachten. Was nun die seinerzeit
so sagenberühmte Brehiertötung anbetrifft, so hat ja die von uns
beigebrachte Version mancherlei Zweifel getilgt, aber sie hat auch
neue Probleme mit sich gebracht: welcher Natur ist die Verwandt-
schaft der Versionen ?
Nun brüstet sich im Ogier Brehier vor dem Kampfe (9874): 'Ich
will einmal Karls Heer einen Besuch abstatten; als treulosen Ver-
räter will ich ihn vor der Welt hinstellen: Braimont tötete er in
mörderischem Verrat, sein Vater Pipin brachte Justamont um.
Bei Mahomet, ich werde sie rächen!' Und Pipin schimpft er einen
schlechten, stinkigen Zwerg (9946).
Erinnern wir uns nun, was wir zu Anfang sagten: die Erwäh-
nung des Ansei's im Sachsenliede gewährt uns den Einblick in eine
zyklische Sachsendichtung. Durch das Prinzip der Blutrache wurden
eine Anzahl Dichtungen miteinander verknüpft, die alle einen fränki-
schen Führer als Sieger über den Sachsenkönig darstellten : als ersten
den Floovent, dann Clothar-Anseis, wie dieser schlug nach Mainet
(Rotnania IV, S. 319) Pipin dem Justamont im Zweikampf den Kopf
ab, ebenso Karl der Grofse dem Wittekind im erhaltenen Saclisenlied.
866 Studien zur fränkischen Sagen geschiente.
Nachahmungen dieser etwas stereotypen Schlüsse finden wir noch im
Zweikampf: Karl der Grofse-Braimant (vgl. Brunamont
Mainet); Karl derGrofse-Baligant (Roland). Und da der Ogier
innerhalb seiner Brehiertötung sich mit den angeführten Worten
auf die zyklische Sachsendichtung beruft, in dieser aber die Tat nach
Ausweis des Sachsenliedes von Ansei's erzählt wurde, so ist es wahr-
scheinlich, dafs dieselbe von Ansei's auf Ogier direkt übertragen wurde
und nicht, wie ich bisher mit Voretzsch annahm, von Lothar auf Ogier.
Des Alberich Anspielung behält freilich ihren vollen Wert, der
Lotiiarius Superbus des noch von ihm gekannten Heldenliedes ist
auf keine Weise auszuschalten.
Und so haben wir die interessante Sachlage, dafs man im 1 3. Jahr-
hundert die Brehiertötung zu gleicher Zeit von drei verschiedenen
Personen singen hören konnte: von Clothar in ursprünglicher Ver-
sion (Zeugnis Alb er ich, der ihn darum Ogier gleichsetzt), von
Ansei's innerhalb einer zyklischen Nachdichtung, von Ogier in
einer Nachgeschichte, die auch Motive der Belisarsage aufzuweisen hat.
Wahrscheinlich waren diese Sagen geographisch geschieden: Clo-
thar mag in Alberichs Heimat, in der Champagne (Wattenbach:
Geschichtsquellen, 5. Aufl., S. 422) besungen worden sein, Ogier um
Meaux, wo sich nachweisbar eine Legende über ihn gebildet hat.
Ans eis aber gehört dem Osten an. Sein Vater war Erzbischof
von Metz, er selber in Austrasien Hausmeier und Herzog. In öst-
lichen Kriegen Heerführer. So nehme man es als Beleg dafür, dafs
die Heimat seiner Sage Lothringen gewesen ist, dafs wir an Stelle
der Unstrut ältester Sage, der Rune der Karlssage (= die Ruhr '),
hier die Maas als Schauplatz seiner Taten finden.
Dort safsen auch diejenigen, die von ihm sangen, und die den
Sohn des heiligen Arnulf trotz der stärker leuchtenden, alle schwäche-
ren absorbierenden Gestirne Karl Martells, Karls des Grofsen, der
Ludwige über fünf Jahrhunderte nicht vergafsen.
Anhang.
Der Text der Anspielung auf das Anseislied.
Saisnes T. IV, 1. Francois se deffandirent com nobile guerrier.
Li uns rois apres l'autre panse de l'anforcier,
Tant qu'en France morut li rois sanz heritier.
Ne sorent la corone cui doner ne bailiier;
6 De Jofroi de Paris firent lor justisier
1 Rune — Rhein ist ein Irrtum Gaston Paris' (Hist. Poet. S. 289),
der kritiklos genug weitergetragen worden ist. Seit dem Aufsatz von Jos.
Hansen in Forschungen zur Deutschen Geschickte, 188G, S. 119 — 121, ist
wohl nicht mehr daran zu zweifeln, dafs die Ruhr gemeint ist : Rura > Rtire
ergab durch Dissimilation Rune. — Jüngere Literatur zu diesem Funkte
siehe Rohnström op. cit. S. 175 ff. Hiernach findet sich der Name
Rune in anderen Texten in Spanien. Deswegen für das Saciisenlied die
Etymologie Rune — Rura abzulehnen, scheint übertrieben.
Studien zur fränkischen Sagengeschichte. 367
Por maintenir la guerre et por ax anforcier.
Apres celui eslurent dant Garin le Pohyer;'
Ne sorent la corone allors miax amploier,
Quar molt estoit prodöm, si soct bien guerroier;
10 Mes ainz n'ot fil ne fille de sa franche moillier.
Cil concut Anseys an la fille au vachier,
Qui puis derraisna France cors ä cors ä Brehier2
Au parlement sor Muese, oü ot maint haut princier,
Francois et Sesne3 furent ajornö por plaidier,
15 Por la destroite guerre finer et apaier.
Dont firent la bataüle sor ■ || • homes jugier
Et d'anibes parz trez bien jurer et fiancier
Que ne feront jamais guerre recommencier ;
Mes eil en ait l'onor cui Dex vodra aidier.
20 Cel jor firent Francois d'Anseys Chevalier,
Qar ancores servoit au role4 d'escuier;
Bien li sistrent les armes, si s'an sot bien aidier.
Brehier refirent Saisne molt bien aparoillier,
Puis les firent andeus outre •[• autre5 nagier;
26 Se's ont andeus laissiez as armes aeointier.
Anseys le conquist ä l'esp^e d'aeier:
Li Saisne s'an tornerent, n'i ot que correcier;
Mes toz lor sairemanz fauserent de legier,
Qar onques ne laisserent nos Frans a laidangier.
30 Anseys coronerent ä Saint-Denis mostier;
Leax fu et prodom, Deu ama et ot chier.
Cil fu peres Pepin le vassal droiturier,
Qui puis refist ä Saisnes maint mortel anconbrier
Et ocist Justamont, voirement sanz cuidier.
35 Guiteclins le cuida puis vers Karion vangier;
Li fil apres les peres repristrent le mestier.
Diese Anspielung ist in veränderter Gestalt wiederholt auf S. 1 6 5
desselben I. Bandes:
Tirade XCVII, 2. 'Morz fu Karies ü Chaus qi l'ampire ot conqis ;
Apres Karies Martiax qi tant fu mal pansis;
Ne remest oirs en France ne an qint ne an sis;
•X- ans laisserent France ä Joifroi de Paris.
5 Qant Garins de Baviere6 fu do roiaume esüs,
Farne avoit bele et sage; mais ainz n'an fu oirs vis;
Cil ot une vachiere qi molt ot cler le vis:
Basse chose ert assez ; mes li cuens (1 : cuers = R) fu gentis.
Puis fu li suens lignages de chevage7 franchis.
10 Por la biautö de li fu Garins ses amis:
O li jut une nuit, si an fist ses delis;
De lui fu angenrez li forz rois Ansöys,
Qui puis ocist Brehier,8 dont ancor nos est pis.9
DAnsdys fu Pepins, qi proz fu e gentis;
15 Et de Pepin fu Karies, qi nos a anva'is.'
1 K: Girart le Pontier. — 2 so A; L: Broier; R: cors ä cors bataillier. —
3 L: Oü France et Saisne ... — 4 A: en robe. — 5 A, R: isle. — 6 R: G. de
Lancele, A: G. de Sausuerre. — 7 L: chevax; A, R: servage; T: chevage (vgl.
Siepel, Kritische Beiträge zu Jean Bodels Epos, Diss., Greifswald 1899, Nr. 106). —
8 L: Broier. — 9 Ein Sachse ist der Erzählende.
München. Leo Jordan.
Note sul Boccaccio in Ispagna nell'Etä Media.
(Fortsetzung.)
II De claris Mulieribus ed il De Casibus, benche diversi
nell' accozzamento del materiale erudito, mostrano un aspetto
medesimo dell'animo del Boccaccio; si completano a vicenda.
E un ricreare e sollazzare la mente, rienipiendola di fatti egregi
e memorandi ; un fortificare lo spirito fiacco con riflessioni rnorali
ed una filosofia sensatissima e cristianissirna, ma tutta a fior di
pelle. Si infilzano esempi, e si ragiona: Badate alle antiche storie
che son specchio della vita; incamminatevi alla virtü e fuggite
il peccato. Chi, fuor d'Italia, conosceva il De Casibus del
'famoso filosofo y grand poeta' Boccaccio,1 ignorava difficilmente
1 Cosi chiamavalo un lettor assiduo del De Casibtis, Fern an Mexia,
nel Idbro yntitulado nobiliario perfetamente copylado y ordenado (Sevilla
1492, cap. I), che potei consultare quando era giä a stampa il capitolo
precedente. Quivi il Boccaccio che, in materia di nobiltä e di virtü, pen-
sava come Dante, e tratto a convalidare il pensier retrogrado di una no-
biltä basata sulla purezza del sangue e la discendenza, e dovrebbe prestar
armi per combattere il 'famoso doctor' Bartolo. (cap. I) 'En favor de
nuestro proposito el vocagio presta o nos enbia tres flechas agudas y
fuertes para mortalmente ferir al dicho doctor, escudo de aquella tabla
tergera de su escudo, escripto en sus tendales, como fueron sacadas de
aquella epistola con la quäl fue presentado el libro suyo caydes de prin-
cipes . La quäl esta situada en el comengo de dicho libro . Las letras
dizen asi . Maginardo onbre de onrrado linaje desta gibdad de florecia, el
quäl es cavallero armado y el titulo de su linaje antiguo y muy famoso
es en esta gibdad y de buenas costunbres mucho doctado . Por gierto si
este famoso filosofo y grand poeta no sintiera como la antiguedad y claridad
del linaje no era la perfegion de la nobleza, no se metiera ä dar loores
de nobleza de antiguedad del dicho maginardo. . . . Y luego lango la se-
gunda, sacada del goldre del dicho libro . cap. VII . cuyas letras material-
mente dizen asi . Vi al Rrey minus que ante todas las cosas en su nasci-
mieto fue muy claro asi como aquel que era engendrado de aquel grand
Rrey de creta llamado astrio y de europa fija del Rey agenor; esto dixo
el gran poeta por que asterio vestia de la mas alta sangre y antigua y
noble del mundo. ... La tercera es aquella la quäl sacada del dicho goldre
puso en sus tendales aquellas letras que se leen en el cap. XIII en el
comiengo que dizen ansi: De un linaje muy claro muy alta y linpia sangre
fue priamo . Aqui es de notar que alta sangre no quiere otra cosa dezir:
salvo antiguo . . . e esto quiso dezir el dicho poeta.' Di Dante non ragiona
il Mexia nel Nobiliario (& cosi sciolto un dubbio espresso nelle note mie
su Dante in Ispagna, p. 19 dell'estr.); cita perö i Trionfi del Petrarca
(Lib. I cap. LXXIIII), ricorda la Vision deleytable di Alfonso de la Torre
(Lib. II cap. XX), e piü volte le glosse del Villena aXYEneide tradotta.
Note sul Boccaccio in Ispagna nell'Etä Media. 869
il De claris Mulieribus; aweniva talvolta che i due trattati si
inettessero in im fascio e si confondessero. Alla versione fran-
cese del De claris Mulieribus, venuta in luce nel 1493, il Verard
mandava innanzi l'avvertimento : 'La fin et inteütion du dit auteur
est monstrer l'instabilite et variacion de fortune, laquelle sou-
ventesfois, apres plusieurs grandes prosperites, renverse l'estat
des humains et parfond de miserable infelicite, et du contraire,
apres plusieui's adversites, eile restitue les mortels vivans en
plus grande prosperite que devant.'1
L'arte, giä dal Boccaccio aft'ogata entro le spire delf eru-
dizione e della morale, immiserivasi necessariamente nelle tra-
slazioni ed imitazioni successive. II trattato sulle chiare donne
giungeva provvidenziale a' dotti, nel fervore delle discussioni
sulle donne, in tanto affannarsi per sgombrare da' rovi e dalle
spine la via che conduce al cielo. Dovunque s'apron cammini,
penetra la donna. Hai le tentazioni di Sant'Antonio, accanto
alla visione estatica di Maria Vergine; il diavolo che tira in giü
gravoso la carne, e l'angelo che porta salute, e solleva lo spirito
all' eterna beatitudine. Attorno alla donna giran tutti gh or-
digni maggiori e minori della letteratura. Alla donna s'erigon
tempi e si preparano inferni. I femministi lottano co' misogini.
Hai trattati sui pregi e le virtü delle chiare donne; hai invet-
tive mordenti e furenti contro il sesso debole e perverso, ed un
coro di garrule voci che, dalle chiese e dai chiostri, impreca alle
figlie di Eva, e inneggia a Maria, sola fra le donne purissima.
II Boccaccio, natura bonaria, soHto a non macerare le carni
con digiuni e privazioni, tardi pentito e ravveduto, messo, suo
inalgrado, a salmodiare co' mistici e gli asceti, perdonava alle
donne tante fiacchezze per un amoroso sorriso; non covava per
esse odio profondo. Espertissimo della natura loro, delicata, lasci-
vetta e labile, tenera e caparbia, angelica e diavolesca ad un tempo,
quand'ebbe rivolta la mente a'pensier gravi, beato ancora di
poter scorrazzare a piacere nel mondo apertogli da' dottori an-
tichi, e di riempir le carte di nomi illustri, mette insieme, attin-
gendo alle mitologiche favole, alle leggende ed alla storia, in-
contentabile nel dare l'ultimo assetto al lavoro suo, i suoi bravi
esempi di chiare donne. Lo sfogo de' suoi risentimenti, le amare
invettive contro le vedove e le donne in genere, affidava al
Corbaccio, spolverizzato qua e la di mistica doratura. Aveva
scritto pe' paladini delle donne e per i loro denigratori, e pro-
nunciato il suo: scegliete.
Vi furono Spagnuoli pronti a scegliere l'apologia, che, abil-
mente, sotto il cumulo di lodi, copre il biasimo alla frale natura
1 H. Hauvette, De Laurentio de Primofato, Paris 1903, p. 106.
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 24
t<70 Note aul Boccaccio in Ispagna nell'Etä Media.
fernminile, ' tenuta dal Chaucer, tra i Britanni, in gran pregio,
e fönte alla Legend of good Women; vi furono altri che, a
ehius'oechi, accettaron la satira. Ma, in generale, per certo spi-
rito galante e cavalleresco ch'era ne' piü dotti, nella patria del
Don Quijote, ingentiliti dalla coltura umanistica, in tempi in cui
le favole e le ambagi di re Arturo, gli amori di Tristano e d'Isotta
scaldavan la fantasia e molcevano i cuori, e correvan le prime
storie di Amadigi, preferirono i piü schierarsi col De claris
Mulieribus a sostenitori del valor fernminile, che imprecare alla
malvagitä della donna col Corbaccio.2
Le imitazioni del trattato latino precedettero verosimilmente
la traduzione castigliana, compiuta sotto il regno di Juan II, da
un anonimo, che qua e lä corresse il Boccaccio, e ne completö
le storie abbozzate, giovandosi di 'algunos famosos y mas ciertos
autores' (f. VII). Apparve l'opera stampata col titolo: De las
taugeres illustres en romance, nel 1494, un anno prima delle
Caydas. 3 I 'varones ilustres' di Castiglia, quaü ce li descrive
1 Come anche nel De Genealogiis Deorum il Boccaccio amasse svelare
le fralezze femminili, mostra lo Schöningh, Die Göttergenealogien des
Boccaccio, Posen 1900, p. 39 sg.
2 Grandi vantaggi morali prometteva d'altronde il Boccaccio ai lettori
del suo trattato. Vedi la conclusione della versione castigliana del IÄbro . . .
de las illustres mugeres, ch'io citerö piü innanzi (f. L) 'Ca los hombres
sonolientos y de poco leyendo muchas hazanas y empresas espantosas y
de tan sobrados esfuercos de mugeres: sentiran grave aguijon para que
no sean de menos que ellas. E las duenas honradas hallaran grandes
enxemplos y muy peregrinos para confirmacion de su virtud.'
3 Pensava un tempo attribuirla ad Alonso de Cartagena, traduttore del-
l'ultima parte del De Casibus, al quäle comunemente si aggiudica un trattato
sulle donne illustri, irreperibile, ma e congettura cotesta priva affatto di
fondamento. Non avrä certo ignorato l'insigne e dottissimo vescovo l'apo-
logia boccaccesca, ma negli scritti e trattati suoi tralascia di farne ricordo.
Nelle chiose alla versione del De Providentia di Seneca, ricorda il detto
di Salomone: 'la muger es mas amarga que la muerte', per subito aggiun-
gere, non doversi muovere ingiuria alla donna, 'ca no vino medea a buscar
a iasö, mas iasö fue a buscar a medea' (Vedi la stampa citata dei Cinco
libros de Seneca). — L'edizione di Zaragoza del 1494 : Johan bocacio de cer-
taldo poeta flo retin d' las ciaras excelletes y mas fa mosas y senaladas
damas: adrecado a la muy illustre senora dona Andrea de acchiarolis
condesa de alta villa, e di estrema raritä, ed io non potei vederla. (La re-
gistrano: il Gallardo, Ens. II, 97; A. Hortis, Stud. s. oper. lat. p. 897;
P. B. Fernändez in La Ciudad de Dios, 1902, marzo; C. Haebler, Bibliogr.
iber. del siglo XV. La Haya, Leipzig 1904, p. 24.) Ai piü e solo acces-
sibile l'edizione di Sevilla, 1528: Libro de Jua Bocacio que tracta de las
illustres mugeres, tolta rapidamente in esame da L. Torretta in Giorn.
stör. d. letter. ital. XL, 44 sg. : 'primeggia sulle altre per fedeltä, poiche
segue passo passo il testo latino e lo rende con scrupolosa precisione',
meno assai svisa e travolge il senso dell' originale che non facciano il
tedesco Steinhöwel e l'italiano Betussi, 'talvolta al capitolo del Boccaccio,
riprodotto interamente, viene aggiunto un nuovo brauo contenente ora
semplici considerazioni morali, come nei capitoli di Tisbe, di Niobe, delle
Note sul Boccaccio in Ispagna nell'Etä Media. 371
Hernando del Pulgar, e prima di lui il D'Ayala, amavan le donne,
benche austeri e gravi fossero; erano 'inclinados ä mujeres';
unicamente di sogni puri e platonici non si pascevano. Attomo
alle dame di corte gironzano gli spasimanti cavalieri, e profon-
dono lodi e incenso. A paladino dell'ouor femniiniiio giä s'era
eretto Enrique de Villena, chiudendo l'allegorico trattato Los
trabajos de Hercules. La urica provenzaleggia e petrarcheggia ;
si crea i suoi idoli d'amore, e gioie, e tormenti. Cresce il prestigio
della bellezza; con baldanza si affissano gli occhi nel bei corpo
di donna, e non e da stupire, se Don Alvai'o de Luna, incline alle
lettere e alle donne, come i piü grand' uomini del tempo, in
pieno fervore di umanistici studi, capitatigli tra' mani, negli ozi
concessigli dagli intricati negozi di stato, il De claris Mulieri-
bus del Boccaccio, tentasse emularlo con un trattato analogo:
il Libro de las virtuosas et ciaras mugeres, frutto di laboriosa
e paziente compilazione, di accurato spoglio degli scrittori an-
tichi, allora piü in voga, di Valerio particolarmente, ponderato
in ogni parte, scritto con senno e chiarezza, in una prosa ni-
tida e fluida, la miglior prosa del tempo. Sfila innanzi a noi
il gran corteo delle donne illustri. Porzia, Claudia, Virginia,
Veturia, Lucrezia, Sulpizia, Ipermestra, Argia, Artemisia, Marzia,
Penelope, Cammilla, moltissime altre, che troviamo pur raggruppate
attorno alla Cite des dames di Christine de Pisan (suggerite dal-
l'esempio del Boccaccio), trionfanti nel Champion des dames di
Martin Le Franc, nella Clarissimarum feminarum laudatio di
Albert von Eyb, J ci insegnano la fermezza muliebre nel fuggir
le insidie, l'ozio, le mille tentazioni; celebrano il fior delle virtü
nella donna: la castitä, incarnata in Sulpicia, dura ad ogni
assalto, 'amando con muy grande amor solamente a su marido,
mogli dei Meni, ora qualche ulteriore notizia intorno alla protagonista,
come in quelli di Leena e di Ippone, notizie che egli attinge per lo piü
ai fonti stessi di cui si e servito il Boccaccio.' Ancor si dovrebbero studiare
i manoscritti sparsi di questa versione, e determinare con esattezza le
lacune e le interpolazioni nel testo castigliano, non tutte dovute certa-
mente all'arbitrio dello stampatore.
1 L. Torretta discorre con cognizioni scarse, nel citato articolo, della
fortuna del De claris Mulieribus, fuori d'Italia. Di Christine de Pisan
non fa parola; ignora il dotto studio di K. Drescher sulla traduzione dello
Steinhöwel, ristampata con ogni cura nella Bibl. d. litter. Vereins Stuttgarts
Vol. CCV, Tübingen 1895. Lo Steinhöwel informa in una nota com' egli
liberamente traducesse: p. XXX: 'Ich gedenck ouch, daz ich nit entrinnen
müg mit myner arbeit, die ich in guoter main uncz an dise fabel gebracht
hab, in ringem, verstentlichem tusch, on behaltne Ordnung der wort
gegen wort, ouch nit gelyche sinn gegen sinnen, sonder offt mit zuoge-
letten worten nach mynem bedunken darzuo dienenden, oder abgebrochen,
ouch nit on ursach beschenhen.' Sulla Glariss. fem. laudatio ved. M. Herr-
mann, Alb. v. Eyb und die Frühzeit des deutschten Humanismus, Berlin
1892, pp. 287 sgg., dove perö a torto si tace il Boccaccio tra le fonti.
24*
372 Note sul Boccaccio in Ispagna nell'Etä Media.
porque esta es la entera castidad'. Don Alvaro che al corteo
delle donne insigni aggiunge le Ebree e le Cristiane, celebrate dalle
Saute Scritture, e dal Boccaccio trascurate di proposito, perche
'descritte in piü di un volume da raolti santi uomini, nelle sacre
lettere dottissimi e non poco onorati', moralizza, emette sen-
tenze, s'inchina ai sapienti; da rialzo a' detti suoi con un 'segun
dicen algunos Doctores, especialmente Juan Boccacio en el su
libro de las nobles y ciaras Mujeres'. AI dottor Boccaccio pa-
recchio toglie per completare le narrazioni degli antichi; toglie
da Valerio in special modo, il gran compilatore, da cui, in
Ispagna, ognun compila; ne si limita ai particolari, agli aned-
doti, ma trascrive vite intere di donne, quando opportuno gli
sembra. *
In veritä, maggior gratitudine meritava il saggio precur-
sore che gli fu provvido d'aiuto e di consiglio, e gli suggeri
persino il titolo all' opera : 'ciaras mugeres'. Gli esce detto, a
gran stento, che delle chiare donne: 'Joan Boccacio algunas cosas
trata', ed ha il coraggio di appropriarsi anche il proemio del
trattato latino boccaccesco. Meravigliasi ancor lui, 'non poco',
'de tantos prudentes, e santos Autores, que de los fechos e vir-
tudes de los claros varones hayan fecho extendida e complida
memoria', nessuna particolare descrizione lasciando de' virtuosi,
egregi fatti delle donne; ancor lui menziona il Petrarca, 'del
quäl mas es de maravillar, porque vido el olvido de los otros
e fue mas cercano a los nuestros tiempos.'2
II libro, cosi composto, vergato da mano possente e temuta,
fece fortuna. Dovettero rubarselo, a vicenda, donne e donzelle,
le quali, con compiacimento iüfinito, vi avranno visto come un
riverbero delle loro reali od immaginarie virtü, buono per stuzzi-
care la vanitä femminile. 'Por haber compuesto tan noble libro
en honrra d'ellas,' cioe delle 'ciaras mujeres del nuestro tiempo',
Juan de Mena, l'Omero di Spagna, ringraziava in un Prohemio
il 'muy virtuoso, e muy magnifico' contestabile. Offriva poi
l'autore delle Trecientas in un suo svago in rima, accolto da'
'Canzioneros', col titolo: Claro Escuro3, un elogio di virtuose
donne, e celebrava Argia, Lucrezia, Ipermestra, Penelope, Arte-
1 Una delle poche cose commendevoli nel libro di B. Sanviaenti,
/ primi influssi di Dante, del Petrarca e del Boccaccio . . ., Milano 1902, e il
diligente ed utile confronto (non privo perö di gonfiezze e di fronzoli)
fra il De claris Mulieribus del Boccaccio e il Libro de las virtuosas y ciaras
mugeres di Alvaro de Luna (pp. 289 sgg.), stampato quest' ultimo per
cura de' Bibliof. Espan., Madrid 1891.
2 II Petrarca aveva pagato, d'altronde, il suo tributo d'encomio alle
femmine egregie, in un'epistola ad Anna, sposa all' imperatore Carlo V,
e steso un suo bravo elenco di nomi di illustri donne, da Minerva fino
alla contessa Matilde. Epist. fam. ed. Fracass. Lib. XXI Cap. VIII (III, 70).
3 Cancion. general I, 117.
Note sul Boccaccio in Ispagna nell'Etä Media. 373
misa ed altre illustri. 1 La 'buena Hypermestra', la 'casta Lucre-
cia', Artemisia, Penelope, Argia palesano la virtü loro nel primo
ordine delle sfere rotanti del poema niaggiore. (Nel 2° ordine di
Mercurio str. XC appare 'Eriphyle'.) La Coronacion incensa
pure le insigni e elette del 'Image feminino'. 'Por no espantar
a las donas', aggiunge il poeta, *ni robarles sus Coronas | sus
inartyrios no assigno.'
I trattati, le biografie muliebri, le dispute sull' eccellenza,
la nobiltä delle donne pullulano in quel secolo, cosi fertile di
dotte scritture; muovono gli intelletti e i cuori de' letterati
piü eloquenti; occupano gli uomini di mondo, non meno degli
uomini di chiesa, che di tutti i secreti possedevan le chiavi.
Fioccan cavilli, e sottili e lambiccate distinzioni, e paradossi;
si ponderano vizi e virtü, sulla bilancia offerta dal Boccaccio;
si ribattono le accuse de' misogini sfrontati, con spirito parti-
giano acceso, acciecato. La tranquilla meditazione, che sola
concede di penetrare negli abissi del cuore, ed illumina sulla
psiche complessa dell' aninial muliebre, non e di nessuno di que'
paladini zelanti che, nelle terre del Cervantes, celebravan le
Dulcince alla stregua delle donne antiche, e vedevano un'anima
ed una vita esemplare in un uome illustre che la leggenda e il
mito tramandavano. E in pochi temperanza di giudizio. Im-
pegnatasi la lotta, conveniva rivelarsi: o risolutamente femministi,
o risolutamente antifemministi. Forti delle erudite memorie an-
tiche, salivasi in cattedra e predicavasi alle turbe. S'insegnavan
buone costumanze; s'indicavan quelle vie che conducevan dritte
alla salute, guidati dal femminino eterno, o senza scorta di donna
alcuna, liberi da' demoni tentatori. E se il Boccaccio, nel
De claris Mulieribus, sdegnava disserrar le chiavi di Paradiso,
ora, per la salute delle genti ispane, il Paradiso si dischiude, e
all'alto si scorge, trionfante, esultante, il coro delle Vergini e
delle Martiri. Le fiammelle delle luci sante si comunicano
agli uomini. Alla beata speme ci solleva la Vergine. 'Ved el
gran bien que tenemos | Por una Virgen doncella', griderä Juan
del Encina agli stolti 'que dicen mal de mugeres', 'E pues fue
muger, por ella | Todas las otras honremos.'
Partecipavano alacremente Catalani e Valenziani alle di-
spute sui pregi e le magagne delle donne, prima che si com-
piessero trattati e trionfi in Castiglia. Nel settentrione di Spagna
erano piü stretti i vincoli che univano alla letteratura di Fran-
cia, piü naturale il riverbero delle diatribe e glorificazioni al
1 L'opera di Alvaro de Luna figurava tra i libri della regina Isabella
cattolica. V. Memor. d. I. R. Acad. d. I. Eist. VI, 464; 'puede creerse', con-
gettura il Clemenciu, 'que perteneci6_ä su autor el condestable D. Alvaro
de Luna'.
374 Note sul Boccaccio in Ispagna nell'Etä Media.
bei sesso, ispirate in gran parte all' universale Roman de la
Rose. II vescovo Francisco Eximeniz aveva composto lassü, in
fin del '300, con intendimento ascetico spiccato, e, con tutta
probabilitä, indipendentemente dall' opera encomiastica latina, o
satirica in volgare, del Boccaccio, il Libre de les dones,x libro
fortunatissinio, divulgato e letto per piü di un secolo ('todo de
mugeres' conie avvertiron poi i Castigliani traducendolo), in cui,
saggiamente, col sostegno delle sacre scritture, si esponeva il
bene ed il male, 'bondades et vicios', e tempravasi il biasimo
alle rie femmine, che, spudorate e baldanzose, correvano per le
vie di Valencia, patria del vescovo, colle lodi alle virtuose, di
cui, piü nelle dotte carte che nella vita, allor vissuta, era me-
moria. Alle carte latine e volgari, che Bernat Metge assiduamente
leggeva, a' tempi dell' Eximeniz, e attinta, in parte, la scienza e
l'esperienza muliebre sfoggiata nel Somni. II valente secretario
de* prenci di Catalogna ha un bei trincerarsi dietro i grandi e
venerati uomini antichi del Lazio e della Grecia, e farsi forte
dell' autoritä di Aristotile e di Piatone, di Omero e di Virgilio,
dissimulando la dottrina che agli ingegni d'Italia attinge, tacendo
con ostinazion vera e in ogni scritto il nome del Certaldese;
irresistibilmente e pur condotto a' trattati de' sommi italiani che
saccheggia. E saputo come la grandinata d'ingiurie che l'indo-
vino Tiresia riversa sul capo del 'maleyt linatge femeni', tutta
sia tolta al Corbaccio. II panegirico che segue alla diatriba, 2
l'obbligatoria glorificazione de' femminili 'actes virtuosos e de gran
valor', e suggerita dal De claris Mulieribus boccaccesco. Ben
e vero che, al corteggio delle chiare donne antiche s'aggiunge, nel
Somni, l'esigua schiera di donne virtuose, ch'eran decoro e luce
nel reame di Aragona: Pedraltes, Eleonora, Sibilla, Violante e
1 Vedi le mie note sulla fortuna del Corbaccio: Non so chi prima
fantasticasse di uno studio fatto dall' Eximeniz delle opere del Boccaccio.
A. Hortis, ispiratosi ad A. de los Bios (Hist. VI, 265) scrive (Sind. s. op.
lat. d. Bocc. p. 593) : 'Per far l'elogio (delle donne), e difenderle dalle accuse
del Boccaccio, Francesco Ximenez, cedendo alle preghiere della contessa di
Prades, dettö il Libre de las Donas'. Ultimamente l'amico mio J. Fitz-
maurice-Kelly, nella sua pregevole Historta de la liter. espan. (trad. Bo-
nilla, Madrid 1901, p. 156) sosteneva essere il Carro de las Donas, non altro
che 'version catalana del tratado De claris mulieribus de Boccaccio'; ne
coglieva nel segno Menöndez y Pelayo rettificando, nel prologo alla tra-
duzione (p. XXVIII) : 'Boccaccio esta utilizado como otros muchos autores.'
La recentissima traduzione francese della bell' opera dell' ispanista iuglese
(Paris 1904) tralascia, toccando dell' Eximeniz, l'accenno al Boccaccio.
2 'Son aco paraules de home ab sana pensa?' cosi s'ode linfacciare
Tiresia, prima di lanciare le contumelie carpite al Boccaccio (Somni Lib.
III, p. 112), 'son a§o paraules convinents a la tua edat? son aco paraules
de home qui am seien tia e hage legit tant com tu? Lexa semblauts coses
a homens otiosos, vans e illiterats, car lo teu enginy nos deu distribuir
Note sul Boccaccio in Ispagna nell'Etä Media. 375
Maria; si ricordano le donne insigni del Vecchio Testamento;
s'esalta la pazienza e l'amore di Griselda; ma dalle storie compi-
late dal Boccaccio si traggono tutte le aride enumerazioni, gli
esempi storici e leggendari dell'aurea antichitä, e il Somni, che
non trascura le Aniazzoni conquistatrici, si fregia di nomi illustri,
vantati dal Certaldese: 'Semiramis', 'Orithya', 'Tamiris', 'Cenobia',
'Ysis', 'Saffo', 'Pobra' (Proba), 'Hipsicratea', 'Portia', 'Julia',
'Artemisia', 'Eniilia', 'Sulpitia', 'Didone', 'Lucretia', 'Hippo',
'Cloelia', 'Cornelia'.
Alla satira de' costumi delle donne s'oppone, 'per semblant
forma', quella de' costumi maschili, satira grossolana e sempli-
ciotta alquanto, in cui non e nulla dell'ironia fine e dell'umore
bonario del Boccaccio, il quäle, pur vantando le virtü femminili,
frustando gli uomini, che non rimanevano addietro alle donne
nelle foggie artificiate e impudiche, nel restringersi follemente la
persona, nello specchiarsi, nell'azzimarsi ecc, ripeteva esser
l'uomo il piü nobile animale che tra' mortali fosse creato da
Dio, piü perfetto quindi, piü fermo e costante della donna. II
panegirista delle donne nel Somni chiama gli uomini bestie
senza piü: 'La rnaior part d ells es bestia de prat, e cascu cuyda
esser altre Salamo en saviesa, et altre Tulli en eloquentia.' '
Tutte le glorificazioni muliebri, sorte in terra di Spagna,
nel '400, si oppongono deliberatamente alle accuse vituperevoli
de' maldicenti. 'Rusticus est vere, qui turpia de muliere | dicit,
nam vere sumus omnes de muliere', ammoniva il Facetus (II, 12).
Gli avvocati difensori, ispirati talvolta alle arringhe de' difensori
di Francia e d'Italia, assestano colpi agli accusatori spietati,
e tessono, con lusso di erudite citazioni, il loro panegirico. Da
im lato addentano il Boccaccio, per le invettive acerbe contro
le vedove, le pulzelle e le maritate, dall'altro attingono alla
dottrina del grand'uomo, profusa nel De claris Mulieribus, le
prove piü acconcie per la difesa. E se il Boccaccio dedicava
il suo trattato a Madonna Andrea degli Acciaiuoli, sorella del
gran siniscalco Nicola, 'elegante nel conversare, generosa nel-
1 Nel 1420 Mossen Bernat Blanes compiva il suo Libre dels Feyts
d armes de Catalunya, e quivi, piü e piü volte, accenna ad una sua 'libreria',
fornita di cronache e d'opere storiche d'ogni genere (ediz. della Bibl. catal.
dell'Aguilö, Barcelona 1880, pp. 41; 122; 167; 328). Ma che vi figurasse
un trattato del Boccaccio non dice il Blanes. Era natura opposta affatto
al Metge, ghiottissimo di memorie del tempo antico, e condannava le 'fa-
vole' che solevano contaminare la storia veridica; spregiava gli scrittori
che cercavano il plauso del volgo 'ab Iure mentides e fingiments'. (p. 37)
'Verität sia dita com sen deu a historia, quen ha desser verge e molt
pura . . . car deurien esser molt greument punits tots aquells qui ab bado-
meries e faules que hi volen mesclar rompen la sua enterea.' I cronisti
maggiori di Catalogna, il Muntancr e il Desclot sdegnarono, ch'io sappin,
torre consiglio alle prose ed ai versi dei grandi treceutisti fiorentini.
376 Note sul Boccaccio in Ispagna nell'Etä Media.
l'animo, forte nell'ingegno, specchio clei buoni costumi e d'esimia
onestä', s'egli chiudeva l'opera poderosa col panegirico alla regina
Giovanna, illustrissima donna, per origine, per potenza e costumi ;
i valentuomini di Castiglia incensano, di comune accordo, il fior
delle regine, Donna Maria, sposa al re Juan II, la piü virtuosa
delle mogli, la 'mas digna y mas noble', 'la muy ensenada et
perfecta'; tessono ghirlande sul suo capo; iuneggiano al bei sesso
nel suo nome; ed e probabile cbe la regina stessa sollecitasse, per
se e le gentildonne del suo seguito: Dona Leonor de Castilla,
Dona Elvira Portocarrero, Dona Beatrix de Avellaneda, Dona
Mencia Tellez de Toledo, e trionfi, e tempi, e santuari di illustri
donne, perche si desse piena sconfitta agli iniqui maldicenti, vce-
gados por ygnorancia'. 1
Credo che, prima alquanto di Alvaro de Lima, dessero
mano alle loro difese, e componessero i loro trattati, forse ad
im tempo, Rodriguez del Padrön e Mossen Diego de Valera, e
si impartisse da entrambi la nota lezioncina morale all'autore
del Corbaccio, ricordata nelle storie letterarie piü in voga. 2
Con argomenti filosofici e sottigliezze di ragionamenti, 'por nu-
mero de razones e non de mugeres famosas, como algunos,
errando en sus fablas proceden', Rodriguez del Padrön vuol
mettere in luce la gloria delle donne oscurata, mostrare la
preeminenza loro sugli uomini. 3 AI labirinto de' vizi oppone
un trionfo di virtü. L'eccellenza, la perfezione fisica e morale
della donna, dimostra colle 'naturales razones', giä in parte
allegate nel Somni del Metge, noto probabilmente al Padrön4
e non sdegnate ancora da Diego de San Pedro, nella Carcel
de amor, dall'Agrippa, nella De nobilitate et praecellentia feminei
sexus declamatio (1529), dedicata a Margherita d'Austria.5 E il
1 'ledo y gozoso desechara la murmuracion y assechancas de los
tristes maldizientes : y aun puestos por tierra los maliciosos | levara muy
adelante y pregonara niucho mas el esclarecido nombre vuestro', cosi la
dedica alla regina Giovanna, nella traduzione castigliana del trattato boc-
caccesco. E 1 anonima Defensione delle donne (Bologna 1876, p. 8): 'Vo-
lendo io pigliarmi la faticosa impresa della protezione delle donne contra'
loro maledici calunniatori . . . e dovendo scancellare li obbrobrii che falsa-
mente gli sono imposti, e predicare le loro laudi e virtudi'.
2 Debbo io qui rimandare alle note critiche, bibliograficbe e illustra-
tive sul Corbaccio in Ispagna, che ristampero piti tardi, ampliate e corrette.
3 Un anonimo esponeva, ben prima di lui, cinque cause per le quali
'niulier prefertur viro'. Vedi P. Meyer in Roman. VI, 300.
4 Vedi anche A. Rubiö y Lluch, El Renacimiento cldsico en la litera-
tura catalana, Barcelona 1889, p. 81. Che Rodriguez del Padrön cono-
scesse anche il Reggimento di donna di Francesco da Barberino non mi
pare probabile.
s Fu poi tradotta in franceee: De la Noblesse et Preexellence du sexe
feminin, Paris 1578. Tra le Premieres CEuvres poetiques di Marie de
Roniieu (1581) trovi un Discours que l'excellence des femmes surpasse celle
de l'homme.
Note sul Boccaccio in Ispagna nell'Etä Media. 377
Trionfo, cosi eretto, ha liete accoglienze in Francia, la patria
del Champion des dames, e d'altre strenue e gloriose difese
dell'onor femminino: L'Avocat des dames, il Miroir des dames
ä Vhonneur des femmes, il Chevalier aux Dames, il Jardin de
plaisance, il Miroir des Dames et des Demoiselles,1 il Tri-
omphe ou le parement des dames,2 La Nef des dames vertueuses,
Les louenges, fleurs et deffensoir des dames, 3 Le Palais des
nobles dames (Jean du Pre), La louenge de mariage et Recueil
des histoires des bonnes vertueuses et illustres femmes (P. de
Lesnaudiere), La louange du muliebi e et feminin sexe (H. Cour-
teault), Le grant Triumphe et honneur des dames de Paris et
de tout le royaume de France (1531), Le Fort inexpugnable de
Vhonneur du sexe feminin (Francois de Billon)4 ecc. 5
1 Poemetto recentemente pubblicato da\V. Söderhjelm nelle Neuphilolog.
Mittcil., hsg. v. neuphilolog. Verein in Helsingfors, 1904, pp. 73 sgg.
- Non seinbra che Olivier de la Marche abbia cavato dottrina dal De
Mulieribus claris del Boccaccio. Vedi l'edizione del Triumphe des Dames
curata da J. Kalbfleisch, Rostock 1901, che poteva ricordare la traduzione,
fatta in fine del seicento (Triumpho das mulheres), di Da Juana Josefa de
Meneses, contessa di Ericeira, cit. da M. Serrano y Sanz, Apuntes para
una biblioteca de Escritoras espanolas, Madrid 1905, II, 59.
3 Offron notizia di questi trattati apologetici di Symphorien Champier:
l'Allut, Etüde biographique et bibliogr. sur S. C, Lyon 1859, pp. 133 sgg.
e R. Maulde La Claviere, Les femmes de la Renaissance, Paris 1898. Comincia
La nef (es. d. Nazion. di Parigi Res. Ye 856) co'versi: 'La nef des dames
vertueuse Ou toute vertu est enclose Les gestes et le vasselaige Des dames
cy abbat la raige De eil qui les dames aecuse Des dames par auleune ruse
Des mesdisans mord le larjgaige'. Ma il Champier aveva pur scritto un suo
acre, mordace e violentissimo 'Corbaccio' : La Malice des femmes. ('Cy com-
mence ung petit livre intitule la malice des femmes lequel a este recueilly
de matheolus et aultres qui ont prins plaisir a en mesdire par affection
desordonnee lequel est cy couche non pour mesdire : mais par doctrine
pour eviter aux inconvenients que peuvent arriver par femmes. Par quoy
sil y a auleuns mots qui soient desplaisants et mordants soient, attribues
au bigame Matheolus.') GH editori dell' opere di Guillaume Alexis (A. Piaget,
E. Picot in Soc. d. anc. textes, Paris 1896, Le debat de l'omme et de la
femme I, 125), ricordano un Dialogue apologetique excusant ou defendatit le
devot sexe femenin, introduict par deux personnaiges : l'un a nom Bouche
Maldisant, Vautre Femme deffendant. Nouvellem. impr. ä Paris 1516.
4 Alla letteratura indicata nelle note sul Corbaccio, s'aggiunga, per la
Francia: A. Campaux, La Querelle des femmes au XV siede, Paris 1865;
A. Mennung, Jean-Francois Sarasin's Leben u. Werke, Halle 1904, II, 122 sgg. ;
A. Lefranc, Le Hers livre de Pantagruel et la querelle des femmes in Rev.
d. etudes rabelaisiennes, II, 78 sgg.
5 E saputo quanta stima avesse il Brantöme per il 'beau livre' del
Boccaccio sulle chiare donne. Nelle Vies des dames illustres de France
(ediz. di Leyde 1665, pp. 368 sgg.) offre un panegirico esaltatissimo della
regina Giovanna di Napoli, e, ricordato 'ce qu'eu dit Boccace en son livre
des Dames', soggiunge sembrarodi encomio non sufficente. Nessuno avrebbo
saputo dire di questa gran donna piü degnamentc e compiutamentr <lel
Boccaccio, 'il l'eut sceu mieux faire qu'homme du monde pour le grand
ajavoir qui estoit en luy.'
378 Note sul Boccaccio in Ispagna nell'Etä Media.
'Per una che biasmar cantando ardisco, | lodarne cento in-
contro m'offerisco,' diceva l'Ariosto, sottil conoscitore della fem-
niinil natura, piü di diavolo che di angelo. Mossen Diego de
Valera risparmia il biasimo nel suo Tratado, e prodiga incenso
e lodi. Fa specie ch'egli, cosi pronto a citare le Caydas, non
menzioni che una sol volta, e di sfuggita, il Libro de las Mugeres
ilustres, nel quäle il Boccaccio 'la vida de muchas castas e vir-
gines con soberano loor descriviö', libro che leggeva e spogliava
clandestinamente, nelF originale latino, e fors'anche nella tradu-
zione castigliana. Öftre il Valera un seguito di storie di ciliare,
antiche donne, e consiglia poi a coloro che amassero completarle,
o saperle 'por extenso', di leggere (p. 158) 'Tito Livio en la primera
e segunda Decada, e ä Valerio Maximo en el su Compendio, e
a Ovidio en el su Metamorfoseos, e ä Lucano, e ä la Biblia, e
ally lo fallarän estendidamente.' Immaginavasi il Valera, com-
pilatore esperto di trattati di scienza e di morale, che nessuno
pensasse a rintracciare questi suoi esenipi di castitä, e fedeltä,
e verginitä muliebri anche, nell' esemplar libro del Boccaccio,
a cui rinfacciava le corbaccesche 'fealdades'? Era anche in
Ispagna un profonder gli inchini ai magni uomini di Ellade e
di Roma, ed un tacer prudente e ostinato de' men saggi gran-
d'uomini d'altri tempi, men gloriosi, eppur larghi coni'essi di
consigli e d'ammaestramenti. Pareva stuonassero le voci de'
nioderni nel coro augusto degli antichi. Mossen Diego de Valera,
a cui sovente cadon di bocca i nomi di Socrate, di Seneca, di
Piatone, toglie, e vero, da Valerio Massimo esempi di vite di
virtuose donne; accoglie nel coro sacro le bibliche Ester e le
Debore, ma fa pure all'uopo i suoi bravi strappi alle vite nar-
rate, 'con soberano loor', dal Boccaccio; registra le virtü e i
fatti egregi di 'Claudia vestal' (p. 149: 'el nombre de su padre
no me rremiembro averlo leydo'), rimembrando e compendiando
la storia di Claudia dal De claris Midier ibus, che pur gli sugge-
risce le virtü di 'Mynerba por otros llamada Palas' ('por esta
fue fallado el arteficio de la lana e ella buscö arte para la lim-
piar, — esta el usso de las carretas fallö'), 1 di 'Clodia romana',
di 'Erifola Sebila' (p. 150: 'aver seydo su nascinaiento en Babi-
lonia notoria cosa es asaz dias ante de la total destroycion tro-
yana'), 2 di 'Lucrecia' ('la quäl fue onrra de la generacion ro-
1 '. . . dizeu el artificio de la lana, nunca ante della conocido, aver
sido por ella inventado. . . . Quieren otrosi algunos aver ella inventado el
uro de los carros de quatro rruedas' (Libro de J. B. . . . de las illustres
Mugeres, Sevilla 1528, cap. VI, f. XI).
2 Leggo nell'ispida traduzione del Betussi, Libro delle donne illustri,
che ora ho tra mani (ediz. di Venezia 1558, f. 25), di Erithrea, ovvero
Eriphila: 'questa essere stata la pia celebrata dicono, et essere nata in
Note sul Boccaccio in Ispagna nell'Eta Media. 379
mana'), che, ferita a morte, esclainava: 'la que tomar quisiere
enxemplo de la culpa no dexe el enxemplo de la pena') ' di
'Penelope', di 'Porcia', 'Julia', 'Antonia', 'Tamaris', 'Artemisia*,
'Argia', 'Suplicia', 'Ipolita griega', 'Hippon' (p. 154 'de quales
padres aya traydo su nascimiento, los antiguos ystoriadores,
quier por peresa ö por malicia de la fortuna no lo dexaron
a nos').2
Grandissima stima aveva Mossen Diego de Valera del 'reve-
rendo doctor' Alonso de Cartagena di cui elogia un trattato, che
non e il Libro de las mageres ilustres, scritto, si e detto e si
e tradizionalmente ripetuto, dal dotto vescovo, dietro l'esempio
del Boccaccio, e per desiderio espresso della regina Maria. Non
era aucor composta l'apologia, smarrita ormai, quando il Valera
scriveva la sua 'Difesa'? E fantastica e gratuita affermazione
quella che Andres Delgadillo esprimeva, in un suo inedito e
ignoto Libro de las Mugeres, ayer egli tolto al Cartagena i
suoi esempi di virtü muliebri? E follia voler veder chiaro in
tanta oscuritä.
I trattati boccacceschi eran pur consultati dal gran Tostado,
Alonso de Madrigal, arca di dottrina, 'maestro en santa theo-
logia', capace, volendo, dicevasi, di cavarsi dal capo suo la
Bibbia intera, se mai fosse dalla terra scomparsa, scrittor fe-
condo, autore anche di un Breviloquio de amor, e di un tratta-
tello De como al omne es necesario amar. Leggendo il Boc-
caccio, e il Libro de las ciaras y vbtuosas mugeres del padron
suo colendissimo Don Alvaro de Luna, Fra Martin Alonso de
Cördova, che gia conosciamo come ammiratore del De Casibus,
mette insieme un suo Vergel de nobles doncellas, che dedica
ad Elisabetta, sorella dell'infante Enrico IV,3 e risolutamente
vi combatte 'la non sabia nin onesta osadia de los que contra
Babilonia molto prima che fosse la guerra Troiana'. E nella versione casti-
gliana (cap. XIX, f. XXI): 'esta dizen ... que su nacimieto fue en babi-
lonia poco ante de la guerra de troya'.
1 'illustre esempio della pudicitia Komana' (trad. Bet. f. 55) — 's'io
m'assolvo del peccato non mi libero dalla pena'. 'Yo desta manera me
absuelvo del pecado | mas no me libro de la pena' (trad. cast. f. XLIII).
'Yo so quita de la culpa; mas non de la pena' (Olosas d los Prov. del
Santillana, Obras, 79). Anche le Caydas (Lib. III, cap. II, f. XXXVI)
offrivano al Valera il racconto della tragica fine di Lucrezia: 'de la
culpa y pecado yo me quiero absolver | mas de la pena no me quiero
escusar'.
2 'dapoi che per la malignitä del tempo, et la sua patria, e i suoi
parenti e gli altri suoi nobili atti et opre si sono estinte' (trad. Bet. f. 54).
'Mas pues que por malicia de la antiguedad | el linaje | la patria y las otras
hazanas suyas nos han sido quitadas' (trad. cast. f. XLVlII).
3 Stampato, se io non erro, solo nel 1542: Jardin de las nobles don-
cellas — A loor y gloria de nuestro Senor y de su bendita madre. (Ved.
A. de los Rios, Eist. VI, 266.)
380 Note sul Boccaccio in Ispagna nell'Etä Media.
la generaeion de las mugeres avian querido dezir e escribir,
queriendo amenguar sus ciaras virtudes'. *
Sülle carte del trattato apologetico del Boccaccio piü volte
ebbe a chinare pensoso il capo il Marchese di Santillana. Le
virtü di Porzia, figlia di Catone, l'eroismo tragico di Lucrezia
si commendano nelle note ai Froverbios, dove esplicitamente si
rimanda alle lodi che della 'fortaleca de las mujeres' si fecero
nel Libro de las duenas, o De Praeclaris mulieribus. Qual
giudizio facesse il marchese del Libro de las virtuosas et ciaras
mugeres dell'abborrito rivale Alvaro de Luna, non sappiamo, ma
l'opera del Boccaccio, ch'ei possedeva tradotta, non poltriva ne'
suoi scaffali, e sicuramente era consultata co' Trionfi petrarcheschi
e le Caydas, quando, ad accrescer la gloria dell' onnipossente
Fortuna, che volge e rivolge le umane cose, da lui descritta
nella Comedieta de Ponqa, occorrevagli un coro cospicuo di
donne insigni. II Boccaccio gli suggeriva i nomi di Antonia, Rea
'muger de Tarquino', Marzia, Lucrezia, Paolina, Hipsicrata, Curia,
Porzia, Cornelia, Triaria, Faustina, Jocasta, Argia, Amaltea, 'la
muy farnosa Sibilla Erithea', Hippo, Veturia, Proba, Megulia. -
Dovette pur leggere il trattato boccaccesco, o consultarlo
almeno, il 'Condestavel' Don Pedro de Portugal, ligio assai al
'feminil linage', al quäle, diceva, 'yo tanto soy teuudo e loar devo'.
Nella Sdtira de felice e infelice vida, piü volte accenna alle
virtü magnaninie dell'inclite donne; rammenta 'Lucretia', 'Ypo',
'que en las marinas ondas fallö causa de loable muerte e perpetual
iama', 'Vecturia', 'cuyas mujeriles preces fueron mas poderosas
que la muy poderosa caballeria romana', 'Pantasilea', e 'Sulpicia',
e 'Dido'.3 Dovevasi comprendere il Boccaccio tra gli 'actores'
ed encomiatori delle miglior donne, a' quali vagamente rimanda
Pedro de Escavias in alcune sue misere Coplas d una dama,
dove e gran sfoggio di gran nomi, non tutti vantati perö, e ram-
mentati nel De daris Mulieribus. 4
Le difese delle donne nelle provincie di Catalogna e di
Valencia erano men calorose che in Castiglia; ma qui pure, per
gran tempo, offre consiglio e storica materia il trattato del Boc-
1 Non so dire, se di lui sieno le Alabanxas d laVirginidad, attribuite
pure ad Alonso de Horozco, vissuto un secol piu tardi, e da Nicol. Ant.
(Bibl. Vet. II, 306 e 665) registrate fra le opere del frate agostiniano.
2 A questo non pensano punto gli studiosi, buoni, o cattivi, dell'ope-
retta del Santillana, che unicamente pescan nomi ne' Trionfi del Petrarca
e nella Commedia di Dante.
3 Opusculos literarios de los siglos XIV d XVI (Soc. d. Bib. Esp.),
Madrid 1892; pp. 74; 76; 81. — Vero e che il Contestabile leggeva con
profitto l'apologia di Alvaro de Luna, e dal De Casibus, piii che dal De
Midieribits daris, conosceva i 'tristes infortunios' delle donne insigni.
4 Un Cancionero del siglo XV, con varias poesias ineditas ed. F. de
Uhagon in Rev. de Arch., Bibl. y Mus., 1900, p. 519 sg.
Note sul Boccaccio in Ispagna nell'Etä Media. 381
caccio, nell' originale latino e nella traduzione castigliana; qui
pure certamente era noto e diffuso il libro analogo di Don Alvaro
de Luna. x A magnificare le virtü di certe monachelle di Vall-
donzella, ritrosette, suppongo, alle tenere sue proposte d'amore,
il notaio Antoni Vallmanya2 mette insieme, nel raaggio del 1448,
una serie di 'coblas unissonanz' alle devote vergini, che solle va,
sull'ali del canto, all'altezza delle Sofonisbe, delle Medee, Meduse,
Veturie, Tisbi, Lavinie, Eritee, Deanire, e perche non aprissero
le inonache tant' occbi a nomi si spettacolosi, ed a paragoni si poco
cristiani, il poeta puntella il verso con una prosa illustrativa,
dove rimanda ai libri che gli soniministraron tanta scienza:
YEneide di Virgilio, 1' Inferno di Dante, i Trionfi del Petrarca,
un libro sulle fatiche d'Ercole, probabilniente la compilazione
del Villena, la Storia troiana di Guido delle Colonne, e sopra-
tutto il gran libro delle clares dones de Johan Bochassi.3
Quest' ultimo era al Vallmanya indubbiamente ancor presente,
quando di nomi illustri cosparge altre rime encomiastiche ('obra
de grat e iugrat'), alle dilette sue 'signore monache', e ricorda
Tisbe, Didone, 'Issifle' ed altre donne chiarissime. 4
1 Sono completaniente al buio sulla natura e le vicissitudini di un
libro sulle chiare donne: De las donas mes famosas en las historias, tra-
scritto, non so in quäl epoca, da Francisco Barata y Montana; canonico
di Barcellona, priore, per molt' anni, della real casa di Monserrate a Roma,
e rimando a quanto Torres Amat osserva in proposito nelle Memorias,
pp. 85 sg. : 'Tenia copia de esta obra ya rara, mi companero D. Pedro
Jose" Avellä, arcediano y canönigo de la iglesia de Barcelona, pero se le
habia extraviado y no pudo ensenarrnela. . . . No puedo pues decir si el
manuscrito de Barata es obra original 6 copia de Alvaro de Luna.'
2 I notai catalani di quell' epoca erano particolarmente invasi da furor
poetico. fei pensi a Berenguer Cardona, Johan Moreno, Johan Verdanxa.
3 Torres Amat, Memor. p. 640 sgg. ; Milä y Fontanals, Obras III, 198 ;
fean visen ti, / primi influssi p. 3G0 sg. ; 384.
t* 4 Torres Amat, Memor. 637 sg. ; 639 sg. Se a Jaume Roig fosse noto
il De claris Mulieribus del Boccaccio non saprei affermare. All'autore
del Libre de les dones occorrevano, piü degli encomi, le rustiche invettive.
Chiude perö la gran sequeia di versetti, inneggiando alla Vergine, sola a
sorreggerci in questa valle di lacrime, ed ha un vago accenno alle donne
virtuose e famose (p. 182 dell'ediz. citata nelle note al Corbaeeio): 'Si mes
t impliques | he" fort repliques | de virtuoses | dones famoses | he" venerades
qui son estades | vergens, fadrines, | mouges, beguines, | poques casades,
canonizades | per papa santes | Sybilles tantes ecc' — Un po' della scieuza
muliebrc, rivelata dal Boccaccio, nell'opere latine e volgari, passo sicura-
meute a Mossen Johanot Martorell, che mostra conoscere il Decameron, il
Filostrato, la Fiammetta, il De Gasibus, e sfoggia, nel Tirant lo Blanch,
sentenze, a diritta ed a rovescio, moralizzando col 'grau philosof Aristotil',
con Salomone, Cicerone, Seneca, Virgilio, Ovidio, Tito Livio, Catone,
Boezio, i Santi Padri. Nel cap. CCLXXXXIV (ed. Bibl. catal., Barcelona
1879, III, 310 sgg.) re Scandiano fa un predicozzo morale a Tirant sui
'casos sinistres de fortuna qui algunes vegades han acostumat de venir
als ergullosos, e per lur superbia son mesos baix', e, ineniore delle letture
dei fatti egregi di 'nioltes virtuoses senyores qui en lo mon son Stades',
382 Note sul Boccaccio in Ispagna nell'Etä Media.
Nuove rime e nuove prose si sciorinarono all'apparire del-
l'innocente maldecir del Torrella, ch'ebbe fama immeritata, in-
audita. DaU'inferno, dove certamente, con Matteolo, scontava i
i'alli suoi, i vituperi lanciati alle valorose clonne, Jean de Meun
pareva venuto su in sembianze novelle. Occorreva turar la bocca
sacrilega allo scellerato maldicente. * Gran tempo si pugnö a
parole, ed alla rissa, incruenta, parteciparono i versificatori a frotte.
'Conviene que se castigue, | quien contra damas arguye | ... De
las notables y netas | muy mas ciaras que vedrio | maldezir es
desvario', esclama Gomez Manrique, opponendo ad ogni strofa
accusatrice del Torrella la sua, di fiacca difesa. Mossen Pere
Torrella, vistosi scatenate sul capo le Furie, ministre della
giustizia di Dio e della Vendetta delle donne, scrive una sua
placida ritrattazione, im Razonamiento en deffension de las
donas, por satisfaccion de unas coplas que de la condicion de
aquellas conpuso,* dove non credo sia traccia del trattato apolo-
getico del Boccaccio. Qualche suggerimento dal Certaldese avrä
avuto invece Diego de San Pedro, innestando nella sentimentale e
lacrimosa storia d'amore, che ha gia anticipato sapor di Werther,
la Carcel de amor; 'veynte razones', certificanti gli obblighi che
gli uomini contraggono per necessita colle donne, e ponendo in
bocca a Leriano, mosso a difendere il bei sesso contro Teseo
esalta la dorma del suo cuore, comparandola a 'Uricia', 'Semiramis', 'Sino-
bia', 'Pantasilea', 'Tamilla', 'Minerva', 'Ysipo', 'Porcia', 'Julia', Artemisa',
'Adriana', 'Fedra', 'Sipill'.
1 Le note sul Gorbaecio in Ispagna riassumono, con brevitä forse so-
verchia, la storia edificante del martirio inflitto al Torrella. Dimenticava
qui di citare, tra le punizioni invocate ai maldicenti, quelle che Christine
de Pisan augurava nell 'Epistre au dieu d'Amour {(Euvres ed. E. Roy in
Soc. d. ane. textes II, 25):
Pour ce conclus en diffiuicion
Que des mauvais soit fait punicion,
Qui les blasment, diffament et aecusent,
Et qui de faulz desloiaulz semblaus useut
Pour decepvoir elles; si soiont fuit
De nostrt- Court, chacie, bani, destruit,
Et eutrediz et escomuienie,
Et tous noz bieus si leur soient ny6,
C'est bien raison qu'on les escomeuie,
Et commandons de fait — — — —
que tous ceulz maubaillis
Et villennez soient tres laidement,
lnjuriez, punis bonteusement,
Pris et liez, et justice en soit faitte,
Sanz plus souffrir nulle injure si faitte,
Ne plus ne soit souffert teile laidure.
2 E registrata, tra le Obres de Mossen Pere Torroella, dal Morel-F'atio,
Gatal. d. manusc. esp. IV, 623, fol. 98—105, p. 239.
Note sul Boccaccio in Ispagtia nell'Etä Media. 383
'y todos los que dizen mal de mujeres', esempi memorandi di
virtü femminili. S'invoca quivi dal cielo giusto castigo a' vitu-
peratori malvagi, e giusto, treniendo castigo si ha il Torrella nella
disputa su chi da piü occasione di peccare: l'uouio alla donna,
o la donna all'uomo, che riempie la storia di Grisel y Mira-
bella (ribattezzata Aurelio y Isabela), storia languida, eppure
divulgatissima, in cui occorron esempi di bontä e castitä muliebre,
in opposizione alle 'perversas obras' degli uomini. S'augurava
Juan del Encina piovessero le benedizioni sul capo di chi ser-
viva le donne, 'y ensalzare su Corona' {Contra los que dizen
mal de mugeres), e al protagonista di una sua egloga, il dispe-
rato Fileno, buon conoscitore del Corbaccio, pria che, dispe-
rato, per crudel disdegno, si ferisca a morte, fa che innanzi gli
si schierino nomi asciutti di donne antiche, chiare e virtuose:
Marzia, Lucrezia, Penelope, Didone, Claudia, Veturia, Porzia e
piü altre, che all'orecchio dell' innamorato pastore ben strani
dovevan suonare. '
Non e nella natura muliebre la costanza e la fermezza del-
l'uomo, pensava, col Boccaccio, il petrarchista Don Pedro Manuel
de Urrea. Or se la donna, per voler del cielo, realmente rivela
coteste rare virtü, chi non vorrä lodarla? 'Pues como dize Juan
Bocacio en el libro que compuso de claris mulieribus, las tales
cosas en los hombres serian muy alabadas, iquanto mäs lo
deven ser en las mugeres, ä quien la naturaleza negö las fuercas
varoniles?'2 E parecchie di tali fenici, degne del massimo en-
comio, e dal Boccaccio esaltate, volle egli pure rammentare.
Biasimi e lodi, le estreme ingiurie, i maggiori encomi si alter-
nano, si conibinano, si intrecciano, si combattono in altri componi-
menti, clell'estremo '400 e del '500, che e qui follia voler descri-
vere, od analizzare. 'Malas hembras' e 'buenas mugeres', s'oppon-
gono, come 'lodo' all''oro', in 24 coplas di Fray Iriigo de Men-
doza. Un Tractado e respuesta a gierta jpregunta, e de algunas
reynas e grandes seiioras que non fueron buenas mugeres, et
de otras que fueron muy buenas, tiniendo honesta, casta e
vyrtuosa JvidaJ et de cosas famosas que por sus maridos
fizieron, scrive, intorno al 1484, il compilatore del consultatissimo
Vahrio de las hystorias, Diego Rodriguez de Almella, canonico
di Cartagena, 'arcipreste de val de santivaiies', cappellano della
regina Isabella de Castiglia, e a Diego de Caravajal, 'corregidor'
della cittä di Murcia lo dedica. 3 Crebbe via via la discen-
1 Rammentai l'egloga dell' Encina ed altri versi e prose, in pro e contro
le donne, nelle note sul Corbaccio.
2 Prologo a Do"a Cathalina de Yxar y de Urrea, riprodotto nel Can-
cionero pubbl. dalla Deputac. prov. di Zaragoza, 1878, p. 4.
3 Le note mie sul Corbaccio ricordano la copia inanoscritta conservata
al British Museum, della quäle un breve estratto mi f u favorito dall' amico
384 Note buI Boccaccio in Tspagna nell'Etä Media.
deuza dcl De claris Mulieribus boccaccesco, determinata in gran
parte dalla maggiore o minore violenza con cui le donne erano
aggredite, prolifica anche per il riversarsi che facevano, sulle
vicine terre d'Italia, altri trattati sul valor femminile, come l'ano-
nima Defensione delle donne, ] il De plurimis, claris, selec-
tisque mulieribus di Filippo Foresti da Bergamo2 ed altri libri
analoghi, posteriori, del '500: Della Eccellenza et Dignitä delle
Donne (Roma 1525) di Flavio Galeazzo Capeila, le Difese delle
donne (Firenze 1552) del Pistoiese Domenico Bruni, YApologia
pro Mulieribus (manoscr.) di Pompeo Colonna, La bella e
dotta difesa delle donne in verso e in prosa di Messer Lnigi
Dardano (Venezia 1554), curiosa anche per le reminiscenze
dantesche che vi si innestano, da nessuno ancora avvertite,
diretta, pur essa, contro la 'malvagitä d'alcuni uomini, i quali
senza alcuno rispetto dicono male del nobile sesso femminile',
e 'merce dei loro strani et disordinati appetiti, vorrebbono non
solo oscurare il nome delle valorose donne, ma del tutto spe-
gnerne il seme'. 3 S'ebbero, in Ispagna: un trattato De las
ilustres mugeres di F. Juan Maldonado, 4 un libro di Fran-
cisco de Sosa De las ilustres Mugeres que en el mundo ha
havido ('recopilado de varios autores'), or perduto,5 le Trecientas
Fitzmaurice - Kelly. Non citano questo trattato Nicol. Ant. in Bibl. Vet.
II, 325, A. de los Bios, Hist. VII, 306 sgg. e quei pochi ch'ebbero a scri-
vere sull'autore del Valerio.
1 E a stampa, per cura dello Zanibrini, in Scelta di curios. letter. V, 148.
Offre analogie singolarissime col 'Trattato' di Diego de Valera che talvolta
sembrerebbe tradurre, ed e, pur essa, diretta contro le 'calunniose accu-
sazioni di perfidi maldicenti'. II Boccaccio e qui taciuto, e il biasimo
maggiore si riversa sull'autore delVArs Amandi fatale. Trovi invece un
rimprovero al Boccaccio nel breve trattato di L. Domenicbi, La nobiltä
delle donne, Venezia 1546, p. 46: 'Et in somma tutti coloro, che le biasi-
mano, come Giovanni Boccaccio e simili, non debböno essere ascoltati:
Serche ciö hanno fatto per odio, e per lo non havere elleno voluto a loro
ishonesti desiderij acconsentire'.
2 Consultato piü volte dall'Acosta nel suo Tratado en loor de las mu-
geres, Venezia 1592, p. 92 sg. Figurava nell' inventario de' libri di Isabella
d'Este (Giorn. stör. d. letter. ital. XLII, 75), ed e riassunto nel De memora-
bilibus et claris mulieribus, aliquot diversorum scriptorum opera, Paris
1521 (Vedi Memoires de litter. de Sallengre, La Haye 1775, I, 165) che
non veggo citato da quanti ebbero recentemente a scrivere sui trattati in
onor delle donne.
3 Ne trae profitto l'Acosta nel Tratado ecc. p. 10, che vi trova 'buenas
racones y verdaderas historias'. L'Acosta ricorda pure, a p. 107, l'apologia
di Symphorien Champier.
4 Lo rammenta il Cardoso in Agiologio Lusitano. Vedi Nicol. Ant.
Bibl. Nov. II, 730. Non e apologetico il Dialogo de mugeres entre dos
sabios del Castillejo.
5 Vedi Nicol. Ant. Bibl. Nov. I, 479 e la diligentissima, preziosa opera
di M. Serrano y Sanz, Apuntes para una biblioteea de las escritoras espano-
las desde el ano 1401 al 1833, Vol. I, Madrid 1903, p. X.
Note sul Boccaccio in Ispagna nell'Etä Media. 385
del Triumpho de virtudes en defensa de illustres mugeres,
tuttora inedite (composte intorno al 1582), del curato Luis Hur-
tado, rimaneggiatore del Palmeirim de Inglaterra, una Varia
historia de sanctas e illustres mugeres en todo gener o de vir-
tudes del 'bachiller' Juan Perez de Moya, noto poligrafo, ! il
Ginaecepaenos, o Dialogo en laude de las mugeres di Juan de
Espinosa, 2 il Tratado en loor de las mugeres, y de la Onesti-
dad, castidad, constancia, silencio y justicia dellas di Cristoval
de Acosta, dedicato all'mfanta Donna Caterina d'Austria, apo-
logia diretta, come il prologo avverte, 'a un mordaz murmura-
dor de las mugeres en respuesta de una carta que me escrivio',
e dipendente ancora dalla dottrina del sapientissimo Boccaccio. 3
Nel 1609, stampavasi a Venezia l'opera del Valenziano Pedro Paolo
de Ribera: Le glorie immortali de} trionfi et heroiche imprese
d'ottocento quarantacinque donne illustri antiche e moderne.
Conoscere le virtü delle donne valorose poteva sembrare
agli uomini gravi del Medio Evo tutt'una cosa come un pro-
cacciarsi i suffragi del cielo all'ambita spirituale salute. E grato
a Dio chi e grato alle donne, cosi pensava anche Vespasiano
da ßisticci in un suo Libro della lode e commendazione delle
donneJ C'era adunque un posticino per il Boccaccio tra i Padri
Santi, gli Evangelisti, le autoritä della Bibbia, che medicavano
le ferite del cuore, e, col balsamo delle sacre scritture, tenevan
lungi le perturbazioni e le passioni struggenti. Naturalmente,
a non offuscare la gloria del Boccaccio, occorreva ignorare la
diatriba contro le rie feminine, o far piena astrazione di essa.
L'ignorava, con tutta probabilitä, Donna Teresa de Cartagena,
1 Nicol. Ant. Bibl. Nov. I, 757 cita un'edizione dell'opera del Moya
di Madrid 1583. M. D. Berrueta, in alcuni appunti, neila Rev. d. Arch.,
Bibl. y Mus., 1899, p. 467 ne registra un'edizione di Madrid del 1538; sarä,
suppongo, errore di stampa. — Ad un trattato sulle chiare donne (Theatro
de mujeres illustres) di Damian Froes Perim, e ad un altro di Francisco
de (xuzmän, allude Serrano y Sanz nell'opera sua, Vol. I, p. X; Vol. II,
pgg. 6; 8ö; 162.
2 Stampato a Milano nel 1580, e ristampato dallo Sbarbi nel II tomo
del suo Refranero espanol. E. Motta in una notiziuola: i" libri di un
castellano spagnuolo del 1594, in Briciole bibliogr., Como 1893, p. 42, ricorda
il Micracanthos delP Espinosa, edito dopo la raorte dell'autore, aspesedel
Re di Spagna. II re accordava alla vedova dell' Espinosa, ai 2 novembre
1601, 150 scudi per sussidiarne la stampa (Dall'Arcn. di stato di Milano).
II Micracanthos e registrato dal Gallardo, Ens. II, 955.
3 p. 20; p. 95; p. 107; p. 113 ecc. A p. 126 si rammenta la Caida
de los principes. SulT Acosta Affricano vedi D. Garcia Peres, Catdlogo
raxonado biogrdßco y bibliogräf. de los antares portugueses que escribieron
en castellano, Madrid 1890, pp. 12 sgg.
4 Vedi E. Bertana, L'Ariosto e le donne, in Miscellanea di studi critici
edita in onore di Arturo Graf, Bergamo 1903, pp. 161 sgg.
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 25
38C Note sul Boccaccio in Tspagna nell'Etä Media.
religiosa di non si sa bene quäl ordine, amica di Gomez Man-
rique, rstimatore grande della dottrina boccaccesca. Era donna
tutta accesa d'amor divino, sempre intenta a dissipare cla niebla
de tristeza temporal humana', a tener lungi l"espeso torvellino
de angustiosas pasiones', fuggendo la selva, od 'isola' del peccato,
'que se Uama oprobium hominum', T'exillyo e tenebroso destierro',
coll'opere di pietä e gli scritti ascetici. Ad illuminarsi fra le
tenebre metteva anch'essa i suoi fari, o, com'ella s'esprimeva:
popolava i deserti di 'arboledas de buenos consejos y espiri-
tuales consolaciones'. Compilava ancb'essa dalle dotte carte, pur
deploraudo il proprio, 'flaco mugeril entendimiento'. Anch'essa
toglieva consiglio da' trattati morali del Boccaccio. Aveva scritto,
per compiacere Donna Juana de Mendoza, moglie di Gomez
Manrique, una sua Admiracion de las obras de Dios, dove
pur discute della preeminenza vantata dagli uomini sulle donne,
e provvedeva all"entendimiento flaco mugeril, puesto entre tan-
tos e tan peligrosos lasos'. Da Elche mandava a Donna Leonor
de Ayala il Vencimiento del mundo. Raccoglieva, come prima
di lei aveva fatto Fernän Perez de Guzmän, varie Sentencias
de philosophos e sabios, ed affidava lo sfogo maggiore del-
l'anima ad un trattato ascetico morale, YArboleda de los en-
fermos, composto 'seyendo apasyonada de graves dolencias',
'a loor de Dios e espiritual consolacion suya e de todos aquellos
que enfermedades padescen'. Coi confortatori e salmisti e dot-
tori della Chiesa, non ti meravigli di trovar citato, nell'opere
sue, quäle venerancla autoritä, Giovanni Boccaccio.1 Avvenivale
cosi, merce le assidue letture di libri 'los quales de arboledas
saludables tienen en sy maravillosos enxertos', i conforti pro-
cacciatisi, ed i 'santos consejos', di convertire 'en compaiiia e
familiaridat de buenas costunbres', 'la soledat penosa de las con-
versacjones del siglo'.
Alle donne in pena, contristate e gementi, travagliate da
iniqua fortuna, poteva, per un Capriccio della fantas;a de' poeti,
apparire il Boccaccio, disceso dal cielo in terra, a terger le
lagrime, ad accogliere e reprimere i sospiri, a mitigare i dolori
e gli affanni crudi. Chi piü del Boccaccio esperto delle miserie
e delle sciagure di quaggiü, piü atto quindi a porger sollievo e
conforto quando il cuore e in preda a cupa disperazione ? Se lo fa
risorgere il Santillana nella Comedieta, a ristoro dell'anima delle
regine di 'gran sangue e magnificencia', lettrici del De Casibus,
1 Neil' Admiracion de las obras de Dios. Vedi A. de los Rios, Eist.
VII, 178, dove perö assai superficialmente si discorre dell' Arboleda, dal-
l'insigne storico forse non mai letta, come ben dimostra Serrano y Sanz,
nel notevole articolo dedicato a Donna Teresa de Cartagena (opera citata
eulle scritrici di Spagna I, 218 sgg.). Vedi gli estratti dell'opere, mano-
scritte all' Escorial, offerti dal Serrano.
Note sul Boccaccio in Ispagna nell'Etä Media. 387
niolestate pur esse dalla 'regina, ch'infra li mortali | rege et
iudica', la possente Fortuna. Gemiti e pianti inducono il Boc-
caccio a partir tosto 'dal loco ove e lo dilecto | eterno, la gloria
e somma potencia'; e, impietosito, il grand'uomo favella; offre
al 'piacere' delle afflitte: 'prose, rime e versi'. II Santillana
medesimo stupisce di questa risurrezione: 'de como ya vive soy
maravellado'; scorge nel redivivo poeta un non so che del vene-
rando aspetto del Catone dantesco. II Boccaccio appare 'cortes',
'en häbito honesto, mas bien arreado'; ha cinta la fronte di
'verde lauro'. x Non per confortare le donne afflitte, ma per
farsi protettore dell' onor loro, calpestato da' malvagi, il Boc-
caccio risorgeva, e prestavasi ad una vivace difesa nel Proces
d'honneur feminin di Martin Le Franc, preposto di Lausanne,
autore di quel Champion des dayties, che gli Spagnuoli leggevano,
al pari del Tresor e della Cite des dames di Christine de Pisan.
II catalano Francesch Farrer, invece, in un Conort, ch'ebbe
I In questa iminaginata risurrezione del Boccaccio (Comedieta de Ponea;
Obras 100 sgg.), il marchese sovvenivasi evidentemente dell'apparizione del
Petrarca nel De Casibus (Lib. VIII, cap. I, f. CI delle Caydas cast.): 'E yo
fablando comigo assi como hombre vencido del todo alce mi cabe§a su-
friendorne sobre niis codos, y abaxandola otra vez pusola sobre el cabecal
con rnucho cansancio: y ahe que me parescio no se de parte venia un
hombre muy fermoso de rostro y onrrado acatamiento muy plazible y gra-
cioso: en la cabeca una Corona de ramos de laurel . y el vulto de su
onorable cuerpo cubierto de una vestidura real: al quäl como yo catasse
no me fallo alguna cosa . y yo abri mis ojos apartando de mi todo sueno
y pereza con mayor diligencia lo torne a mirar por ver quien era . y estando
asi entre mi pensando conosci que era francisco petrarca mi senor y amigo
y maestro : el quäl siempre me castigo y amonesto y enseno todas buenas
costumbres y obras de sciencia y doctrina muy virtuosa.'
II Boccaccio della Comedieta riappare, a sua volta, in sembianze di
pellegrino confortatore e di veglio antico, degno della maggior riverenza,
pur di verde alloro coronato, nella Tragedia de la insigne Reyna Isabel del
'Condestavel' Don Pedro de Portugal (Hörnen, d Men. y Pel. I, 700):
En esto estando ahe vos do vino
un ombre antigo de grand estatura,
que bien resemblava de honor muy digno
segund denotava la su catadura.
— — me fizo su grand fermosura
dubdar sy humano era o divino,
Esplendida ropa e rica cobria,
bordada de ojos que fueron obrados
por la gran Minerva con tal maestria,
que jamas despiertos serian fallados.
En la diestra mano tres pomos tenia,
por donde tres tiempos eran demostrados;
muy passo a passo sus passos movia,
segund fazer suelen los bien ensenados
de laureo verde guirlanda traya.
25"
888 Note sul Boccaccio iu Ispagna nell'Eta Media.
qualche diffusione, ridona vita al Boccaccio, perche sostenga il
motteggiare sulle fralezze ed astuzie muliebri, e scongiuri im
castigo solenne, arringando con successo, col collega Serveri de
Gerona. ' Torna a rivivere ed a prodigar dottrina 'misser Joan
Bocaci de Certaldo', 'honra toscana', di 'graciosa cara', solerte
raccoglitore di favole antiche, nelle esposizioni morali ed alle-
goriche che Francesch Alegre aggiunge ad una sua versione
delle Metamorfosi di Ovidio, e si presta a dirigere i discorsi
ed i ragionamenti di una schiera di dotti, fatti discendere dal
cielo, dalla beatissima Vergine, in soccorso del debole intel-
letto dell'espositore. 2 Quando il Santillana venne a morte, e
si die la stura alle lagrime e a' panegirici, un secretario di
tauto 'ylustre y maravilloso senoi-,5 Diego de Burgos erige, in
forma di visione dantesca, un tempio al defunto; chiama a rac-
colta i grandi uomini antichi e i grandi moderni, perche s'in-
chinino al suo signore, spirito fulgente di gloria e di luce, e sol-
levato su tutti. I tre maggiori Fiorentini: Dante, Petrarca ed il
Boccaccio profondono lodi strabilianti anch'essi, e il Boccaccio,
memore dei casi di alta virtü narrati, pronuncia in pochi versi
il suo panegirico: 'Por nueva manera, polida, graciosa, | com-
puso el Marques qualquier su tractado: | maestro del metro,
senor de la prosa, | de altas virtudes varon coronado'; non e
perö si folle e si audace da confessare, come qui Dante, doci-
lissima guida del secretario, faceva, goder egli fama, sol perche
il Marchese degnö leggere le opere sue. 3
1 Ho tolto in esame il Conort nelle note sul Corbaccio.
2 II Llibre de les transformacions del poeta Ovidi ci occuperä piü in-
nanzi.
3 Vedi le note mie su Dante ed il Petrarca in Ispagna. Come VAmorosa
Visione del Boccaccio soccorresse l'immaginazione di Diego de Burgos dirö
in seguito.
Gmunden. Arturo Farinelli.
(Fortsetzung folgt.)
Kleinere Mitteilungen.
Ags. rihthamscyld: echtes Hoftor.
Aethelberht von Kent bestimmt im 32. Gesetz: gif man riht-
hamscyld purhstind, mid weorde forgelde. Da ags. Schreiber die
Komponenten eines Kompositum zu trennen pflegen, läfst sich die
erste Silbe als besonderes Adjektiv — so hier nach Bosworth-Toller
— überall da fassen, wo sie nicht laut Genus, Numerus und Kasus
des letzten Gliedes eine Flexionsendung haben, oder das Adjektiv
schwach lauten müfste. Dieser Zweifel braucht jedoch die Bedeutung
nicht zu beeinflussen.
Unter den Erklärern wollte 1640 de Laet1 riht streichen, weil
es im Codex mit blasserer Tinte geschrieben sei; er liefs für das
Wort in der Übersetzung eine Lücke. Er oder Hickes wollte ham-
scyld als 'Lederschild' verstehen oder durch handscyld 'Schild' emen-
dieren. Einen Rückschritt tat hier wie öfters Wilkins,2 indem er
scyld als instr. auffafste und als abl. lancea, sodann riht ham als
dextrum femur mifsverstand, mit Berufung auf die Stellung des Ge-
setzes vor den Gliederbufsen. R. Schmid verwarf dies 1832 3 still-
schweigend, indem er das Wort unübersetzt liefs. R. Price4 (f 1833)
wagte keine Übersetzung und schwankte in der Erklärung zwischen
'Hautschutz, d. i. ein Kleidungsstück' und der Emendation [on un-J
riht ham fodde] scyld: 'unrechtmäfsig Kleid oder Schild'. Thorpe5
wiederholte dies zwar, verwarf es aber mit Recht: nur [?] hama be-
deute ags. 'Kleid'. Er selbst erklärte: 'rechtes Schulterblatt'; ham
nämlich sei identisch mit got. ams (lies amsa) — was J. Grimm6
dann ablehnte — und shield dialekt. Englisch für 'Blattknochen'
(hierzu vgl. Halliwell, Diction. of archaic). Schmid in zweiter Aus-
gabe (1858)7 nahm mit Recht keine dieser Erklärungen an; er ver-
zeichnete, aber nur zweifelnd, als vielleicht mit hamscyld zusammen-
hängend, hama: uterus; cildhama : matrix (Gebärmutter).
Inzwischen hatte H. Leo, den Schmid ohne Beifall nur zitiert,
1842 8 den richtigen Weg durch einen Vergleich mit dem friesischen
Brokmerbrief gewiesen und den Sinn der Stelle getroffen mit 'tuiela
septi, der rechte Schutz des Gehöftes, vielleicht das Tor.' Es heifst dort :
AI tha deda, ther skiath oppa houwe inna hemme and binna skelde.
1 Bei Hickes Dissert. epist. p. 90, in hing. vet. thes. II, 1703. a Leges
Anglo-Sax. (1721) p. 4. 3 Gesetze der Agsa. S. 3. 4 Anglo-Saxon laws
p. 4 (nur bis p. 92 gedruckt, nicht veröffentlicht). 5 Anc. latus, fol. 1840,
p. 5. c Kleine Sehr. V 318. 7 S. 6. 6Ut>. 8 Rectittidines sing, person.
3. 33, im Angelsäehs. Glossar (1877) fehlt hamscyld.
390 Kleinere Mitteilungen.
Herr Prof. Th. Siebs, den ich um den genauen Sinn dieser Stelle
fragte, hatte die dankenswerte Freundlichkeit, folgende Antwort zu
erteilen und deren Abdruck zu erlauben:
Afrs. hem entspricht einem ags. hemm und ist ein gerrn.
Stamm *hamjo-; ob Mask. oder Neutr. läfst sich nicht sagen. Die
Wurzel ist jene weitverzweigte, die auch in unserem 'hemmen' ent-
halten ist, und zweifellos bedeutet afrs. hem (man vgl. auch ostfrs.-
plattd. ham 'eingefriedigtes Land', westfrs. die 'Hemmen' u. a. m.)
'Einfriedigung, Abgrenzung*.
Ganz unerklärt ist meines Wissens bisher afrs. slielde; aber auch
dieses ist mir nicht zweifelhaft. Es hat weder mit 'Schuld' noch mit
'Schild' ' etwas zu tun, sondern ist eine der in den germ. Sprachen
ja reichlich auftretenden Nominalbildungen auf -idö-, und zwar zu
dem sehr gebräuchlichen friesischen skül 'Schutz, Deckung, Versteck';
man vgl. afrs. fugelskül 'Vogelherd', wangeroog. sxid 'Deckung, ge-
schützter Platz für Schiffe, Windschutz', syltersch skijl 'Schutz, Ver-
steck' in meinem Wörterb. zu den 'Sylter Lustspielen', ostfrs.-plattd.
schul, ndl. schuylen 'sich verstecken' u. a. m. Afrs. skelde (ags. müfste
es *scyld lauten) aus *skülictd- ist also 'Beschützung, Deckung'. Also:
'alle die Taten, die geschehen auf dem "Hofe" binnen Einfriedigung
und schützender Deckung, dreifach zu büfsen etc.'
Da die einzige Hs. Aethelberhts dem 12. Jahrh. angehört, und
ags. Schreiber weder die Vokale a und y verschiedener Herkunft,
noch auslautend m von mm unterscheiden, so mag fraglich bleiben,
ob hamm (eingefriedigtes Stück Land, Wohnstatt) oder häm (Heim),
ob scield (Schild), wie alle einschliefslich Leo meinen, oder ein sonst
fehlendes *scyld (Deckung) in jenem Kompositum steckt. Gebildet
ist es wie ceasterhlid 'Stadttor'.
Sicher aber ist ein durchstechbarer, wohl vorzugsweise aus Holz
gefertigter Teil des Hofeingangs gemeint, dessen Verletzung vom
Rechte jener Friesen wie auch anderer Germanen mit einer Bufse
belegt ward, die gesondert neben der Ahndung der übrigen Missetat
stand. Dabei bedeutet riht: 'ordentlich, wirklich, eigentlich, echt'
und festigt das ihm folgende Wort zum Rechtsbegriff. Die Gesetzes-
sprache braucht so2: rihtcew, -andaga, -dorn, -fcesten, -fcestendceg ,
-fcestentid, -gesamhiwan, -gifu, -hamsocn, -handdceda, -hlafordhyldo,
-lagu, -lif, -regol, -scir, -scriftscir, -wer, -wif. Die Tür war unter den
Teilen des Hauses ausgezeichnet3 und galt als heilig;4 wer bei den
Friesen 3 Tür und Tor einstöfst, mufs den Schaden — wie hier mid
weorde — ersetzen; das 'Hausstofsen' gilt als feindliche Heraus-
forderung; ein Durchbohren der Haustür durch Pfeil oder Speer
kennen andere Volksrechte der Germanen.6
Auch die Anordnung Aethelberhts findet dort Beispiele. Dafs
1 Gegen Richthof en Altfries. Wb. 1022 und Leo a. a. 0. [F. L.].
2 Meine Gesetze der Agsa., II, 1 (Wörterbuch), S. 178. 3 Grimm, Rechts-
altertümer 175 (I 2414j. 4" Wilda, Strafrecht 905. 5 His, Strafr. d, Friesen
354. 357. 6 Wilda, 953 ff.; Brunner, Dt. Rechtsg. II 651 ff.
Kleinere Mitteilungen. 391
gewaltsame Heimsuchung den Realinjurien vorangeht, ist natürlich.
Wenn sie hier hinter dem Beschlafen des Weibes eines Freien steht,
so erscheint sie auch bei Franken und Juten neben Frauenraub.1
Berlin. F. Liebermann.
Zum 90. angelsächsischen Rätsel.
In Band CXI dieser Zeitschrift, Seite 59 ff., behandelt Edmund
Erlemann das 90. angelsächsische Rätsel und gibt als dessen Lösung
'Cynewulf."2 Er sagt dort:
'Ich löse auf | " e ** " *. • Lupus-wulf 5 — 8, ab agno-ewu
4 — 6, tenetur (gleichsam im Maule); darum mirum videtur mihi ...
Obeurrit agnus: dem die einzelnen Buchstaben verfolgenden Auge
des Dichters scheinen die drei: e, w, u = 4 — 6, dem Wolf, wulf
■=. 5 — 8, entgegenzulaufen. Et capit viscera lupi: ähnlich wie vorher
tenetur, und nimmt die Eingeweide, d. i. das Innerste des -wulf, näm-
lich die beiden Buchstaben w und u. Das anknüpfende dum starem
et mirarem zeigt deutlich, dafs die Scharade weitergeht . . . '
Die Lösung dieser zwei ersten Zeilen leuchtet ohne weiteres ein.
Anders verhält es sich mit den beiden letzten Zeilen. Hierfür wufste
Erlemann keine befriedigende Erklärung zu geben, und auch die
Lösung, die Dr. Joseph Götzen ebendaselbst vorschlägt (Seite 63),
klingt ziemlich unwahrscheinlich. Ich glaube, dafs sich auch die
zwei letzten Verse folgendermafsen in befriedigender Weise werden
erklären lassen.
Mit Edmund Erlemann und Götzen fasse ich lupi als Genetiv
und duo als Neutrum auf, und zwar letzteres mit hinweisender Be-
deutung; unter duo lupi sind also die zwei Buchstaben des Wortes
ewu (von dem zuletzt die Rede war) verstanden, die gleichzeitig auch
zu wulf gehören, = wu. Der noch übrigbleibende dritte Buchstabe
ist e. Es bleiben also um stehen (stantes), verdrängen aber das e
(tribulantes). So erhalten wir das aus sieben Buchstaben bestehende
Wort 'Cynwulf (cum septem oculis videbant). Unter quatuorpedes sind
die vier letzten Buchstaben dieses Wortes, also wulf, zu verstehen.
So ist das Ganze gewissermafsen als eine Art Verwandlungs-
rätsel anzusehen, indem in dieser scherzhaften Weise der Name
'Cynewulf in 'Cynwulf umgestaltet werden soll. Dabei erinnere
man sich daran, dafs beide Formen je zweimal in den sicher Cyne-
wulfschen Werken vorkommen : Cynewulf in der Juliana und der
Elene, Cynwulf in den Fata apostolorum und der Himmelfahrtsstelle.
Wenn man wegen der Formen stantes und tribulantes Bedenken
haben sollte, duo als Neutrum aufzufassen, so denke man nur daran
in welch freier Weise im Mittelalter die lateinische Sprache gehand-
1 Wilda, 953. 242.
2 Der Wortlaut des lateinisch abgefafsten Rätsels lautet bekanntlich:
Mirum videtur mihi: lupus ab agno tenetur ; obeurrit agnus et capit riscera
lupi. Dum starem et mirarem, vidi gloriam magnam: duo lupi stantes et
tertium tribulfantes] Uli pedes habebant, cum septem oculis videbant.
392 Kleinere Mitteilungen.
habt wurde. Dafs auch unser Dichter nicht klassisches Latein schreibt,
das zeigt ja 6chon zur Genüge die Form mirarern.
Was, abgesehen von der inneren Wahrscheinlichkeit, für die
Richtigkeit dieser Lösung spricht, ist ferner der Umstand, dafs gleich-
zeitig Herr Professor Dr. Vietor zu derselben Lösung der beiden
letzten Zeilen des Rätsels kam.
Marburg. Fritz Erlemann.
Ein altenglisches Prosa-Bätsel.
Bekanntlich sind die altenglischen Rätsel der Exeter-Handschrift
rein literarische Kunstdichtungen, die in Anlehnung an die lateinische
gelehrte Rätseldichtung eines Symphosius, Aldhelm, Eusebius und
Tatwine geschrieben sind. Es ist uns aber ein bisher unbeachteter
Rest der volkstümlichen Rätseldichtung der Angelsachsen erhalten:
ich meine das altenglische Prosa - Rätsel, welches auf Blatt 16b der
bekannten glossierten Psalterhandschrift Vitellius E 18 (nach Wan-
ley im Jahre 1031 geschrieben) steht und bereits 1705 von Wanley
in seinem Kataloge S. 223 gedruckt worden ist. Da ich dies Rätsel
nicht zu lösen vermag, habe ich bereits vor einigen Jahren in dem
Fragekasten der Zeitschrift Literature eine neuenglische Übersetzung
mitgeteilt und zur Lösung aufgefordert. Da diese Anfrage aber er-
folglos geblieben ist, möchte ich mit den Lesern des Archivs einen
neuen Versuch wagen. Ich teile daher das Rätsel hier im Urtext nach
einer Kollation, die mir Kollege Varnhagen freundlichst besorgt hat,
mit und füge zur Sicherheit eine wörtliche deutsche Übersetzung bei.
Nys pks * frfgfn 2 syllkc pknc to raedfnnf.3
Du pe fserst on pone4 weg, gret du minne broctor, minre mo-
dor ceor[]] 5 . pone acende min agen wif . and ic wses mines bro-
dor dohtor . and ic eom 6 mines fseder modor geworden . and mine
bearn syndon geworden mines" fseder modor.
Wenn du d[ies]en Weg gehst, grüfse du meinen Bruder, mei-
ner Mutter [Ehe-]Mann, den mein eigen Weib gebar (oder, wenn
pone = ponne, 'dann gebar mein Weib'?). Und ich war meines
Bruders Tochter. Und ich bin meines Vaters Mutter geworden;
und meine Kinder sind meines Vaters Mutter geworden.
Höchst wahrscheinlich gehört das Rätsel in die Gattung der
Verwandtschaftsrätsel, die wohl nur als uneigentliche Volksrätsel
anzusehen sind (s. R. Petsch, Beiträge zur Kenntnis des Volksrätsels,
Berlin 1889, S. 13 f., und Neue Philol. Rundschau VIII 171 f.).
1 Nys pk ist ganz undeutlich. 2 Ae. fregen 'Frage' fehlt in unseren
Wörterbüchern; vgl. Vf. Engl. Stud. XXXVI 2. 3 In Vexierschrift für:
Nys pis fregen sydic pine to rcedenne. Vgl. A. Meister, Die Anfänge der
modernen diplomatischen Geheimschrift, Paderborn 1902, S. 5 ff. Bei Wanley
steht dieser Satz fälschlich hinter dem Rätsel (Varnhagen). 4 Wanley
fälschlich: done. 5 / ist am Zeilenrande infolge des Brandes abgebröckelt
(Varnhagen). '' ic eom 'sehr undeutlich, weil verbrannt und überklebt'
(Varnhagen). 7 mi 'am Zeilenende und undeutlich' (Varnhagen).
Kleinere Mitteilungen. 393
Man möchte auch geneigt sein, die obigen schwierigen Verwandt-
schaftsverhältnisse mit Lots Familie in Verbindung zu bringen, wo-
für es gerade im Englischen nicht an Beispielen fehlt (s. Petsch
a. a. O.); indes will mir dies im einzelnen nicht gelingen.
Wer kann uns also das Rätsel lösen!
Wurzburg. Max Förster.
Das Englisch des städtischen Rechts im 15. Jahrhundert
findet wertvolle Belege in Borough customs ed. for the Seiden soc. by
AI. Bateso n (I, London 1904), grofsenteils aus unveröffentlichten
Archivalien von mehr als hundert Orten, auch der von Engländern
kolonisierten Nachbarländer. Vor 1400 lauten die Stücke zwar alle
lateinisch oder französisch, atmen aber ebenfalls rein englischen
Geist und bergen viele seltene englische Formeln und Termini, so
das nordische kyrrseta (in Frieden sitzen), die Alliteration deske hui
et hom (d. i. hill and höhn, aus Exeter um 1280, in einem Para-
graphen über die Verfolgung schädigenden Viehes zu dessen Eigen-
tümer), ferner den Reim nameles fremdes, der die Ungültigkeit der
Parteirede mit Irrtum in den Namen der Zeugen oder Gewährsleute
bestimmt, die Formel veche (feich) and have p. 250. Auf den Kampf
der Sprachen wirft es Licht, dafs viele Städte noch im 15. Jahrh.
ihr Recht französisch aufzeichnen und, laut einiger Zitate, in ihrem
Gericht französisch verhandeln lassen, dafs eine französische Über-
setzung des 14. Jahrh. von zwei lateinischen Büchern im 15. Jahrh.
ins Englische übertragen ward. Die Hrsgbin. bewahrt die Orthogra-
phie des Englischen genau; vgl. xall für shall p. 310.
Berlin. F. Liebermann.
Ein neuentdecktes Manuskript Thomas Chattertons.
Die Chatterton-Reliquien der Bristoler Wills Art Gallery sind
durch die Grofsmut eines Gönners, Sir George White, um ein wert-
volles Manuskript vermehrt worden. Kein Biograph Chattertons hat es
bisher beachtet, auch Dix nicht, trotzdem es die Aufschrift trägt: Auto-
graph of Thomas Chatterton, presented by John Dix to Dr. Mackenxie.
Das vier eng geschriebene Seiten umfassende Prosafragment
scheint der in modernem Englisch geschriebene Entwurf zu einer
später nicht ausgearbeiteten oder verloren gegangenen Rowley-Schrift
zu sein. Die Anfänge zu einer altertümlichen Schreibart sind bereits
gemacht, und die Erwähnung Racines, Shakespeares und Drydens
bildet dazu einen sonderbaren Widerspruch.
Der Anfang sieht einer Apostrophe an Canynge gleich.
Die äufsere Fassung — Personifikation der Natur, die den
Dichter auffordert, ihr in ihren Palast zu folgen, und die ihm dort
die Werke der berühmtesten Maler zeigt — läfst die Vorbilder,
Chaucer und Lydgate, leicht erkennen.
Charakteristisch für den jungen literarischen Bahnbrecher ist die
Beobachtung, die er sich in der Bildergalerie der Natur zunutze
394 Kleitiere Mitteilungen.
macht: dafs die grofsen Meister die Dinge genau so malten, wie sie
ihnen in der Natur erschienen, dafs sie aber in kluger Auswahl nur
solche natürliche Vorgänge darstellten, die an sich schön waren.
Wir lassen den Text hier nach einem Abdruck in The Bristol
Mercury vom 26. Juni 1905 folgen.
THE GALLERY AND SCHOOL OF NATURE.
A VISION.
A few Nights ago as I was sitting in my Closet, & had not Im-
mediately fixed on any book to Read, it came into my mind that I was
to prepare a discourse for your Entertainment this Night. I might have
lost some time choosing a Subject to write upon if I had not considered
that there still remained many important things to be said on the argu-
ment which had furnished matter for the two discourses which you had
before heard with a most encouraging Candour.
Being therefore determined to Iay before you some further observations
on the subject of TAST, I began to collect & dispose such thoughts as
seemed proper to be added to what I had already written. But finding
it difficult to Range every thing in order to my content, my mind began
to be weary after a little application, & I feil insensibly into a Sound
Sleep; But Phancy, which had begun to work before, finding her seif
now at Liberty to draw what scenes she pleased, set her seif to paint
insensible Figures some what like the seheme that Reason had laid out
and in some measure pursued. My Dream was to this Purpose.
ME THOUGHT I was sitting on the Bank of a large River yt ran
through a Piain across which there was an open prospect to a hilly coun-
trey that was well wooded & inclosed with agreable variety. My eyes
were fixt on the Stream which flowed with Majestick Silence, & presently
brought to my mind the famous lines in Cooper's hill. Oh, might I
flow etc. And I should have thought my seif somewhere on the Bank
of the Tbames if the inexpressible Brightness of the Air, & the sight of
many Trees yt are not of our English growth had not convinced me I
was removed into some happier Climate. The remembrance of those verses
soon turn'd v thoughts to the
GLORIOUS IMMORTALITY
which those great men secured to themselves who had excelled in Poetry,
History & Eloquence. And do I then sit here, thought I, in dishonest
Idleness when yet I pretend to a passion for Immortality? as soon shall
this large & deep Stream run out, & leave the hollow Channel to become
Pasture for the beasts which now it waters, as that man leave behind
bim an honourable name who wasts the bright days of health, & vigour
in unactive sloth. With this thought I sprung up, & turning about be-
held at some distance from me a beautiful Woman: She was cloth'd with
a garment of changeable Silk that most enclined to Green, a Scarf of
light blue flowing behind her, gave a becoming shade to her complexion
& was sometimes swell'd sometimes pesled by the Sporting Winds; her
Hair was plaited with nice art & formed into a knot to which her scarf
was fastened by a Diamant Buckle. My eyes were fixed upon her, & it
was at once with a sense of pleasure & of awe that I perceived her Coming
towards me. When she was come near I saw the freest & most perfect
Features, & finest Complexion that ever was Imagined by a Lover or a Poet.
The Sight was enough to have inspired an irresistable Passion if there
had not appeared in her Face an air of Authority & a sort of Maternal
Tenderne8s that commanded Reverence and Duty. When she was ad-
vanced within a few Paces of me, she becken'd me with such a gracious
Look as gave me Courage to approach her. I could not forbear falling
down on my knees at the sight of so great Beauty & Majesty; & I ob-
served with wonder (what Lovers often say in Figure of their Mistresses)
Kleinere Mitteilungen. 395
that various beautiful Flowers Sprung up under her feet as she rais'd
them of the ground, and mark'd with gay distinction the path she trod.
She bid me rise, with a turn of her eyes upwards censur'd my adoration,
& then spoke to this purpose. Youth, said she, let it not surprize thee
to understand that I know the thoughts weh have just now passed in thy
mind; I applaud thy Thirst after Glory, & am willing to encourage &
assist thee in the pursuit of it; I acknowledged my Obligation by a low
bow, & followed her aecording to her command. I soon perceiv'd we
were going towards a noble Palace built in the midst of an Island that
was made by the River from the Banks of which I came. As I walked
behind her I was amazed at the new Brightness weh ye grass, the Trees,
the Flowers put on as my fair Guide passed by. This prepared me to
believe wt she presently told me that she was NATURE her seif. The
Palace, she added, which thou seest is mine; there I will show thee such
things as shall raise & strengthen the noble Passion thou hast con-
ceived, & there also thou shalt meet with such help as shall enable thee
to deserve the Immortality to which thou aspirest. We had now passed
through a small Growe, & were come to a fine Bridge of Stone that joyn'd
the Island to the Piain : The Bridge ended just against the middle of a
stately place inclosed by a Portico of a fourfold order of Marble Pillars.
When we had entered, I had a good view of the Large and Noble
Palace which before I had seen at a distance: It was built of white
Marble, a double order of Pilasters ran round the Fabrick & a Balustrade,
adorn'd alternately with Statues & arms, satisfyed the most curious eye.
As I enter'd with my Guide into the Palace she told me she would first
conduet me into 3 galleries, in which were preserved the works of the
most famous Painters that had ever appeared in the world; and that the
subjeet of those pieces were, for the most part, some Particulars of her
History, but that tho' she was generally the prineipal figure in them, yet
they were so contrived as to represent all the Arguments which have
employed the Pens of the most famous Poets, Historians, & Orators.
We then ascended a great stair case charged with a brazen Balus-
trade, which landed us just at the entrance of the largest & finest of the
Galleries, in which were contained the best and most perfect Pieces that
had ever been drawn by Mortal Hands. It stood almost, open on one
side to the South, so that the Paintings which stood on the opposite side
between coupled Ion ick Pilasters of porphyry were seen to good Advantage.
THE GALLERY
(tho' very long) was filled from one end to the other. The Pictures were
disposed aecording to the order of time in which the Several Masters
lived, & under every one the name of the painter was written in letters
of Gold, with that of his Country & the year of the World when he
flourished. The finest pieces in this Gallery were drawn by Moses, David,
Solomon, Isaiah, Luke, & Paul.
When we had passed through this we enter'd into another Gallery
of much greater length, but inferiour both in breadth & height; this
was all of white Marble without any other mixture, & contained the
works of the Greek and Roman Artist«. Homer's Pieces held the fir*t
rank, & were indeed admirably fine, tho' as my Guide told me he drew
all by the pure force of memory, never stirring out of his working Room
to consult the Originale he was Painting. The finest after his were drawn
by Plato, Xenophon, Sophocles, Herodotus, Demosthenes, Lucretius, Te-
rence, Cicero, Virgil, Horace.
An open Portico which answered in length to the first Gallery Joyn'd
this to the third, which in bigness & all Ornaments exactly answered this.
Here were preserved the works of modern Painters. Among many others
I remember more Particularly the names of Petrarch, Tasso, Vega, Cer-
vantes, Malherbe, Corneille, Fontaine, Racine, Boileau, Fletcher, Chaucer,
Spencer, Milton, Shakespear, Cowley, Dryden, &c. I beheld these master-
396 Kleinere Mitteilungen.
pieces of Art with Infinite Satisfaction, & told my Guide, I could gladly
spend all may days in Studying them. Tho' I gave but a transient view
to most of tbem, yet I made some observations which I thought might
be of eervice to me in my future labours. One Observation I made was,
that tbose great Masters especially tbose of Antiquity, appear'd plainly
to have made it their business to paint tbings just as they are in Nature;
& it was to their success in tbis I imputed the very great Satisfaction
whicb they gave me. I observed fartber that they discovered great judg-
ment in cboosing euch scenes of Nature, & such events as were in them-
selves very beautiful, & did very much interest the Spectator. The bright-
ness of their colours surprized me, but what no less pleas'd me was that
they so well understood the clear-obscure, & so happily avoided the fault
of making everv Figure equally briejht & conspicuous, which
MODERN ^PAINTERS
are so eternally guilty of.
Having spent as much time in those Galleries as my Fair Conductor
thought fit to allow me, I followed her to the entrance of the Palace
which open'd to the Garden, Sz after passing a long Terras came to the
Schools, which stood at the end of it. This building was cast into an
exact square which surrounded a large Court, in the midst whereof was
a brazen fountain adorned with the Statues of Apollo & the Muses. The
4 sides were appropriated to the 4 parts of the world; & each side was
laid out into distinct apartments, which were assign'd to the several polite
Nations in each of those Parts. The side that faced the North belonged
to the Europeans; the Africans lodged to the South; the Asiaticks to the
East; & the Americans to the West. We made our entrance on the West
side, & my Guide told me she design'd to make a short tour round the
3 last mentioned sides, but that we should make some stay in the fourth.
I observed that all the Artists on the West side were Europeans except
some few Natives who had been at first taught by them, followed their
manner; the far greater Number were Spainards. The South side was
likewise very thinly inhabited; towards the Eastern end of it I saw a
large Apartment which I guessed belonged to the Egyptians, in which by
the bags of colours, boxes of Pencils, rolls of canvas, & all sorts of
Mathematical Instruments, I concluded there had formerly lived some
famous Masters. A poor Greek yt saw me make a little stop to observe
those things, came up to me & told me that had once been the most
flourishing apartment in the whole College.
The Lodgings on the Eastern side were better filled, particularly the
Apartments of the Arabians & Persians. By the transient sight I had
of some of their Pieces, I observed that their Colours were
VERY BRIGHT AND FINELY LAID;
but they seem'd mightily to delight in emblematical or rather Hierogly-
phical works ; & what was also very shocking they seemed to have no
notion of unitv of design nor of Perspective; yet I thought I could have
staid among them with great pleasure. I signifyed by mind to my Guide,
but she bad me come away, for, said she, you'll infallibly spoil your Tast
if you spend any time there.
So we came on the Northern side, which was prodigiously füll of
Workmen. I found I was to pass the whole length of the Building be-
fore I came to my own countrymen, whose Apartmt was at the West
end. The first Apartment, which belonged to the Muscovites, was just
now filled up with great Magnificence, & I met with some persons among
them who seem'd born for great things. The Greeian apartmt was con-
siderable for nothing but the appearance that formerly it had been well
filled. An old fellow like a Monk would needs have shown me a Cata-
Iogue of about 7000 Pieces that bad been wrought there, & some very
few of which I had seen in the second Gallery.
I had better satysfaction among the Italians, Spainards, & French;
Kleinere Mitteilungen. 397
these latter came nearest to the noble Sirnplicity of the Antients. At
length I entered the English apartment; here I staid longest, & made
many remarks that I thought would be of Service to nie in my future
studies and Labours. 'Twould be too long to give the Characters of all
the Painters I saw there. I particularly distinguished one venerable old
man who had drawn some History Pieces, which I understood were to
be hung up in the Gallery of Modems. One of his Pictures which re-
presented a plague was unspeakably fine. I also observed two lllustrious
Youths who wrought together; they seem'd to work with a confidence of
Immortality. My dear Guide look'd with particular pleasure upon some
of her own sex who were likewise in pursuit of glory. I made several
observations on the different manner of Working that was peculiar to
every one of them. Some I saw excelled in Portraits, some in represent-
ing the Passions: Love and ambition employed the hands of most; but
there were some who laboured to express anger, Envy, Pride, Bashfulness,
& the like. Some young fellows who seem'd to have a great ....
Wien. Helene Richter.
Zu Archiv CXII, 190 ff. (Anzeige).
In der Beurteilung von Dr. Hoogvliet's 'Lingua' (CXII, S. 190 ff.)
ist S. 192 am Anfang des vorletzten Absatzes (Zeile 21 v. unten)
anstatt 'Satzbindewörter' zu lesen 'Satzteilwörter'. Etwas höher lese
man lieber folgenderweise : '... gehe ich zu der Besprechung des spe-
ziellen sprachlichen Teiles, mit Beschränkung auf einen besonders
hervortretenden Abschnitt desselben : die Einteilung der Wörter, über.'
Haag. A. J. Barnouw.
Zu Archiv CXIV, 474 (Bibliogr.).
Im Titel von Professor Curmes Gernian Grammar soll es nicht
'poetical', sondern 'practical study of the language' heifsen.
Elex oder Illex?
Das elex, das ich mit eingehender Begründung in der Akademie-
schrift 'Zur Kenntnis des Altlogudoresisclien' und kürzer im Orundr.
f. rom. Phil. I2 464 als Grundlage für ital. ehe, frz. yeuse aufgestellt
habe, sucht Niedermann oben Bd. CXIV S. 456 ! vom Standpunkte
des Lateinischen und der Überlieferung zu widerlegen und ersetzt
es wieder durch illex. Er hat dabei die Betrachtung etwas verschoben
und dadurch die ganze Frage in falsche Beleuchtung gebracht.
Meine Gedankenfolge ist die: wie lautet die romanische Grundform ?
Hat sie in der Überlieferung Stützen? Wie verhält sie sich zu der
schriftlateinischen Form? Ich will nun wieder so vorgehen und zu-
nächst den Entscheid zwischen illex und elex fällen. Ich könnte mich
1 'Seit Schuchardt Vok. Vulg. Lat. II 77 operieren die Romanisten
fortwährend mit einem altlateinischen eilex' heifst es S. 456. Soweit mir
die Akten bekannt sind, ist Schuchardts Ansatz eilex von allen, auch von
mir, übersehen worden, bis ihn Seh. selber Zs. f. rom. Phil. XXVII 106
wieder in Erinnerung gebracht hat. Alle folgenden haben entweder ilex
oder wohl elex angesetzt, also sich für i ausgesprochen oder die Frage
unentschieden gelassen, D'Ovidio hat Orundr. f. rom. Phil. I ' 507 Elex
direkt als unwahrscheinlich abgelehnt. Erst in der angeführten Akademie-
schrift habe ich elex gesichert und zu erklären versucht.
898 Kleinere Mitteilungen.
dafür einfach auf die genannte Abhandlung berufen, will aber zur
Bequemlichkeit des Lesers das Wichtigste hier anführen. Lat. pollice
gibt ital. pollice, lat. pulice dagegen pulce, folglich kann ehe nicht
auf ellice beruhen; im Neapolitanischen bleibt 11, im Sizilianischen
und Sardischen wird es zu dd, wir haben aber neap. elece, siz. ilici,
log. elige. Nur im Provenzalischen kann euse auch auf illice zurück-
gehen, es mufs es aber nicht. Somit haben wir eine Form, die über
die Quantität des / keine Auskunft gibt, mehrere, die nur auf l zu-
rückweisen, und da die lateinisch überlieferte auch l, nicht // hat,
spricht alles gegen, nichts für illex. Mit Bezug auf den Vokal ist
das Sardische entscheidend, da lat. i hier durch i, lat. e durch e ver-
treten wird: ein lat. *ilex müfste also sard. ilige, ein *elex dagegen
elige lauten, und da die letztere Form nun tatsächlich da ist und ehe,
euse, yeuse nicht widersprechen, so erweist sich elex als die allein
allen romanischen Reflexen entsprechende Grundlage, während bei
*ilex der sardische Vertreter nicht unterzubringen ist und * illex nur
für das Provenzalische pafst. Ich denke, unter solchen Umständen
wird illex, das leider auch in Brugmanns Grundriß der vergl. Gram-
matik I2 801 Aufnahme gefunden hat, endgültig verschwinden müssen.
Ist aber elex gesichert, so sucht man naturgemäfs nach älteren
Belegen. Ich gebe nun zu, dafs die Glosse, die ich angeführt habe,
nicht streng beweisend ist. Der Zusammenhang spricht sogar eher
für tlt'y.i], der Ausgang -is dagegen legt Hex näher. Die Stelle aus
Gregor von Tours ist es dagegen unbedingt, da in den Handschriften
e für % nur eintritt bei se für si 'wenn5, was eine gesprochene Form
ist (it., afrz. se), und beim Austausch zwischen e- und i- Verben.
Das elignis bei Schuchardt habe ich absichtlich nicht wiederholt, da
es verschiedene Deutungen zuläfst. Dafs auch die Stelle aus Marius
Victorinus nicht ganz sicher ist, ist klar, doch gilt gegen Nieder-
manns Änderung von silicem in sicilem dasselbe, was er gegen sili-
cem einwendet: das i von sicilis ist kurz (rum. seacere usw., vgl. Ein-
führung in die rom. Sprachw. 112).
Will man nun nicht nur elex konstatieren, sondern auch sein
Verhältnis zu Hex womöglich angeben, so wird man die von mir ver-
suchte Erklärung, die ja sachlich nicht uneben ist, mindestens geben
dürfen. Erwiesen oder widerlegt würde sie, sobald sich in denjenigen
Schwestersprachen, die i und ei scheiden, Verwandte finden. Leider
fehlen sie bis jetzt. Freilich führt ja Hesych l'\a'£ als lateinisch und
mazedonisch an, aber wir wissen nicht, wie alt die Glosse ist, ob also
nicht das mazedonische Wort aus dem Lateinischen entlehnt ist, be-
weist ja doch alb. ilk', dafs lat. Hex bei den Balkanrömern üblich
war; wir wissen nicht, ob in der Zeit, der die Glosse angehört, im
Mazedonischen nicht ei zu i geworden war; wenn der Akut statt des
Zirkumflex auf Kürze des / schliefsen läfst, so könnte man unter der
Voraussetzung, dafs Yka't- alt sei, dieses mit Hex am besten mit der
Annahme eines alten Ablautes eil : ih verbinden, also darin sogar
die gesuchte aufseritalische Stütze von eilex sehen. Aber ich will gar
Kleinere Mitteilungen. 399
nicht lla'6, für meine Zwecke verwenden, ich will nur zeigen, dafs die
Form vorläufig nicht verwertet werden kann. Nun sagt Niedermann
freilich, eine Wurzelform eil könne es nie gegeben haben. Warum
nicht? Die Gruppe eil ist doch nicht etwa unindogermanisch, und
selbst wenn sie es wäre, wer bürgt uns denn dafür, dafs eilex ein
indogermanisches, nicht etwa ein etruskisches Wort sei? Solange es
so vollständig isoliert steht, können wir darüber gar nichts aussagen.
Oder weist Niedermann eilex etwa darum ab, weil eine Wurzel eil
fehlt? Aber haben wir denn Wurzeln für Erle, Föhre, Eiche, Buche,
da ja doch den Zusammenhang des vorletzten Baumnamens mit
skr. ej 'schütteln', des letzten mit qxiytiv heute niemand mehr ernst
nehmen wird.
Schliefslich mag, da Suchier in der neuen Auflage des Orundr.
836 an yeuse = 'helicem im Sinne von ilicem' festhält, auch das noch
einmal gesagt werden, dafs nach Mistral npr. euse 'Efeu' von euse
% I ß
'Steineiche' verschieden ist. Man müfste danach annehmen • * g = e,
2
wenn man Suchiers Auffassung beipflichten wollte.
Wien. W. Meyer-Lübke.
Notes sur la prononciation francaise du nom de Shakespeare.
Si le nom de Goethe a du pendant longtemps s'accommoder
chez nous de prononciations heterogenes dont la versification et la
tvpographie nous ont transmis le temoignage,1 le nom de Shake-
speare ne pouvait guere etre plus heureux. II y avait meme lä une
accumulation de difficultes phonetiques capables de derouter l'inge-
niosite de ceux qui n'imaginaient point que voyelles, diphtongues et
consonnes pussent avoir ailleurs une autre valeur qu'en francais.2
Et, ici encore, il est permis d'inferer, de quelques indices typogra-
phiques et metriques, certaines habitudes de prononciation courante.
Les premieres mentions faites, en francais, du nom de Shake-
speare ne s'ecartaient pas de l'orthographe courante: c'etaient des
copies et des reports d'apres des originaux anglais, et ni le biblio-
thecaire royal Nicolas Clement, ni le redacteur de l'Inventaire ... des
Uwes ... de Fouquet n'auraient eu de raisons de s'ecarter de la gra-
phie qu'ils avaient sous les yeux. Ni Baillet ni Boyer, de leur cote,
ne fönt infraction ä l'usage anglais moyen.3 A plus forte raison des
traductions de Panglais ne fournissent-elles aucun temoignage: le
1 Cf. mes Notes sur la prononciation francaise du nom de Goethe
(Euphorion IX, 2—3, 1902).
2 La conclusion d'un article de M. Gaston Deschamps sur la röfonne
de l'orthographe temoigne assez de la perainite" de cette tendance. Dans
le Temps du 5 fövrier 1905, apres avoir cito l'opinion d'un correspondaot
qui demande que les Anglais mettent leur langue ecrite d'accord avec leur
langue parlöe, M. Deschamps reprend la parole : 'Je pense, en ettet, qu'on
pourrait attendre que les Anglais aient ecrit: Chekspire, lord Saulcebeurre, etc.'
3 D'apres Jusserand, Shakespeare en France sous l'ancien reyime,
Paris, 1898.
400 Kleinere Mitteilungen.
poete anglais est mentionne une fois dans les (Euvres melees du Che-
valier Temple,1 plusieurs fois dans le Mentor moderne2 et dans le
Spectateur on le Socrate moderne,* sans qu'on puisse discerner quels
phonemes des lecteurs francais devaient s'imaginer sous la forme
SMkespear, la plus communement employee dans ces ouvrages.
II est probable que ce nom, qui, a partir du premier quart du
XVIII0 siecle, sera souvent lance dans les controverses litteraires,
offrait aux Francais deux difficultes principales, et que des lecteurs
laisses a leurs seules lumieres ötaient tentes: 1° de prononcer le Sh
initial comme un simple S; 2° de dissocier en e -\ a la diphtongue
finale. Quant ä Ye de la deuxieme syllabe, il ne devait offrir aucune
difficult6, et ne manquait pas, sans doute, de recevoir sa part d'ac-
cent et de prononciation dans le mot! Si etrange que paraisse la
graphie Shakees Fear, qui figure au Journal des Savants de 1710, 4
il est possible qu'elle ne fasse que rendre un compte excessif de cette
valeur attribuee ä Ye de la syllabe mediane.
De ces trois facons d'errer — que vraisemblablement ne combat-
taient pas avec un succes süffisant les prononciations plus conformes
de Frangais qui avaient ete en Angleterre, un Voltaire, un abbe
Prevost — il est facile de suivre la trace persistante.5 L'habitude
erronee 6tait-elle dejä prise, on menacait-elle seulement, quand furent
imprimees — en 1725 — les heitres sur les Anglais et les Francais?
Muralt se contentait-il de reproduire l'ortographe qu'il avait employee
jadis, en manuscrit, pour ecrire ce nom de Shakespeare d'une facon
plus conformer ä la prononciation qu'il entendait dans la bouche des
Anglais? En tout cas, il ecrit SeJiakspear,6 de me'me qu'il ecrit
Schadvel; et, de la part d'un homme qui ecrit plusieurs fois Houmour
et qui donne d'ailleurs une liste d'errata fort soigneuse, il y a certes
la autre chose qu'une faute d'impression.
J'en dirai autant de la persistance de la graphie Shakespear
dans les heitres de l'abbe Leblanc7 (concurremment avec Shakespear
sans accent). Comme on la rencontre aussi sous la plume d'un autre
auteur qui connaissait l'Angleterre pour y avoir sejourne,8 il est per-
mis d'y voir une invite ä, mettre sur cet e une intonation qui rap-
proche la diphtongue ea de la prononciation eare anglaise. En re-
1 Utrecht, 1693.
2 Je n'ai eu entre les mains que la deuxieme Edition, La Haye, 1724.
3 Amsterdam, 17'2'J.
4 Citee par Jusseraud, ouv. cite, p. 147.
5 Je ne serais pas eloigne" d'attribuer le cas bien connu de Bodmer,
öcrivant Saspar et Sasper en 1740, Saksper en 1741, ä l'influence de quel-
qu'une de ces graphies erronees. Pour l'e'lision du k, voir l'exemple cito
plus loin de Saurin. 11 importe de noter que dans le Pour et le Contre
de Tabbe* Prevost et dans le Journal etranger, oü le nom de Shakespeare
est souvent cite\ il ne präsente aucune de ces aoomalies d'^criture; la
graphie Shakespear pr£domine dans l'un et l'autre.
ü (Geneve) 1725, p. 57.
7 Notamment pages 80, 83, 84 du tome II.
8 Grosley dans son Londres (Lausanne, 1"< 70), cito par Jusserand, p. 249.
Kleinere Mitteilungen. 401
van che, le Shakespefiar du Präsident Henault,1 le Shakespeart de
V Observateur frangais ä Londres 2 temoignent d'une adhesion de l'au-
teur (ou du typographe, tout au moins) ä la prononciation commune:
Yh de l'un en separant les deux voyelles de la diphtongue, le t final
de l'autre en faisant de la syllabe art l'analogue de mots comme
part, art etc., invitent le lecteur ä prononcer pe -\- ar. 3
Chose curieuse, l'erreur phonetique qui faisait du Sh initial
l'equivalent d'un simple S (peut-etre suivi d'une vague aspiration?)
semble avoir ete plus tenace que celle qui dissociait ainsi les deux
lettres de la syllabe diphtonguee. On trouve en effet tres longtemps :
'... a la fa9on de Sakespear, le Corneille des Anglais' ;4
'Nous invitons les admirateurs du theätre anglais ä lire les ar-
ticles Sakespeare . . . ' 3
'Quelques pensees de Sakespeare'6
quand dejä une graphie phonetique demontre que la prononciation
correcte de la diphtongue n'est plus ignoree:
Rien, sans l'habit anglais, ne pouvoit röussir.
Au-dessus de Corneille, il mettait Sakespir.1
ou encore: Emule genereux du fameux Sakespir,
Tu voulais, imitant cet auteur admirable,
A ses rares talens nous forcer d'applaudir . . . 8
II va sans dire que les auteurs bien renseignes ne se contentaient
pas toujours des moyens que nous avons vus (Seh ou pear) pour indi-
quer tant bien que mal ä leurs lecteurs quelle etait la prononciation
usitee chez les compatriotes du poete. Si une Elegie sur la mort de
Ducis renferme encore ce vers:
Schakespear, tu devais naitre et mourir deux fois9
il y avait longtemps cependant que Saurin avait insere" dans son
Anglomane la replique suivante (oü la suppression du k serait sin-
gulare, si Damis n'etait un Anglais par occasion et subterfuge):
Er aste. Celui de vos auteurs qu'avant tout autre j'aime,
C'est Shakesp^ar.
Damis. Nous pronon§ons, öhespir.
Er aste. Chespir soit: mais en tout j'admire sa maniere. 10
1 Dans la Preface (non paginee) de Francois II.
2 Cito par Jusserand, p. 2J5, note 2.
3 Notons que, par une touchante conformit6, le nom du Rot Lear
£tait soumis ä la meme prononciation que celui de son auteur.
4 Mercure de France, oct. 1747, p. 115. C'est l'ordinaire facon dont
ce p^riodique £crit le nom du poete anglais: cf. ses comptes-rendus de La
Place en 1746. UAnnee litteraire 6crit göuöralement Shakespear.
5 Journal des Debats, 26 janvier 1804. Vari6t6s.
6 Bulletin de Lyon, 20 thermidor an XII, p. 3ö8.
7 Boissy, la Frivolite, com£die en un acte du vers. Paris, 1753,
scene IV, p. 28.
8 Müe de Gaudin. A. M. Ducis, sur sa tragödie du Roi Lear. Al-
manach des Muses, 1784, p. 13.
y Par Mme Victoire Babois. Almanach des Muses, 1819, p. 39.
L; * Saurin, V Anglomane, ou V Orpheline leguee, Edition en un acte, Paris,
1772, scene XTT.
Archiy f. n. Sprachen. CXV. 26
402 Kleinere Mitteilungen.
Vers le m£me temps, V Armee lüteraire (1769, VI, p. 10) remarque
au sujet de ce nom: 'II s'ecrit Shakespear et se prononce Cheespir.'
Au comraencement du XIX e siecle, Stendhal ecrivant ä sa soeur a
soin de faire suivre le nora du poete de cette parenthese: 'prononce
Che'quspire',1 et AI. Duval, publiant en brochure son Shakespeare
amoureux ou la Piece ä l'etude, ne neglige pas de mettre en note,
comme un renvoi encore necessaire: 'On prononce Chekspire'2 Pre-
caution d'autant plus utile que c'etait la premiere fois - sous les
traits de Talma — que l'auteur d'Hamlet devenait un personnage de
th6ätre. Notons que c'est precisement vers cette epoque que Seve-
linges, publiant une nouvelle traduction de Werther, ecrit en note ä
la premiere page de sa Preface': 'On prononce Gueüte. II serait ä
souhaiter que toutes les fois que l'on imprime le nom d'un etranger
celebre, on donnät en meme temps la maniere de le prononcer.
Faute de les avoir, on peut, dans l'occasion, se trouver expose ä ne
pas comprendre, ou ä n'6tre pas compris.' 3 Souci bien legitime !
Sans doute l'extraordinaire remuement de Immigration et des guerres
de la Revolution et de PEmpire a-t-il produit dejä, pour ces deux
'etrangers celebres', ce resultat de mettre quelques hommes de lettres
et journalistes en mesure de garantir ä des compatriotes ignorants
une prononciation plus orthodoxe. Et desormais, si les poetes häsi-
tent encore entre deux ou trois ecritures du nom de Shakespeare,
ils ne sont plus tentes de lui ajouter une syllabe inutile dans la pro-
nonciation :
Mais eile avait Shakspear pour elargir son rögne . . .
(A. Dumas, Christime, acte I, sc. 2.)
C'est ainsi qu'ä Straffort l'Angleterre idolätre
Couronnait dans Shakspear le pere du thöätre . . .
(Cas. Delavigne, Discours en l'honneur de Corneille,
.4/wi. des Muses, 1830, p. 260.)
II va sans dire qu'ensuite, pour Musset, pour Banville, Shakespeare
fournit une rime feminine, quelle qu'en soit Porthographe :
L'autre, comme Kacine et le divin Shakspeare,
Monte sur le th^ätre, une lampe ä la main . . .
(Müsset, la Coupe et les Levres, Dedicace.)
Toute cre*ation ä laquelle on aspire,
Tout reve, toute chose, ömanent de Shakspere . . .
(Banville, Cariatides, la Voie lactee.)
1 Lettres intimes, p. 29: lettre du 10 pluviöse an XI.
2 Paris, an XII, p. 2. L'annöe pr6c6dente, dans le prologue de son
Ouillaume le Conqueratit, Duval avait fait figurer le nom de Shakespeare,
räduit ä deux syllabes sous cette forme: Ou Shak'spear ou Schiller vous
servit de modele.
3 C. L. SeVelinges, Werther, traduit de l'allemand sur une nouvelle
Edition. Paris, an XII, 1804, p. VIII, note 1.
Lyon. Fernand Baldensperger.
Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Andreas Heusler, Lied und Epos in germanischer Sagendichtung.
Dortmund, Fr. Wilh. Ruhfus, 1905. 52 S.
Eine inhaltsvollere Schrift ist auf dem Gebiet der Heldensage seit
lange kaum erschienen als dies schmale Heftchen. Wohl kündigt H. als
seine Absicht nur an, W. P. Kers 'gedankenreiches Buch' Epic and Bo-
mance (London 1897) nach seinem wesentlichen Inhalt zur allgemeineren
Kenntnis zu bringen; und schon das wäre verdienstvoll, denn das wich-
tige Werk des Engländers (dessen Bekanntschaft ich auch nur Heuslers
persönlichem Hinweis danke) scheint bei uns kaum beachtet zu sein.
Tatsächlich aber führt H. nicht nur Kers Gedanken — unter gelegentlich
auch bessernder Kritik — vor, sondern gibt selbständig eine knappe Dar-
stellung neuer Theorien zur Naturgeschichte des Epos.
In dem einen Hauptpunkt zwar könnte seine Polemik gegen die
herrschende Theorie überflüssig scheinen. Gibt es wirklich noch Forscher,
die sich ein Epos durch blofse 'Summierung' von Einzelliedern entstanden
denken? Lachmann und auch noch Müllenhoff durften glauben,
nach Ausscheiden der 'Interpolationen' die 'echten Lieder' unmittelbar zu
erhalten ; so einfach aber stellen sich doch wohl auch ihre Nachfolger die
Sache nicht mehr vor.
Aber es ist vollkommen richtig, dafs der stilistische Unterschied,
der zwischen 'Lied' und 'Epos' besteht, den deutschen Forschern keines-
wegs klar genug zum Bewufstsein kommt, und dals ihre Kritik dem Unter-
schied des Tempos (S. 22), der zwischen dem knappen Lied und dem
breiten Epos waltet, daher nicht gerecht wird. In der Herausarbeitung
dieses Unterschiedes liegt das gröfste Verdienst von H.s Werkchen. Wenn
man sieht, wie Wilamowitz' geniale neueste Geschichte der hellenischen
Literatur diese eigentlich nur als Stilgeschichte behandelt, oder wenn man
neuere (und auch ältere) französische Monographien zur Literaturgeschichte
vergleicht, erkennt man nicht ohne Beschämung, wie weit wir trotz Sche-
rer und seinen ersten Schülern hier zurückgeblieben sind.
Aus dieser stilgeschichtlichen Erkenntnis zieht H. nun aber weiter-
gehende Schlüsse. Er leugnet jene Zwischenstufe zwischen Lied und
Epos, die wir als zyklisches Lied oder Kettengedicht zu bezeichnen pflegen.
Er glaubt an einen plötzlichen, radikalen Umschwung der Darstellungs-
weise (vgl. bes. S. 32), der um das Skelett des fertigen Liedes die 'Mast-
kur der epischen Breite' (S. 51) wuchern liefs.
Hier nun kann ich ihm nicht folgen. Das reine 'Ereignislied' der
Edda (vgl. S. 13 f.) scheint mir allerdings durch die eddische Philologie
selbst (H. Z. ö2, 402) verbürgt, und Jönssons Widerspruch {Oldnordisk
Lit. Eist. I, 117 f.) hat mich nicht überzeugt. Das karikierende Selbst-
bekenntnis des Dichters aber, das H. (S. 27) als unentbehrliche Voraus-
setzung der 'Sammeltheorie' auffafst, kann man von einem Rhapsoden
nicht verlangen, der, statt die Werbungsfahrt aus der 'ganzen Geschichte
26*
404 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
von Siegfried, Kriemhild und Brunhild' herauszugreifen, die uralte Tra-
dition einfach fortsetzte, für die die Erzählung von Autharis Brautfahrt
zeugt. Die Eddalieder wie Reg. und Fäf. scheinen mir auch nur als
Glieder einer Kette verständlich. Allerdings lehnt H. ihr Zeugnis ab,
weil sie schwer zu beurteilen seien ; sündigt er aber da nicht, wie nach
seinem eigenen treffenden Urteil sonst die Germanisten, die (S. 52) ihren
Reichtum nicht zu nützen wissen?
H.s Hauptargument gegen Lieder e| vnolrjipetos ist (S. 18), dafs jedes
Eiuzellied bis zum Schluß gehe, den Ausgangspunkt der Fabel mit ent-
halte. Allerdings gibt er selbst Ausnahmen zu, die aber motiviert seien.
Zunächst nun sehe ich gerade in der üblichen Bezugnahme auf den Schlufs
den Beweis der vnoArjy/is: an diesem bekanntesten, festen Teil werden die
Lieder verankert, so dafs ihre Zusammengehörigkeit markiert war. Dann
aber ist die Art dieser Bezugnahme doch zu verschieden, um gerade auf
sie weitere Folgerungen zu bauen. Oft ist es nur ein abbrechender Ak-
kord, wie die Berichte vom späteren Schicksal des Helden in den älteren
englischen Romanen, so etwa in der Prosa von H. Hj. II ; ein andermal
nur ein lyrisches Echo, wie in Vkv. Und darf man die Götterlieder von
ausgesprochener Einzelhandlung wie Skirn. ganz von den Heldenliedern
absondern ?
Zur Stütze seiner Theorie gibt H. aufser kurzen — nur zu kurzen —
Besprechungen des Beowulf (S. 36), des Waltharius usw. ein englisches
und ein dänisches Analogon (Robin Hood S. ob" f., Mask Stig S. 41 f.).
Über diese selbst habe ich kein Urteil; die Beweiskraft der Analogien aber
schlage ich nicht allzu hoch an : nicht, weil ich mit N ö 1 d e k e jedem
Volksepos eine völlig isolierte Entwickelung zuschreiben möchte, sondern
weil nach H.s eigener Auffassung hier schon die 'Lieder' in die Epoche
epischer Breite fallen. Übrigens sind H.s Vergleiche seiner Ergebnisse
mit den Voraussetzungen der Sammeltheorie (S. 40, 45) sehr lehrreich —
nur dafs er eben auch hier diese Theorie mechanischer nimmt als wohl
ihre meisten Anhänger.
Dafs zwischen den 'Liedern' und den 'Epen', die beide H. vortrefflich
charakterisiert, eine Zwischenstufe bestand, in der die einfachen 'Ereignis-
lieder' sich dem epischen Stil annäherten und gleichzeitig (wie die breiter
entwickelte Novelle oder das voller gestaltete Märchen überall) dem Zyklus
zustrebten — dies scheint mir der Verf. nicht widerlegt zu haben, und
dies scheint mir nach wie vor schon durch die Edda allein ausreichend
bewiesen. Aber auch wenn hierin die ältere Theorie bestehen sollte, gibt
Heuslers Stilkritik ihr ein ganz neues Ansehen.
Berlin. Richard M. Meyer.
Ludwig Geiger, Goethes Leben und Werke. Einzeldruck aus:
'Goethes sämtliche Werke. Vollständige Ausgabe in 44 Bänden. Mit
Einleitung von L. Geiger. Mit zwei Bildnissen, Faksimile und Re-
gisterband'. Leipzig, Max Hesses Verlag.
'Keine Biographie im gewöhnlichen Sinne' hat sich der Verfasser zur
Aufgabe gesetzt, 'keine blofs eingehende Darstellung der Lebensereignisse
Goethes, sondern eine Einführung in das Verständnis seiner Werke und
seines Wesens.' Dem 'grofsen Publikum', für das die Arbeit ausschliefs-
lich bestimmt ist, nur eine intime Kenntnis seiner Liebschaften und Privat-
verhältnisse übermitteln, wie es so häufig geschehe, heifse den Zweck ver-
fehlen. Viel wichtiger als diese Einzelheiten, wenn sie gleich nicht über-
gangen werden dürften, sei die Belehrung über des Meisters Stellung zur
Politik und Religion; über seine Bedeutung als Lyriker, Dramatiker und
Epiker; eine Darlegung seiner Kunstlehren, seiner Anschauungen von Ge-
schichtlichem und Geschichte; eine Übersicht seiner eigenen geschieht-
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 405
liehen Arbeiten ; endlich noch eine Würdigung der Art, wie er seine Briefe
schrieb und seine Tagebücher redigierte.
Von alledem wird denn auch kurz und bündig, wie es der knapp zu-
bemessene Raum verlangte, in neun Abschnitten auf 200 Seiten gehandelt :
vollständig und gediegen und gemeinverständlich genug, vielleicht aber
doch ein wenig allzu literarhistorisch, mit allzu heroischem Verzicht auf per-
sönliche Ansicht und persönliche Darstellung. Wir wollen das grofse
Publikum immer noch zu gründlich, zu fachwissenschaftlich 'bilden', und
erziehen ihm so, gegen unseren Willen, ein verstandesmäfsiges Verhalten
zur Kunst an, statt zu wecken, zu entwickeln, was an aufnehmenden
künstlerischen Fähigkeiten untätig und verschüchtert in ihm liegt. Wo
es gilt, Liebe zur Kunst und wahres Verständnis in weiteren und weite-
sten Kreisen zu fördern, sollten wir uns, meineich, inniger und bewufster
an Alfred Lichtwark und die Seinen anschliefsen, sollten diesen eifrigen
und erfolgreichen Nachbarn die rechte Volkserziehung ablernen, die ja
nach Wesen und Art dieselbe sein mufs auf allen Kunstgebieten.
Freiburg i. B. R. Woerner.
Max Batt, The treatment of nature in German literature from
Günther to the appearance of Goethes Werther. (Diss. Chicago.)
'The treatment of nature' ist ein Lieblingsgegenstand amerikanischer
Literaturforschung geworden. Aber mag die Aufgabe ursprünglich nur
deshalb so allgemein bezeichnet worden sein, weil ein geläufiges Wort für
Natur gefühl mangelte: Tatsache ist, dafs man sie nun auch so allge-
mein behandelt. Unter Sammelworten wie: Himmelserscheinungen, Jahres-
zeiten, Gebirge, Gewässer usw. wird eine Anzahl von Stellen aufgereiht,
in denen der Dichter irgendwie auf das in der Überschrift Angegebene
Bezug nimmt, ohne dafs von vornherein und grundsätzlich unterschieden
würde zwischen dem, was er neu aus eigener Anschauung und Empfindung
schöpft, und dem, was er aus der Überlieferung wiederholt. Diesem sta-
tistisch-topographischen Verfahren soll sein Nutzen nicht aberkannt werden
— besonders nicht nach der kulturgeschichtlichen Seite hin. Allein es
haftet, scheint mir, in bedauerlicher Weise solchen Versuchen der Cha-
rakter des Halbgetanen, der blofsen Vorarbeit an, wo sich doch — mit
einer weniger äufserlichen Behandlungsart — sogleich Befriedigenderes ge-
winnen, ja in vielen Fällen Endgültiges und Abschliefsendes erreichen liefse.
Was ich hiermit über die Methode zu bedenken gebe, bedeute keines-
wegs eine Herabwürdigung der vorliegenden, in ihren Schranken sehr
tüchtigen Dissertation ! Auf Grund ausgebreiteter und sorgfältiger Studien
bietet sie mancherlei neue Beobachtungen, besonders in den Abschnitten
Letters und Travels. Auch die Schlufsbetrachtung zeugt von anerkennens-
werter Beherrschung des gesamten Gebietes.
Freiburg i. B. R. Woerner.
R. Petsch, Vorträge über Goethes 'Faust'. Gehalten im Ferienkurs
für Lehrer 1902. (Würzburger Hochschulvorträge B. I.) Würzburg,
Ballhorn u. Cramer Nachf., 1903. 198 S.
Der Verfasser ist der schwierigen Aufgabe, ein gemeinverständliches
Modell unserer gröfsten Dichtung aufzubauen, für den ersten Teil besser
als für den zweiten gerecht geworden. Hier begegnen nicht blofs selt-
same Hypothesen (Homunkiüus von Mephisto erschaffen! S. 112), die als
sichere Tatsachen vorgetragen werden, und allzu feine Ausdeutungen (über
den Famulus Wagner S. 139, vgl. aber S. 119; über das innere Licht
S. 190 u. ö.), sondern vor allem geht hier über zu ausführlicher Deutung
von Kleinigkeiten (Ein zehnter pretation des Mummenschanzes u. dgl.) die
406 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
übersichtliche Führung verloren. Verzeihlich finden wir es freilich, dals
P. hier Schwierigkeiten leichter Hand eliminiert; denn vielleicht haben
die, die die Frage der Wette nicht so einfach abzutun vermögen, nicht
'dicke.Ohren' (S. 192), sondern eher zu feine. Die Erklärung des ersten
Teils ist dagegen im allgemeinen recht glücklich. Wohl begegnen auch
hier Gesuchtheiten (zum 'Gesetz' S. 62) und kleine Lapsus, wie dafs La-
vater der Jesuiten-Riecher sein soll (S. 102; ebenso z. B. zum zweiten Teil:
Goethe habe zwischen Neptunisten und Vulkanisten eine Mittelstellung
eingenommen, S. 15U), und anfechtbare Deutungen, wie über den Zweck
der Osternachtszene (S. 48) ; aber dafür entschädigen glückliche Zitate
und Verwendungen ('Ihr Beifall selbst macht meinem Herzen bang'
S. 30;} über- die Historie S. 46) und vor allem eine herzenswarme und
doch verständig-klare Auseinandersetzung.
Berlin. Richard M. Meyer.
N. Lenau, Pofcte lyrique. Par L. Reynaud. Paris, Societe* nou-
velle de Librairie et (TEdition, 1905. XVII, 461 S.
Das Ziel seines Buches formuliert der Verfasser in der Vorrede so:
'Nous nous sommes propose* ici, en substance, de soumettre l'organisation
morale et la produetion lyrique du poete ä une analyse aussi exaete et
aussi complete que possible, pour essayer de döterminer les rapports pro-
fonds qui les unissent.' Er glaubt aber seine Aufgabe noch weiter fassen
zu müssen. Aus der Analyse von Leben und Kunst dieses einen Dich-
ters, der ihm einen bestimmten Typus zu vertreten scheint, soll etwas für
die Wertmafsstäbe der Ästhetik überhaupt gewonnen werden (S. IX). Er
glaubt hier eine Art Schulfall zu haben für das seiner Meinung nach
höchster Künstlergröfse Verderbliche einer Organisation, in der Sinnen-
und Gefühlsleben ein völliges Übergewicht über die logischen Fähigkeiten
und den bewufsten Willen erlangt haben. Der mangelnden Kraft, sich
durch eine selbständige feste Weltanschauung über das Chaos seiner Emp-
findungen und Impulse denkend zu erheben, der unsicheren inkonsequenten
Lebensführung müsse der Gehalt der Kunst entsprechen, vor allem aber
auch Mängel der artistischen Form. 'Le poete a suecombe' lä mßme oü
l'homme avait succomb6, car les lois de la produetion artistique ne sont
qu'une transposition des lois de l'existence reelle. Le rythme des pense"es
et des mots n'est en derniere instance que l'expression du rythme des
actes.' R. gelangt aus dieser Grundanschauung heraus zu einer Ver-
werfung aller Epochen, in denen die stärksten KunstleistuDgen von Na-
turen ausgingen, denen es nicht gelang, ihr Leben zu harmonisieren, mit
ihrem inneren Reichtum als gute Haushalter zu verfahren. Die Romantik
ist ihm besonders antipathisch. Eine gewisse Warnung vor der Über-
schätzung der Romantik mag heute, wo man in aller Freude an ihrem
wiederentdeckten Reichtum geneigt ist, ihre Grenzen zu übersehen, viel-
leicht am Platze sein. Doch R.s Art der Ablehnung, wie sie sich auf
S. XV und öfter offenbart, ist in ihrer Einseitigkeit kaum haltbar. Seine
Abneigung gegen moderne, sich mit romantischer Art berührende Kunst
scheint mir seiner Betrachtung Lenaus von vornherein eine gewisse Rich-
tung gegeben zu haben, weil er in Lenau einen seelischen Typus erkennt,
dessen Steigerung jene 'verderblichen' Erscheinungen zeitigen kann. Diese
pädagogischen Absichten trüben vielleicht hier und da die Objektivität
der Betrachtung, obwohl ich ein Verdienst des Buches darin sehe, dafs
es die Grenzen von Lenaus Kunst nicht aus dem Auge verliert.
Gegen R.s allgemeine Anschauungen läfst sich gewils manches ein-
wenden. Eine so bündige Beantwortung der alle Ästhetik beschäftigenden
Frage nach dem Grundverhältnis von Leben und Kunst liefse sich meines
Erachtens immer nur auf Grund eines sehr grofsen, sorgfältig durch-
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 407
gearbeiteten psychologischen Materials geben. Eine Betrachtung der ver-
schiedenartigsten Künstlerpersönlichkeiten unter diesem Gesichtspunkt
müfste voraufgegangen sein. Und auch dann bedarf es in der Anwendung
des etwa Gefundenen gröister Vorsicht: eine seelische Organisation, die
dem Dramatiker verhängnisvoll werden mufs, braucht es nicht für den
Lyriker zu sein. Das, was man künstlerische Intelligen 7. nennt, kann ein
Lyriker im hohen Mafse besitzen, der nie mit seinem Denken Herr des
Lebens wurde. Bei dem Gedanken über die Erscheinungen auf künstle-
rischem Gebiet, die der Willensschwäche im Leben entsprechen, wäre
schärfer zu scheiden zwischen den lebenshungrigen Impulsmenschen, die
alle Kraft im Leben verschwenden, denen keine Mufse zur künstlerischen
Konzentration bleibt, und den willensmatten Naturen, die, scheu vor dem
Leben, die Kunstübung als einzige Lebensbetätigung leidenschaftlich um-
klammern und die von der Kunst allmählich verzehrt werden. Hier wird
der gröfsten Willensschwäche im Leben eine sehr sichere Beherrschung
der Kunstform parallel gehen. Gerade die österreichische Literatur lädt
zur Beobachtung dieses Typs ein. Gehört Lenau nicht dem zweiten Typus
an, auch nach R.s eigener Darstellung?
Der Künstler würde allerdings immer da unterliegen, wo der Mensch
unterliegt, wenn er nur das ausdrückte, was er ist, nicht auch was ihm
mangelt; wenn alle Kunst nur aus dem verwirklichten Sein, nicht auch
aus der Sehnsucht eines Menschen entstünde. Wie weit freilich einer sol-
chen Natur die reife, künstlerische Gestaltung dessen möglich ist, was
ihrem eigenen Sein widerspricht, das wird von der Selbsterziehung bedingt
sein. Aber vor allem von der auf Kultur der Sinnlichkeit und Phantasie
gerichteten : von der wohl erziehbaren Fähigkeit, sich anschauend in frem-
des Leben zu versenken — eine Gabe, die doch wohl nicht direkt von
intellektueller und moralischer Kultur abhängt. Ein bekanntes Beispiel ist
C. F.Meyer, der die Renaissance gestaltet. Aber wie gesagt: mit Einzel-
beobachtungen kommt man diesem Problem nicht sehr nahe, hier bedarf
es einer breiten, empirischen Grundlegung.
Durch solche Einwände ist noch nichts darüber ausgesagt, wie weit
in diesem einen Fall die These zutrifft, wie weit das Problem Lenau durch
R. erschöpft wird. Er betrachtet im ersten Teil des Buches : 'Les sources
de l'ceuvre lyrique: Phomme' das Seelenwesen Lenaus, wie es sich in sei-
nem Verhältnis zur Natur offenbart, wie es in der Art, die Umstände, die
Menschen, namentlich die Frauen, auf sich wirken zu lassen, in den Un-
regelmäfsigkeiten seines Lebens, in seinen Beziehungen zur Philosophie
und Literatur zutage tritt. Im zweiten Teil: 'L'oeuvre lyrique' sucht er
die Spiegelungen dieses Seelenwesens in der Lyrik, strebt, das Walten der
gleichen Haupttendenzen, die das Leben beherrschen, nachzuweisen.
In der Charakteristik, die er am Ende der ersten Partie gibt, wieder-
holt er zum Teil das, was Roustan in seiner trefflichen Lenaubiographie
zusammenfassend gesagt hatte. Er betont die nervöse Empfindlichkeit,
das Vorherrschen der 'sensibilite', das jähen Impulsen gehorchende Tem-
perament, den Mangel an 'energie r^flechie'. Viel mehr Bedeutung als
Roustan oder Castle mifst er dem Einflufs literarischer Moden auf Lenaus
Leben und Kunst bei. Erwägenswert sind die Betrachtungen über das,
was 'Literatur' in Lenaus Leben war, aber R. überschätzt doch wohl diese
Einflüsse; namentlich spielt der Byronismus, dessen Wichtigkeit andere
Betrachter ganz zurückgedrängt hatten, eine zu grofse Rolle. Roustan
bewertete Lenaus philosophisches Denken höher als R. es tut. 'La sensi-
bilite- mobile et inquiete, qui constitue le caractere de Lenau comme eile
est la source de sa poesie, n'est qu'une face de cet etre complexe. A c6t6
de l'instinctif et de l'impulsif substituent un intellectuel et un analyste.'
R. sieht viel mehr den Mangel an Konsequenz, Tiefe, Selbständigkeit in
Lenaus Denken. Man kann ihm den Denker Lenau preisgeben: den Ge-
408 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
dankeninhalt der epischen Dichtung nicht hoch einschätzen, aber es ist
nicht zu verkennen, dafs es dem Dichter gelang, durch dieses immer wieder
begonnene Ringen um die Weltanschauung seiner Lyrik Tiefgang zu geben.
Hier zeigt sich eine Willenskonzentration des Künstlers, die sogar Grill-
parzers herbe Verse anerkennen, und die R. mir nicht genug zu beachten
scheint. Sehr wünschenswert wäre es gewesen, dafs die Phantasie Le-
naus eine zusammenhängende Darstellung erfahren hätte. Ansätze dazu
finden sich öfters in R.s Buch, aber der Anteil der Phantasie an Leben
und Kunst Lenaus wird viel weniger beachtet als der der Gefühlssphäre,
der nervösen Empfindlichkeit. Castle und Walzel hatten darauf, hin-
gewiesen, dafs viel von Lenaus Eigenart aus der Psychologie des Öster-
reichers überhaupt zu erklären ist. Die Verfolgung dieser Spur läfst sich
R. entgehen. Ferner: er führt die Eintönigkeit in der Grundstimmung,
die Lenaus Kunst trotz aller Farbigkeit zeigt, wesentlich auf die Grenzen
seiner intellektuellen und moralischen Persönlichkeit zurück. Aber hier
wäre eben zu fragen, ob nicht vielmehr eine zu enge Ausbildung der
anschauenden Fähigkeit daran schuld ist. Ob Lenau nicht — was ihm
durch Denken nicht oder nur spät gelang — von den einseitigen Forde-
rungen seines Gefühls sich hätte bis zu einem gewissen Grade befreien
können, wenn er es vermocht hätte, sich anschauend auch in die Er-
scheinungen zu versenken, die seinem Gefühl nicht sofort antworteten.
Der 'Kult seiner Melancholie' verhinderte das. Aber ob nicht Lenau,
ganz abgesehen von einer Erziehung des praktischen Willens, durch eine
nicht nur intensive, virtuose, sondern auch extensive Entwickelung seiner
anschauenden Fähigkeit, nicht mittels ethischer, sondern ästhetischer Kul-
tur zu einer Befreiung von diesem Kult, zur Aufweitung seiner Kunst
gelangt wäre? Vielleicht hätte eine Untersuchung in dieser Richtung,
namentlich eine Betrachtung der Anläufe, die Lenau zuweilen nimmt, eine
Lebensform darzustellen, die der seinen entgegengesetzt ist, die Formel
etwas erweitert, mit der R. ihn zu erklären sucht.
R.s These bedurfte vor allem stärkerer Stützen durch den Nachweis,
dafs dem Mangel an Lebensbeherrschung ein Versagen des künstlerischen
Ordnungsgeistes in Lenaus Dichtung entspricht. Dieser Nachweis ist
nicht völlig erbracht. Freilich, die mangelhafte Komposition der Epen
ist unbestreitbar. Aber diese Enge der Begabung beim Lyriker braucht
wahrlich nicht auf einer solchen Seelenbeschaffenheit zu beruhen. Uhland,
der klare, wissenschaftlich geschulte Geist, der feste, sein Leben beherr-
schende Mann, war ebenso unfähig, ein Drama oder Epos zu komponieren,
wie der Impuls- und Stimmungsmensch Lenau : er war eben nur Lyriker.
Was nun das eigentlich lyrische Gedicht und das lyrisch - epische Stim-
mungsbild betrifft, so stehen neben den unvollkommen komponierten Ge-
dichten, die R. auf S. 432 anführt und deren Zahl man übrigens leicht
um eine Reihe mifslungener Reflexionspoesien erweitern könnte, genügend
andere, die strengste künstlerische Besonnenheit im Gesamtaufbau wie im
einzelnen verraten.
Die Analyse von Lenaus Lyrik im zweiten Teil des Buches enthält
außerordentlich viel Feines. Besonders anregend ist im Kapitel 'Vente" et
po£sie' dargestellt, wie Erlebnis, Phantasie und literarische Tradition die
Stilisierung des Themas der Berta- Lieder beeinflufsten. Die Behandlung
des Lenauschen Naturgefühls führt in einigen Punkten weit über das hin-
aus, was etwa Geskys mit hilflosen Beiwörtern an Lenaus Kunst herum-
tastende Studie geben konnte. R. begnügt sich nicht, zu klassifizieren, er
erkennt die Probleme. Er gibt im Kapitel 'L'art de Lenau' eine beson-
ders dankenswerte Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Lenaus
theoretischen Ansichten über Naturlyrik und der Entwickelung seiner
eigenen Naturpoesie. Die Ausdrucksmittel von Lenaus Kunst werden
feinfühlig gewertet. Manches ist zu modifizieren, die Beobachtungen über
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 400
das Stilistische sind hier und da zu erweitern ; im ganzen liegen hier die
gröfsten Vorzüge des Buches.
Im einzelnen liefse sich noch manches bemerken. Ein Vergleich mit
anderen Dichtern des Meeres, der Heide, des Hochgebirges wäre vielleicht
der genaueren Entscheidung der Frage zugute gekommen, wie weit es nur
auf Lenaus eigenstes Temperament zurückzuführen ist, dafs ihn wesentlich
eine Natur in grofsartiger Trostlosigkeit oder in leidenschaftlichem Auf-
ruhr künstlerisch erregt, wie weit die Landschaften, in denen er haupt-
sächlich lebt, auch auf andere Künstlernaturen so zu wirken pflegten. Zu
solchen psychologischen Vergleichen konnte Ratzeis trefflicher Aufsatz
(Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1003, Nr. 218 bis 220) anregen, der R.
leider entgangen ist. In dem Kapitel 'Son tempeYament physique et mo-
rale' befremdet zuweilen die gleichwertige Behandlung der Zeugnisse;
mehr noch die Art, wie die Neigung und Fähigkeit, sich durch musi-
kalische Erlebnisse im tiefsten erschüttern zu lassen, mit Lenaus Schwäche
für physische Reizmittel, wie Kaffee und Tabak, in engstem Zusammen-
hang behandelt werden. R. hat das ungünstigste Urteil über Sophie
Löwenthal und ihren Einflufs auf Lenau. Er gibt die vorsichtig ab-
wägende Behandlung dieses Verhältnisses auf, die Minor mit Recht {An-
zeiger f. d. A. 1892) anwendet, betont auch nicht genug Lenaus Kampf
mit seiner Leidenschaft. Vor allem aber kann ich dem Urteil nicht bei-
stimmen, dafs Sophie ebenso unheilvoll auf Lenaus Kunst einwirkte, wie
sie zweifellos auf sein Leben gewirkt hat. Mag man R.s Urteil über 'Sa-
vonarola', über die 'Liebesklänge' unterschreiben — man darf die ebenfalls
an Sophie gerichteten Sonette 'Stimmen' (s. Mayer, Zeitschrift für österr.
Gymnasien 1898) nicht vergessen, die einen Höhepunkt in Lenaus Kunst
darstellen. Ebensowenig den Anteil, den die tiefe Erschütterung durch
diese Leidenschaft an dem neuen, durch die Philosophie nur befreiten
Daseinsgefühl der 'Waldlieder' hat. Nur auf Grund einer grofsen tra-
gischen Erfahrung war diese Auffassung des Lebens zu gewinnen. Nie
hätte er ohne seine Liebe zu Sophie den 'Don Juan' schreiben können.
Auf den inneren Anteil dieser Leidenschaft an der Entstehung des 'Don
Juan' hat Castle besonders hingewiesen. Hier gibt Lenau mehr als ein-
zelne Erschütterungen, Vibrationen der Seele. Er vermag hier das, was
R. bei ihm vermifst: seine persönlichen Leiden in einem grofsen Zusammen-
hang als etwas typisch Bedeutsames zu erfassen. Denn nicht so sehr
Don Juans Seele als die Gewalt und das Schrecknis der sinnlichen Liebe
überhaupt ist der Held dieser in ihren besten Partien lyrischen Dichtung.
Wenn schon Roustans Darstellung der österreichischen Literatur-
zustände den Vorwurf erfahren hat, zu sehr grau in grau zu malen, wenn
anderseits Walzel einen Hauptvorzug von Castles Biographie darin sieht,
dafs er in dem Eingangskapitel 'scharf umschreibt, welche Fülle von An-
regungen literarischer und künstlerischer Art sich am Anfange des neun-
zehnten Jahrhunderts in Wien und in Österreich zusammenfindet, An-
regungen, die der folgenden Blütezeit zur Begründung dienen', so werden
die Seiten, die R. den Wiener Literaturverhältnissen widmet, kaum der
Kritik der Spezialkenner entgehen. Man vermifst übrigens an dieser Stelle
im Literaturverzeichnis Minors Aufsatz 'Zur Bibliographie und Quellen-
kunde der österr. Lit.- Gesch.': Zeitschrift für österr. Gymnasien 188ti.
Die Art, wie Lenau philosophischen Einflüssen unterliegt; betrachtet
R. eingehend und mit Sorgfalt. Der Gedanke, dafs auch der philosophische
Gehalt des 'Cain' für die Entwickelung der Weltanschauung in Betracht
komme (S. '^12), ist zu beachten. Nicht tief genug scheint mir R. zu
graben bei der Behandlung des Problems, wie gerade Hegels System, das
doch den Rausch der logischen Fähigkeit darstellt, von Lenau, dem Im-
puls- und Stimmungsmenschen, den bisher alle intellektualistischen Philo-
sophien auf die Dauer abgestofsen hatten, so assimiliert werden konnte,
410 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
ja, vrie es ihm, als er schon der Zerstörung zueilte, noch eine Nachblüte
seiner Kunst schenkte. Das Zurückdrängen der 'freien Dichtungen' Le-
naus bei der Analyse seiner Lyrik hat doch manche Bedenken. Es steckt
so viel Lyrik in diesen episch und dramatisch verkleideten Dichtungen ;
namentlich für die lyrische Sprachkunst bieten sie sehr viel. Ferner hätte
zu dem von R. ausführlich behandelten Thema 'Verite* et podsie' doch
schliefslich auch die freie Umbildung des dem Dichter vorliegenden Stoffes
gehört, wenn auch das Resultat nur Material zur vergleichenden Ergänzung
der für das Verhalten des Lyrikers gefundenen Ergebnisse sein konnte.
Die Studien von Bolte, Prosch, Castle haben hier vorgearbeitet. Im Ka-
pitel 'Par la Nature ä l'absolu' bieten die ersten Seiten der Kritik man-
chen Angriffspunkt. Die Definition, die R. hier vom Impressionismus
gibt, ist unzureichend. Schon der technischen Behandlung wegen scheint
es mir übrigens unmöglich, die hier angeführten Gedichte Lenaus im-
pressionistisch zu nennen. Auch ist es nicht richtig, den 'Postillon' unter
die Gedichte zu rechnen, die Eindrücke flüchtig erhaschen, ohne dafs eine
tiefere Gefüblsauffassung die Wiedergabe der Eindrücke beseele. Er gibt
ein Urthema Lenaus: die geheimnisvolle Nähe von Tod und Leben in
Natur und Menschendasein mit elegisch gefühlvoller Betonung. Die
Wechselbeziehung zwischen Natur und Seele durchklingt das Gedicht, nur
leiser, diskreter als anderwärts. Dafs Lenau in dem Brief an Emilie Rein-
beck vom 8. Juni 1832 technische Versuche des modernen lyrischen Im-
pressionismus theoretisch vorausnimmt, hatte schon R. M. Meyer bemerkt
(Die deutsehe Literatur des 19. Jh., 1900, S. 8"6). Es bleibt ein Verdienst
R.s, sich an dem Problem 'Lenau und der Impressionismus' versucht zu
haben.
Zusammenfassend möchte ich sagen, dafs dieses Buch zwar infolge
einer gewissen Einseitigkeit des Kunstgeschmacks und zu scharfer An-
spannung mancher an sich richtiger Gedanken Lenaus Wesen nicht er-
schöpft, dafs es aber doch in sehr vielen Punkten, namentlich für den
Künstler Lenau aufschlufsreich ist, Vorzüge und Grenzen seiner Art
scharf umschreibt und, wenn auch oft zum Widerspruch, so doch jeden-
falls zum Nachdenken über die Lenauprobleme anregt.
Berlin. Helene Herrmann.
Tb.. Fontanes Briefe an seine Familie. XII, 316, 342 S. Berlin,
F. Fontane u. Co., 1905.
Diese Auswahl aus den zahllosen Familienbriefen des eifrigsten Brief -
Schreibers unter unseren neueren Schriftstellern und des am meisten lite-
rarischen unter unseren Briefschreibern ist von den Verwandten mit an-
erkennenswertem Absehen von persönlichen und familienhaften Rücksichten
veranstaltet. Für das Verständnis Fontanes ist sie daher unschätzbar,
aber auch für seine gesamte 'Umwelt' ; man könnte das Buch ruhig nach
dem Muster des Fontanischen über Scherenberg 'Theodor Fontane
und das literarische Berlin von 1852 — 1898' benennen. Und
wenn seine Bücher zuweilen wie eine blofse Sammlung von Briefen und
Gesprächen wirken, mutet umgekehrt diese Sammlung wie ein Roman an.
Mit der entscheidenden Reise nach England beginnt sie, und ein geist-
reicher Zufall läfst den Brief, den Fontane am Morgen seines Todes-
tages schrieb, mit den Worten beginnen : 'Dies sind nun also die letzten
Zeilen!'
Literarisch also sind die beiden Bände noch bedeutsamer als literar-
historisch: überquellend von Witz und Weisheit, feiner Beobachtung und
tiefsinniger Verallgemeinerung. Etwas Roman steckt in jedem Brief:
F. stilisiert immer, und vor allem sind'seine bitteren Klagen über Welt
und Leben ein wenig im Sinne der Goethischen Verse zu nehmen:
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 411
Zart Gedicht, wie Regenbogen,
Wird nur auf dunklem Grund gezogen;
Darum behagt dem Dichtergenie
Das Element der Melancholie.
Wir wollen übrigens den Ernst seiner jahrzehntelangen Verstimmung
nicht leugnen : bot doch die unglaubliche Verkennung seiner Bedeutung
Grund genug dazu, während er äufsere Bedrängnis leichter und zuweilen
fast leichtsinnig trug. Für die literarischen Zustände in jenem halben Jahr-
hundert sind diese Klagen auch nur zu bezeichnend; zieht man von seinen
Betrachtungen über Verleger, Publikum, Cliquen die stilistische Steige-
rung und die persönliche Vergröfserung ab, so bleibt genug übrig — um
unsere Zeit zu rechtfertigen !
Mit jenen beiden Kautelen sind auch die Uterarischen Urteile aufzu-
nehmen, um derentwillen wir ein Namenverzeichnis besonders lebhaft ver-
missen. Besonders wichtig ist der Wechsel der Stimmungen über W. Scott,
höchst charakteristisch die Stellung zu Zola. Über P. Heyse fällt manch
bezeichnendes Wort; an Spielhagen und Hopfen mifst F. sich selbst —
und sieht sich von anderen an Brachvogel gemessen I Freudige Zustim-
mung zu einem vergessenen Buch von Parisius beweist, wie eng F. mit
dem Altberliner Roman überhaupt zusammenhängt.
Erstaunlich ist die Sicherheit seiner Selbstkritik, besonders auch über
seine Gedichte. Aber über sein ganzes Wesen findet man Urteile von un-
beirrbarster Sachlichkeit; wir geben die Stellen nicht an, damit das ganze
Buch um so eifriger gelesen werde. Dann werden den Leser auch die
überraschendsten historischen Momentbilder belohnen!
Berlin. Richard M. Meyer.
The Dation's need. Chapters on education. Edited by Spenser Wil-
kinson. Westminster, Archibald Constable & Co., Ltd. 811 S. 8°.
Der Herausgeber dieser Sammlung von Aufsätzen verschiedener Ver-
fasser zum Thema der öffentlichen Erziehung hat sich sonst auf einem
anderen Gebiete bewegt, das offenbar auch das ihm selbst vertraute ist:
er behandelte in einer Reihe von zum Teil umfangreichen Büchern die
Fragen der englischen Landesverteidigung, die Reformbedürfnisse der
Armee und Verwandtes. Auch hier betrifft sein eigener, die ganze Samm-
lung abschliefsender Beitrag die allgemeine und die berufstechnische Aus-
bildung der Offiziere des Landheeres und darauf die der Marineoffiziere.
Aber er sucht die wahren nationalen Bedürfnisse nun in gröfserer Tiefe
und lälst zu diesem Zweck allerlei Stimmen laut werden über die ein-
zelnen Gebiete des Erziehungswesens und das, was zurzeit innerhalb der-
selben fehlt und was anzustreben wäre. Die so gewonnenen, dem ein-
leitenden Aufsatz folgenden Abschnitte sind überschrieben: The Elementary
School, by F. S. Marwin; Local and Central Government, their Relation
in Education, by Graham Wallas; Primary Education of Girls, by Cathe-
rine J. Dodd; Hygiene and Household Economics, by Alice Ravenhill;
Higher Education in France and Germany, by J. J. Findlay; The Seeon-
dary Day School, by J. J. Findlay; The public Schools by J. C. Tarver;
The Teaching of modern Languages, by K. Breul; Higher Education, by
H. J. Mackinder; The Nation's Servants, by Spenser Wilkinson.
Natürlich enthalten die Aufsätze nicht wenig Interessantes für nicht-
englische Pädagogen, die hier zum Teil den Widerklang von wohlver-
trauten Fragen und Problemen finden, aber ebenso auch für jeden, der
englisches Geistes- und Kulturleben kennen lernen will, und deshalb ist
des Buches in gegenwärtiger Zeitschrift zu gedenken. Dafs ein Abschnitt
dem Lehren und Lernen der neueren Sprachen gewidmet ist, dürfte wohl
412 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
auch mitsprechen, zumal derselbe gute Gedanken enthalt; doch braucht
gerade auf dieses besondere Thema hier nicht eingegangen zu werden, da
es unter uns so überreichlich erörtert worden ist. Nur eins sei aus dem
Aufsatz unseres Landsmannes Breul hervorgehoben, nämlich die den Eng-
ländern jetzt durchaus nicht gleichgültige Frage, ob der Unterricht in
lebenden Fremdsprachen für die Zukunft englischen Lehrern anzuvertrauen
sei oder Ausländern. Zunächst wird geantwortet: den Bestbefähigten,
gleichviel von welcher Nation, dann aber zugestanden, dafs den Unterricht
in den Händen von wohlausgebildeten Engländern zu sehen doch das
natürliche Programm der Zukunft bilde.
Aus den übrigen Abschnitten sei es gestattet, etwas ungesondert eine
Anzahl Punkte herauszuheben, die unsere Aufmerksamkeit zu verdienen
scheinen. Dazu gehört die rückhaltlos an mehreren Stellen ausgesprochene
Klage über langdauernde und noch nicht überwundene Rückständigkeit
des englischen Elementarschulunterrichts. Es fehle hier durchaus an
gröfseren Gesichtspunkten, an einer bestimmten Theorie des Lehrplans, an
gemütbildenden Elementen. Gut formuliert ist jedenfalls die Gegenüber-
stellung von formal und vital teaching und das Urteil: formal teaching
dulls feeling and deadens interest; vital teaching arouses interest, atvakens
sympathy and warms the heart. Auf die planlose und unzulängliche Unter-
richtsorganisation wird, wie bekanntlich gegenwärtig in England vielfach,
so auch hier die Schuld für ein gewisses Zurückbleiben Englands im
internationalen Wettbewerb geschoben. Spottend wird der 'narrotv ideals'
gedacht, von denen man sich beherrscht zeige, spottend z. B. auch des
unverhältnismäfsigen Enthusiasmus, mit dem man seinerzeit so inferiore
methodische Erfindungen wie die von Bell und Lancaster begrüfst habe.
Natürlich schweift der Blick der Verfasser unseres Buches zwischen-
durch immer wieder hinüber nach Deutschland, nach den Vereinigten
Staaten und auch nach Frankreich, nicht blofs in denjenigen Beiträgen,
die ausdrücklich dem Schulwesen dieser Länder gewidmet sind. Dabei
tritt denn der bekannte (in England besonders häufig zu beobachtende)
Zug hervor, dafs man, um die Landsleute aufzurütteln, die Verhältnisse
des Auslandes im schönsten Lichte sieht und in das schönste Licht setzt,
während eine objektive Beurteilung keinerlei solchen Wertkontrast ergeben
würde und in dem anderen Lande gleichzeitig Schmerzen genug gefühlt
werden. Richtig ist übrigens, dafs die ernste Pflege des Unterrichts- und
Bildungswesens in Deutschland eingesetzt hat mit der Zeit nationaler Er-
niedrigung und materieller Kümmerlichkeit, und dafs es England immer
zu gut gegangen ist, als dafs es sich in ähnlicher Weise hätte auf sich
selbst besinnen müssen. Ziemlich richtig mag auch sein, was von der
Überlegenheit französischer Lehrer an höheren Schulen über englische in
Beziehung auf Bildung und Können angedeutet wird, wenigstens wenn
man an die Kunst schöner zusammenhängender Rede und feinsinniger
Analyse denkt. Und nicht unrichtig ist die Gegenüberstellung des eng-
lischen Schulzöglings und des deutschen, wo es vom ersteren heifst: The
English boy does not love books or lessons nor do his parents set him the
example. The English boy and young man is the outcome of a nation in
easy circumstances — he doesn't worry! His parents do not mind much
if he has an easy Urne in his boyhood — 'let htm run wild while he is
young.' Auch das kann man nach eigener Beobachtung unterschreiben :
when once the young Englishman takes to his life's business con amore, he
displays a freshness and rigour ^l^hich is seldom witnessed in the plodding
young Germern. Nur dafs dabei, wie fast immer bei solchen Gelegenheiten,
die Zahmheit und der subalterne Gehorsam und die unentwegt 2 willige
Büffelei des deutschen Gymnasiasten denn* doch sehr übertrieben wird.
Aber man mufs sich eben immer irgendwie 'dafür 'schadlos' halten, wenn
man dem Ausland das Zugeständnis eines Vorzugs gemacht hat! Und
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 413
im Grunde ist dagegen nicht einmal viel einzuwenden. Ganz mit Recht
wird denn auch an einer anderen Stelle der Wert des Ideals, und zwar
des verwirklichten Ideals gerühmt, das in Begriff und Erscheinung des
yentleman als Produkt englischer Erziehung vorhege. Aber sehr weise
wird hinzugefügt, wie dieses Bildungsergebnis doch an sich und für die
Zukunft keineswegs genüge.
Im ganzen wird wieder und wieder als ein englischer Nationalmangel
die viel zu geringe Schätzung der Bildung als solcher, der fehlende 'Glaube
an Bildung' oder an ihren Wert beklagt, wozu es denn z. B. auch gehört
und pafst, dals der zu geistigem Arbeiten sich nicht bequemende Knabe
und Jüngling von der Familie durchaus in Ruhe gelassen wird. Es wird
aber auch auf die viel gröfsere Zahl der wirklich gebildeten und dabei
einfach lebenden Familien in Deutschland mit einer gewissen Beschämung
hinübergeblickt, wenigstens wird das Urteil des trefflichen M. E. Sadler
darüber mit Beifall zitiert ; und diese Anerkennung dürfen wir uns getrost
gefallen lassen: man vergleiche nur in einem deutschen und in einem eng-
lischen Theater einerseits die Zahl der elegant Gekleideten und anderseits
die der in gebildeter Weise Teilnehmenden! Dafs die vielgerühmte Frei-
heit des englischen boy zum Arbeiten oder Nichtarbeiten vielfach auch in
eine Gleichgültigkeit der Männer gegenüber idealen Interessen auslaufe,
dieses hier anzutreffende Urteil wird man noch nicht leicht gehört haben ;
ihm beizustimmen oder es zu bezweifeln ist nicht unsere Sache. Ebenso
mag die hier wiederholt auftauchende Klage über einen starken Rückgang
wertvollen Familienlebens für uns zwar von Interesse sein, darf uns aber
nicht zu rasch zum Übernehmen und zu etwaigem Nachsprechen ver-
anlassen.
Und auch an den vornehmen Mittelschulen, den berühmten und den
kaum berühmten public schools, wird ziemlich schwere Kritik unter mehr
als einem Gesichtspunkt geübt, dabei auch Klagen geäufsert, die mit den
gerade auch bei uns verbreiteten Anschauungen von dem Leben dieser
Schulen gar nicht zusammenstimmen. Dals ihre Kostspieligkeit und
namentlich auch die Kostspieligkeit der vorbereitenden Abteilungen (pre-
paratory schools, in welche die Knaben mit zehn Jahren eintreten) als ein
nationaler Übelstand betrachtet wird, kann zwar nicht sehr überraschen,
aber es wird auch über unnötige Entfernung und Entfremdung vom Fa-
milienleben geklagt, und anderseits wiederum wird bedauert, dafs die Angst
der zärtlichen Mütter vor dem bullying durch die Mitschüler und vor der
sonstigen Rauheit des Schullebens auf dessen Gestaltung gegenwärtig ver-
weichlichend einwirke. Man rühmte sonst immer das Gegenteil.
Und so sind es auch auf anderen Gebieten Verhältnisse, die wir
Deutschen sonst als uns eigentümlich betrachteten, und die hier aus-
drücklich auch für das England der Gegenwart festgestellt und angefochten
werden. So eine philologische Kleinmeisterei beim muttersprachlichen
Unterricht, so eine verspätete Differenzierung der Studien in den höheren
Schulen (während für den jungen Menschen von sechzehn Jahren auf-
wärts das Bedürfnis einer gewissen Wahl anerkannt und berücksichtigt
werden mülste), so ferner ein zu geringes Interesse der meisten Lehrer
für die Fragen der Hygiene, weiter die zu grofse Ermüdung der Lehrer,
die mehr freie Zeit zu eigenen Studien übrigbehalten müfsten, und end-
lich auch die nicht wirklich ausreichenden Besoldungen.
Wie sehr die englischen Universitäten sich von den deutschen unter-
scheiden, weifs jedermann; dafs sie in wichtigen Punkten sich auch sehr
günstig von ihnen unterscheiden, leugnet wahrscheinlich nur der Un-
wissende. Aber wie auch für die Universitätsstudien die Zielsetzung doch
ins Schwanken gekommen ist oder vielmehr ein Kampf um dieselbe im
Lande sich abspielt, kommt in unserem Buche zu deutlicher Darstellung.
An die Namen Newman und Huxley knüpft sich die Vorstellung der
414 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
gegenüberstehenden Prinzipien. Nach dem ersteren soll wesentliches Ziel
der Universitätszeit die Charakterbildung bleiben, nach dem letzteren die
Befähigung für wissenschaftliche Arbeit {the power of winning new know-
ledge). Dafs die Verbindung beider Ziele das Wünschenswerteste sei, ver-
steht sich für den Verfasser von selbst und ebensowohl für verständige
Leser — nur dafs, wenn man von Verbindung oder Vermittelung ent-
gegenstehender Aufgaben spricht, die Majorität alsbald über Halbheit,
Unklarheit oder gar Charakterschwäche zu schreien pflegt.
Im Vermitteln zwischen den Gegensätzen müssen übrigens gegen-
wärtig, wie es scheint, alle englischen Schriftsteller über das nationale Er-
ziehungswesen sich versuchen, wenn sie die Frage berühren, ob nicht eine
zentrale Autorität auch in England sich unentbehrlich erweise. Recht zu
bejahen wagt es bis jetzt niemand, um nicht den individualistischen Nei-
gungen seiner Laudsleute vor den Kopf zu stofsen und darüber selbst
niedergetrampelt zu werden. Zentralisation, bestimmende Vollmacht für
Regierungsbehörden — das sind dort im Lande höchst anstöfsige Begriffe ;
aber man seufzt doch und leidet unter der Zerfahrenheit, Willkür oder
Ziellosigkeit auf diesem Gebiete, wie neben so manchem anderen auch das
gegenwärtige Buch wieder beweist. Ja, wenn wir doch alles gute Eng-
lische und alles gute Deutsche mit einander vermählen könnten und in
diesem Sinne 'das Böse überwinden durch das Gute!' Aber dergleichen
kann nur Gedanke der Denkenden sein, es wird niemals der Wille und
die Leistung der Gesamtheit werden.
Berlin. W. Münch.
The making of English. By Henry Bradley, Hon. M. A. Oxon., Hon.
Ph. D. Heidelberg, sometime President of the Philological Society.
London, Macmillan and Co., 1904. VIII, 245 S. 4 s. 6 d.
Schon lange nicht ist mir ein Buch in die Hände gekommen, das ich
mit solchem Vergnügen gelesen habe wie dieses. Es sucht die Grundzüge
der englischen Sprachentwicklung für die weiteren Kreise der Gebildeten
darzustellen. Vom Altenglischen ausgehend, von dessen Sprachbau Brad-
ley durch Verweise auf das Neuhochdeutsche eine ungefähre Vorstellung
gibt, führt er den Verfall der alten Flexionssysteme, das Aufkommen
neuer Hilfsmittel zum Ausdruck grammatischer Beziehungen, die Verände-
rungen des Wortschatzes durch Entlehnung und Neubildung, die Arten
des Bedeutungswandels und schliefslich im Anhang einige 'makers of
English' dem Leser vor. Das sind fast alles Gegenstände, die schon viel-
fach behandelt worden sind, auch für weitere Kreise. Der besondere Reiz,
der dieser Darstellung eigen ist, rührt einmal daher, dafs Bradley aus
gründlichster Sachkenntnis schöpft, sorgfältig und verständnisvoll aus
dem grofsen Stoff das Treffendste und Anschaulichste auszuwählen weifs
und alles, was er sagt, anziehend zu sagen versteht. Er ist nicht blofs
ein bedeutender Gelehrter, sondern auch ein vorzüglicher Stilist, dessen
klare, ebenmäfsige und dabei belebte Darstellung auch dem schon Be-
kannten, ja oft Gesagten ein neues, gefälliges Kleid verleiht. Ferner aber
will Bradley nicht blofs über Tatsachen berichten, nicht blofs die Ver-
änderungen der Sprache und deren Ursachen darlegen, sondern auch ab-
schätzen, wie weit diese Veränderungen der englischen Sprache als Werk-
zeug des Gedanken- und Gefühlsausdruckes zum Vorteil oder zum Schaden
gereicht haben (S. 14). Dabei nun tritt ein feines Empfinden für sprach-
liche Wirkungen zutage und eine Objektivität, die sehr wohltuend von
der vielfach üblichen, einseitigen Verherrlichung des Englischen absticht.
Dies zeigt sich gleich bei Besprechung eines der charakteristischsten
Züge der englischen Spracheutwicklung, der Beseitigung der Flexions-
endungen. Bradley sieht darin natürlich nicht, wie die ältere Sprach-
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 415
forschung zu tun geneigt war, einen Verfall der Sprache überhaupt, son-
dern weifs die Vorteile des analytischen Sprachbaues sehr wohl zu wür-
digen. Er prägt dafür einige glückliche Wendungen, die verdienen, be-
sonders angeführt zu werden. Die Grammatik des Neuenglischen, sagt
er S. 77, 'does not, as it does in purely inflexional languages, obtrude
itself on tbe attention where it is not wanted'. Die Sprache habe den
eigenartigen Vorteil einer 'noiseless grammatical machinery' (eb.). Aber
auf der anderen Seite übersieht er nicht die Nachteile dieser Entwicklung
und macht Aufserungen, die ein Ausländer nicht wagen dürfte, ohne
von den meisten Engländern scharfe Zurückweisung zu erfahren, die
allerdings auch eine so intime Sprachkenntnis voraussetzen, dafs sie nur
im Munde eines Engländers als vollwertig erscheinen dürften. Bradley
gesteht, dafs der englisch Schreibende oft besondere Sorgfalt darauf ver-
wenden mufs, um nicht in Zweideutigkeiten zu verfallen, weil vielfach
Nomen und Verbum und bei diesem wieder der Infinitiv und die meisten
Präsensformen äufserlich nicht geschieden sind. Häufig müsse der Un-
geübte einen Satz, der seinen Gedanken genau wiedergibt, ändern, um
dieser Gefahr zu entgehen. Diese wachse bei der Verwendung von In-
versionen, die, geschickt verwendet, die Kraft und Schönheit des Aus-
druckes so sehr steigern: dann könne leicht Subjekt und Objekt ver-
wechselt werden. Besonders bemerkenswert ist aber das Geständnis, dafs
auch für die Engländer vieles in ihrer Poesie beim ersten Lesen dunkel
ist, weil die Dichter durch den Bau ihrer Sprache gezwungen waren, ent-
weder auf Durchsichtigkeit oder auf Nachdruck und Schönheit zu ver-
zichten. Viele derartige Stellen würden aber vollkommen deutlich, wenn
man sie wörtlich ins Lateinische oder Deutsche übersetze (S. 75). Solche
freimütige Aufserungen sind an sich erfreulich und wissenschaftlich von
hohem Wert, weil sie eine Charakteristik des tatsächlichen Sprachzustandes
enthalten. Sie zeigen ganz schlagend, dafs Jespersen, obwohl von einem
sehr richtigen Grundgedanken ausgehend, in seiner Verherrlichung des
analytischen Sprachbaues doch etwas zu weit gegangen ist ('Progress in
Language', London 1894).
Auch den ungeheuren Wortschatz des Englischen weifs Bradley ruhig
und unbefangen zu würdigen. Er hebt seinen Umfang gebührend hervor,
aber er behält dabei im Auge, dafs nicht ein Viertel der Wörter, die in
den Wörterbüchern stehen, der grofsen Masse gebildeter Leser wirklich
geläufig sind ('really familiär', S. 105).
Dafs alles, was Bradley sagt, wissenschaftlich gut fundiert ist, ver-
steht sich von selbst. Nur einigen allgemeinen Ausführungen mufs ich
die lebhaftesten Zweifel entgegensetzen. Wir finden hier die seit Grimm
öfter ausgesprochene Ansicht wieder, dafs die rasche Vereinfachung der
ursprünglichen Flexion mit der in England eingetretenen Rassenmischung
zusammenhänge: Bradley will in ihr wenigstens eine Ursache sehen und
bildet freilich diese Lehre etwas feiner aus (S. 25 ff.). Er weist darauf
hin, dafs für den praktischen Sprachgebrauch im Alltagsleben vielfach die
Wortstämme genügen, wie etwa Engländer in Deutschland leben und gut
durchkommen, ohne sich viel um die Endungen. der Adjektiv- und Sub-
stantivfiexion und des Artikels zu kümmern. Ahnlich ungefähr hätten
sich die Stämme, welche in England nach den Angelsachsen eindrangen,
namentlich die Dänen, den Einheimischen gegenüber verhalten; diese hätten
zunächst im Gespräch mit ihnen den Gebrauch jener Endungen, die den
Fremdlingen schwer fielen, vermieden, und schüefslich sei dieser Brauch
verallgemeinert worden. An einen solchen Vorgang vermag ich nicht zu
glauben, solange nicht aus der Gegenwart sichere Parallelen beigebracht
werden. In Österreich gibt es viele Gegenden, wo Deutsche und Slawen
nebeneinander wohnen und letztere das Deutsch nur radebrechen: von
einem Einflufs dieser Redeweise auf die Formenlehre der betreffenden
41 (J Beurteilungen und kurze Anzeigen.
deutschen Dialekte ist aber nichts bekannt. Auch an das Pidgin-Englisch
darf mau nicht etwa denken : bei ihm handelt es sich um lautliche Ver-
änderungen und Wiedergabe einer fremden inneren Sprachform durch eng-
lisches Wortmaterial, keine Vereinfachung der Formenlehre in dem Sinne,
wie sie sich im 11. und 12. Jahrhundert vollzieht. Eher scheinen sich ja
bei Rassenmischung lautliche Tendenzen zu übertragen und eine neue
Färbung der Lautgebung hervorzurufen, wie man abermals beim Zusam-
mentreffen von Deutschen und Slawen beobachten kann.
Dazu kommt noch eine Erwägung. Es ist eine bekannte Tatsache,
dafs die Kinder von Eingewanderten immer der ortsüblichen Sprechweise
zustreben, keineswegs der ihrer Eltern, und sich jene in der Regel voll-
kommen aneignen. In Wien leben viele zugewanderte Tschechen, die mit
der deutschen Formenlehre und Syntax auf dem gespanntesten Fufse
stehen; ihre Kinder dagegen sprechen, wenn sie nicht etwa künstlich von
der Berührung mit Einheimischen ferngehalten werden, den reinsten Wie-
ner Dialekt. Auch die in England geborenen Nachkommen der eingewan-
derten Dänen werden, sobald sie als Kinder überhaupt Englisch lernten,
sich dieselbe Sprechweise wie die einheimischen Kinder angeeignet und
keineswegs ihre radebrechenden Eltern nachgeahmt haben. Allerdings
lagen die Verhältnisse in England insofern anders, als die Dänen vielfach
die herrschenden Kreise bildeten und manche Angelsachsen, wie uns aus-
drücklich bezeugt ist, sie in Sitten und Gebräuchen nachahmten. Dies
mag sich sehr wohl auf die Sprechweise ausgedehnt haben, so dafs ein-
zelne Angelsachsen in der Tat das Radebrechen der Dänen übernahmen.
Ob aber ihre Anzahl und ihre Bedeutung grofs genug war, um die Masse
der Einheimischen in ihrer Sprechweise dauernd zu beeinflussen, scheint
mir doch sehr zweifelhaft. Und wenn Bradley darauf hinweist, dafs gerade
in den von Dänen besiedelten Gebieten die Formenabschleifung am rasche-
sten sich vollzieht, so ist zu erwidern, dafs schon vor der Zeit der Dänen-
niederlassungen die anglischen Dialekte eine stärkere Auflösung der alten
Formensysteme aufweisen als das Westsächsische und Kentische und da-
durch die mittelenglischen Verhältnisse hinreichend erklärt sind.
Auf der anderen Seite ist auch zu erwägen, dafs das Niederdeutsche,
speziell das Friesische, in bezug auf Formenabschleifung dem Englischen
sehr nahe kommt, während die Träger dieser Dialekte am allerwenigsten
Rassenmischung durchgemacht haben. Wir haben also gar keinen Anlafs,
diesen Erklärungsgrund fürs Englische heranzuziehen. Schließlich sei
noch auf die diese Frage berührenden Darlegungen Hempls ! und Jesper-
sens2 verwiesen, welche ebenfalls nicht zugunsten Bradleys sprechen.
Wie zwei Sprachen aufeinander wirken, denkt er sich ferner aber
auch das Verhältnis zwischen zwei verschiedenen Dialekten derselben
Sprache, die in der Flexion nicht übereinstimmen. Im Verkehr mit einem
Vertreter des anderen Dialektes sei beim Sprechenden ein gewisses Zögern,
eine Unsicherheit bezügüch der Endungen entstanden, und das habe zu
undeutlicher Aussprache und schliefslich zum völligen Abfall geführt
(S 28). Hier gelten dieselben Einwände wie früher in noch höherem
Mafse. Ein solcher Vorgang setzt übrigens eine Überlegung oder doch
eine Feinfühligkeit und Rücksichtnahme auf Seiten des Sprechenden vor-
aus, die nur einzelnen eigen, und die im Verkehr mit Laudsleuten am
seltensten sein wird. Wieder möchte man Beispiele aus der Gegenwart
sehen: ich glaube, es werden sich keine finden.
Von Einzelheiten sei erwähnt, dafs Bradley öfter die 'leichtere' Aus-
sprache als Erklärungsgrund für das Siegen oder Beharren gewisser For-
men heranzieht (S. 51 ff.). Leicht ist aber dem Sprechenden immer das
1 Transactions of the American Philological Association XXIX (1898) 31 ff.
8 Engl. Studien XXXV (1905) 12 ff.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 417
Gewohnte, schwer das Ungewohnte (Sievers, Phon.5 § 726). Dagegen wird
in den von Bradley angeführten Fällen die Kürze das Ausschlaggebende
gewesen sein. Vermifst habe ich einige Worte über das Aufkommen der
Dativumschreibung mit to, nachdem die Genetivbildung mit of behandelt
worden ist (S. 59). Bei der Besprechung des attributiven Gebrauches des
Substantivs hätte der 'level stress' mit Nutzen herangezogen werden kön-
nen (S. 64). Alum (S. 81) gehört, wenigstens nach dem Material des
NED. und unserer anderen Behelfe, nicht zu den Lehnwörtern, die die
Angelsachsen schon vom Kontinent mitbrachten. Hat etwa Bradley noch
nicht bekannte Belege für das Gegenteil?
Das Buch ist sicherlich geeignet, allgemein Gebildete für die Ge-
schichte des Englischen zu interessieren. Aber auch der Fachmann wird
daraus mancherlei Anregung schöpfen, insbesondere aber der Studierende
eine vorzügliche Übersicht über die Grundtatsachen der englischen Sprach-
entwicklung und viele ihrer Probleme gewinnen. Für uns Nichtengländer
werden namentlich auch die vielen feinsinnigen Bemerkungen im Kapitel
über Bedeutungswandel förderlich sein. Feines Sprachgefühl und um-
fassende Sprachkenntnis äufsert sich ferner in den Bemerkungen über die
Leistungen der einzelnen Autoren für die Sprachentwicklung (S. 215 ff.)
oder auch in denjenigen über ihr Verhalten gegenüber Kompositionen
(S. 126 ff.). Wir können uns freuen, ein so ausgezeichnetes Büchlein zu
besitzen.
Graz. K. Luick.
Moritz Trautmann, Das Beowulflied, als Anhang das Finn- Bruch-
stück und die Waldhere - Bruchstücke, bearbeiteter Text und deutsche
Übersetzung (Bonner Beiträge zur Anglistik, Heft XVI). Bonn 1904.
Diese Beowulfausgabe verdankt ihre Entstehung der Überzeugung des
Verfassers (Vorw. S. V), dafs 'die Handschrift von groben Schreibfehlern
wimmelt und sich schon dadurch als unzuverlässig erweist. Doch,' heilst
es weiter, 'auch an sehr vielen Stellen, an denen die Fehler nicht sofort
in die Augen springen, ist der Text ohne Zweifel verderbt. Der Beowulf
ist ein klassisches Werk, ein Gipfel der Kunst seiner Art; daher sind wir,
wo wir auf schiefen Ausdruck, Unklarheit des Gedankens, Widersprüche,
stilwidrige Wendungen, unbelegbare Satzfügungen stofsen, berechtigt und
verpflichtet, fehlerhafte Überlieferung zu vermuten und auf Besserung zu
denken.'
Man kann über die Prämisse dieser Thesen verschiedener Ansicht sein.
'Gipfel der Kunst seiner Art' ist auf alle Fälle ein vergleichender
Ausdruck. Und wo sind die verglichenen Objekte? — 'Ein klassisches
Werk?' Soll das heifsen: ein in sich vollendetes Werk? Dann dürfen
wir das Wort auf den kompositionell so schwachen Beowulf gewifs nicht
anwenden. Aber dem sei, wie ihm wolle. 'Widersprüche, stilwidrige Wen-
dungen' etc. dürfen wir gewifs verbessern. Es müssen nur Widersprüche
und stilwidrige Wendungen sein. Denn dafür gilt das Wort ten Brinks:
'Es kommt nicht darauf an, auf die bequemste Art und Weise einen les-
baren Text herzustellen, sondern vor allem darauf, der Überlieferung einen
Sinn abzugewinnen und in den Prozefs ihrer Entstehung einzudringen.'
Dafs Trautmann das nicht für nötig hält, darüber hat Sievers, Beitr. 29,
S. 307 ff., schon ein Urteil gefällt, das der Sache nach wohl nirgends auf
Widerspruch stofsen wird. Dafür bietet nun auch diese neue Ausgabe
Beispiele über Beispiele. Warum 'hiefse es den Dichter beleidigen, wenn
man annehmen wollte, dafs so törichte Einschiebsel wie ecg wces Iren von
ihm selber herrührten'? Strotzt nicht z. B. auch das Nibelungenlied von
Parenthesen, wo man es aufschlägt, wie V. 621, 782, 1437, 1501, 1503,
1625, 1873, von denen manche nicht geistreicher sind als die obige? Von
Archiv i. n. Sprachen. CXV. 27
418 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
anderen mhd. Gedichten gar nicht zu reden, wie König Rother (vergl.
J. Wiegand, Stilistische Untersuchungen zum König Rother, Marburg 19U4,
B. 4 Ü'.). Zu welch arger Mifshandlung des Textes Trautmanns Ver-
nichtungskampf gegen die Parenthesen führt, dafür gewährt V. 1509 (he
Jxrs1 modig was) ein gutes Beispiel. Hier wird verändert in: Swa he
ne mihte no, he, pmm mynle wces, 'er, dem Verlangen war'. Eine
solche Konstruktion, Wiederaufnahme des Subjekts durch das Pronomen
zwecks Anhängung eines Relativsatzes, ist für den Beowulf ganz unerhört
(vgl. meine 'Satzverknüpfung im Beowulf § 24—28), und ich zweifle, ob
Trautmann in den noch versprochenen Erläuterungen dazu wird Parallelen
beibringen können. Ebenso geht es mit der Ersetzung einzelner Worte
durch andere. Warum wird V. 275 dced-hata durch dead-seada ersetzt?
Wir haben dced-beta, dced-bana, dced-scua, und das Wort gibt vortrefflichen
Sinn. Warum ist V. 276 purh egsan verbessert in cefstu? Man könnte
auf den Gedanken kommen, Trautmann übersähe, dafs purh auch zum
Ausdruck der 'accompanying circumstances of an action' (Bosworth-Toller
S. 1078) dient, wie Seefahrer 88 u. ö. Oder warum wird wcepnum ge-
ivurdad 31 in bewcedad umgeändert? Exod. 580 gab ja die schönste Pa-
rallele an die Hand ! Warum wird das Wort dol-sceaäan V. 479 entfernt ?
Ist es etwa nicht genügend belegt? (vergl. B.-T. 206, 207). Ebenso liegt
auf der Welt kein Grund vor, sundor-nytte V. 667 zu entfernen, wir haben
ja entsprechendes sundor-gecynd, sundor-gifu, sundor-ivundor. V. 711 wird
uns von Grendel gesagt: godes yrre beer. Das ist ohne weiteres verständ-
lich und wäre es auch, wenn wir die Parallelen Genes. 695 und Phon. 408
nicht hätten. Denn Grendel wird immer unter dem Bilde des Teufels
angeschaut, weswegen auch Trautmann V. 101 on helle nicht in on healle
zu verändern braucht, godes ondsaca heifst er V. 1682. Also liegt nicht
die leiseste Veranlassung vor, godes yrre in gud-yrre zu ändern. Das-
selbe gilt von deofla 756 (Tr. deop). Wozu wird V. 323 furdum in
furdur verändert, wenn es V. 2009 stehen bleibt? Vgl. auch ein ge-
legentliches Ic furdum ongan ■= I first began im Gudlac. Warum on-
breed pa V. 723 in onbreedde verändert wird, ist nicht einzusehen, vgl.
V. 1664. Aber es ist eine undankbare Arbeit, alle diese Fälle aufzufüh-
ren. Auffallend sind auch gelegentlich die Inkonsequenzen des Heraus-
gebers. V. 126U wird hinter Orendles modor statt se pe die Form seo pe
eingesetzt, aber V. 1392 und 1394 steht ganz munter wieder he. Un-
begreiflich ist auch die Nichtachtung der übrigen Beowulf-Literatur durch
den Herausgeber. Dals zu V. 31 Kocks Auffassung (Anglia 27, S. 222) nicht
angegeben, liegt wohl an dem ungefähr gleichzeitigen. Erscheinen.2 Aber
man kann nicht mehr gut V. 68 he einsetzen, wenn man Pogatschers Auf-
satz, Anglia 23, 261 ff., gelesen hat. Wie man noch an dem ponne V. 70
Anstofs nehmen kann, wenn man die Beispiele in Cosijns Aanteekeningen
für diesen Gebrauch gesehen hat, begreife ich ebensowenig. Ist Traut-
mann ferner die Bedeutung von pa =. 'weil' ungeläufig, dafs er 201 pa
in pe ändert? Nach Neckeis 'altgermanischen Relativsätzen' wird man
auch V. 100U kaum mehr für pe das Wort pa einsetzen und das peer
V. 286 nicht mit 'wo er' wiedergeben. Nach dem eben angeführten Aufsatz
von Pogatscher wird man auch gut tun, 1291 pa hine wiederherzustellen
und nicht pe (hine) lesen. Das, was Trautmann selbst BBzA. II, S. 169
über peet V. 22 bemerkt hatte und was von Kock in den English Ret.
Pron., Lund 1897, in einen gröfseren Zusammenhang eingestellt war —
1 pmm MS für pas erklärt sich aus irrtümlicher Vorwegnahme des folgenden m.
2 Das von mir ('Salzverknüpfung' § 37 A Anm. 1) geltend gemachte metrische
Bedenken sei hiermit als ein Versehen beim eiligen Einsetzen der Korrekturnote
berichtigt.
Beurteilungen und kurze Anzeigen 419
vgl. auch 'Satxverknüpfung' S. 132 — hat er nun mittlerweile glücklich
wieder umgestofsen. V. 649 odde in ond pa zu verwandeln, heifst der Be-
deutung von oääe, wie sie Bugge festgestellt „hat, einfach nicht gerecht
werden (vergl. 'Satxverknüpfung' § 48). Die Änderung von pcer in pcet
V. 852 rechnet nicht damit, dafs pcer auch = 'als' sein kann. (Ebendort
S. 55.) V. 1247 ist Trautmann wohl die Bedeutung von oft — as a rule
nicht gegenwärtig (vgl. Kock a. a. O., schon Heyne-Socin zu oft V. 1248
und .1888). Ebenso das von Cosijn erschlossene 'denn' für ae V. 1576.
Die Änderung in 'swa' ist hier gänzlich unnötig. V. 617 verändert Traut-
mann blidne in blidsan, aber ausgelassenes wesan finden wir häufig (vgl.
V. 2661, 1858, 1785, 2363). — Das sind nur ganz wenige von den vielen
Fällen. Im ganzen kann man sagen, dafs die neueren Emendationen bei
Trautmann ganz unberücksichtigt geblieben sind. Schlimmer schon sind
nun die Fälle, in denen die 'Besserung' Fehler enthält. Wenn in para
pe das para V. 98 gestrichen wird, so ist das ein Verstofs gegen den
Beowulfgebrauch, in dem auf gehwjle immer para pe folgt (vgl. 'Satx-
verknüpfung' § 27, einmal swa). Durch die Besserung V. 62 wird ein ein-
gegliederter otf-Satz herausgebracht. Eingegliederte od-pcet-S&tze kommen
sonst im Beowulf nicht vor, einfache od- Sätze gleichfalls nicht (S.-V.
§ 7). Das broc statt bot V. 281 ist wohl in broc zu ändern. Ich be-
zweifle auch die Möglichkeit des Ersatzes der alten Grundtwigschen
Fassung: for were — fyhtum pu ... Beowulf . . . usic sohtest durch das
Trautmannsche: For gewyrhtum . . ., gewyrht ist ein spezifisch christliches
Wort, mit dem auch fast immer der Begriff des Präteritalen verknüpft ist,
es wird fast stets von den (guten) 'Werken' gebraucht. Sicher ist die
Änderung hleoäor V. 4^7 für hador falsch. Trautmann übersetzt: 'Ein
Spielmann sang zuweilen ein Lied in Heorot'. Aber hleoäor heifst nicht
'Lied'. In Trautmanns eigenen BBxA. IV gibt Padelford dafür: melody,
musie, tone (voice, sound, noise). Auf sonitus weisen auch die germanischen
Verwandten des Wortes. Am nächsten kommt Widsid 105 der Bedeu-
tung 'Lied', aber die anderen Fälle zeigen auch hier die eigentliche Bedeu-
tung ganz klar. Dem gegenüber ist hador ganz ohne Einwand (vgl. Elene
748 u. ö.). ah 587 kommt sonst im Beowulf nicht vor. Für die Wort-
stellung alter gum-eynnum gyfheogyt lyfad V. 944 würde Trautmann gut-
tun, einige Parallelen beizubringen. Der Vorschlag 'ond statt acV V. 1448
erledigt sich durch das S.-V. S. 92, Z. 3 v. u. bemerkte. V. 1537 ist statt
eaxle Riegers Änderung feaoce aufgenommen. Aber jemanden an den Haaren
schwingen, dafs er zu Boden fällt? Da eignet sich doch wohl die Achsel
zum Ringen besser. — Manchmal schläft freilich auch der gute Homer,
aber die Sentenz V. 2029 Deah seldan wcer cefter leod-hryre 'ein Friede-
vertrag taugt selten nach Menschenfall' ist doch wohl zu albern, als dafs
wir sie dem Beowulf zutrauen könnten. Gibt es auch in jener Zeit einen
Friedensvertrag ohne 'Menschenfali'? Zu dem Vorschlag seo pe pone
gomelan V. 2421 ist zu bemerken, dafs im Beowulf niemals eine Form
von se pe mit einer Form von se unmittelbar zusammentritt, diese Wort-
folge vielmehr offenbar gemieden wird (einmal tritt sepe und pes zu-
sammen in V. 2252, parape pis lif ofgeaf). Ich glaube, den Euphuismus
feoht-leas gefeoht 'kampfloser Kampf trauen wir dem Angelsachsen besser
nicht zu, V. 2441. Die Besserung V. -777 bill cefter gestread wird schon
durch die Erzählung selbst als unrichtig dargetan. V. 280U ist nuna
eine sonst dem Beowulf unbekannte Form. Zu dem Vorschlag 'nu statt
ac' V. 2850 ist zu beachten, dafs nu im Beowulf noch ausschliefst ich
in der Rede erscheint im direkten Bezug auf die Gegenwart (vgl. S.-V.
§ 2). Warum die Lesart ymb wean sprecan V. 3172 (statt ymb teer spre-
ean) nicht richtig sein kann, dafür hoffe ich die Gründe in einem in Vor-
bereitung befindlichen Aufsatz über das angelsächsische Totenklagelied
darzutun. Ebendort hoffe ich das 'ridend swefad' von V. 2457 zu erklären,
27*
420 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
für das Trautmann redende swefeä einsetzt. Bei V. 2215 ist freilich der
Text arg zerstört, aber darin stimmen doch alle Berichte über die Hs.
überein, dafs man noch ein d sehen kann (vergl. Heyne-Socin,7 S. 107).
Trautmanns Emendation der Stelle kümmert sich nicht darum.
Mit der Aufführung dieser Tatsachen, die nur ein kleiner Bruchteil,
vielleicht kaum ein Zehntel der Fälle sind, die angeführt werden könnten,
mufs ich befürchten, von Trautmann in die Klasse derer eingereiht zu
werden, die 'mit gänzlicher, textkritischer Unfruchtbarkeit geschlagen'
sind, wobei ich mich denn wenigstens in ganz guter Gesellschaft befinde.
Auch der Hinweis auf einige von mir in der 'Satzverknüpfung' versuchte
Besserungsvorschläge würde mir da wohl wenig helfen. Nun ist es ja
aber freilich nicht zu leugnen, dafs im Beowulf eine ganze Reihe Stellen
anders zu lesen oder zu übersetzen sind. Das wiht unhcelo bei Socin V. 120
ist z. B. offenbar falsch mit 'Dämon des Verderbens' als Subjekt des
folgenden Satzes gefafst. Aber für Trautmanns Fassung : Wiht onhcele
scheint mir noch weniger zu sprechen (= der unheimliche Wicht). Wiht
wird überhaupt von Grendel nie gebraucht. Man hat offenbar das Ganze
als Variation zu sorge zu ziehen, = 'irgendein Unheil'. So liest,
wie ich nachträglich sehe, schon Bosworth- Toller 1118 und gibt eine
Fülle Beispiele für wiht mit Genit. Der nach Sievers 'allein möglichen
Übersetzung' von his myne 169 scheint mir doch die von Bosworth-
Toller: his purpose vorzuziehen. Kaum diskutabel dünkt mich aber
V. 513 wehton statt ßehton. Das letztere ist anschaulicher, das erstere
scheint mir dem ags. Sprachgebrauch zu widersprechen, der weccan =
agitare, movere nur gebraucht, wo das Bild wirklich am Platze ist, von
Regenschauer, Sturm, Wind usw. Trautmanns Auffassung von V. 068
eoton weard abad ist vielleicht die einfachste Lösung der Schwierigkeit.
Seine Besserung des vielbesprochenen here-wcesmun 677 in here-wcepnum
ist dagegen nur möglich, wenn wir 'nicht schwächer' als sehr kühne
Litotes = 'stärker' auffassen. Die Wiederherstellung der alten Greinschen
Fassung scyn-seaäa V. 707 findet auch Edward Schröders Beifall (vgl.
Z. f. d. A. 43, 361 ff). Durchaus diskutabel erscheint mir auch Traut-
manns Auffassung von soäe gebunden V. 871, vor das er einen Punkt
setzt. Die bisherige Auffassung davon: 'in guten alliterierenden Versen'
(S. 144 bei Heyne-Socin) ist etwas fantastisch. V. 723 hätte bemerkt
werden müssen, dals die Ergänzung schon von Zupitza herrührt. Die
Änderung wigum Scyldinga statt winum Scyldinga V. 1418 ist wohl eine
wirkliche Verbesserung (vgl. die anderen Fälle von wine mit Gen. PI.).
V. 2252 bin ich mit der Socinschen Auffassung, die auf den himmlischen
Saaljubel geht, auch nicht einverstanden. Aber Trautmann ändert zu
radikal gesawon in {ge)secga um. Ob wir an eine Übernahme des nega-
tiven Begriffes aus dem vorhergehenden Satz zu denken haben? Feh-
lende Negation im Beowulf ist öfters auffällig, so V. 649. V. 2336
heifst: Hirn fices guä-cyning, Wedera pioden, wrcece leornode, Trautmann
setzt dafür leanode: 'lohnte mit Strafe'. Er knüpft dabei an, die Be-
deutung von lean — Vergeltung an. Aber mir kommt diese Anderuug
unnötig vor. Freilich, die bisherige Auffassung: 'der Kampfkönig ersann
sich dafür Rache' (Socin S. 220) erscheint mir gleichfalls unrichtig. Die
Sache liegt vielmehr so : die Begriffe 'lernen' und 'lehren' unterliegen seit
alter Zeit einer Verwechselung, die durch die enge Verwandtschaft beider
hervorgerufen wird. Das Dänische, Schwedische, Holländische, Nieder-
deutsche kennen ja überhaupt nur 'lehren' für beide Begriffe. Für die
deutsche Sprache wird die Verwechselung 'lernen' für 'lehren' als 'schon
seit alters' bestehend angegeben {Grimmsches Wbrterb. Sp. 768). Und wenn
leornian in der Bedeutung Ho teach' erst me. auftaucht, wie im Cursor
Mundi 19028, Orm. 19613, so ist das nur ein neuer interessanter Beweis
dafür, wie wenig eigentlich volkstümliches Sprachgut aus ae. Zeit uns
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 421
überliefert ist. An dieser Stelle, Beowulf 2836, aber haben wir es offenbar
mit hornian = 'lehren* zu tun. 'Er lehrte ihn Rache', wie ne. vulgär Ho
learn him a lesson', nhd. in bösem Sinne: 'jemand etwas beibringen'.
Anderseits ist Socins 'ersann sich dafür Rache' mit leornian = excogitare
völlig ohne Parallelen. Ebenso natürlich Greins Auffassung von him = ei.
leornian im gewöhnlichen Sinne heifst nur Ho leam, to study, to read'.
Mit Trautmann bin ich ferner der Meinung, dafs wir in V. 2657 ßcet nceron
eald-gewyrht ursprünglich eine andere Fassung anzunehmen haben, eald-
gewyrht kommt sonst einmal von Adams Taten vor (Kr. 100), es pafst
hier schwerlich. Vielleicht haben wir an der Stelle ein ursprünglich heid-
nische Begriffe widerspiegelndes Wort eald-wyrda anzunehmen (fata =
wyrde„ heifst es in den Glossen).
Über die deutsche Übersetzung Trautmanns läfst sich nicht viel Rüh-
mendes sagen. 'Enttragen', 'Halsgebettin', 'Fifelgeschlecht',
'Gegenzeit', 'unkle'in', 'Gelfworte', 'eine Fahrt ziehen', 'die
Kampf platze', 'Leutemänner', 'W ehverf ügung', 'Handmörder',
'unge8Ündigtes Verbrechen', 'des Kampffürsten Handarbeit',
alles das ist kein Deutsch. Das cefter symle V. 1008 gibt Trautmann
durch: 'nach der Lust' wieder. Auch Socin fafst es merkwürdigerweise
so auf (S. 266). Es ist aber offenbar sowohl symle als cefter Adverbium,
und die Stelle heifst: 'beständig nachher' wie symble ece Ps. 110, 2 und
a symle Hy. 4, 114. 2077 lag heifst nicht 'lag', sondern 'fiel'. Sind Apfel-
schimmel 'apfelgelb'? (V. 2165). Noch vieles derart liefse sich anführen.
Und schliefslich könnte man die Frage erörtern, ob eine Übersetzung
neben dem Text zweckdienlich ist. Für den Angelsächsisch lernenden und
lesenden Studenten doch wohl sicher nicht. Denn lernen kann man eine
tote Sprache nur durch Nachschlagen der Worte im Lexikon. Die neben-
stehende Übersetzung wird immer dazu verleiten, ein solches Nachschlagen
zu unterlassen. Aber auch all der anderen angeführten Mängel halber
ist diese Beowulfausgabe für den Gebrauch des Studenten m. E. wenig
zu empfehlen.
Göttingen. Levin Ludwig Schücking.
Levin Ludwig Schücking, Beowulfs Rückkehr, eine kritische Studie
(Studien zur englischen Philologie, herausgeg. von Lorenz Morsbach,
XXI). Halle, Niemeyer, 1905. 74 S.
Schücking packt das vielumstrittene Problem der Beowulf- Entstehung
an einem Zipfel, der in der Mitte herausguckt: an der Doppelerzählung
des Grendelkampfes. Die zweite Fassung, wie sie Beowulf selbst nach
der Heimkehr dem König Hygelac vorträgt, ist ihm 'langweilig' und von
vornherein verdächtig als ein schlechter Kitt, mit dem die Grendelgeschichte
und die Drachengeschichte von einem dritten aneinandergesetzt wurden
(S. 11). Sie sei 'erstaunlich', besonders weil sie erst von einer Handtasche
des Grendel berichtet, um überwältigte Männer hineinzustecken, während
der Dichter selbst in der ersten Fassung davon nichts verriet. Über-
haupt sei eine Ausmalung von Beowulfs Heimkehr unerwartet, weil seine
Heimat früher nur flüchtig berührt wurde; 'namentlich knüpft nichts an
ein vorher gegebenes Moment an ; die einzige auf ein Geschehnis vor der
Abreise Beowulfs gehende Aufserung, die des Hygelac, dafs er dem Beo-
wulf stets abgeraten habe, verträgt sich . . . sogar mit dem vorhergehen-
den schlecht (V. 204)'. Auf Grund dieser Inhalts- und Kompositions-
verhältnisse schied Schücking V. 1888 — 2200, d. h. alles, was zwischen
dem Abschied Beowulfs von Hrothgar und dem Anfange der Drachen-
geschichte liegt, aus und suchte dann nach syntaktischen, metrischen,
stilistischen Eigentum lichkeiten dieser Partie, um sie als 'späteren Zusatz'
zu erweisen, wobei er mit rühmlichem Fleifs und nicht ohne Vorsicht zu
422 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Werke ging. Dann aber wagte er noch einige kühne Schritte. Unter
Hinweis darauf, dafs die Formel siääan mrest = 'sobald als' nur in
B(eowulfs) R(ückkehr) und in der Einleitung V. 6 erscheint, schliefst er
auf Beziehungen zwischen den beiden Partien, und, da sie beide 'kompo-
sitionell höchst bedenklich' seien, auf gleiche Verfasserschaft (S. 72). Da
ferner in BR zwei Ausnahmen im Tempus- und Modusgebrauch (gegen die
consecutio temporum 1928 und die Vorschrift des Opt. nach ar 2019)
vorkommen und in einem historischen Exkurs der Drachengeschichte 2496
eine dritte (gegen die consec. temp.), so wird auch letzteres Stück dem
oben erschlossenen Nachdichter zugewiesen, zumal es einen der seltenen
Fälle von 'pa an zweiter Stelle des Satzes' mit BR teilt (S. 73). Einige
andere historische Abweichungen gehen mit in den Handel. Es wird also
für die ursprünglich separaten Epen von Beowulf-Grendel und Beowulf-
Drache ein Eiuleiter, Verbinder und Interpolator aufgestellt, ohne An-
spruch auf vollständige Herausschälung seines Anteils.
Zu dieser nicht wesentlich neuen, aber neuartig formulierten Hypo-
these ist Schücking offenbar gelangt, weil er anläfslich seiner Studie über
die Satzverknüpfung in Beowulf, Halle 1904, mancherlei Ungleichmäfsig-
keit im Gebrauch der Konjunktionen bemerkt hatte. Die Sprachbeobach-
tung ging voran; sie lieferte bisher ungebrauchte Argumente; mit ihr hat
daher auch die Kritik einzusetzen.
Was Schücking als Sprachabsonderlichkeiten in BR bezeichnet, zer-
fällt in zwei Klassen: in 'Waisen', d. h. ganz vereinzelt auftretende For-
meln und Fügungen, und in Häufigkeitsstufen. Bei den Waisen kann
der Zufall eine grofse Rolle spielen; Schücking gibt dies selbst zu und
belegt es durch interessante Zusammenstellungen (S. 55); ich möchte daher
auf dies Kriterium nicht zu viel geben, besonders solange die ae. Syntax
der erschöpfenden Durchforschung und Sichtung noch sehr entbehrt.
Schücking, der sie gewifs gut kennt, stöfst sich z. B. an ein paar Ver-
letzungen der consec. temp., obwohl es deren auch sonst in ae. Autoren
manche gibt; ein Fall ist aus dem poetischen Guthlac bekannt {ncenig
wces . . . pces georn, pcet he bibugan mcege 837, vgl. M. Furkert, 1889, S. 14);
ein anderer aus den Blickling-Homilien (L. Kellner, Engl, synt., 1892, S. 231),
mehrere aus Alfred (htm sealdest geniht hwcetes . . . peak hi his de ne dan-
cien, Wülfing Ia 150 u. ö.). Er verzeichnet es als eine 'Verletzung der
für das Got. Ahd. Mhd. As. geltenden Regel', dafs unterordnendes cer ein-
mal mit Indikativ erscheint, und doch belegt es Wülfing II a 116 f. aus
Sachsenchronik, Wulfstan und mehrfach aus Alfred. Wir haben es da
wohl eher mit stilistischen Nuancen als mit syntaktischen Abnormitäten
zu tun. Schücking selbst wollte sicherlich seinem im allgemeinen recht
gewandten Nachdichter nicht geradezu Sprachschnitzer vorwerfen. — Um
ferner seine Behandlung der Häufigkeitsstufen bei gewöhnlichen Wörtern
nachzuprüfen, gehe ich auf das ein, was er S. 57 f. über ond als Einfüh-
rungskonjunktion für ein neues Subjekt sagt. Nach seiner 'Satzverk.
im B.' S. 82 erscheint solches ond nur an folgenden Stellen : 280, 393,
690, 808, 924?, 1090, 1108, 1154, 1193, 1194, 1237, 1554, 1591, 1850, 1858,
2066, 2100, 2105, 2139, 2203, 2388, 2449. Dafs vier von diesen Stellen
in BR fallen, findet Schücking sehr hoch. Obige Liste zeigt aber, dafs
sie überhaupt gern gruppenweise auftreten. Gleiches ergibt sich aus einem
Verzeichnis derselben onrf-Fälle im Andreas: 283 (346 gleiches Subjekt
wiederholt), 371, 399, 896 (1187 Subj. wiederh.), 1193, 1203, 1224, 1280
(1414 Subj. wiederh.), 1635, 1644, 1719. Die kursiv gedruckten Zahlen be-
ziehen sich auf Reden; in erregter Rede oder Beschreibung oder beim
Übergang von Erzählung zu direkter Rede steht solches ond am liebsten ;
ich möchte es daher als ein Stilmittel ansehen, das an lebhafterer Stim-
mung hängt, nicht als ein Autorenkriterium, das an einer Person haftet.
Ähnliches gilt von der Häufigkeit der Gegensatzpartikeln; Schücking
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 423
findet sie wieder in BR beachtenswert (S. 58); die Erklärung traf er selbst:
der gröfste Teil von BR ist Rede, und wenn der Held selbst seine Aben-
teuer vorträgt, ist der Stil natürlich wärmer, als wenn sie blofs der Epiker
erzählt. — Anderes Scheidungsmaterial sprachlicher und auch metrischer
Art hat bereits Schücking nachgeprüft und als schwach dargetan; es be-
hält Wert, obwohl in anderer, stilgeschichtlicher Richtung.
Die sachlichen Argumente Schückings gründen minder tief. Ob es
Zuhörern des 7.-8. Jahrhunderts wirklich langweilig wurde, den Grendel-
kampf zweimal zu hören, namentlich wenn neue Züge bei der zweiten
Fassung hinzukamen, kann man bezweifeln; die Versuchungen des hl. Guth-
lac wiederholen sich kaum weniger, und in der afrz. Epik ist bekanntlich
die Wiederholungsstrophe ein beliebter Schmuck. Dafs wir auf die Hei-
mat des Helden von BR fast nicht vorbereitet seien, möchte ich angesichts
der mannigfachen Erwähnungen Hygelacs im Grendelteil nicht unter-
schreiben; mehr darüber zu sagen, bevor sie zum Schauplatz wurde, hätte
kaum der altepischen Kompositionsweise entsprochen. Die Abgrenzung
von BR, wie sie Schücking vornimmt (1880 — 2200), ist bedenklich, insofern
schon vorher der Besuch bei Hygelac ausdrücklich angekündigt wird (we
fundiad Higelac secan 1820 f.), und insofern kurz darauf an Hygelac er-
innert wird (syädan Hygelac leeg 2202); doch fordert die Gerechtigkeit,
beizufügen, dafs Schücking seine Grenzlinie wenigstens nicht als absolut
sicher hinstellt. Warum der Verfasser von BR aufser dem Grendelkampf
auch schon den Drachenkampf vor Augen gehabt haben soll, ist bei
Schücking, soweit ich sehe, gar nicht begründet; war BR eine Nachdich-
tung, so brauchte sie lediglich zur Abrundung des Grendelteils zu dienen.
Hätte endlich gerade dieser Nachdichter die Einleitung zum Ganzen
vorangestellt, so wäre er darin wohl eher auf den ihm vertrauten Hygelac
zu [sprechen gekommen als auf die Dänen. Im sachlichen Teil hat es
sich Schücking entschieden leichter gemacht.
Es war das Unglück des Büchleins, dafs Schücking bei der Darstel-
lung von der etwas raschen Deutung einer sachlichen Besonderheit aus-
ging, um sie durch formelle Besonderheiten zu stützen. Wäre er auf dem
Wege geblieben, den er beim Forschen befolgte, so hätte er eine voll-
ständigere und geordnetere Sammlung der syntaktischen Schwankungen
im Beowulf bekommen und sich dann vor der Frage gefunden, wie sie
zu erklären seien: ob durch Verschiedenheit des Stoffes oder der Stim-
mung oder des Autors? Unbefangenes Urteil wäre schwerlich auf die
letztere Deutung geraten.
Berlin. A. B ran dl.
Theodor Eichhoff, Die beiden ältesten Ausgaben von Romeo and
Juliet. Eine vergleichende Prüfung ihres Inhalts. (Unser Shake-
speare, IV.) Halle a. S., Max Niemeyer, 1904. 278 S. M. 7.
Die Shakspere-Forschung hat bisher ganz falsche Bahnen eingeschla-
gen; die Wege, die sie ging, konnten nicht zu sicheren, positiven Ergeb-
nissen führen, und so stehen wir noch heute, nach 300 Jahren, vor einer
Fülle ungelöster .Shakspere-Rätsel. Das ist die neue Entdeckung. Doch
nur Mut! Der Ödipus, der diese Sphinx nun endgültig stürzen wird, ist
erschienen: er heifst Theodor Eichhoff und hat soeben den vierten Band
seiner Publikation 'Unser Shakespeare' herausgebracht.
Das Ziel des Verfassers ist, zu beweisen, dafs nicht die zweite, mit
der Folio wesentlich übereinstimmende Quarto von 'Romeo and Juliet'
(1599) den echten Shakespereschen Text darstelle, dafs dieser vielmehr in
der ersten Quarto (1597) vorliege, welche Ausgabe bisher entweder als ein
früherer Entwurf des Dichters oder als eine buchhändlerische Raubausgabe
angesehen, in jedem Falle der Quarto von 1599 nachgestellt wurde. Eich-
424 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
hoff dagegen behauptet, dafs Q., eine von einem unfähigen Korrektor vor-
genommene Ballhornisierung des echten 'Romeo' sei, der uns in Q, vor-
liege. 'Nur die älteste Ausgabe ist gut, nur die älteste ist ein Kunst-
werk'. Das Stück sollte daber, das ist Eichhoffs Forderung, nur in dieser
Ausgabe genossen werden, sowohl im Theater wie bei der Lektüre.
Es gibt zwei Wege von sehr verschiedener Art, um derartige Aufgaben
zu lösen. 1) Unter weitester Heranziehung aller Werke Shaksperes, auch
der Poems, des Dichters ästhetisches und sittliches Empfinden kennen zu
lernen und dann, auf Grund des erlangten Wissens, an die Beantwortung
der Frage zu gehen, ob die Abweichungen in der späteren Fassung von
dem Dichter herrühren können, oder ob sie als unvereinbar abzuweisen
sind. Das beste Hilfsmittel zum Verständnis eines Kunstwerkes sind eben
die anderen Werke des Künstlers. Der Weg führt oft zu schönen Resul-
taten, wie Loenings prächtiges Buch über 'Hamlet' beweist. — 2) Der an-
dere Weg ist billiger. Man nimmt das betreffende Kunstwerk, verzeichnet
die nicht zusagenden Stellen und zieht gegen sie los mit Schärfe, Schnei-
digkeit, vor allem mit Sicherheit; je lauter man donnert, desto mehr
Gläubige findet man. Bei Kontroversen, Disputationen bekam nur zu oft
derjenige Recht, der 'am lautesten schrie'.
Den ersten Weg geht Eichhoff nicht; das ist ja die antiquierte, zu
ganz unsicheren Resultaten führende Heerstrafse, von der schleunigste
Umkehr geboten ist. Wir sollen endlich aufhören, zu fragen, was eigent-
lich von Shakspere stamme, sondern gleich daran gehen, den Schönheits-
gehalt der Werke Shaksperes (sie!) zu untersuchen. 'Wir können viel
wissenschaftlicher sein, wenn wir die Schönheit, als wenn wir die Richtig-
keit der Texte erforschen,' denn 'Wissenschaft ist Begründung'.
Und wie begründet Eichhoff? Nun gar nicht; er zieht gegen die
ihm mifsliebigen Stellen zu Felde, wobei er sich die Rolle eines ästheti-
schen Papstes gibt, und in dem stolzen Gefühl der Unfehlbarkeit fällt er
sein Urteil. Ausdrücke wie 'abgeschmackt, possenhafte Parodie, lächer-
lich, unglaubliche Albernheit', ironische Seitenbemerkungen ('der Korrektor
ist immer korrekt') nehmen einen bevorzugten Platz in Eichhoffs Vokabel-
schatz ein. Wenn im allgemeinen Bücher unter einer solchen Sprache
leiden, so ist bei dem vorliegenden Buche das Gegenteil der Fall; die
Harmonie zwischen dem Inhalt und der Form kann einem Werke nur
von Nutzen sein.
Es fällt mir nicht ein, gegen die Eichhoffsche Methode zu Felde zu
ziehen ; eine Methode, die solche Blüten zeitigt, richtet sich von selbst.
Ob sie, grob aber deutlich, als Unfug abgewiesen oder, ein wenig milder,
unter die krankhaften Auswüchse gerechnet wird, die jede Wissenschaft
begleiten und also auch der Shakspere-Forschung nicht fehlen, bleibt sich
schliefslich gleich. Dagegen kann ich mich der Verpfüchtung nicht ganz
entziehen, Eichhoff mit seinen eigenen Waffen anzugehen. Es ist merk-
würdig, zu sehen, wie dieser Prediger des schrankenlosen Subjektivismus
alle Augenblicke gegen sein eigenes System anrennt. Wenn er (Bd. I,
S. 11) die Herausgeber der Qlobe- Edition scharf tadelt, dafs 'sie in einer
so unerhörten Weise die Freiheit ihrer Mitmenschen vergewaltigen, indem
sie dieselben einfach zwingen, die Bürgschaft, die ihnen genügend war,
gleichfalls als hinreichend anzuerkennen', so möchte ich doch den Ver-
fasser fragen, ob er es mit seinen Mitmenschen anders macht? Weil ihm
die Bürgschaft seines ästhetischen Urteils genügt, Q, zu verdammen, so
mutet er uns zu, 'Homeo' künftig in der Fassung von Q, zu geniefsen !
Die Globe-Editors werden wegen einer gleichen, nur besser fundierten Zu-
mutung verurteilt. Ist dem Autor sodann nicht ein einziges Mal zum
Bewufstsein gekommen, mit welch ungeheurer Anmafsung er zu Gericht
sitzt, zwar nicht über Shakspere (denn er hat sich ja einen Korrektor als
Zielscheibe konstruiert), wohl aber über.^ das Schönheitsempfinden dreier
Beurteilungen un i kurze Anzeigen. 425
Jahrhunderte, die sich an 'Romeo and JulieV begeistert haben und zwar
in der von Eichhoff als kein Kunstwerk geschmähten Fassung? Sollte
das Urteil dieser drei Jahrhunderte nicht das eines einzelnen in Frage
stellen? Wollte sich Eichhoff aber nicht fügen, so blieb es ihm unbe-
nommen, sich in Shakspere hineinzulesen, wie es ihm pafste, sich 'das
Fremde zu amalgamieren'. Das war sein gutes Recht; unser gutes Recht
aber wahren wir uns, indem wir gegen die Zumutung protestieren, dieses
Eichhoffsche Amalgam als neue Offenbarung anzunehmen.
Es ist mifslich, Proben aus einem Werke zu geben, das auf jeder
Seite zur schärfsten Kritik herausfordert. Wifsbegierigen sei hier wenig-
stens der Glanzpunkt verraten (S. 15 ff.): es ist die Betrachtung des
Monologes der Juliet vor ihrer Hochzeitsnacht (III, 2), jenes herrlichen,
trotz der glutvollen Sprache so keuschen Epithalamiums. Was sich der
Verfasser hier leistet, ist bodenlos; die Sprache, deren er sich bedient,
derart, dafs ich keine Parallele für sie in der Shakspere-Literatur kenne
— aufser in den Eichhoff sehen Büchern (vgl. S. 28, 73 u. a.).
Der Verfasser hat in zwei Jahren vier Bände seiner Publikation
herausgebracht, eine quantitativ ganz tüchtige Leistung. Um so mehr
kann er es jetzt des grausamen Spiels genug sein lassen. Nicht nur die
Shakspere-Forschung, sondern jeder geistig gesunde Leser lehnt sein Werk
durchaus ab. Sollte Eichhoff gleichwohl seine Tätigkeit in der begon-
nenen Weise fortsetzen, so möge er wenigstens den Gesamttitel seiner
Publikation ändern ; 'unser Skakspere' ist das nicht.
Berlin. Ernst Kroger.
George Masons Grammaire Angloise nach den Drucken von 1622
und 1633 herausgegeben von Rudolf Brotanek. Halle, Nie-
meyer, 1905 (Neudrucke frühneuenglischer Grammatiken, herausgeg.
von R. Brotanek, Heft I). LH, 118 S.
Vorliegendes Heft eröffnet eine Serie von Neudrucken englischer Or-
thoepisten, die mit zu den gröfsten Desideraten unserer heutigen Wissen-
schaft gehören, und verdient schon deshalb groi'se Anerkennung. Es gibt
einen bis auf sämtliche Druckfehler des Textes und der Paginierung ge-
treuen Abdruck des Originals, die Varianten der zweiten Auflage und eine
wertvolle Einleitung, die den Verfasser zu charakterisieren und seine Laut-
werte zu ermitteln sucht. Stellenweise ist dies nur möglich durch ein-
gehende Untersuchungen der gleichzeitigen französischen Aussprache und
vermittelst Hypothesen, die trotz alles eindringenden Scharfsinnes des
Herausgebers nicht immer überzeugend sind — auch kaum überzeugen
können, weil seinem Autor die nötige Sicherheit und Konsequenz in der
Aussprachebezeichnung fehlt. Mason bedient sich eines Längezeichens,
aber ohne Folgerichtigkeit, den aus me. 1 entstandenen Diphthongen tran-
skribiert er teils durch ei, teils behält er die überlieferte Schreibung bei,
und wo er für denselben verschiedene Aussprachen gibt, ist es meist un-
möglich, einen inneren Grund für die Abgrenzung beider Lautungen zu
finden ; er wird daher stets zu den untergeordneten Quellen für die Sprache
des 17. Jahrhunderts gehören. Immerhin ist er bemerkenswert als einer
der fortschrittlichen Grammatiker, der ohne gelehrten Konservatismus das
Gehörte wiederzugeben strebt; unter seinen Ansätzen fällt z. B. auf die
Gleichung engl, au = frz. a, die der Herausgeber mit Recht dahin inter-
pretiert, dafs in Wörtern wie draw, Laurence ein ä-artiger Mittellaut zwi-
schen me. und ne. Lautstande zu hören war (S. XV). Auch die Annahme
einer Monophthongierung von gu zu ö wird schon für diese Zeit dadurch
gesichert, dafs Mason dem Vokal in blow, soul, shoiv den Wert des
frz. au [o] zuspricht (S. XXXVII). Unter diesen Umständen will es mir
wenig einleuchten, dafs Mason für das me. ü noch einen Monophthong,
426 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
höchstens mit zweigipfliger Aussprache, gehört haben soll. Seine Tran-
skription \ham<] für ne. how sucht Brotanek allerdings auch für ü [vgl.
frz. aoust, raouler] in Anspruch zu nehmen. Aber es wäre doch sehr auf-
fällig, dafs ein sonst so fortschrittlicher Grammatiker hier eine Aussprache
ignoriert haben sollte, die schon für Tyndal [hawe < ae. hü, nawe < ml,
Sopps Marburger Diss. 1889, S. 29], ja sogar für die Paston Letters ge-
sichert ist [withaiight, abaught für -üt- ; vgl. Anglia XXIII 368]. Ob nicht
Mason eine der verschiedenen Zwischenstufen zwischen dem me. und dem
ne. Laut [Sweet, HES § 826] gehört haben dürfte, den er nicht genauer
wiederzugeben in der Lage war, für den er dann meist die übliche Ortho-
graphie beibehielt und nur einmal zu einem — für die damalige Zeit wohl
auch noch nicht ganz zutreffenden — a -f ou entgleiste? Dafs er nicht
immer imstande war, zu beschreiben, was er hörte, geht z. B. deutlich
hervor aus seiner summarisch einfachen Angabe für den Anlaut in knaue,
Unit, knot, kmickle: 'devant n il [k] est un peu plus difficile!'
Nicht ganz klar, aber bemerkenswert sind seine Angaben über 'il,
(S. XXXVIII), die bereits auf eine starke Modifikation des me. Lautes deu-
ten, und schwierig ist ebenfalls die Beschreibung des me. f (geschrieben ea),
hinter der Brotanek wohl mit Recht die Luicksche 'Abstumpfung' jenes
Lautes vermutet (S. XXI) — nur dürfte Mason seine Ausspracheregel
wohl nach einigen, auch sonst mit Abstumpfung belegten wenigen Dialekt-
wörtern gebildet und sie dann in übertriebener Weise verallgemeinert
haben. Interessant sind ferner seine Transkriptionen für ne. sir, girdle,
fürst, shirt, in denen die ne. /--Modifikation [aa] bereits deutlich erscheint
(S. XXVI). Nur ist der Herausgeber im Irrtum, wenn er darin den
frühesten Beleg für diesen Vokalwandel sieht, und wenn er meint, er
müsse sich bei i früher entwickelt haben als bei den anderen Lauten. Eine
Modifikation des me. u legen nahe die Schreibungen der Paston Letters
herte und retemed (Anglia XXIII 360) ; die gleiche Erscheinung- zeigen für
me. i ebd. sur, urke (Neumann, Marburger Studien VII S. 66, 68), mög-
licherweise deuten auch die Schreibungen mit ee für me. e -f- r auf eine
quantitative Veränderung des e (ebd. S. 83, § 102), die mit dem quali-
tativen Lautwandel e > aa Hand in Hand gegangen sein wird. Auch sonst
hätten sich die Schreibungen des 15. Jahrhunderts für die Chronologie
der von den Orthoepisten aufgedeckten Lautvorgänge verwerten lassen.
Das au < a -4- 11, welches erst seit Tindal (Brotanek XVI) auftreten soll,
ist schon vierzig Jahre früher bezeugt (Anglia XXIII 184) ; noch viel
früher erscheint f < / [ne. enough], das Brotanek S. XLVIII erst seit
1568 belegt, es ist im 15. Jahrhundert häufig, vielleicht schon für das
Früh-Me. anzunehmen (ebd. S. 467).
Masons Ansatz für cough mit einem p im Auslaut, den Brotanek für
eine akustische Täuschung hält, ist wohl möglich; wenigstens zeigen ne.
Dialekte kqup — cough (Anglia XXIII 467); auch ne. dial. fleip 'Flöhe'
aus ae. *fleaha (Wright, Engl. Dial. Or. § 359) wird hierher zu stellen sein.
Posen. Wilhelm Dibelius.
Engelskt uttal af C. J. M. Fant, Lektor vid Västeräs högre allmänna
läroverk. Stockholm, P. A. Norstedt & Söners Förlag, 190*. 37 S.
Preis 60 öre.
Zweck des vorliegenden Schriftchens ist, nicht nur vorgeschritteneren
Schülern an den Gymnasien und anderen damit zu vergleichenden Lehr-
anstalten, sondern auch Universitätsstudenten und Gymnasiallehrern eine
übersichtliche Darstellung wichtiger Fragen der englischen Lautlehre in
populärer Form zu geben. Besonders hervorgehoben werden die lokalen
Verschiedenheiten der Aussprache (namentlich diejenigen zwischen Northern
und Southern Enghsh). Diesen Auseinandersetzungen schliefst sich öfter
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 427
eine Diskussion der bei dem Unterricht vorzuziehenden Aussprache an.
Der Verfasser bekämpft die wenigstens in Schweden nicht seltene Neigung
der Lehrer, Eigentümlichkeiten der englischen Aussprache zu übertreiben ;
dies gilt seiner Meinung nach besonders für die diphthongische Aussprache
von e und o", der er entschieden eine monophthongische Aussprache vor-
ziehen will. Er beruft sich dabei auf eine Aufserung von Sweet, der in
seinen Vorlesungen (University Extension Meeting, Oxford 1897) — denen
auch Referent beiwohnte — einmal Ausländer vor der diphthongischen
Aussprache warnte, da 'foreigners exaggerate', und eine monophthongische
Aussprache höchstens als eine schottische Eigentümlichkeit aufgefafst
werden würde, während eine mifslungene Diphthongierung entschieden
den Ausländer gleich verraten würde. Hiermit vergleicht er eine Stelle
in dem Websterschen Wörterbuche: 'The vanish comes out more clearly
in some syllables than in others. It is not used in the Scottish dialect;
and it is not apt to be given by people of foreign birth and training.'
Auch anderswo hält es der Verfasser für empfehlenswert, von zwei oder
mehreren Aussprachen, die als gut englisch betrachtet werden können,
diejenige vorzuziehen, die den Schülern am besten mundgerecht wird.
Daraus folgt also, dafs man der gebildeten Aussprache eines gewissen Ge-
bietes nicht in allen Details zu folgen braucht, sondern dafs man aus
praktischen und anderen Rücksichten sehr gut sich auch Eigentümlich-
keiten anderer Gebiete — wenn sie nur als gut englisch anerkannt sind —
aneignen darf. Ich will nicht auf die Frage eingehen, ob nun eine solche
eklektische Anschauungsweise mit allen ihren Konsequenzen wirklich in
abstracto zu billigen ist. Die konkreten Fälle, die vom Verfasser ange-
führt werden, sind aber kaum ernsthaft zu beanstanden. Meiner Ansicht
nach mufs jedoch jeder tüchtige Lehrer zuerst wenigstens versuchen, seinen
Schülern die beste englische Aussprache ('that which gives the fewest
signs of locality') beizubringen.
Auf Einzelheiten der Arbeit kann ich nicht eingehen. Nur mufs ich
es als auffallend bezeichnen, dafs Verfasser die Aussprache der Gebildeten
in einem gewissen Gebiete 'den Dialekt dieses Gebietes' öfters nennt (so
z. B. S. 7).
Die phonetische Literatur der letzten Zeit, auch die in zahlreichen
Zeitschriften zerstreuten Einzeldarstellungen, hat der Verfasser sich mit
grofsem Fleifse zunutze gemacht.
Das in schwedischer Sprache geschriebene Büchlein wird wohl aufser-
halb der skandinavischen Länder kaum einen Leserkreis finden. Es macht
keinen Anspruch darauf, neues Material zu liefern; aber wertvoll wird
das Buch besonders durch die Zusammenstellungen einiger der letzten
Resultate der englischen Phonetik. Somit wird die Arbeit für die Kreise,
für welche sie bestimmt ist, hoffentlich doch von Nutzen sein.
Hellebeek (Dänemark). Erik Björkman.
Lehrbuch der englischen Sprache für Realschulen von "Wilhelm
Swoboda, Prof. an der Landes-Oberrealschule in Graz. 1. Teil: Ele-
mentarbuch der englischen Sprache für Realschulen; geb. 2 K 20 h
(M. 1,85). — 2. Teil: English Reader (Lehr- und Lesebuch für die
6. Klasse); geb. 3 K 60 h (M. 3). — K. Teil: Literary Reader (Lehr-
und Lesebuch für die 7. Klasse); geb. 3 K 60 h (M. 3). — 4. Teil:
Schulgrammatik der modernen englischen Sprache; geb. 3 K 40 h
M. 2,80). — Wien und Leipzig, Franz Deuticke, U>05.
Der 1. Teil dieses Werkes, der die Elemente der englischen Gram-
matik enthält, schliefst sich in seinem Lehrgange der Art und Weise an,
die ein Lehrer befolgt, dem nichts anderes als liesestücke zur Verfügung
stehen. Der kann nicht immer ein bestimmtes System streng innehalten.
428 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Er mufs manches berücksichtigen, das nicht in sein Hauptkapitel gehört,
die Themata durchkreuzen sich, statt aufeinander zu folgen, und die Dar-
stellung zeigt eine gewisse Unordnung. Aber nur äufserlich; denn Ord-
nung und System liegen in dem Lehrenden fest begründet. Er kann sie
jeden Augenblick auch nach aufsen hin kenntlich machen. Darum schadet
die Abschweifung vom Systematischen kaum. — Anders nimmt sich dies
Verfahren in gedruckter Grammatik aus. Die gestörte Ordnung ist hier
nicht so leicht wie dort zu retablieren, da auch in ihr Methode liegt, der
der Lehrer folgen mufs, wenn er vom Leichten zum Wenigerleichten und
Schweren Schritt für Schritt weitergehen will. Die Basis des 1. Teiles
dieser Grammatik ist ein pele-mele, das besonders störend dem Schüler
werden muls. (Man vergleiche § 8 : Persönliche Fürwörter, §9: Geschlecht
des Substantivs, § 10 — 12 handeln vom Veib, § 13: Possessivpronomen,
$ 14: Adjektiv; dann folgen wieder Verb, Pronomen, und in diesem Durch-
einander geht es fort.) Allerdings findet sich die hier fehlende höhere
Ordnung im 4. Teil des Werkes ; aber den bekommt der Elementar-Anglist
nicht in die Hand, und er versteht ihn auch noch nicht. So bleibt ein
Eest zu tragen peinlich. Wer sich aber einmal mit dieser sehr natür-
lichen Darstellungsweise abgefunden hat, wird sich auch weiter mit dem
Buche befreunden.
Einer allgemeinen Forderung dürfte diese Schulgrammatik mehr als
andere gerecht werden. Sie wählt die Stoffe ihrer Übungsstücke aus dem
alltäglichen englischen Leben, wobei sie vom Schulleben ausgeht und den
Schüler in ein Milieu versetzt, an das er gewöhnt ist. Das Bild eines
class-room trägt zur Orientierung bei, wenn auch nicht alles darauf ist,
was, nach Aussage des Lesestückes, darauf zu sehen wäre. Zugleich wird
der Schüler genötigt, sich möglichst bald der englischen Sprache zu be-
dienen. Er mufs das Datum einsetzen ; am Schlufs der Lesestücke erfolgen
kurze Fragen und Anmerkungen in englischer Sprache, im Anschlufs an
die grammatische Regel stehen englische Sätze, in die er das Wesentliche
selbst einzufügen hat, die Zahl der Anmerkungen wird stetig geringer, so
dafs er das Wörterbuch (S. 140 ff.) zu Eate ziehen mufs, Aufzählung von
Synonymen mit ihren Unterschieden fördern das Eindringen in den Geist
der Sprache. Bei so konsequentem Festhalten am Milieu lassen sich
familiäre Wörter und Aussprache nicht immer vermeiden; mit anstelligen
Schülern wird man darauf eingehen können, anderenfalls mufs man sich
mit dem Notwendigsten bescheiden. Die Regeln genügen in kurzer Fas-
sung durchaus dem Verständnis. 'The Do - Infinitive - Construction in
Questions' (I, § 2S) ist allerdings wenig übersichtlich behandelt. Die Aus-
sprachelehre geht praktisch von englischen Wörtern aus, die auch dem
Deutschen geläufig sind {spieen, strike, down, . . .). Hier mufs der Lehrer
das Beste tun. Dem Nachschlagebedürfnis der Schüler genügt sie. Löb-
lich ist der Hinweis auf die einzelnen Lautarten und das Bestreben, den
Schüler an ihre Unterscheidung zu gewöhnen.
Diese elementar gehaltenen Regeln des 1. Teils finden ihre Ergänzung
im 4. Teil, der mit Kenntnis und Sorgfalt zusammengestellt ist. Ein-
gehender als in Schulgrammatiken üblich, wird die Stellung der Adverbien
berücksichtigt (S. 'M — 37), woran sich die ausführliche Darlegung der
Mittel knüpft, durch die ein Satzteil im Englischen hervorgehoben wird.
Bei der Ausführlichkeit dieser Grammatik, die sogar die Interpunktions-
lehre eingehend bespricht (§ 406 — 409) und dem Komma ein besonderes
Übungsstück widmet (S. 202), hat es mich gewundert, dafs nicht auch ein
Abrifs der englischen Metrik seine Stelle gefunden hat. — Druckfehler
habe ich bemerkt in IV, S. 23, Z. 6 v. o.: 'Stellung und die der Wörter'
statt: und die Stellung der Wörter, in I, S. 105, Z. 7 v. u. : 'tsee' statt: tsea.
Wenn der 1. Teil im wesentlichen in englisches Schulleben einzuführen
sucht, so wollen der 2. und der 3. Teil eine Vorstellung von dem ge-
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 429
samten Kultur- und Geistesleben Englands geben. Auf die Geographie
der Britischen Inseln folgt die der Hauptstadt angeschlossen an 'A Irip
on the Thames', die Beschreibung ihrer Sehenswürdigkeiten und Verkehrs-
mittel, von Spielen, Keisen in England und seinen Kolonien etc., unter-
mischt mit passenden Gedichten, erläutert durch Anmerkungen, Wörter-
buch, Illustrationen, eine Karte von Grofsbritannien und London, kurz
eine so reiche Stoffülle, dafs Lehrer und Schüler, wohin sie auch greifen
mögen, sicher sind, ein volles, interessantes Völkerleben zu packen. Dieser
Teil enthält auch deutsche Stücke zur Übertragung ins Englische.
Teil 3 ist eine englische Chrestomathie, die, von der Neuzeit aus-
gehend, den Schüler bis in die Zeit des Beowulf zurückführt und ihm an
der Hand ihrer Hauptvertreter eine Vorstellung des jeweiligen Standes
der englischen Sprache und Literatur zu verschaffen sucht. Die Epochen
Chaucers, König Alfreds und des Beowulfdichters sind wenigstens in Cha-
rakteristiken vertreten. Eine 'History of the English Language' schliefst
den Teil ab. Jedem Bruchstück eines gröfseren Literaturwerkes gehen
Bemerkungen voran, welche die Exposition enthalten. Auch hier tragen
Bilder, Karte, Noten in englischer Sprache — wie im 2. Teil — und
Wörterbuch zum Verständnis der Dichtungen bei. Diese Chrestomathie
bildet einen organischen Teil des gesamten 'Lehrbuches', das ohne sie un-
vollständig wäre. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet darf sie auch
vor dem ausgesprochenen Gegner der Chrestomathien unangefochten pas-
sieren. — Alles in allem ist diese englische Grammatik ein Werk, das
ebensoviel fachmännische Kenntnis wie liebevolle Hingabe an den Gegen-
stand bekundet, und das ich für würdig halte, einem Schüler in die Hand
zu geben. Ein Bedenken habe ich: der für ein Schulbuch sehr hohe Preis
— der Gesamtpreis beläuft sich auf mehr als 10 Mark — dürfte seine
Einführung oft erschweren, wenn nicht unmöglich machen.
Willi Splettstöfser.
R. Hall, Lehrbuch der englischen Sprache. Für; Mädchenschulen
bearbeitet in zwei Teilen. Frankfurt a. M., Carl Jügels Verlag (Moritz
Abendroth). I. Teil, 2. Aufl. 1904; IL Teil, 1. Aufl. 1905.
Diese Grammatik läfst im Anfang dem Lehrer ausgedehnten Spiel-
raum. Mit ihrer Vorschrift, die ersten zwanzig Stunden bei geschlossenen
Büchern zu unterrichten, weist sie ihn auf sich selbst und gibt ihm nur
die Anleitung. Teil I führt die would-be English girls an der Hand von
Sprichwörtern, Lebensregeln, kleinen Gedichten, Rätseln, Gesprächen spie-
lend in die Sprache ein und ist für den Anfang nicht übel, wenn auch
das englische Milieu nicht stark hervortritt. Auf denselben kindlichen
Ton ist aber auch der IL Teil gestimmt, der in höheren Klassen zur Ver-
wendung kommen soll. Riddles, Proverbs, Tricks (II, S. 122), Games:
Making words (II, S. 144), Making Utile words from long ones (II, S. 145) etc.
nehmen auch hier einen breiten Kaum ein. Da das Buch für Mädchen
bestimmt ist, sind Stücke wie die folgenden wohl am Platze: II, § 69:
Shops, S 70: Shopping for Christmas (At the linen-draper's), ij 79: Three
Cookery Receipts (1. Piain sweet omelette, 2. Macaroons, 3. Apple Pie). Neben
ihnen aber und anderen von allgemeinem Interesse ( Woods, Animals, Plants,
Death of Socrates etc.) kommen Stücke von typisch englischem Gehalt nur
wenig zur Geltung. Englischer Geist spricht nicht aus diesem Werk. Es ist
klar und sorgfältig durchgearbeitet, und so mag es seinen Zweck erfüllen.
Willi Splettstöfser.
W. Sattler, Deutsch-Englisches Sachwörterbuch. Leipzig, Kengersche
Buchhandlung (Gebhardt & Wilisch), 1905.
Nachdem ich die Vollendung des stattlichen Werkes von Sattler vor
kurzem berichtet, kann ich jetzt bereits das Erscheinen des von dem Autor
430 Beurteilungen uud kurze Anzeigen.
damals in Aussicht gestellten Verzeichnisses der englischen Wör-
ter melden (Lieferung 12). Letzteres bedeutet eine wertvolle Beigabe, die
auch unter der angelsächsischen Lehrerwelt geschätzt werden wird. Das
Verzeichnis umfafst 89 Seiten von je vier Kolumnen. Seine sorgfältigen
Verweise werden dem Lehrer des Englischen wesentliche Dienste leisten.
Sattler hat Wort gehalten, und auch hierdurch hat er Anspruch auf un-
sere Dankbarkeit. Sein Werk sei der Fachwelt bestens empfohlen.
Tübingen. W. Franz.
Aus romanischen Sprachen und Literaturen. Festschrift Heinrich
Morf zur Feier seiner fünfundzwanzigjährigen Lehrtätigkeit von seinen
Schülern dargebracht. Halle a. S., M. Niemeyer, 1.905. 427 S.
Wie sehr dieser Band, den freundliches Gedenken mir widmet, mich
mit Freude und Stolz erfüllt, das habe ich in dem Kreise, aus dem er
hervorgegangen ist, diesen Sommer mündlich auszusprechen unvergeßliche
Gelegenheit gehabt. Meine damaligen Worte des Dankes glaube ich nicht
besser bestätigen zu können als dadurch, dafs ich als aufmerksamer Leser
hier über den Inhalt des Buches selbst referiere und damit dem Beispiel
folge, das zuerst, wenn ich nicht irre, Gaston Paris gegeben, und für
welches ich an dieser Stelle mich besonders auf Adolf Tobler berufen
kann (vergl. Archiv XCV, 198; OXV, 238). Ich möchte von den 14 Bei-
trägen, die der Band umschliefst, hier sagen, worin sie nach meiner Mei-
nung unsere Erkenntnis fördern. Es ist keiner darunter, dem ich nicht
für viele Anregung und Belehrung dankbar zu sein hätte. Dafs diese
Anerkennung gelegentlichen Zweifei und Widerspruch nicht ausschliefst,
ist natürlich, und ebenso natürlich mul's es den Freunden, die sich hier
zu einer gemeinsamen Gabe zusammengetan haben, erscheinen, dafs ich
diese Zweifel äufsere und diesem Widerspruch Ausdruck gebe, wo er mir
fruchtbar zu sein scheint — - denn sie wissen wohl, dafs es sich dabei
nicht darum handelt, dafs der Referent recht behält, sondern dafs aus
Rede und Gegenrede gesicherte neue Erkenntnis erwachse.
Die Beiträge umfassen ältere und neuere französische Literatur (7),
sie verfolgen laut- und formengeschichtliche Probleme innerhalb einzelner
lebender Mundarten oder über das ganze romanische Sprachgebiet dahin
(5), sie handeln von romanischer Syntax (1) und bringen Neues zur Ge-
schichte des fremdsprachlichen Unterrichts (1). Sie sind aber nicht stoff-
lich, sondern nach den Verfassernamen alphabetisch geordnet. In dieser
Folge gehe ich ihnen nach.
Den Anfang macht E. Bovets La preface de Chapelain ä
l'Adonis.
Als der 'chevalier Marin' ums Jahr 1620 mit dem Plane umging, die
4000U Verse seines Idylls Adone in Paris drucken zu lassen, da suchte
er einen französischen Literaten, der eine programmatische Vorrede dazu
schriebe. Man wies ihn an den jungen Chapelain, der dafür bekannt
war, dafs er mit der literarischen Tradition Italiens vertraut sei.1 Denn
es galt, diese neue Art des idyllischen Epos (diese 'nouveaute1) von vorn-
herein gegen die Kritik zu schützen, die seitens der italienischen
Akademien zu erwarten war. Diese Akademien würden nach den über-
lieferten Kunstregeln urteilen, so dafs also der Vorrede hauptsächlich die
1 Chapelains Kenntnis der spanischen Literatur war doch wohl nicht
so bedeutend, wie gewöhnlich angenommen wird, sonst hätte er 1630 nicht schreiben
können, dafs aufser dem rimeur Lope de Vega alle Spanier ihre Dramen in Prosa
oder reimlosen Versen schreiben.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 431
Aufgabe zufiel, zu zeigen, dafs Adone, obwohl neuartig, doch 'condwit et
tissu selon les regles generales de l'epopee' sei.
Chapelain versenkte sich in das Studium der italienischen Theoretiker
von Trissino bis zur Gegenwart, ' Scaliger eingeschlossen, und schrieb mit
ihrer Hilfe die Vorrede lü20. Gedruckt wurde sie lb23.
Diese Vorrede ist viel genannt und — wenig gelesen, wie Bovet hu-
morvoll zeigt. Er druckt sie in extenso ab (p. 30—52) und begleitet
diesen Abdruck mit einem sehr interessanten Kommentar.
Chapelains Vorrede ist keine leichte Lektüre. Form und Inhalt sind
in gleicher Weise schwierig: Chapelains Satzbau ist schwerfällig, und die
Regeltheorien der Zeit sind oft genug abstrus. Zu alledem gesellt sich
noch der Umstand, dafs Chapelain, wie Bovet zeigt, mit Hintergedanken
schreibt und seine wahre Meinung oft zwischen den Zeilen gesucht werden
mufs. Er denkt in Wirklichkeit vom Adone nicht so gut, als er höflicher-
weise in seiner Verteidigungsrede sagt.
Diese Verhältnisse erschweren eine Wiedergabe seiner Gedanken. Doch
hat sich Bovet der Aufgabe, die Vorrede zu analysieren, in trefflicher,
feiner Weise entledigt.
Er hat sich auch der dankenswerten Mühe unterzogen, Chapelains
italienischen Quellen nachzugehen. Das Resultat, dafs Castelvetros Poetiea
d'Anstotile vulgarixxata e sposta (1570) die Hauptquelle bildet, wird keinem
ernsten Widerspruch begegnen können.
So hat Chapelain seine Theorie des Epos aus Italien bezogen. Nichts
läfst erkennen, dafs er die französischen Theoretiker des lü. Jahrhunderts,
Ronsard, D'Aigaliers, Vauquelin, beachtet habe, oder dafs er auf Aristo-
teles direkt zurückgegangen sei.2
Eine Theorie des Epos läfst sich nicht entwickeln, ohne dafs die
übrigen Gattungen der Dichtkunst, Lyrik und Drama, in Mitleidenschaft
gezogen werden, und ohne dafs die Frage nach Wesen und Aufgabe der
Poesie überhaupt berührt wird. Cbapelain hat die Lyrik völlig beiseite
gelassen, die Dramatik nur gelegentlich zum Vergleich herangezogen.
Von Wesen und Aufgabe der Boesie handelt er indessen ausgiebig: die
Poesie stellt nicht nackte Tatsächlichkeit (verite particuliere) dar, sondern
sie kombiniert sich gemäfs dem Geiste der justice und der raison eine all-
gemeingültige vorbildliche Wahrscheinlichkeit (vraissemblance), die sie in
den Dienst der sittlichen Läuterung der Menschheit stellt (purgation ou
amendement es mceurs des homnies qui est le but de la poesie)?
Diese rationalistische Lehre ist eben die der Italiener: Chapelain hat
1 Ob er Tassos Discorsi deWarte poetiea e del poema eroico (1587 — 94) gekannt
hat? Eine Spur ihrer Verwertung kann ich in der Preface nicht finden.
2 Der Umstand, dafs Chapelain der Handlung des Epos nur die Dauer eines
Jahres einräumt, wahrend Aristoteles eine solche Beschränkung nicht kennt, spricht
nicht dafür, dafs er sich stark nach Aristoteles selbst umgesehen, dessen Meinung
überhaupt für ihn nicht entscheidend war. — Auch über Homer und Vergil setzt
sich Chapelain dabei hinweg, während die älteren Theoretiker (auch Madius, trotz
Bovet p. 28 n.) die zeitliche Freiheit des Epos gerade mit Odyssee und Aneis
begründen. Bei Chapelain ist das Bedürfnis, eine Regel aufzustellen, gröfser als
sein Respekt vor dem Altertum: On devient poete, sagt er in der Vorrede zur
zweiten Hälfte der Puci'lle, par l'etude des regles. — Übereifrige Moderne wie
Saint-Amant haben schliefslich die epische Handlung in die 24 Stunden-Einheit
gezwungen (Möise sauve, 1653). — Chapelain selbst gibt später (1630) auch wieder
zu, dafs das Epos eine Handlung von mehreren Jahren umfassen dürfe.
3 Das ist denn doch nicht so neu in Frankreich. Cf. Ronsard in der Vor-
rede zur Franciade (1572): il (Je poete) a pour maxime tres necessaire de son arl
de ne svivre jnmaU pas a pas la verü*, mais la vraisemblance et le possible etc.
432 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
sie, nach Bovets Urteil, klarer und bestimmter formuliert. Man kann das
zugeben und doch finden, dafa Bovet den Chapelain zu nahe an Boileau
rückt. Gewifs ist beiden die rationalistische Poetik, die ja die Basis des
Klassizismus bildet, gemein — aber neben dieser Gemeinsamkeit möchte
ich die tiefe Gegensätzlichkeit mehr betonen: Chapelain ist ein 'moderne'.
Der gelehrte Mann hat für die Antike wohl Worte der Bewunderung,
aber er lehnt ihre Vorbildlichkeit ab. Er ist der Überzeugung, dafs die
moderne Literatur der antiken nicht bedürfe und sie übertreffe. Er stellt
eine Tragödie Grazianis über alles, was die Alten geleistet. Homer und
Vergil, sagt er, sind meine Gottheiten — mais ils ont bien de la peine ä
etre mes patrons. Er tadelt an Ronsard, dafs er ihr ecolier gewesen sei.
Er übt im Dialog über die Romanlektüre1 (1647) an Homer jene Kritik,
die für die 'modernes' charakteristisch ist. Nicht die antiken Dichter,
nicht Aristoteles, sondern 'die Idee der Kunst' sei sein Leitstern (cf. Lettres
ed. Tamizey de Laroque I, 18 f., 631 f.; II, 744 etc.). Das ist Subjekti-
vismus, ein revolutionäres Prinzip, und läuft ßoileaus Altertumsreligion
und klassischer Kunstlehre direkt zuwider. Chapelain hat keinen Re-
spekt vor dem Altertum, so wenig wie Malherbe, Boisrobert, Sorel, Sa-
rasin, Scudery, Descartes, Pascal — die ganze erste Hälfte des 17. Jahr-
hunderts. Die Arbeit aller dieser Männer ist gegen die literarische
Hegemonie des Altertums gerichtet. Sie vertreten die Gedanken, die
in Italien Tassonis Pensieri diversi (1620) ausgesprochen haben: das
Altertum gilt für überwunden.
In diese ikonoklastische Welt hat der grimme Boileau dann die Stand-
bilder der literarischen Ahnen der Renaissance wieder hineingestellt. Er
hat ihren Kultus restauriert und den Klassizismus strenger Observanz im
Gegensatz zu der altertumsfeindlichen Haltung der Chapelains und Ge-
nossen begründet.
Seinem Grundsatz gemäfs, dafs die Idee der Kunst sein Leitstern sei,
erweist Chapelain in seiner literarischen Kritik dem Aristoteles nirgends
besondere Reverenz: in.der Vorrede zum Adone nennt er ihn nur einmal
und ganz nebenbei. Überall beruft er sich darauf, dals seine eigenen
Überlegungen, dafs die Forderungen der poetischen vraissemblance ihn zu
den Regeln geführt haben, die er aufstelle. Dabei hebt er es gern hervor,
wenn die Praxis der antiken und der italienischen Dichter zu seinen
Forderungen stimmt. Aber was die alten und neuen Theoretiker
sagen, das kümmert ihn nicht sehr: als ihn ein Freund um Auskunft
über eine Kunstregel bittet, antwortet er ihm: 'Ich entsinne mich nicht,
ob Aristoteles oder einer seiner Erklärer die Sache behandelt hat; ich
will einfach versuchen, Ihnen meine eigene Begründung zu geben.'2
Nun sucht Bovet die Überlieferung zu stützen, welche lehrt, dafs
Chapelain im 17. Jahrhundert die Regel der drei Einheiten für das
Drama wieder eingeführt habe. So scharfsinnig seine Argumentation ist,
so kann ich ihr doch nicht zustimmen. Ich teile die Meinung Ottos (in
der Einleitung zu seiner Ausgabe von Mairets Silvanire, Bamberg 1890)
und Dannheifsers (Behrens' Zs. XIV, 1 — 76). Mancherlei Besonderes
liefse sich freilich dazu sagen. Hier beschränke ich mich auf folgendes :
1 Feillet hielt diesen Dialog mit Unrecht für ungedruckt, als er ihn 1870
edierte. Er ist schon 1728 von Desmolets und Goujet im 6. Band der Conti-
nuation des memoires de litterature et d'histoire de Sallengre herausgegeben worden.
2 Es ist das eine kapitale Stelle seines Briefes an Godeau vom 29. Nov.
1630, abgedruckt von Ch. Arnaud, Les theories dramatiques au XVII' siede,
Paris, 1888, p. 336 ff. Und die Kunstregel, aus deren Anlafs er hier Aristoteles
und seinen Stab als quantite negligeable eliminiert, ist — die 24 Stunden-Einheit
des Dramas! Ich werde auf die Stelle zurückkommen.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 433
Man läuft Gefahr, einem Anachronismus zu verfallen, wenn man für
die Jahre 1620 — lt>30 von der Regle des trois unites spricht. Diese Trini-
tät ist späteren Datums.1
Das Wort unite findet sich zunächst nur in dem Ausdruck unite
d'action: die Handlungsein hei t ist die älteste, in der Kunst selbst be-
gründete Forderung. Sie ist aus Aristoteles in die Renaissancepoetik über-
gegangen. Auch Chapelain erhebt sie in der Vorrede zum Adone nicht
als ein spezifisch dramatisches, sondern allgemeines, insbesondere episches
Requisit \unite de l'action, Bovet p. 42).
Ebenfalls auf Aristoteles und der herrschenden Praxis der antiken
Dramatik beruht die Forderung, dafs die Handlung des Dramas die Dauer
eines Tages nicht überschreite. Chapelain erwähnt die Forderung in der
Vorrede ganz beiläufig mit den Worten: Das Epos soll nicht mehr als
ein Jahr umspannen, gerade wie das Drama nicht mehr als einen jour
naturell
Neben dieser ganz beiläufigen Erwähnung der regle des 24 heures oder
des ordre du temps — das sind die eigentlichen Termini technici — fehlt
in der Vorrede jeder Hinweis auf eine sogenannte 'Ortseinheit'.
Tatsache ist also, dafs Chapelain in der Vorrede von 162' nicht von
den 'drei dramatischen Einheiten' spricht, sondern dafs er die unite d'ac-
tion als eine allgemeine und spez. epische Forderung erwähnt, dafs er die
regle des 24 heures im Vorbeigehen für das Drama konstatiert und von
einer 'Ortseinheit' überhaupt nichts sagt.
Das macht durchaus nicht den Eindruck, als ob er den dramatischen
Kunstregeln besondere Beachtung schenkte.
Dafs in Frankreich die vom Drama des Altertums sich herschreiben-
den Kunstregeln auch im Anfang des 17. Jahrhunderts ohnedies nicht
gänzlich vergessen und unbekannt waren, zeigt z. B. Lariveys Vorrede
zu La Constance (1611). Und ehe Chapelain in der Vorrede zum Adone
nebenbei die 24 -Stunden -Regel erwähnt, liefs Thßophile die zum ro-
mantischen Schauspiel geratene Tragödie Pyramus und Thisbe (1617) auf-
führen, deren einfache Handlung nur wenige Stunden umfafst und in einer
verhältnismäfsig einfachen sehne ä compartiments 'Landschaftseinheit' zeigt.
1 Die gedrungene Formulierung Jeans de la Taille (1572): il faut toujours
representer le jeu en un meme jour (Handlungseinheit), en un meme temps (Zeitein-
heit), en un meine Heu (Ortseinheit) bleibt ganz isoliert. Chapelain kannte sie
nicht (zur Auffassung der Stelle vergl. Revue oVhist. litt, de la France XII, p. 2).
Mairet führt noch 1631 als die drei Hauptregeln der Comedie an: freie Er-
findung der Fabel, Einheit der Handlung und lla troisieme et la plus rigoureuse est
Vordre du temps' (Otto, l. c, p. 15 f.). — Zum ersten Male finde ich im 17. Jahr-
hundert die drei Forderungen im Ausdruck vereinigt in Isnards Vorrede zu Pi-
ch ous La Filis de Scire vom nämlichen Jahre 1631: ... prescrire les regles de
l'unite du Heu (= Landschaftseinheit, cf. unten p. 8), de l'action et des 2i heures
du temps (cf. Otto, l. c. p. CXII) und dann in der endgültigen, uns geläufigen For-
mulierung in Durvals Tratte (A. Gaste, La querelle du Cid, 1899, p. 274): l'unite
d'action, de temps et de lieu. Dieser Traite ist von 1637 (trotz E. Rigal, Le theätre
franqais, 1901, p. 339; cf. Archiv CVH, 443).
3 Aus dem Umstand, dafs Chapelain hier und später diesen Ausdruck {jour
naturel) braucht, darf geschlossen, werden, dafs er von der Kontroverse wufste, die
sich an Aristoteles' ftiav negioSov rjkiov geknüpft hatte: ob damit nämlich der
dies naturalis von 24 Stunden oder der dies artißcialis der Tageshelle gemeint sei.
Chapelain entscheidet anders als z. B. Robortello (dies artificialis) und Castelvetro
(dodici ore). Kannte er Segnis Poetica a"Aristotile (1549)? Übrigens betrachtet er
1630 die 24 Stunden als ein Maximum und erscheint ihm die Hälfte dieser Zeit
als das Normale (Arraud, l. c. p. 343).
Archiv L n. Sprachen. CXV. 28
434 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
So ist denn Chapelain 1020 keineswegs ein Entdecker, ganz abgesehen
von der beiläufigen und fragmentarischen Form seiner Aufserungen.
Das Nächste, was wir nun in Frankreich von der 24-Stunden-Regel
hören, datiert von 1628. Am 28. September dieses Jahres schreibt Balzac
aus Paris an M'm' Desloges über den Typus einer femme savante, die unter
anderem auch literarische Kritik treibe und nicht imstande sei, de souffrir
une comedie qui n'est pas dam la loi des 24 heures, qu'elle s'en va faire
publier par toute la France.*
Balzac weist damit deutlich auf die Salons der hauptstädtischen So-
ciete polte als den Ausgangspunkt der praktischen Forderung der
'Zeitregel' hin: die Salonkritik fordert sie; sie fordert sie als eine neu-
modische Eleganz, als eine nouvelle invention? wie Godeau noch 1630 zur
Verwunderung Chapelains sagt, der ihm antwortet, die Geschichte sei ja
uralt, schon das antike Theater habe diese Regel beobachtet — ob Aristo-
teles selbst von ihr handle, entsinne er sich nicht.3
Und deutlich können wir erkennen, wie die Societe polte um 1628 zu
ihrer Forderung kam. Das Vehikel bildete die Pastorale.
Die Pastorale war das Stück, in dem die Salonwelt mit ihrem ga-
lanten Treiben sich spiegelte. Seit Jahren stand sie unter dem Einflufs
der Astree. Die Derbheiten Hardys treten zurück. Künstlerisches Streben
macht sich geltend (viel mehr als in der verwilderten Tragicomedie). Zu
den italienischen Vorbildern Tasso und Guarini gesellen sich andere,
besonders G. Bonarelli mit der Filii dt Sciro (1607). Die französischen
und italienischen Elemente mischen sich bei den einzelnen Dichtern in
verschiedenen Dosen. Da die französische Pastorale die regle des 24 heures
nicht beobachtet, so gestattet sie eine reichere Entfaltung der Bühnen-
handlung.4
Gegen 1619 stellt Racan in Les Bergeries (gedruckt 1625) 'die Tor-
heiten seiner Jugendjahre' dar. Das Stück ist zugleich Huldigung und
Rache seiner unerwiderten Liebe. Die schleppende Handlung ist aus
Hardyschen, D'Urf6schen und italienischen Elementen zusammengesetzt
und folgt in ihrer Kompliziertheit hauptsächlich dem Pastor fido.
Einen reicheren, bewegteren Inhalt, mehr wirkliches Liebesleben, leider
auch mehr Pointen gibt Mairet in seiner, wie es scheint, frei erfundenen
Silvie (1626), die sich der Welt der Tragicomedie nähert. Er nennt sie
denn auch tragicomedie pastorale, worin andere ihm folgen werden.
Diesen unregelmäfsigen französischen Pastoralen gegenüber er-
schien der Salongesellschaft die strenge, zeitliche Regelhaftigkeit der
italienischen Pastorale, die sich dafür auf das Altertum berief, als das
Vornehmere. Und als ob sie nie zuvor in Frankreich erhoben worden
1 Man fllhlt, wie Balzac diese loi qu'on va faire publier par toute la France
1628 nicht ehen sehr ernst nimmt, sondern eher für eine modische Schrulle hält.
2 Als P. Corneille 1628 — 1629 zu Rouen sein erstes Stück schrieb, Melite, da
liefs er die dramatische Handlung sich über Wochen ausdehnen, weil er, wie er
später selbst sagt, damals — in Rouen — von der Existenz der Zeitregel noch
nichts wufste. In seinem zweiten Stück, Clitandre (1632), unterwirft er sich ihr.
3 Vgl. oben S. 5 Anm. 2. Der Ton dieser Stelle läfst nicht annehmen, dafs Cha-
pelain während der Jahre 1628 — 1630, da der Kampf um die regle des 24 heures
schon heftig tobte, sich intensiv mit der Sache beschäftigt habe. Man begegnet
überhaupt in dem ganzen Kampf dieser und der nächsten Jahre (bis 16 3 6), an
welchem Ogier, Mairet, Isnard, Scudery, Gombaud, Rayssiguier, Corneille teil-
nehmen, keiner Spur von Chapelain. Auch in seinen Briefen spricht Chapelain
von der Zeitregel erst aus Anlafs der Querelle du Cid (1637).
4 Es ist bezeichnend, dafs z. B. Rayssiguier in seinem Aminie du Tasee
(1632) Vorgänge, die Tasso nur erzählen läfst, in Handlung umsetzt.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 485
wäre, wird nun 1628 die Forderung der 24 - Stunden - Einheit aus der
italienischen Pastorale neu importiert.1
Sofort erhebt sich auch der Widerspruch. In der bekannten Vorrede
zu dem romantischen Schauspiel {tragicomedie) Tyr et Sidon2 bekämpft
1628 der Pariser Geistliche Ogier die Zeitregel, weil sie den Dichter zu
Unwahrscheinlichkeiten und zur Ersetzung der Handlung durch rheto-
rische Berichte dränge. Die griechische Bühne habe diese Regel keines-
wegs streng befolgt, und überdies seien die Franzosen keine Griechen.
Er verweist auch auf das Beispiel der Freiheit, welches das spanische
Theater gebe. Von einer Ortseinheit ist nirgends die Rede.
Mairet aber liefs sich von der Salonkritik belehren.3 1629 brachte er
auf einer Salonbühne eine neue tragicomedie pastorale zur Aufführung:
Silvanire, zu der D'Urf£s gleichnamiges Stück (um 1627) ihn angeregt
hatte. Er zwängte die schleppende, chorbegleitete Handlung in 24 Stun-
den ein und schuf so die regelhafte italiauisierende Pastorale. In einer
der Prachtausgabe des Stückes (1631) vorausgeschickten Abhandlung ver-
teidigte er unter Berufung auf die Wahrscheinlichkeit, auf die italienische
Pastorale und die Alten die Einheit der Handlung und den ordre du
temps für ernste und heitere Bühnenstücke. Von einer Ortseinheit ist
noch keine Bede. Doch bemerkt Mairet, dafs die Reduktion der Zeitdauer
der Handlung auch eine Vereinfachung der 'ambulatorischen'4 Szene
bringen werde. Der Ortswechsel wird sich eben nun auf einen Raum be-
schränken, der in 24 Stunden durchmessen werden kann, z. B. auf eine
Provinz oder eine Ortschaft. Man kann also zunächst blofs von einer
Landschafts- oder Ort Schaftseinheit (unite de Heu en general, wie
Corneille sagt) reden, die in Silvanire denn auch mit recht verwickeltem
Ortswechsel verbunden ist.5
Nichts in dieser Vorrede verrät Kenntnis noch Einflufs Chapelainscher
Gedanken : was Mairets und Chapelains literarischer Kritik gemein ist,
stammt aus den gemeinsamen Quellen ; was für Chapelain charakteristisch
ist, fehlt bei Mairet.
1 Die Zeit von 1628 und 1629 macht in der Geschichte der Pariser Bühne
überhaupt Epoche: der Streit um die Zeitregel entsteht; Mondory gründet ein
neues Schauspielhaus; nachdem Mairet vorangegangen, debütieren nun Rotrou,
Gombaud, Rayssiguier, Du Ryer, Scudery, Corneille und andere als Theaterdichter.
Es stellt ein frischer kräftiger Zug sich ein.
2 In seinem Abdruck dieser Tragikomödie von 1628 (Anc. theätre franqais,
1856, VIII, p. 7) sagt Viollet Le Duc, dafs dies die zweite vermehrte Auflage
einer Ausgabe des Stückes von 1608 sei, die er nicht selbst gesehen. Die Sache
verlohnt eine nähere Untersuchung, auf die ich zurückkommen werde. Das Stück
von 1608 ist ein wesentlich anderes: Tyr et Sidon, tragedie, ou les funestres amours
de Belcar et Meliane etc., in 5 Akten, mit Chören und erheblich weniger Personen.
Die Umwandlung dieser antikisierenden Tragödie von 1608 in eine Tragikomödie
von 1628 ist eine sehr interessante Illustration zur Theatergeschichte der Zeit
Hardys, welche die Renaissancetragödie ins romantische Schauspiel überführt. Die
Societe des Textes franqais moderne* könnte das König Jakob I. von England ge-
widmete Bändchen von 1608 mit Nutzen neu drucken.
3 Nach seiner eigenen Angabe (Otto, 1. c. p. 9) bewog ihn das Zureden des
Grafen Carmail und des Kardinals Valette de composer une pastorale avec toutes les
rigueurs que les Italiens ont accoütume de pratiquer en cct agreable genre d'ecrire.
4 Der Ausdruck scene ambulatoire für die bunte Hardysche Inszenierung stammt
von Sarasin, Vorrede zu Scuderys Amour tyrannique.
5 In der Vorrede zu seiner Pastorale Amaranthe billigt Gombaud im näm-
lichen Jahre (1631) die Beschränkung der Zeitdauer auf zwölf Stunden, du maün
au soir ou du soir au matin. Die Landschaftseinheit werde sich auf eine Insel oder
eine Provinz beschränken.
28*
43G Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Die in den Salons mit Beifall überschüttete Silvanire wurde im Hotel
de Bourgogne (1630) ohne Beifall gespielt. Die Zeitregel, sagt nachher
Mairet selbst, est de tres difficile Observation ä cause de la sterilite des beaux
effets qui rarement se peuvent rencontrer dans un si petit espace de temps.1
(Test la raison de V Hotel de Bourgogne que mettent en avant quelques-uns
de nos poetes qui ne s'y veulent pas assujettir. Und Rayssiguier bemerkt
l§32 (Otto, 1. c. p. CXIII): La plus grande part de ceux qui portent le
teston ä V Hotel de Bourgogne veulent que Von contente leurs yeux par la
diversite et changement de la face du theatre et que le grand nontbre des
accidents et aventures extraordinaires leur ötent la connaissance du sujet:
ainsi ceux qui veulent faire le profit et Vavantage des messieurs qui recitent
leurs vers sont obliges d'ecrire sans observer aucune regle.
Die Schauspieler und die für sie schreibenden Dichter lehnen also die
Fessel der neuen Zeitregel ab. So wurde der Streit um die Regel zu
einem Kampf zwischen Salonästhetikern und Bühne, zwischen den
ldoctes' und den 'ignorants', zwischen Theorie und Praxis.
Zu Mairets italienischer Theorie bekannte sich Gombaud. Auf seiten
dieser Salonkritik steht natürlich auch Richelieu, der eben damals
daran ging, sich ein Salontheater zu erbauen. Auch Chapelain, der
schon in der Vorrede zum Adone zu erkennen gegeben hatte, dafs ihm
der jour naturel für das Drama als eine Forderung der vraissemblanee er-
scheine. Als der verwunderte Godeau ihn 1630 nach der neuen Regel-
erfindung fragt, gibt er die schon oben zitierte briefliche Antwort (cf. oben
S. 5 und 7), die, wie gesagt, in keiner Weise verrät, dafs er sich mit
dem nun schon zwei Jahre dauernden Regelstreit näher beschäftigt habe.
Jetzt erwähnt auch Chapelain, dafs die Beobachtung der Zeitregel natur-
gemäfs eine Vereinfachung des Handlungsortes zur Folge haben werde.
Er spricht durchaus noch nicht von einer unite de Heu, sondern er drückt
sich allgemeiner, ganz im Sinne der Landschaftseinheit aus, wie da-
mals auch die anderen taten.2
Dafs der theaterfreundliche Richelieu erst durch Chapelain, der kaum
vor 1634 zu ihm in Beziehungen trat, von einem dramaturgischen Streit
unterrichtet worden sei, welcher seit 1628 Theater und Salons erfüllte,
hält vor streng chronologischer Betrachtung nicht stand.
Die Rücksicht auf den Bühnenerfolg bestimmt Mairet, in seinem
nächsten Stücke wieder von den alten Freiheiten Gebrauch zu machen
(1632: Les galanteries du duc d'Ossone). Die tragicomedie Virginie (1633)
aber mit ihrer komplizierten Szenerie unterwirft er von neuem der Zeit-
regel.
Inzwischen griffen andere auf die Tragödien Senecas zurück und be-
arbeiteten, unbekümmert um diese Zeitregel, seinen Thyestes oder seinen
'sterbenden Herkules' (Rotrou 1634).
Von dieser Seneca-Renaissance angeregt, schrieb auch Mairet
eine Tragödie, Sophonisbe, und liefs sie (Dezember 1634) im Maraistheater
aufführen, das der Salonkritik mehr entgegenkam. Die Handlung verläuft
1 Die antiken Tragödien und Komödien erscheinen ihm denn auch handlungs-
arm und en quelque faqon ennuyeuses (Otto, 1. c. p. 19).
a Im Februar 1635 sendet Chapelain an Boisrobert die Abschrift einer kleinen
dramaturgischen Arbeit (la copie de ces regles de, la comedie). Es ist damit wohl
eine Skizze gemeint, wie sie bei Arnauld p. 347 sich abgedruckt findet. Es ist
leicht möglich, dafs diese kompendiöse Zusammenfassung für die seit 1634 be-
stehende Genossenschaft der cinq auteurs bestimmt war. Hier braucht Chapelain
zum ersten Male den Ausdruck unite du Heu, aber der Zusammenhang zeigt deut-
lich, dafs er immer noch die Provinz- oder Landschaftseinheit meint und
nicht die unite de, lieu im späteren strengen Sinne.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 437
innerhalb 24 Stunden. Die Bühne zeigt das Innere eines Königspalastes
mit dessen Umgebung; mitten im fünften Akt wird durch Entfernung
eines Vorhanges ein weiterer Baum geöfinet, in dem die tote Königin
liegt. So zeigt die rhetorische Sophonisbe wirklich Einheit des Ortes.
Diese Sophonisbe schwellte den Strom der Tragödiendichtung, der seit
anderthalb Jahrzehnten versiegt war. Fast jeder Dichter schrieb 1635J36
sein regelrechtes Trauerspiel: La Calprenede einen Mithridates, Cor-
neille eine Medea, Desmarets eine Aspasia, Tristan eine Mariamne,
Benserade eine Cleopatra. Sogar Scud^ry 'genügte den Gelehrten'
durch einen Ccesar, um dann durch die Buntheit einer Dido (lo37) wieder
'das Volk zu befriedigen'. Mairet selbst, der Führer der ganzen Be-
wegung, gab noch einen Marens Antonius und einen Soliman. Rotrou
hielt sich fern.
Alle diese 'regelrechten' Tragödien zeigen noch kombinierte Inszenie-
rung. Das Beste unter ihnen, Tristans Mariamne, bedarf fünf verschiede-
ner, aber benachbarter Örtlichkeiten (compartiments) : Thronsaal, zwei Ge-
mächer, Gefängnis und offene Halle.1
So ist mit dem Jahre 1635 der Sieg der 24-Stunden-Regel gesichert.
In der Vorrede zu Panthee (Anfang 1639) erklärt denn auch Durval,
dafs die 'reguliers' nun seit reichlich drei Jahren die Bühne beherrschen.
Es erscheint als ganz natürlich, dafs — wie schon das Beispiel von
Mairets Sophonisbe zeigt — auch der Handlungsort des zeitlich verein-
fachten Dramas sich immer mehr vereinfacht, und dafs die Theoretiker
hier nachzuhelfen sich bestreben, um die Landschafts- und Ort-
schaftseinheit der kombinierten Szene2 zur strengeren unkombinierten
Ortseinheit zu führen. Noch 1635 kennt auch Chapelain nur diese
Landschaftseinheit (vgl. S. 9 Anm. 2). Aber schon im Sommer 1636 zeigt
Durvals Argument zu Agarite, dafs die Kritik angefangen hat, die Einheit
des Ortes zu fordern, und bekanntlich verlangt dann im Dezember 1657
die junge Akademie in ihren Sentiments sur le Cid diese strenge Orts-
einheit als Konsequenz der Tageseinheit.
Aber diese Forderung blieb zunächst wesentlich Theorie. Im Jahre
1639 tadelt Sarasin, dafs die Dichter noch einige Beste der alten Hardy-
schen Inszenierung bewahrt hätten: leur scene est bien en une seul eville
mais non pas en un seul Heu (Otto, 1. c. p. CXVI).
La Mesnardiere stellt in seiner Poetique den Stand der 'göttlichen'
Regeln für 1610 dar. Auch er bezeugt noch die Ortschaftseinheit mit
kombinierter Inszenierung. Der Abbe d'Aubignac aber fordert 1657
in seiner Pratique du theätre die strenge Ortseinheit, die nun, wie er sagt,
auch herrschend zu werden beginne, nachdem die Zeiteinheit seit zwanzig
Jahren zur Begel geworden. Und der Erste, der schliefslich dazu kommt,
die unite de Heu im allerstrengsten Sinne als 'Zimmereinheit' zu formu-
lieren, ist Corneille, der 1661 einen Ausweg aus seinen Inszenierungs-
nöten in der Fiktion jenes Vestibüls, wo alle Personen in gleicher Weise
zu Hause sind, findet (CEuvres, ed. Marty-Laveaux I, 121).
Ich bitte meinen Freund Bovet um Entschuldigung dafür, dafs ich
alle diese Dinge hier aufzähle, die er ebensogut kennt wie ich. Doch,
wollte ich seinen scharfsinnigen Ausführungen mit Aussicht auf Erfolg
widersprechen, so war es unerläfslich, das Wesentliche aus den zeit-
1 Mit dieser Inszenierung wurde Mariamne im Februar 1897 im Od£on auf-
geführt.
2 Zur kombinierten Szene gesellte sich bereits auch der Szenenwechsel mit
Hilfe von Vorhängen und Kulissen (vgl. Archiv CVII, 443 f.), den besonders S en-
de ry braucht. Eine nützliche Zusammenstellung seiner schwankenden Ortsbehand-
lung gibt A. Batereau, G. de Scudery als Dramatiker, Leipzig, 1902, S. 170 ff.
438 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
genöasischen. Zeugnissen hier zusammenzufügen. Denn nicht die iso-
lierende Betrachtungsweise, sondern blofs solche Zusammenfügung setzt
die Entwickelungsvorgänge in deutliches Licht. Das Detail gewinnt erst
hier seine Kraft: l'union fait la force gilt auch davon.
In der Literaturgeschichte — wie in der Geschichte überhaupt —
werden entscheidende Bewegungen gern auf bewufstes Eingreifen bestimm-
ter Persönlichkeiten zurückgeführt und so eine anek dotische Erklärung
bedeutsamer geschichtlicher Vorgänge geschaffen. Der Mensch neigt dazu,
alles Denkwürdige auf einen bestimmten Namen abgestempelt zu sehen.
Dieser Neigung zur Legendenbildung sind auch die sogenannten 'drei Ein-
heiten' zum Opfer gefallen, und zwei Gewährsmänner des achtzehnten
Jahrhunderts, die Segraisiana und D'Olivet, erklären denn die 'Ein-
führung der drei Einheiten' als die Tat Chapelains.1
Kein Zeitgenosse weifs etwas davon, und was uns die Zeugnisse der
Zeitgenossen — Chapelain inbegriffen — über dramaturgische Dinge der
Jahre 1628 — 1636 lehren, das widerspricht direkt jener nachträglichen
Überlieferung.
Es handelt sich nicht um die Einführung der 'drei Einheiten'. Die
unite (factum ist jederzeit eine unbestrittene Forderung gewesen. Es han-
delt sich zunächst auch nicht um die unite de lieu; diese tritt erst im
Laufe der Jahre im Gefolge der Zeiteinheit auf, braucht Jahre, um for-
muliert zu werden, und Jahrzehnte, um durchzudringen.2 Es handelt
sich nur um die regle des 24 heures. Diese wird durch das Beispiel der
italienischen Pastoralen um 1628 in die Salons der Pariser Societe polte
getragen, und der Einflufs dieser mächtigen Kreise bewegt den Pastoralen-
dichter Mairet 1629, trotz des Widerspruches der Praktiker seine Silva-
nire der Forderung der Salonkritik zu unterwerfen.
Die Zeitregel kommt mit der Pastorale aus Italien.
Das Tragödienjahr 1635, im Gefolge von Mairets Sopkonisbe, be-
siegelt dann ihren Triumph.
Unter den Namen der literarischen Persönlichkeiten, die in diesem
siebenjährigen Kriege hervortreten, fehlt der Chapelains. —
E. Brugger, der seit Jahren mit tief eindringender Arbeit das Ge-
biet der bretonischen Sagen und ihrer französischen Überlieferung durch-
forscht, bringt einen 'Beitrag zur Arthurischen Namenforschung'
und handelt über Alain de Oomeret.
1 Zweifellos wird bei dieser Legende Chapelain überhaupt eine persönliche
Bedeutung zugeschrieben, die der junge Mann gegen 1630 noch gar nicht hatte.
In der Erinnerung der Nachwelt lebte eben der spätere Nephelegeretes Chapelain
weiter, der dann besonders unter Mazarin das literarische Wetter machte, bis das
Boileau-Gewitter ihn wegfegte.
2 Die Geschichte der unite de lieu ist ein Kapitel für sich. Es ist immer
noch nicht geschrieben trotz aller Abhandlungen zur Geschichte der drei Ein-
heiten. Wer sie schreiben will, mufs besonders auf zwei Dinge achten. Erstens
mufs er in der Darstellung der Theoretiker wohl scheiden zwischen der älteren
Forderung einer blofsen Vereinfachung der Handlungsörtlichkeiten (cf. Madius,
1550; Scaliger, 1561; Mairet, 1631, Landschaftseinheit) und der späteren
Forderung einer eigentlichen Ortseinheit (Castelvet ro, 1570; Jean de la
Taille, 1572; Carlos Boyl, 1616: dentro una casa; Academie franc^ise,
1637). Zweitens mufs er die zeitgenössische Bühnenpraxis der mise en scene
(kombinierte Inszenierung und Kulissenwechsel) genau verfolgen. Was eben die
Ortseinheit von den beiden anderen Einheiten trennt, das ist, dafs sie einen tiefen
Eingriff in die überlieferte Bühnenpraxis bedeutet. Dieser Umstand hielt ihren
Triumph hintan.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 439
Alain de Oomeret klingt auch dem, der im Oycle breton einigermalsen
belesen ist, fremd. Und wirklich findet sich der Name in dieser Form
nirgends in der Arthur-Epik. Brugger aber hat seine Spur doch überall
gefunden — als Namen von Percevals Vater.
De Oomeret begegnet als bretonische Heimatsbezeichnung bei
mehreren Namen:
Ban de Gomeret (z. B. im Eree und Perceval Chr^tiens; im Beau De-
eonnu); Elinan, Elian de Oomeret (in den Proph. de Merlin); Marin
lejaloux de Oomeret, Oomoret, Oomaret (im Perlesvaus).
Es findet sich ein Alain (le gros) als Vater Percevals in den meisten
französischen Perceval-Romanen.
Als Personenname erscheint Oomeret (Oaumeret) mit dem bre-
tonischen Attribut mor {= der Grofse) im Atre perilleux und, wenn Brugger
gegen Hertz und Heinzel recht hat, bei Wolfram. Wolfram nennt den
Vater Percevals Gahmuret (von Anjou). Dieser Oahmuret, mit dessen
Geschichte Wolfram die beiden ersten Bücher seines Parxival füllt, würde
einem Gomeret, Oaumeret des verlorenen Guiot sehen Perceval entsprechen,
und in diesem hätte der Verfasser des Atre perilleux den Namen gefunden.
In die Vielheit dieser Namen bringt Bruggers Scharfsinn Einheit:
ihr gemeinsamer Ursprung ist in Alain de Gomeret zu suchen.
Gomeret ist die auf graphischem Mifsverständnis beruhende Namens-
form, mit der die französischen Romane die altbretonische Landschaft
Guenet (= franz. Vannes) bezeichnen (der Name kann dann wohl auch
die Bretagne überhaupt bedeuten).
Alain mor [de Oomeret] hiefs ein historischer Graf von Vannes (f 908),
der schliefslich Herrscher über die ganze Bretagne geworden war. Die
Überlieferung der Lais und Romane hätte also den Namen dieses Alain
mor [de Gomeret] merkwürdig getrennt in : einerseits Alain, dessen Beiname
mor dem Attribut le gros wich, das von einem späteren bretonischen
Grafen Conain le gros (f 1148), dem Sohne Alain Fergants, her-
käme (cf. den Lai Tidorel); anderseits Oomeret, was mifsverständlich zum
Personennamen gemacht wurde.
Da diese Überlieferung im Französischen wesentlich schriftlich war,
so waren die fremden Eigennamen argen Verstümmelungen und Ver-
wechselungen ausgesetzt, und damit ist denn auch bei dieser Namen-
forschung der Hypothese ein weites Feld eröffnet. Falsche Schreibung
oder Lesung, Kleckse, welche einen Teil des Wortes entstellen, Vertau-
schung von Buchstaben und Buchstabengruppen, Abfall ganzer Silben
sind mehr oder weniger authentische Vorgänge, die zwischen scheinbar
unverwandten Namensformen willkommene Brücken zu schlagen gestatten.
Dem Linguisten schwindelt bei diesen Kombinationen — doch hat er hier
wenig mitzureden, da es sich nicht um lautliche, sondern um graphische
Vorgänge handelt. Man wird Brugger, der sich auf diesem glatten Boden
mit grofser Sicherheit, aber auch mit grofser Vorsicht bewegt — wie oft
sagt er 'vielleicht', 'wohl', 'es dürfte' — , bei seinen einzelnen Schritten
meist gern folgen und doch am Ziele auf die durchlaufene Bahn mit
einem Gefühl der Unsicherheit zurückblicken. Aber lehrreich ist der Weg,
und Dank schulden wir dem, der ihn so scharfsinnig gewiesen hat.
So verfolgt Brugger die Histoire poetique des Alain mor [de Gomeret]
des 9. Jahrhunderts durch das Wirrsal der bretonisch-französischen Über-
lieferungen und ihrer fremden (griechischen) Einschläge. Von ihr aus
fallen fesselnde Streiflichter auf Entstehung und Charakter des französi-
schen Cycle breton. Z. B. auf die Stammsage der Bretonenfürsten (Lai
Tidorel)1 und des Hauses Bouillon (Schwanrittersage) und ihre Verknüpfung
1 In der Deutung des Details dieses merkwürdigen Lai vermag ich freilicli
Br. nicht überall zu folgen.
440 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
mit dem P<?rc«'a/-Roman, auf den griechischen Ursprung des verlorenen
Sagremor-Rom&ns etc. Das Vorkommen von Mohrenland und Sarazenen
in den späteren Arthur-Romanen wird besprochen; es werden Spuren <ler
Überlieferung von den Kämpfen der Bretonen gegen Goten und Franken
signalisiert ; das Verhältnis von Perceval und Lancelot (gemeinsame Quelle)
wird gestreift — Brugger verweist hier, wie nicht selten, auf Untersuchungen,
mit denen er noch Dicht ans Licht getreten ist, und deren Veröffentlichung
man mit Spann ung entgegensieht. Das gilt besonders auch für seine Be-
merkungen zur Kiot-Frage. Brugger, der uns längst eine Ausgabe der
Werke Guiots von Provins versprochen hat, wird in dieser Ausgabe seiner-
seits den Nachweis versuchen, dafs Guiot in angevinischem Interesse einen
angevinischen Perceval mit Beigabe sekundärer kymrischer Züge ge-
schrieben, der Wolfram als Muster gedient. Dieser angevinische Tendenz-
roman sei dann mit dem Sinken der Macht des Hauses Anjou der Ver-
gessenheit anheimgefallen und der Nachwelt verloren gegangen. Diese
Auffassung zu besprechen wird erst dann an der Zeit sein, wenn Brugger
ihre ausführliche Begründung gegeben haben wird.
Sein ganzer Aufsatz ist ein neuer Beitrag zur Lehre von der breto-
nischen Herkunft der französischen Arthur-Epik. In der einst so leiden-
schaftlich geführten Diskussion dieser Frage ist man jetzt ruhiger ge-
worden, und Brugger selbst hat seinen Ton zum Nutzen der Sache ge-
mäfsigt. Ich gehöre zu denen, die der von ihm vertretenen Auffassung
im wesentlichen recht geben, ohne einen frühen kräftigen britisch-anglo-
normannischen Einschlag in dem bunten Gewebe der französischen Arthur-
Epik zu leugnen. —
Das Patois von Cremines l betitelte sich eine Inauguraldissertation von
1896, die im Druck indessen nur die Darstellung des Vokalismus bot.
Ihr Verfasser, W. Degen, trägt hier aus seinem Material Die Konju-
gation im Patois von Cr6mines nach. Leider verschwindet dabei
ein Teil der Lautlehre, die Darstellung des Konsonantismus, in der Ver-
senkung, und der Leser steht nun manchem Problem der Verbalformen
zu wenig ausgerüstet gegenüber. Hoffentlich schenkt uns Degen nach-
träglich auch diese Konsonantenlehre noch.
Das Verbum von Cr6mines ist reich an Problemen, gemeinwest-
schweizerischen und eigenen.2 Die Mundart ist am Absterben und zeigt
in der Konjugation Erscheinungen, die man als Zeichen des Verfalls, d. h.
des schwindenden Sprachgefühls ansprechen möchte.
Das lautliche Zusammenfallen von Infinitiv und. Part. perf. in den
Verben auf -are und -ire (auch anderer Verba, wie z. B. tswä = cadere
und *cadectu) führt dazu, dafs oyü und ntdrü als Infinitive in Gebrauch
gekommen sind.3 Wie das Partizip den Infinitiv erneuert, zeigen auch
1 Cremines liegt im Jura an der Sprachgrenze, die dort zugleich bernisch-
solofhurnische Kantonsgrenze ist.
2 Dafs Kabutum dem Verb etr sein Part. perf. liefert: i so äyü (= fai ete),
darf freilich nicht als eine Cremines eigentümliche Erscheinung angesprochen wer-
den (§ 30). Sie ist nicht nur gemeinwestschweizerisch (cf. S. 192, 293), sondern
weit über romanisches Gebiet verbreitet, und seit Gauchat 1900 in der Festschrift
für E. Monaci über sie gehandelt hat, ist sie auch von Salvioni (Arch. glottol
XVI, 208) besprochen worden. Einen Hinweis bringt auch dies Archiv CIX, 197 n.
3 Wie auf der Basis des r-losen Infinitivs eine Verwechselung mit dem Part,
perf. eintreten kann, zeigt das surselvische i (gehen; mit der Nebenform ira aus
ire -j- ad, wie Gärtner, Rätorom. Grammatik, p. 186, richtig erklärt). Das Part,
perf. von i* heifst im Sing, ius, im Plur. i. Eis ein i (sie sind gegangen) wird nun
zu eis ein ira, was trotz Ascoliß Bedenken (Arch. gloit. VII, 511) nicht als Präsens,
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 441
die Verba, die das r des Infinitivs noch erhalten haben. So ist rötre <
rumpere nicht schwer zu deuten (§ 9), sondern aus dem Part. *rumpitu
entstanden wie trentinisches rotter aus ruptu. Rontre fand Nigra in Val
Soana (Arch. glott. III, 88, wo er auch auf die weitere Verbreitung der
Form hinweist), und seither hat sie Salvioni auch im Pavesischen nach-
gewiesen (ib. XV, 3(5 f.). So sind denn auch gewifs die merkwürdigen
Infinitive äpü'r (appuyer), diü^r (jowr) etc. Neubildungen auf Grund der
Part, äpü? etc.
Dafs die endungsbetonten (Plural-)Formen des Konjunktiv praes. teil-
weise mit den Imperfektformen zusammenfallen, ist ja gemeinfranzösisch
(-ions, -iex). Eine Reihe westschweizerischer und ostfranzösischer Mund-
arten haben diese Betonung auch auf die 3. Pers. Plur. ausgedehnt, so
dafs der ganze Plural von Imperf. und Konj. praes. zusammenfällt. Viele
Mundarten des franko - provenzalischen Gebietes haben bekanntlich auch
im Singular des Konj. praes. endungsbetonte Formen entwickelt und da-
mit diesen Konj. lautlich dem Imperf. noch mehr genähert. Aber bis
jetzt ist nur in Cr^mines der völlige Zusammenfall der Endungen von
Konj. praes. und Imperf. indic. beobachtet worden. Man wird durchaus
geneigt sein, diesen Zusammenfall lautlich — und nicht analogisch — zu
erklären, doch fehlt für eine fruchtbare Diskussion noch die phonetische
Grundlage.1
Degens Darstellung ist sehr knapp; ein reiches morphologisches Ma-
terial ist auf wenigen Seiten zusammengedrängt und übersichtlich ge-
ordnet. Die Probleme treten scharf hervor; doch hat der Verfasser mit
Recht auf billige Gelegenheitserklärungen verzichtet und auf die grofsen
Zusammenhänge hingewiesen.2 —
Aus seinem umfangreichen Werke über Dante in Francia gibt A. Fari -
nelli hier einen weiteren Vorläufer: das Kapitel Dante nell'opere di
Christine de Pisan.
Fast zu gleicher Ztit zogen von Italien nach Westen und nach Nor-
den die beiden ersten literarischen Verkündiger Dantes aus: der Genuese
Francisco Imperial nach Spanien und die Venezianerin Christine nach
Frankreich. Wie Imperial sich auf der Spur Dantes abmüht, zeigt Fari-
nelli in seiner Arbeit Dante in Ispagna nell' Etä Media (vgl. Archiv CXV,
270). Christine ist eine ungleich bedeutendere Persönlichkeit als jener
Genuese. Streben, Gesinnung und Wissensdurst brachten Dante ihrem
Denken und Empfinden inhaltlich nahe. Augenscheinlich erbaute sie sich
an ihm, wenn sie auch aus seiner Gedankenwelt wenig direkt sich zu eigen
zu machen vermochte. Die Macht des Poeten mag sie gefühlt haben, aber
künstlerisch bleibt Dante auch ihr nicht nur unerreichbar — der Künstler
bleibt auch ihrem Schaffen fremd. Christine hat keine Gestaltungskraft,
und eine persönliche Note ist in ihren Werken eigentlich nur da erkenn-
bar, wo sie von ihrem Unglück spricht oder ein Liebeslied singt.
sondern als historisches Perfekt aufzufassen ist, wie der Zusammenhang der Texte
zeigt. Vergl. z. B. Cheu ein ei ira in den Praulas surselvanas in Böhmers Rom.
Studien II, 133, 8.
1 Warum sollte z. B. räsi (scier) nicht res(e)cart sein (§ 12)? Cf. jetzt
Gillieron et Mongin, ' Scier dans la Gaule romane du sud et de Test, Paris 1905. —
Ist nicht äbrü'r (avaler) = franz. broyer (§ 13)?
a Der Ausdruck: 'es wird ein y eingeschoben zum Zwecke, einen durch den
Fall eines Konsonanten entstandenen Hiatus zu beseitigen' ist sehr anfechtbar.
Solche Zwecke darf man dem Lautwandel nicht setzen. Die Sprache scheut keinen
Hiatus; wohl aber entwickeln sich zwischen Vokalen leicht hörbare Übergangs-
lautc. Vergl. dazu Gorras Abhandlung (Studi di ßi rem. VI, 465 ff.).
442 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Es ist ihr Verdienst, zum ersten Male in französischer Sprache von
Dant de Florence, dem raillant, dem sage poete gesprochen zu haben. Sie
stellt das Buch qu'on appelle le Dant en langue florentine souverainement
ditte, als eine Quelle höherer Belehrung und edlerer Art dem verabscheuten
Rosenroman gegenüber. Von der Überzeugung erfüllt, dafs wissenschaft-
liche Bildung die Blüte des Daseins ist, wählt sie das lungo studio, mit
welchem Dante sich bei Vergil legitimiert (Inferno I, 83), zur Lebensauf-
gabe. Sie schreibt das Buch vom Chemin de long etude (1402), indem sie
Dantes Wort
vaglia mt u lungo studio e il grande amore
Che m'a fatto cercar lo tuo volume
zu ihrer Devise, zu ihrem Stofsgebet macht:
Vaille moy long estude
Qui m'a fait cerchier (es volumes.
Am Anfang ihres endlosen allegorischen Chemin zeigt sie einige Dante-
sche Reminiszenzen (an den Limbo mit seinen Gelehrten und Dichtern,
an das Paradiso terrestre) — auch in den zunächst folgenden Werken
(Mutaeion de fortune, Visions, Livre de Prudence) verweist sie noch auf
Dante und entlehnt ihm dort eine Invektive, hier einen Hinweis auf les
palus d'enfer oder den Spruch von der verite qui face a de menconge (Inf.
XVI, 124). Dann aber entschwindet der Dichter ihrem Gesichtskreis;
Italien und seine Sprache werden Christine fremder in der Not ihrer fran-
zösischen Existenz. Seit 1407 scheint sie Dante nicht mehr zu nennen,
und sichere Spuren der Commedia vermag auch das scharfe Auge Fari-
nellis bei ihr nicht weiter zu finden.
So ist Dante in ihr nicht sehr lebendig geworden. Sie sieht aus engen
Schranken zu ihm auf. Sie kennt von seinen Werken nur die Commedia.
Diese ist für sie ein opus doetrinale. Der so persönlich geprägten Ge-
dankenwelt dieser Commedia vermag die unermüdliche Kompilatorin eigent-
lich nur das Unpersönliche zu entnehmen, das, was sich schon in den
Quellen Dantes, in der Bibel, bei Boethius etc., fand: Gemeinplätze der
mittelalterlichen Wissenschaft.
Das zeigt uns Farinelli mit reichem Kommentar, und er gibt uns zu-
gleich ein sympathisches Bild der strebenden Frau, die sich selbst treffend
eine ancilla scientiae genannt hat. Er schöpft dabei auch aus ihren un-
gedruckten Werken. Wieder erfüllt der Umfang seiner Belesenheit und
die Fülle seines Gedächtnisses mit Bewunderung, und zum Gefühle der
Sicherheit, mit dem der Leser sich diesem Führer überläfst, gesellt sich
die Freude an der kunstvollen Darstellung, die das Wort Dantes mit der
Rede Christinens in den fesselnden Text verwebt. —
A. Fluri erzählt nach den Akten des bernischen Staatsarchivs 'Die
Anfänge des Französischunterrichts in Bern', die in die zweite
Hälfte des 17. Jahrhunderts zurückgehen. Es sind sehr bescheidene An-
fänge. Sie bezeugen ebensowohl die Ängstlichkeit des Rats in Sachen
der Niederlassung von Fremden als das alte Elend des Sprachmeister-
tums. Was den Rat bewegt, die Einrichtung französischen Unterrichts
seit 1675 ernstlich in Erwägung zu ziehen, ist der Umstand, dafs es be-
reits damals in der Bürgerschaft Sitte geworden war, die Kinder zur Er-
lernung der Sprache ins 'Welschland' zu senden, wodurch 'ohngleüblich
vil gelt aufs dem land und hingegen vil böse sachen eingebracht werden.'
Aber das Jahrhundert ging zu Ende, ohne dafs die amtlichen Schreibereien
zu einer Tat führten. Eine Eglise francaise war schon 1624 errichtet und
eine Ecole francaise für die Befugies, die nach der Aufhebung des Ediktes
von Nantes in Bern Zuflucht gesucht hatten, 1689 gegründet worden.
Aber für die Bernburger, die 'welsch' lernen wollten, geschah von Amts
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 443
wegen noch lange Jahrzehnte nichts, obwohl der Schulrat 1726 erklärt,
dals 'die frantzösische Sprach heüt zu Dag fast in der gantzen Welt üb-
lich und zum Commercio höchst nöhtig ist.' Erst 1769 wurde ein — un-
glücklicher — Versuch gemacht, Französisch in den Unterricht der Latein-
schule aufzunehmen, und erst zehn Jahre später erscheint diese Sprache
nun endgültig im Stundenplan einer städtischen Lehranstalt: der neuge-
gründeten sogen. Kunstschule, wo sie 'anstatt der todten Sprachen, von
denen man im gemeinen Leben selten einen Gebrauch zu machen weifs,'
gelehrt wird.
Fluris interessante Mitteilungen zeigen aufs neue, dafs Bern von alters
her bei allem französischen Firnis eine deutsche Stadt gewesen und ge-
blieben ist. Die siegreichen Burgunderkriege, die Reformation, die Er-
oberung der Waadt hatten ohnedies seit Ende des 15. Jahrhunderts das
deutsche Empfinden gestärkt: Französisch war die Sprache der besiegten
Savoyer und Burgunder und der unterworfenen Waadtländer. Der Eat
der Stadt Bern hielt jederzeit am Deutschen als seiner Amtssprache fest.
Um die Mitte des 16. Jahrhunderts weigerte er sich sogar, Mitteilungen
fremder Gesandten in französischer Sprache entgegenzunehmen. Die Ver-
hältnisse zwangen ihn hier natürlich bald zu Konzessionen. Die stete
Berührung mit welschen Untertanen machte den regierenden Familien das
Französische vertraut: französische Rede wurde gleichsam zum Zeichen
der Regimentsfähigkeit, und mit dem 18. Jahrhundert kam die Zeit, da
das vornehme Bern verwelscht war wie — das vornehme Berlin. Doch
blieb Deutsch die Amtssprache, und der Bürger fuhr fort, sein bifschen
Französisch mühsam durch Privatunterricht oder ein bifschen Schule und
etwas 'Welschland' zu lernen — wie heute.
Zum erstenmal wird die Frage der Einheitlichkeit des Lautstandes
einer Mundart zum Gegenstand systematischen Studiums gemacht von
L. Gauchat: L'unite phon^tique dans le patois d'une com-
mune. Der reiche Inhalt dieser Arbeit über den Dialekt der freiburgi-
schen Gemeinde Charmey1 (Gruyere) mufs ebensowohl den Mundarten -
forscher wie den Sprachphilosophen fesseln ; der Beobachter sprachlichen
Kleinlebens findet in ihr den Mikrokosmus des Details, und wer weite
Ausblicke liebt, vor dem rollt Gauchat die grofsen Fragen des Lebens
aller Sprechtätigkeit auf.
Die Erfahrung einer langjährigen und unermüdlichen Patoisforschung
diktierte ihm die ersten Seiten; sie bilden ein Vademekum für den Lin-
guisten, mag er selbst Dialektaufnahmen machen oder die Aufnahmen
anderer benutzen. Sie orientieren mit Hilfe präziser Angaben über die
Kautelen, die zu beachten sind, über das Mafs des Zweifels, das berech-
tigt, über das Mafs des Vertrauens, das unanfechtbar ist.
Gauchat hat seit 1898 wiederholte umfangreiche Untersuchungen in
Charmey vorgenommen, und seine Aufnahmen eistrecken sich über die
ganze, weit ausgedehnte Gemeinde sowie über die Nachbarschaft, über alle
Alter und Berufe. Er erhaschte noch einige Laute von einer fast hundert-
jährigen Greisin : la bonne vieille venait de mettre de cote pour toujours son
rouet, et, lisant la Bible aupres du cercueil qu'eüe avait fait faire d'avance,
eile n'etait dejä plus de ce monde. — Seine sukzessiven Aufnahmen von
etwa fünfzig Individualsprachen kontrollieren sich gegenseitig. Sie sind
ohne Hilfe eines Apparats von einem ungewöhnlich scharfen und geübten
Ohre gemacht.
1 Charmey liegt, 900 Meter hoch, in der östlichen Gruyere, hart an der
deutschen Sprach- und Kantonsgrenze. Es ist ein grofses Dorf (1250 Einwohner).
Fast identisch ist die Mundart des benachbarten, eine kleine Stunde entfernten
Cerniat.
444 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Gauchats Untersuchung gilt, wie der Titel zeigt, vor allem den
Schwankungen, die der Lautstand der Mundart von einem Individuum
zum anderen zeigt; seine Arbeit ist ein aus dem lebendigen Leben ge-
schöpfter Beitrag zur Kenntnis der Natur des Lautwandels.
Er beginnt mit einigen orientierenden Ausführungen über den — ver-
schwindenden — Einflufs anderer Mundarten, über den Einflufs des Hoch-
französischen ' (der nicht phonetisch ist und sich besonders im Wort- und
Phrasenschatz äufsert). Dann kommt er (S. 191) zu der Sprachbewegung,
die innerhalb des Patois selbst entsteht {mouvement spontane). Der Be-
wegung der Formen und des Wortschatzes2 widmet er nur wenige Worte,
1 Die alte mundartliche Konstruktion (S. 190 cf. p. 291) i va lu vweri (= ils
vont leur guerir) zeigt mit ihrem lu als betontem Obliquus des Plurals (franz. eux)
syntaktische Zugehörigkeit zum Provenzalischen.
2 Für die Bewegung im Wortschatz sorgt das Leben. Die neuen Dinge und
die neuen Beziehungen, die sein Flufs auch ins abgelegene Alptal wirft, modifizieren
den Wortschatz. Neben dem Neuen stirbt Altes ab: Wörter, die einst häufig
waren, weil die von ihnen bezeichneten Dinge und Beziehungen alltäglich waren,
treten mit diesen zurück und verschwinden. Diese Bewegung des Wort-
schatzes zieht auch den Lautstand in Mitleidenschaft, insofern durch
das Zu- und Abkommen von Wörtern und Phrasen (d. h. Lautreihen) in der rela-
tiven Häufigkeit der Laute und Lautverbindungen, d. h. in der ganzen Ökonomie
des Lautgebäudes der Mundart, kleine Verschiebungen erfolgen — kleine mikro-
skopische Verschiebungen. Aber Lautwandel entwickelt sich bekanntlich aus un-
scheinbarsten Anfängen. Hinter dem makroskopischen Lautwandel, den
wir hören, liegt ein mikroskopischer, der jenen vorbereitet und dessen Bewegung
wir nicht vernehmen.
Ich sehe in der steten Veränderung des Wortschatzes, für welche das Leben
sorgt, eine Quelle des Lautwandels, d. h. der unserem Ohr und unseren Apparaten
erkennbaren Veränderung des Lautstandes einer Sprache. Vergessen wir nicht,
dafs die Sprachlaute aufserordentlich komplizierte Gebilde sind (auch die, die wir
nach ihrem akustischen Eindruck als einheitlich bezeichnen, cf. S. 219 f.), und
dafs diese Gebilde Schwankungen und Veränderungen ausgesetzt sind, die zu messen
Ohr und Apparat nicht ausreichen. Aus diesen feinen und feinsten Schwankungen
und Veränderungen, die jenseit unserer Beobachtung liegen, quillt der sogenannte
Lautwandel, d. h. der phonetische Wandel, der sinnfällig genug ist, dafs wir
ihn zu registrieren vermögen. Eine spätere Zeit wird ohne Zweifel Instrumente
konstruieren, mit denen wir diesen Lautwandel noch weit hinter die Grenzen seiner
heutigen Sinnfälligkeit zurück verfolgen können; auch hier wird sich die unendlich
grofse Welt des unendlich Kleinen vor uns öffnen. Diese spätere Zeit wird mit-
leidig auf unsere heutigen Registrierapparate herabsehen; sie wird mit ihren 'Laut-
fernröhren' und 'Lautmikroskopen' ein Leben und Weben der Laute erkennen, das
wir heute nur ahnen können — bis ans Ende wird freilich auch sie nicht sehen.
Also: das Aufkommen neuer Wörter, das Häufigwerden bisher seltener, das
Seltenwerden und der Schwund bisher gebräuchlicher Wörter unterhält in der
Ökonomie des Lautgebäudes einer Mundart eine stete mikroskopische Bewegung,
die sich summieren und zum Ausgangspunkt makroskopischen Lautwandels werden
kann. Denn es ist augenscheinlich — und ich weifs mich hier mit Freund
Gauchat völlig einig — , dafs der Umstand, ob ein Laut resp. eine Lautreihe häufig
(überhäufig) oder selten ist, für die lautliche Entwickelung einer Mundart von
fundamentaler Bedeutung ist: eine überhäufige Lautung kann sich, sozusagen durch
das Gewicht ihrer Frequenz, ausbreiten (1 au tl ich e_ Analogie). Ein namhafter
Wortzutritt oder Wortschwund kann aber eben Überhäufigkeit einer Lautung
schaffen resp. hemmen helfen.
So ist das Leben (d. h. unsere Kultur) eine Quelle des sogenannten Laut-
wandels — und zwar eine nie versiegende Quelle, ein wahres perpetuum mobile.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 445
um rasch zu seinem eigentlichen Gegenstand, der Bewegung der Laute,
den phonetischen Variationen, zu kommen, die er in zwei grofsen Ab-
schnitten behandelt:
A. Variete phonetique provenant du rhythme de la phrase.
B. Variete phonetique suivant Vage. 1
Eine Fülle linguistischer Belehrung tritt uns da entgegen. Gauchats
Blick schweift von den sons charmeysans zu den Lauten der anderen pa-
tois romands. Wir erfahren, dafs nicht alle dieser Patois in ihrem Laut-
stand beweglich sind, und dafs auch innerhalb eines Patois tous les sons
ne marchent pas en meme temps. Die neuen burger Mundarten z. B. zeigen
keine makroskopische Lautbewegung; in Charmey sind es hauptsächlich
die Vokale, die in Bewegung begriffen sind (sich diphthongieren resp.
monophthongieren) :
» j ey* bewegt sich über ey zu i (mey d'u > mi d'u = mois d'aoüt).
vortonie-es \ ow Dewe§^ 8icü uDer uw zu u (* PXOW pa > * pxu pä = il
ges ^ ne ^eui ^^
r> j a° bewegt sich nach ä (la° > lä = loup).
betontes { * bewegt sich nach f (te > t? = toit).
{ ä bewegt sich nach ao (fdve > faove = feves).
Zu A. Diese voyelles mobiles ey > i und ou > u sind also nur vor-
tonig, d. h. sie finden sich nur im Innern des Sprechtaktes und auch
hier nur in geläufigen Wortverbindungen (formcs liees sagt Gauchat), ey
> i sind die beweglichen Pendants zu betontem $ (me = mois, kre =
croix, ve = voit); ow > u die beweglichen Pendants zu betontem a (i p/,a
= il pleut, ka = cozur). Dieses betonte e und a bleibt auch im Innern
des Sprechtaktes bestehen,^ wenn nicht eigentliche Proklise eintritt, also:
la croix blandie = la kre bldtse, aber le mois d'oüt = h mey d'u — h mey
d'u — Jd mi d'u.3 Welche von diesen vortonigen Formen, die alle —
samt Übergangsformen — der lebenden Mundart zur Verfügung stehen,
im einzelnen Fall zur Verwendung kommt, hängt von verschiedenen Fak-
toren ab:
a) vom Akzent (Rhythmus),4 z.B. v v begünstigt i (mi d'u) ; vvvv
begünstigt ey (mey de fevre);
b) vom Kedetempo.
Doch ist von einer streng regelhaften Verwendung dieser sons
mobiles nach Rhythmus und Redetempo nicht die Rede. Die Vielheit
strebt zur Einheit: i und u werden herrschend, wenigstens bei den Jün-
geren. Denn bei der Verteilung der Formen spricht
c) auch das Alter mit. Die älteren Leute sind vielfach bei ey, ow
1 Diese Einteilung ist nicht ganz scharf. Auch die von Akzent und Rede-
tempo Dedingten Lautschwankungen (A) erfolgen zum Teil suivant Vage, vgl. unten.
2 Ich kann nicht recht verstehen, warum G. die komplizierte Reihe aver —
aveir — avair — aveir — av$ — avey ansetzt (S. 198). Weder der Umweg über
avair scheint mir für Charmey wahrscheinlich, noch sehe ich ein, warum die vor-
tonige Form avey ihren Weg über das betonte ave genommen haben soll. Aus
altem aveir ist proklitisch avey, betont av$ entstanden.
3 Im benachbarten Bulle gibt es ein Wirtshaus La Croix blanche (S. 201). In
Bulle ist infolgedessen der Nexus croix blanche so geläufig geworden, dafs croix
in eigentliche Proklise trat und eine "forme liee' entstand; daher das Wirtshaus
la kri blätse heifst.
4 Es handelt sich um den vom expiratorischen Akzent geschaffenen Rhythmus.
Gewifs kommt auch dem musikalischen Akzent (der Sprachmelodie) Einflufs im
Lautwandel zu; doch bestehen über diese subtilen Dinge noch keine Untersuchungen.
446 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
geblieben, so dafs z. B. ihr Zowtä (saider) neben Sutä, ihr rey rod%9 (radis
rouge) neben ri rodxd noch besteht.
Aber auch die Alten sagen bereits regelmäfsig du pd (du pairi), di
face (des feves), vufro (veux-tu), vifro (vois-tu) und nicht mehr dow, dey,
roic, rey, d. h. der Lautwandel dieser überhäufigen Verbindungen ist
auch in ihrer Rede weiter vorgeschritten. Nicht in einer Front mar-
schieren die Wörter unter dem Befehl des Lautwandels, sondern die Be-
wegung hat ihre Vorposten und ihre Nachhut. Jene finden sich bei jung
und alt, diese nur bei den Alten.
Die aus der Tiefe der Sprache aufsteigende Lauttendenz ergreift zu-
erst die überhäufigen Verbindungen.
Zu B. Die Mehrzahl der Tonvokale des Charmeysan ist nicht in Be-
wegung, aber die drei beweglichen au > ä, § > e" und ä > ao sind weit-
aus die häufigsten; am häufigsten ist ä > ao, der den franz. Endungen
er, ex, e, ee entspricht.
Auch im Wandel des betonten Vokalismus spielt die Häufigkeit des
Vokals eine Bolle.
Die Bewegung a° > ä ist heute abgeschlossen. Sie hat in Pausa und
zwar im Wortauslaut begonnen : «) 8 lä l (un hup) ; dann ist der Wort-
inlaut gefolgt: ß) ara (heure); darauf ist auch das a° des Satzinnern er-
griffen worden: ;-) h lä te predrq (le loup te prendra). Nur die erste Ge-
neration2 braucht in 8 und y noch a° und auch sie nur mit Schwankungen :
der nämliche Greis sagt pa"dxo (pollice), aber kädo (cubitu).
Die Bewegung £ > e'J scheint einen entstehenden Diphthong zu zeigen,
doch bleibt hier manches im ungewissen.3
1 C'est l'accent qui en est cause, fügt G. hinzu, ohne freilich zu verkennen, wie
wenig damit erklärt ist. Der nämliche Finalis-Akzent, unter dem a° zu ä mo-
nophthongiert wird, begleitet in a die Diphthongierung zu ao. Wenn aber der
Akzent sowohl Monophthongierung als Diphthongierung mit sich bringt, so ist er
offenbar nicht die eigentliche Ursache, sondern er schafft nur die Gelegenheit,
bei welcher tiefer liegende Ursachen wirksam werden.
So sucht der eine Sprachforscher den Ursprung gewisser Diphthongierungen
im Affekt (Schneegans); der andere läfst sie in 'den Lento-Formeu' entstehen
(Herzog). Beide haben darin recht, dafs sie für einzelne Sprachgebiete konstatieren,
dafs dort das rasche affektische Sprechen und hier das langsame affektarme
Reden den nämlichen Lautwandel (Diphthongierung) begleite. Aber solche Kon-
statierungen sind keine Erklärungen der Diphthongierung, und als Erklärung
würde die eine der anderen nicht übel widersprechen. Dafs dort der Affekt und
hier dessen Mangel mit Diphthongierung begleitet ist, liegt nicht am Affekt, son-
dern liegt an der Verschiedenheit des ganzen subtilen Lautgebäudes der betreffen-
den Idiome, an der ganz verschiedenen Lagerung ihrer mikoroskopisch verschiedenen
Laute — d. h. die Ursache liegt in einer Tiefe verborgen, aus der noch kein
Klang an unser Ohr dringt. Wir können einfach makroskopische Entspre-
chungen konstatieren.
2 Gauchat unterscheidet drei Generationen: I (60 bis 90 Jahre), II (30 bis
60 Jahre), III (bis 30 Jahre).
3 Sicher ist, dafs der Laut in Bewegung (bald £, bald £») ist; ob sie wirk-
lich von q zu qv geht und nicht etwa q'J als das Altere gelten mufs, davon hat
mich Gauchats Darlegung der schwierigen Verhältnisse nicht überzeugt. Wenn
ey ein schwindender Diphthong ist, so erklärt sich sowohl das ablehnende
Verhalten von -£ aus -er als auch die Sprechgewohnheit einiger Alten (S. 214,
bes. auch Anm. 3). Auch das £" der konservativen (cf. S. 211) position interne
(t&qyla — etoile) spricht für älteres e'J. Es scheint ein Kampf zwischen aus-
lautendem -£ (aus -qr) und -qy vorzuliegen, in welchem augenblicklich f" der
mächtigere Partner ist und auch die Jungen für sich hat, während die alte und
die mittlere Generation achwankt.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 447
Für die Bewegung ä > ao — sie zog von allen zuerst Gauchats Auf-
merksamkeit auf die sons mobiles — notiert er Übergangsformen wie ä°,
a° bis zu aiv > ow. Die Jugend steht heute allgemein bei ao; unter den
Altesten sind welche mit intaktem a, andere zeigen einige a° ohne alle
Regelmäfsigkeit. Gauchat nennt Ehepaare, in deren Verkehr durch-
aus keine Ausgleichung stattgefunden hat: der Mann ist in der Haupt-
sache beim älteren ä geblieben, während die Frau zu ao fortgeschritten ist.
Neben diese voyelles mobiles'' gesellen sich nun auch einige Konso-
nantenbewegungen (vergl. S. 221 J, deren zwei von Gauchat besonders ein-
gehend erörtert werden:
Mouilliertes l (?)2 wird von Generation I und II noch gesprochen;
III spricht y, d. h. bildet den palatalen Verschlufs nicht mehr.
Bei interdentalem fr ist eine ähnliche Bewegung im Gange : auch hier
wird die Artikulationsbewegung der Zunge nicht mehr völlig ausgeführt,
so dafs an Stelle der interdentalen Reibung ein indifferentes h entsteht. 3
1 Gauchat verzeichnet im Vorbeigehen auch noch andere Vokalbewegungen,
z. B. S. 221. So zeigt die Jugend von Charmey (p. 188) die Neigung, die Nasal-
vokale zu dekomponieren, d. h. ä als o", 5 als on zu sprechen. Ich denke, die
Bewegung ging von dem Falle aus, wo ä, o vor einem Dental stand, at z. B.
enthält stets und ganz natürlich den Gleitlaut n : änt, nnd wenn tsäta (chanter)
zu t-sänta, pxäta (plante) zu p%änta wird, so ist eben dieser Gleitlaut gewachsen
und gleichsam selbständig geworden. Die lautliche Analogie hat diese Entwicke-.
lung dann weitergetragen, so dafs auch man (main), byän (blanc) etc. entstand. —
Ihren Anfang aber hat die weithin verbreitete Lautbewegung a>an, o > o~n viel-
leicht im Gefolge der Akzentverschiebung genommen, die tsäta zu tsata führt.
2 Ich mufs an meiner Auffassung festhalten, dafs der Laut, den Gauchat mit
Xl bezeichnet, ein 'einheitlicher', und zwar eine stimmlose l mouillee ist: /. Das
X, das einen vermeintlichen Rest von k bezeichnen soll, ist nichts anderes als der
bei palatalen Verschlufslauten sich leicht einstellende, dem Verschlufs un-
mittelbar vorangehende Engelaut: ein Gleitlaut (vergl. das y, das leicht vor und
nach dem mouillierten n gehört wird: "n", aber im übrigen durchaus nicht zu den
wesentlichen Komponenten des Lautes gehört, sondern nur seine Gleitlautumgebung
bildet). Wird nun bei l mouillee der Verschlufs am Palatum nicht mehr völlig
hergestellt, so entsteht der homorgane Engelaut: statt l ein y und statt/ ein x-
Dieses x i8t aDer vor Vokalen ganz natürlich vom tönenden Übergangslaut y be-
gleitet: xv- Dieser Gleitlaut y ist auch keine neue Entwickelung : er hat schon
beim / (= Gauchats xl) bestanden.
Steckt nicht in dem mouillierten / der Formen je < ille est und la < üle
habet der Gruyere das y des lateinischen ibi, d. h. ist nicht Je = franz. il y est
und ja = il y a? Die Erscheinung, dafs das Adverb in dieser Verbindung fest
wird und semantisch untergeht, ist ja wohl bekannt ; cf. das nordital. ga = habet.
Das Gegenstück dazu bietet altfr. ere (ert) < erat. Dieses betonte ere, das
mit e aus lat. d reimt, ist nicht aus einer tonlosen undiphthongierten Form (ere)
entstanden, die den Vokal e nicht erklären könnte, sondern ist erwachsen aus dem
Nexus il i iere, d. h. der Lautreihe iliere, die in il i ere zerlegt wurde.
3 Bei diesem Anlafs streift G. die Frage der Bequemheit des Lautwandels
(vergl. auch S. 220). Wenn der Sprechende von einer alten zu einer neuen Laut-
form übergleitet, so dokumentiert er dadurch doch zweifellos, dafs ihm die neue
Lautform bequemer ist als die alte. Die Gründe für diese Bequemheit sind selbst-
verständlich psychisch und liegen nicht nur in der phonetischen, sondern auch
in der begrifflichen Natur der betr. Lautung. Die Frage ist eben nicht die, ob
uns fremden Beobachtern die Lautverbiudung bequem erscheint oder nicht. Sie
kann unserer Zunge recht unbequem sein — fügt sich aber doch bequem ins
Lautgebäude des fremden Idioms ein: sie ist bequem, weil sie idiomatisch ist,
sie ist subjektiv bequem: De eommoditatibu» non est disputandum ' Ist r be-
448 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Gauchat zeigt au den drei Generationen vortrefflich die allmähliche Ent-
wicklung des Wandels: ein wahres Schulbild für die Art, wie eine Laut-
tendenz sich nach und nach durchsetzt.
Zuerst wurde das Demonstrativum ergriffen und zwar frow (ecce illo-
rum) früher als fra (ecce Mas): auch die Ältesten — mit einer Ausnahme
— sprechen bereits how, hu, ha.% Die erste Etappe ist also eine über-
häufige Form.
Dann ergriff die Bewegung auch intervokales fr und zwar in Verbin-
dungen wie vois-tu : vifro > viho; veuxtu : vufro > vuho. Die Gene-
ration II zeigt die Anfänge dieser Ausdehnung: auch in dieser zweiten
Etappe sind die Träger überhäufige Formen.
Ebenso beim jüngsten Schritt von fr zu h, in den Frageformen der
dritten Person, wie oü est-il = yg efra > yg eka?
In den Wörtern wie festa > fifra, testa > tifra ist fr zu Charmey noch
ganz intakt. Der Lautwandel fr > h tritt also zunächst innerhalb
morphologischer Grenzen auf,* die, wohlgemerkt, zugleich Häufigkeits-
grenzen sind. Diese Formwörter hu, ha (hu bä — ces beufs; ha vätse =
cette vache), -ho? -ha? sind ihrer Natur nach überhäufig und bedeutungs-
schwach.3 Sie haben in bestimmten, stets wiederkehrenden Verbindun-
gen, in welche die lebende, von Gesten begleitete Rede sie setzt, ihren
festen Platz:, der Sprechende kann sich begnügen, sie gleichsam blofs an-
zudeuten. Überhäufigkeit und Bedeutungsschwachheit der Formwörter
fru, fra, -fro, -frd ermöglichen und fördern eine reduzierte Artikulation fr
> h. Diese reduzierte Artikulation h übt sich nun so ein und erstarkt
quem? Ja! sagt, wer es zu sprechen gewöhnt ist; nein! sagt, wer mit R auf-
gewachsen ist.
Dialektuntersuchungen wie die Gauchats zeigen auch, dafs die historische
Grammatik in ihren entwickelungsgeschicbtlichen Lautkonstruktionen nicht leicht-
hin mit dem Begriff der Unaussprechb arkeit von Lautverbindungen operieren
soll. Schwer aussprechbar oder unaussprechbar sind ganz subjektive
(idiomatische) Begriffe, für die dem Grammatiker kein objektiver Maßstab zur
Verfügung steht. Lat. obscuru wird rätisch stxir, ja in Oberhalbstein und Engadin
styikr: das ist dem Räten leicht aussprechbar und bequem , dafür ist rätisch auch
weder toskanisch noch sächsisch.
Das natürliche Bequemlichkeitsstreben des Sprechenden findet an der Hem-
mungsvorrichtung des sogen. Deutlichkeitstriebs (cf. Archiv CXIII, 154) seine
natürliche Schranke. Wenn ich von meinem Jungen Theodor in der Familie
als von The spreche (aus Bequemlichkeitsgründen), so werde ich vor Fremden
dafür en toutes lettres : mein Sohn Theodor sagen ; auch dies aus Bequem-
lichkeit, denn ich will eben verstanden werden.
1 Eine orientierende Bemerkung über sämtliche Quellen des Lautes fr und
über sein gesamtes Vorkommen, d. h. seine Stellung im Lautgebäude der Mund-
art, wäre für den Leser lehrreich gewesen.
2 Doch erscheint er in Charmey im Begriff, diese Schranke zu überschreiten:
ifrrd (elre) wird ihn; fonifrra > finihra.
3 Die Überhäufigkeit eines Wortes bedingt stets eine gewisse Nachdrucks-
losigkeit: Gedanke und Artikulation des Sprechenden gleitet achtloser über ein
solches Wort, das immer wiederkehrt und vom Hörenden ohne Mühe immer wieder
erkannt wird. Der Grammatiklehrer, sagt Gauchat sehr gut, wird leicht in seinem
Milieu part'cip zu sagen geneigt sein; aber deswegen wird er nicht ohne weiteres
Al'bi oder Prinz'pat statt Alibi, Prinzipat sprechen. Die Überhäufigkeit schafft für
ein Wort besondere Lebensbedingungen und zeitigt Sondererscheinungen. Zu den
überhäufigen Wörtern bestimmter Milieux gehören z. B. die Bezeichnungen des
Handwerkszeuges, weshalb gerade diese Ausdrücke der etymologischen Deutung
so grofse Schwierigkeiten machen.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 440
so, dafs sie auch weiterhin auf dem Wege lautlicher Analogie sich aus-
dehnt und auch bedeutungsstarke Wörter wie fifra, tifra (Gruyeres : fiha,
tiha) ergreifen kann.
Diese Untersuchungen Gauchats zeigen, dafs der Lautwandel sich in
Tat und Wahrheit in anderer Weise vollzieht, als die Theorie sich's aus-
gedacht hat. Diese Theorie behauptet, dafs, wenn ein Laut in Be-
wegung gerät, z. B. d gegen e hin oder ~t~ gegen d > S hin, diese Be-
wegung in winzigen Schritten gleichmäfsig auf der ganzen Linie bei allen
d und T sich einstelle und alle d und T zu gleicher Zeit bei e resp. S
anlangen. Und die Theorie fügt hinzu, dafs das so sein müsse, weil der
Lautwandel ausnahmslos verlaufe. Die Tatsachen einer lebenden Mund-
art aber zeigen, dafs die Lautbewegung nicht in dieser Gleichmäfsigkeit
und Allgemeinheit verläuft, sondern dafs sie an einer einzelnen, ganz be-
stimmten (bedingten) Stelle einsetzt und hier sich entwickelnd und erstarkend
über diese ursprüngliche Bedingtheit hierhin und dorthin hinausgreift und
— hier zögernd, dort stürmischer — das Entwickelungsresultat (d. h.
den fertigen neuen Laut) auf andere, nicht identische, sondern nur ähn-
liche Fälle überträgt. Gewifs zeigt das Ergebnis dieser Übertragung
schliefslich eine grofse Regelmälsigkeit — aber der Übertragungsprozefs
selbst (d. h. der Wandel) vollzieht sich in der Individualsprache sprung-
haft und ohne Konsequenz.
Und in diesen Prozefs hinein führt uns Gauchats feine Beobach-
tungsgabe und kluger Sinn.
Der Wandel von fr > h nimmt mit einem einzigen überhäufigen Wort
(frotv), welches das fr in besonderer Stellung — anlautend vor o — zeigt,
seinen Anfang. Anlautendes fr vor a im überhäufigen fra derselben demon-
strativen Funktion folgt, fr vor a ist nämlich gar nicht der gleiche Laut
wie fr vor o — ganz abgesehen von der makroskopischen Tatsache, dafs
fr vor o 'gerundet' ist: jede Lautverbindung modifiziert durch feinere oder
gröbere Assimilationsvorgänge (Sandhi) den einzelnen Laut, und für ein
so feines Ding, wie der Lautwandel ist, fallen auch die kleinsten, feinsten
Differenzen der Laute in Betracht.1
Nuu greift h statt fr über die demonstrative Funktion, die den Prozefs
zunächst begrifflich bedingt hatte, hinaus auf: viho, auf: yg ehd, immer
noch innerhalb überhäufiger bedeutungsschwacher Nexus stehen bleibend.
Ohne alle Regelmäfsigkeit sprechen die Sprachgenossen fra neben ha, vifro
neben viho, yg efrd neben yg ehd.
Niemand sagt zu Charmey statt fifra ein fiha (wie sie im Hauptort
Gruyeres sprechen). Das fr in fifra ist eben tatsächlich ein etwas anderer
Laut als das fr in vifro — seine psychischen Bedingungen (Überhäufig-
keit, Funktion) sind ganz andere — , und im Sprachempfinden des Char-
meysan sjegt vorläufig diese akzidentelle Verschiedenheit über die funda-
mentale Ähnlichkeit und verhindert die Ersetzung durch h. Aber — il
tempo e galantuomo auch in Dingen des lautlichen Empfindens, und Char-
mey wird wohl ebenfalls dahin gelangen, wo Gruyeres bereits angekommen
ist: zu fiha.
Heifst es einmal viha, fiha, tiha, dann liegen die Dinge so, dafs am
grünen Tisch der papierenen Linguistik ein sogen, 'ausnahmsloses Laut-
gesetz' beschlossen werden kann, das vorschreibt: in Charmey mufs inter-
vokales fr zu h werden ! Wie's aber mit fiha wirklich zugegangen ist,
das läfst dieses 'Gesetz' nicht ahnen: ein solches 'Gesetz' schlägt das
Leben tot!
1 Schon längst habe ich (z. B. Archiv XCIV, 348 n.) dagegen protestiert, dafs
unsere historische Lautlehre über diese Differenzen so leicht hinweggeht. G. Paris
habe ich freilich nicht überzeugt Cef. Rnmania XXXI, 491).
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 29
450 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Nun konstatiert Gauehat die kapitale Tatsache, dafs den Bewoh-
nern von Charmey die geschilderten starken, zum Teil
sprunghaften Lautdifferenzen nicht bewufst sind. Die einen
sprechen •>, die anderen //, die einen sagen: ipxowpa", die anderen : i p/,u
/></. die: n na (un nex), jene: S nao — aber sie hören diese Verschieden-
heit nicht. Die Alten sagen: h me le da0 (le miel est doux), die Jungen:
le n/r" le da — aber wenn sie auf solche Differenz aufmerksam gemacht
werden, so wollen sie nichts davon wissen und weisen den Beobachter mit
der Erklärung zurecht: Nous parlons tous la meme chose! (S. 2U2). Le
sujet qui vient de prononcer vuho proteste qu'il ne s'exprime jamais ainsi
(S. 231).
Der Lautwandel der gesprochenen Sprache vollzieht sich, ohne dafs
die Sprachgemeinschaft der durch ihn geschaffenen individuellen Ver-
schiedenheiten bewufst wird. Das ist eine sehr bedeutsame Tatsache.
Unser Ohr ist bekanntlich den Klängen der Muttersprache gegenüber
sehr empfindlich. Die geringste Veränderung ihrer Laute, die ein Frem-
der sich zuschulden kommen läfst, kommt uns scharf und deutlich zum
Bewufstsein. Dafs dieses scharfe Ohr in Charmey Lautdifferenzen wie 9- — h,
oic — u etc. nicht hört, liegt daran, dafs es sie nicht als etwas Fremdes
empfindet. Diese Differenzen beruhen auf Lauttendenzen, die tief im
Sprachgebäude begründet, die aus dessen besonderer Harmonie geboren
sind. Sie reichen mit ihren Wurzeln tief in das mikroskopische Leben
und Weben der Laute hinab, und auch das Individuum, das den Laut-
wandel noch nicht sinnfällig aufweist, trägt ihn doch latent in seiner
Sprache, trägt die schlummernde Neigung dazu.
Ein Fremder verletzt unser Ohr durch Laute, die zu unserem ganzen
Lautsystem in keinem harmonischen Verhältnis stehen; die neuen Laute,
die der eingeborene Lautwandel schafft, empfinden wir als harmonische
Teile dieses Systems,1 das uns mit unseren Sprachgenossen ge-
meinsam ist.
Jenes komplizierte psychische Gebilde, das wir Sprache nennen, ist
gewifs bei jedem Individuum individuell gestaltet. Die auf die Sprache
bezüglichen Vorstellungen (Klang-, Bewegungs- und Begriffsbilder) sind
bei jedem etwas anders gelagert, besonders die Begriffsbilder. Die Asso-
ziationsreihen aber, in denen die den Sprach lauten geltenden Klang-
und Bewegungsbilder geborgen sind, sind bei allen Sprach genossen wesent-
lich identisch; sie sind interindividuell. Auf der Basis dieses gemeinsamen
Lautempfindens erwächst der Lautwandel; in diesen Assoziationsreihen
verläuft er.
So hat der Lautwandel wesentlich unpersönlichen Charakter. Tai
etudie, sagt Gauchat, environ 50 langues individuelles et je n'y ai rien
trouve d' individuell —
1 Man pflogt die Resultante aller Artikulationen eines Idioms Artikulations-
basis zu nennen und könnte also in einer gewissen äufserlichen Weise sagen,
dafs die durch den Lautwandel geschaffenen Laute eben der Artikulationsbasis
konform sind. — Man darf aber nicht vergessen, dafs 'Artikulationsbasis' die Be-
zeichnung eines physiologischen Verhältnisses ist, während der Lautwandel
ein psychischer Vorgang ist. Indessen könnte man von einer psychischen
Artikulationsbasis sprechen und darunter das Ganze der psychischen Lautbilder
verstehen, die der Artikulation vorstehen.
2 Dafür gibt er zum Schlufs noch einen überraschenden Beleg, der zugleich
die bewunderungswürdige Schärfe und Umsicht seiner Arbeitsweise illustriert. In
dem jenseit des Javroz liegenden, von Charmey etwa dreiviertel Stunden entfernten
Dorfe Cerniat, das mit Charmey sehr wenig Verbindung hat, zeigen sich die näm-
lichen Lauterscheinungen wie in Charmey. Dieselben Laute sind in der nämlichen
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 451
Wenn diese Anschauungen richtig sind, so ist es auch einleuchtend,
dafs die Häufigkeit eines Lautes seinen Wandel fördert. Ich will nicht
sagen, dafs die Häufigkeit den Wandel geradezu hervorruft — aber: ein
Laut, der in Bewegung geraten ist, wird rascher zum sinnfälligen Laut-
wandel gelangen, wenn er sehr häufig gebraucht wird.
Gauchat hat nachgewiesen, wie Überhäufigkeit die Lautbewegung för-
dert: die mobilen a°, &', a sind zugleich die häufigsten Vokale, und 9- be-
ginnt seinen Verschlufs zu verlieren in gewissen Lautverbindungen häufig-
sten Gebrauchs.
Und noch auf eine andere 'Häufigkeitserscheinung' weist Gauchat
wiederholt und nachdrücklich hin. Er hat beobachtet, dafs die Frauen
den Männern im Lautwandel durchschnittlich voraus sind (in l > l, S. 205;
fr > h, S. 2()0; a° > ä, S. 211; ä > ao, S. 218 f.; vergl. S. 224). Das
hängt zweifellos damit zusammen, dafs die Frau mehr spricht und also
auch die in Bewegung befindlichen Laute mehr braucht und so die in
ihnen wirkende Lauttendenz fördert. A la eampagne, heifst es bei Gau-
chat (S. 218), le pere quitte la maisott de bonne lieure pour vaquer ä ses
travaux, au milieu desquels on le voit, tacitume et souvent isole, toute la
journee. Tel pere parle plus, en ete, ä ses betes qu'ä ses enfants. La mere
qui passe beaueoup plus de temps ä la maison, en societe, ä cuisiner, ä
laver, parle beaueoup plus. S'il faut dire 10000 fois päla pour arriver ä
dire paola, il est evident que la nouvelle facon de prononcer apparaltra
plus vite dans le langage de la femme que dans le parier plus rare et plus
lent de l' komme.
Daraus geht nun auch hervor, dafs das Kind von der Mutter einen
vorgerückteren Lautstand lernt: 'La derniere generation, c'est ä dire tous
les enfants, se ränge du eote des meres . . . on ne parle pas sans raison du
toit paternel, mais de la langue maternelle.
Das ist im Lautwandel die Bolle des Kindes: Übernahme und Weiter-
bildung einer vorgeschritteneren Lauttendenz. Diese Tendenz wird nicht
durch eine angeblich unvollkommene Lautnachahmung seitens des Kindes
geschaffen.1 Nicht beim Kinde tritt eine Lauttendenz zuerst in Er-
scheinung, sondern, wie Gauchat mit guten Gründen meint, beim Er-
wachsenen im kräftigsten Alter, bei der Generation IL Diese Generation
hat den reichsten Sprachbesitz, und in dieser gröfsten Fülle des Sprach-
lebens treten die verborgenen Lauttendenzen an die Oberfläche im Laut-
wandel.
Aber warum wandelt sich denn der Sprachlaut überhaupt? Keine
der bisherigen Erklärungen befriedigt, insbesondere auch die nicht, die
den Sprachwandel auf einen ganz imaginären Wandel der artikulierenden
Organe gründet.
Indem sich die Linguistik ausschliefslich an den sinnfällig gewordenen,
makroskopischen Lautwandel hält, hat sie zu der Vorstellung gelangen
Bewegung, obwohl ein persönlicher Einflufs von Dorf zu Dorf nicht besteht. Ein
Greis zu Charmey spricht wie ein Alter aus Cerniat — auch die Jugend der
beiden Dörfer ist lautlich gleich weit vorgeschritten, so dafs innerhalb der näm-
lichen Gemeinde zwischen einem 70jährigen und einem 20jährigen Charmeysau die
Lautdirfeienzcn gröfser sind, als zwischen zwei jungen Burschen, von denen der
eine aus Cerniat, der andere aus Charmey stammt.
1 Diese unhaltbare Lehre ('Einübungstheorie') wird von Gauchat wiederholt
abgelehnt (S. 212, 228 ff.). — Statt auf die angebliche Ungenauigkeit, mit der
das Kind die Rede der Mutter nachahme, eine sprachliche Eutwickelungstheorie
zu gründen, fufse man lieber auf der augenscheinlichen Genauigkeit dieser Nach-
ahmung und der Virtuosität, mit der das Kind sich nach den ersten Tastversuchen
seinem lautlichen Milieu anbequemt. Am Kinde ist doch gerade die Fähigkeit
der Assiinilierunn das Charakteristische und nicht die Selbständigkeit.
29*
452 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
können, es sei der Lautwandel ein rein artikulatorischer Vorgang. Sie
hat auf diese Weise auch auf den Einfall kommen können, den Laut-
wandel aus Veränderungen der Artikulationsorgane zu erklären, und hat
ihn als 'physiologisch' den 'psychischen' Sprachvorgängen gegenübergestellt.
Es ist aber der Lautwandel selbst ein psychisches Phänomen; er be-
ginnt mit jenen allerfeinsten Veränderungen der psychischen Lautbilder,
die der Akzent veranlafst.
Dafs die Lautgestalt eines Wortes mit dem Akzent aufs innigste zu-
sammenhängt und die Tonsilbe andere Lautschicksale hat als die Neben-
tonsilbe, weifs man ; ebenso, dafs eine Veränderung des Akzentes von
Lautwandel begleitet ist.
Die romanische Sprache, deren Lautwandel sie am weitesten vom
Latein entfernt hat, das Französische, weist auch die stärkste Akzent-
änderung auf. Das Französische ist binnen einem Jahrtausend vom über-
mächtigen expiratorischen Akzent, der die Neben tonsilben einschrumpfen
liefs (carricdtis > tsardxiets), zum schwebenden Akzent gekommen, der
trotz grundsätzlicher Üxytonieruug fast alle Silben gleich hervortreten
läfst: das Französische ist vom Extrem des gewalttätigen Iktus zum
Extrem des schwächsten Nachdrucks gekommen. Und gegenwärtig sieht
es so aus, als ob neue Formen der Akzentuirung sich vorbereiteten: im
Affekt stellt sich ein kräftiger expiratorischer Akzent ein, und oft sehen
wir ihn die altgewohnte Tonstelle verlassen (absolument ; c'est degoütant etc.).
Wohin das führen mag, braucht uns hier nicht zu beschäftigen ; ich wollte
nur auf den Parallelismus zwischen Akzentwandel und Lautwandel hin-
weisen: Akzentwandel wird zum Anlafs von Lautwandel.
Der Akzent aber wandelt sich aus Gründen des Affekts. Der Akzent
(der expiratorische und der musikalische) hat den Zweck, gewisse Teile
der Lautreihe hervorzuheben und so die Aufmerksamkeit des Hörenden
auf bestimmte Teile der Rede zu lenken. Im Akzent liegt das persön-
lichste Element der Sprache; er ist seiner Natur nach individuell. Indem
nun die Sprache auch den Akzent in Rhythmus und Melodie der Laut-
reihe für alle festlegt, legt sie dem Individuum eine Fessel auf, die es in
gewöhnlicher Rede willig trägt, die es aber in der Erregung, im Affekt
forziert und sprengt. Das Bedürfnis des Affekts rehabilitiert den indi-
viduellen Akzent.
So liegt im Akzent der Sprache ein Widerspruch, der nie zur Ruhe
kommen wird, so lange Menschen sprechen : der Widerspruch zwischen
Individuum und Gemeinschaft. In dem Mafse, in welchem eine 'Hervor-
hebungsweise' (Akzentuirung) allgemein (interindividuell) wird, in dem
nämlichen Mafse verliert sie an Hervorhebungs kraft, d. h. wird sie selbst
entwertet, und instinktiv strebt das Individuum nach eigener, abweichen-
der, seinen Affekt befriedigender Hervorhebungsweise, die dann wieder
allgemein werden kann. Aus diesem Kreislauf entsteht eine stete Be-
wegung der Laute, und aus ihr vermag im Laufe der Zeit makroskopischer
Lautwandel zu erfolgen.
Eine andere Quelle des Lautwandels habe ich oben S. 17 Anm. 2 ge-
nannt: den Kultur Wechsel, der den Wortschatz umgestaltet. Das ist eine
Bewegung, die von aufsen an den sprechenden Menschen herantritt. Jene
innere Quelle, die in seinem Affekt hegt, ist aber viel mächtiger: sie ist
die Quelle des Lautwandels.
So ist der ununterbrochene Anstofs zum Lautwandel individuell, der
Wandel selbst aber eine Gemeinschaftsform.
Vollzieht sich dieser Wandel nach Gesetzen? Gibt es Lautgesetze?
Das ist in letzter Linie eine Frage der Weltanschauung.
Wer überzeugt ist, dafs auch das psychische Geschehen Gesetzen
unterliegt, der wird auch 'Lautgesetze' anerkennen.
Gefunden aber hat noch niemand ein solches Gesetz. Was die Lin-
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 458
guistik gefunden hat, und was sie mifsbräuchlich Lautgesetze nennt, sind
keine Gesetze, sondern sind Regeln, d. h. Formeln für makroskopische
historische Lautentsprechungen. Es sind gute wackere Regeln, die gerade
so lange gelten, als keine Ausnahme kommt — denn auch von ihnen gilt:
keine Regel ohne Ausnahme.1
Wir sollten wirklich aufhören, unsere kleinen Entdeckungen als Ge-
setze zu erklären und demgemäfs zu verehren und über diesem Götzen-
dienstchen die wahre Natur des sprachlichen Lebens zu vergessen.2
Es ist mit der Sprache wie mit dem Wetter.
Gewifs ist der Witterungswandel von Gesetzen bedingt, und wenn wir
diese Gesetze kennten, so könnten wir mit Sicherheit das Wetter voraus-
sagen. Aber so eifrig unsere Meteorologen forschen, so sind sie doch zu
einer unfehlbaren Wetterprognose noch nicht gekommen: sie haben in
den Entsprechungen der Wetterkarten gewisse Wetterregeln gefunden,
verfeinerte und erweiterte Bauernregeln, auf Grund deren sie die zu-
künftige Witterung erraten — stets der Ausnahme gewärtig.
Nun : auch der Lautwandel ist von Gesetzen bedingt, und wenn wir
sie kennten, könnten wir die zukünftige Gestalt eines Idioms, das Sprach-
wetter, voraussagen. Aber wir haben noch keine Lautgesetze gefunden,
sondern nur Regeln. Was wir kennen, das sind die Bauernregeln des
Sprachwetters.
Gauchat, der tiefer als irgendeiner vor ihm in den Prozefs des Laut-
wandels eingedrungen ist, bestätigt eben diese Lehre, eine Lehre der Be-
scheidenheit. —
Die Zehnerzahlen in den romanischen Sprachen behandelt
J. Jud. Seine Untersuchung gilt in erster Linie viginti und triginta.
Er geht von der hochlateinischen Betonung vlgihti, triginta aus und
lehnt es mit Recht ab, der vereinzelten Angabe des Galliers Consentius
{triginta) gemeinromanische Bedeutung zuzumessen.3 Auch in der weite-
ren Ausführung, durch die er die romanischen vingt, venti, veinte etc.;
1 Gauchat schliefst seine Studie mit einigen schönen Worten an die Adresse
derer qui croient encore ä Vinfaillibilite des lots phonetiques, die er durch seine For-
sehungsresultate noch einmal des Irrtums überwiesen hat. Aber auch er braucht
noch den Ausdruck 'Lautgesetz' statt Lautregel. Gewifs haben alte termini tech-
uici ein gutes historisches Recht; aber gerade der terminus 'Lautgesetz' ist ge-
fährlich, weil er fortwährend zu den Mifsverständnissen verleitet, die niemand
nachdrücklicher bekämpft als Gauchat.
2 Und docli hat schon vor dreifsig Jahren Ludwig Tobler Über die Anioendung
des Begriffes von Gesetzen auf die Sprache geschrieben ( Vierteljahresschrift für wiss.
Philosophie III, 30—52).
3 Zu der in extenso mitgeteilten Stelle aus Consentius wäre noch man-
cherlei nachzutragen. Es würde schon förderlich sein, sie übersichtlicher zu
drucken, als dies der Verfasser (S. 247 — 249) vornimmt, der hier weniger tut als
Förster im Altfranz. Übungsbuch, und der in der Zusammenstellung der gerügten
Barbarismen (S. 249) einiges versieht (es soll heifsen: 10. socrum pro socerum;
15. onortm pro honorem).
Jud will zeigen, wie wenige der von Consentius angeführten Barbarismen
'eine Spur in den romanischen Sprachen zurückgelassen haben.' Da müssen aber
zunächst die Fälle überhaupt ausgeschieden werden, die offenbar blofse Versehen
flüchtiger oder unwissender Schreiber sind (Tracia, Trachia statt Thracia) oder die
sich auf Qualitätsfehler zeitgenössischer Reimkünstler beziehen (öralor, piper).
Diese Fälle bezeugen ja natürlich nicht unmittelbar entsprechende Lautwerte: dafs
ein Dichter piper mafs, beweist nicht die wirkliche Existenz einer Form mit i,
sondern zeigt nur, dafs ihm die hochlatein. Quantität des Wortes piper neben
454 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
trotte, trinta, treinta etc. auf dem Wege lautgerechter und analogischer
Entwickelung zu gewinnen sucht, stimme ich ihm im allgemeinen bei. Im
einzelnen kann man sehr schwanken, denn jedes der beiden Zahlwörter
ist lautlich sui generis.1
Die spätere lateinische Überlieferung zeigt folgende Graphien :
für viginti: vigenti, reienti (ßetevTi), rienti, vinti;
für trtg int a: trigenta, trienta, trenta, trinta (treginta ist eine
späte vereinzelte Schreibung).
Diese Graphien bedürfen der Interpretation ; sie geben eben nicht ein-
fach die späteren vulgärlateinischen Laute wieder, sondern stellen, wie
üblich, Kompromisse zwischen vulgärer Lautform und Schreibtradition
dar. Ich interpretiere sie so :
Tritj'nüa lautete zunächst tridyenta, triyenta; viginti aber vidyinti, vi-
ginti (Umlaut -i). Aus triyenta, trienta entstand trenta,2, indem der kom-
plizierte Anlaut tr die Reduktion des Diphthongs begünstigte. Aus vi-
yinti entstand *viinti, vinti.
Das ist die lautgerechte Entwickelung. Stets aber haben die beiden
Wörter sich auch analogisch beeinflufst: nach vinti ward trinta? nach
seinem vulgären pebere fremd geworden war. — Die übrigbleibenden Fälle aber
haben im Romanischen denn doch in weiterem Umfange Spuren zurückgelassen,
als Jud zugeben will. Wenn man 1. coperit statt operit brauchte, läfst uns das
erkennen, dafs die Entwickelung operit < aperit bereits begonnen hat. Bei 8.
mite und 9. vila kommt es in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob das ein
oft gerügter Fehler sei, sondern darauf, dafs die Erscheinung romanisch ist : 11 > l
ist ja nordgallische Entwickelung (Priscians l plenum [nicht phnus !] hat hier nichts
zu tun). Zu 16. bobis pro vobis ist nicht das Wort 'Betazismus' von Bedeutung,
sondern der Nachweis Parodis, Romania XXVII, 185 ff., dafs darin ein noch ro-
manisch wirksamer Lautwandel sich zu erkennen gibt. 17. peres pro pedes: das
r kann sehr wohl eine ungeschickte Notierung für die Tatsache sein, dafs der
Verschlufs des d sich zu lösen beginnt (5). 18. stetim pro statim deutet auf Um-
laut hin, dessen zerstreute lateinische Zeugnisse einmal systematisch gesammelt
werden sollten (vgl. Gröbers Zei/schr. XXV, 733). 19. tarterum pro tartnrum ist
gemeinromaniseher Lautwandel, denn auf den Laut kommt es hier an, nicht auf
das Wort, etc.
Übrigens fügt Consentius zu dem Barbarismus triginta hinzu: qui et per immu-
tationcm fieri videtur. Wie versteht er diese immutatio, die sonst in seinem System
die dritte Kategorie der Barbarismen veranlaßt? Er meint wohl einfach, dafs
man triginta auch zur dritten Kategorie stellen könnte, wo er als Beispiel der
'Akzentvertauschung' oratorem anführt. Durch die Nachbarschaft dieses hybriden
oratorem gewinnt triginta nicht an Beweiskraft. Ich teile ganz die Meinung Juds,
der dieses triginta als Sp ra ch Zeugnis unerheblich findet. Zur Zeit des Consentius
kannte die lebende Sprache kaum mehr dreisilbige triginta neben trinta, trenta.
1 In triginta steht z. B der Ton vokal unter dem möglichen Einflufs eines
vorangehenden Palatals; in viginti ist der Ton vokal » palatal doppelt bedroht
durch g und v Ich bestreite also durchaus, dafs 'triginta das gleiche Resultat er-
geben mufste wie viginti' (S. 240). Auch ist die Verschiedenheit des Anlauts (tri-
gegen vi-) für die weitere Entwickelung nicht bedeutungslos.
2 Jud behandelt trenta als analogisch, doch nicht ohne Schwankungen. S. 250
nennt er trenta lautgerecht; vergl. S. 241 n.
Einer solchen Schwankung begegne ich auch in der Beurteilung des Einflusses
von l in viginti (Umlaut). Nachdem er S. 237 die Möglichkeit solchen Einflusses
erwogen und zugegeben (wie S. 241 n.), erklärt er ihn S. 242 und 259 n. als
unwahrscheinlich.
3 Trinta kann regional auch lautgerecht sein; wenigstens ist es dies im Ro-
manischen da, wo lat. i nicht e, sondern » ergab, wie Sizilien und Sardinien
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 455
triyertta, trienta ward viyenti (veienii), vienti1 gebildet (es ist bezeichnend,
dafs Verg. Maro, der trienta hat, auch vienti bietet). Die Vulgärlatein.
Formen sind also:
viyinti analogisch triyenta
viyenti
trienta
vienti \
vinti an alogisch trenta
trinta
Vinti und trenta sind die romanischen Erben; sie sind die beiden
dominierenden Formen der Ostromania (Rätien, Italien, Gallien).
Wo sich rent(i) findet, da liegt Angleichung an die Endung -ent(a)
der übrigen Zehnerzahlen vor, so im florent. venti neben toskan. (senesisch)
vinti, im locarn. cent neben gemeinlomb. vint.2
Vulgärlat. vinti und trenta sind die Grundlagen der ostromanischen
Entwickelung. Die Formen, auf denen die westromanische (span.-
portug.) Entwickelung beruht, führen auf einen älteren Lautstand zurück :
span. reinte, treinta; portug. vinte, trinta. Die mundartlichen Formen sind
uns noch fast unbekannt.
Die älteren spanischen und portugiesischen Texte zeigen nach Juds
Sammlungen: veyente, riente, veynte, reinte, vente, viinte, einte; treyenta,
treenta, treymta, treynta, treinta, triinta, trinta.
Es leuchtet ohne weiteres ein, dafs Jud recht hat, 1. dreisilbige For-
(logud.). In Gallura freilich ist frenla regelhaft. Juds Bemerkungen dazu (S. 253)
sind mir nicht klar.
1 Dafs vienti im Romanischen Spuren zurückgelassen habe, wage ich nicht zu
sagen. Es kanu seinerseits noch umgelautet worden und so zu viinti, vinti geführt
worden sein. Dafs vienti zu venti geführt habe, glaube ich nicht. Jedenfalls taugen
Parallelen wie quielus > queius, sapiebam > sapebam nicht zur Erhärtung (S. 238).
Dafs die Analogieform venti vulgärlateinisch nicht belegt ist, halte ich für Zufall.
2 Dafs 'bei ital. vinti einzelsprachlich kein Umlaut anzunehmen ist' (S. 255),
mufs ich grundsätzlich bestreiten, auch wenn ich im Einzelfalle Juds Auf-
fassung des senes. genues. vinti und des tosk. venti teile.
Wenn einzelne Mundarten keinen Umlaut aufweisen, so ist damit nicht ge-
sagt, dafs nicht doch ihre Zahlwörter, die so häufig singulären Lautwandel
zeigen, jener mächtigen Palatalisierung erlegen seien, die wir Umlaut nennen.
Insbesondere kann ich nicht zugeben, dafs das Genuesische aus * venti heute nicht
vinti, sondern *veinti ('Attraktion des t ') hätte ergeben müssen. Diese sogen.
'Attraktion' ist selbst nichts anderes als 'Umlaut'. Wenn *cani zu
cain wird, so ist nicht das 1 'attrahiert' worden, sondern es hat sich aus *cani
durch Vorwegnahme der Zungenstellung für -t (progressive Assimilation) zwischen
d und n ein Gleitlaut i (caini) entwickelt. Damit ist das d palatal umgelau-
tet, ob es bei ai bleibt oder schliefslich e (ken) entsteht. Der Umlaut a > e
kann eben entweder durch direkte 'Steigerung' oder auf dem Umweg über Di-
phthongierung ae > ai > ei > e entstehen. Die Diphthongierung ('Epenthese',
Attraktion' sind sehr unglückliche Bezeichnungen des Vorganges) ist hier nur eine
Form des Umlaufs — eine Erkenntnis, die besonders für die Phonetik der süd-
italienischen Mundarten grundlegend ist.
Genues. *veinli wäre also von vinti nicht grundsätzlich, sondern nur graduell
verschieden. Vinti kann ein monophthongisiertes *veinti sein.
In den rätischen Formen von viginii (S. 253) sollte Jud das e Gärtners in
seiner Transkription als e wiedergeben ; zu rät. e aus lat. I cf. Gärtners Rätische
Gramm., § 43 f.
456 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
men zugrunde zu legen und 2. ausgiebige Analogiewirkungen1 anzunehmen.
Im einzelnen aber ist es sehr schwer, ohne die Hilfe der lebenden Mund-
arten in diese Graphien lautliche Ordnung zu bringen. Doch ist der Aus-
gangspunkt ganz klar: *veyinti, das aus viyinti durch jene Dissimilation
entstanden ist, die ja interromanisch und deshalb sehr alt ist. Von diesem
* veyinte ist dann treyenta (statt triyenta), treyinta beeinflufst, und nach
treyenta ist wieder veyente gebildet. So entstand /'einte (altspan. veinte),
darnach treinta; trenta und darnach vente (dialektisch).
Aber auch viyinte — viinte — vinte ist auf weitem iberischem Gebiet
geblieben (z. B. portugiesisch) und hat trinta nach sich gezogen.
Der ganze Unterschied zwischen den west- und den ostromanischen
Formen reduziert sich also in seinem Ursprung auf veyinti statt viyinti,
d. h. auf die verschiedene Behandlung von viyinti, die dann das Schicksal
von triyinta analogisch beeinflufst hat.
Das obige Schema ist also wie folgt zu ergänzen:
viyinti triyenta; regional: triyinta
vinti,
veyinte
an alogisch:
trienta
(analogisch:
westroman.
J
treyinta
1
ventt)
u. portug.
veinte
\
trenta
span.
treinta,
(analogisch :
trinta,
span.
trinta)
siz. sard.
Auch in der Behandlung der lat. Endung -aginta (quadraginta) zeigt
das Span, einen älteren Lautstand. Gemeinromanisch ist -aginta über
•aenta früh zu -anta geworden, z. B. ital. quaranta (cf. magistrum > ma-
stro). Während dies quaranta schon in Vulgärlatein. Schreibung erscheint,
zeigt Spanien nach den lehrreichen Zusammenstellungen von Jud noch
im späteren Mittelalter -aenta, -eenta, die in der lebenden Sprache -enta
ergeben haben, ähnlich wie altspan. cuaraesma heute cuaresma lautet.
Wir haben also, wie Jud konstatiert, für die ganze Serie der Zehner-
zahlen von 20 bis 90 diese nämliche Erscheinung: die ganze Romania
aufser der iberischen Halbinsel führt auf bereits monophthongierte Formen
(vinti, trenta, -anta) zurück; Spanien aber weist einen Lautstand auf, der
weit über diese Monophthongierung zurückdeutet in eine Zeit, wo noch
veyinte, triyenta, -ayenta erklang. —
Un document inödit du francais dialectal de Fribourg
au XVe siecle behandelt J. Jeanjaquet.
Die Suisse romande, die uns mit ihren heutigen Patois so reiche Aus-
kunft über das Leben der Sprache gibt, bietet nur sehr kärgliches Material
zur Erforschung ihrer alten Mundarten. Diese haben kein Schrifttum
hervorgebracht, und die Amtssprache blieb lateinisch. So sind die älteren
Urkunden alle lateinisch, und wenn mit dem 14. Jahrhundert die Vulgär-
sprache in die amtlichen Aufzeichnungen eindringt, so ist diese Vulgär-
sprache eben nicht rein dialektisch. Es bemüht sich z. B. die Kanzlei
der Stadt Freiburg augenscheinlich, Französisch zu schreiben — wenig-
stens jenes Französisch, das im amtlichen Verkehr des benachbarten Ost-
frankreich üblich war: eine regionale ostfranzösische Kanzlei-
1 Jud braucht dafür auch den Ausdruck Assimilation, was mir nicht
glücklich erscheint. Und vollends von progressiver resp. regressiver Assi-
milation zu sprechen, um die Analogiewirkung von viginti auf triginta resp. um-
gekehrt zu bezeichnen, ist ein MifsgrifiF. Diese Termini eignen der Lautlehre:
wenn in fiel das e zu i umlautet (hice), so ist eben dieser Umlaut progressive
Assimilation des e an %.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 457
spräche. In diese Kanzleisprache mischen dann die freiburgischen
Ämter je nach der Persönlichkeit der Schreiber Formen des lokalen Dia-
lekts, so dafe ein hybrides Amtsfranzösisch entstand — kein francais
föderal, aber ein francuis communal — , ähnlich dem hybriden Deutsch,
das zur nämlichen Zeit in den Kanzleien der Zentral- und Ostschweiz im
Schwange war. Aus dieser labilen Schriftsprache gilt es, die dialektischen
Indizien zu gewinnen, die uns über das parier local der alten Zeit Auf-
schlufs zu geben geeignet sind.
Was an Dokumenten des freiburgischen francais dialectal erhalten ist,
ist zumeist in den acht Bänden des Recueil diplomatique du canton de
Fribourg und in den Comptes de depenses de la construction du clocher de
St-Nicolas veröffentlicht; cf. auch Bomania XXI, 39 ff. Nach den sum-
marischen Bemerkungen von P. Meyer l. c. hat dann J. Girardin in Grö-
bers Zeitschrift XXIV, 199 ff. den altfreiburgischen Vokalismus (Ende
des 15. Jahrhunderts) auf Grund der Comptes darzustellen unternommen.
Jeanjaquet hat sich die Aufgabe gestellt, die hybride Kanzleisprache
selbst in ihren Schwankungen darzustellen. Er legt dabei aufser dem
ältesten Dokument von 1319 eine bisher unveröffentlichte Verordnung
von 1414 zugrunde, dehnt aber seine Beobachtungen auf das ganze ge-
druckte Material aus. Er zeigt in der Graphie die Mischung hochfranzö-
sischer, ostfranzösischer und lokaler Lautung auf; weist in Biegung und
Satzfügung lokale Gewohnheiten und gelegentliche Germanismen nach
und fügt auch ein Glossar hinzu. '
So gibt Jeanjaquet zum erstenmal ein Bild der alten Amtssprache
der französischen Schweiz, speziell Freiburgs. Er stellt mit dieser ge-
drängten, scharfen und sicheren Orientierung zugleich fest, in welchem
Mafse diese alten Dokumente als Quellen unserer Dialektkenntnis gelten
dürfen, und er hat auf Grund seiner reichen Erfahrung Veranlassung, zur
Vorsicht zu mahnen (S. 288 u.). —
Unter dem Titel Zur italienischen Syntax behandelt E. Keller
einige Fragen der Parataxe mit reicher Beispielsammlung.
I. Che\2 Dieses che (= denn), das lautlich mit che (= dafs, weil)
zusammenfällt und infolgedessen auch graphisch (che, che) nicht konse-
quent — und in der älteren Schrift gar nicht — von jenem unterschieden
wird, ist eigentlich Fragepronomen (quid?). Ein Non piangere, che la
mamma e in paradiso ist schon durch den Indikativ dahin charakterisiert,
dafs nicht das gewöhnliche Objektsverhältnis (che la mamma sia in para-
diso) vorliegt, sondern: Non piangere, che la mamma e in paradiso d. h.
eigentlich = Non piangere! che? la mamma e in paradiso (cf. A. Tobler,
Verm. Beitr. II, 79 frz. car = quare?).3
II. Die relativische Verknüpfung selbständiger Gedanken ist latei-
nische Stil gewohn heit. 77 quäl padre Cristoforo, wie Manzoni das fünfte
1 Das Lehnwort der Kirchenverwaltung marguillier < malriculariut weist im
Romanischen zahllose Varianten auf, von denen viele auf Verschränkung mit re-
gula : malricula > *matregula, * malr* gularius hinweisen, so gewifs auch freibur-
gisches maruglei und walliser maruhy. Die lehnwortliche Behandlung von regula
selbst ist vielgestaltig, und es wäre zunächst diese für die Westachweiz festzustellen,
um maruglei etc. zu erklären.
2 Der Verfasser schreibt mit den neueren che, perche; warum dann aber
poiche, fuorche, sieche?
3 Hierher gehört auch das von Keller S. 310 f. behandelte perche — denn.
Z. B. : Per Vanima di Laurenti fu quello im giorno dt sole. Perche dovete safere
che ... = Perche? Dovete sapere che ...
Mit Unrecht sind auch die Beispiele 'kontinuativer' Relativsätze der S. 317 f.
getrennt von den S. 308 f. angeführten.
458 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Kapitel seines Romans beginnt, ist nicht lingua parlata. ' — Bezieht sich
das Relativum auf den ganzen Inhalt des vorangehenden Satzes, so lautet
es zumeist il che, doch auch che allein und entsprechend in präpositionaler
Verbindung, z.B.: del che non devi stupirti oder di die non devi stupirti
(S. 307); per il che dicevano . . . oder per che dicevano2 (Vockeradt, Lehr-
buch der ital. Sprache, Berlin 1878, § 453, 2).
In einem dritten Abschnitt werden noch andere Fälle besprochen,
wo die Verbindung selbständiger Sätze mit Mitteln der Hypotaxe vor-
genommen wird: poiche = nämlich (vgl. das franz. puisque hier XCVIII,
383); senonche = nur; fuorche = nur; sieche = so; (e) tanto che =
(und) schliefslich ; quando = da; oltreche = zudem. Und mit Recht
weist Keller darauf hin, wie schwankend die Grenzen der Erscheinungen
sind, welche die Grammatik durch ihre überlieferten technischen Aus-
drücke hübsch voneinander geschieden zu haben wähnt. —
Henri Blazes Übertragung des zweiten Teils von Goethes
Faust. Der erste Franzose, der das Wagnis einer Übersetzung des
zweiten Teils des Faust unternommen hat, ist Blaze de Bury. Pro-
ben dieser Übertragung gab er zunächst in der Revue des deux mondes
(1839). Im Jahre darauf erschien dann sein Faust de Goethe, traduetion
complete. Sie wird noch heute aufgelegt. — H. Blaze hat nur die durch
ihren poetischen Charakter hervorragenden Stellen in gebundener Rede
wiedergegeben; das meiste ist in Prosa übertragen, und in den späteren
Auflagen hat er die metrischen Stellen noch weiter reduziert.
M. Langkavel hat diese Übertragung einer eingehenden Verglei-
chung mit der Urschrift unterworfen. Wohl zeigt sie, wie der Zwang
des Verses und die Fessel der traditionellen Dichtersprache den Über-
setzer hemmt, seinen Ausdruck dekoloriert und ihm Füllsel und For-
meln in die Feder fliefsen (z. B. das Epitheton blond); wie gelegentlich
ein sprachliches Mifsverständnis mit unterläuft, obschon Blaze Loeve-
Veimars zu Rate zieht. Doch kommt sie auf Grund ihrer Untersuchung
dazu, en connaissance de cause das günstige Urteil, das bisher über Blazes
Leistung bestand, zu bestätigen, indem sie es begründet und ergänzt. —
Aus ihrer Beschäftigung mit Houdar de la Motte heraus spendet M. J.
Minckwitz: Ein Scherflein zur Geschichte der französischen
Akademie von 1710 — 31, d.h. in den zwanzig Jahren, während deren
la Motte Mitglied und Directeur war. Es sind die letzten Jahre Lud-
wigs XIV., die Regentschaft (1715—23) und die erste Zeit Ludwigs XV. mit
seinem Minister Kardinal Fleury (seit 1726). Diese zwei Jahrzehnte haben,
wie die Verfasserin selbst sagt, eine besondere Bedeutung in der Geschichte
der Akademie nicht. Die Akademie ist, wie vorher und wie nachher, eine
höfische Institution. Die Verf. hat denn auch vorzüglich von höfischen
Obliegenheiten und Gunstbezeugungen zu reden und berichtet da manches
charakteristische Detail aus dem Kleinleben dieser geistlich geleiteten
Körperschaft, deren dekorative Huldigungen der schlaue Regent dem
Königsknaben zukommen liefs, wie der Erwachsene einem unbequemen
Kinde glänzendes Spielzeug zuschiebt. Gegenüber diesen höfischen Ob-
liegenheiten, zu denen ja auch die Wahlen und Concours gehörten, gegen-
über Fragen der Sitzungsräume und der Sitzungsfauteuils, stand auch da-
mals die eigentliche Aufgabe der Akademie im Hintergrunde. Sehr
1 Wie Manzoni sich in den verschiedenen Redaktionen der Promessi Sposi zu
dieser Konstruktion verhielt, sagt D'Ovidio, Le correzioni ai Prom. 5p.,4 Napoli,
1895, p. 77.
2 Da dieses per che ein der Sprache auch sonst sehr geläufiger Nexus ist, so
tritt das il des SatzrelativumB bisweilen vor per: il perche dicevano_(S. 307).
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 459
bezeichnend ist, was Verf. von der Arbeit am Dictionnaire zu berichten
weifs: der Antrag, die einzelnen Wörter mit historischen Belegstellen zu
versehen, wurde 1727 abgelehnt. Neunzig Jahre zuvor hatte ihn bereits
der einsichtsvolle Chapelain umsonst gestellt. Die Akademie heharrte von
Anfang an darauf, die Musterbeispiele, die sie ihren Wortdefinitionen bei-
fügte, selbst zu erfinden, und sicherte sich so die Freiheit sprachmeister-
licher Eigenwilligkeit. Dem Secretaire perpetuel aber ward gestattet, bei
der Korrektur der Druckbogen geeignete Belegstellen aus guten Autoren
von sich aus einzufügen. Doch war ihm streng verwehrt, dabei an die
Definitionen und Musterbeispiele der Akademie zu rühren, d. h. der histo-
rische Beleg mufste diesen aprioristischen Schranken sich fügen. So hat
die Akademie das, was die induktive und lexikologische Wissenschaft
einer späteren Zeit als Grundlage betrachtet, jederzeit als das Sekundäre
behandelt und gering geschätzt.
Zwei akademische Vorkommnisse dieser Zeit erklärt Verf. als beson-
ders bedeutsam: die Ausstofsung St-Pierres (1718)' und die Aufnahme
Montesquieus (1721 — 28). Jene wird eingehend erzählt, diese nur gestreift.
Ich bin überzeugt, dafs Brunei (S. 347) recht hat, wenn er glaubt, dafs
der Regent St-Pierre nicht gram war. Er war sicherlich an den geistlich-
akademischen Verfolgungen, denen St-Pierre erlag, unbeteiligt und brachte
es deutlich zum Ausdruck, dafs ihm das akademische Gezänk zuwider
war. Die Polysynodie war für den, der mit Ministerkonseils regierte, keine
revolutionäre Schrift,2 und sich für das Andenken Ludwigs XIV. be-
sonders ins Zeug zu legen, hatte der, der dessen Testament gebrochen,
keine Veranlassung. Dafs, nach Brunei, der Schwärmer St-Pierre als
ein Vorläufer Montesquieus bezeichnet wird , halte ich für unrichtig.
St-Pierre ist, wie freilich der treffliche Hettner besser und deutlicher zeigt
als Brunei, ein universeller Reformer, Montesquieu ist ein konservativer
Antireformer (cf. Archiv CXIII, 391). Auch dafs mit der Wahl Montes-
quieus an Stelle de Sacys (1728) für die Folgezeit ein 'ungemein bedeut-
samer Ersatz' gewonnen worden sei, mufs ich bestreiten. Montesquieu
ist für die Akademie vielmehr völlig bedeutungslos gewesen. Der,
der in den Lettres persanes so unbarmherzig über das 'ewige Gewäsch' der
Akademiker gespottet hatte, hat nach seinem Discours de reception die
Sitzungen überhaupt nur noch wenige Male besucht und keinerlei Ein-
flufs weder auszuüben erstrebt noch tatsächlich ausgeübt. Wer die un-
erfreulichen Vorgänge, die Montesquieus Kandidatur und Wahl beglei-
teten (vgl. Sonntagsblatt des Bund, Bern 1884, n" 18 ff.), näher untersucht,
der findet dies auch erklärlich. Diese Vorgänge sind für die Akademie
ebenso charakteristisch wie für Montesquieu. Sie zeigen, wie der aka-
demische Ehrgeiz zur verhängnisvollen Klippe ward, an der auch Montes-
quieus Charakter nicht ohne Havarie vorüberkam. —
Der junge Voltaire und der junge Goethe ist der Titel des
interessanten Essay, den K. Schirmacher beigetragen hat. Den jungen
Voltaire vornehmlich nach seinen Briefen zu charakterisieren, habe auch
ich vor langen Jahren einst unternommen3 und dabei aus seinen Jugend-
briefen ähnliches herausgelesen wie K. Schirmacher; aber der Gedanke,
1 Es empfiehlt sich, in den mit Saint gebildeten französischen Eigen-
namen die französische und nicht die deutsche Form der Abkürzung zu gebrauchen :
St- und nicht St. (== Sankt), also St-Pierre, Ste-Beuve und nicht St. Fierre, Ste.
Beuve zu schreiben.
a Aus welchen Gründen vielleicht der Regent trotz der Lobsprüche, die
Saint-Pierre seiner Person und seinem Regierungssystem widmet, sich verletzt
fühlen konnte, zeigt Rousseau in seinem Jugement sur la Pohjtynodie.
3 Im Sonntagsblatt des Bund (Bern) 1888, n° 20—22.
460 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
ihn mit dem jungen Goethe zu vergleichen, der höchsten Kultur die
tiefste Natur gegenüberzustellen, ist mir nicht gekommen. Unbestreit-
bar ist dieser Gedanke ein sehr glücklicher. Für beide besteht aus-
kömmliches Material in Briefen an Freunde, Gönner und geliebte Mäd-
chen: reicher freilich ist dies Material für den reicheren Goethe. Die
Verfasserin hat, was es birgt, in helles Licht gesetzt und die Gestalten
dieser beiden Grofsen, von denen der eine 'typisch französisch, der andere
unnachahmlich deutsch' war, in scharfen Umrissen aus ihren Jugend-
briefen erstehen lassen. Und es erfreut insbesondere, zu sehen, wie gerecht
sie Voltaire beurteilt, gegen den der Deutsche so leicht unbillig wird. -
E. Tappolet handelt Über die Bedeutung der Sprachgeogra-
phie mit besonderer Berücksichtigung französischer Mund-
arten. Dabei steht die Frage der Dialektgrenzen im Zentrum seiner Er-
örterungen. Er legt Gillierons Atlas linguistique de la France zugrunde
und geht auch vom zukünftigen Atlas linguistique de la Suisse romande
aus, aus dessen Werkstätte L. Gauchat hier (CXI, 3ti5 ff.) so fesselnde
Mitteilungen gemacht hat. Auch verfügt Tappolet als einer der drei Re-
daktoren des Olossaire de la Suisse romande über eigene reiche dialektische
Beobachtungen und methodische Erfahrungen.
Tappolet verfährt nach der nämlichen graphischen Methode, die Gau-
chat zu so schönen Erkenntnissen geführt hat: er bestätigt diese Erkennt-
nisse und bereichert sie.
Er hat, vorzüglich aus dem ersten Faszikel des Atlas Oillieron, etwa
drei Dutzend Erscheinungen, hauptsächlich phonetische und lexikologische,
aufs Geratewohl ausgewählt, die Grenzlinien dieser Dialektmerkmale fest-
gestellt und diese Grenzlinien alle auf das nämliche Kartenblatt einge-
tragen. Aus dem Wirrsal dieser Merkmalgreuzen ' ergibt 6ich zunächst
für Frankreich, was die Karte hier CXI, 3v»2 für die Schweiz _ lehrt : die
dialektischen Merkmale sind nicht in gleichmäi'sig allmählichen Übergängen
über das ganze Land verteilt (wie eine aprioristische Sprachlehre behauptet
hat), sondern in dem einen Landesteile häufen sie sich mit scheinbar will-
kürlichen Kreuzungen, in anderen Gegenden sind sie selten. Es gibt
grenzenreiche, d. h. dialektisch heterogene, und gibt grenzenarme, d.h.
dialektisch homogene, Gebiete — immerhin bleibt abzuwarten, inwiefern
die Eintragung weiterer Merkmalgrenzen im einzelnen das vorläufige
Kartenbild, das uns Tappolet weist, modifizieren würde. Er erkennt
zwei grofse relativ homogene Gebiete: das südöstliche Tiefland, Provence-
Languedoc, und das sogenannte Pariserbecken im Nordwesten. Zwischen
diesen beiden grenzenarmen 'Kernlandschaften' zieht sich in südwest-
nordöstlicher Richtung eine Zone heterogenen Sprachgebietes über das
Zentralplateau.2 Ihre Breite variiert von 50 — 200 Kilometer.
1 Man kann die Linie, welche die Grenzorte der nämlichen Lauterscheinung
verbindet, als Isophon en bezeichnen und darnach auch von Isomorphen,
Isolexen sprechen: Grenzlinien für flexivische und lexikologische Erscheinungen.
2 Tappolet konstatiert das eigentümliche Zusammentreffen, dafs 'da, wo Frank-
reich ans Meer grenzt, sich meist homogenes Dialektgebiet findet; dafs hingegen
da, wo franz. Mundarten mit deutschen, italienischen, katalanischen
oder baskischen zusammenstofsen, sich erstere in der Kegel recht stark diffe-
renziert haben.' Dafs die vom Meer begrenzten Landesteile, wo jeder sprachliche
Gegenstofs fehlt, verhältnismäfsig einheitlich bleiben, ist erklärlich. Da ein dia-
lektischer Gegenstofs auch von fremden Idiomen, wie deutsch, kaum ausgeht, so ist
die Differenzierung der franz. Mundarten an der deutscheu Sprachgrenze auffallend. —
Italienisch und Katalanisch durften in diesem Zusammenhang nicht olme weiteres
mit genannt werden: hier finden Übergänge und Gegenstöfse statt, und es ist ja
das Katalanische nur eine verhältnismäfsig junge Verlängerung des Provenzaliscben.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 461
So ergibt sich eine sprachliche Dreiteilung für das heutige Land; sie
entspricht Frankreichs topographischer Gliederung und erinnert auch an
Caesars Gallia est omnis divisa in partes tres. Die mittlere heterogene
Zone sieht aus wie die sprachlichen Trümmer der Gallia lugdu-
nen sis. In welchem Umfange dieser Dreiteilung aber wirklich alte gallo-
romanische Sprachzustände zugrunde liegen — dies zu eruieren wäre eine
reizvolle Aufgabe der historischen Lautlehre, deren Lösung durch sorg-
fältige Eintragung der ältesten erreichbaren Isophonen zu suchen wäre.
Dafs die erdrückende Mehrzahl der Tappoletschen Merkmalgrenzen —
und insbesondere die Isophonen, welche alten galloromanischen Lautwandel
darstellen — west-östlich verlaufen, ist eine Erscheinung, die für die Er-
klärung des Romanisierungsprozesses in Gallien von der höchsten Bedeu-
tung ist. —
Bisweilen fallen von den im allgemeinen wirr verlaufenden Merkmal-
grenzen einige auf kürzere oder längere Strecken völlig zusammen. Es
zeigen sich so kürzere oder längere, schwächere oder stärkere Linienbündel,
zum Zeichen, dai's auf der betreffenden Strecke mehrere Sprachmerkmale
erlöschen. Jedes dieser Linienbündel ist als tieferer sprachlicher Ein-
schnitt interessant und gibt der Sprachgeschichte ein kleines Problem auf.
Am interessantesten sind unzweifelhaft jene starken und langen Linien-
bündel, wie sie Gauchat hier CXI, 392 ff. für die Suisse roinande nach-
gewiesen und besprochen hat, und wie sich nun Tappolet vorläufig deren
zwei für Frankreich ergeben haben, beide im Südwesten: I. Von der Mün-
dung der Gironde bis nördlich von Bordeaux fallen auf eine Strecke von
100 Kilometern dreizehn Merkmalgrenzen zusammen, d. h. die breite
Gironde, die eine natürliche Verkehrsgrenze ist, bedeutet auch einen tiefen
sprachlichen Einschnitt1 zwischen Saintonge und Medoc. IL Sechs
Merkmal grenzen fallen auf eine 300 Kilometer lange Strecke zusammen,
die sich bogenförmig vom Bassin d'Arcachon gegen die Garonnequellen
hinzieht, das Flufsgebiet des Adour umschliefsend. Das ist die alte Gas-
cogne, die also heute noch durch eine Dialektgrenze vom übrigen süd-
französischen Mundartengebiet scharf geschieden ist. Man wird Tappolets
Vermutung, dafs diese dauerhafte und energische Dialektscheide auf eth-
nischer (iberischer) Grundlage beruhe, berechtigt finden. Die endgültige
Aufklärung über Entstehung und Erhaltung dieser Dialektgrenze muls
uns die Provinzial- und Lokalgeschichte geben. Sie mufs über die staat-
liche, kirchliche, wirtschaftliche Zugehörigkeit resp. Autonomie des um-
grenzten Gebietes im Laufe der Jahrhunderte Aufschlufs geben. Von ihr
ist die Antwort auf die Frage zu erwarten, welches waren im Lauf der
Jahrhunderte die politischen und kirchlichen Grenzen und das wirtschaft-
liche Leben dieser Südwestecke Frankreichs, d. h. wohin gravitierte der
ganze politisch, kirchlich und wirtschaftlich bedingte Verkehr ihrer Be-
wohner — mit anderen Worten: welches waren einst ihre Verkehrs-
grenzen? Denn, was emsige Arbeit bis jetzt auf dem Gebiete der deut-
schen und französischen Mundartenforschung zutage gefördert hat, hat
die sprachliche Allgewalt des Verkehrs erwiesen : die bis jetzt gefundenen
Dialektgrenzen sind Verkehrsgrenzen , uralte oder jüngere, mit oder
ohne erkennbare Verschiedenheit des ethnischen Substrats.
Dafs diese Verkehrsgrenzen, welche mundartliche Einschnitte schaffen,
oft genug von Terrainschwierigkeiten bedingt sind, ist einleuchtend (z. B.
die Gironde) — wie oft aber überwindet politische, kirchliche, wirtschaft-
liche Zusammengehörigkeit die gröfsten Terrainschwierigkeiten und schafft
mit der Verkehrseinheit auch Spracheinheit. Zwar ist der Gotthard
eine Sprachscheide — aber dafür haben die höchsten Gipfel der Alpen,
1 Doch bilden die untere Loire, Seine und Uhöne keine sprachlichen Ein-
schnitte.
4P>2 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
der Montblanc und der Monterosa, nicht verkehrshemmend und also nicht
sprachtreuuend gewirkt: die Alpwirtschaft verbindet das Aostatal mit
Savoyen und Maeugnaga mit Saas.
Die Verhältnisse der Schweiz sind hier insbesondere lehrreich, und
Tappolet widmet ihnen die letzten Seiten seines schönen Aufsatzes. Schon
Gauchat hatte gezeigt, dafs die ausgeprägteste Dialektgrenze der Suisse
romande nicht im Hochgebirge, sondern auf flachem Grund und Boden,
auf einer Hochebene des bernischen und neuenburgischen Juras liegt und
da die beiden Dörfer Les Bois und La Fernere trennt: das bäuerliche
und katholische Les Bois vom industriellen und protestan-
tischen La Fernere. Indem Tappolet den mundartlichen Erscheinungen
längs der französisch -schweizerischen Landesgrenze (waadtländer, neuen-
burger und berner Jura) nachgeht, zeigt er den sprachtrennenden Einflufs
der Konfessionen. Auf der waadtländischen Strecke ist die Landesgrenze
zugleich Dialektgrenze, trotzdem nach Frankreich hinüber keine natür-
lichen Verkehrshemmnisse bestehen: die Waadt ist protestantisch ; auf der
berner Strecke vermag sogar das tief eingeschnittene Grenztal des Doubs
keine scharfe Mundartscheide zu bilden: der berner Jura ist katholisch.
Wie sehr kirchliche Zugehörigkeit die Verkehrgruppen und damit die
Sprachgruppen besonders ländlicher Kreise bis heute bestimmt, das zeigt
Graubünden, in dessen Oberland geradezu eine katholische und eine refor-
mierte Varietät des Romontsch unterschieden wird. — Im Sprachbild des
Mittelalters haben unzweifelhaft die Diözesangrenzen eine hervorragende
Bolle gespielt: sie schieden die Bezirke des grofsen foires auch mundart-
lich voneinander.
Empirische Feststellungen wie die Tappolets zeigen, dafs es zwar Dia-
lekte im landläufigen Sinne, in die sich die Sprachmasse eines Landes
wissenschaftlich einteilen liefse, nicht gibt; dafs aber anderseits diese
Sprachmasse sich auch nicht gleichmälsig in einzelne Merkmalzonen auf-
löst, die, wie die Ringe eines Harnisch, ineinander liegen, und von denen
keine sich ganz mit der anderen deckte. Die Wahrheit liegt vielmehr
sozusagen in der Mitte: es gibt zwar keine scharf umgrenzten Dialekte
— aber es gibt scharfe Dialektgrenzstrecken. Sie sind geschichtlich
bedingt als Verkehrsgrenzen, die ihrerseits politisch, kirchlich und wirt-
schaftlich bedingt sind.
In diesen Forschungen beleuchten sich Linguistik und Geschichte
gegenseitig. Wo der Linguist eine Mundartgrenze — d. h. das Zusammen-
fallen von Isophonen — nachweist, da mufs der Historiker — wenn die
Gegenwart keine entsprechende Verkehrsgrenze mehr aufweist — nach
einem alten Limes graben. Und umgekehrt müssen alte Verkehrsgrenzen,
z. B. die Diözesangrenzen, auch wenn ihre sprachlichen Spuren in der
heutigen Mundart nicht mehr erkennbar sind, von der Sprachgeschichte
in Rechnung gesetzt werden.
Man darf wohl sagen, dafs die Erforschung der lebenden Mundarten,
in Verbindung mit der Phonetik, die Sprachwissenschaft der letzten zwan-
zig Jahre völlig umgestaltet hat. Man hat einsehen lernen, dafs die Ge-
setze des Sprachlebens vor allem am Leben selbst zu studieren sind,
und dafs jene linguistischen Theorien, die auf papierenem Boden gewachsen
sind, eine gründliche Revision und Säuberung durch die Empirie, welche
das wunderbare Leben der Mundarten so freigebig gewährt, erfahren
müssen. Die Linguistik hat sich lange am Phantom geübt; nun ist sie
zum Studium des lebendigen Leibes übergegangen. Sie hat sich lange
auf Paläontologie beschränkt, hat Knochenreste gedeutet und Koprolithe
bestimmt, nun ist auch sie zur Biologie gekommen und mufs jetzt ihre
paläontologischen Theorien revidieren. Und weil ich an mir selbst er-
fahren habe, welche Erfrischung das bedeutet, habe ich längst dafür plä-
diert, die Arbeit am lebenden Patois in den akademischen Unterricht
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 463
aufzunehmen.1 Diese Arbeit ist wie keine andere eine Schule linguistischen
Denkens. Die schweizerischen Universitäten sind durch ihre Lage für
Patoisforschung besonders günstig gestellt. Solche Gunst schafft Ver-
pflichtungen, und dafs sie ihrer bewufst sind, zeigt die tiefgehende Studie
Gauchats, die feine Skizze Jeanjaquets und diese orientierende Antritts-
vorlesung Tappolets. —
Zu den Stimmen der Lebenden gesellt sich am Schlufs die Stimme
eines teuren Toten. L. P. Betz hat zu dem Bande einen Aufsatz über
den Zürcher Heinrich Meister, den 'Pariser Meister', beisteuern wollen.
Er war dazu vortrefflich gerüstet. Dieser treue Freund Grimms und
Diderots, der von lrtT-"> an während vierzig Jahren deren Correspondance
litteraire in Paris, in London und Zürich fortgeführt hat, dieser schweize-
rische Vermittler deutschen und französischen Geistes, war einer von Betz'
Lieblingen. Wie oft bildete er den Gegenstand unserer Unterhaltung;
wie oft hatte Betz neues über ihn mitzuteilen! Es sollte ihm nicht ver-
gönnt sein, die ordnende Hand an sein reiches Material zu legen. Ein
grausames Schicksal entrifs den Vortrefflichen in der Blüte der Jahre
seiner weitausblickenden Tätigkeit als Forscher und akademischer Lehrer,
seiner Familie und seinen Freunden (vergl. Goethe - Jahrbuch 1904). Von
seiner Arbeit über Meister war nur die Bibliographie der Werke
Jakob Heinrich Meisters bereit. Die Sorge gemeinsamer Freunde
hat sich dieses Bruchstücks angenommen, und auch Frau Betz, der treuen
Mitarbeiterin ihres Gatten, sage ich dabei herzlichen Dank dafür, dafs sie
ihre Einwilligung dazu gegeben hat, dafs der Torso dem Lehrer und
Freunde dargebracht werde. Wie eine gebrochene Säule steht er am
Schlüsse des Bandes über einem Grab, das viele schöne Hoffnungen deckt.
Das Buch, von dem ich hier so lange gesprochen, hat in mir die leb-
hafteste Erinnerung an die nur zu rasch entschwundenen Zeiten geweckt,
die uns zu gemeinsamer Arbeit in den romanischen Seminaren zu Bern
und zu Zürich vereinigte. Dafs auch ich in Dankbarkeit und treuer An-
hänglichkeit an diese gemeinsame Arbeit zurückdenke — das den Ver-
fassern dieses Bandes zu zeigen
Vagha mi il lungo studio e il grande amore
Che m'a fatto cercar il lor volume. xt vj
Dr. Otto Knörk et Gabriel Puy-Fourcat, Le francais pratique
pour la jeunesse comnieryante et industrielle. löre partie. Berlin,
Mittler & Sohn, lyoä. 128 S. 8 mit Vocabulaire (getrennt) '23 S.
Ein neues Glied in der Reihe der Lehrgänge für den französischen
Anfangsunterricht an Handels- und Fortbildungsschulen, das von den be-
treffenden Lehrern mit Freude begrüfst werden wird. Es will diesen
Herren, wie die Preface hervorhebt, die Möglichkeit bieten, den Unterricht
gleich in französischer Sprache zu erteilen. Deshalb ist es ganz in dieser
Sprache geschrieben, abgesehen vom Cours preliminaire, der auf S. XI
bis XIX Lautlehre und Bindung bespricht und Ausspracheübungen bringt.
Deutsche Sätze zum Übersetzen fehlen also, entsprechend dem Reform-
grundsatze: 'Das Übersetzen ist eine Kunst, welche die Schule nichts an-
geht.' Mit Recht, denn durch Übersetzen ist noch kein Schüler direkt
zum Aufsatz und zum freien Gebrauch der Sprache geführt worden. Jede
der 30 Lektionen enthält Lecture, Questions, Qrammaire und Eocercice.
Die Lecture fängt mit Anschauungsunterricht und dem Nächstliegenden
1 Die Untersuchung lebender Mundarten und ihre Bedeutung für den akademischen
Unterricht, in Behrens' Zeitschrift 1888; cf. W. Vietors Phonetische Studien 111,71.
!'"4 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
an : La salle de elasse, Le eorps humain, Les vetements, L'enseignement
commercial et Industrie/, Lettre, Carte postale etc., und bringt von der
19. Lektion an die Geschichte zweier jungen Kaufleute, die Stellungen in
Paris finden und dorthin reisen. Ein Vorzug des Buches ist also, dafs
es interessant ist; ein zweiter, dal's es praktisch und kurz ist. Denn die
Qrammaire, welche vielfach noch nicht eine Seite, dazu in sehr übersicht-
licher Form und in zum Teil fettem Druck, einnimmt, behandelt in der
vorliegenden lh'e partie die ganze Formenlehre und Teile der Syntax: des
subjonctif, place de l'adjectif, infinitif. Ist es nicht ganz natürlich, bei
aller, venir, courir gleich den infinitif sans preposition, bei resoudre etc.
gleich den infinitif avec la preposition ä zu behandeln, namentlich wenn
es in so kurzer Form wie hier geschieht? Etwas bedenklich dagegen er-
scheint es, wenn nun gleich in derselben Lektion mit dem Infinitiv die
Konstruktion von ne pas douter mit dem Subjonktiv durchgenommen wird.
Überhaupt dürfte der Lehrer bei Zugrundelegung des Buches mit man-
chem deutschen Anfänger an der Handelsschule, wo die Schüler jung und
noch anderweitig stark belastet sind, schwere Arbeit haben; indessen mufs
es sehr interessant sein, Schüler nach diesem Buche ganz in französischer
Sprache zu fördern. Bedingungslos zu empfehlen ist das Buch für Fort-
bildungsschulen, wo die Schüler älter sind und meist nichts weiter gleich-
zeitig in ihrer Mufse treiben. Zum Schlufs sei noch ein Vorzug vor vielen
anderen Lehrbüchern hervorgehoben: es ist in gutem und einfachem Fran-
zösisch geschrieben.
Berlin. Keesebiter.
I. Giorgi ed E. Sicardi, Abbozzi di rime edite ed inedite di Fran-
cesco Petrarca. Perugia, Unione Tipografica Cooperativa MDCCCCV.
20 pp. 8.
Ein glücklicher Zufall mehrt uns die Zahl der bekannten Dichtungen
Petrarcas um ein paar interessante kleine Stücke. Als der Kodex 924 der
casanatensischen Bibliothek, dessen Wichtigkeit für die Petrarcaphilologie
sich bei des Referenten Prüfung herausgestellt hatte, kürzlich einen neuen
Einband erhielt, fand man, dafs die auf dem alten Umschlag festgeklebten
zwei Pergamentblätter eine Fortsetzung der Kollation enthalten, welche
ein Petrarchist des 16. Jahrhunderts nach eigenhändigen Niederschriften
des Dichters auf den Text dieser Handschrift eingetragen hatte. Jene
Niederschriften sind uns im Cod. Vatic. 3196 erhalten, aber nur zum Teil.
Beccadelli und Daniello haben mehr von ihnen gekannt, als jetzt vor-
handen ist (s. die Geschichte dieser Blätter in des Ref. Zur Entwicklung
ital. Dichtungen Petrarcas S. 2 ff.), und ebenso der Kollationator des
Casanatensis. Nachdem uns seine Arbeit schon eine grofse Zahl neuer
Lesarten des Dichters für die Triumphe kennen gelehrt hatte, fügt es
jetzt der Zufall, dafs die neu losgelösten Blätter wieder einige der im Ori-
ginal verloren gegangenen Stücke ans Licht bringen.
Der Kollationator trug, wie gesagt, die Varianten jener Autographe
auf einen an sich wertlosen, im 15. Jahrhundert geschriebenen Text des
Kanzoniere und der Triumphe ein. Die Blätter enthielten aber auch Ge-
dichte, welche Petrarca nicht in die Sammlung seiner rerum vulgarium
fragmenta aufnahm, weil sie ihm dessen nicht wert erschienen, oder weil
sie in unvollendetem Zustande geblieben oder auch weil sie ihm nicht zu
guter Stunde wieder unter die Augen gekommen waren. Solche Stücke
konnte der Kollationator also nicht im Zusammenhange des Kanzoniere
mitteilen, und er schrieb sie auf den jetzt wieder zum Vorschein gekom-
menen Seiten nieder. Sechs Sonette, drei Ballaten und ein Fragment
einer Ballata werden uns so überliefert. Von ihnen besitzen wir eine
Ballata (Amor, che'n cielo e'n gentil core alberghi) und drei Sonette (Se
Phebo al primo amor non e bugiardo, Quando talor da giusta ira commosso,
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 465
Piü volte il di mi fo vermiglio e fosco) noch jetzt im Vat. 3196; die Ballata
Nova bellexxa in habito gentile ist schon unter den estravaganti der Aus-
gabe Giunti 1522, Morelli 1799 (und in manchen anderen Ausgaben, die
Giorgi und Sicardi nicht nennen) gedruckt. Die anderen Ballaten und
drei Sonette sind neu. Es fehlen dagegen die in den vatikanischen Blät-
tern stehenden, in den Kanzoniere nicht aufgenommenen Sonette Quella
che gli animali del mondo atterra, Quella ehe'l giovenil meo core avinse und
Tal cavalier tutta una sehiera atterra und einige Fragmente, so dafs wir
annehmen dürfen, dafs auch jetzt uns ebensowenig für den Kanzoniere
wie für die Triumphe die vollständige Arbeit des Kollation ators vorliegt.
Die Abschrift der im Original erhaltenen Stücke ist uns willkommen,
weil wir an ihr von neuem die Sorgfalt des alten Petrarchisten prüfen
können. Sie läfst wenig zu wünschen übrig für die Sonette Se Phebo,
Quayido talora und Piü volte, die auf den petrarkischen Blättern, sauber
geschrieben, leicht lesbar sind: In Se Phebo ist v. 3 giamai mit zwei m
geschrieben. In Quando talora hat der Kopist für giugne ..zuerst gionge
gesetzt, dann gne hinzugefügt, ohne nge zu tilgen. Die Überschrift zu
Piü volte hat am Ende von parisf das ' übersehen. Die Notiz 4 nouebr
1336 reicepi hoc (oder hie) scribere scheint nach dem Druck der beiden
Herausgeber zum Sonett Quando talora zu gehören. Der Kollationator
hat sie, ganz dem Original entsprechend, am Rande des Blattes oberhalb
des Sonettes Piü volte eingetragen. ' V. 6 des Sonetts steht Hauea statt Auea.
Nicht so gut überschrieben ist die im Original schwerer zu lesende
Ballata Amor che'n cielo. V. 2 hat freilich nur der Druck ispiri; die
Photographie zeigt das inspiri Petrarkas. Aber v. 3 steht mei statt miei,
v. 5 leual graue penser tallor statt leua il gr. pensier talor, v. 7 fehlt die
Lesart nodo, die Petr. für peso eingeführt hat, v. 9 steht su(oi) statt tuoi,
v. 11 fehlt die letzte Lesart pur spero, v. 12 steht perfetta statt perfecta.
Merkwürdigerweise fehlen im Casan. die lateinischen Notizen, welche
der Dichter dieser Ballata beigegeben hatte (s. Zur Entwickelung S. 100),
während wir hier wieder eine Notiz finden, welche das Blatt der Vatikana
nicht zeigt. Diese Notiz lautet nach der Lesung der Herausgeber:
h2 T ordine retrogrado ad Iram3 n fallor ut hie süt dietaui äno istq pro
confortiuo et unä aliud postea quod nö curaui pficere ex his aut elegit . . . 4
ipse ultimü quod hie est primil scripsi hoc ne elaberet in totü que magna . . .
Wo diese Notiz gestanden hat, bleibt unklar. Das Originalblatt zeigt
keine Spur einer Beschädigung, die sie hätte verloren gehen lassen. Es
ist dort vielmehr Raum genug frei, auf dem sie hätte stehen können.
Hierzu kommt, dafs der Kollationator sie mit einer anderen Feder, offen-
bar erst später, der Abschrift der Ballata hinzugefügt hat, so dafs er sie
wohl irgend anderswoher nahm. Es erscheint also durchaus zweifelhaft,
ob sie zu dieser Ballata gehört, wobei aber doch wieder zu bemerken ist,
dafs dieselbe Seite des Originals, welche die Ballata enthält, auch, wie
diese Notiz, einer Abschrift pro Confortino gedenkt.
Diese Notiz hat nun leider beim Druck der neugefundenen Stücke
grofses Unheil angerichtet. Die Worte in ordine retrogrado, die sich offen-
bar auf die (buchstäbliche 'ad litteram') Überschreibung mehrerer Stücke
von einer Niederschrift zu einer anderen 'in umgekehrter Reihenfolge' be-
ziehen, haben die Herausgeber dahin verstanden, dafs Petrarca die Folge
der einzelnen Verse geändert habe, per rendere piü difficile a quanti gli
' Ich benutze die photographische Wiedergabe der beiden Blätter, welche die
Herausgeber mir freundlich zugesandt haben, und die im 3. Bande des Archivio
Paleografico Italiano auf tav. 55 enthalten sein soll.
2 Der Anfang scheint mir unsicher. Es liegt nahe, Tr. zu lesen, wie bei so
vielen Stücken des Vat. steht: Tr. in ordine.
3 Über Iran ein Strich als Zeichen der Abkürzung.
4 Das Ende der zweiten Zeile ist unsicher.
Archiv f. u. Sprachen. CXV. 30
466 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
capitavano in casa con V intenxione di chiedergli o sottrargli de' versi, o
qualsiasi altro scritto (Famil. V, IG), il leggere specialmente quelle sue rime
die erano in uno stato di prima elaboraxione. So drucken sie denn, nach
einem diplomatischen Text auf S. 6 f., die neugefundenen Stücke S. 16 — 18
ab 'nell' ' ordine in cui li avremmo trovati nella membrana A (dem ersten
der losgelösten Blätter), se egli ve li avesse voluti disporre nel modo ordi-
nario, come stanno appunto nella membrana B' (dem zweiten Blatt, auf
welchem die Herausgeber die schlichte Reihenfolge der Verse anerkennen).
Von ihrem Irrtum hätte sie schon der Umstand abhalten sollen, dafs
gerade die Ballata, zu welcher die lat. Notiz scheinbar gehört, auf dem
neuen Blatt in fast derselben Art geschrieben steht wie im Vat. 3196.
Freilich geht das nicht aus ihrem Abdruck S. 6 f. hervor, wohl aber aus
der photographischen Reproduktion. Auch dafs die Form der Sonette, die
bei der Neuordnung der Verse herauskommt, eine bei Petrarca beispiel-
lose ist (a b b a b a a b in den Quaternarien, vgl. über die Sonettenform
bei Petrarca des Referenten Berliner Bandschriften der Rime Petrarcas
S. 63 Anm.), zeigt sogleich, dafs diese Ordnung der Verse nicht die richtige
sein kann. Die Stücke sind vielmehr in derselben einfachen Art zu lesen
wie alle Niederschriften Petrarcas, und es ergeben sich sodann die folgen-
den Texte für die bisher noch nicht bekannten Gedichte:1
I.
ove onesti, ligiadrette e sole :
Un spirto elletto in cuor grave e superno
Regon madonna, ed ella ä il mio governo
Ch'al mondo con begli occhi il fosco tole.
5 Farebbe a megia notte arder il sole
E primavera quando e maggior vemo;
Ma con piü sua beltate e'l mio amor ferno,
Piü sua crudezza mi trapesa e dole.
Amor, (questa) giä mia consienza non acerba
10 Ma ben l'invita, e'l vero mi constrigne
Che tanto . . i lice l'esser meno acerba
Quanto fortuna in alto piü la spigne.
Giorgi und Sicardi nehmen die Reihenfolge 2,4,1, 3, 6, 5, 8, 7 ; 9, 10,
11, 12 als die richtige an und fassen die Verse 1 — 8, 9 — 12 als Fragmente
zweier verschiedener Dichtungen auf. Da sie in der Niederschrift als zu-
sammengehörig erscheinen, sehe ich in ihnen ein unvollendetes oder un-
vollständig überliefertes Sonett, dessen Ternarien die Reihenfolge c d c d c d
hatten (wie 113 von den :U7 Sonetten des Kanzoniere). Ob die fehlenden
zwei Verse am Ende oder vor v. 9 oder etwa vor 10 hinzuzufügen sind, bleibt
ungewifs. — V. 1 ist im Beginn unlesbar. G. und S. ergänzen Oh pruove,
und besseres weifs ich auch nicht vorzuschlagen. Onesti ist zu oneste zu
korrigieren. — V. 2 1. un statt inl — V. 7 darf man statt ferno wohl scerno
lesen und con als com' (s. 209, 8; 269, 13) verstehen. — Auch trapesa v. 8
wird nicht bleiben dürfen; man kann in verschiedener Art ändern.
II.
In cielo, in aria, in terra, in fuoco e in mare
Amor percuote, e vola senza manto.
Contra suo' strali orati non e incanto;
Ma se col piombo vuol, puö risanare.
5 A megia State fa l'huomo tremare
Et arder a gran verno, e piü che quanto
.... forza di canpar e ufsir di pianto,
In piü vilupi e lacrime fa intrare.
' Ich behalte die Orthographie des Casanatensis bei.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 467
La baila, le mie fasse e la mia cliuna
10 O biastemato mille fiate e gli anni
Onde io son vivo e gusto aureo martire.
M'al fin V(penso) credo soglier queste funa
O dar rimeggio a mie' gravosi affanni,
Se tempo aspetto con humil sufrire.
Eeihenfolge der Verse bei GS: 2, 1, 4, 3, 5—8, 10, 9, 11—14. V. 7.
Den unlesbaren Anfang des Verses ergänzen GS. zweifellos mit Recht:
se sforza; 1. uscir wie v. 9 fascie, v. 12 scioglier. — V. 12: Ma al fin.
ni.
L'oro e le perle e i bei fioretti e l'erba
Oe par natura aduopre piü che seta,
Le Manche mano e l'angelice deta
Che a nobil uopre a punto se riserba,
5 Quegli occhi ch'al voltar suo disacerba
Ogni crudezza, e'l viso che divieta
Turbarsi l'aria, e quella faza lieta
Che humil farebe ogni fera superba,
Mirategli, per Dio, signor gentile!
10 Mirategli, se mai bramasti in terra
Veder un dolce e proprio paradiso.
Vedrete cose d'aquetar humile
Vulcano e Jove alhor che piü disserra
Per fulminar qui giü luoco preciso.
Versfolge bei GS: 5—8, 2, 1, 4, 2, 9—14. — 2. 1. Ove. 3. 1. mani.
lü. 1. bramaste.
Diese Sonette werden zum Lorbeer Petrarcas kein neues Blatt hinzu-
fügen. Der Dichter hat sie wohl weiterer Überarbeitung für unwert ge-
halten. Wenigstens das letzte, vielleicht aber auch die beiden vorher-
gehenden, sind auch kaum eigenem Antrieb entsprungen, sondern sind
Risposte, vielleicht mit mehr oder weniger denselben Reimwörtern, auf
Sonette, die man ihm Antwort heischend zugesandt hatte. Daher denn
auch Formen, die wir sonst nicht bei ihm finden, wie deta, und gezwungene
Ausdrücke und Konstruktionen, die zu korrigieren unter diesen Umständen
ein müfsiges Beginnen wäre. Freilich bleibt auch immer noch der Zweifel,
inwiefern die Überlieferung des Casanatensis in jedem Punkte genau ist.
Besser als mit den Sonetten steht es mit den beiden Ballaten. Sie ent-
behren nicht der Anmut. Die erste von ihnen, die schon in den genannten
Ausgaben steht, lautet nunmehr, mit geringen Abweichungen von jenen
Drucken (M):
v ' IV.
Nova bellezza in habito gentile
Volse il mio core al' amorosa schiera
Ove'l mal si sostene e'l ben si spera.
Gir mi convene e star com' altri vole,
5 Poi ch'al vago penser fu posto un freno
Di dolci sdegni e di pietosi sguardi.
£1 chiaro nome e'l suon de le parole
De la mia donna e'l bei viso sereno
Son le faville, Amor, di che'l cor m'ardi.
10 I'pur spero merce, quanto che tardi,
Ch'avenga {oder: Che ben) ella si mostre acerba e fera,
Humile amante vince donna altera.
Versfolge bei GS: 1—3, 5, 4, 7, 6, 9; — 8, 10—12 (als zwei Frag-
mente gedruckt). V. 3 mal fehlt C. 9 a. per che ü c. M. 10. sp. quan-
twnque che sia L M. 11. che ben fehlt M.
30*
468 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
V.
L'amorose faville e'l dolce lume
De' be' vostri occhi, onde la mente ho piena,
Fanno la vita mia (troppo) sempre serena.
Donna, l'alto viaggio ond'io m'ingegno
5 Meritar vostra gratia humilemente,
Con sua durezza m'averia giä stancho,
Se non ch' Amor dal bei viso lucente
Si fa mia scorta et infallibil segno,
Mostrandose nel bei nero et nel bianco;
10 Onde sospira il disioso fianco
E riprende valor, che'n alto il mena,
Fincendo ogni contrario che l'affrena.
V. 4, 6, 8, 10, 12 die ersten Buchstaben unleserlich, V. 9 die letzten
Buchstaben abgeschnitten (vgl. für diesen Vers 29, 28; 72, 50). GS. haben
die ersten drei Verse als besonderes Fragment von den folgenden getrennt.
Diese Ballata, die wie das in mancher Beziehung ähnliche Madrigal Per
ch'al viso d' Amor portava insegna dantischen Erinnerungen entsprungen
scheint, hätte der Dichter wohl mit geringen Änderungen in den Kanzo-
niere aufgenommen, wäre es ihm zu rechter Zeit begegnet. Die letzten
fünf Verse, welche uns die neugefundenen Blätter kennen lehren, gehören
auch wohl einer Ballata und vielleicht auch einer fast vollendeten an;
aber es sind nur ihre ersten und letzten Verse, während die dazwischen-
liegenden uns verloren gegangen sind, wenn nicht ein glücklicher Zufall
sie uns wiederfinden läfst:
VI.
Amor, che'n pace il tuo regno governi,
Pon flne a l'aspra guerra ch' i' sostegno,
Se ch' i' non pera per soverchio sdegno
etc. et in fine :
A voi servir, a voi piacer m'ingegno,
E quel poco ch' i' son, da voi mi tegno.
Die Verse sind auf dem zweiten Blatt mit anderer Feder dem Sonett
Piü volle il dl nachgesetzt.
Breslau. C. Appel.
O. Hecker, Neues deutsch-italienisches Wörterbuch aus der lebenden
Sprache mit besonderer Berücksichtigung des täglichen Verkehrs zu-
sammengestellt und mit Aussprachehilfen versehen. Teil II: Deutsch-
Italienisch. Braunschweig, G. Westermann, 1905. VIII, 043 S. kl. 8.
M. 4.
Die grofsen Vorzüge, welche dieses italienische Wörterbuch vor den
übrigen auszeichnen, hat kein geringerer als Tobler in dieser Zeitschrift
Bd. CV S. 216 — 218 schon hervorgehoben. Die kleinen Unebenheiten,
welche sich in dem ersten Bande noch hier und dort finden, scheinen mir
hier ganz verschwunden zu sein. Auf die Anordnung der einzelnen Ar-
tikel nach der Bedeutungsentwickelung und die Verdeutschung ist wo-
möglich noch mehr Sorgfalt verwendet worden. Dazu bietet dieser zweite
Teil des Wörterbuches eine bei seinem Umfange geradezu überraschende
Fülle von Stoff, besonders Redensarten aus dem täglichen Leben, und bei
jedem mehrdeutigen Ausdruck ist durch geeignete Zusätze für schnelle
und sichere Unterscheidungsmöglichkeit gesorgt. Um ein Beispiel zu
geben : 'ab'fdjlagcu, /. 1. portär via con un colpo | ($o|)f) tagliare | (Wüffe)
abbacchiare | bie @d)ne£pe ~ öon sboccare | fein SBctffer „ fare un pö' d'acqua.
2. (löiQavtibanbe) rfendere. 3. (fig.j rifiutare, negare | fdjlagen Sie e§ mit nfdjt
ab ! non mi dica di no ! ; (Eingriff, ©ejucb) respingere. *r i. sonär la ritirata.'
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 469
Kein grolser Schade ist es, dafs, jedenfalls der Kaumersparnis halber, hier
bei den italienischen Zeitwörtern der Akzent im Präsens und die Qualität
der e und o unter dem Tone nicht angegeben sind; da hilft mit leichter
Mühe der erste Teil aus.
Bei den vielen Stichproben, die ich an der Hand meiner eigenen reich-
haltigen Sammlungen von italienischen Redensarten, Bedeutungsentwicke-
lungen usw. angestellt habe, ist mir kaum etwas zu bessern aufgestofsen.
Denn, wenn man hier und dort Zusätze wünschte und dafür lieber an-
deres aufzugeben geneigt wäre, so beruht das natürlich einem so sorgfältig
durchdachten Werke gegenüber auf persönlichem Empfinden. Zunächst
also in bunter Reihenfolge ganz wenige Bedenken. Zurückzahlen rim-
borsare. Daraus ist nicht ersichtlich, dafs es heifst rimborsare uno delle
spese. Pech an den Hosen haben ist mit aver la disdetta adddsso
übersetzt. Das heifst aber nur Pech haben. Ich kenne wenigstens
Pech an den Hosen haben nur in der Bedeutung 'nicht aus der
Kneipe, einer Gesellschaft usw. nach Hause finden können'. Beschot-
tern ist mit acciottolare übersetzt. Dies heifst doch aber 'mit Kieselsteinen
pflastern', wie acciottolato ein Kieselsteinpflaster ist. Ich hätte es
mit imbrecciare wiedergegeben, wie das Hauptwort Beschotterung,
das H. nicht hat, mit imbrecciata. Bei Notnagel steht nur ultima ri-
sorsa, eine Bedeutung, in der ich das Wort überhaupt nicht kenne, und
die jedenfalls weit häufigere 'Notnagel am Finger' fehlt. An Zusätzen
hätte ich etwa gewünscht: befingern (H. hat das seltenere fingern);
in die Falle locken (accalappiare); netter Kerl! iron. bei cesto; bei
Olim hätte ich al tempo della Regina Berta angeführt (an dieser Stelle
habe ich übrigens den einzigen Druckfehler gefunden : von Ulis ist das s
abgesprungen); eine lose Zunge haben (H. hat nur loses Maul);
verfahren als adj. (etwa spallato); aufgeschmissen; Furchen -
kämm; mit vollen Backen kauen {mangiare a due palmenti); kei-
nen Ton reden (non aver paröle fatte); ersaufen (in Schuhen) (sbigon-
ciare); Hauptmahlzeit; platt sein; Strohblume, Immortelle;
reiterlos (scdsso); Winketmafs; lichtbraun (sagginato) ; prangen
von der Landschaft (il paesaggio esulta).
Eine ausgezeichnete, ja unentbehrliche Zugabe ist das Eigennamen-
verzeichnis. In der Aussprache des Deutschen schwankt übrigens der
Akzent in einer ganzen Anzahl der aufgeführten Worte; H. gibt da immer
nur eine Betonung an, meist die richtigere oder gebräuchlichere. Sehr
viele Deutsche sagen z. B. Bee'thoven und nicht Beetho'ven; A'gathon,
nicht Agathon'; Ah'riman, nicht Ahri'man; Beresi'na, nicht Bere'sina;
Damo'kles, nicht Da'mokles ; Eu'gen, nicht Eugen' u. a. ; wohl die meisten
betonen E'mil und nicht Emi'l, um Ge'org und Jo'hann gar nicht zu er-
wähnen, die nach norddeutscher Ansicht verkehrte, aber weitverbreitete
Betonung. Bei Worten wie sha'kespearisch u. a. wäre vielleicht in
Rücksicht auf die Italiener eine Umschrift der Aussprache angebracht ge-
wesen. Für diese ist endlich auch noch der Anhang der starken und un-
regelmäfsigen Verbformen in streng alphabetischer Anordnung und das
Verzeichnis der üblichsten Abkürzungen von gröfster Wichtigkeit.
Alles in allem ist das Büchlein inhaltlich und typographisch eine
Musterleistung, zu welcher wir dem Verfasser und der Verlagsbuchhand-
lung nur Glück wünschen können. Uns selber aber, sowohl den deut-
schen Freunden Italiens und seiner Literatur, als auch den italienischen
Freunden des deutschen Geisteslebens, wünschen wir, dafs wahr sein möge,
was man munkelt, dafs nämlich Hecker an einem grofsen, allumfassenden
Wörterbuch der italienisehen Sprache arbeitet, und dafs er die Kraft und
die Mufse findet, es samt seinen Boccacciostudien unter Dach und Fach
zu bringen.
Halle a. S. Berthold Wiese.
Verzeichnis
der vom 2. Oktober bis zum 28. November 1905 bei der Redaktion
eingelaufenen Druckschriften.
Volsler, K., Sprache als Schöpfung und Entwicklung. Eine theo-
retische Untersuchung mit praktischen Beispielen. Heidelberg, Winter,
1905. VII, 154 S.
Panzer, Fr., Märchen, Sage und Dichtung. München, O.Beck, 1905.
56 S. [Eine reizvolle Arbeit, gleich schön in der Form wie reich im In-
halt. Märchen, Sage und Dichtung sind drei Stufen der Epik, die P. in
grofsen Zügen und doch mit lebendigem und belebendem Detail entwicke-
lungsgeschichtlich darstellt und verbindet. P. teilt die Auffassung, dafs
das Märchen, 'ein Nachklang der Urpoesie des Menschengeschlechts',
aus den Erlebnissen des Traumes entstanden ist: su vida es sueno. Der
Alltagsnot des Lebens setzt der primitive Mensch im Märchen eine Wunder-
welt entgegen, wo einem Sonntagskind alles in wunderbarer Weise zu
Diensten ist und alles zum Guten gerät. Ihre namenlosen Helden und
Örtlichkeiten entsprechen einer namen- und heimatlosen Menschheit. Kein
lyrisches (religiöses) Element mischt sich in die Erzählung des Abenteuers ;
das Märchen hat auch nie Liedform. Wohl aber kann sich die Volks-
sage zu dieser Form erheben. Die Volkssage ist die Epik einer höheren
Kulturstufe, einer Menschheit, die eine feste Heimat hat, deren bestimmte
Umwelt Deutung und deren Schicksale Bericht und Erklärung verlangen.
In den Dienst dieser Erklärung tritt auch die primitive Metaphysik, d. i.
der Mythus. Die Stimmung der Volkssage ist reifer, d. h. ernster als die
des Märchens; mit dem Gefühle der Abhängigkeit (religio), dessen anthropo-
morphisierender Ausdruck der Mythus ist, stellen sich lyrische, religiöse
Elemente ein. Diese werden zum Ferment künstlerischer Gestaltung, und
diese künstlerische Gestaltung wird insbesondere der geschichtlichen
Sage zuteil und erhebt sie in den kriegerisch-aristokratischen Kreisen zu
dem, was wir Heldensage nennen. Die Heldensage ist nicht aus dem
Stoffe der — prosaförmigen — Volkssage später erwachsen, sondern sie
ist aus dem Ereignis durch die Dichtung geschaffen und ausgebildet. Die
Heldensage ist das historische Lied in jener reichen Entfaltung, welche
dieses Lied in der unmittelbaren heroistischen Umgebung der hervor-
ragenden Persönlichkeiten fand, die im Mittelpunkt der heldenhaften Er-
eignisse standen. Die poetische Ausgestaltung dieser Heldensage hat sich
dabei im Laufe der Jahrhunderte auch aufsergeschichtliche epische Ele-
mente (Märchen-, Novellen-, Schwankstoffe) dienstbar gemacht. P. wird
wohl auch zugeben, dafs sie dabei gelegentlich auch zu Stoffen der pro-
saischen, episodenhaften Volkssage gegriffen hat. — Nur in dieser poetischen
Form hat sich zusammenhängende geschichtliche Überlieferung mündlich
dauernd erhalten. Dauerndes Leben in der Erinnerung der Menschen hat
auch hier nur die künstlerische Auslese und Gestaltung der einstigen
Wirklichkeit verliehen. — Mit dem Fortschritt von Erkenntnis und Kunst
ist dann in der Folgezeit das Verhältnis des Menschen zur Geschichte
(zum hervorragenden heroistischen Geschehnis) ein anderes geworden. Sie
hat aufgehört, die vornehmste Hüterin seiner Aspirationen, der stärkste
Antrieb seiner Dichtuug zu sein. Kritischere Zeiten schaffen keine Helden-
sage mehr. In ihren epischen Dichtungen tritt überhaupt das Abenteuer
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 471
zurück, wird die Geschichte zu einem blofsen antiquarischen Kahmen, der
dazu meist unvollkommen ist. An die Stelle des Heros tritt der Mensch;
unsere Epik hat sich erdenwärts gewandt, wie unsere ganze Lebensarbeit
und Weltanschauung, und baut in die Tiefe. Das führt P. zum Schlufs
in geistvoller Weise aus. — Man sieht, dafs der Verfasser von Hilde-
Oudrun in dieser akademischen Antrittsrede einen kunstvollen Rahmen
zu jenem Märchenbuche geschaffen hat. Ich bedaure, dafs er dabei nicht
Veranlassung genommen, im Vorbeigehen auch ein Wort über Entstehung
des Mythus und des 'Tiermärchens' zu sagen : wir hätten sicherlich einige
feine Bemerkungen zu hören bekommen. Doch fürchte ich, dafs so der
dankbare Leser, der hier spricht, schliefslich noch gar unbefriedigt er-
scheint — aber: an leckerer Tafel l'appetit vient en mangeant\
Sieveking, F., Die Hamburger Universität. Ein Wort der An-
regung. Hamburg, Meifsner, 1905. 39 S. M. 0,50.
The American Journal of philology. XXVI, 3 (whole nr. 103).
Rösler, Margarete; Die Fassungen der Alexius-Legende, mit^beson-
derer Berücksichtigung der mittelenglichen Versionen (Wiener Beiträge zur
engl. Philol., XXI). Wien, Braumüller, 1905. X, 197 S. M. 6.
Spruchwörterbuch, Sammlung deutscher und fremder Sinnsprüche,
Wahlsprüche, Inschriften, Grabsprüche, Sprichwörter, Aphorismen, Epi-
gramme, von Bibelstellen, Liederanfängen, von Zitaten, von Schnader-
hüpfln, Wetter- und Bauernregeln, Bedensarten etc., nach den Leitworten,
sowie geschichtlich geordnet und unter Mitwirkung deutscher Gelehrter
und Schriftsteller hg. von Franz Freiherrn von Lipperheide. In monat-
lichen Lieferungen, je 3 Bogen fassend, zu M. 0,60. Gesamtpreis M. 12.
1. Lieferung, 48 S. Berlin (W. 35, Potsdamerstr. 38) 1906.
Literaturblatt für germanische u. romanische Philologie. XXVI, 10
(Oktober).
Publications of the Mod. Lang. Association of America. XX, 2, June
1905 fj. D. Ford, 'To bite the dust' and symbolic lay communion. —
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earlier Elizabethan drama. — K. McKenzie, Unpublished mss. of Italian
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Die neueren Sprachen ... hg. von W. Vietor. XIII, 4 [A. Ram-
beau, The Teaching of Modern Language in the American High School. —
O. Jespersen, Zur Geschichte der Phonetik (I). — Besprechungen. — Ver-
mischtes], XIII, 5 [A. Altschul, Über Bilder als Lehrmittel beim Unter-
richt in den neusprachlichen Realien. — R. J. Lloyd, Glides between
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tes]. XIII, 6 [W. Münch, Ein italienischer Vorgänger Miltons. — R. J.
Lloyd, Glides between Consonants in English (VII). — J. Geddes jun.,
A Universal Alphabet. — Berichte. — Besprechungen. — Vermischtes].
XIII, 7 [W. Münch, Ein italienischer Vorgänger Miltons (Schlufs). —
O. Jespersen, Zur Geschichte der Phonetik (II). — Berichte. — Be-
sprechungen. — Vermischtes].
Modern philology. III, 2, October [S. Lee, Chapman's 'Amorous Zo-
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French narrative poetry 1150—70, part I. — R. Weeks, The newly dis-
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textual Interpretation of 'Beowulf. — W. A. Nitze, A new source of the
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472 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
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Eingesandte Literatur. — Mitteilungen]. 1905. Nr. 6 [A. Längfors, Une
paraphrase anonyme de VAve Maria en ancien francais. — H. Palander,
Volksetymologische Umbildung im Englischen. — Besprechungen. — Be-
richt und Protokolle. — Eingesandte Literatur. — Mitteilungen].
Modern language teaching. I, 6, Oct. [N. L. Frazer, $ 6 of the new
regulations. — P. b. Jeffrey, Normal Engüsh. — Mrs. E. Miall, French
in the elementary stages. — A modern lang, teacher's reference library. —
Discussion column, correspondence etc.]. — 7, Nov. [R. J. Lloyd, On
thinking in a foreign tongue. — Discussion column, Mod. Lang. Asso-
ciation, Esperante congress, Examinaüons etc.].
The modern language review. 1,1. A quarterly devoted to the study
of medieval and modern literature and philology edited by J. G. Robin-
son. Advisory board: H. Bradley, L. M. Brandin, E. G. Braunholtz,
K. Breul, E. Dowden, H. G. Fiedler, J. Fitzmaurice-Kelly, W. W. Greg,
C. H. Herford, W. P. Ker, Kuno Meyer, W. R. Moifill, A. S. Napier,
R. Priebsch, W. W. Skeat, Paget Toynbee. Cambridge, University Press.
86 p. To appear four times a year; annual sübsciiption: 8 sh. net. [G. G.
Smith, Some notes on the comparative study of literature. — P. Toynbee,
English translations of Dante in the 18th cent. — A. C. Bradley, Notes
on passages in Shelley. — W. W. Greg, The authorship of the songs in Lyly's
plays. — G .C. Moore Smith, Shakespeareana. — J. Crosland, A German
version of the thief-legend. — Reviews. Minor notices. New publications].
Schweizerisches Archiv für Volkskunde, hg. von E. Hoffmann-
Krayer und J. Jeanjaquet. IX, 2 [H. Zahler, Rätsel aus München-
buchsee (Bern). — A. Rossat, Les Paniers, poeme patois (suite). — S. Meier,
Volkstümliches aus dem Frei- und Kelleramt. — Miszellen. — Bücher-
anzeigen. — Berichte]. IX, 3 [Chr. Luchsinger, Das Molkereigerät in den
Alpendialekten der romanischen Schweiz. — H. Zahler, Rätsel aus München-
buchsee (Schlufs). — S. Meier, Volkstümliches aus dem Frei- und Keller-
amt (Forts.). — A. Rossat, Les Paniers, poeme patois (suite). — Bücher-
anzeigen].
Breymann. H., Neusprachliche Reform-Literatur (Drittes Heft). Eine
bibliographisch- kritische Übersicht, bearbeitet von Prof. Dr. Steinmüller.
Leipzig, Deichert (G. Böhme), 1905. IV, 152 S. M. 4. [Die übersicht-
liche Anlage des trefflichen Breymannschen Werkes ist in diesem dritten
Hefte bewahrt worden. Die ersten Seiten enthalten Nachträge zu den
früher erschienenen Teilen; S. 10—102 bieten das neue Material, haupt-
sächlich für die Jahre 1899 — 1904, und daran schliefst sich der zusammen-
fassende Rückblick, der über die methodologische Diskussion dieser fünf
Jahre im Sinne der 'vermittelnden Reformmethode' orientiert.]
Münch, W., Das akademische Privatstudium der Neuphilologen
[S.-A. aus Lehrproben und Lehrgänge der Gymnasien und Realschulen,
4. Heft]. 1905. 20 S. [Von dem Gedanken ausgehend, dafs der Student
der neueren Sprachen allzuleicht sich damit begnügt, sich nur mit dem
zu beschäftigen, was der Turnus der Vorlesungen und Seminarübungen
ihm zufällig zuführt, weist hier M. nachdrücklich auf die Notwendigkeit
eines planmäfsigen Privatstudiums hin, das neben der gleichsam offiziellen
Beschäftigung herzugehen hat. Er spricht von den Aufgaben dieses Privat-
studiums und seiner Organisation in warmen Worten der Erfahrung, die
jeder Student sich zu Herzen nehmen sollte.]
Lüde ritz, A., Die Liebestheorie der Provenzalen bei den Minne-
singern der Stauferzeit (Literarhistorische Forschungen, hg. von Schick
und v. Waldberg, XXIX. Heft). Berlin u. Leipzig, Felber, 1904. 136 S.
M. 3, Subskriptionspreis M. 2,60.
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 473
The Journal of English and Germanic philology. V, 4, October 1905
[E. D. Hanscone, The feeling for nature in 0. E. poetry. — O. B. Schlutter,
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A. S. Cook, Browning, Abt Vogler, 99 ff. — G. H. Nettleton, The books
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— E. Klaeber, An O. E. proverb. — W. S. Johnson, A note on King
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zig, Göschen, 1905. 153 S. M. 0,80.
Golther, Wolfgang, Nordische Literaturgeschichte. I. Teil: Die is-
ländische und norwegische Literatur des Mittelalters (Sammlung Göschen
Nr. 254). Leipzig, Göschen, 1905. 123 S. M. 0,80.
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Methode Toussaint-Langenscheidt. Brieflicher Sprach- und Sprech-
unterricht f. d. Selbststudium der schwedischen Sprache von E. Jonas,
E. Tuneid, C. G. Moren. Berlin, Langenscheidt. Brief 31—35 zu M. 1.
Sahr, Julius, Das deutsche Volkslied, ausgewählt und erläutert. 2. Auf-
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Zscharnack, Leopold, Lessing und Semler. Ein Beitrag zur Ent-
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Homers Ilias und Odyssee in verkürzter Form nach Joh. H. Vofs
bearbeitet von Dr. Edmund Weilsenborn, Prof. am Gymn. zu Mühl-
hausen i. Th. I. Bändchen: Ilias. 3. Auflage. Leipzig, Teubner, 1905.
IV, 164 S.
Goethe's Faust, translated by Anna Swanwick, LL. D. with an in-
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Bell, 1905. LXX, 4R7 S. 2 s.
: T| Goethes Iphieenie auf Tauris, edited with introduction and notes bv
Max Winkler, Ph. D. Neuyork, Holt, 1905. CV, 211 S.
Drescher, Max, Die Quellen zu Hauffs 'Lichtenstein' (Probefahrten,
Erstlingsarbeiten aus dem Deutschen Seminar in Leipzig, VIII). Leipzig,
Voigtländer, 1905. 146 S.
Paszkowski, Wilhelm, Lesebuch zur Einführung in die Kenntnis
Deutschlands und seines geistigen Lebens. Für ausländische Studierende
und für die oberste Stufe höherer Lehranstalten des In- und Auslandes.
2. Auflage. Berlin, Weidmann, 1905. VIII, 240 S. M. 3,20.
Langer, O., Deutsche Diktierstoffe in Aufsatzform, vermehrt durch
Einzelsätze für den Unterricht in der Rechtschreibung. Zum Gebrauch
an höheren Lehranstalten sowie Bürgerschulen und für den Privatunter-
richt. 4. Auflage. Wien, Tempsky, 1906. 162 S. M. 2.
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Pharonnida and England's jubilee, Benlowes' Theophila and the poems
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bury, M. A. Oxford, Clarendon Press, 1905. XVIII, 726 S. 10s. 6 d.
Souvenir of the Crabbe celebration and catalogue of the exhibition at
Aldeburgh.Suffolk, 16th to 17Ul September, 1905. 2 s. 6 d.y
Collection of British authors. Tauchnitz edition. ä M. 1,60.
Vol. 3841: Percy White, The patient man.
„ 3842 — 3: A. Hope, A servant of the public.
„ 3844: A. Morrison, Divers vanities.
Krueger, Gustav, Englisches Unterrichtswerk für höhere Schulen.
III. Teil: Lesebuch mit 8 farbigen Karten und Tafeln. Wien, Tempsky,
1906. 400 S. M. 3,60 = 4 K 30 h.
Röttgers, Benno, Englisches Lesebuch für höhere Lehranstalten.
Mit 35 Illustrationen und 3 farbigen Karten. Bielefeld und Leipzig, Vel-
hagen & Klasing, 1906. X, 352 S. M. 3 50.
Hamilton, Louis, The practical Englishman. Lehrbuch für öffent-
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1905. 163 S.
Wingerath, Hubert H, New English reading-book for the use of
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Schauberg, 1905. XII, 367 S. M. 3,50.
English histories in biographies, with a Synopsis of the history of
England from the Norman conquest to the time of George I. Zusammen-
gestellt und erklärt von Karl Köhler (Schulbibliothek französ. und engl.
Prosaschriften, II, 44). Berlin, Weidmann, 1905. VI, 144 S. M. 1,40.
Rider Hagsrard, H., Mr. Meeson's will. Annotated by Grond-
houd and Roorda. Library of contemporary authors I. Second edition.
Groningen, Noordhoff, 1906. VIII, 271 S. f. 1,50. .
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 475
Romania p. p. P. Meyer et A. Thomas. No. 135 (juillet 1905)
[A. Thomas, Le nominatif pluriel asymeHrique des substantifs masculins
en ancien provencal. — H. Omont. Notice sur des feuillets retrouv£s du
ms. 525 de Dijon. — A. Piaget, Le Belle Dame sans merei et ses imitations
(suite). — P. Meyer, Fragments de manuscrits francais. — Melanges:
J. Derocquigny, Anc. fr. besuchter (= s'occuper ä des riens). — A. Tho-
mas, Fr. elanguer, elangueur; fr. dialektal fenerotet; fr. rancune; anc. fr.
renformer, fr. mod. renformir. — Comptes rendus. — Periodiques. —
Chronique].
Revue des langues romanes XLVIII, 4 [V. Chichmarev, Contenances
de table en vers provencaux. — F. Castets, Une Variante allemande de
'Apres la bataille'. — P. Devoluy, Discours prounouncia au festenau de
Santo-Estello lou 12 de jun 1905* en Arie. — P. Ulrich, L'Apocalypse en
haut-engadinois (fin). — H. Guy, La Chronique francaise de Maitre
G. CreHin (suite). — Bibliographie]. XLVIII, 5 [L.-E. Kastner, Les ver-
sions fr. ine"dites de la descente de saint Paul en enfer. — F. Castets,
I dodici canti (suite). — J. Ronjat, Sur la langue de Foures. — A. Vidal,
Les delib^rations du conseil communal d'Albi de 1372 ä 1388 (fin). —
Bibliographie. — Chronique].
Romanische Forschungen. Organ für roman. Sprachen und Mittel-
latein, hg. v. K. Vollmöller. XX, 1. Heft [L. Jordan, Die Sage von
den vier Haimonskindern. — G. Hartmann, Zur Geschichte der italie-
nischen Orthographie. — F. B. Luquiens, The Roman de la Rose and
medieval Castilian literature].
Biblotheca Romanica, Strafsburg, Heitz u. Mündel (1905). Das
Bändchen, ca. 5 Druckbogen, M. 0,40.
1. Moli er e, Le Misanthrope.
2. Moliere, Les Femmes savantes.
3. Corneille, Le Cid.
4. Descartes, Discours de la m^thode.
'. 5. u. 6. Dante, Div. Commedia: Inferno.
7. Boccaccio, Decameron, Prima giornata.
8. Calderon, La vida es sueno.
9. Restif de la Bretonne, L'an 2000.
10. Camöes, Los Lusiadas, Canto I und IL [Diese neue Sammlung will
den Gelehrten, Studierenden, Lehrern, Schülern und den Gebildeten über-
haupt zuverlässige Ausgaben romanischer Literaturwerke zu billigem Preise
und in guter Ausstattung bieten. Das Unternehmen, das in der be-
währten Hand von G. Gröber liegt, wird jedem willkommen sein und ist
insbesondere im Interesse des Studierenden und des akademischen Unter-
richts zu begrülsen. Dieser Unterricht leidet vielfach unter dem Um-
stände, dafs dem Studenten die Literaturwerke nicht erreichbar sind und
der Umfang seiner fremdsprachlichen Lektüre, seine direkte Quellenkenntnis
unzureichend ist. Hier wird ihm eine reiche Auswahl romanischer Werke
geboten, die seiner Börse zugänglich sind. Die weiteren Bändchen sollen
zunächst auch Voltaire, Rousseau, Diderot, Beaumarchais, Balzac, Tillier,
Musset; Petrarca, Ariost, Cellini, Tasso, Metastasio, Goldoni, Alfieri, Leo-
pardi; Lope, Cervantes, Gil Vicente etc. bringen. Jedes Bändchen ist
mit einer Einleitung versehen, die eine literaturgeschichtliche Würdigung
des Werkes mit bibliographischen Angaben verbindet und in der Sprache
des romanischen Autors verfafst ist. Der Druck ist klein, aber scharf.
Die Orthographie der älteren französischen Texte ist in vernünftiger Weise
modernisiert. Im allgemeinen sollen diesen Neudrucken die Ausgaben letzter
Hand zugrunde gelegt werden. So beruht z. B. der Cid auf der Edition
von 1682; doch sind die Abweichungen, die der ursprüngliche Text von
1637 zeigt, angeführt. Molieres Stücke sind auf die Editiones principes
gegründet (init Angabe der Varianten von 1682). Der Wittesche Text der
Commedia ist mit den Lesarten der verbreitetsten neueren Ausgaben und
476 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
der Boccaccio-Handschrift versehen, und die Ausgabe der iAisiadas (von
Carolina Michaelis de Vasconcellos) bietet mit einer längeren Einleitung
einen kritischen Text.]
Societa filologica romana:
I Documenti d'Amore di Francesco da Barberino secondo i manoscritti
originali a cura di F. Egidi, fasc. IV, Roma 1905. 8. ?09— 288.
Bulletino della Soc. fil. rom. Num. VII. Roma 1905. 90 S.
Niedermann, M., Contributions ä la critique et ä l'explication des
Gloses latines [Acad^mie de Neuchatel. Recueil de travaux p. p. la Fa-
culte" des Lettres sous les auspices de la Soci^te" acadömique. Prem. fa-
scicule]. Neuchatel, Attinger, 1905. IX, 49 S. Fr. 3.
Weise, 0., Charakteristik der lateinischen Sprache. Dritte Auflage.
Leipzig, Teuber 1905. VI, 190 B. [Diese dritte Auflage des bekannten
Werkchens zeigt mancherlei Ergänzungen und Nachträge, so z. B. einen
kurzen Schlufsabschnitt über 'Die römische Kultur im Spiegel des la-
teinischen Wortschatzes'].
Grundrifs der romanischen Philologie, hg. von G. Gröber. I. Band,
4. Lieferung (Bogen 49—68; Schlufs des Bandes). Mit 13 Karten. Zweite
verb. und verm. Auflage. Strafsburg, K. J. Trübner, 1906. M. 5,50. [Auf
die drei vorausgehenden Lieferungen ist hier, CXIII, 244; 490; CXIV, 263,
bereits hingewiesen worden. Mit der vorliegenden vierten (Schlufs-)Liefe-
rung ist dieser erste Band nun auf rund 1100 Seiten angewachsen:
er hat gegenüber der ersten Auflage eine Vermehrung von 15 Bogen er-
fahren. Diese Schlufslieferung führt Suchiers Darstellung 'Die franzö-
sische und provenzalische Sprache und ihre Mundarten' zu Ende, bringt
Morel-Fatios Darstellung des Katalanischen in teilweiser Neubearbei-
tung durch Saroi'handy, Baists 'Spanische Sprache', Cornus 'Portu-
giesische Sprache' (mit einem Anhang 'Neugalizische Formenlehre') und
'Die lateinischen Elemente im Albanesischen' in neuer Redaktion durch
W. Meyer-Lübke. — Vergleicht man den Band in seiner neuen Ge-
stalt mit der ursprünglichen Form von 1888, so findet man, ganz abge-
sehen von fortlaufenden Zusätzen, welche die Bibliographie ä jour halten
und sonstige im Laufe der Jahre entstandene Lücken ergänzen, fast in
jedem Paragraphen Änderungen zum Teil tiefgreifender Art, wie sie durch
die Fortschritte der Forschung bedingt worden sind (vgl. z. B. § 96 in
Suchiers Abschnitt). Die Karten sind wohl ganz unverändert geblieben;
zu kleineren Retuschen wäre auch hier gelegentlich Veranlassung gewesen.
Z. B. gehört (Karte I) das linksloirische Montbrison nach Philipon, Ro-
mania XXII, 1 ff., zu den Orten, die d nach Palatalen bewahren (finales
Pal. -f- a aber wird i), und diesen Forschungen Philipons, Devaux' und
Gauchats zufolge hätte auf der allgemeineu Übersichtskarte des roma-
nischen Sprachgebietes auch die Grenze des 'Frankoprovenzalischen' ver-
ändert werden müssen: das frankoprovenzalische Gebiet dehnt sich west-
lich von Lyon bis zur Loire, ja (mit auslaut. -a > -i) noch etwas jenseits
dieses Flusses aus, während es anderseits sich etwas weniger weit nach
Süden und ganz erheblich weniger weit nach Norden erstreckt, als die
gelbe Grenze angibt. Es wäre übrigens erwünscht, dafs Herausgeber und
Verleger diese Übersichtskarte in gröfserem Mafsstab, als Wandkarte, her-
stellen liefsen. Sie würde die Anschauungsmittel unserer Seminarien in
willkommener Weise vermehren. — Der Grundrifs ist allen, die sich mit
romanischer Philologie beschäftigen, den Lernenden und den Lehrenden,
längst ein unentbehrliches Hilfsmittel geworden. Die Rolle, die er in der
Forschungsarbeit der letzten zwei Jahrzehnte als Inventar und Wegweiser
gespielt hat, wird rnoch gewichtiger werden durch diese so rasch und
glücklich geförderte Neubearbeitung von 1904 — 6.]
Roques, M., Möthodes ötymologiques (Extrait du Journal des Sa-
vants, aoüt). Paris 1905. 15 S. [Von A. Thomas' Nouveaux Essais de
Philologie francaüe, vergl. hier CXIII, 493, ausgehend, gelangt Roques zu
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 477
einer vergleichenden Würdigung der Wortforschungsmethoden, die durch
Thomas einerseits, durch Schuchardt anderseits vertreten werden. Auch
er kommt, wie Tappolet in seinem hier erschienenen Aufsatz über 'Pho-
netik und Semantik: in der etym. Forschung', CXV, 121, zu dem Resultat,
dafs die Differenz, welche die beiden Forscher trennt, durch die Polemik
gröfser erscheint, als sie wirklich ist. Man wird das gelten lassen und
doch mit Roques der Meinung sein, dafs ein tiefer prinzipieller Unter-
schied sich in beider Methode verbirgt. Nicht darin liegt er freilich, dafs
Schuchardt die semasiologische Seite der Wortgeschichte mehr betont als
Thomas, sondern er liegt in der Auffassung der sog. Lautgesetze (cf . hier
p. 454 f.), und hier ist er unüberbrückbar. Schuchardt glaubt nicht an die
von uns formuberten Lautgesetze; er spricht diesen empirischen For-
meln die ausnahmslose Gültigkeit ab. So findet er eben da keinen festen
Boden, wo Thomas seinerseits ganz sicher zu stehen und zu gehen ver-
meint. Aus dieser Sicherheit Thomas' fliefst seine Selbstbeschränkung:
er arbeitet mit Vorliebe am einzelnen Wort, bleibt gern innerhalb eines
Dialekts und meist innerhalb des Französischen oder doch des Gallo-
romanischen und begnügt sich mit der Herausarbeitung des limitierten
phonetischen Problems, für welches sein Auge eine aufserordentliche Schärfe
besitzt. Und weil Schuchardt in den sog. Lautgesetzen einen sicheren
Halt nicht erkennen kann, sieht er sich nach anderen Hilfsmitteln um,
befragt er mit unermüdlicher Wifsbegier die Bedeutungsgeschichte, d. h.
die Kulturgeschichte, dringt er vom einzelnen Wort zur ganzen Sippe vor,
geht vom Begriff zur Sache und ist ihm der Kreis der romanischen Kul-
turen und Sprachen zu eng geworden. Gewifs hat Roques recht: 'leurs
methodes se rencontrent et se confondent souvent,' und auch diejenigen, die
grundsätzlich auf Schuchardts Seite stehen, können sich der Resultate
Thomas' freuen.]
Revue de philologie francaise p. p. L. C16dat. XIX, 2 et 3.
[L. Vignon, Les patois de la region lyonnaise: le pronom regime de la
'66 personne: le regime direct neutre. — P.Meyer, La simplification ortho-
graphique (fin). — J. -Henri Reinhold, Quelques remarques sur les sources
de 'Floire et Blanceflor'. — Em. Casse et Eug. Chaumiade, Vieilles chan-
sons patoises du Pe>igord. — Melanges: L. Cl<§dat, L'usage orthogr. du
XVHIe siecle. — Ph. Fabia, Malgoires, une Etymologie toponymique. —
L. C16dat, Le verbe falloir — faillir. — J. Bastin, Faillirai et defaille. —
Comptes rendus. — Chroniquej.
Zeitschrift für französ. Sprache und Literatur, hg. v. D. Behrens.
XXVIII, 2 und 4 [Der Referate und Rezensionen erstes u. zweites Heft].
XXVIII, 5 und 6 |H. Droysen, Unvorgreifliche Bemerkungen zu dem
Briefwechsel zwischen Friedrich d. G. und Voltaire. — W. Mangold, Noch
einige Aktenstücke zu Voltaires Frankfurter Haft. — W. Küchler, Ste-
Beuve Studien, I: Ste-B. und die deutsche Literatur. — W. Martini,
V. Hugos dramat. Technik nach ihrer histor. und psychol. Entwicklung
(Schlui's). — C. Riesland, Französische Sprichwörter-Bibliographie. — L.
E. Kastner, A neglected french poetic form. — D. Behrens, Wortgeschicht-
liche Miszelien]. XXVIII, G und 7 [Der Referate und Rezensionen drittes
und viertes Heft. — Miszelien : L. Thomas, Supplement ä la bibliographie
des ecrits de Ste-Beuve; Notes bibliographiques sur Ste-Beuve. — E. Uhle-
mann, Syntaktisches].
Revue des Etudes Rabelaisiennes. III, 3 [A. Lefranc, Picrochole et
Gaucher de Ste-Marthe. — J. Barat, L'influence de Tiraqueau sur Rabe-
lais. — Melanges. — Compte rendu. — Chronique].
Saure, H., Auswahl französischer Gedichte für Schule und Haus.
Dritte Auflage. Berlin, Herbig, 1905. VIII, 143 S. ßrosch. M. 1,60, ge-
bunden M. 2.
478 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
Weidmannsche Sammlung französischer und englischer Schriftsteller
mit deutschen Anmerkungen. Berlin, Weidmann, 1905:
Moliere, Les Pr^cieuses ridicules, erkl. von H. Fritsche. 2. Auf-
lage, durchgesehen von Dr. J. Hengesbach. 73 S.
Schult» bl. franz. u. engl. Prosaschriften aus der neueren Zeit, hg. von
Bahlsen u. Hengesbach, Abteil. I. Berlin, Weidmannsche Buchhdlg. 1905:
N° 37, Histoire de la Revolution fran§aise, hg. u. erklärt von Prof.
Dr. F. J. Wershoven. Mit 0 Abbildungen und einem Plan von Paris.
Zweite verb. Auflage. VI, 160 S. Geb. M. 1,50.
N° 40, Conteurs contemporains, neun Erzählungen von Theuriet,
France, Loti, Sardou, Zola, bearb. und erklärt v. Dr. J. Hengesbach.
Mit eiuem Plan. Zweite sorgf. duichges. Auflage. XIV, 136 S. M. 1,40.
N° 54, L'Empire 1813 — 15. L'Allemagne anti-napoleonne. Aus der
Hist. Generale von Lavisse und Rambaud, bearbeit. u. mit Anm. hg. von
Dr. Th. Haas. Mit einer Karte und zwei Plänen. VII, 168 S. M. 1,80.
Prosateurs Modernes. Wolfenbüttel, Zwifsler, 1905 :
Band XX: L'Histoire de France depuis 1328 jusqu'en 1871, für den
Schulgebrauch bearbeitet v. H. Bretschneider. Mit Karte und Plan
von Paris. VI, 69 S. M. 0,75.
Counson, A., Petit manuel et morceaux celebres de la littörature
francaise. Halle a. S., Buchhandlung des Waisenhauses, 1905. 276 S.
M. 3,40. [Das Buch widmet dem Mittelalter und der Renaissance die ersten
zwei Dutzend Seiten, dient im übrigen der literarischen Orientierung über
das .17., 18. und 19. Jahrhundert und ist für höhere Schulen sowie für
die Übungskurse des Universitätslektors bestimmt.]
Les Paniers. Poeme en patois bisontin, traduit en patois jurassien
p. F. Raspieler, eure" de Courroux. Etüde critique des diverses versions
p. A. Rossat (S. A. aus d. Schweiz. Archiv f. Volkskunde VIII u. IX).
Zürich 1905. 94 S. [Vgl. Archiv CXIV, 266; Rossat gibt hier den Text
der einen Raspielerschen Handschrift (Ms. A) mit phonetischer Umschrift,
reichem philologischem Kommentar und neufranz. Übersetzung.]
Loseth, E., Le Tristan et le Palamede des manuscrits francais du
British Museum. Etüde critique (Aus Videnskabs - Selskabets Skrifter.
IL Hist.-Filos. Klasse 1905, N° 4). Christiania, J. Dybwad 1905. 38 S.
[Die Manuskripte sind acht an der Zahl; sechs davon enthalten den Tri-
stan. An ihnen hat der Verfasser die ebenso verdienstliche wie mühevolle
Arbeit fortgesetzt, die er bereits für die Pariser Hss. geliefert hat (Le
roman de Tr. en prose, le roman de Pal. et la compilation de Rusticien de
Pise, 1890). Die Untersuchung ist leider nicht sehr ergebnisreich, und
insbesondere hat sie nichts zutage gefördert, um die Frage endgültig zu
entscheiden, ob die franz. Quelle des italienischen Tristano Riccardiano
älter ist als die uns bekannten franz. Versionen. Immerhin weifs L. gute
Gründe gegen die Annahme solcher Priorität — die Parodi vertreten hat
— geltend zu machen.]
Neu mann, E., Der Söldner (soudoyer) im Mittelalter nach den frz.
und provenzal. Heldenepen (Marburger Dissertation). Marburg, Schön-
hoven, 1905. 102 S.
Zenker, R., Boeve Amlethus. Das altfranz. Epos von Boeve de
Hamtone und der Ursprung der Hamletsage (Literarhistorische Forschun-
gen, hg. v. Schick und Waldberg, XXXII. Heft). Berlin und Leipzig,
Felber, 1905. XX, 418 S. Ladenpreis M. 9. Subskriptionspreis M. 8.
Voretzsch, C., Einführung in das Studium der altfranzösischen
Literatur, im Anschlufs an die Einführung in das Studium der altfran-
zösischen Sprache (Sammlung kurzer Lehrbücher der romanischen Spra-
chen und Literaturen, II). Halle, M. Niemeyer, 1905. XVII, 573 S.
M. .0. [Dieses Werk, auf welches das Archiv in eingehenderem Referat
zurückkommen wird, ist nun freilich kein 'kurzes Lehrbuch' mehr, sondern
eine recht eingehende Darstellung der mittelalterlichen Literatur Frank-
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 479
reichs. Doch war es wohl nicht anders zu. machen, wollte der Verfasser,
was er in seiner Vorrede verspricht: 'eine Übersicht über die historische
Entstehung und Entwickelung der altfrauz. Literatur im ganzen und ihrer
Hauptgattungen bieten, die wichtigsten Werke besprechen oder wenigstens
hervorheben und von allem eine möglichst konkrete Vorstellung
geben.' Da das Buch pädagogischen Zwecken dienen soll, so mufste
diese Aufgabe, dem Suchenden konkrete, scharfe und sichere Vorstellungen
zu bieten, die nächstliegende sein. Sie erscheint mir auch in hohem Mafse
erfüllt, sowohl durch die Gliederung des Ganzen und die Ökonomie der
einzelnen Paragraphen, als durch die Anschauung, welche die Textproben
(etwa zwei.. Dutzend) gewähren; durch die kritische Bibliographie und
durch die Übersichten, die von den Ursprungsfragen handeln, an deren
Aufhellung Voretzsch selbst ja hervorragend tätig ist (Heldenepos, Roman
de Renard). Ein Glossar stellt das Buch auch in seinen Textproben auf
eigene Füfse. Voretzsch' Einführung wird nicht nur dem Studierenden
des Faches während und nach der Universitätszeit eine sehr nützliche
Wegleitung sein, sondern sicherlich auch 'den Angehörigen der Nachbar-
facher zur Orientierung über dieses oder jenes Gebiet der altfranzösischen
Literatur dienen'.]
Lefranc, A., Les navigations de Pantagruel. Etüde sur la geo-
graphie rabelaisienne. Paris, Henri Leclerc, 19u5. 333 S. Mit 7 Tafeln.
Fr. 12. [Das Buch über Pantagruels Seefahrten, das wir nach den Mit-
teilungen der Revue des Etudes Rab. von Abel Lefranc erwarten durften
(cf. Archiv CXI V, 265), liegt vor: ein prachtvoll ausgestatteter Band, des-
sen reicher Druck und schöne Tafeln das Auge in gleicher Weise erfreuen.
Mit Spannung folgt der Leser diesem Explorateur Lefranc, der hier die
Reise durch unerforschte Länder zur Divine Bouteille erneut und verjüngt
und der unterwegs von Rabelais und seiner Zeit so viel Neues zu sagen
weils. — Von drei Reisen seines Helden weifs R. zu berichten, nachdem
er sie erst in dem heimatlichen 'benoist pays de Touraine' fest verankert
hat, in dessen Topographie erst gegen Ende des zweiten Buches durch das
Hereinspielen des Landes Utopien ein phantastisches Element gebracht wird.
Die drei Reisen sind indessen von R. sehr ungleich behandelt. Die erste
— la route ordinaire des Portugualoys — führt von Frankreich ums Kap
der guten Hoffnung nach Utopien (d. h. nach Nordchina = Oberindien):
sie ist mit wenigen Worten erwähnt (II, cap. 24). Die zweite ist nur
geplant: sie soll über den atlantischen Ozean, zwischen Nord- und Süd-
amerika, die man sich 1532 noch getrennt dachte, hindurch nach Indien
führen (II, cap. 34). Nachdem dann die Fortschritte der Geographie die
Unmöglichkeit dieser Durchfahrt gezeigt, änderte R. 154ö mit Buch III
den Reiseplan und liefs Pantagruel auf dem Wege der nordwestlichen
Durchfahrt nach 'Oberindien' gelangen: diese dritte Reise (Saint-Malo —
Neufundland— Ostasien) füllt bekanntlich die beiden letzten Bücher. Le-
franc zeigt, wie R. diese Meerfahrt mit den Personen und den Tatsachen
des zeitgenössischen nationalen Seefahrertums aufs engste verbunden hat,
wie er die Reise an der Hand der neuesten Reisewerke und Karten macht
und wie er sich dabei im Geiste von Jacques Cartier, dem Entdecker Ka-
nadas, und von Jean Alfonse, dem Kosmographen, begleiten läfst. Rabe-
lais' Reiseschilderung beruht, trotz aller Phantastik, auf ernsten Studien;
der ganze Wissensdurst der Renaissance erfüllt und trägt sie, der Glaube
an die Zukunft der Wissenschaft spricht aus Lbr. Das zeigt in der an-
ziehendsten Weise Lefranc, dessen feiner Sinn auch in dem scheinbar be-
deutungslosen Detail Beziehungen erkennt und Leben aufweist. So fesselt
denn seine Darstellung von Anfang bis zu Ende; sie fesselt durch all die
neuen Lösungen grofser und kleiner Probleme und dadurch, dafs sie selbst
wieder neue Probleme aufdeckt und neue Wege weist. Zwölf Appendices
füllen die letzten 60 Seiten, und besonders der vorletzte {Les äements reels
dans les trois premiers livres de R.) zeigt, trotz seiner skizzenhaften Form,
480 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
in welchem Umfang Lefrancs unermüdliche Forscherarbeit unsere Kennt-
nis Rabelais' und seines Werkes zu erneuern im Begriffe steht.]
Roth, Dr. Th., Der Einflufs von Ariosts Orlando Furioso auf das
französische Theater (Münchener Beiträge zur roman. u. engl. Philologie,
hg. v. Breymann u. Schick. XXXIV. Heft). Leipzig, Reichert (Nachti.
Böhme), 1905. XXII, 263 S. M. 5,80.
Schmid, K. F., John Barclays Argenis. Eine literarhistorische
Untersuchung (Literarhist. Forschungen, hg. v. Schick und Wal db erg.
XXXI. Heft). Berlin und Leipzig, E. Felber, 1904. IX, 183 S. M. 4.
[Dieser erste Teil eines neuen Buches über Barclays posthumen Roman
(1621) trägt den Untertitel: Ausgaben der A., ihrer Fortsetzungen und Über-
setzungen und ist wesentlich Bibliographie — doch eine kritische Biblio-
graphie, deren Angaben über ein weitverstreutes Material, zudem auf
Autopsie beruhen. Der Verfasser unterrichtet uns über charakteristische
Verumständungen bei der Entstehung der einzelnen Drucke, er gibt eine
Würdigung der Treue und Kunst der Übersetzer und eine Inhaltsangabe
der Fortsetzung, die Mouchemberg (1025 — 20) drucken liefs und durch
die er Barclays Erfindungen in die Phantastik der galanten Romane über-
führte. Er schliefst mit einer Charakteristik der Arbeiten seiner Vor-
gänger, d. h. derer, die der Argenis nicht nur gelegentliche Bemerkungen,
sondern eine ganze Schrift gewidmet haben.]
Finsler, G., Die Conjectures aeademiques des Abbe d'Aubignac (S.
A. a. d. Neuen Jahrbücliern f. d. Mass. Altertum, ed. ilborg und Gerth,
I. Abteilung. XV, 7. Heft. S. 495— 5u9). Leipzig, Teubner, 1905 [Der
Verf. der Pratique du Theätre steht in der Frage des Epos, d. h. Homers,
Aristoteles freier gegenüber als in der Dramaturgie. Er hatte Tassoni
gelesen, als er um lö64 seine Conjectures aeademiques ou dissertation sur
l Iliade schrieb. Aber zu den Modernes im Streit um Homer darf er des-
halb nicht gerechnet werden, obwohl ihn Perrault dafür in Anspruch
nimmt. D'Aubignac hat sich eine erfreuliche, in glückliche und würdige
Worte gefalste Unabhängigkeit des Urteils gewahrt: er zweifelt an der
Existenz des einen Homer und sucht gegenüber den Verkleinerern der
Iüas den Nachweis zu führen, dafs, 'was in einem durch einen einzigen
Dichter planmäfsig angelegten Epos unverständlich und unerträglich wäre,
bei Annahme verschiedener Dichter vollkommen erklärlich sei und dafs
man auf diese Weise manches als wirkliche Schönheit geniefsen könne,
was in einem langen Epos zum Fehler würde.' Die Uias ist nach ihm
ein Korpus von anonymen Einzelliedern, die - wie Piutarch überliefert
— Lykurgos, der sie in Ionien fand, schriftlich zusammenfügte und so
nach "Griechenland brachte, wo sie später Peisistratos aus neuer Zerstreu-
ung endgültig rettete. Das Korpus wurde 'die Rhapsodie des Bünden'
(Homer = o ur ooeöv) genannt und das Wort Homer dann als Eigenname
mii'sverstanden. — Diese Schrift, in welcher D'Aubignac die äufseren und
inneren Gründe für seine Liedertheorie scharfsinnig auseinandersetzt, ist
von ihm nicht völlig druckfertig redigiert worden. Perrault kannte 1088
ihren Gedankengang; als Buch erschienen die Conjectures aber erst 1715,
anonym. F. A. Wolf hat sie mit so ungerechter Geringschätzung behan-
delt, dafs der Verdacht entsteht, 'er habe den unbequemen Vorgänger ab-
schütteln wollen.' So ist Wolfs Theorie vielleicht von Frankreich aus
angeregt worden; jedenfalls stellt Finslers interessante Darlegung das
vergessene Werk D'Aubignacs nachdrücklich an die Spitze der neueren
Homerkritik. — Die französischen Komödien, auf welche D'Aubignac
nach S. 499 anspielt, sind die Comedie de chansons 1040 und der Orateur
francais 1029.]
Becker, Ph. A., Molieres Subjektivismus. H. Schneegans zur Er-
widerung (S. A. aus Zeitschr. f. vergl. Literaturgeschichte, hg. v. Wetz und
Collin, S. 193—221). Berlin, Felber, 1905. [Vergl. hier CXIV, 266. Ich
sehe das Wesentliche dieses interessanten Aufsatzes in der Kritik der
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 481
anonymen Fameuse Comedienne (1688) und Gritnarests Vie de M. de Mo-
liere (1705). Scharfsinnig deckt Becker einen wirklich frappanten Paral-
lelismus der beiden Schriften auf. Er erklärt ihn so, dafs hinter beiden
Schriften, sowohl hinter den Verleumdungen jenes Pamphlets als hinter
der Apologie dieser Biographie, der Schauspieler Baron, der Feind der
MUe de Moliere, stehe, der hier und dort aus verschiedenen Stimmungen
heraus berichte. Die Hypothese hat etwas sehr Verführerisches; doch
zögere ich, ihr ohne eine erneute Lektüre der beiden Quellen, die mir
augenblicküch nicht möglich ist, zuzustimmen. Jedenfalls spricht aus
Grimarest nicht allein Baron, und sicher scheint mir Beckers Schlufs-
folgerung übertrieben: 'so verliert natürlich die eine Quelle so gut wie
die andere ihren ganzen Wert.' Den ganzen Wert sicherlich nicht — doch
wir werden Grimarest nach wie vor sehr kritisch benützen müssen. Ge-
wifs aber reicht seine Glaubwürdigkeit hin, um uns zu zeigen, dafs Hö-
heres Ehe unter dem Altersunterschied der Gatten und ihrer incompati-
bilite d'humeurs gelitten hat und unglücklich war. — Im weiteren sucht
Becker darzutun, dafs Moliere nicht sowohl durch persönliche Erlebnisse, als
vielmehr durch seinen intellektuellen Habitus und seine geistige Entwicke-
lung zu den Thematen der Ecoles und des Misanthrope geführt worden sei.
Gewiis bringt der Verf. viel Beachtenswertes vor und rückt die Zeitfragen,
denen Moliere sich gegenüber sah, in helles Licht; doch empfinde ich hier
bei der temperamentvollen Darstellung Beckers mehr das, was mich von
ihm trennt, als das, was mich mit ihm verbindet. Mich verbindet z. B.
mit ihm die Ablehnung, an Armandes ' skandalöse Lebensführung zu
glauben: gewifs sind die Spöttereien über Molieres Hahnreischaft (seit
ltiü3, vengeance des Marquis) nur schlechte 'Retourkutschen' — schlagend
zeigt dies der Umstand, dafs Scarron schon 1660 — also pränumerando
— ä Moliere le cocuage vermacht! Es ist Moliere eben ergangen, wie er
selbst es durch Chrysalde dem Arnolphe prophezeien liefs : es schallte aus
dem Walde zurück, wie er hineingerufen. Was mich von Becker scheidet,
kann ich am kürzesten an zwei Punkten zeigen. 1) Ostern 1661 verlangt
Moliere als Soci6taire deux parts 'für sich und für seine Frau, falls er
heirate.' Innerhalb des Theaterjahres, im Februar 1662, heiratet
er Armande. Da denke ich denn doch, dafs Moliere zu Ostern eben an
die Heirat dachte, die er zehn Monate später schlofs. Becker aber hält
es für 'ungewifs, ob er Ostern 1661 bereits an die Ehe mit Armande
dachte.' Da kann ich freilich nicht mehr mit; das ist für mich Hyper-
kritik und nihil probat qui nimium probat. 2) Molieres Freunde sagen
(1G82): il s'y est joue le premier en plusieurs endroits sur des affaires
de sa famille et qui regardaient ce qui se passait dans son do-
mestique. Becker will das jenen Freunden, die in Molieres Intimität
gelebt haben (ses plus partieuliers amis), zugeben 'für Szenen, wie die
Entlassung der Martine oder die Ausforschung der Louison'. Also die
Entlassung der Martine = etwas qui passait dans son domestique, wie
seine intimsten Freunde haben beobachten können; und die Ausforschung
der Louison = eine affaire de sa famille! Doch 'auch noch für wich-
tigere Dinge' will es B. zugeben — er sagt aber nicht für welche. Und
in diesen wichtigeren Dingen, die hier unter den Tisch fallen, und nicht
in Martine und Louison, mufs die raison d'etre jener kapitalen Bemerkung
von 1682 hegen; in ihnen liegt, was mich von Becker trennt — oder mit
1 Ich gehöre übrigens noch zu denen, die in der Menou des Jahres 1653
Armande erkennen möchten ; aber auch zu denen, die Bernardins Vermutung über
Armandes Ursprung, so sinnreich sie ist, nicht beizustimmen vermögen (Bernardin,
Hommes et mceurs au XVJ1' siede, 1900). Im übrigen rege ich mich über die
Frage, ob Armande die Tochter oder die Schwester Madeleines gewesen sei, nicht
auf, halte aber das letztere für wahrscheinlicher.
Archiv f. n. Sprachen. CXV. 31
482 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
ihm verbindet. So hat mich Becker an der Auffassung, der ich hier
CXIII, 459 Ausdruck gegeben habe, nicht irre zu machen vermocht, und
die Konstruktion, aus der er z. B. p. 197 die Ecole des maris hervorgehen
läfst, erscheint mir viel künstlicher und aprioristischer als die, zu der
mich die Tatsachen des Lebens drängen — des Lebens Molieres, des Le-
bens überhaupt. 'Ein Dichter, der mit dem Tod im Herzen noch den
Malade imaginaire schafft, besitzt im allerhöchsten Mafse die Fähigkeit,
sich über sich selbst zu erheben', schrieb K. Vofsler hier CVIII, 404.
Dieselbe Fähigkeit hat Moliere bewiesen, indem er als vierzigjähriger
Bräutigam und Gatte einer Zwanzigjährigen die humorvollen Possenspiele
vom vierzigjährigen Sganarelle und Arnolphe schrieb, die beide ihre jun-
gen Isabelle und Agnes nicht zu bewahren wissen. Vom 'Ausdruck be-
klommener Angst- und Schmerzgefühle' sehe ich allerdings keine Spur!
Alles ist eitel Lachen und Heiterkeit. Keine Sentimentalität, kein Pathos
— er objektiviert mit kühler, erfrischender Gescheidtheit. So bleibe ich
denn bei meiner Auffassung, der zufolge z. B. auch die Femmes savantes
aus persönlichem Erlebnis geboren sind: sie sind eine persönliche Satire,
die er kunstvoll in eine Sittenkomödie hinein verwoben hat. Das Thema
selbst stammt aus 1663. — Für die Entstehung der Themata Molieres ist
überhaupt dieses Jahr 1663 bedeutsam. Dieses stürmische Jahr ist ein
Brennpunkt seiner Entwickelung. Die Erfahrungen dieses Jahres sugge-
rieren ihm die Idee einer 'Schauspielerkomödie', die er indessen — im
Impromptu — nur skizziert, einer Autorenkomödie (Femmes savantes), einer
Komödie der Kirchlichkeit (Tartuffe) und einer Komödie der gesellschaft-
lichen Heuchelei (Misanthrope). Doch davon im Zusammenhang ein
andermal.]
Roques, M., La composition de la fable de Lafontaine 'Le vieillard
et les trois jeunes hommes' (S. A. aus Revue d'hist. litt. XII). Paris 1905.
6 S. [R. macht wahrscheinlich, dafs die Todesbetrachtungen dieser Fabel
aus Senecas Briefen an Lucilius stammen.]
Baldensperger, F., Les aspects successifs de Schiller dans le ro-
mantisme francais (S. A. aus Euphorion, hg. v. A. Sauer, XII, 681 — 9).
Leipzig und Wien, C. Fromme, 1905. — Schiller et Camille Jordan (S.-A.
aus d. Revue germanique I, 555 — 68). Paris, Alcan, Sept. 1905. — Paul
de Krüdener en Lorraine et en Alsace (1812 — 13) d'apres des documents
inödits (S. A. aus d. Bulletin de la Soeiete philomatique Vosgienne). St-Di6,
0. Cuny, 1905. 28 S.
Burkhardt, Dr. C. A. H., Goethes Unterhaltungen mit Friedrich
Soret. Nach dem französischen Texte als eine bedeutend vermehrte und
verbesserte Ausgabe des dritten Teils der Eckermannschen Gespräche her-
ausgeg. Weimar, H. Böhlaus Nachf., 1905. XVII, 158 S. M. 4. [Ecker-
mann ist Soret gegenüber, der ihm um 18o9 seine Conversations de Goethe
zur Verfügung gestellt hatte (73 Nummern), nicht dankbar verfahren: er
hat ihn weder genau benutzt, noch gerecht gewürdigt. Da im grofsherz.
Hausarchiv zu Weimar ohnedies ein Exemplar der Conversations vorhanden
ist, das noch gegen 100 Ergänzungen zu jenen 73 Nummern bietet, so ist
ein vollständiger Abdruck dieser Conversations hochwillkommen. Der
Ausgabe des franz. Textes wird hier eine deutsche Übersetzung voraus-
geschickt, in welcher alles Neue sorgsam kenntlich gemacht ist. Eine
biographische Notiz über den Genfer F.-J. Soret leitet die 'Unterhaltungen'
ein; ein ausführliches Register schliefst sie.]
Roques, M., Manuscrit et eMitions du (Pere Ooriot'. 20 S. ohne Ort
noch Datum. [Nur die ersten hundert Seiten des Balzacschen Romans,
die für 1905 auf dem Programm der agregation de grammaire stehen, bil-
den den Gegenstand dieser Broschüre. Roques gibt unter Zugrundelegung
des Textes der Nouv. Coli. Michel Levy (zu 1 franc) die Varia leetio des
Originalmanuskripts, des ersten Druckes in der Revue de Paris (1834),
zweier Buchausgaben — Werdet — von 1833, der Edition Charpentier von
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 483
1839 und der Edition Furne von 1843, von der ein Exemplar Balzacs letzte
handschr. Verbesserungen enthält. Balzac hat im Laufe der zehn Jahre
viel geändert; doch konstatiert R., dafs diese Änderungen eilig, oberfläch-
lich und wenig von künstlerischen Erwägungen getragen sind, so dafs die
oft kleinliche Verbesserungsarbeit dem Werke fast keinen Vorteil gebracht
hat. Am .meisten Interesse erweckt eine Namensänderung, d. h. die nach-
trägliche Überführung einer neuen Figur (Massiac) in eine alte (Rastignac),
durch welche Änderung hindurch R. scharfsinnig den ursprünglich ein-
heitlicheren Plan des Pere Goriot erkennen will.]
Grojean, O., Sainte-Beuve ä Liege. Lettres et documents inödits.
Bruxelles, Misch et Thron; Paris, Fontemoing, 1905. 66 S. [Ste-B. ist
zweimal, im Mai 1831 und im Sept. 1848, zum Professor der franz. Lite-
ratur an der Universität zu Lüttich ernannt worden. Das erste Mal trat
er sein Amt gar nicht an : die Wechselfälle seiner Liebe zu Frau Hugo
hinderten ihn, Paris zu verlassen. Die näheren Umstände klärt Grojean
mit zum Teil unediertem Material auf, und in ebenso interessanter Weise
verbreitet er Licht üher das Jahr, das Ste-B. 1848 im Gefolge der Juli-
revolution zu Lüttich verbrachte. Ste-B. war unglücklich; die Presse
empfing ihn als einen etranger sans titres serieux, der kein Examen ge-
macht und dessen Moralität anfechtbar sei; er lebte einsam und verdrossen,
seine Briefe aus der Zeit sind ein langes Klagelied — wie schön war's in
Lausanne! Am Schlufs des Sommersemesters nahm er seine Entlassung
und verliefs das ungastliche Belgien, wo sein Chateaubriand et son groupe
litteraire enstanden .war.]
Wiske, Fr., Über Georges Gourdons Gedichtsammlung 'Chansons
de Geste' und ihre Quellen. (Berliner Dissert.) Erlangen, Fr. Junge [1905].
155 S.
Tob ler, A., Vermischte Beiträge zur französischen Grammatik. Ber-
lin 1905, 17 S. [Sitzungsber. der kgl. preufs. Akademie der Wissenschaften,
phil.-histor. Klasse 824—40. Umfafst die Beiträge 8—11; cf. Archiv CXIV,
482. 8) Die Verneinung in der rhetorischen Frage. Die Wendung que ne
me reste-t-il (point) ä faire! ist eine rhetorische Frage, die den Gedanken:
'alles bleibt mir noch zu tun übrig' umschreibt, gleichwie 'wer weifs das
nicht?' den Sinn von 'jeder weifs das' hat. Der nämliche Gedanke kann
auch positiv ausgedrückt werden. In diesem Fall verwendet aber die heu-
tige Sprache die Form der indirekten Frage: ce qu'il me reste ä faire! als ob
etwa ein je vous demande un peu . . . den Ausdruck des Gedankens leitete. —
9) 'n'etait ..., tvenn ... nicht wäre'. Die Verwendung des Indikativs in
Bedingungsnebensätzen wie: N'etait lanegligence du style, Vouvrage serait
fort hon ist eine Folge des Eintretens dieses Modus im irrealen Bedin-
gungssatz überhaupt (nach si) und somit dem Altfranzösischen fremd,
das dafür ne fust sagt, Wie aber für die Vergangenheit neben s'ü avait
ete noch heute altes s'ü eüt ete gebräuchlich ist, so findet sich auch noch
n'eüt ete neben n'etait (n'eüt ete le souci qui pesait lourdement sur son
present, il se füt estime heureux, S. 7). Das herrschende n'etait ist übrigens
geradezu zeitlos geworden und verbindet sich mit einem präsentischen,
imperfektischen oder plusquamperfektischen Hauptsatz (n'etaient ces raiso?i,
il merite notre respect, — il meriterait notre respect, — il aurait merite
notre respect). — 10) Das Ausbleiben des unbestimmten und des 'Teilungs'-
Artikels wird durch zahlreiche Beispiele aus der lebenden Sprache belegt
und als eine archaische Erscheinung geschichtlich erörtert. — 11) La pre-
miere vue l'un de l'autre. Der Abschnitt handelt von der Konstruktion
des franz. l'un . . . l'autre ('einander', 'gegenseitig'). Er zeigt, wie bereits
in der Verbindung dieses l'un . . . l'autre mit dem Verbum eine gewisse
Freiheit der Beziehung Platz greift (nous devons parier des ourrages les
uns des autres avec beaucoup de circonspection, S. 15) und die Sprache
dann zu ganz attributiver Verwendung des Nexus fortschreitet: 'die
gegenseitige Liebe der Bürger' = Vaniour des citoyens les uns pour les
Sl*
484 Verzeichnis der eingelaufenen "Druckschriften.
iiittrrs: 'das wechselseitige Übergreifen der Gedanken' = les empitte-
ments des pensees les unes sur les autres ; 'das gegenseitige erste Er-
blicken' = la premiere vue l'un de l'autre etc., wobei ganz wie bei der ver-
balen Rektion (elles empietent les unes sur les autres) hier die nominale
(amour pour; empietement sur, vue de) am zweiten Komponenten des
Nexus bezeichnet wird. Ja auch aufserhalb des Reziprozitätsverhältnisses :
la perle de ses possessionis les unes apres les autres = 'der sukzessive
Verlust seiner Besitzungen'. — Der Verf. weifs, wie begierig alle nach
diesen seinen Gaben greifen, und wie dankbar wir für diese aus dem Vol-
len geschöpften Aufklärungen und Anregungen sind.]
Gilli6ron, J., et Mongin, J., Etüde de geographie linguistique.
Seier dans la Gaule romane du sud et de l'est. [Mit 5 farbigen Karten.]
Paris, Champion, 1905. 30 S. 4°. 5 fr.
Pünjer, J., Lehr- und Lernbuch der französichen Sprache. Zwei
Teile. I. Teil. 7. Auflage. Hannover u. Berlin, Meyer (Prior), 1905.
V, 170 S. Geb. M. 2.
Boerner u. Werr, Lehrbuch der französischen Sprache. Insbeson-
dere für bayr. Real- und Handelsschulen. III. Teil (Oberstufe). Mit einem
Hölzelschen Vollbild : 'La Ville' und 8 Ansichten von Paris, sowie 2 Bei-
büchern: Hauptresreln und Wörterbuch in Taschen. Leipzig u. Berlin,
Teubner, 1905. VIII, 172 S.
Boerner-Stefan, Lehr- und Lesebuch der französischen Sprache.
Für österreichische Realschulen und verwandte Lehranstalten. Wien,
K. Graeser u. Co., 1904—5. I. Teil, 128 S. Geb. 1 K. 80 h.; IL Teil,
mit drei Vollbildern und einer Münztafel, 195 S. Geb. 2 K...80 h.
Ploetz-Kares, Kurzer Lehrgang der franz. Sprache. Übungsbuch,
verf. von Dr. G. Ploetz. Ausgabe F. Neue Ausgabe f. Realgymnasien.
Berlin, F. A. Herbig, 1906. VIII, 323 S. Ungeb. M. 2.50.
Weitzenböck, G., Lehrbucb der französischen Sprache. IL Teil.
B. Sprachlehre. Fünfte durchges. Auflage. Leipzig, Freytag, 1906. 89 S.
Geb. M. 1.50.
Haupt, O., Neue franz. Handelskorrespondenz mit grammat. und
Stilist. Erläuterungen, zum Gebrauche an Handelsschulen, kaufm. und ge-
werbl. Fortbildungsschulen , sowie für den geschäftlichen Verkehr und
zum Selbstunterricht. Stuttgart, P. Neff, 1905. XV, 283 S. Geb. M. 3.
Bechtle-Morgenthaler, Französische Sprachschule, Mittel- und
Oberstufe. Stuttgart, Bonz u. Co., 1905. XII, 3t>8 S.
Böddeker, K., Das Verbum im französischen Unterricht. Ein
Hilfsbuch, neben jeder Grammatik zu gebrauchen. Leipzig, Rengersche
Buchhandlung, 1905. X, 38 S.
Böddeker, K., Die wichtigsten Erscheinungen der französischen
Grammatik. Ein Lehrbuch für die Oberklassen höherer Lehranstalten.
Mit Beispielen und Belegstellen, zum gröfsten Teil neueren Autoren ent-
nommen. Zweite Auflage. Leiüzig, Rengersche Buchhandlung, 1905.
XIV, 176 S.
Stier, G., Übungsbuch zum Übersetzen aus dem Deutschen ins
Französische. Cöthen, Schulze, 1905. 216 S. Geb. M. 2.10.
Bally, Ch., Prelis de stylistique. Esquisse d'une methode fond^e
sur l'6tude du francais moderne. Geneve, Eggimann [1905]. 183 S.
[Das Buch ist aus den Erfahrungen hervorgegangen, die der Verf. in den
Übungen des Genfer Seminaire de francais moderne und der Ferienkurse
gemacht hat. Es skizziert eine Methode, die Ausdrucksformen der fran-
zösischen Sprache zu studieren, und illustriert sie an einer reichen Samm-
lung eindrucksvoller Beispiele und mit feinen Bemerkungen. Man mag
gegen einzelne Ausführungen, besonders vom linguistischen Standpunkt
aus, seine Vorbehalte machen und doch finden, dafs dem Studenten und
dem Lehrer der franz. Sprache in diesem Buche ein guter und anregender
Führer geboten wird.]
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 485
Mohrbutter, Dr. A., Hilfsbuch für den französischen Aufsatz.
Leipzig, Rengersche Buchhandlung, 1905. VIII, 152 S. Brosch. 'M. 2.
Geb. mit Schreibpapier durchschossen M. 2.80.
Lambert, L., Chants et Chansons populaires du Languedoc, re-
cueillis et publica avec la musique notee et la traduction francaise. 2 voll.
Paris u. Leipzig, Welter, 1906. VIII, 385; 345 S. [Vor nunmehr dreiisiu
Jahren erschien, zunächst in der Revue des langues romanes und einige
Zeit darauf in besonderem Bande, der erste Teil einer grofs angelegten
Sammlung von Volksliedern Südfrankreichs (Chants pop. du Languedoc,
Paris, Maisonneuve, 1880). Die 600 Seiten dieses Bandes waren aus-
schliefslich Wiegenliedern gewidmet, denen die beiden Autoren A. Montel
und L. Lambert einen ausführlichen sachlichen und philologischen Kom-
mentar beigegeben hatten. Dieser erste Band liels eine Liedersammlung
erwarten, wie sie wohl kein anderes Land aufzuweisen hatte: mit dieser
Fülle von Material sollte der ganze Lebensgang des Menschen 'von der
Wiege bis zum Grabe' im Liede dargestellt werden: Kinderspiel und -tanz;
Liebe. Ehe, Beruf etc. Da starb Montel, und der Überlebende fand den
Mut nicht, das so grofs angelegte Werk fortzusetzen. Er sammelte weiter,
um vor dem Untergang zu retten, was zu retten war, aber er liefs keinen
zweiten Band folgen. Jetzt hat das Zureden der Freunde und Sprach-
genossen ihn zu aller Freude bewogen, seine Schätze doch herauszugeben.
Und so läfst er denn hier zunächst einen Nachtrag zu den Wiegenliedern
und dann Hunderte von Kinderreimen folgen, an welche die Bondes, die
Danses rustiques, Frühlings- und Liebeslieder (hier II, 150 ff., das Vorbild
zu Mistrals Magali) und die Ehelieder sich anschliefsen. Im ganzen sind
es wohl tausend Nummern, und ein weiteres halbes Tausend dürfen wir
von dem unermüdlichen Sammler noch erwarten (S. III). Dafs er diesmal
die Lieder ohne jenen Kommentar gibt, der die Sammlung von 1880
schmückte, wird man bedauern. Aber wie dankbar müssen wir trotzdem
für diese Gabe sein, die uns Wort und Weise des Volksliedes des Lan-
guedoc in so reicher Fülle und mit so mancher wertvollen Orientierung
bietet. Sachkenntnis und Liebe zur liederreichen südfranzösischen Heimat
haben sich hier verbunden, um jahrzehntelanges Bemühen zu reichem Er-
trag zu führen.]
Thomas, A., Le nominatif pluriel asymetrique des substantifs mas-
culins en ancien provengal. (S.-A. aus Romania XXXIV.) Paris, Bouillon,
1905. 13 S. [Es handelt sich um die Deklination: Sing. nom. donxels
acc. donxel; Plur. nom. donxelh acc. donxels, d. h. um die Spur des
latein. -* in der Pluralform des Substantivs. Thomas stellt die Bei-
spiele zusammen, die sich im Altprov. für diese Palatalisierungserscheinung
der Substantivdeklination finden, und die, so sporadisch sie auftreten, doch
viel zahlreicher sind, als man bisher annahm. Er erwähnt im Vorüber-
gehen natürlich auch die analoge Erscheinung in der Flexion des Pro-
nomens und Adiektivs (Partizip) und schliefst mit Recht mit dem Hin-
weis, dafs das Phänomen dieses flexivischen Umlauts — Umlaut des
Vokals oder des Konsonanten oder beider, oder auch Erhaltung des -i —
im Zusammenhang der galloromanischen Idiome, ja am besten auf dem
ganzen roman. Sprachgebiet untersucht werden müsse. — Soweit man
die Erscheinung bis jetzt übersehen kann, ist die Erhaltung einer beson-
deren, auf -*- Wirkung beruhenden Nominativform des Plurals im Altprov.
dreifach konditioniert: 1. Ist sie gebunden an überhäufige pronomi-
nale Formen wie eil, tuig, die der analogischen Ausgleichung infolge ihrer
Überhäufigkeit widerstanden haben ; 2. erscheint sie als ein Produkt'des
prädikativen Verhältnisses tque siatz visti d'els, Romania, XVIII, 425;
Reime des 11. rr. XLII, 267), wie im rätischen 'Prädikatskasus' {Arch. glott.
VII, 426 ff.); 3. ist sie eine Eigentümlichkeit von Substantiven, die
1? < Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
lobende Wesen , besonders Personen, bezeichnen, und gibt sich
damit als eine Vokativform zu erkennen: enfanh! toxeh! domclh ! Der
Vokativ, der auch im Singular 'asymetrische' Nominativformen hat er-
halten helfen (enfas!), hat im Plural eine ähnliche Wirkung ausgeübt:
enfanh! Während die unter 1. genannten Fälle in allen Dialekten ziem-
lich gleichmäßig vertreten sind, haben die Fälle unter 2. und S. sehr wech-
selvolle Schicksale gehabt. Sie sind einerseits von analogischer Ausglei-
chung gefährdet. Anderseits ist es ihnen aber auch nicht selten gelungen,
sich auszudehnen : 2. ist über den 'Prädikatskasus' hinaus ins attributive
Verhältnis eingedrungen ; 3. hat sich auch auf Substantiva ansgedehnt,
die unbelebte Wesen bezeichnen.]
Giornale storico della lett. italiana, dir. e red. da F. Novati e
R. Remier. Fase. 136—7. [Ilda Morosini, Lettres in 6dit.es de Mme de
Stael ä V. Monti (1804 — 16). — R. Sabbadini, Briciole umanistiche. —
Varietä: G. Lega, Una ballata politica del sec XIII. — G. Traversari,
Per l'autenticitä dell' epistola del Boccaccio a Fr. Nelli. — G. Malagoli,
Per un verso dell' Ariosto e per una particolare forma sintattica italiana.
— P. Toldo, Uno scenario inedito della Commedia dell' arte. — Rassegna
bibliografica. — Bolletino bibliografico. — Annunzi analitici. — Publica-
zioni nuziali. — Communicazioni ed apunti. — Cronaca].
Bulletin italien. V (1905) 3 [A. Jennroy, Quelques reilexions sur le
'Quattrocento'. — P. Duhem, Leonard de Vinci et Villalpand. — Ch.
Dejob, Les descriptions de batailles dans l"Orlando furioso' et dans la
'Gerusalemme liberata'. — P. Toldo, Les morts qui mangent. — Biblio-
graphie].
Pasini, F., Un'amicizia giovenile di Niccolö Tommaseo. 54 S.
[S. A. aus d. Archeografo triestino, serie III. vol. II]. Trieste, 1905.
Anzalone, E., Su la poesia satirica in Francia e in Italia nel secolo
XVI. Appunti. Catania, G. Musumeci, 1905. 189 S.
Flamini, Fr., Varia, pagine di critica e d'arte. Livorno, R. Giusti,
1905. X, 350 S. 3 Lire. [Fr. Flamini, dem wir so viele und so schöne
Arbeiten zur italienischen und zur vergleichenden Literaturgeschichte (be-
sonders über die Zeit des Rinascimento) verdanken, stellt hier fünfzehn
Reden und Aufsätze zusammen, die von Dante bis zur Gegenwart führen.
Sie sind für ein weiteres Publikum berechnet, doch liegt ihnen gewissen-
hafteste fachmännische Forschung zugrunde. Sie geben, ohne gelehrten
Apparat sichtbar zur Schau zu tragen, aber auch ohne Wortschwall, eine
Synthese, die auch den Fachmann selbst zu fesseln und zu belehren ver-
mag. Solche gute und populärwissenschaftliche Arbeiten werden in Italien
zurzeit noch weniger gepflegt als bei uns oder in Frankreich. Flamini
gibt mit diesen gesammelten Varia ein sehr gutes Beispiel ernster und
zugleich künstlerischer Darstellung, und sein Buch wird sich auch bei
uns Freunde erwerben und besonders auch denen willkommen sein, die
gute, bildende italienische Lektüre suchen. Für den Zweck von Universi-
tätsübungen ist es wie geschaffen. Die einzelnen Titel lauten : Dante e il
'dolee stile' — 11 trionfo di Beatrice — I significati e il fine del 'poema
sacro' — Nel cielo di Vettere — La gloria del Petrarca — Poesia di popolo
del buon tempo antico — Un virtuoso del Quattrocento (Serafino) — Le
lettere italiane in Francia nei seeoli del Rinascimento — Oiac. Leopardi
poeta — Commemorando Nie. Tommaseo — L'opera di Oius. Verdi —
Art. Graf e i Suoi 'Poemetti drammatici' — Pel re buono — In me-
moria d'un filologo (F. Qnesotto) — L' insegnamento scientifico della lette-
ratura naxionale. Schöner romanischer Inhalt in schöner romanischer
Form.]
Heim, S., Kleines Lehrbuch der italienischen Sprache. A. Auflage.
Zürich, Schulthess u. Co., 1905. VIII, 185 S. M. 1.80.
Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften. 487
Methode Toussaint-Langenscheidt. Brieflicher Sprach- und
Sprechunterricht für das Selbststudium der italienischen fcprache von
Dr. H. Sabersky, unter Mitwirkung von Prof. G. Sacerdote. Berlin,
Langeuscheidt. Brief 31 — 35 zu M. 1.
Bartoli, M. G., Un po di Sardo [S. A. aus d. Archeografo Triestino,
serie III, vol. 1. S. 129—156]. Trieste, Stabiliinento G. Caprin, 1903.
[Ist eine Besprechung von G. Subaks Bricciche linguisticlie 1903, der dann
darauf in seinen Notereile erwidert hat, cf. Archiv CXV, 270. Bartoli läfst
es sich angelegen sein, das Sardische auch in seiner interromauiscben
Stellung allgemein zu charakterisieren: er stellt seine lautlichen, morpho-
logischen und syntaktischen Sonderzüge zusammen, weist ihm zwischen
Ost- und Westromania die mittlere Stellung an und scheidet das Gallu-
resische (mit dem Korsischen) vom eigentlichen Sardo della Sardegna
(Logudor. und Campidan.j. Der gröfsere Teil der interessanten Arbeit gilt
einzelnen Problemen der sardischen Lauteutwickelung.]
Vidossich, G., Etimologie triestine e istriane — Rassegna degli
studi etnografici, dialettali e toponomastici 1902 — giugno 1905 [S. A. aus
d. Areheogr. Triestino, serie III, vol. II. S. 143 — 46, 149 — 64]. Trieste,
1905. [Der erate Aufsatz bietet ein Dutzend Etymologien; der zweite gibt
eine sehr lehrreiche kritische Übersicht über die neueste Literatur, die die
interessante rätisch-venedisch-dalmatisch-rumänische Sprachecke behandelt.
Bulletin hispanique VII (1905) 3 [C. Jullian, Questions ibenques III.
Oyarzun. — A. Morel-Fatio, Vida de D. Luis de Requesens y Züniga
(suitej. — E. Pineyro, Jose" Joaquin de Oimedo. — F. Sauvaire-Jourdan,
La crise du change en Espagne. — Varietes: G. Daumet, Semonce du
pape Benoit XII ä Pierre IV d' Aragon. — C. Pitoliet, 'La Bodega' de
V. Blasco Ibanez. — Bibliographie. — Revues. — Chronique]. VII, 4
[P. Paris, Ornement de miroir en bronze au Musöe archeologique de Ma-
drid. — H de la Ville de Mirmont, Ciceron et les Espagnols. — A. Morel-
Fatio, La duchesse d'Albe, Da Maria Enriquez et Catherine de M6dici.
— S. Griswold Morley, The use of the verse-forms (strophes) by Tirso de
Molina. Der Autor untersucht das numerische Verhältnis der redondillas,
quintillas, deeimas, romances etc. in den Tir&oschen Dramen, um Material
zur Lösung des Problems der Autorschatt des Burlador und des Conde-
nado zu gewinnen. In bezug auf den Burlador gelingt ihm das nicht,
doch führt er einen anderen gewichtigen Grund (Behandlung der Bauern-
szenen) gegen diese Autorschaft ins Feld. Der Strophen bau des Condenado
por deseotifiado weist eine Strophentechnik auf, die Tirso fremd war. —
Varietes: G. Cirot, Les portraits de Juan de Mariana. — H. Merim£e,
Sur la biograpnie du chanoine Francisco de Tärrega. — Bibliographie. —
Chroniques. — Tables. — 4 Planches].
Walberg, E., Juan de la Cueva et son Exemplar poetico [Lunds
Universitets Arsskrift, Band 39. Afdeln 1 N° 2]. Lund, Imprimerie Hakan
Ohlsson. 117 S. h°. 3:75. [Die Ars poetica des alten Sevillaner Drama-
tikers (1606), dieses Seitenstück zu Lopes Arte nueva (cf. Archiv CIX, 458),
ist bisher sehr schwer zugänglich gewesen. Huudertdreifsig Jahre sind
verflossen, seit Sedano sie in seinem Parnaso Espahol zum erstenmal ge-
druckt. Walberg bietet uns also eine sehr willkommene Gabe, indem er
das geschichtlich recht wichtige Stück (1300 Verse) nach jenem Manu-
skript wiedergibt, welches die Colombina aufbewahrt und das das Hand-
exemplar des Autors gewesen zu sein scheint Die Varianten zweier an-
derer von Cueva selbst gefertigter Kopien werden beigefügt. Doppelt will-
kommen wird Walbergs sorgfältiger Neudruck durch Einleitung und
Noten: Cuevas Stellung in der dramatischen Literatur, Tendenz, Quellen
und Sprache seiner Poetik werden erörtert und in den Anmerkungen ein
fortlaufender Kommentar gegeben.]
488 Verzeichnis der eingelaufenen Druckschriften.
Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha von Miguel de
< ■ iv:iht(\s Saavedra. Übersetzt, eingeleitet und mit Erläuterungen
versehen von Ludwig Braunfels. Neue revidierte Jubiläumsausgabe.
Stra&burg, K. J. Trübner, 1905. 4 Bände, XLI, 818; 406; 3y7; 374 8.
Preis des Bandes geh. M. 2.50;, geb. M. 3.50. [Braunfels' Übertragung des
D. Q. ist eine sehr sorgfältige und. kundige und auch eine sehr kunst-
volle Arbeit. Er steht als D. Q. -Übersetzer weit über allen deutschen
Vorgängern in seiner Verbindung von kenntnisreicher Sorgfalt und künst-
lerischem Nachempfinden. Er allein hat uns eine in Wortsinn und Ton
treue Umschrift geliefert. Sie verdiente es wohl, im Jubiläumsjahre des
Originals zu neuem Leben erweckt zu werden, nachdem sie zwei Jahr-
zehnte in den Bändchen der 'Collection Spemann' (1888) geschlummert
hat. Die Fufsnoten jener ersten Ausgabe sind im Neudruck revidiert,
reduziert und an den Sehluis der einzelnen Bände verwiesen worden.
Über die Grundsätze, die im übrigen den Herausgeber geleitet haben,
gibt die Vorrede Auskunft. Diese Neuausgabe ist von vornehmer Aus-
stattung, bestimmt und geeignet, ein Buch der Erholung und des Ge-
nusses zu sein. Der Preis cier vier Bände (geh. M. 10, geb. M. 14) ist
außerordentlich niedrig.]
Menöndez Pidal, R., Manuel elemental de gramatica historica
espanola. Segunda edicion. Madrid, Suärez, 1905. VII, 271, S. Pes. 6,5C
[Der ersten Auflage dieses trefflichen Handbuches, cf. Archiv CXIII, 231
folgt binnen Jahresfrist die zweite. Der Autor hat es sich angelegen sei.
lassen, den Wünschen der fachmännischen Kritik Rechnung zu tragen
und wenn die Zahl der Paragraphen seines Buches sich nicht vermehrt
hat, so ist doch vielfach deren Inhalt erneut und erweitert, so dafs das
Buch erheblich an Umfang gewonnen hat. Die typographische Ausstat-
tung ist ebenfalls reicher geworden.]
El Comerciante. Spanisches Lehrbuch für Kaufleute, kaufm. Fort-
bildungsschulen, Handelsschulen und verwandte Anstalten, sowie zum
Selbstunterricht von C. Demehl. Unter Mitwirkung Hamburger Kauf-
leute und der spanischen Lehrer E. Solana und Ol. Herreros. Mit
einer Konjugationstabelle, drei Münztafeln und einer mehrfarbigen Karte
von Spanien. Leipzig und Berlin, Teubner. XII, 27i» S.
Stuppaun, Gebhard, Las desch eteds. Publicaziun da Jacob
Jud. Coira, H. Fiebig, 1905. 113 S. [Gegen 1560 schrieb der Prediger
G. Stuppaun zu Ardez im Unterengadin das dramatische Gespräch der
'Zehn Alter', das Gärtner vor zwanzig Jahren in Böhmers Rom. Studien
VI, 239 ff. herausgegeben und für das Gärtner auch die deutsche Quelle,
Genzenbachs 'Zehn Alter' (15o4), nachgewiesen hat. Jud druckt hier —
es ist ein S.-A. aus den Annalas della Societad Raeto-Rotnanseha — den
'l'ext nach einer älteren und vollständigeren Handschrift neu und gibt
die Sinnyarianten des Gartnerschen und zweier anderer fragmentarischer
Manuskripte. Diese Handschrift führt ihn zu der ansprechenden Ver-
mutung, dal's hinter den erhaltenen oberengadinischen Kopien sich eine
unterengadinische Urschrift verbirgt. Ein rätisch-deutsches Glossar, da
sorgfältig gearbeitet zu sein scheint, ist beigegeben. Ist furberta (ct. fw
batrta, Var. zu 699) nicht ein Fehler des Kopisten statt furberial D
Wörter der Varia lectio sind nicht ins Glossar aufgenommen.]
Michael, J., Der Dialekt des Poschiavo - Tals (Poschiavo - Brusic
Campocologno). Zürcher Dissert. Halle, E. Karras, 1905. 99 S.
BIND1NG SECT. JAN 2 5 1968
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der neueren sprachen
A5
Bd. 115
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