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Full text of "Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen"

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HANDBOUND 
AT  THE 


UN1VERS1TY  OF 
TORONTO  PRESS 


f/o 


ARCHIV 


FÜR  DAS 


STUDIUM  DER  NEUEREN  SPRACHEN 
UND   LITERATUREN 


BEGRÜNDET  VON  LUDWIG  HERRIG 

HERAUSGEGEBEN 

VON 

ALOIS  BRANDL  UND  HEINRICH  MORF 


LIX  JAHRGANG,  CXV.  BAND  0  /-  ^ 


DER   NEUEN   SERIE  XV.  BAND 


*#&#* 


BRAÜNSCHWEIG 

DRÜCK  UND  VERLAG  VON  GEORGE  WESTERMANN 
1905 


3 

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Inhalts-Verzeichnis  des  CXV.  Bandes, 

der  neuen  Serie  XV.  Bandes. 


Abhandlungen.  Seite 

Zur  Entstehung  des  Märchens.    Von  Friedrich  von  der  Leyen.  III.  (Fort- 
setzung)    1 

Niklas  Praun  und  Pandolfo  Collenuccio.     Von  Adolf  Hauffen     ....  22 

Volkslied-Miszellen.    IL     Von  E.  K.  Blüm  ml 30 

Zur  Entstehung  des  Märchens.   Von  Friedrich  von  der  Leyen.   IV.  (Fort- 
setzung)    273 

Wielands  'Metamorphose'  in  seiner  eigenen  Beurteilung.    Von  Julius  Stein- 
herger    290 

Über  den  Hymnus  Csedmons.     Von  A.   Schröer 67 

Noch  einmal  die  Quelle  des  'Monk'.     Von  Georg  Herzfeld 70 

Die  Burghsche  Cato-Paraphrase.     Von  Max  Förster.    1 298 

Zur  englischen  Wortgeschichte.    Von  W.  Hörn 324 

Zur  letzten  Londoner  Theaterseason.     Von  R.  Fischer 329 


Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez.     Von  AdolfTobler       .     .     .  74 
Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung.    Von  E.  Tappolet  101 
Beiträge  zur  französischen  Stilistik  und  Syntax.     Von  Emil  Mackel      .     .  124 
Cyrano  de  Bergerac  (1619 — 1655),  sein  Leben  und  seine  Werke.     Ein   Ver- 
such.    Von  H.   Dübi.     IV.  (Scblufs) 133 

Studien  zur  fränkischen  Sagengeschichte.    H.     Von  LeoJordan.     .     .     .  354 
Note  sul  Boccaccio  in  Ispagna  nell'Etä  Media.    Di  Arturo  Farinelli.    II. 

(Fortsetzung) 368 

Kleinere  Mitteilungen    ■ 

n   Zur  Quellenkunde  und  Textkritik  der  altengl.  Exodus.    (F.  Holthausen)    .  162 

/    Zum  ae.  gerefa.    (Otto  Ritter) 163 

Eine  verlorene  Handschrift  der  Sprüche  Hendings.     (Max  Förster).     .     .  165 

Die  Bibliothek  des  Dan  Michael  von  Northgate.     (Max  Förster)      .     .     .  167 

Zu  Lydgates  Secreta  secretorum.    (Max  Förster) 169 

Die  mittelenglische  Version    von  Claudians    De  consulatu  Stilichonis.     (Max 

Förster) 169 


IV 

Seite 

Miszellen  zur  englischen  Wortkunde.     (Otto  Ritter) 172 

Byrons  Gedichte    To   Mr.  Murray.    (Otto  Ritter) 176 

Eine     Shakespearesche     Redewendung     bei    Annette    von    Droste  -  HülshofF. 

(R.  Sprenger) 176 

Kentisch  hionne.  Hirnhaut.     (F.  Liebermann) 177 

Bemerkungen  zum  Beowulf.     (Fr.  Klaeber) 178 

Das  Mätznersche  Wörterbuch 182 

Ags.  rihthamscyld:  echtes  Hoftor.     (F.  Liebermann) 389 

Zum  90.  angelsächsischen  Rätsel.     (Fritz  Erlemann) 391 

Ein  altenglisches  Prosarätsel.     (Max  Förster) 392 

Das  Englisch  des  städtischen  Rechts  im  15.  Jahrhundert.    (F.  Liebermann)  393 

Ein  neuentdecktes  Manuskript  Thomas   Chattertons.     (Helene  Richter)     .  393 

Zu  Archiv  CXII,   190  ff.  (Anzeige).     (A.  J.  Barnouw) 397 

Zu  Archiv  CXIV,  474  (Bibliogr.) 397 

Mundartgrenzen.     (C.   Haag) 182 

Die  Societe  des  Textes  franc,ais  modernes.    (H.  M.) 189 

Elex  oder  lllex?     (W.  Meyer-Lübke) 397 

Notes    sur    la    prononciation  francaise    du  nom   de  Shakespeare.     (Fernand 

Baldensperger) 399 

Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Max  Batt,    The  treatment  of  nature    in  German  literature  from  Günther  to 

the  appearance  of  Goethe's  Werther.    (R.  Woerner) 405 

K.  Berger,  Schiller.     (Robert  Petsch) 211 

Goethe,  Iphigenie  auf  Tauris.     Ed.  by  K.  Breul.     (R.  M.  M.) 194 

Schiller,  Geschichte  des  Dreifsig jährigen  Krieges,  abridged  and  edited  by  Karl 

Breul.     (Robert  Petsch) 212 

Franz  Deibel,  Dorothea  Schlegel  als  Schriftstellerin  im  Zusammenhang  mit 

der  romantischen  Schule.     (Richard  M.  Meyer) 213 

Kuno  Fischer,   Schillerschriften.     (Robert  Petsch) 212 

Th.  Fontanes  Briefe  an  seine  Familie.     (Richard  M.  Meyer) 410 

L.  Fulda,  Schiller  und  die  neue  Generation.     (Robert  Petsch) 195 

Ludwig  Geiger,   Goethes  Leben  und  Werke.     (R.   Woerner) 404 

O.  Harnack,  Schiller.     (Robert  Petsch) 209 

Julius  Hartmann,  Schillers  Jugendfreunde.     (Robert  Petsch) 211 

Schillers  Sämtliche  Werke,    herausgegeben   von    Eduard    von    der    Hellen. 

(Robert  Petsch) 198 

Andreas  Heusler,  Lied  und  Epos  in  germanischer  Sagendichtung.    (Richard 

M.  Meyer) 403 

Marbacher  Schillerbuch,  herausgeg.  vom  Schwäbischen  Schillerverein.  (Robert 

Petsch) 202 

Ernst  Martin,    Wolframs    von    Eschenbach    Parzival   und  Titurel.     Zweiter 

Teil:   Kommentar.     (Joseph  Seemüller) 190 

R.  Petsch,  Vorträge  über  Goethes  'Faust'.    (Richard  M.  Meyer)  ....  405 


V 

Seite 
N.  Lenau,  Poete  lyrique.  Par  L.  Reynaud.  (Helene  Herrmann)  .  .  .  406 
Jan  v.  Rozwadowski,  Wortbildung  und  Wortbedeutung.  (W.  Franz)  .  216 
Die  Gedicbte  Oswalds  von  Wolkenstein,  herausgeg.  von  J.  Schatz.    Zweite 

verbesserte  Ausgabe.     (Hermann  Michel) 192 

Fr.  Stahl,   Wie  sah   Goethe  aus?     (Richard  M.  Meyer) 193 

Fritz  Stahl,  Wie  sah  Bismarck  aus?     (Richard  M.  Meyer) 216 

Emil  Sulger-Gebing,  Hugo  v.  Hofmannsthal.  (Richard  M.  Meyer)  .  .  217 
Pantheon -Ausgabe:  Schillers  Gedichte,  ed.  Weifsenfeis.  (Robert  Petsch)  199 
Franz  Zinkernagel,  Die  Grundlagen  der  Hebbelschen  Tragödie.    (Theodor 

Poppe) 213 

Oskar  Boerner,  Die  Sprache  Robert  Mannings  of  Brunne  und  ihr  Verhältnis 

zur  neuenglischen  Mundart.     (Erik  Björkman) 223 

Henry  Bradley,  The  making  of  English.     (K.  Luick) 414 

George  Masons  Grammaire  Angloise  nach  den  Drucken  von   1622   und  1633 

herausgegeben  von  Rudolf  Brotanek.  (Wilhelm  Dibelius)  ....  425 
Bruno  Busse,  Wie  studiert  man  neuere  Sprachen?  (M.  Konrath)  .  .  .  218 
Theodor  Eichhoff,    Die    beiden    ältesten  Ausgaben    von  Romeo  and  Juliet. 

(Ernst  Kroger) 423 

John  Erskine,  The  Elizabethan  lyric.     (Wilhelm  Bolle) 227 

C.  J.  M.  Fant,  Engelskt  uttal.     (Erik  Björkman) 426 

R.  Hall,  Lehrbuch  der  englischen  Sprache.    Für  Mädchenschulen  bearbeitet 

in  zwei  Teilen.  I.  Teil,  2.  Aufl. ;  II.  Teil,  1.  Aufl.  (Willi  Splettstöfser)  429 
Alexander  Gills  Logonomia  Anglica,    herausgegeben   von  Otto  L.  Jiriczek. 

(K.  Luick) 230 

Oscar  Wilde,  De  profundis,  herausgegeben  und  eingeleitet  von  Max  Meyer- 
feld.    (A.  Brandl) 235 

Ernst    Otto,    Typische   Motive    in    dem   weltlichen    Epos    der  Angelsachsen. 

(Heinrich  Spies) 222 

W.  Sattler,  Deutsch-englisches  Sachwörterbuch.     (W.  Franz) 236 

W.  Sattler,  Deutsch-Englisches  Sa ch Wörterbuch.    (W.   Franz) 429 

Levin    Ludwig    Schücking,     Beowulfs    Rückkehr,     eine    kritische    Studie. 

(A.  Brandl) 421 

Eimer  Edgar  St  oll,    John  Webster;  the  periods  of  his  work  as  determined 

by  his  relations  to  the  drama  of  his  day.     (A.  Brandl) 229 

Grace   Fleming    Swearingen,    Die    englische  Schriftsprache    bei  Coverdale. 

(Erik  Björkman) 226 

Wilhelm    Swoboda,    Lehrbuch    der    englischen    Sprache    für    Realschulen. 

1.  Teil :    Elementarbuch    der    englischen    Sprache    für    Realschulen.    — 

2.  Teil:    English    Reader    (Lehr-    und   Lesebuch    für    die  6.   Klasse).    — 

3.  Teil:    Literary    Reader    (Lehr-  und  Lesebuch  für  die   7.  Klasse).    — 

4.  Teil:    Schulgrammatik    der    modernen    englischen    Sprache.      (Willi 
Splettstöfser) 427 

Moritz  Trautmann,  Das  Beowulflied,  als  Anhang  das  Finn-Bruchstück  und 
die  Waldhere-Bruchstücke,  bearbeiteter  Text  und  deutsche  Übersetzung. 
(Levin  Ludwig  Schücking) 417 


VI 

Sftitf> 
The   nation's  need.    Chapters  on  education.    Edited  by  Spenser  Wilkinson. 

(W.  Milnch) 411 

Martin   Wolf,   Walter  Scotts  Kenilworth.     (Georg  Herzfeld) 234 

Leonhard  Wroblewski,    Über   die  altenglischen   Gesetze    des  Königs  Knut. 

(Heinrich  Spies) 222 

Aus  romanischen  Sprachen  und  Literaturen.  Festschrift  Heinrich  Morf  zur 
Feier  seiner  fÜDfundzwanzigjährigen  Lehrtätigkeit  von  seinen  Schülern 
dargebracht.     (H.  M.) 430 

Amalia  Cesano,  Hans  Sachs  ed  i  suoi  rapporti  con  la  Letteratura  Italiana. 

(Arthur  Ludwig  Stiefel) 253 

Festschrift,    Adolf  Tobler   zum    siebzigsten  Geburtstage    dargebracht    von  der 

Berliner  Gesellschaft  für  das  Studium  der  neueren  Sprachen.  (Adolf  Tobler)     238 

I.  Giorgi    ed    E.  Sicardi,    Abbozzi    di  rime  edite  ed  inedite  di  Francesco 

Petrarca.     (C.  Appel) 464 

O.  Hecker,  Neues  deutsch-italienisches  Wörterbuch.  Teil  II:  Deutsch-Ita- 
lienisch.    (Berthold  Wiese) 468 

Otto  Knörk    et  Gabriel  Puy-Fourcat,    Le  francais  pratique  pour  la  jeu- 

nesse  commercjante  et  industrielle.      löre  partie.     (Keesebiter)  ....     463 

Wilhelm    Münch,    Didaktik    und    Methodik    des    französischen    Unterrichts. 

2.  umgearbeitete  Auflage.     (Theodor  Engwer) 246 

George  N.  Oleott,  Thesaurus  linguae  latinae  epigraphicae.  Band  I,  Liefe- 
rung  1.     (Max  Niedermann) 245 

Gabriel  Puy-Fourcat,  s.  Otto  Knörk. 

Bernhard  Schädel,  Mundartliches  aus  Mallorca.     (H.  M.) 256 

Arnold  Schröer,  Die  Fortbildung  der  neusprachlichen  Oberlehrer  und  das 
Englische  und  Französische  Seminar  an  der  Handels-Hochschule  in  Köln. 
(Theodor  Engwer) 251 

E.   Sicardi,  s.  I.  Giorgi. 

A.  Walde,  Lateinisches  etymologisches  Wörterbuch.  Lief.  1.  (Max  Niedermann)     246 


Verzeichnis  der    vom  13.  Juni  bis  zum   1.  Oktober  1905  bei  der  Redaktion 

eingelaufenen  Druckschriften 259 

Verzeichnis  der  vom  2.  Oktober  bis  zum  28.  November  1905  bei  der  Re- 
daktion eingelaufenen  Druckschriften 470 


Zur  Entstehung  des  Märchens. 

(Fortsetzung.) 


III.     Märchen    bei    alten    Kulturvölkern. 

Eine  umfassende  Sammlung  und  Beschreibung  der  Märchen 
bei  alten  Kulturvölkern  dürfte  heute  sogar  unseren  theologischen 
Gelehrten,  unseren  Orientalisten  und  klassischen  Philologen  kaum 
gelingen.  Die  Forschung,  die  solche  Märchenmotive  nachweist 
und  erkennt,  steht,  soweit  ich  sehe,  noch  in  den  Anfängen,  sie 
kam  an  vielen  einzelnen  Stellen  zu  schönen  und  verheifsungs- 
reichen  Erfolgen,  doch  konnten  diese  Ergebnisse  noch  nicht  ver- 
einigt und  die  Arbeit  noch  nicht  in  gröfserem  Zusammenhang 
geleistet  werden.  Um  so  weniger  darf  man  von  mir  verlangen, 
dafs  ich  etwa  die  Ergebnisse  der  Fachgelehrten  überhole  und 
hier  die  Übersichten  biete,  die  sie  uns  noch  nicht  zu  bieten  ver- 
mochten: ich  versuche  im  Gegenteil,  dankbar  das  zu  benutzen, 
was  jene  Gelehrten  erkannten  und  feststellten,  und  ich  möchte 
nur  durch  Beispiele  zeigen,  dafs  Märchenmotive  und  Märchen  bei 
diesen  Völkern  bestanden,  und  dafs  sie  sich  aus  jenen  primitiven 
Vorstellungen  entwickelten,  die  wir  eben  betrachtet;  alsdann 
möchte  ich  schildern,  welche  künstlerischen  und  organischen  Be- 
sonderheiten diese  Märchen  besitzen. 

Die  babylonische  Sage  von  Izdubar  Nimrod1  hat  mit  dem 
Märchen  manche  Eigentümlichkeiten  gemeinsam.  'Die  Handlung 
wird  durch  schier  unzählige  Träume  in  Bewegung  gesetzt,  durch 
welche  die  Götter  den  Menschen  die  Zukunft  zeigen  und  Rat 
erteilen.  Diese  Anschauung  ist  ein  charakteristischer  Bestandteil 
der  religiösen  Anschauung  der  Babylonier  und  Assyrer.  Ein 
babylonischer  Eigenname  bedeutet  "Vertraue  auf  Träume"/- 
Das  darf  uns  als  neuer  Beweis  für  die  oben  vorgetragene  An- 
schauung gelten,  dafs  viele  Sagen  und  Märchen  sich  aus  Traumon 
heraushoben.  —  Jäger  und  Bauern  gehören  zu  den  führenden  Per- 
sonen in  dieser  babylonischen  Sage,  Menschen  leben  mit  den 
Tieren,  als  seien  diese  ihresgleichen,  'mit  Gazellen  fril'st  Eabani 
Kräuter,    mit    dem    Vieh   des   Feldes    erfrischt    er   sich    an    der 


1  Vgl.  Alfred  Jercmias,  Ixdubar  Nimrod,  in  Rosckers  Lexikon  II,  TT  I  f. 
-  Jereoiias  a.  a.  0.  [I,  781. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.     CXV.  1 


2  Zur  Entstellung  des  Märchens. 

Tranke,  mit  dem  Getier  des  Wassers  ergötzt  sich  sein  Herz/ 
Eine  Göttin  verwandelt  einen  Menschen  in  einen  Tiger,  Bäume 
werden  redend  eingeführt,  der  Geist  eines  Verstorbenen  kommt 
wie  ein  Windhauch  aus  der  Erde:  das  sind  alles  Vorstellungen, 
die  uns  bei  den  Naturvölkern  oft  entgegentraten,  und  die  aus 
primitiven  Vergangenheiten  auch  in  unser  Märchen  herüber- 
wanderten. Der  Held  Izdubar  geht  dann  auf  die  Reise  zu  Sit- 
napistim,  um  den  verstorbenen  Ea  zu  erwecken;  auf  dieser  Reise 
kommt  er  zuerst  zu  einem  Gebirge,  das  schreckliche  Skorpionen- 
menschen bewachen;  diese  warnen  ihn,  und  trotzdem  wagt  er 
sich  weiter,  durch  eine  dicke  Finsternis  hindurch,  zum  Gestade 
des  Meeres  hin.  Dort  sieht  er  einen  herrlichen  Baum,  der  Edel- 
steine als  Früchte  trägt,  an  dem  prächtige  Äste  hangen,  dessen 
Zweige  Kristall  tragen:  die  Königin  des  Meeres  warnt  ihn  noch- 
mals, und  er  überschreitet  das  Meer  doch;  endlich  gelangt  er 
über  den  Totenflufs  (den  Wassergürtel  des  Meeres)  hinüber,  zur 
Insel  der  Seligen.  Er  wird  durch  eine  Zauberspeise  gestärkt, 
zum  Lebensquell  geführt,  erhält  auch  eine  Lebenspflanze,  die  er 
aber  aus  Furcht  vor  einer  Schlange  in  einen  Brunnen  fallen  läfst. 

Man  hat  die  Übereinstimmungen  dieser  Izdubarsage  mit  der 
vom  Herakles  betont,1  beide  Helden  sind  berühmte  Jäger  und 
Löwentöter,  beide  kämpfen  mit  Riesen,  steigen  in  die  Hölle, 
überwinden  den  Tod,  fahren  zum  Göttergarten  und  erwerben  die 
Unsterblichkeit. 

Und  ebensowenig  lassen  sich  die  Ähnlichkeiten  der  Er- 
eignisse dieses  Izdubarepos  mit  den  Abenteuern  und  Gefahren 
leugnen,  die  Alexander  auf  seiner  Reise  ins  Jenseits  im  Roman 
des  Pseudo-Kallisthenes  zu  bestehen  hat:  auch  ihn  führt  der  Weg 
durch  Schluchten  und  Wüsten  zu  einem  Flufs,  in  dem  Wunder- 
bäume wachsen  und  verschwinden,  zu  abenteuerlichen  Tieren,  zu 
mehrtägiger  Finsternis,  dann  zur  Meeresküste  und,  durch  eine 
Taucherfahrt,  ins  Land  der  Seligen.  Auf  dem  Wege  dorthin 
findet  er  das  Wasser  des  Lebens,  und  Vögel  warnen  ihn,  von 
seinem  gefährlichen  Vorhaben  abzustehen.  Aber  er  überwindet 
alle  Gefahren  und  kehrt  erst  dann  zurück.2 

Gleich  überraschend  aber  ist,  dafs  sich  diese  uralte  baby- 
lonische Sage  in  vielen  Teilen  liest  wie  die  Märchen  unserer 
Tage,  die  vom  Wasser  des  Lebens  oder  vom  Reisen  zum  Teufel 
erzählen.  Es  ist  die  Eigentümlichkeit  dieser  Märchen  und  der 
uralten  Sage,  dafs  die  Helden  aus  einer  Gefahr  in  eine  schlimmere 
geraten,  dafs  einer  nach  dem  anderen  sie  warnt,  sie  möchten  doch 


1  Jeremias  822. 

2  Vgl.  F.  Kanipers,  Alexander  der  Orofse  und  die  Idee  des  Weltimperiums, 
Freiburg  1901,  S.  86  f.,  und  die  dort  angegebene  Literatur;  Wilhelm  Hertz, 
Gesammelte  Abhandlungen,  bes.  S.  90  Anm.  1. 


Zur  Entstehung;  des  Märchens.  3 

von  ihrem  überkühnen  Wagnis  abstehen,  noch  jeder  sei  dabei 
zugrunde  gegangen;  dafs  das  Ziel  der  Reise  in  immer  weitere 
Ferne  rückt;1  in  den  Märchen  werden  hier  und  da  zuerst  die 
Tiere  des  Waldes,  dann  die  Fische  des  Meeres  oder  die  Vögel 
der  Luft  zusammenberufen,  keiner  weifs  den  Ort,  wo  das  Wasser 
des  Lebens  verborgen  liegt,  bis  endlich  ein  uralter  Vogel  oder 
ein  uralter  Fisch  sich  erinnert  und  den  Helden  auf  seinem 
Rücken  über  das  Meer  an  den  Ort  seiner  Sehnsucht  trägt.  Es 
geschieht  auch  wohl,  dafs  die  Helden  infolge  von  Verzauberungen 
fast  das  verlieren  oder  verscherzen,  um  dessentwillen  sie  doch 
alle  Gefahr  und  Mühsal  auf  sich  nahmen. 

Es  würde  mir  nun  als  verfehlt  erscheinen,  wollte  man  aus 
diesen  Ähnlichkeiten  schliefsen,  das  Izdubarepos  habe  einen 
ganz  unvergleichlichen,  bis  heute  nachwirkenden  Einflufs  auf  die 
Sagen  und  Märchen  der  ganzen  Welt  gehabt.  Denn  jede  der 
von  mir  vorgeführten  Ähnlichkeiten  oder  Übereinstimmungen 
läfst  sich  wieder  auf  Vorstellungen  zurückleiten,  die  wir  schon 
kennen,  und  die  wir  primitive  nannten.  Die  Gleichartigkeit 
von  Izdubarepos,  Heraklessage,  Alexanderroman  und  modernem 
Märchen  findet  also  in  diesem  Fall  ihre  recht  einfache  Erklärung 
darin,  dafs  eben  die  Vorstellungen,  auf  denen  sie  beruhen,  uralt, 
überall  verbreitet  und  einander  sehr  ähnlich  waren.  Einige  der 
Izdubarmotive,  vor  allem  wohl  die  schreckhaften  Gefahren,  kom- 
men aus  dem  Traumleben,  die  Vorstellung,  dafs  die  Seele  eines 
Menschen,  namentlich  eines  Zauberers,  sich  auf  lange,  unendlich 
mühselige  und  gefahrvolle  Reisen  begibt,  bis  sie  endlich  zum 
höchsten  Himmelsgott  oder  ins  Reich  der  Toten  eindringt,  ist 
uns  auch  nicht  fremd,2  ebensowenig  der  Glaube  an  ein  Land 
der  Seligen  jenseit  des  Meeres,  in  kaum  zu  erreichender  Ferne. 
Und  das  Merkwürdige  und  Unschätzbare  an  der  Izdubarsage 
wäre  also  für  uns,  dafs  sie  den,  ich  möchte  sagen  ehrwürdigsten, 
Beweis  für  die  These  gibt,  dafs  unsere  Märchen,  Märchen  vom 
Wasser  des  Lebens  und  der  Unterwelt,  schon  vor  manchem  Jahr- 
tausend erzählt  wurden,  dafs  diese  Märchen  im  engsten  Zu- 
sammenhange stehen  mit  den  primitiven  Vorstellungen,  die  sich 
die  Naturvölker  bewahrten.  —  Die  Lebenskraft  und  Eindring- 
lichkeit dieser  Vorstellungen  ist  heute  so  frisch  und  stark  wie 
in  der  ältesten  Vergangenheit:  diese  Kraft  verspürten  auch  die 
Herakles-  und  Alexandersage   und   haben  sie   dichterisch   erhöht. 

Die  religiösen  Vorstellungen  der  alten  Ägypter,  die  ich  hier 
zu  nennen  habe,   unterscheiden  sich  gleichfalls   kaum    von  denen 

1  Vgl.  Hermann  Usener,  Rheinisches  Museum,  N.  F.  56  (1901),  485  l.: 
R.  Köhler,  Kleinere  Schriften  I,  186.  562;  II,  :!:5'2;  Ders.,  Zu  Laura  Gonxen- 
bach  Nr.  64;  Cosquin  I,  217;   Chauvin,  Bibliographie  VI,  "<3. 

2  Vgl.  oben  Archiv  0X1 V,  S.  2. 

1* 


4  Zur  Entstehung  des  Märchens. 

der  primitiven  Völker.1  Die  Seele  des  Menschen  erscheint  in 
seinem  Bilde,  in  seinem  Schatten,  sie  lebte  im  Herzen  und  im 
Blute,  sie  flattert  als  Vogel  in  der  Luft  und  konnte .  in  Bäume 
eingehen.  Wer  den  Namen  eines  anderen  wnfete,  erlangte  auch 
dessen  Kraft,  wer  ein  Tor  richtig  nannte,  dem  mufste  sich  dies 
Tor  öffnen  -  —  und  das  ist  doch  eine  ganz  frappante  Überein- 
stimmung mit  dem  Hauptmotiv  des  berühmten  Märchens  ans 
1001  Nacht:  Sesam,  öffne  dich!  —  Der  des  Zaubers  Mächtige 
verwandelte  sich  in  viele  Gestalten,  in  einen  Reiher,  in  eine 
Schwalbe,  eine  Schlange,  ein  Krokodil,  einen  Gott.  —  Den  Toten 
suchte  man  die  mühselige  Reise  ins  Jenseits  mit  aller  Klugheit 
und  allen  Künsten  zu  erleichtern  und  ihnen  die  Rückkehr  ins 
Diesseits  mit  derselben  Energie  zu  verwehren,  man  gab  dem 
Toten  Früchte  und  Tiere,  seine  Diener  und  seine  ganze  Häus- 
lichkeit, alles,  was  er  im  Leben  besessen,  in  Abbildern  ins  Grab 
mit,  damit  er  sich  weiter  daran  erfreuen  möchte:  denn  man 
meinte,  er  könne  alle  diese  Bilder  in  das  Leben  zurückerwecken 
und  mit  ihnen  das  Dasein  fortsetzen,  an  dem  er  auf  der  Erde 
gehangen.  Auch  Märchen  wie  unsere  vom  Rübezahl  waren  also, 
wie  uns  dieser  berühmteste,  für  die  Kulturgeschichte  so  unver- 
gleichlich bedeutsame  ägyptische  Brauch  zeigt,  vor  Jahrtausenden 
Wirklichkeit:  wie  Rübezahl  die  Prinzessin,  indem  er  ihr  aus 
Rüben  Abbilder  ihrer  Gespielinnen  schuf  und  alles  des  Hofstaats, 
ohne  den  sie  nicht  sein  wollte,  und  diesen  Abbildern  Leben  ein- 
hauchte: so  wollten  schon  die  Ägypter  ihre  Verschiedenen  über 
den  Verlust  dieses  Lebens  forttäuschen  und  trösten.  —  Es  scheint, 
dals  die  Ägypter  sich  an  Märchen  gern  erfreuten  und  viele  Mär- 
chen kannten  und  erzählten,  von  diesem  Reichtum  sind  uns  nur 
wenige  Reste  geblieben.  Möglicherweise  verbergen  sich  unter  den 
Märchen  von  1001  Nacht  manches  alte  ägyptische  Motiv  und  man- 
ches alte  ägyptische  Märchen,  ohne  dals  sie  sich  heute  mit  Sicher- 
heit herausfinden  lassen.  Wir  besitzen  einige  Zaubergeschichten: 
von  einem  Krokodil  aus  Wachs,  das,  wie  es  ins  Wasser  geworfen 
wird,  sich  in  ein  wirkliches  Krokodil  verwandelt  und  einen  Ehe- 
brecher verschlingt  —  wie  der  Verwandler  es  packt,  bildet  sich 
das  unheimliche  Tier  in  eine  Wachsfigur  zurück.  Dies  Märchen 
ist  also  unmittelbar  aus  dem  Glauben  erwachsen,  dafs  im  Bilde 
eines  Wesens  auch  dessen  Seele  wirksam  ist.  Ein  anderer  Zau- 
berer kann  die  Hälfte  eines  Sees  auf  die  andere  legen,  die  eine 
erreicht  die  doppelte  Wasserhöhe,  die  andere  wird  wasserleer,  der 

1  Vgl.  Maspero,  Les  contes  populaires  de  l'Egypte  aneienne,  traduits  et 
commentes,  deuxieme  6d.,  Paris  1889;  Wiedemann,  Die  Unterhaltungslite- 
ratur  der  alten  Ägypter  (Der  alte  Orient  III,  101  f.),  Leipzig  1902;  Ders., 
Die  Toten  und  ihre  Reiche  im  Glauben  der  alten  Ägypter  (Der  alte  Orient 
II,  38  f.),  Leipzig  1901. 

-  Wiedemaim  a.  a.  O.  II,  62.  —  Chauvin  V,  82  Anm.  1. 


Zur  Entstehung  des  Märchens.  5 

Grund  des  Sees  deckt  sich  auf:  da  darf  man  immerhin  an  das 
Rote  Meer  erinnern,  das  mit  göttlicher  Kraft  von  der  Stelle  fort- 
gezaubert wurde,  an  der  es  die  Kinder  Israels  durchschritten.1  — 
Wieder  ein  anderer  Zauberer  köpft  Tiere  und  setzt  den  Kopf 
richtig  auf  den  Rumpf,  schenkt  ihnen  dadurch  auch  ihr  Leben 
wieder:  eine  Kunst,  die  im  Märchen  nicht  Zauberern  allein,  die 
Aposteln  und  sogar  dem  Heiland  nachgerühmt  wird.  Wir  haben 
noch  davon  zu  reden.  —  Von  Kindern  wurde  prophezeit,  sie 
würden  die  ruhmreichsten  Herrscher;  und  so  erfüllte  es  sich: 
diese  Kinder  entgingen  wirklich  allen  feindlichen  Nachstellungen 
des  Königs,  der  fürchtete,  sie  würden  ihm  seine  Macht  rauben, 
das  Schicksal  war  stärker  als  die  kleinen  Ränke  der  Menschen. 
Hier  fällt  uns  Moses  ein  und  dann  die  überaus  reiche  Zahl  von 
Märchen,  die,  vielleicht  unter  dem  Einflufs  der  Mosesgeschichte, 
ihre  Helden  als  Schützlinge  göttlicher  Vorsehung  hinstellten.  - 
Diese  späteren  Geschichten  erzählten,  der  Held  sei,  kaum  ge- 
boren, in  einem  Kästchen  auf  einen  Flufs  ausgesetzt  und  dann 
in  wunderbarer  Weise  gerettet  worden.  Ein  viel  späteres  ägyp- 
tisches Märchen  weifs  gar  von  einem  Wettkampf  zwischen  Zau- 
berern, einem  äthiopischen  und  einem  ägyptischen:  beide  konnten 
einen  König  nachts  aus  seinem  Palast  holen,  ihn  von  Ägypten 
nach  Äthiopien  —  oder  umgekehrt  —  und  wieder  zurückbringen 
und  ihm  aufserdem  500  Stockschläge  versetzen,  so  dafs  der  König 
am  Morgen  seinen  Hofleuten  voll  Entrüstung  den  zerbläuten 
Rücken  zeigte.  Wir  erinnern  uns,  dafs  die  Beschützer  des  Aladdin 
in  1001  Nacht  und  dafs  die  Beschützer  von  Andersens  standhaftem 
Zinnsoldaten  desselben  Zaubers  mächtig  sind.3  —  Verwegene  und 
wunderbare  Reiseabenteuer  haben  sich  die  Ägypter  gleichfalls 
gern  erdacht:  wir  besitzen  die  Erzählungen  eines  Schiffbrüchigen: 
er  habe,  als  sein  Schiff  unterging,  sich  an  einen  Balken  geklam- 
mert, sei  an  eine  Insel  verschlagen  worden:  dort  hörte  er  von 
einer  mächtigen  Schlange  —  sie  war  dreifsig  Ellen  lang  und  hatte 
einen  zwei  Ellen  langen  Bart  — ,  er  sei  auf  der  Seeleninsel,  dort 
lebten  aufser  ihr,  der  Schlange,  noch  ihre  75  Verwandten  und 
ein  Mädchen.  In  vier  Monaten  werde  ein  Schiff  kommen  und 
ihn  abholen.     So  geschah  es,  und  die  Schlange  gab  dem  Schiff- 


1  W.  Hertz  in  seinen  Kolleläaneen  notiert  ein  ähnliches  Motiv  aus  der 
Alexandersage:  das  Pamphilische  Meer  wich  vor  Alexander  zurück  and 
liefs  ihn  mit  seinem  Heer  vorbeiziehen.  Plutarch,  ed.  Reiskc  IV,  10  1. 
Carraroli,  Leggenda  d'Atessandro  (Mandovi  92)  35.  29  !  I.  Hertz  verweist  auch 
auf  die  japanische  Sa<ie  von  Nitta,  der  zum  Gott  des  Meeres  betete,  sein 
Schwert  in  die  See  warf,  und  am  anderen  Morgen  war  das  Wasser  zurück- 
gewichen, so  dafs  er  trockenen  Fufses  nach  Kamakura  marschieren  und  s< 
Mikado  Hilfe  bringen  konnte.  —  Junker  von  Landegg,  Midxuhogusa  III.  14. 

a  Vgl.  etwa  Grimm,  K11M  29;    Ernsl   Kuhn,   Byzantinische  Zuschrift 
IV,  241,  und  oben  Archiv  CXIV,  S.   12  Anni.  2. 

3  Grimm,  KHM  116  (Das  blaue  Lichtj.    Chauvin  V,  66  f. 


6  Zur  Entstehung  des  Märchens. 

brüchigen,  als  er  zurückfuhr,  eine  Fülle  erlesenster  Geschenke.1  — 
Andere  Abenteuer,  die  des  Sinouhit,  haben  für  den  Märchen- 
forscher kaum  Interesse.  Eine  Kriegslist  des  Thutia  wäre  noch 
zu  erwähnen,  weil  sich  die  alten  Griechen  von  Troja,  die  Araber 
von  Ali  Baba  sehr  ähnliche  ersannen:  dafs  Thutia  nämlich  seine 
kühnsten  Helden  und  sich  selber,  in  Krüge  verbargen,  in  die  zu  er- 
obernde Stadt  tragen  liefsen  und  sich  dann  der  Stadt  bemächtigten.2 

Ausführlicher  als  alle  die  genannten,  aufschlufsreicher  und 
vielfältiger,  ist  das  berühmte  alte  Märchen  von  den  zwei  Brü- 
dern Anupu  und  Bitiu. 3  Sie  lebten  in  der  brüderlichsten  Ein- 
tracht, bis  die  Frau  des  älteren  nach  dem  jüngeren  Bruder  be- 
gehrlich wurde;  als  er  sich  ihr  sträubte,  verleumdete  sie  ihn,  er 
habe  sich  an  ihr  vergreifen  wollen,  und  sie  habe  ihn  mit  Mühe 
zurückgestofsen.  Anupu  glaubte  das  und  wollte  den  Bitiu  töten, 
diesen  warnte  mit  menschlicher  Stimme  seine  Kuh.  Er  floh, 
wurde  von  seinem  Bruder  verfolgt,  aber  ein  Gott,  der  sich  seiner 
erbarmte,  warf  zwischen  ihn  und  den  nachfolgenden  Bruder  einen 
Strom  voll  Krokodile.  Anupu  bereute  seine  Tat,  und  Bitiu  zog 
sich  in  das  Tal  der  Akazien  zurück,  einer  Akazienblüte  vertraute 
er  sein  Leben  an  und  sagte  zugleich  dem  älteren  Bruder,  wenn 
das  Wasser,  das  er  trinke,  sich  trübe,  so  sei  er,  Bitiu,  in  Gefahr, 
Dem  Bitiu  wurde  die  schönste  der  Frauen  geschenkt,  ihre  Locke 
trug  der  Strom  zum  Pharao,  der  berauschte  sich  an  ihrem  Duft 
und  ruhte  nicht,  bis  die  Trägerin  der  Locke  seine  Frau  wurde. 
Die  Treulose  liefs  den  Akazienbaum  fällen,  unter  dem  Bitiu 
lebte,  und  die  Blume  abschneiden,  in  der  sein  Herz  war:  dem 
Anupu  wurde  gleichzeitig  das  Wasser  trübe,  das  er  trinken  wollte. 
Er  zog  dem  Bitiu  nach  und  fand  nach  vier  Jahren  sein  Herz 
in  einer  Beere,  gab  sie  im  Wasser  dem  Bruder  zu  trinken,  und 
dieser  belebte  sich.  Er  wurde  zum  Stier,  erschien  der  treulosen 
Frau  und  warnte  sie;  sie  liefs  den  Stier  töten.  Zwei  Blutstropfen 
fielen  aus  ihm  nieder,  und  aus  diesen  entstanden  zwei  Persea- 
bäume.  Die  Frau  liefs  sie  umhauen,  da  flog  ihr  ein  Span  in  den 
Mund,  und  sie  gebar  einen  Knaben,  der  war  wieder  Bitiu,  der  die 
Mutter  tötete  und  sich  und  den  Bruder  zum  Herrscher  einsetzte. 

Man  kann  diesem  Märchen  ansehen,  dafs  es  nicht  ein  Mär- 
chen ist,  es  besteht  aus  verschiedenen  Märchen,  die  in-  und  durch- 
einander gerieten,  wobei  sie  nicht  unversehrt  blieben.  Der  Anfang 
war  wohl  ein  Märchen  für  sich  und  verlief  wie  die  Potiphar- 
geschichte  in  der  Bibel  auch:  ein  Unschuldiger  wird  vor  seinem 
Freunde  von  dessen  Frau  verleumdet  und  von  dem  erzürnten 
Gatten  verfolgt,  bis  seine  Unschuld  sich  offenbart  und  die  Schul- 

1  Vgl.  auch  Erwin  Rohde,  Der  griechische  Roman  180  Anm.  1  (-'  196). 

s  Chauvin  V,  79.  83  Anm.  3. 

3  Magere  S.  5  f.  und  XLIV  f.     Cosquin  I,  LVII  f. 


Zur  Entstehung  des  Märchens.  7 

dige  ihre  Strafe  findet.  —  Dafs  ein  Mensch  vor  einem  anderen 
flieht  und  der  Beschützer  des  Fliehenden  vor  dem  Verfolgenden 
unüberschreitbare  Hindernisse  auftürmt,  kennen  wir  als  Motiv 
aus  anderen  Märchen.1  —  Der  dritte  Bestandteil  des  ägyptischen 
Märchens  ist  dann  das  wirkliche  Brüdermärchen,  dessen  ältester 
Inhalt  wohl  dieser  war:  Zwei  Brüder  trennen  sich;  wenn  der  eine 
in  Gefahr  gerät,  soll  der  andere  helfen,  und  das  Wahrzeichen,  dafs 
das  Leben  bedroht  wird,  ist  etwa  ein  in  einen  Baum  gestecktes 
Messer,  das  rostet,  oder  eine  Pflanze,  die  verwelkt,  hier  bei  uns 
ein  Trank,  der  sich  trübt.-  Solche  Brüdermärchen  reichten,  das 
scheint  mir  wenigstens  nicht  unmöglich,3  in  die  indogermanische 
Urzeit:  es  gehört  zu  den  verbreitetsten, 4  hat  manche  Heldensage, 
des  Altertums  wie  des  Mittelalters,  entscheidend  beeinflufst  und 
umgestaltet;5  einer  der  Gewinne  aus  der  Betrachtung  der  ägyp- 
tischen Märchen  wird  für  uns  nun,  dafs  wir  für  die  Brüdermär- 
chen ein  nachweisbares  Alter  von  4000  Jahren  feststellen  können ; 
das  wirkliche  Alter  ist  natürlich  gröfser.  —  Ob  das  Märchen  von 
den  Ägyptern  und  Indogermanen  erfunden  wurde,  oder  ob  es 
von  den  Ägyptern  zu  den  Indogermanen  kam,  mufs  unentschie- 
den bleiben,  solange  wir  uns  nicht  in  das  Reich  vagester  Mög- 
lichkeiten begeben  wollen. 

Wir  kehren  nun  zur  Analyse  unseres  Märchens  zurück.  Der 
jüngere  Bruder,  Bitiu,  wird  von  seiner  Frau  betrogen,  und  sie  ver- 
läfst  ihn  um  des  Königs  willen  und  sucht  ihn  zu  vernichten.  Das 
war  wohl  auch  einmal  eine  Erzählung  für  sich,  in  ihrem  Verlauf 
der  Anfangserzählung  von  dem  älteren  Bruder  und  seiner  Frau 
recht  ähnlich,  sie  wirkt  auf  uns  wie  eine  etwas  abschwächende 
Wiederholung  der  Anfangsgeschichte.  Aber  gerade  diese  in 
künstlerischem  Sinne  nachteilige  Ähnlichkeit  wird  für  uns  ein 
Fingerzeig,  sobald  wir  die  Entstehung  des  Märchens  erkennen 
wollen:  ursprünglich  bestanden  gewifs  zwei  unabhängige  und 
selbständige  Erzählungen  von  der  Untreue  einer  Frau  an  einem 
Manne,  der  dies  nicht  verdiente.  —  Weil  die  Geschichten  ein- 
ander verwandt  waren,  gerieten  sie  auch  nahe  zusammen,  und 
ihre  Helden  wurden  zu  Menschen,  die  ebenfalls  nahe  verwandt 
sind,  zu  Brüdern.  Diese  Doppelerzählung  von  Brüdern  wurde 
dann  durch  ein  Brüdermärchen  erweitert,  und  dies  Märchen  bot 
sich  um  so  eher  dar,  als  es  eine  Art  Zusammenhang  zwischen 
den  beiden  Geschichten  von  der  treulosen  Frau  schaffen  konnte: 
der  eine  Bruder,  der  sich  schuldig  machte,  weil  er  an  die  Schuld 

1  Oben  Archiv  CX1II,  266  Anm.  4. 

2  Cosquin  LXV.    Chauvin  V,  87  Anm.   1. 

3  Vgl.  auch  Kretschmer,   Einleitimg  in  die  Geschichte  der  griechischen 
Sprache,  Göttingen  1896,  S.  85  Anm.  1. 

4  Sydney  Hartland,  Legend  of  Perseus  I,  28  I. 

5  Voretzsch,  Epische  Studien  349. 


8  Zur  Entstehung  des  Märchens. 

des  anderen  so  leicht  glaubte,  und  weil  er  ihn  verfolgte,  machte 
nun  diese  Schuld  wieder  gut,  indem  er  die  Rache  für  das  Un- 
recht, das  dem  Bruder  dessen  Frau  angetan,  erst  ermöglichte. 

Die  Fortsetzung  unseres  Märchens  sagt  nun,  dafs  das  Herz 
des  Bruders  zuerst  in  einer  Akazienblüte,  dann  in  einer  Beere 
war,  dafs  er  sich  darauf  in  einen  Stier  verwandelte;  in  zwei 
Blutstropfen,  die  dieser  vergofs,  war  wieder  seine  Seele,  sie  ver- 
barg  sich  nunmehr  in  Perseabäume  und  in  einen  ihrer  Späne.  — 
Wir  müssen  uns  hier  besinnen,  dafs  bei  den  Naturvölkern  viele 
Vorstellungen  von  der  Erscheinung  und  dem  Aufenthaltsort 
der  Seele  nebeneinander  lebten,  ohne  sich  zu  stören,  oder 
ohne  dafs  die  eine  als  Widerspruch  gegen  die  andere  empfun- 
den wurde.  Es  hiefs:  die  Seele  lebt  im  Blute,  sie  kann  in 
eine  Pflanze  schlüpfen,  sie  kann  auch  in  einen  Tierleib  ver- 
schwinden usw.  Verwandelt  man  dies  Nebeneinander  in  ein 
Nacheinander,  so  ist  sofort  ein  Märchen  fertig,  eben  ein  Mär- 
ehen unserer  Art:  die  Seele  eines  Menschen  verbirgt  sich  in 
einen  Baum,  verwandelt  sich  dann  in  einen  Stier  usw.  Solch  ein 
Märchen  lebte  gewifs  einmal  allein  und  für  sich,  das  kann  man 
mit  Sicherheit  daraus  schliefsen,  dafs  auch  heute  noch,  in  Serbien, 
Ungarn,  Rufsland,  Griechenland,  Deutschland  und  Frankreich, 
ganz  ähnliche  Märchen  für  sich  bestehen. '  Ein  walachisches  z.  B. 
weifs  von  zwei  Kindern,  die  eine  Stiefmutter  tötet,  und  deren 
Seelen  in  zwei  Apfelbäumen  emporwachsen,  dann  in  zwei  Lämmer 
und  schliefslich  wieder  in  zwei  goldene  Knaben  übergehen.  Man 
mufs  nur  hier  wieder  nicht  annehmen,  dafs  unsere  gegenwärtigen 
abendländischen  Märchen  von  den  ägyptischen  abhängen,  man 
mufs  vielmehr  der  Gegenwart  dasselbe  Vermögen  zutrauen  wie 
den  alten  Ägyptern,  dafs  sie  imstande  sind,  ein  Nebeneinander 
von  Vorstellungen  in  ein  Nacheinander  umzusetzen.2  Ganz 
Verwandtes  läfst  sich,  wie  ich  bei  anderer  Gelegenheit  zeigte,3  bei 
den  Märchen  und  Mythen  vom  Wasser  des  Lebens  beobachten: 
verschiedene   Berichte   von   der   Herkunft   des    Wassers    wurden 


1  Cosquin  LIX  f.     Erwin  Rohde,  Der  griechische  Roman  158  Anm.  2. 

2  Es  kann  aus  dem  Nebeneinander  auch  ein  Ineinander  wer- 
den :  z.  B.  das  von  uns  schon  berührte  Märchen  (Archiv  CXIV,  S.  5 
Anm.  3)  von  der  Seele  des  Riesen  sagt  aus,  diese  Seele  sei  in  einem  Ei, 
dies  in  einem  Vogel,  der  Vogel  wieder  in  einem  Ochsen  versteckt  ge- 
wesen. Ich  verweise  hier  mit  Erwin  Rohde  a.  a.  0.  auf  ein  analoges 
Motiv  in  einer  späteren  ägyptischen  Erzählung  (Maspero  S.  177):  ein 
Zauberbuch  liegt  in  einer  Kiste  von  Eisen,  diese  in  einer  von  Kupfer,  diese 
in  einer  von  Maulbeerbaumholz,  diese  in  einer  von  Elfenbein  und  Eben- 
holz, diese  in  einer  von  Silber  und  diese  in  einer  von  Gold,  und  um  das 
Ganze  windet  sich  eine  unsterbliche  Schlange.  Solches  Einschachtelungs- 
raffinemeut  ist  wohl  vor  allem  orientalische  Liebhaberei.  —  Vgl.  auch 
Grilfith,  Stories  oftke  High  Priests  oj  Memphis  etc.,  Oxford  1900,  S.  21.  63. 
Dazu  Maspero,  Journal  des  Savants,  aoüt  1901. 

3  Germanist.  Abhandlungen  für  Paul  S.  146  f. 


Zur  Entstehung  des  Märchens.  9 

nebeneinander  erzählt:  die  einen  sagten,  es  sei  in  Töpfen  oder 
Flaschen  verborgen,  die  anderen,  ein  Wassertier  habe  es  ver- 
schluckt und  wolle  es  nicht  hergeben,  die  dritten,  es  sei  in  Bergen 
versteckt,  die  vierten,  man  müsse  es  aus  dem  Himmel  holen: 
reiht  man  einige  dieser  Motive  nacheinander  auf,  so  ergibt  sich 
das  Märchen:  ein  Held  wandert,  unter  vieler  Mühsal  und  Ge- 
fahr, zu  dem  Wasser,  das  im  Berge  verborgen  wird,  er  spaltet 
den  Berg,  findet  das  Wasser  in  Flaschen  oder  Töpfen,  ver- 
schluckt es  und  gibt  es  nachher  wieder  von  sich. 

Nun  begeben  wir  uns  noch  einmal  zu  unserem  Brüdermär- 
chen selbst:  sein  Motiv  am  Schlufs,  die  wunderbare  Geburt  des 
Helden  (aus  einem  Span,  den  die  Mutter  verschluckt), '  hat  sich 
das  Märchen  gern,  ebenso  oder  ähnlich,  erdacht.  Am  ähnlichsten 
unserem  Märchen  ist  seltsamerweise  ein  Motiv  aus  einer  Ge- 
schichte der  nordamerikanischen  Tlinkits. 2  Ich  erwähne  dies 
Motiv  gerade  hier,  weil  die  Brüdermärchen  gern  damit  beginnen 
und  es  in  unserem  ägyptischen  Märchen  wohl  auch  zu  dem  eigent- 
lichen Brüdermärchen  gehörte,  aber  von  seiner  ihm  gebührenden 
Stelle  fortgeriet. 

Über  ein  letztes  Motiv  habe  ich  schon  früher  gesprochen : 3 
dafs  den  König  ein  unbezwingliches  Verlangen  nach  der  Frau 
erfafst,  sobald  er  eine  Locke  von  ihr  besitzt.  Er  hatte  eben  mit 
ihrer  Locke  einen  Teil  ihrer  Seele,  und  darum  mufste  die  Trägerin 
der  Locke  ihm  gehören.  Das  ist  ja  die  Anschauung,  der  unser 
Motiv  entsprang.  Etwas  sehr  Ähnliches  geschieht  —  ich  erlaube 
mir  nochmals  darauf  hinzuweisen  —  in  einer  späteren  ägyptischen 
Erzählung:  einem  König  wirft  ein  Adler  den  Schuh  eines  Mäd- 
chens in  den  Schofs,  und  er  kann  nun  von  diesem  Mädchen  nicht 
lassen.  —  Im  Mittelalter  wurde  seltsamerweise  fast  dasselbe  Motiv 
wie  das  alte  ägyptische  durch  die  Tristansage  berühmt:4  zwei 
Schwalben  liefsen  ein  Frauenhaar  vor  König  Marke  fallen,  und 
nun  konnte  er  nicht  ruhen,  bevor  er  Isolde,  der  dies  Haar  ge- 
hörte, sein  eigen  nannte. 

Das  ägyptische  Märchen  führt  uns  also  von  vielen  Seiten 
in  die  bunte  Welt  der  Märchenmotive,  und  es  schenkt  uns  auch 
einen  Einblick  in  das  Werden  des  Märchens.  Es  gibt  uns,  in 
unserer  Untersuchung  das  erste  Mal,  eine  Anschauung,  wie  ein 
Märchen  sich  aus  verschiedenen  Motiven  und  Bestandteilen  zu- 
sammensetzt. Verwandte  Geschichten  nähern  sich,  eine  Geschichte 
von  Verwandten  tritt  dazu,  und  diese  Vielheit  hat  das  Bestreben, 
immer  vielfältiger  zu  werden;    die    alten,   längst  bekannten  Vor- 

1  Vgl.  bes.  Sidney  Hartland,  Legend  of  Perseus  I,  Tl  f. 

2  Aurel  Krause,  Die  Tlinkit-Indianer  261. 

3  Oben  Archiv  CXIV,  S.  10  Amn.  ]  ;  dazu  Cosquin  LXVI.     Reinhold 
Köhler  I,  511.   II.  328. 

4  Reinhold  Köhler,  Kl.  Schriften  II,  328. 


10  Zur  Entstehung  des  Märchens. 

Stellungen  von  der  Seele,  lose  aneinandergefügt,  setzen  das  Mär- 
chen fort.  Es  sind  die  Motive  des  Märchens  ausnahmslos  alt 
und  primitiv,  in  ihrer  Zusammensetzung  unbeholfen  und  kunst- 
los, ohne  rechten  Anfang  und  ohne  rechtes  Ende,  die  Erzählungs- 
kunst erhebt  sich  nicht  viel  über  die  Kunst  der  sogenannten 
Naturvölker.  Was  aus  der  ersten  schuldigen  Frau  wird,  hören 
wir  gar  nicht;  weshalb  sich  der  Bruder  so  vielfältig  verwandelt, 
und  warum  er  nicht  gleich  seine  Rache  nimmt,  wird  uns  ebenso- 
wenig aufgeklärt,  und  aufser  diesen  Defekten  könnte  man  noch 
manchen  anderen  nennen.  Aber  gerade  dies  Zwecklose  und  Un- 
verständige wirkt  auf  uns  als  echt  märchenhaft  und  ist  ja  auch 
Freude  am  Erzählen  um  des  Erzählens  willen.  Man  wird  aufser- 
dem  zugestehen,  dafs  ein  Gedanke,  den  wir  einen  sittlichen  nennen 
würden,  trotz  allem  zur  Geltung  kommt:  dafs  der  Schuldige  seiner 
Strafe  nicht  entgeht,  dafs  sie  in  vielfältiger  Verwandlung  ihn 
immer  von  neuem  bedroht,  und  dafs  den  Gerechten  die  Götter 
schützen. 

Sie  schützen  aber  mit  derselben  Kraft  den  verschlagenen 
und  rücksichtslosen  Räuber.  Denn  das  bleibt  doch  der  Sinn  des 
Märchens  vom  Meisterdieb.1  Herodot  erzählt  diese,  von  den 
Griechen  auch  an  anderer  Stelle  erwähnte  Geschichte  als  ägyp- 
tisches Märchen,  und  es  liegt  kaum  ein  Grund  vor,  ihre  ägyp- 
tische Herkunft  zu  bezweifeln.  Zwei  Diebe,  Vater  und  Sohn, 
bestehlen  das  Schatzhaus  des  Königs,  das  der  Vater  selbst  er- 
baute; er  hat  in  der  Mauer  einen  Stein  locker  eingesetzt,  diesen 
nimmt  er  jedesmal  heraus  und  setzt  ihn  nach  vollbrachtem  Dieb- 
stahl wieder  ein.  Als  die  beiden  ertappt  werden,  schlägt  der 
Sohn  dem  Vater  den  Kopf  ab,  der  Rumpf  wird  ausgestellt,  der 
Dieb  stiehlt  ihn  den  Wächtern,  nachdem  er  sie  zuerst  betrunken 
machte  und  ihnen  den  Kopf  schor.  Der  König  befiehlt,  seiner 
Tochter  solle  jeder  seinen  verwegensten  Streich  erzählen,  der  Dieb 
berichtet  von  seiner  Tat,  als  man  aber  nach  ihm  greifen  will, 
läfst  er  der  Prinzessin  die  tote  Hand  seines  Vaters.  Nun  ver- 
spricht man  ihm  sie  selbst,  und  er  erhält  sie  wirklich  zur  Frau 
und  wird  zum  Lohn  für  seine  kühnen  Streiche   gar   noch  Prinz. 

Dies  Märchen  lebt  noch  heute  in  Europa  als  gern  gehörtes 
Volksmärchen  und  weicht  von  dem  alten  Märchen  bei  Herodot 
nur  in  Einzelheiten  ab.2  Nun  ist  merkwürdig,  dafs  in  einem 
Motiv  alle  diese  Märchen  sich  gleich  sind  und  gegen  Herodot 
übereinstimmen:  nachdem  nämlich  der  Dieb  den  Leichnam  ge- 
stohlen, zeigt  der  König  seine  Tochter  allem  Volke,  in  der  Mei- 
nung,  nur  der  Kühnste,   eben   der  Dieb,   werde  ihr  nahen:   und 

1  Alfred  Wiedemann,  Das  vweite  Buch  des  Herodot  447  f. 

2  Reinhold  Köhler,  A7.  Schriften  I,  198  f.  —  Ralston,  Tibetan  Tales, 
derived  from  Indian  Sources  S.  XL VII,  S.  87.  43.  —  Somadeva,  übersetzt 
von  Tawney  II,  93. 


Zur  Entstehung  des  Märchens.  11 

so  geschieht  es.  Dem  Dieb  wird  nun  ein  Strich  oder  sonst  ein 
Merkmal  beigebracht,  aber  er  wird  dessen  gewahr  und  bringt 
das  gleiche  Merkmal  allen  anderen  Anwesenden  ebenfalls  bei,  so 
dafs  er  wieder  nicht  aus  den  anderen  heraus  erkannt  werden 
kann.  Darauf  erhält  er  dann  des  Königs  Tochter.  Es  sind  nun 
zwei  Annahmen  möglich:  die  erste  wäre  die,  dafs  die  Form  bei 
Herodot  das  Ursprüngliche  bietet  und  das  'Strichmotiv'  später 
in  unser  Märchen  geriet.  Es  taucht  ja  auch  in  anderem,  wenn 
auch  ähnlichem  Zusammenhang  auf:  man  denke  nur  an  die 
Sage  bei  Paulus  Diaconus,  von  dem  kühnen  Liebhaber,  der  sich 
die  Gunst  seiner  Königin  erschlich  und  in  ihr  Gemach  drang, 
nachdem  er  das  zwischen  ihr  und  dem  Gemahl  verabredete  Er- 
kennungszeichen nachahmte : *  der  König,  der  nach  ihm  kommt, 
merkt,  dafs  jemand  bei  seiner  Frau  war,  begibt  sich  unter  das 
schlafende  Gefolge  und  erkennt  den  Übeltäter  am  klopfenden 
Herzen;  er  schneidet  ihm  die  Locke  ab,  aber  der  Verwegene 
trennt  auch  allen  seinen  schlafenden  Genossen  die  Locke  vom 
Haupte  und  wird  schliefslich,  da  man  ihn  nicht  herausfinden 
kann,  auch  nicht  bestraft.'2  —  Es  ist  jedoch  zu  bedenken,  dafs 
alle  europäischen  Varianten  das  Strichmotiv  kennen,  während  es 
nur  bei  Herodot  fehlt,  und  dadurch  wird  die  zweite  Annahme 
wahrscheinlicher,  dafs  die  Geschichte  schon  vor  Herodot  in  der 
Form  erzählt  wurde,  in  der  sie  noch  heute  besteht,  und  dafs 
Herodot  oder  sein  Gewährsmann  diese  Form  änderte.  Ein  sol- 
cher Vorgang  wäre  nichts  Ungewöhnliches,  in  der  Edda  z.  B. 
erscheinen  Märchenmotive  viel  gewaltsamer  umgestaltet  und  ge- 
ändert als  im  gegenwärtigen  Volksmärchen.  —  Das  Märchen  vom 
Meisterdieb  kam  auch  nach  Indien,  wurde  dort  erweitert,  und 
diese  Erweiterung  blieb  nicht  ohne  Rückwirkung  auf  einige  euro- 
päische Varianten:  darüber  nachher. 

Dies  Märchen  hat  nun  einen  wirkungsvollen  Abschlufs  und 
steigert  auch  die  Taten  des  Diebes  nicht  ohne  Geschick:  auch 
aus  diesem  Grunde,  nicht  allein  wegen  der  überkühuen  Diebes- 
taten, die  es  vermeldet,  behauptete  es  sich  durch  die  Jahrhun- 
derte. Es  stammt  gewifs  aus  einer  Periode  der  Erzählungskunst, 
die  der  früheren,  in  der  das  Brüdermärchen  sich  zusammensetzte, 
weit  überlegen  war. 

Wir  beklagen  jetzt,  nachdem  uns  die  wenigen  erhaltenen  ägyp- 
tischen Märchen  recht  deutlich  gezeigt,  wieviel  Verwandtschaft  «ur- 
alte Märchen  mit  unseren  gegenwärtigen  hat,  und  wie  tief  es  uns 
in  die  Erkenntnis  der  Märchen  führt,  um  so  lebhafter  den  Verlust 
der  vielen  anderen  Märchen.    Es  hat  sich  uns  —  ich  wiederhole 


1  Erwin  Rohde,  Kleine  Schrillen  II,  193. 

2  Agilulf  und  Theudelind,  Grimm,  DS  104;  vgl.  auch  KHM  LH 
blaue  Licht).     Chauvin  V,  83  Anni.  2. 


12  Zur  Entstehung  des  Märchens. 

das  mit  einer  gewissen  Pedanterie,  denn  diese  Tatsache  ist  für 
unsere  späteren  Beobachtungen  grundlegend  —  zu  wiederholten 
Malen  bestätigt,  dafs  diese  Märchen,  sofern  ihnen  nicht  einfache 
Erlebnisse  zugrunde  liegen,  aus  Vorstellungen  primitiver  Völker 
hervorgehen.  Diese  Vorstellungen  sind  die  Märchenmotive,  oder 
sie  erzeugen  diese.  Und  die  Motive  werden  verdoppelt,  ähnliche 
verbinden  sich;  solche  Zusammensetzung  ist  dann  ein  Märchen. 
Die  Handlung  schreitet  nicht  geradeaus  fort,  besinnt  sich  auch 
nicht  immer  auf  das  Vorher  und  Nachher;  aber  wir  beobachteten, 
dafs  der  Darstellung  beherrschende  Ideen  zugrunde  liegen,  und  dafs 
später  kühne  und  wirksame  Motive  geschickt  gesteigert  werden. 

Von  den  Erzählungen  der  Bibel  sind  manche  aus  Babylon, 
manche  aus  Ägypten  herübergenommen  und  veredelt.  Die  be- 
rühmteste biblische  Sage  babylonischer  Herkunft,  die  Sintflut- 
sage, hat  nur  wenige  Berührungen  mit  dem  Märchen.  Die  Sage 
vom  Paradiese  stammt  vielleicht  auch  aus  Babylon,  persische  und 
griechische  Mythen  stehen,  um  das  zu  wiederholen,  ihrem  Inhalt 
recht  nahe,1  und  die  Vermutung,  dafs  alle  diese  Sagen  aus  Träu- 
men sich  bildeten,  kann  man  wenigstens  nicht  ausschliefsen.2  Die 
Heimat  der  meisten  Geschichten  von  Jakob  und  Joseph  war  gewifs 
Ägypten.  —  Anklänge  an  das  Märchen  lassen  sich  hier  wieder 
leicht  herausfühlen:  dafs  eine  Frau  lange  Zeit  unfruchtbar  bleibt 
und  ihr  dann  ein  Trank  oder  Apfel  oder  andere  Früchte  die 
ersehnte  Fruchtbarkeit  schenken,  von  diesem  beliebten  Motiv  gibt 
uns  die  Bibel  in  ihrer  Erzählung  von  Rahel  das  erste  Beispiel.3 
Der  Anfang  der  Geschichte  von  Joseph  ist  wieder  ein  Brüder- 
märchen, freilich  nur  in  Umrissen,  kein  ausgeführtes.4  Das  ägyp- 
tische Märchen  zeigt  die  treuen,  das  biblische  die  treulosen  Brü- 
der, die  Frauen  in  den  Märchen  beider  Länder  erscheinen  als 
treulos,  hier  in  unserer  Josephgeschichte  und  offenbarer  und  ab- 
scheulicher noch  in  der  Geschichte  von  Simson.  Zu  den  Erleb- 
nissen der  Wirklichkeit,  die  das  Märchen  in  sich  aufnahm,  steigerte 
und  verbreitete,  gehörten  also  aufser  den  früher  genannten  die 
Geschichten  von  treulosen  und  treuen  Brüdern  und  von  treulosen 
Frauen.  —  Joseph  wird  von  seinen  neidischen  Brüdern,  weil  der 
Vater  ihn  mehr  liebt  als  sie,  verleumdet,  mifshandelt  und  als 
Sklave  verkauft,  dem  Vater  sagen  die  Brüder,  wilde  Tiere  hätten 

1  Vgl.  jetzt  noch  Hermann  Gunkel,  Deutsche  Rundschau  Januar  1905. 

-  Vgl.  auch  nochmals  Eoscher,  Ephialtes  38;  oben  Archiv  CXIII,  261. 

1  Vgl.  Sidney  Hartland  a.  a.  O.  71  f.;  W.  Hertz,  Gesammelte  Abhand- 
lungen 275 ;  Hermann  Gunkel,  Genesis  298  f. 

4  Die  Geschichte  von  Joseph  wird  in  manchen  Märchensammlungen 
als  Märchen  erzählt,  vgl.  z.  B.  Laura  Gonzenbach,  Sixilianische  Märchen 
Nr.  89.  91.  —  Prym  und  Socin,  Der  neuaramäische  Dialekt  von  Tür' Ahdht, 
Hattingen  1881,  I,  XIX.  II,  26.  —  Traumdeutungen,  die  denen  des  Joseph 
vergleichbar  sind,  in  den  Jütaka,  übers,  v.  Cowell,  Nr.  77. 


Zur  Entstehung  des  Märchens.  13 

ihn  zerrissen:  gerade  dieser  Joseph  aber  kommt  zu  den  gröfsten 
Ehren,  beschämt  seine  Brüder  und  verzeiht  ihnen  grofsmütig. 
Dieser  Kontrast  zwischen  den  älteren,  verlogenen  und  heimtücki- 
schen und  doch  erfolglosen,  und  dem  jüngsten,  mifshandelten, 
hochsinnigen  und  erfolgreichen  Bruder  bleibt  das  Grundmotiv  in 
allen  späteren  Märchen  von  treulosen  Brüdern  und  Genossen. 
Der  Verlauf  und  das  Ende  dieser  Märchen  ist  nicht  so  freund- 
lich wie  der  unserer  Josephgeschichte:  die  Genossen  und  Brüder 
des  Märchens  wollen,  trotzdem  ihnen  verziehen,  nicht  von  ihrer 
Heimtücke  lassen,  sie  verleumden  den  jüngsten  von  neuem  oder 
schaffen  ihn  ganz  beiseite,  und  erst  ein  wundertätiges  Wirken 
des  Schicksals  enthüllt  Schuld  und  Unschuld,  belohnt  den  Ge- 
rechten und  straft  die  Bösewichter.1 

Joseph,  erzählt  uns  die  Bibel  weiter,  erfreut  sich  der  beson- 
deren Gunst  des  Königs;  weil  das  nach  ihm  lüsterne  Weib  des 
Potiphar,  dessen  Werben  er  zurückweist,  ihn  verleumdet,  wirft  man 
ihn  in  den  Kerker;  später  gerät  der  König  inieine  schwere  Lage, 
aus  der  ihm  keiner  seiner  Räte  zu  helfen  weifs;  nun  erinnert  er 
sich  seines  früheren  klugen  Beraters,  der,  wie  er  glaubt,  verurteilt 
und  getötet  ist.  Er  hört,  dieser  lebe  noch,  aber  schmachte  im 
Kerker:  darauf  läfst  der  Pharao  ihn  sofort  befreien,  schenkt  ihm 
die  alte  Stellung  wieder,  hört  seinen  Rat,  rettet  dadurch  das 
Land  und  überhäuft  ihn  mit  neuen  Ehren. 

Solche  Schicksale  werden  einem  treuen  Fürstendiener  öfter 
beschieden  sein,  dem  ersten  Blick  zeigen  sie  kaum  etwas  Beson- 
deres. Wer  näher  zusieht,  erkennt,  dafs  sie  viele  und  immanente 
Schäden  orientalischen  Staatslebens  sozusagen  auf  eine  kurze,  er- 
schöpfende Formel  bringen,  die  das  Leben  dann  immer  neu  be- 
weist. Die  Willkür  und  die  Launen  des  orientalischen  Despoten, 
der  jähe  Wechsel  der  Fürstengunst,  die  Verleumdung  und  Intrige 
am  königlichen  Hofe,  die  heimliche  Eigenmacht  dieser,  die  Klug- 
heit und  Bedeutung  jeuer  Diener,  das  Hilflose  und  die  Ohnmacht 
des  Herrschers,  sobald  er  sich  selbst  helfen  und  selbst  handeln 
soll:  all  dies  zeigt  die  kurze  Geschichte  in  scharfer  und  heller 
Beleuchtung,  und  darum  ist  sie  sehr  oft  erzählt  worden.  In  der 
Bibel  selbst  noch  einmal  —  das  Buch  Tobias  spielt  darauf  an  — 
vom  weisen  Heikar,  und  im  Indischen  gleichfalls,  in  einer  Samm- 
lung, die  sich  auch  über  die  ganze  Welt  verbreitete,  in  der  Cuka- 
saptati.  Ihre  Betrachtung  werden  wir  also  fortsetzen,  wenn  wir 
beim  Indischen  angelangt  sind. 

Wenn  im  Märchen  ein  Mann  einem  Geist  oder  dem  Teufel, 
zum  Lohn,   dafs  er  ihm  geholfen,   das  erste  verspricht,    was  ihm 

'  Zum  Märchen  vom  'Jüngsten  Bruder'  vgl.  noch  Hermann  üsener, 
Rhein.  Museum  N.  F.  58  (1903),  S.  8.  329,  zu  den  'Treulosen  Brüdern' 
Et.  Köhler,  KL  Schriften  I,  292.  537.  543;  Cosquiu  I,  212  f.  9  f. 


14  Zur  Entstellung  des  Märchens. 

begegnet,  und  ihm  begegnet  dann  sein  Kind,  so  denken  wir 
sofort  an  die  Bibel,  denn  dies  Motiv  erscheint  dort  als  das 
Gelübde  Jephthas.1  —  Oder  wenn,  namentlich  im  nordischen 
Märchen,  eine  Verfolgte  ruft:  'Hinter  mir  Nacht  und  vor  mir 
Tag'  und  sich  hinter  ihr  dichte  Nebel  zusammenballen,  in  denen 
sich  ihre  Verfolger  verlieren,  sie  aber  entkommt  in  hellem 
Tag,-  so  wiederholt  sich  die  Sage  vom  Durchzug  der  Kinder 
Israels  durchs  Rote  Meer.  —  Und  man  wird  in  diesen  Fällen 
und  ähnlichen,  etwa  bei  der  Geschichte  von  Moses'  Aussetzung, 
es  für  das  Wahrscheinliche  halten,  dafs  die  Wirkungen  der  Bibel 
bis  in  unser  Märchen  hineinreichen.  Für  uns  bleibt  die  Haupt- 
sache, dafs  diese  Motive  als  märchenhaft  empfunden  werden,  und 
man  darf  sich  nicht  gegen  die  Möglichkeit  sträuben,  dafs  die 
Bibel  sie  ihrerseits  alten  Märchen  entnahm. 

Moses  ist  dumpf  und  stumpf  in  der  Jugend,  und  er,  von 
dem  es  die  wenigsten  glaubten,  wird  später  der  Führer  seines 
Volkes:  die  germanische  Sage  schildert  uns  ihre  Helden  gern 
ebenso,  und  im  Märchen  löst  der  verachtete  DummHng  alle  Auf- 
gaben und  verrichtet  alle  Heldentaten,  an  denen  seine  klügeren 
und  stärkeren  Brüder  scheitern.  —  Für  die  Zaubertaten  des  Moses : 
dafs  er  Wasser  aus  dem  Felsen  schlägt,  dafs  er  einen  Stab  in 
eine  Schlange  verwandelt  und  mit  ägyptischen  Zauberern  Wett- 
kämpfe besteht,   bieten  Sage  und  Märchen  gleichfalls  Parallelen. 

Simsons  Schicksale:  seine  Kraft  liegt  in  seinen  Haaren,3 
sein  Weib  lauscht  ihm  dies  Geheimnis  ab,  fesselt  ihn  verräterisch 
und  überliefert  den  Kraftlosen  seinen  Feinden,  leben  seltsamerweise 
auch  in  Indien  als  Märchen.  Ein  bei  den  Slawen  und  im  Nor- 
den verbreitetes  Märchen  von  der  treulosen  Schwester  oder  Mutter 
des  Starken 4  hat  mit  der  Sage  von  Simson  auch  auffallende  Ver- 
wandtschaft. —  Die  Geschichte  vom  Kampf  Davids  mit  Goliath 
ist  wohl  kaum  etwas  anderes  als  eins  der  vielen  hübschen  Mär- 
chen vom  Wettkampf  eines  klugen,  kecken  und  schwachen  Mensch- 
leins mit  einem  grofsen,  ungefügen,  dummen  Riesen,  in  dem  der 
Riese  trotz  seiner  ungeheuren  Stärke  der  Klugheit  des  Mensch- 
leins unterliegt. 

Salomo  bleibt,  wie  man  weifs,   die  für  den  Märchenforscher 


1  Vgl.  etwa  Grimm,  KHM  Nr.  88,  mit  Anmerkungen;  Chauvin  V,  176 
Anm.  1,  und  Cosquin  Nr.  63  (II,  215  f.);  auch  Grundtvig,  Oamle  Danske 
Minder  II,  49.  Wilhelm  Hertz  in  seinen  Kollektaneen  verweist  auf  Servius 
zu  JEneis  III,  121:  Idomeneus  gelobt  in  einem  Sturm  dem  Poseidon  zu 
opfern,  was  bei  der  Landung  ihm  zuerst  entgegenkomme,  und  ihm  be- 
gegnet sein  Sohn.  —  Ahnliche  Sage  bei  Pseudo-Plutarch,  Plutarch  ed.  Reiske 
X,  744,  und  in  China:  Journal  Asiatique  VI,  159. 

2  Z.  B.  Grundtvig  a.  a.  O.  II,  30  und  in  anderen  Märchen  des  Allerlei- 
rauh-Tvpus,  vgl.  oben  S.  5  Anm.  1  und  Bd.  CXIII,  S.  268  Anm.  2. 

3  Archiv  CXIV,  S.  8  Anm.  3.     Frazer  III,  352  Anm.  1.  390. 

4  von  der  Leyen,  Märchen  in  Edda  28.  29. 


Zur  Entstehung  des  Märchens.  15 

merkwürdigste  und  auch  rätselhafteste  Gestalt  der  Bibel.  Die 
Geschichten  von  seiner  Macht  und  seinem  Glanz,  seiner  Zauber- 
gewalt und  Herrschaft  über  die  Geister  haben  später  die  Araber, 
die  Geschichten  von  seinen  dämonischen  Kräften  und  Helfern 
und  seinem  Trotz  gegen  Gott  hat  die  spätere  Literatur  der  Juden 
verbreitet.  Und  durch  diese  fabelhaften  Kunden  von  Salomo 
wurde  die  Dichtung  und  Phantasie  des  ganzen  Mittelalters  be- 
fruchtet. —  Oft  erscheint  Salomo  als  Richter  und  Rätsellöser 
von  unübertrefflicher  Weisheit,  und  da  bleibt  nun  höchst  selt- 
sam, dafs  gerade  die  Inder  ganz  ähnliche  oder  sogar  dieselben 
Weisheitsproben  und  -sagen  von  ihren  Weisen  mitteilen.  Welches 
Volk  hier  das  andere  beeinflufste,  wissen  wir  nicht;  mir  scheint 
aber  —  warum,  habe  ich  später  zu  begründen  — ,  dafs  hier  die 
Juden  die  Gebenden,  die  Inder  die  Nehmenden  waren. 

Ich  erwähne  von  den  Übereinstimmungen  zuerst  die,  die  mit 
Recht  die  Forscher  am  stärksten  überraschte:  das  weise  Urteil 
des  Salomo  zwischen  zwei  Müttern,  die  jede  dasselbe  eine  Kind 
als  das  ihre  beanspruchten;  dies  gleiche  Urteil  überträgt  eine  alte 
buddhistische  Legende  auf  Buddha.1 

In  einer  späteren  Legende  soll  Salomo  auf  Wunsch  der 
Königin  von  Saba  Mädchen  und  Knaben,  die  beide  ganz  gleich 
gekleidet  sind,  voneinander  unterscheiden.'-  Die  Inder  verlangen, 
dafs  ein  Kluger  von  zwei  ganz  gleichen  Pferden  aussage,  welches 
die  Mutterstute  und  welches  das  Fohlen  sei.3  Der  Thron  des 
Salomo  war  nach  jüdischer  Legende  von  märchenhafter  Pracht 
und  entdeckte  das  Unrecht  und  verwehrte  dem  Unwürdigen  den 
Zutritt.  Die  Inder  erzählten  von  einem  solchen  Thron,  den  man 
ausgrub,  gleich  einen  ganzen  Zyklus  von  Geschichten,  in  dem 
sich  der  Scharfsinn  des  Königs  offenbarte,  dem  dieser  Thron 
früher  zu  eigen  war.4 

Das  sind  alles  kurze  Hinweise,  und  es  wäre  nicht  zu  schwer, 
auch  diese  noch  wesentlich  zu  vermehren.  Doch  mufs  die  gründ- 
liche Behandlung  dieser  Probleme  Berufeneren  überlassen  bleiben. 
Für  uns  genügt  die  Erkenntnis,  dafs  die  Bibel  auch  für  den 
Märchenforscher  eine  reiche  Fundgrube  ist.  Was  sie  uns  bietet, 
sind  einzelne  Motive  oder  die  Anfänge  und  Grundrisse  zu  Mär- 
chen :  so  ausführliche  und  zusammengesetzte  Märchen  wie  bei  den 
Ägyptern  entdecken  wir  hier  nicht.  Für  den  gelehrten  Theo- 
logen, der  die  Entstehung  und  Zusammensetzung  der  Bibel  er- 
kennen will,  wird  der  Nachweis  von  Märchenmotiven  darin  viel- 

1  Oldenberg,  Literatur  des  alten  Indien  S.  IM.  291  (Gaidoz,  Melusine 
Bd.  IV,  17). 

2  Wilhelm  Hertz,  Gesammelte  Abhandlungen  41/    f. 

3  Culcasaptati,  übers,  v.  Richard  Schmidt,  t.  s.  48  t.  o.  58. 

4  Albrecht  Weber,  Über  die  Sinhäscma  dvätrmcilcä,  Indisch  Studien 
XV,  185  f. 


16  Zur  Entstehung  des  Märchens. 

leicht  von  grösserer  Bedeutung  werden  als  für  den  Märchenfor- 
scher, die  vergleichende  Märchenkunde  wird  ihm  möglicherweise 
ganz  neue  Aufschlüsse  und  Erleuchtungen  schenken  und  ihn  in 
Zeiten  und  Schichten  führen,  die  älter  sind  als  alle,  bis  zu  denen 
er  bisher  vordrang. 

Die  Odyssee  wurde  von  mir  das  alte  Märchenbuch  der 
Griechen  genannt.  Denn  wir  haben  aus  ihr  eine  Fülle  von  Mär- 
chenmotiven herausgehoben :  die  Geschichten  von  Tantalos,  Sisy- 
phos,  den  Danaiden  deuteten  wir  als  Traummärchen,  und  auch 
die  rührende  Geschichte  von  Odysseus'  Erwachen  bei  den  Phäaken 
scheint  aus  einem  Traum  emporgeblüht. x  Ein  andere  Gruppe 
von  Märchen  darf  man  als  Zaubermärchen  bezeichnen,  z.  B.  das 
oben  berührte  Märchen  von  Proteus2  und  ebenso  das  von  der 
Kirke,  die,  wie  die  Zauberinnen  im  Märchen  so  oft  —  es  sei 
nur  auf  das  Brüdermärchen  verwiesen 3  — ,  die  Menschen  in  Tiere 
verwandelt,  bis  auf  einen,  den  die  Götter  schützen,  vor  dem  ihre 
Kunst  machtlos  wird,  und  auf  dessen  Drohungen  sie  auch  den 
verwandelten  Tieren  die  menschliche  Gestalt  zurückgeben  mufs. 
Wie  die  Kirke  den  Odysseus,  so  schickt  im  Märchen  oft  eine 
böse  Zauberin  ein  Mädchen  oder  ein  furchtsamer  und  heimtücki- 
scher König  einen  Helden  in  die  Unterwelt,  ursprünglich,  um 
ihn  zu  vernichten:  die  nächsten  Beispiele  bieten  die  antiken  Sagen 
von  Herakles  und  Theseus  und  das  Märchen  von  Eros  und  Psyche. 

Für  wieder  andere  Märchen  bei  Homer  ist  Reisemärchen  der 
zutreffendste  Name.  Man  hat  seit  langem  erkannt,  dafs  diesen 
Reisemärchen  sich  die  Märchen  namentlich  orientalischer  Völker 
vergleichen:  die  Fahrt  des  Odysseus  zu  den  Phäaken  und  seine 
Erlebnisse  bei  ihnen  haben  eine  auffallende,  auch  in  Einzelheiten 
bemerkbare  Ähnlichkeit  mit  dem  indischen  Märchen  von  Sakti- 
vega,4  andere  verwegene  Abenteuer  und  märchenhafte  Rettungen 
des  Odysseus  sind  ungefähr  die  gleichen  wie  die,  deren  Sindbad 
in  1001  Nacht  sich  rühmt.5  Die  Symplegaden  kennen  schon  Reise- 
und  Traumschilderungen  der  Naturvölker;6  die  List,  die  Odysseus 
und  seine  Gefährten  vor  dem  übermächtigen  Gesänge  der  Sirenen 
schützt,  ist  anderen  Märchen  nicht  fremd,7  die  märchenhafteste 
Geschichte  der  Odyssee  aber  bleibt  die  vom  Polyphem.  Sie  kehrt 
unter  den  Abenteuern  des  Sindbad  wieder  und  gehört  gewifs  in 
den  Kreis  der  Raubsagen  und  Raubmärchen:  ein  Mensch  über- 

1  Archiv  CXIII,  258.      2  Archiv  CXIV,  2. 

3  Sidney  Hartland,  Legend  of  Perseus  III,  17  f.  105  f.     Erwin  Rohde, 
Der  griechische  Roman  173  Anm.  2. 

4  Gerland,  Altgriechische  Märchen  in  der  Odyssee  (Magdeburg  1869)  18. 

5  Erwin  Rohde,  Der  griechisclie  Roman  173  Anm.  2.  180  Anm.  1. 

'''  Vgl.  von  der  Leyen,  Germanist.  Abh.  für  Paul  S.  150  Anm.  1 ;  dazu 
Reinhold  Köhler,  Kl.  Schriften  I,  397;  Cosquin  II,  242. 

7  Reinhold  Köhler  I,  125.     JätaJca,  übers,  v.  Cowell,  Nr.  96. 


Zur  Entstehung  des  Märchens.  17 

listet  einen  Riesen  und  raubt  ihm  seine  kostbarsten  Besitztümer. 
Der  Kontrast  zwischen  dem  schwachen,  klugen  Menschen  und 
dem  ungeheuren,  dummen  und  plumpen  Riesen  klingt  in  diese 
Sage  auch  hinein.  Die  List  selbst,  dafs  Odysseus  sich  niemand 
nennt,  erscheint  sogar  in  Schwänken  von  Völkern,  die  nie  etwas 
von  Homer  und  der  Odyssee  hören  konnten:  es  wurde  hier 
ein  uralter  Schwank  auf  Odysseus  übertragen.1  Auch  das  ganze 
Beiwerk:  die  Einäugigkeit  des  Polyphem,  das  Entkommen  des 
Odysseus  und  seiner  Gefährten  unter  den  Widdern  des  Riesen, 
die  verspätete,  furchtbare  und  vergebliche  Rache  des  Unholdes, 
das  ist  alles  echt  märchenhaft  und  abenteuerlich. 

Odysseus  wird  von  einer  himmlischen  Nymphe  geliebt  und 
verzehrt  sich  in  Sehnsucht  zu  der  fernen  irdischen  Gemahlin, 
Achilleus  ist  das  Kind  einer  himmlischen  Nymphe,  die  einem 
sterblichen  Manne  sich  hingab,  den  Herakles  will  ein  feiger  König 
verderben,  er  besiegt  Ungeheuer,  befreit  von  ihnen  Jungfrauen, 
wandert  zum  Paradies  und  erbeutet  die  Äpfel  der  Hesperiden  und 
schleppt  den  Kerberus  aus  der  Hölle;  Perseus  wird  von  Danae 
geboren,  die  ein  Gott  durch  ein  Wunder  befruchtet,  und  man 
hatte  diese  Danae  eingeschlossen,  damit  sie  kein  Kind  gebären 
könne,  den  Knaben  Perseus  sucht  ein  König,  wieder  ein  feiger  und 
schwacher  König,  zu  vernichten,  weil  die  Prophezeiung  war,  dafs 
dieser  Knabe  ihm,  dem  König,  Unheil  bringen  werde.  Und  so 
erfüllt  es  sich:  Perseus  raubt  den  drei  Graien  ihr  eines  Auge,  sie 
zeigen  ihm  den  WTeg  zu  den  Gorgonen,  und  er  gewinnt  den  ver- 
steinernden Schild  der  Medusa,  er  befreit  Andromeda  vom  Drachen 
und  erringt  ihre  Hand:  das  sind  alles  alte  griechische  Sagen,  und 
sie  klingen  uns  doch,  als  hörten  wir  eins  unserer  Märchen.2  — 
Die  Forschung  hat  aus  der  griechischen  und  römischen  Literatur 
schon  eine  Fülle  von  Märchenmotiven  zutage  gefördert,  die  ich 
hier  nicht  noch  einmal  ausbreiten  will, 3  gewils  läfst  sich  die  Aus- 
beute leicht  vermehren,  und  eine  Übersicht  über  die  griechischen 
Märchenmotive  und  Märchen  würde  für  die  Entwickelung  der 
griechischen  Dichtkunst,  die  Herkunft  und  den  Ursprung  ihrer 
Stoffe,  das  Gestaltungsvermögen  ihrer  Dichter  manche  neue  und 
schöne  Aufklärungen  geben.  Ich  vermerke  hier  im  Interesse  un- 
serer späteren  Betrachtungen  noch  einmal  das  Märchen  vom  klugen 

1  W.  Grimm,  Abhandlungen  der  Berliner  Akademie.,  1857,  S.  1 — 30.  — 
Erwin  Rohde,  Der  griechische  Roman  173  Anm.  2. 

-  Ich  verweise  nochmals  auf  die  ausführliche  Parallelensammlung  zu 
den  Perseus-Motiven  bei  Sidney  Hartland  in  seinem  hier  oft  genannten 
Werke.  —  Vgl.  ferner  Kretschmer,  Einleitung  (1896)  S.  85  f. 

3  Eine  schöne  Übersicht  gibt  Friedländer,  Sittengeschichte*  I,  468  f.  — 
Die  Verdienste  und  Forschungen  von  Mannhardt  (Antike  Wald-  und  Feld- 
kulte),  Erwin  Rohde  (Der  griechische  Roman;  Psyche;  Kleinere  Schriften), 
Marx  (Griechische  Märchen  von  dankbaren  Tieren,  1889),  Crusius  (in 
Roschers  Lexikon  und  im  Philologus)  u.  a.  sind  bekannt. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    CXV.  2 


18  Zur  Entstehung  des  Märebens. 

Richter,  dessen  Urteile  und  Entscheidungen  sich  durch  Scharfsinn 
überbieten,1  und  das  Märchen  von  den  empfindlichen  Menschen, 
das  die  späte  griechische  Kunst  sich  ersann:  groteske  und  ko- 
mische Übertreibungen,  die  die  renommistische  Empfindlichkeit 
der  Genüfslinge  verspotten  sollte.2 

Ein  griechisches  Volksmärchen  blieb  uns  noch  erhalten  aus 
dem  späten  Altertum,  nicht  rein  und  frisch,  sondern  fast  zu- 
gedeckt von  künstlicher  und  steifer  Allegorie,  Eros  und  Psyche 
des  Apulejus.  Wie  unserem  18.  Jahrhundert  z.  B.  dem  Musaeus 
die  Märchen  als  etwas  Kindliches  und  Albernes  erschienen,  ein 
Ammengeschwätz,  auf  das  man  mitleidig  herabblickte  und  nur 
durch  eigene  tiefe  und  wertvolle,  vernünftige  und  aufklärende 
Bemerkungen  literaturfähig  und  geniefsbar  machen  konnte,  so 
etwa  erschienen  sie  auch  dem  Apulejus:  er  hat  sein  altes  Mär- 
chen durch  Allegorie  und  Philosophie  zu  vertiefen  sich  bemüht: 
uns  erscheinen  seine  Zutaten  als  frostig,  steif,  aufdringlich  und 
die  Einfalt  der  Geschichte  schwer  schädigend.  Aber  unsere  Volks- 
märchen gestatten  uns  überall,  das  Ursprüngliche  und  Echte  her- 
auszulösen. 3 

Ein  König  hat  drei  Töchter,  die  jüngste  soll  in  die  Gewalt 
eines  Ungeheuers  kommen.  Unter  Trauern  begleitet  man  sie  zu 
dem  Felsen,  unter  dem  das  Ungeheuer  haust,  und  sie  stürzt  sich 
hinab,  aber  ein  sanfter  Windhauch  trägt  sie  in  ein  blühendes 
Tal,  sie  sieht  darin  einen  Hain  und  eine  Quelle,  und  das  Unge- 
heuer, bei  Tag  eine  Schlange  mit  ungeheurem  Rachen,  gifttropfend, 
ist  bei  Nacht  ein  schöner  Jüngling.  Psyche,  die  Jungfrau,  lebt 
in  einem  märchenhaften  Palast,  die  Gemächer  glänzen  so  von 
Gold,  dafs  es  auch  in  der  Nacht  hell  bleibt,  eine  unsichtbare 
Dienerschaft  erfüllt  alle  ihre  Wünsche.  Ihr  Gemahl  warnt  sie: 
sie  solle  sich  von  den  Schwestern  nicht  ausfragen  lassen  und  nie 
nach  seiner  Gestalt  forschen,  sie  widersteht  auch  eine  Zeit  dem 
neugierigen  Drängen  dieser  Neidischen,  schliefslich  fragt  sie  den 
Gemahl  doch,  und  da  entschwindet  er  ihr,  und  sie  wandert  ihm 
nach.  Die  neidischen  Schwestern  stürzen  sich  auch  vom  Fels, 
aber  zerschellen  dabei,  Psyche  wandert  weiter:  sie  wird  von  Venus 
gepeinigt,  von  Traurigkeit  und  Sorge,  ihren  Dienerinnen,  ge- 
geifselt,  sie  mufs  durcheinander  geworfene  Garben,  Kränze  und 
Sicheln  wieder  in  Ordnung  bringen,  sie  mufs  Gerste,  Weizen, 
Hirse,  Mohn,  Erbsen,  Linsen,  Bohnen  auseinanderlesen:  dabei 
helfen  ihr  die  Ameisen;  sie  mufs  Wolle  von  bösen,  wilden  Schafen 
mit  goldenen  Vliefsen  bringen,  das  Schilf  flüstert  ihr  zu,  sie  solle 
warten,  bis  die  Tiere  es  sich  selbst  abstreiften;  sie  mufs  Wasser 

1  Vgl.  oben  Archiv  CXIV,  22  Anm.  3. 

2  Erwin  Robde,  Der  griechische  Romano  588/9. 

3  Friedländer,  Sittengeschichte  I,  407.  468  f.  (mit  Beiträgen  von  Adal- 
bert  und  Ernst  Kuhn).    Cosquin  II,  217  f. 


Zur  Entstehung  des  Märchens.  19 

aus  einer  Quelle  holen,  die  von  Drachen  bewacht  wird,  ein  Adler 
füllt  das  Gefäfs  für  sie. 

Zum  Schlufs  soll  sie  in  die  Unterwelt  steigen  und  Schöu- 
heitssalbe  von  der  Totengöttin  holen,  dabei  trägt  sie  in  einer 
Hand  Kuchen  und  Mehlbrei,  in  der  anderen  Honig  und  Wein, 
im  Mund  eine  Kupfermünze.  Dreimal  wird  sie  versucht,  es  fallen 
zu  lassen:  zuerst  begegnet  ihr  ein  lahmer,  mit  Holz  beladener 
Esel,  der  lahme  Treiber  bittet  sie,  die  Holzscheite  aufzunehmen, 
dann  schwimmt  ein  alter  Mann  ihrem  Kahne  nach,  man  möge 
ihn  auch  hineinziehen,  und  alte  Weiber  am  Webstuhl  bitten  sie, 
auch  Hand  anzulegen.  Sie  widersteht  den  Versuchungen  allen, 
sie  nimmt  dann  vom  Mahl  nur  ein  Stück  Brot,  das  sie,  auf  der 
Erde  sitzend,  zu  verzehren  hat,  erhält  die  Büchse  und  öffnet  sie 
schon  unterwegs,  ein  betäubender  Dampf  steigt  hervor,  aber  sie 
ist  erlöst  und  mit  dem  Geliebten  wieder  vereint. 

Man  darf  auch  hier  kaum  von  einem  einheitlichen  Märchen 
reden:  es  sind  wieder  verschiedene  Märchen  und  Märchenfrag- 
mente, die  im  Wesen  sich  freilich  berührten  oder  ähnlich  waren, 
lose  aneinandergefügt,  nicht  organisch  verbunden.  Etwa  das  Mär- 
chen von  der  Jungfrau,  die  nicht  nach  der  Gestalt  des  Mannes 
fragen  darf  und  den  Mann  verliert,  als  sie  das  Gebot  übertritt; 
das  Märchen  von  neidischen  Schwestern,  die  der  jüngsten  ihr 
Glück  nicht  gönnen  und  schliefslich  bestraft  werden,  das  Mär- 
chen von  den  unlösbaren  Aufgaben,  die  ein  Liebender  doch  löst, 
um  sich  die  Geliebte  zu  erringen  (in  anderen  Märchen  gewöhn- 
lich durch  die  Hilfe  dankbarer  Tiere,  die  er  vorher  gutmütig  vom 
Tode  rettete),  das  Märchen  vom  Wasser  des  Lebens  und  der 
Hexe,  die  einen  anderen  dadurch  beiseite  schaffen  will,  dafs  sie 
ihn  in  die  Hölle  schickt  und  ihm  Aufgaben  gibt,  die  eigentlich 
kein  Mensch  lösen  kann.1 

Das  Motiv  von  der  Jungfrau,  die  unter  der  Trauer  der  ganzen 
Stadt  einem  Drachen  geopfert  wird,  gehört  in  einen  anderen  Kreis; 
und  die  ihm  gebührende  Fortsetzung  ist  die,  dafs  ein  Held  die 
Jungfrau  erlöst,  nachdem  er  den  Drachen  besiegt  und  getötet. 

Die  meisten  europäischen  Volksmärchen,  die  dem  Apulejus 
ähnlich  sind  und  meist  wohl  auch  von  ihm  abhängen,2  nehmen, 
nachdem  der  Geliebte  entschwunden,  eine  andere  Wendung  als 
ihr  antikes  Vorbild :  die  Braut  wandert  durch  die  Welt,  dem  Ent- 
schwundenen nach,  findet  mitleidige  Helfer,  die  ihr  Geschenke 
geben;  als  sie  den  Geliebten  endlich  wiederfindet,  will  er  sich 
gerade  mit  einer  anderen  Braut  vermählen,  sie  erwirkt  sich  vou 
dieser  mit  Hilfe  ihrer  Geschenke  die  Erlaubnis,  in  drei  Nächten 
bei  dem  Geliebten  zu  schlafen,   und  weifs  endlich   seine  Erinue- 


1  Vgl.  Cosquin  II,  237  f. 

2  Vgl.  das  Verzeichnis  von  Kuhn  bei  Friedländer  1,  497. 

2* 


20  Zur  Entstellung  des  Märchens. 

rung  zu  wecken,  so  dafs  sie  sieh  mit  ihm  wieder  vereinigt. '  — 
Das  bestätigt  uns,  was  wir  schon  sagten:  die  Geschichte  des 
Apulejus  ist  keine  einheitliche,  sondern  besteht  aus  verschiedenen, 
einander  verwandten  Märchen.  Sie  entspricht  darin  durchaus  un- 
seren modernen  Volksmärchen,  deren  Wandlungsfähigkeit  ja  darum 
eine  so  unbegrenzte  ist,  weil  sich  die  einzelnen  Märchenmotive 
und  Märchenteile  immer  neu  und  anders  miteinander  verbinden 
und  schon  ganz  leise  Ähnlichkeiten  und  Anklänge  solche  Verbin- 
dungen bewirken.  Es  liegt  im  Wesen  dieser  Märchenmotive,  dafs 
sie  immer  etwas  unbestimmt  bleiben,  sich  Veränderungen  leicht 
fügen  und  darum  in  immer  anderen  Zusammenhängen  erscheinen. 
Diese  Eigentümlichkeit  des  Märchens  führt  meines  Erachteus 
auch  zur  Erkenntnis  des  wirklichen  Unterscheidungsmerkmales, 
das  Märchen,  Mythus  und  Sage  voneinander  trennt.  Im  ersten 
Ursprung  sind  diese  gleich,  Mythus  und  Sage  stammen,  ebenso 
wie  das  Märchen,  aus  Leben,  Sitten,  Anschauungen  der  primi- 
tiven Völker.  Mit  der  Einschränkung  freilich,  dafs  der  Mythus, 
sofern  er  nicht  Göttersage  ist,"  auf  dem  Kultus  beruht,  der  seiner- 
seits wieder  auf  uralte  religiöse  Vorstellungen  zurückführt,  und 
dafs  die  Heldensage  in  ihre  rein  sagenhafte  Erzählung  geschicht- 
liche Erinnerungen  an  Taten  und  Helden  der  Vergangenheit  ver- 
webt. Das  Grundverschiedene  von  Märchen  und  Sage  ist  aber 
ihre  Eutwickelung:  Die  Sage  verweilt  viel  länger  und  liebevoller 
bei  dem  einzelnen  Motiv,  dem  einzelnen  Ereignis  und  der  ein- 
zelnen Person  als  das  Märchen;  das  einzelne  zieht  sie  stärker  an, 
während  der  Reiz  des  Märchens  gerade  in  der  immer  wechseln- 
den Verbindung  oder  in  der  Anhäufung  der  Motive  besteht, 
das  Motiv  für  sich  gilt  ihm  nicht  so  viel.  Diese  einzelnen  Motive 
gewinnen  bei  der  Sage  eine  immer  neue  künstlerische  Mannig- 
faltigkeit, weil  immer  neue  Dichter  sich  an  den  gleichen  Mo- 
tiven und  Stoffen  versuchen,  dadurch  vertieft  sich  auch  deren 
Bedeutung.  In  ähnlicher  Art  wachsen  die  Helden  der  Sage,  ein 
Dichter  nach  dem  anderen  gibt  ihnen  von  seinem  Besten,  und  so 
steigert  sich  ihr  Heroentum,  und  sie  erheben  sich  ins  Überirdische. 
Die  Motive  verlieren  dabei  oft  ihren  selbständigen  Wert  und 
dienen  nur  zur  Charakterisierung  des  Helden.  Weil  die  Sage 
sich  so  entwickelt,  haben  ihre  Helden  Namen,  während  die  des 
Märchens,  die  ganz  in  der  Fülle  immer  wechselnder  Begeben- 
heiten verschwinden  und,  weil  sie  sich  selbst  dabei  immer  ändern, 
zu  keiner  bestimmten  Wesenheit  gelangen  können,  ohne  Namen 
sind.  Auch  bleibt  die  Sage  gern  bei  bestimmten  Orten  und  ver- 
klärt diese,  das  Märchen  verbreitet  sich  über  die  ganze  Welt. 
Die  Märchenmotive  fügen  sich  leicht  und  willig  zusammen,  die 
Sagenmotive  schwer,  die  Entwickelung  der  Sage  ist  langsam,  eins 

1  Vgl.  noch  ß.  Köhler,  Kl.  Schriften  I,  318  Anm.  1. 


Zur  Entstehung  des  Märchens.  21 

ihrer  Motive  widerstreitet  oft  dem  anderen,  und  auch  in  den 
vollendetsten  Sagen  sind  solche  Konflikte  noch  nicht  ganz  über- 
wunden; man  fühlt,  dafs  eine  frühere  Anschauung  eines  Ereig- 
nisses oder  eines  Helden,  die  der  späteren  widerspricht,  noch  nicht 
ganz  beseitigt  wurde:  man  denke  etwa  an  die  Sintflutsage  oder 
an  die  nordischen  Sagen  vom  Ende  der  Welt  oder  an  unsere 
Nibelungen.  Die  Sage  ist  viel  ernster  als  das  Manchen,  künst- 
lerisch uieist  viel  durchbildeter,  sie  wendet  sich  nur  an  einen  er- 
lesenen Kreis  von  Hörern  und  bleibt  innerhalb  nationaler  Grenzen. 
Damit  steht  in  Zusammenhang,  dafs,  wenn  Sagen  in  das  Volk 
dringen,  meist  gerade  das  Tiefste  an  ihnen,  ihre  Tragik  und  ihr 
Adel,  nicht  verstanden  oder  mifshandelt  wird  —  man  erinnere 
sich  an  unsere  Sagen  von  Wieland  dem  Schmied,  Hetel  und 
Hilde,  Hildebrand  und  Hadubrand  — ,  statt  dessen  wird  sie  mit 
märchenhaftem  Beiwerk  überladen.  Denn  das  Märchen  bleibt 
dem  Volke  verständlich  und  gehört  zu  ihm  auf  der  ganzen  Welt, 
die  kunstlose  Aneinanderfügung  von  Märchenmotiven  bedarf  nicht 
des  Dichters  und  kann  sich  jederzeit  im  Volke  abseits  der  höheren 
Poesie  entwickeln.  Diese  Bemerkungen  wollen  nur  als  vorläu- 
fige gelten,  ich  hoffe  sie  später  auszuführen  und  zu  vertiefen 
und  habe  sie  hier  nur  darum  nicht  unterdrückt,  weil  ich  glaube, 
dafs  sie  zur  Klärung  unklarer  Fragen  behilflich  sein  können. '  — 
Wir  haben  nun  bei  der  Betrachtung  der  Märchen  der  antiken 
Völker  einen  recht  stattlichen  Keichtum  von  Märchenmotiven 
überblickt  und  es  oft  bestätigt  gefunden,  dafs  diese  Motive  aufs 
engste  mit  dem  Leben  und  dem  Wähnen  primitiver  Völker  zu- 
sammenhängen. Außerdem  war  es  uns  möglich,  zu  beobachten, 
wie  aus  einer  Vielheit  von  Märchenmotiven  Märchen  entstehen. 
Nun  dürfen  wir  den  letzten  wichtigsten  Schritt  tun,  den  zum 
indischen  Märchen  hinüber,  und  die  Art  unserer  Betrachtung 
läfst  sich  nun  leicht  erraten,  wir  vergleichen  die  alten  Märchen- 
motive mit  dem  indischen  Märchen,  die  auf  ihnen  beruhen,  ebenso 
die  antiken  Märchen,  die  vom  Meisterdieb,  von  den  Empfindlich- 
keitsprobeu,  von  klugen  Richtern  u.  a.,  mit  den  ihnen  entsprechen- 
den indischen,  wir  verfolgen  aufserdem  die  Entwickelung  der  in- 
dischen Märchen  in  Indien  selbst,  und  auf  der  Erkenntnis  fufsend, 
die  wir  derart  vom  indischen  Märchen  gewannen,  suchen  wir 
die  Frage  vom  Einflufs  der  indischen  Märchen  auf  die  Märchen 
der  anderen  Völker  nochmals  zu  beantworten. 


1  Ich  verweise  auf  die  sehr  fördernden  Bemerkungen  von  Hermann 
Usener  in  seinen  Sintflutsagen  und  Axel  Olrik,  Om  Ragnarok,  Kopen- 
hagen 190:!.  Namentlich  die  letztgenannte  Schrift  sollte  von  Philologen 
aller  Disziplinen  gelesen  werden. 

München.  Friedrich  von  der  Leyen. 

(Fortsetzung  folgf.) 


Mklas  Praun  und  Pandolfo  Collenuccio. 


In  der  Festschrift  'Hans  Sachs-Forschungen ,  herausgegeben 
von  A.  L.  Stiefel';  Nürnberg  1894,  8.  13—32,  hat  V.  Michels 
aus  einer  Handschrift  der  Berliner  Königlichen  Bibliothek  einen 
Dialog  von  Niklas  Praun  'Das  pieret  vnd  der  Kopff'  (vollen- 
det 1542)  veröffentlicht  und  die  ihm  bekannt  gewordenen  Daten 
über  den  bis  dahin  unbekannten  Verfasser  mitgeteilt.  Die 
(mehrere  Arbeiten  Prauns  enthaltende)  Handschrift  ist  nur  zum 
kleineren  Teile  von  Praun  selbst  geschrieben.  Nach  seinem  Tode 
hat  Freund  Hans  Sachs  nach  losen  Blättern  des  Verstorbenen 
die  Handschrift  zu  Ende  geführt  —  der  genannte  Dialog  ist 
ganz  von  Sachs  abgeschrieben  —  und  mit  einer  sehr  aufschlufs- 
reichen  hübschen  Vorrede  versehen  worden. 

Es  ist  sehr  dankenswert,  dafs  Michels  das  ganze  Gespräch 
zwischen  dem  Barett  und  dem  Kopf  abgedruckt  hat.  Der  Dia- 
log ist  gewifs  die  beste  literarische  Leistung  Prauns.  Ein  aller- 
dings seltsamer  Gedanke  —  als  'wunderlich'  bezeichnet  Praun 
selbst  am  Schlufs  sein  Gespräch  —  wird  geistreich  und  witzig 
durchgeführt,  die  bitterste  Ironie  über  die  unvernünftige  Welt- 
anschauung und  Handlungsweise  der  grofsen  Masse  wird  in 
humorvollen  Reden  ausgegossen.  Barett1  und  Kopf  stehen  zu- 
einander in  einem  scharfen,  gut  charakterisierten  Gegensatz. 
Das  Barett  ist  klug,  hochgebildet,  welterfahren,  von  sittlichen 
Grundsätzen  erfüllt.  Der  Kopf  ist  hohl,  dumm,  ungebildet  und 
richtet  sich  'nach  der  weit  prauch',  sieht  nur  auf  den  äufseren 
Schein  und  nicht  auf  die  innere  Tüchtigkeit. 

Das  Barett  eröffnet  das  Gespräch  mit  der  Klage  über  sein 
unglückliches  Los,  das  ihn  gerade  auf  einen  so  närrischen  Kopf 
gesetzt  hat.  Es  tadelt  den  Kopf  (ihn  vom  Anfang  bis  zu  Ende 
mit  den  ärgsten  Scheltworten  belegend),  dafs  der  Träger  seine 
Kopibedeckung  durch  sein  'wankelmuetig  vurnemen',  durch  Hin- 
und    Herrücken,    durch    ewigen    Wechsel    der    Form    und    der 


1  Sachs  schreibt  nebeneinander:  'pieret'  und  'piret',  es  ist  im  16.  Jahr- 
hundert eine  häufige  Nebenform  (nach  mittellateinisch  birretum)  neben 
'baret'  für  Mütze  überhaupt  und  im  engeren  Sinn  für  das  Barett  der 
Doktoren. 


Niklas  Praun  und  Pandolfo  Collenuccio.  23 

Ausschmückung  unerträglich  quäle.  Aus  den  Auseinander- 
setzungen darüber  entwickelt  sich  zwischen  beiden  ein  theore- 
tisches Gespräch  über  Schönheit,  Gewalt,  Ehrerbietung  usw. 
Immer  gibt  zuerst  der  Kopf  ganz  unsinnige  und  verworrene  Er- 
klärungen, behauptet  aber  dann,  wenn  das  Barett  klar  und 
weise  die  Streitfrage  zu  Ende  bringt,  er  hätte  von  Anfang  ganz 
dieselbe  Meinung  gehabt.  Der  Träger  des  Baretts  geht  nun 
auf  die  Strafse,  wo  es  zu  neuen  Streitgesprächen  kommt,  weil 
der  Träger  mehrere  Vorübergehende,  einen  Edelmann  mit  gol- 
dener Kette,  einen  Arzt,  einen  Advokaten,  einen  reichen  Kauf- 
mann, einen  Hauptmann  ehrfurchtsvoll  begrüfst.  Das  Barett 
aber,  empört  über  die  fortwährende  Störung  aus  seiner  Ruhe, 
beweist  dem  Kopfe,  dafs  alle  die  Gegrüfsten  nur  dem  äufseren 
Ansehen  nach  stattlich,  in  Wirklichkeit  aber  unlautere,  ja  laster- 
hafte Persönlichkeiten  seien.  Der  Kopf  entschuldigt  sich  mit 
der  notwendigen  Rücksicht  auf  die  allgemeine  Meinung  und  mit 
der  Redensart,  dafs  'man  dem  dewffel  ein  lichtlein  aufzunden'1 
müsse.  Das  Barett  beschliefst  das  Gespräch  mit  einer  längeren 
Rede,  in  der  es  alle  seine  Beschwerden  über  den  Kopf  noch- 
mals zusammenfafst  (in  ethischen  Ausführungen,  die  gewifs  die 
persönliche  Überzeugung  des  Verfassers  wiedergeben),  und  spricht 
endlich  den  "Wunsch  aus,  von  Motten  verzehrt  zu  werden,  um 
des  Jammers  ledig  zu  gehen.  In  einem  kurzen  Nachwort  gibt 
der  Verfasser  als  die  Summe  des  Gespräches  an,  dafs  'darin 
die  heuchlersich  Ererpiettung  fein  hofflich  gestochen  wirt.' 

Mit  Recht  wundert  sich  Michels  über  diese  auffallende  und 
eigenartige  literarische  Leistung  des  sonst  doch  nicht  hervor- 
ragenden Autors.  Er  vermutet  im  allgemeinen  Einflufs  von 
Dialogen  Hans  Sachsens,  Lukians  oder  deutscher  Humanisten. 
wie  Eobanus  Hessus.  Von  diesen  konnte  er  die  Form  der  Dia- 
loge und  die  Führung  der  Gespräche  lernen,  aber  'woher  kom- 
men bei  Praun  solche  Ansätze  zu  individueller  Charakteristik?" 
fragt  Michels. 

Diese  Frage  erlaube  ich  mir  zu  beantworten:  Von  dem  ita- 
lienischen Humanisten  Pandolfo  Collenuccio,  dessen  Gespräch 
'La  beretta  e  la  testa'  Praun  unmittelbar  als  Vorlage  benutzt 
hat,     Collenuccio'2  ist  als  Verfasser  zahlreicher  lateinischer  und 


1  Vgl.  Thom.  Murner,  Narrenbesehwörung.  Überschrift  des  64.  Ka- 
pitels: 'Dem  tilfel  zwei  Hecht  anzünden',  und  oft. 

2  Vgl.  Biographie  universelle  8,  588  f.  Die  hier  gegebenen  Daten  wer- 
den wesentlich  ergänzt  und  berichtigt  durch  die  abschließende  Monogra- 
phie: A.  Saviotti,  P.  Collenuccio,  umanista  pesarese,  Pisa  1888  (Estratto 
dagli  Annali  della  real  scuola  normale  superiora  di  Pisa),  welche  die  Ge- 
burts-  und  Todesdaten  und  aktenmäfsig  den  Lebensgang  feststellt  und 
die  Schriften  gründlich  beschreibt.  (Auf  diese  Monographie  hat  mich 
Prof.  E.  Freymond   freundlichst  aufmerksam  gemacht.) 


24  Niklas  Praun  und  Pandolfo  Collenuccio. 

italienischer  Werke,  als  Dichter,  Gelehrter  und  Staatsmann  be- 
kannt. Geboren  am  7.  Januar  1444  zu  Pesaro  in  Oberitalien 
(Umbrien),  tritt  er  1491  als  Consigliere  ducale  in  die  Dienste 
des  Herzogs  von  Ferrara,  Herkules  I.1  Dieser  kunstliebende 
Fürst  veranstaltete  an  seinem  glänzenden  Hofe  häufige  Auffüh- 
rungen humanistischer  Schauspiele.  Viele  Humanisten  widmen 
ihm  ihre  Werke  und  preisen  ihn  als  Gönner.  Ercole  verwendet 
Collenuccio  auch  als  Gesandten,  so  zweimal  1494  und  1497 
nach  Innsbruck  an  Kaiser  Maximilian,  und  ernennt  ihn  1500  zu 
seinem  Capitano  di  giustizia.  Einer  heuchlerischen  Einladung 
folgend  reist  Collenuccio  in  seine  Heimat  und  wird  in  Pesaro 
auf  ttefehl  Giovanni  Sforzas  am  11.  Juli  1504  ermordet.  Colle- 
nuccio übersetzte  den  Amphitryon  von  Plautus  ins  Italienische, 
schrieb  das  Schauspiel  'Jakob  und  Joseph',  italienische  Gedichte, 
einen  Erziehungstraktat  und  einen  Abrifs  der  Geschichte  des 
Königreiches  Neapel  in  Latein,  endlich  mehrere  lateinische  und 
italienische  Dialoge.  In  allen  diesen  Dialogen  läfst  er  zum 
Schlufs  die  'erhabene'  Gestalt  seines  fürstlichen  Gönners  er- 
scheinen. Er  nimmt  förmlich  Zuflucht  zu  Ercole,  der  wie  ein 
gütiger  Deus  ex  machina  erscheint,  um  mit  seiner  Weisheit  alle 
aus  den  Streitgesprächen  erwachsenen  Gegensätze  aufzuheben, 
alle  Schwierigkeiten  zu  ebnen  und  mit  einem  gerechten  Urteil 
würdevoll  den  Dialog  zu  beschliefsen. 

Von  Collenuccios  italienischen  Gesprächen  ist  eines  der  be- 
kanntesten 'II  Philotimo.  La  testa  e  la  beretta' 2  mit  einem  eigen- 
artigen, genial  erfundenen  Motiv,  das  geistvoll  und  mit  über- 
sprudelndem Witz  durchgeführt  wird. 

Diesen  Dialog  nun  hat  Niklas  Praun  verdeutscht,  aber  nur 
die  erste  Hälfte  davon  und  diese  nicht  in  durchaus  gleichmäfsi- 
ger  Weise.  Mit  Ausnahme  der  letzten  Blätter  hält  sich  Praun 
ziemlich  wörtlich  an  Collenuccio,  abgesehen  davon,  dafs  er  eine 
breitere  Ausdrucksweise  hat  und  so  den  italienischen  Wortlaut 
sprachlich  erweitert.  Auch  kleinere  oder  gröfsere  Zusätze  mit 
sachlichen  Erweiterungen  kommen  oft  vor.  Seltener  sind  Aus- 
lassungen aus  dem  Texte  der  Vorlage.  Diese  Art  der  nur 
einigermafsen  freien  Übersetzung  übt  Praun  von  Anfang  an  bis 
eiuschliefslich  S.  28  des  Michelschen  Abdruckes.    S.  29  und  30 

1  Über  Ercole  von  Ferrara  vgl.  man  W.  Creizenach,  Geschichte  des 
neueren  Dramas  2,  217  und  204  ff. 

2  Saviotti  bezeichnet  als  älteste  bekannte  Ausgabe:  Venezia  1517. 
Die  Abfassungszeit  und  allenfallsige  ältere  Drucke  sind  nicbt  bekannt. 
Ich  benutze  ein  Exemplar  der  Berliner  Königlichen  Bibliothek,  Bergamo 
1594,  mit  dem  Titel:  //  filotimo.  Dialogo  di  M.  P.  Collenuccio.  Apologia 
contro  gli  abusi  dello  sberettare  (Mifsbrauch  des  Grüfsens).  Interlocutori : 
Testa  et  Beretta.  —  In  der  Biog.  im.  lautet  der  Titel:  la  beretta  contro  i 
cortigiani  (Höflinge),  was  nur  für  einen  Teil  des  Dialoges  stimmt.  —  Die 
Ausgabe  Venedig  1836  ebenfalls  in  Berlin. 


Niklas  Praun  und  Panel olfo  Collenuccio. 


25 


weichen  dann  sehr  stark  ab  von  den  betreffenden  Abschnitten 
des  Italieners.  Praun  folgt  hier  nur  im  allgemeinen  den  aus 
Collenuccio  gewonnenen  Anregungen,  und  mit  S.  31  Z.  6  bricht 
er  überhaupt  die  Übertragung  ab,  läfst  die  ganze  zweite  Hälfte 
des  italienischen  Dialoges  unübersetzt  und  fügt  (S.  31  und  32) 
den  schon  oben  gewürdigten,  ganz  selbständigen  Schlufsabsatz 
hinzu. 

Zu  diesen  allgemeinen  Bemerkungen  über  das  Verhältnis 
des  italienischen  Dialoges  und  des  deutschen  Gespräches  seien 
einige  Beispiele  angefügt. 

Zunächst  Proben  der  fast  wörtlichen  Übereinstimmung,  so 
gleich  der  Anfang:1 


B.  Fortuna  iniquissima  dispensa- 
trice  partiale  de'  luoghi.  Maledetta 
sia  cosi  iniqua  sorte,  che  sopra  di 
te  mi  pose. 


T.  Che  hai  tu,  poi  che  da  molti 
giorni  in  qua,  altro  eiarnai  che  la- 
menti  e   querele   da  te   si  sentono? 


B.  Jo  vorrei,  che  quella  pecora, 
che  produsse  la  lana,  della  quäle  io 
nacqui,  fusse  stata  dal  lupo  diuorata, 
o  che  pur  fusee  area  la  lana  fra  le 
dita  di  quella  sordida  ferninella, 
che  la  filö. 


T.     Che  ti  manca?  che  vorrestu? 
da  nie  non  hai  ingiuria  aleuna. 


B.  Anzi  da  te  sola  ogni  mio 
male  procede,  ogni  mio  torto  nasce: 
tu  d'ogni  mio  lamento  sei  cagione: 
perche  di  me  ogni  iniquo  porta- 
mento  tu  fai. 

Und  weitere  Beispiele: 

T.  Tu  mi  fai  per  certo  parer  un' 
altra,   che  io  non  sono:   io  non  me 


P.  Dw  Schalckhafftigs  vnd 
petrueglichs  glueck,  Ein  Austaillerin 
vber  pos  vnd  guet,  verfluecht  Sey 
mein  vngelueck,  vnd  der  So  mich 
auf  dich  nerrischen  kopff  ge- 
setzet hat! 

K.  Ach,  was  ist  dir  mein  liebes 
piret?  Ein  lange  Zeit  her,  darin 
dw  nichs  anders  gethon  hast,  Den 
dich  zw  peclagen,  ist  mir  peschwer- 
lich,  Solichs  von  dir  an  zw  hören, 
vnd  zw  verneinen. 

P.  ich  wolt,  das  die  wollen  dar- 
aus ich  gemachet  pin  worden,  mit 
Sampt  dem  schaff  das  die  wollen 
getragen  hat  vnd  herfuer  pracht  Ein 
wuetiger  Wolff  zerissen  vnd  ge- 
fressen het,  oeler  das  ich  dem  armen 
weib,  So  mich  gezaufset,  kem- 
met  oder  gespunen  hat,  zwischen 
den  vingern  verprunen  oder  ver- 
schwunden wer! 

K.  Ach  mein  piret,  was  wer  dein 
pegeren?  was  hastw  fuer  mangel 
von  mir?  hastw  Etwan  ein 
schmach  oder  vnEr  von  mir 
entpf angen ? 

P.  ja,  allain  von  dir,  dw  holer 
kopff,  Entspringet  Alles  uebels  vnd 
elw  allein  pist  meiner  clag  Ein  vr- 
sach;  den  dw  geprauchst  dich  mein 
gancz  petrueglich,  in   vil  stuecken. 


K.     Dw    machest    frey,    das    ich 
mich  pedunck,  ich  Sey  nit  «1er,  der 


1  Abkürzungen:  B.  =  Beretta,  T.  =  Testa,  P.  =     Piret,  K.  =  Kopf. 
Die  gesperrten  Worte  bedeuten  Zusätze  des  deutschen  Textes. 


26  Niklas  Praun  und  Pandolfo  Collenuccio. 

medema,  o  pure  forsi  puo  essere,  ich  doch  pin,  als  ob  ich  mich  Selb 
che  io  non  intenda  te:  parla  piu  nit  versten  mueg,  oder  Aber  das 
chiaro.  mocht  sein,  das   ich  verstunt  dich 

nicht,     red   ein  wenig   clarer;   vnd 

lewter  von   der  meinung,    auf   daa 

ich  dich  auch  versten  rnueg. 

B     ...    Belezza    e    una    atta    e  P.    Neinlich  Schone  ist  einer  ge- 

uiusta      proportione     di     tutte     le      rechte  proports  in  allen  glidern  des 

membra,  insieme  con  graude  aspetto.      menschen,  wo  die  Selbig  mit  einem 

grofsen  vnd  Erwirdigen  Anscha- 
wen  pegabet  ist. 
armata  d'ignoranza.  wol  gewappnet  mit  vnwizzenheit. 

Genaue,  wenn  auch  ungeschickte  Übertragung  liegt  auch 
vor  an  der  Stelle,  wo  Michels  beabsichtigte  Unklarheit  annimmt. 
Ich  möchte  gegen  diese  Vermutung  nur  einwenden,  dafs  das 
Barett  sich  gerade  immer  sehr  klar  auszudrücken  pflegt.  Es 
handelt  sich  um  den  folgenden  Satz  (S.  24  Z.  8—11):  ,Er  er- 
zaigen  oder  Er  erpieten  ist  ain  zaichen,  [ist  ein  zaichen],  Au- 
spundig  genaigte  (r)  Er  vnd  hochwirdigkeit,  von  wegen  des  aus- 
gdruecten  geErten  erhochte  thuegent?'  Das  ist  die  Überset- 
zung des  im  Italienischen  völlig  klaren  Satzes:  Honore  e  una 
essibitione  di  riuerenza  in  segno  di  eccellente  virtu  dell  hono- 
rato  d.  h.  'die  Ehrbezeugung  ist  ein  Ausdruck  der  Ehrfurcht  im 
Zeichen'  ('zur  Anzeigung'  oder  einfach  'vor')  'der  ausgezeich- 
neten Tüchtigkeit  des  Geehrten'  (gemeint  ist:  'des  Gegrüfsten'). 
Praun  hat  in  segno  ungeschickt  mit  'ausgdruecten'  wiedergegeben 
und  dadurch,  sowie  durch  versehentliche  Wiederholung  ('ist  ain 
zaichen')  und  das  Fehlen  des  r  bei  'genaigter'  den  Satz  unwill- 
kürlich unklar  gemacht. 

Sprachliche  Erweiterungen  werden  von  Praun  dadurch 
hauptsächlich  hervorgerufen,  dafs  er  gern,  wie  das  bei  den  mei- 
sten deutschen  Übersetzern  des  16.  Jahrhunderts  der  Fall  ist, 
für  einen  Ausdruck  der  Vorlage  zwei  oder  mehr  Synonyme  ver- 
wendet und  auch  mit  weiteren  Ergänzungen  vermehrt.  Z.  B. 
für  vacua  testa:  ,holer  vnd  doller  köpf  —  giustamente:  'aus 
rechtem  grund  vnd  manigfaltig  vrsach'  —  huomo  de  valore: 
'von  guetem  adel  oder  Erlich,  tugentreich,  verdienet  lewt'  — 
le  corone:  'pedeckung  des  hauptes  kaiserlicher  kuncklich  und 
pebstlicher  krön,  Cardinelisch  vnd  herzogisch  huet,  pischofflich 
und  eptisch  inffel'.  —  Erweiterungen  ergeben  sich  auch  durch 
derbere  Umschreibungen  der  Vorlage.  So  für  un  terribile:  'ein 
waidlicher  Eisenfrefser',  für  hai  pure  una  volta  detto  una  buona 
parola:  'das  ist  vurwar  ein  wunder,  das  einmal  aus  deinem 
holen,  dollen  kopff  ein  guet  vrtail  kumpt'.  Und  durch  eine 
gewisse  pedantische  Weitschweifigkeit.  Für  Chi  est  luif  'wes 
geschlechts  oder  Adels  ist  dieser  Edelmann?  ist  er  ritter  oder 
Auch  thurniers  genos,  das  dw  im  Solich  reverenz  thuest?' 


Niklas  Praun  und  Pandolfo  Collenuccio.  27 

Kleinere  Zusätze  ergeben  sich  durch  die  Einfügung  von 
Scherzen,  Redensarten,  Vergleichen,  z.  B.  'dafs  dw  ein  lawter 
doctor  in  Narribus  pist'.  —  Wo  die  Rede  von  goldenen  Ketten 
der  Edelleute  und  den  eisernen  Ketten  der  Tollen  ist,  macht 
Praun  die  Bemerkung:  'vnd  wie  die  Eifsren  ketten  die  Narren 
Still  vnd  ruwig  helt,  Also  die  gülden  ketten  machen  Die  narren 
erst  lawffen  vnd  juchzen.'  Dieses  Bestreben  führt  dann  hei  Be- 
richten und  Beschreibungen  zu  grofsen  Erweiterungen  gegenüber 
der  Quelle.     Nur  ein  Beispiel  für  viele: 

T.    Jo   tel   dirö  bene,    e  presto:  K.    Ich  wil  dirs  pald  Sagen  vnd 

belezza  e  lo  haver  una  bella  zazara,  wol :  N  einrieb  die  schon  ist  ein 
con  la  Beretta  in  foggia,  sopra  uno  schöner  glatter  kelbcter  kopff,  dar- 
ciglio:  la  calza  tirata:  la  scarpa  auf  Dw  wolgestalt  pist,  mit  Säumet 
stretta,  con  lo  andare  vago  e  leg-  oder  perlein  geschmuecket  oder  mit 
giadro  della  persona.  porten,    knebeln    oder    steften    ge- 

ziret,  Ein  wenig  auf  ein  Aug  oder 
or  gedruecket,  mit  wolrichenden 
pifsen  durch  krochen,  Darzw  ein 
güldene  ketten  mit  einem  gehenk  am 
hals,  es  Sei  verdeckt  oder  offenlich, 
Ein  Spanische  kappn  mit  Samut 
oder  gestickt  verpremet,  ein  par 
hosen  vnd  wamas  von  Samuet,  mit 
glaten  strumpffen,  an  die  geraden 
pain  gezogen,  Spanische  schuch  von 
Samuet  oder  Duech,  glat  am  fues 
angelegen,  oder  ein  mardren  rock 
mit  ainem  Samueten  schlepplein, 
Sunst  mit  oberen  klaidern  nach 
auslendischer  art  gemacht  mancher 
tracht  vnd  newer  Sitten ;  Doch  das 
Solchs  alles  mit  ainem  prechtigen 
gang  geziret  Sey :  Sunst  wer  Solichs 
alles  kein  Schönheit  noch  stewr  zw 
der  Schönheit. 

Kleine  oder  gröfsere  Streichungen  sind  (mit  Ausnahme  des 
letzten  Teiles)  selten,  und  wenn  Praun  streicht,  so  tut  er  es 
meist  aus  dem  Gesichtspunkt,  spezifisch  Italienisches  zu  ver- 
meiden, so  bleiben  die  'creanze  nel  vero'  Napolitane  weg  und 
der  Vergleich  'come  la  stanga  per  il  mastello'.  Ferner  fehlt  im 
deutschen  Text  (zwischen  S.  22  und  23)  ein  grofses  Stück  (über 
5  Quartseiten)  des  Originals  ganz,  Praun  bemäntelt  diese  Lücke 
nur  durch  einen  kurzen  Abschnitt  (S.  22,  Z.  1 — 8  v.  u.).  Die 
fallen  gelassene  Stelle  Collenuccios  bandelt  nämlich  von  der  ga- 
lantaria  und  damit  zusammenhängenden  durchaus  italienischen 
Verhältnissen. 

Zu   den   grofsen    Streichungen    kann   man   auch   die   schon 
obenerwähnte  Weglassung  des  ganzen  zweiten  Teiles  v»m  Colle- 
nuccios Dialog  (in  dem  mir  vorliegenden  Exemplar  Bl.   L2 
also  genau  die  Hälfte)  rechnen,  wo  sich  das  Gespräch  in  höhere 


28  Nikhs  Praun  und  Pandolfo  Collenuccio. 

geistige  Sphären  erbebt.  Wir  befinden  uns  ganz  im  Rahmen  der 
italienischen  Kultur  am  Ausgange  des  15.  Jahrhunderts.  Nament- 
lich durch  das  Dazwischentreten  von  Ercole.  Denn  wie  in  den 
übrigen  Dialogen  von  Collenuccio,  so  wird  auch  hier  schliefslich 
von  den  Streitenden  Ercole  angerufen,  um  deren  widersprechende 
Meinungen  durch  seine  Entscheidung  zu  einigen.  Das  ganze 
letzte1  Drittel  des  Dialoges  wird  von  dem  Herzog  beherrscht, 
der  in  breiten  humanistischen  Ausführungen  die  Streitenden  dar- 
über belehrt,  was  wahre  Tugend  und  was  wahre  Ehre  sei,  und 
diejenigen,  die  wahre  Tugend  besitzen  und  wahre  Ehre  anstre- 
ben, als  Filotimi  (nach  dem  griechischen  (ptloTifiog,  ehrliebend, 
nach  Ehre  strebend)  bezeichnet.  Den  Beschlufs  macht  die 
Mütze,  die  den  Kopf,  spöttisch  mit:  zucca  mia  salata  (mein  ge- 
salzener Kürbis  =  Dickschädel)  ansprechend,  auffordert,  dem 
grofsen  Herkules  zu  danken,  che  ti  ha  fatto  conoscere,  che  cosa 
sia  il  vero  honore,  e  che  vuol  dir  Filotimo  ('und  was  Filotimo 
besagen  soll').  Dieses  Schlufswort,  das  nur  auf  den  letzten 
Blättern  des  Dialoges  einige  Male  erwähnt  wird,  bildet  auch  den 
Obertitel  des  Dialoges.  Es  ist  wahrscheinlich,  dafs  Collenuccio 
mit  der  Überschrift  'II  Filotimo'  geradezu  seinen  fürstlichen 
Herrn  gemeint  hat. 1 

Praun  hat  mit  sicherem  Gefühl  und  literarischem  Takt  ge- 
handelt, als  er  diesen  zweiten  Teil  wegliefs,  der  zu  seiner  bi- 
derben Verdeutschung  des  ersten  Teiles  gar  nicht  gepafst  und 
bei  den  Lesern,  an  die  er  denken  mochte,  wenig  Verständnis 
gefunden  hätte.  Durch  seine  Enthaltsamkeit  hat  sich  Praun 
einen  einheitlichen  Stil  in  Form  und  Inhalt  bewahrt  und  so  ein 
abgerundetes,  heimisch  anmutendes  Werkchen  geschaffen,  das 
die  italienische  Vorlage  trotz  der  teilweise  engen  Anlehnung 
nicht  mehr  durchschimmern  läfst.  Aus  dem  Werkchen  allein 
hätte  man  nicht  ohne  weiteres  aut  eine  italienische  Quelle 
schliefsen  können.  Ich  habe  ja  diese  auch  nur  gelegentlich  ge- 
funden, bei  den  Studien  für  mein  Kolleg:  Geschichte  des  Hu- 
manismus. 

Ein  Bedenken  will  ich  am  Schlüsse  nicht  verschweigen. 
Kann  man  Praun  die  Kenntnis  des  Italienischen  zumuten?  Aus 
den  geringen  über  ihn  bekannten  Daten  ergibt  sich  nur,  dafs 
Praun,  der  einer  wohlhabenden  Kaufmannsfamilie  entstammt, 
eine  gute  Schulbildung  sich  erworben  hatte  und  des  Lateinischen 
mächtig  war.    Um  das  Italienische  zu  lernen,  brauchte  er  nicht 


1  Soweit  ich  aus  den  wenigen  Proben,  die  Saviotti  von  dem  Philo- 
timo  gibt,  urteilen  kann,  scheint  es,  dafs  seine  1864  gedruckte  Fassung 
im  allgemeinen  mit  der  mir  vorliegenden  Ausgabe  (1594)  übereinstimmt. 
Der  Schlufs  des  Neudrucks  aber  weicht  von  der  oben  gegebenen  Fassung 
ab:  che  cosa  il  vero  onore  sia,  te  ha  fatto  intendere,  e  tu  per  male  avere 
non  vogli  se  da  qui  inanti  ti  chiamo  filotimo. 


Niklas  Praun  und  Pandolfo  Collenuccio.  29 

nach  Italien  zu  fahren.  Nürnberg  hatte  damals  rege  wissen- 
schaftliche und  Handelsbeziehungen  zu  Italien  und  manche  des 
Italienischen  kundige  Männer  in  seinen  Mauern. 

Freilich  könnte  man  an  die  Möglichkeit  einer  Zwischen- 
übersetzung denken.  Eine  französische  Fassung  liegt  vor  von 
A.  Geuffroy,  Dialogue  de  In  teste  et  du  bonneb,  traduit  d'ita- 
Jien  en  francois.  Paris  1543.  *  Sie  kommt  aber  für  Praun 
nicht  in  Betracht,  weil  sie  erst  ein  Jahr  nach  der  Abfassung 
des  Praunschen  Gespräches  erschienen  ist.  Eine  lateinische 
Übersetzung  konnte  ich  nicht  ermitteln,  obwohl  ich  in  zahl- 
reichen gröfseren  Bibliotheken  darnach  gesucht  oder  angelragt 
habe.  Fände  sich  noch  eine  lateinische  Übersetzung,  die  vor 
das  Jahr  1542  fällt,  würde  das  Bild,  das  ich  von  dem  Verhält- 
nis zwischen  Praun  und  Collenuccio  entworfen  habe,  nur  in 
unwesentlichen  Zügen  verschoben  werden.  Die  stellenweise  wört- 
liche Übersetzung  des  italienischen  Wortlautes  spricht  ohnehin 
dafür,  dafs  Collenuccios  Dialog  im  Original  Praun  vorgelegen  hat. 


1  Vgl.  British  Museum.  Catalogue  of  Printed  Books.  14,  111 — 113. 
(Hier  keine  lateinische  Übersetzung  des  Filotimo.)  In  dem  grofsen 
Bücherkatalog  Gesneri  Bibliotheca  amplificata  per  Frisium,  Tiguri  .1583, 
sind  viele  Schriften  Collenuccios  verzeichnet,  aber  keine  lateinische  Über- 
setzung des  Filotimo. 

Prag-Smichow.  Adolf  Hauffen. 


Volkslied-Miszellen. 
n. 


1.    Zur  'Markgräfin  und   dem  Zinlnlergesellen^ 

Ein  weitverbreitetes  Volkslied  (s.  Erk-Böhrae,  Deutscher  Lieder- 
hort I  [1893]  446  ff.  Nr.  129a~d,  und  O.  Schade,  Deutsche  Hand- 
werkslieder [1865]  199  ff.;  zu  der  dort  verzeichneten  Literatur 
kommt  noch:  Bender-Poinnier,  Ober  schefflenzer  Volkslieder  und  volks- 
tümliche Gesänge  [1902]  56  f.  Nr.  49;  H.  Ostwald,  Lieder  aus  dem 
Rinnstein  II  [1904]  8  ff.)  ist  jenes,  das  von  den  Beziehungen  einer 
Markgräfin  zu  einem  Handwerker  (Zimmermann,  Schuster,  Schnei- 
der etc.)  oder  Soldaten  berichtet.  Diese  Beziehungen  gereichen 
dem  Handwerker  jedoch  zum  Unheil,  denn  nachdem  sie  ertappt 
wurden,  wird  er  zum  Galgen  verurteilt,  doch  später  begnadigt. 
Schade  (a.  a.  O.  205  f.)  führt  eine  Fassung  an,  die  in  Studenten- 
kreisen zu  Halle,  Leipzig  und  Jena  in  den  vierziger  Jahren  des 
19.  Jahrhunderts  gern  gesungen  wurde  und  die  mit  den  Worten: 
'War  einst  ein  jung,  jung  Zimmergesell'  beginnt.  (Aus  Studenten- 
kreisen auch  bei  H.  Pröhle,  Weltliche  und  geistliche  Volkslieder  und 
Volksschauspiele  [1855]  13  f.  Nr.  7  und  267  f.  =  °-  [1863]  13  f. 
Nr.  7  und  267  f.)  Auf  dieses  Lied  bezieht  sich  nun  die  vierte 
Strophe  im  'Lied  Giraudet  des  Roten  an  Emmeline  Darnai'  (erster 
Druck:  Deutsche  Dichtung,  hg.  von  K.  E.  Franzos,  V  Nr.  11  [1889] 
S.  254)  von  Richard  Leander  (Pseudonvrn  für  R.  von  Volkmann 
[1830—1889],  der  seit  1843  bis  zu  seinem  Ende  in  Halle  lebte), 
wo  es  heifst,  wäre  ich  noch  so  jung  wie  du: 

Wir  setzten  uns  an  des  Flusses  Raud, 
Wir  schauten  hinab  in  die  Wellen 
Und  sängen  das  Lied  von  der  Lorelei 
Und  dem  jung,  jung  Zimmergesellen! 

Jedenfalls  lernte  R.  Leander,  der  auch  sonst  in  seinen  Gedichten 
durch  das  Volkslied  beeinflufst  ist  (s.  O.  Härtung,  Deutsche  Dich- 
tung IV  [1888]  21 8 a),  dieses  Lied  in  Halle,  wo  er  in  den  fünf- 
ziger Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  studierte,  in  Studenten- 
kreisen kennen.  Bekanntlich  hat  auch  Gerhart  Hauptmann  in 
'Schluck  und  Jau'  das  Lied  von  der  Markgräfin  und  dem  Zimmer- 
gesellen verwendet  (s..  Blümml,  Ärch.  f.  n.  Spr.  CXIII  [1904]  286). 


Volkslied-Miszellen.   II.  31 

2.    Zu  'Wer  hat  vom  Petrus   das  gedacht'. 

A.  Hruschka  und  W.  Toischer  {Deutsche  Volkslieder  aus  Böh- 
men [1891]  63  Nr.  95)  teilen  ein  sehr  humoristisches  Lied  auf 
den  hl.  Petrus  aus  Plan  in  Westböhmen  mit,  ohne  zu  ahnen,  dafs 
dessen  Verfasser  Karl  Waldemar  von  Neumann1  ist.  Das 
Lied  findet  sich  zuerst  in  dessen  mit  Heinrich  Reder  zusammen 
verfafstem  Buche:  Soldatenlieder  von  zwei  deutschen  Offizieren 
(Frankfurt  a.  M.  1854)  S.  9.  Es  ist  das  ein  Buch,  in  dem  viele 
Lieder  mit  Volksliedton  stehen  (vgl.  R.  Prutz,  Deutsches  Museum 
IV.  1  [1854]  S.  951  f.).  Ich  gebe  hier  den  Originaltext  und  dazu 
die  Varianten  des  deutschböhmischen  Liedes: 

Wer  hätt'   vorn   Petrus   das  gedacht. 

1.  Wer  hätt'  vom  Petrus  das  ge-  3.  Doch  wann  wir   wieder  zieh'n 

dacht,  nach  Haus, 

Dafs  er  so  tolles  Wetter  macht?  Ist's  mit  dem  hübschen  Wetter  aus! 

Das  ist  ein  ganz  langweiliger,  ü  so  ein  Heil'ger  ist  gar  fein,  — 

Ganz  sonderbarer  Heiliger  I  Der  braucht  ja  nicht  dabei  zu  sein ! 

2.  Wann  wir  zum  Exerciren  geh'n,  4.  O  Petrus !  denk'  an  Malchus  Ohr 
Läßt  er  die  Sonn'  am  Himmel  steh'n !  Und  stell'  dir  unser  Elend  vor. 
Da  wird  dann  hin  und  her  marschirt,  Geh,  heil'ger  Petrus,  sei  gescheit, 
Dafs  man  die  Lust  gar  bald  verliert.  Laß  regnen  doch  zur  rechten  Zeit ! 

Varianten:  1,1  hat;  —  1,2  tolles  Wetter;  —  1,3  ganz  fehlt;  —  1,4 
ganz  fehlt;  dafür  steht  ein;  —  2,  l  wenn;  —  2,3  dann  fehlt;  —  2,4  dafs 
man  bald  die  Lust  verliert;  —  3,  l  wenn  wir  gehn  . . .;  —  ;i,  2  schönen;  — 
3,  3  ist  so  ein  Heiliger  ja  recht  fein ;  —  3,  4  Er  braucht  gar  nicht  . . . ;  — 
4,1  Petrus,  denk'  noch  an  das  Ohr;  —  4,2  dieses  Elend;  —  4,4  Gib 
Sonn'  und  Reg'n  zur  rechten  Zeit. 

Strophe  3  zeigt  in  der  mündlichen  Überlieferung  in  Z.  3 
und  4  eine  Verdunkelung  des  ursprünglichen  Sinnes,  ebenso  be- 
deutet 4,  l  eine  Verschlechterung,  alle  übrigen  Varianten  ver- 
ändern den  ursprünglichen  Text  wenig. 

3.    'Ich   klopf   schon   lang  an   deiner  Pfort\ 

Ein  geistliches  Lied  mit  solchem  Anfang  findet  sich  aus 
Franken  nach  mündlicher  Überlieferung  bei  Ditfurth,  Fränkische 
Volkslieder  I  (1855)  12  Nr.  17,  aus  Steiermark,  eingelegt  in  das 
Vordernberger  Paradiesspiel,  bei  K.  Weinhold,  Weihnachtsspiele 
und  Lieder  aus  Süddeutschland  und  Schlesien  2  (1875)  334  f.,  aus 
Bayern  bei  A.  Hartmann,  Weihnachtslied  und  Weihnachtspiel  in 
Oberbayern  (1875)  103  ff.  Nr.  132  (vgl.  auch  S.  46  f.),  und  Hart- 
mann-Abele, Volkslieder,  I.  Volksthümliehe  Weihnachtlieder  (1884) 
218  f.  Nr.  134,  und  nach  einem  fliegenden  Blatte  bei  F.  L.  Mittler, 

1  Über  K.W.  von  Neumann  (1830-1888)  vgl.  Fr.  Brummer,  Lexikon 
der  deutschen  Dichter  und  Prosaisten  des  19.  Jahrhunderts  III-  140. 


32 


Volksliod-Miszellen.    TT. 


Deutsche  Volkslieder2  (1865)  •'>>.'1>'_)  Nr.  428.  Eine  nicht  uninteressante 
Variante  dazu  enthält  das  Manuskript  Nr.  980  der  Innsbrucker 
k.  k.  Universitätsbibliothek,  das  aus  ca.  1760  stammt  und  von  einem 
Geistlichen,  der  in  der  Gegend  von  Ingolstadt,  wie  mehrere  Stellen 
in  den  Liedern  beweisen,  lebte,  zusammengeschrieben  wurde. 

Ode  pastoritia. 

[lla]    1.   Ich   klopf    schon    lang    vor 
dein  port, 
ach  freindin,  mach  mir  auf! 
in  diser  au  find  sonst  kein  orth, 
schon  laug  ich  herumblauff; 
ich  bin  ganz  math,  glaub  sicherlich, 
die  herberg  mir  abschlage  nit, 
ich  bitt  herzinniglich. 

2.  wer  da,  wer  klopft  vor  meiner 
thir? 
wer  will  zu  mir  herein? 
mein  hüttlein  ich  eröffne  nit, 
ich  laß  niemand  herein, 
allhier  ich  mich  allein  befindt, 
vil leicht  mechts  sein  ein  loses  kind, 
nein,  nein,  lafs  dich  nit  'rein. 

f..  Ich  bin  ein  kind   von  hochen 
stam, 
o  werthe  schäfferin, 
und  hab  niemand  kein  leyd  gethan, 
ganz  from  ich  alzeit  bin ; 
ein  schäfflein  ich  verlohren  hab, 
so  ich  muel}  suechen  tag  und  nacht, 
forthin,  bis  ich  es  find. 

Ein  Vergleich  der  einzelnen  Lieder  untereinander  ergibt: 
1=1  D.,  M.,  H.;  2  W.;  —  2  =  teilweise  2  D.,  M.,  H.;  —  3  = 
3  D.,  M.,  W.,  H.;-4  =  4D,M,H.;-5  =  5  D.,  M.,  H.;  4  W.;  — 
6  6  D.,  M.,  H.  Die  meiste  Abweichung  von  allen  bisher  be- 
kannten Texten  zeigt  2  i_ 4. 


4.  glaub   schwärlich,  das(s)   in 

meiner  au 
sich  ein  frembds  schaff  befind(t), 
bevor  ich  aber  d'thir  mach  auf, 
sag  an,  wer  bist  mein  kindt? 
oder  wer  ist  der  vatter  dein, 
das(s)  du  iezt  schon  ein  hirt  must 

sein, 
so  klein,  so  zart  und  fein? 

5.  mein  vatter  ist  von  ewikheit 
und  ewig  ist  sein  reich, 

sein  eingbohrner  söhn  zugleich 
ich  ewig  bey  ihm  bleib, 
dein  arme  seel  von  dir  begehr, 
so  ich  mues  suechen  hin  und  her, 
drum  bin  ich  hier,  schenckhs  mir. 

[llbJ    6.   o  Jesu,    was   hab  ich  ge- 
dacht, 
o  edler  seelenschaz, 
das(s)  ich  nit  eh  hab  aufgemacht  ? 
bey  mir  solst  finden  blaz. 
mein  seel  ich  dir  ergeben  thue, 
darin  wolst  nemen  deine  ruhe1, 
ich  bitt,  versags  mir  nit. 


4.   Itzunder  ist  die  Zeit,   erhebt  sich  Krieg  und  Streit. 

L.  Erk  hat  in  der  von  ihm  besorgten  Ausgabe  von  Des 
Knaben  Wnnderhorn  IV  (1854)  335  ff.  ein  Kriegslied  aus  ca.  1630 
nach  einer  Handschrift  mitgeteilt,  das  bei  F.  L.  Mittler,  Deutsche 
Volkslieder2  (1865)  871  f.,  und  Hoff  mann  von  Fallersleben,  Die 
deutschen  Gesellschaftslieder  des  16.  u.  17.  Jahrhunderts  II2  (1860)  50  ff. 
Nr.  287  (vgl.  auch  K.  Jauicke,  Das  deutsche  Kriegslied  [1871]  S.  21), 
wieder  abgedruckt  wurde.  Das  Lied  war  jedoch  schon  1603  be- 
kannt, wie  das  Manuskript  M.  297  der  kgl.  öffentlichen  Biblio- 
thek in  Dresden   lehrt,   worin  das  Lied  auf  S.  152  f.  (Str.  1—6 


1  Einsilbig  zu  lesen,  also:  nie  (=  rüa). 


Volkslied-Miszellen.    IT.  33 

auf  S.  152,  Str.  7-10  auf  S.  153)  unter  der  Aufschrift:  'Sol- 
daten Liedlein'  zu  finden  ist.  Ich  gebe  hier  nur  die  Varianten 
gegenüber  dem  Erkschen  Druck,  wobei  jedoch  orthographische 
Varianten  nicht  berücksichtigt  sind. 

1,  2  erhebt  sich  mancher  streit;    -    3  das  hertz;  —  5  kom;  —  7  nach  einß 

jeden  guten  kauft. 
2,2  alda  sich;  —  3  prave;  —  6  dem;  —  7  Soldat  da  erscheint. 

3. 1  keinen ;  —  7  seinem. 

4,  1  Dann  muß  mancher;  —  2  seinen;  —  5  davon;  —  7  einen  andern. 

5.2  Heiden;   —  4  dan ;  —  6  bescheren;  —  7  doch  fehlt;  allen  Ehren. 

6,  2  da  klagt;  —  4  thue;  —  5  dennoch;  —  7  ein  ander  vberkomme  baldt. 

7,  1  da  hebt  sich  klagen  an;  —  3  den. 

8. 1  praver ;  —  2  gweßen ;  —  3  vorn  feinde ;  —  7  gnadt  ihm  Gott. 

9. 2  theilt  man    auß   gute  beut ;   —  3   manchem  Soldaten   das  hertz ;   — 

5  ander  krigt  gelt;  —  6  wie  es  den  feit;  —  7  zu  fehlt. 
10,2  kriegt  allezeit;  —  4  Gottf ürchtig ;  —  5  sag  ich  dir  frey. 

5.    Auf,  auf  ihr  Hirten,  nicht  schlafet  so  lang. 

Die  Handschrift  980  (aus  ca.  1760)  der  Universitätsbiblio- 
thek in  Innsbruck  enthält  von  diesem  Liede  eine  Fassung  aus 
Bayern,  die  von  allen  bisher  bekannten  Fassungen  durch  eine 
Zusatzstrophe  und  auch  sonst  abweicht. 

[43 aJ  De  Christo  nascente. 

1.  Auf,  auf  ihr  hirten,  nicht  schlaf fet  so  lang! 
Die  nacht  ist  vergangen,  es  scheinet  die  sonn. 

ein  kindlein  klein,  •)• 
das  unser  erlöser  und  heyland  soll  sein. 

2.  zu  Betlehem  drunten  geht  nider  der  schein, 
es  mues  ja  was  himlisches  verborgen  drunten  sein. 

•  |  ■  ein  alter  stall  •  |  • 

erglänzet  und  scheinet  als  wie  ein  Cristall. 

3.  ein  selzame  music  in  wolckhen  erklingt, 
das  gloria  in  xcelsis  ein  Engl  vorsingt. 

•  |-  los  nur  grad  zue,    |- 

gelt  urbel,  es  gfalt  dir,  i  glaub  dirs.  mei  bue. 

4.  so  geh  nu  mei  Frizl  und  bsin  di  nit  lang, 
stich  ab  mei  feins  kizl  und  wag  halt  ein  gang. 

•J-  buckh  dich  fein  schön  •  • 

und  ruckh  flux  dein  hietl,  wan  d'eini  wüst  gehn. 

5.  zwischen  zwey  thieren,  den  es l  und  rind, 
do  ligt  ganz  erstarret  das  liebreiche  kind. 

•j-  0  großer  gott,  -|- 

ich  trau  mirs  nicht  z'sagen,  ich  schäm  mich  zu  todt. 

6.  ein  uraltejr]  tattl  in  eisgrauen  barth 
den  liebreichen  kindlein  ganz  fleißig  aufwarth. 

•  |  •  auf  bloßer  erd  ■  j  • 

ein  zartes  jungfreilein  den  heiland  verehrt. 

7.  o  göttliches  kindlein,  verschmech  es  doch  nit, 
wir  opfern  ein  lämmlein,  erhör  unser  bitt. 

•|-  o  gotteslamm,  •  ■ 

nimm  hin  unsre  sinden,  es  ist  ja  dein  nam. 

Archiv  f.  11.  .Sprachen.     CXV.  ',) 


3)  Volkslied-Miszellen.    II. 

Die  nächste  Verwandtschaft  zu  diesem  Text  zeigt  ein  sechs- 
strophiger  Text  aus  Oberösterreich  (W.  Pailler,  Weihnachtlieder 
und  Krippenspüle  aus  Oherösterreich  und  Tirol  I  [1881]  189  f.  Nr.  180) 
und  der  zu  diesem  nahe  verwandte  sechsstrophige  aus  Nieder- 
österreich (A.  Hof  er,  Weihnachtslieder  aus  Niederösterreich,  Programm 
[1890]  27  Nr.  XVII).  Das  Verhältnis  zueinander  stellt  folgende 
Übersicht  dar: 
1  =  1P.,H.;  —  2  =  3P.,H.;  —  3  =  2  P., H.;  —  4  =  4P.,H.;  — 

5  =  6P,  H.;  —  6  =  5P.,H. 
Entferntere  Verwandtschaft   zeigen   ein    vierstrophiger   Text   aus 
Niederösterreich  (F.  Ziska  und  J.  M.  Schottky,  Österreichische  Volks- 
lieder mit  ihren  Singeweisen  [1819]  44  f.;   danach   abgedruckt   bei 
J.  M.  Firmenich,   Germaniens  Völker  stimmen  II  [1846]  800): 
1  =  teilweise  1  Z.,  F.;  --  2  =  2  Z.,  F.;  —  4  =  gröfstenteils  3 

und  4  Z.,  F., 
und  eine  sechsstrophige  Aufzeichnung  aus  dem  Erzgebirge  (J.  Stock- 
löw,  Mitteilungen  des  Vereins  für  Geschichte  der  Deutschen  in  Böh- 
men HI  [1865]  120): 

1  =  teilweise  1  St.;  —  2  =  4  St.;  —  4  =  3  St.;  —  5  12  = 
5  12  St.;        5  34  =  6  34  St.;  —  6  12  =  6  12  St.;  —  6  :u  =  5  34  St. 

Bruchstücke  des  Liedes  enthält  das  Weihnachtslied  aus  Käsmark 
(Oberungarn)  im  Gesang  des  Engels  (K.  J.  Schröer,  Deutsche  Weih- 
nachtsspiele aus  Ungern  [1862]   15920—29): 

1  1—3  =  159  20—23  Seh.;  —  2  2—4  =  159  24—27  Seh.;  — 
6  12  =  159  28  f.  Seh. 
Durch  den  Anfang  ist  das  Lied  auch  für  eine  sechsstrophige 
bayerische  Fassung  belegt  (A.  Hartmann,  Weihnachtlied  und  Weih- 
nachtspiel in  Oberbayern  [1875]  105  Nr.  135).  Auch  eine  füuf- 
strophige  bayerische  Fassung  ist  bekannt  (Hartmann-Abele,  Volks- 
scJiauspiele  [1880]  7  f.): 

1  =  1  H.-A.;  —  2  =  2  H.-A.;  —  4  =  5  H.-A.;  — 
5  12  +  6  34  =  3  H.-A.;  —  6 12  =  4 12  H.-A. 

6.    Zu  'Heissa!   lustig  ohne   Sorgen'. 

Das  Lied  'Heissa!  lustig  ohne  Sorgen  leb'  ich  in  den  Tag 
hinein',  dessen  Verfasser  Ferdinand  Raimund  ist  (Hoffmann  von  F., 
Unsere  volksthümlichen  Lieder  3  [1869]  67  Nr.  415;  4  besorgt  von 
K.  H.  Prahl  [1900]  115  Nr.  540),  und  das  sich  zuerst  in  dessen 
< Sämm fliehe  Werke',  hg.  von  Joh.  N.  Vogl,  IV  (Wien  1837)  168  f., 
gedruckt  findet,  ist,  wie  bisher  allen  entgangen  ist,  im  Elsafs  als 
Volkslied  aufgezeichnet  worden  (Curt  Mündel,  Elsässische  Volks- 
lieder [1884]  280  f.  Nr.  249).  Das  Lied  stammt  aus  dem  'Ver- 
schwender' (1.  Aufzug,  6.  Szene),  entstand  1833  und  ist  eine  Ver- 


Volkslied-Miszellen.    II.  35 

herrlichung  des  Bedientenlebens.    Ich  gebe  hier  den  Originaltext 
und  die  Mündeischen  Varianten. 

[1G8]  1.  Heissa!  lustig  ohne  Sorgen  Drittens  kann  ich  prächtig  singen, 

Leb'  ich  in  den  Tag  hinein,  Meine  Stimme  gibt  so  aus: 

Niemand    braucht   mir    was    zu  Denn  kaum  laß  ich  sie  erklingen, 

borgen,  Laufen's  Alle  gleich  hinaus. 

Schön  ist's,  ein  Bedienter  z'seyn.  „    T,.    :          .           .  ,        ,     . 

Erstens  bin  ich  zart  gewachsen,  3"   Viertens    ka™    icb-    schrei- 

Wie  der  schönste  Mann  der  Welt:  „  u>            d    u          •       oD' 

Alle  Sack'  hab'  ich  voll  Maxen  J*ab  .vom.  Rechnen  eine  Spur, 

Was  den  Mädeln  so  gefällt.  ?Tin, el?  T^chlerg  seil  gewesen  - 

6  Und  ein  Mann  von  Politur. 
2.   Zweitens  kann  ich  viel  er-  [169]  Fünftens,    sechstens,    sieb'ntens, 

tragen,  achtens 

Hab'  ein  lampelfrommen  Sinn;  Fallt  mir   wirklich  nichts  mehr 

Vom  Verstand    will   ich   nichts  ein; 

sagen,  Darum  muß  meines  Erachtens 

Weil  ich  zu  bescheiden  bin!  Auch  das  Lied  zu  Ende  seyn! 

Was  das  Strophen  Verhältnis  betrifft,  ist:  1  i— 4  =  IM.;  - 
1  5-8  =  3  M.;  -  2i-4  =  4M.;-2  5-8  =  5M.;  —  3  i-4 
=  6  M.;  —  3  5—8  =  7  M.    Die  dritte  Strophe  Mündels  ist  ein  Ein- 
schiebsel  ohne  Entsprechung.     Die  Varianten   sind   nicht   unbe- 
deutend: 

1 1  Ei  so  lustig;  —  1  4  Es  ist  ja  schön  ein  Herr  zu  sein;  —  1  5  groß 
gewachsen ;  —  1  6  schöner  als  ein  Mann  der  Welt ;  —  1  7  f.  alle  Sach'  hab' 
ich  erfahren,  die  den  Mädchen  wohlgefällt;  —  2  2  Mein  Leben  hat  einen 
frohen  Sinn;  —  2  5 f.  Drittens  kann  ich  tanzen  und  singen,  Meine  Stimme 
geht  mir's  aus ;  —  2  7  Denn  fehlt ;  —  2  s  Schauen  alle  Leut'  heraus ;  — 
3i  lesen  und  schreiben;  —  33  Dichtersg'sell ;  —  3g  Endlich  fällt  mir 
nichts  . . .;  —  3  7  Ei  so  muß  bei  meiner  Ehre;  —  3  s  Dieses  Lied. 

Das  Lied  hat  sich  im  Elsafs  aus  einem  Bedientenliede  zu 
einem  Herrenliede  entwickelt,  das  gleichzeitig  alles  spezifisch 
Wienerische  (vgl.  besonders  1  i  und  2  2)  abstreifte.  Interessant 
ist  die  Umwandlung  des  Tischlergesellen  (3  3)  in  einen  Dichter- 
gesellen, denn  ersterer  hat  dem  Volke  jedenfalls  nicht  für  einen 
Herrn  gepafst.  In  2  6  setzt  der  Text  aus  dem  Volksmunde  an 
die  Stelle  von  Verständlichem  einen  Unsinn. 

7.    Kapuzinerlied   aus   ca.   1760. 

Die  Handschrift  980  der  k.  k.  Innsbrucker  Universitäts- 
bibliothek enthält  ein  aus  Bayern  stammendes  Kapuzinerlied  aus 
ca.  1760,  das  in  derbkomischer  Weise,  etwa  in  der  bekannten 
Art  Blumauers,  das  Leben  der  Kapuziner  schildert. 

j-4a-j  Capucini. 

1.  unser  leben  war  schon  recht,  2.     die    kutten     war    uns     a    nit 

wans  no  nit  war  gar  so  schlecht.  z 'schwär, 

auwe,    wie    blats '    mi,    auwe,    wie      wans  nur  nit  so  lausig  war. 
blats  mi.  auwe  (etc.). 

1  bläht  es  mich 


36 


Volkslied-Miszellen.    II. 


8.  a  rauche  winterkutten  hab  nia  do, 
das  einer'«  kaum  derleiden  kon. 
auwe  (etc.). 

4.  in  garten  mieß  ma  a  graben 
und  dabey  wenig  z'nagen. 
auwe  (etc.). 

5.  und  wan  ma  haben  auch  gra- 

ben gnue, 
krieg   ma    kam    [a]    bitschen2   bier 

dazue. 
auwe  (etc.). 

j4bj    6.   die   bitschen   bier,   die  war 

schon  recht, 
die  kost  ist  halt  zimla  schlecht, 
auwehe  (etc.). 

7.  öpfl,  birn,  gersten,  reis 
ist  fast  unser  täglich  speis, 
auwe  (etc.). 

8.  alleweil  collation, 

der  magen  will  halt  a  nit  dran, 
auwehe  (etc.). 

9.  und  dabey  kein  dröpfn  wein, 
kint  den  a  was  schlechters  sein. 
auwehe  (etc.). 

10.  Der  Quardian  ist  zimli  stolz, 
bständig  soll  ma  tragen  holz, 
auwe  (etc.). 

11.  wan   ma  holz    haben    tragen 

gnue, 
krieg  ma  no  a  bues  dazue. 
[auwe  etc.]. 

12.  beyn  dag  mieß  ma  schwizen, 
bey  der  nacht  auf  den  boden  sitzen. 
auwehe  (etc.). 

13.  und  kein  dropfa  bier  dabey; 
ist  nit  dis  a  lauserey? 

auwe  (etc.). 


11.  wassa  trinckha  no  dazue, 
war  uns  ['s]  boden  sitzen  gnue. 
auwe  (etc.). 

15.  an  brockha  brod,  den  gibt  ma 

her, 
freß  aina  offt  8  mahl  mehr, 
auwe  (etc.). 

16.  drauf f  soll  ma  schlaffen  gehen, 
kan  ainer  kaum  aufn  bainern  stehen, 
auwe  (etc.). 

17.  es  garzt3  da  bauch  a  no  damit, 
er  gibt  die  ganze  nacht  kain  fried. 
auwe  (etc.). 

18.  da    strosackh,    der    ist    unsa 

bett, 
i  wolt,    das  ['s]   grad    der  Wunder ' 

b.ätt, 
auwe  (etc.). 

19.  und  kein  duckhnt  no  dabey, 
da  wickhla  ma  uns  in  d'kutten  ein. 
auwe  (etc.). 

20.  und  was  das  örgist  no  dazue, 
so  habma  offt  die  nacht  kein  ruhe, 
auweh  (etc.). 

21.  wan    d 'nacht     ist    in    vollen 

lauff, 
da  heissts,  brüder  gehts,  stehts  auf. 
(auwe  etc.). 

[5a]    22.  in  chor  da  mieß  ma  singa. 
das  ma  mechta  daspringa. 
aus  wehe  (etc.). 

23.  singa  war  uns  a  nit  zschwar, 
wans  nu  nit  so  trenzet5  war. 
auwehe  (etc.). 

24.  fangt  ainer. a  wenig  früer  an, 
da  schreit  der  P.  Quardian. 
auwehe  (etc.). 


25.   gehts  iezt,  brieder,  gehts  nachhaus, 
gott  sey  lob,  da  chor  ist  aus. 
Auwe  (etc.). 

2  Hs.   bischten       3  knarrt,  knirscht      4  euphem.  für  Teufel 
zusammenhängend 


abgesetzt,  nicht 


Ein  anderes  Lied  auf  den  Kapuziner,  das  im  Gegensatze 
zu  unserem,  welches  subjektiv  ist,  die  Glückseligkeit  dieses 
Standes  preist,  liegt  aus  Steiermark  vor  (A.  Schlossar,  Deutsche 
Volkslieder  aas  Steiermark  [1881]  260  Nr.  235),  noch  ein  anderes 
aus  Schwaben  (E.  Meier,  Schwäbische  Volkslieder  [1855]  165 
Nr.  74). 


Volkslied-Miszellen.    II.  87 

8.    Der  Bauer  und   der  Knecht  zur  Lichtmefszeit. 

Joh.  Wurth  teilte  aus  Niederösterreich  ein  Lied  mit  {Die  deut- 
schen Mundarten  IV  [1857]  528  ff.),  welches  das  Verhältnis  zwi- 
schen Bauer  und  Knecht  zur  Zeit  um  Lichtmefs,  der  Wanderzeit 
der  Dienstboten,  behandelt.  Dieses  und  ein  steirisches  Lied 
(R.  Fischer,  Oststeirisches  Bauernleben  [1903]  S.  153  f.)  stellen  Aus- 
läufer eines  Liedes  dar,  das  sich  in  der  Hs.  980  der  Innsbrucker 
Universitätsbibliothek  findet,  aus  ca.  1760  stammt  und  in  Bayern 
zu  Hause  war.  In  diesem  Liede  tritt  der  Knecht  noch  selbst- 
bewuister  auf  wie  in  dem  niederösterreichischen  und  ist  auch  in 
seinen  Drohungen  durchaus  nicht  zurückhaltend. 

[89a]       'S  schlengl1  lied  (Tempus  mutationis  servorum). 

1.  es  kam  wohl  um  die  liechtmeß  zeit, 
die  kriecht,  die  werden  frisch, 

ein  ieder  legt  sein  braxen2  on, 
stehtn  bauer  fürn  tisch. 

2.  der  jüngste  kund3  aus  all  gottsam1, 
a  köckha,  frischa  bue, 

der  fangt  vor  alle  zu  reden  an, 
sprichtn  baurn  aft  zue. 

3.  'baur,  i  sag  dirs,  zahl  mi  aus, 
[89  h]      mein  lidlon  mustma  geben, 

i  schlag  di  sonst  zum  schwindaling 5, 
das  di  d'  bäurin  mus  aufheben.' 

4.  schlägst  du  mi  zum  scbwinderling, 
das  mi  [d'j  bäurin  mus  aufheben, 
dawischtdi  gwilj  mein  dochtaman, 

der  knarschtü  di  bis  aufs  leben. 

5.  derwischt  di  nu7  mein  dochtamo, 
der  knarscht  di  bis  aufs  leben. 

'bau  i  2  gstuzlte8  hund  dahaim, 
was  gilts,  sie  wem  di  heben 9.' 

6.  hast  du  2  gstuzlte  hund  dahaim, 
was  gilts,  sie  wem  mi  heben, 

han  i  a  gutte  kuglbix, 

dein  hunden  'n  rest  kan  geben. 

7.  'was  frag  i  nach  der  kuglbix, 
sie  ko  ma  schlets  nix  than, 

i  und  mei  hund  seind  mitenand 
weit  fester  als  a  bam.' 

8.  beürin  trag  ma'n  geldsackh  rein, 
das  i  den  narrn  zahln  kan  aus, 

er  fangt  sonst  a  unglickh  an, 
bringn  dauerst10  nit  ausn  haus. 

1  schlenkeln  vb.  —  einen  Dienst  verlassen  und  einen  anderen  suchen  2  ver- 
ächtlich für:  Schwert  (vgl.  Schmollet-- Frommann,  B.  Wb.  I  344)  :l  junge,  unver- 
heiratete Person  '  aus  allen  zusammen  5  Kopf;  zum  schwinderling  =  auf  den 
Kopf  (vgl.  auch  Schm.-Fr.,  B.  Wh.  II  637)  6  quetscht  dich  (Schm.-Fr.,  B.  Wb. 
I  1.153  s.  v.  knarrezen;  Grimm,  I>.  Wb.  V  1493  s.  v.  knorzen  1)  7  nur  8  Hunde 
luit  gestutztem  Schweif       9  in  die  Höhe  bringen,  wegbringen       10  dennoch 


88  Volkslied-Miszellen.   IL 

9.  'baur,  dös  war  a  anders  körn, 
wan  [s  d']  amahl  von  gelt  was  siegst!' 

90 a]     kundt,  gib  ma  iezt  no  guette  worth, 
sinst,  meinais  ",  kein  kreüzer  kriegst. 

10.  So,  da  hast  an  görgls  thala  12, 
konst  warli  schniozen13  dazue, 

ist  a  weisser  schimmel  drauff, 
a  scheena  gsteiffte14  bue. 

11.  'baur,  a,  i  ho  an  den  nit  gnue, 
der  filt  ma  'nsöckhl  nit  ein, 

hat  gmait,  i  will  schlets15  gelt  auswerffa, 
wan  i  den  lidlon  nim  ain.' 

12.  hast  gmait,  du  wilst  schlets  gelt  auswerffen, 
wan  du  den  lidlon  nimbst  ein, 

hast  aba  mießen  bessa  zur  arbeith  greiffen 
und  um  a  guets  fleißiger  sein. 

13.  'hast  mir  offt  a  suppen  geben, 
di  mi  nit  feindtli16  gfreüt!' 

i  han  di  offt  an  d'arweith  gschafft, 
hast  a  nit  feindli  geilt. 

14.  'baur,  rupf17  ma  dös  nit  für, 
dös  is  guet  teütsch  dalogen, 

i  ha  ja  troschen,  gmat  und  gsat, 
das  i  bin  no  einbogen  18.' 

15.  dös  ist  ma  wohl  a  bazete  19, 
schau,  gehst  do  körzenkrad 

[90 b]    und  bist  so  schein20  und  röselet, 
als  wan  gwest  warst  praelat. 

16.  'bey  roggabrod  und  hobamues 
waxt  warli  nit  vil  schmer, 

i  bin  no  von  natur  so  hibsch, 
als  wan  i  war  a  her.' 

17.  3  mahl  die  wochn  knödl  und  fleisch 
han  i  dir  gebn  gnue 

und  mit  den  bösten  bier  angfilt 
den  anderhalbmaßigen  krueg. 

18.  'Sey  dem  iezund  wie  ihm  will, 
i  mues  amahl  halt  fort, 

bey  dir  bleib  i  halt  nimamehr, 
bekhim  schon  a  onders  orth.' 

19.  'bhüet  nu  gott,  mei  beürin 
und  habt  ma  nichts  für  übl, 
schitt  als  guts  und  bös  zusam 
in  eurn  buttakibl.' 

20.  'bhüet  di  gott,  mein  lippl, 
und  halt  di  nur  fein  schein20, 
hab  got  alzeit  vor  augna, 

dem  bäum  fleißig  dien.' 

21.  'bhüet  di  gott,  mei  oxenbue, 
nim  du  die  Joppen  hin, 

11  wohl  verschrieben  für  mainaid  n  Georgstaler  ,3  lächeln  14  Bursche 
commo  il  fallt  K  gemein;  gewöhnliche,  kleine  Münze  16  sehr  I7  vorrupfen  = 
vorwerfen       18  gebückt      ,9  Protziger      w  schön 


Volkslied -Miszellen.   II. 


39 


[9la]    die  droma[t]  in  meina  kama  ligt 
und  denckh  halt  a  an  mi.' 

22.  'bhüet  di  gott,  mei  diern, 
wans  äfften  gschechen  solt, 

das  d'amahl  zur  hex  solst  wem, 
thue  mier  nix,  merkhsmas31  wohl.' 

23.  'bhiet  nu  gott  iezt  alle  sambt, 
was  wölts  um  mi  vil  rehren22, 

i  geh  halt  fort  in  gottes  nam 
und  suech  ma  an  andern  hern.' 

21  wohl:  merkhdas  ■=■  merke  es  dir,  oder  merlchmas  =  merke  es  mir     ^  Ge- 
schrei machen 

9.    Zu  'Weil  du,   o  Philidor'. 

Ditfurth  (Deutsche  Volks-  und  Gesellschaftslieder  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts  [1872]  19  f.  Nr.  18)  teilte  nach  einer  alten  Hand- 
schrift ein  Schäferlied  auf  Philidor  mit,  das  sich  auch  in  der 
Handschrift  980  der  Innsbrucker  Universitätsbibliothek  findet 
und  zwar  in  einer  reineren,  ursprünglicheren  Fassung. 


Slb] 


In  amicum   minus  fidelem. 


1.    weill  du,  o  Philidor, 
mich  nunmehr  verlassen, 
so  wandere  deine  straßen; 
das  sag  ich  dir  bevor: 
eh  die  Donau  wird  fließen 
die  hegst  berg  hinauf, 
ehe  du  wirst  ohne  hießen 
vollenden  deinen  lauf  f. 

52 a]   2.  ist  dir  dan  nit  bekhant, 
wie  das  actseon  gefunden 
zerrißen  von  den  hunden, 
nit  wegen  unbestandt, 
mehr  sein  vorwizigs  sehen 
hat  ihn  so  zugericht; 
wie  wirds  dan  dem  erst  ergehen, 
der'  treu  und  glauben  bricht! 

3.  falt  dir  dan  nit  mehr  ein, 
wie  du  bey  deinen  ehren 

mir  öffter  thättest  schweren, 
kein  ander  soll  es  sein. 
wie  bald  hat  sich2  verkheret 
dein  gestelte3  liebesbrunst! 
hat  länger  nit  gewehret 
als  nebl,  rauch  und  dunst. 

4.  mein  alzuleichter  glaub, 
in  den  ich  tausend  leben 
vor  deine  treu  hätt  geben, 
beforhte  keinen  raub. 


du  bringst  mich  in  das  leiden, 
dan  wie  ich  hör  von  dir, 
wilst  du  iezt  von  mir  scheiden, 
dis  fallet  schmerzlich  mir. 

5.  Versteh  es  zwar  gar  wohl, 
das  meine  schäfferssitten 

mit  deines  Stands  meriten 
ich  nit  vergleichen  soll, 
doch  seinddis  lehre  fausen4, 
dan,  wo  die  liebe  rast, 
kan  man  aus  einer  clausen 
bald  machen  ein  bailast. 

6.  untreyes  herz,  gedult! 
ich  wills  den  himml  klagen, 
will  ihm  mein  noth  fürtragen, 
villeicht  find  ich  noch  huld. 
glaub  mir,  der  donnerstrahlen 
gnugsam  noch  gibt  ab, 
villeicht  sie  auf  den  fahlen, 
der  mir  bereith  das  grab. 

7.  adieu,  o  Philidor, 

ich  gehe  zu  meinen  schüfen, 
du  wirst  mich  nit  mer  äffen, 
vor  dir  schließ  ich  das  thor. 
doch  winsch  ich  dir  von  herzen 
nichts,  als  nur  glickh  und  heil, 
wilst  du  uns  nur  ausscherzen, 
so  lach  ich  meinen  theil. 


1  Ms.  das       2  Hs.  dich       3  so  beschaffene,  so  aussehende       *  so  die  Hb.,   s^ll 
wohl  heifsen  :  flau  seil 

Die  Strophenfolge  ist  bis  auf  eine  kleine  Umstellung  (2  =  3  D.; 
—  3=2  D.)  dieselbe. 


40  Volkslied-Miszellen.    II. 

10.    Die  Wallfahrt   der   Pinzgauer. 

Die  zwei  bisher  bekannten  Fassungen  dieses  Liedes  (älterer 
und  jüngerer  Text)  finden  sich  in  Erk-Böhme,  Deutscher  Lieder- 
Juni  III  (1893)  547  ff.  Nr.  1761  f.,  eine  Literaturzusammenstel- 
lung bringt  Joh.  Bolte,  Der  Bauer  im  deutschen  Liede  in  Acta  ger- 
manica I  (1890)  S.  300  Nr.  210,  beiden  entging  jedoch  die  Fas- 
sung aus  Salzburg  bei  M.  V.  Süfs,  Sahburgische  Volkslieder  (1865) 
103  ff.  Nr.  3  (Melodie  S.  333  f.  Nr.  26),  und  'Die  Wallfahrt  der 
Binsgauer  zum  hl.  Rock  nach  Trier'  (Ditfurth,  Die  historischen 
Volkslieder  von  der  Verbannung  Napoleons  nach  St.  Helena  1815  bis 
zur  Gründung  des  Nordbundes  1866  [1872]  80  f.  Nr.  56).  Zwei  be- 
merkenswerte Varianten  enthält  die  bayerische  Hs.  980  der  Inns- 
brucker Universitätsbibliothek  aus  ca.  1760. 

[25a]  a)   Pinzgenis. 

1.  Die  pinzger,  die  wolten  kirchf arten  gehen, 

kyri  widäre  steleyson! 
der  S.  Salvator  am  bergl  thuet  stehen, 

Christi  widäre  steleyson! 
sie  gangen  umb  d'  kirchen  und  schrien  von  ehe 

Juhe!   Kyri  widäre! 

gelobt  sey  Christi  und  Salome! 

2.  o  Sanct  Salvator,  du  guldner  mo, 

kyri  etc. 
schau  uns  nur  für  recht  guette  a, 

Cristi  etc. 
pinzga  seind  wir,  das  weist  von  ehe, 

Juhe!  etc. 

gelobt  etc. 

3.  gehts  voran  mit  der  hopfastanga', 

kyri  etc. 
gehts  gschwind,  thuets  den  Salvator  mit  branga2, 

Cristi  etc. 
opferts  ein  pfening  und  schmazts3  fein  von  ehe, 

Juhe  etc. 

[gelobt  etc.] 
1.    schickh  uns  kühe  und  schickh  uns  rinda, 

kyri  etc. 
und  darzue  nit  gar  vil  kinda, 

Christi  etc. 
ein  duzet  ist  gnue,  das  weist  ja  von  eh, 

Juhe  etc. 

gelobt  etc. 
5.    laß  unsern  pflega  von  teüffl  bald  holla, 

kyri  etc. 
so  derffen  wir  fein  khein  steür  mer  zohla, 

Christi  etc. 
er  schindt  uns  gar  feindla,  das  weist  ja  von  eh, 

Juhe  etc. 

gelobt  etc. 

1  Fahne       2  tut  den   Salvator  damit  schmücken       3  bringt  einen  schallenden 
Laut  hervor 


Volkslied-Miszellen.   II.  41 

6.    wir  bitten  endtlich  um  ein  seliges  endt, 

kyri  etc. 
das  keinen  die  höll  sein  hosen  verbrent, 

Christi  etc. 
in  himmel  ists  besser,  das  weist  ja  von  ehe, 

Juhe  etc. 

gelobt  etc. 

[72b]  b)  Peregrinatio  Pinzgerorum. 

1.  Pünsga,  d' woltn  khürhfahrta  gehen, 

khüri  widiwe  leison! 
aufn  berg,  wo  S.  Salvator  thuet  stehn, 

Christi  etc. 
Pünsga  sarna,  das  weist  schon  von  eh, 

juhe!  hedi  widi  weh, 

globt  sey  Christi  und  Salome. 

2.  o  S.  Salvata,  du  güettige  man, 

küri  etc. 
gaff  uns  bönsga  fein  freindli  an, 

Christi  etc. 
Rents  um  die  kürhn  und  schreits  als  von  eh, 

juhe  etc. 

globt  etc. 

3.  schickh  uns  a  waid  und  schickh  uns  hey, 

khüri  etc. 
und  nim  ein  ieden  sein  altes  wei, 

Christi  etc. 
sonst  thue  rnas  verwirgen 2,  dis  sogn  ma  dir  von  eh; 

juhe  etc. 

globt  etc. 

4.  Schickh  uns  khüe  und  schickh  uns  rinda, 

küri  etc. 
dazue  fein  a  gesteiffta3  kinda, 

Christi  etc. 
a  duzet  ist  gnue,  das  waist  schon  von  eh, 

juhe  etc. 

globt  sey  etc. 

5.  unsern  richta  lass  den  teüffl  nu  holln, 

küri  etc. 
so  derff  ma  ihm  kain  stair  nit  zohln, 
Christi  etc. 
[73  a]        a  schert  uns  ga  greüli,  das  waist  schon  von  eh, 
juhe  etc. 
globt  etc. 

6.  buema,  iez  mießma  in  stockh4  wos  legen, 

kiri  etc. 
das  ma  fein  kain  sau  nit  aufheben 5, 

Christe  etc. 
so  renna  ma  umb  d'  kirha  und  schreyn  al  von  eh, 

juhe  etc. 

globt  etc. 

1   schaue     2  erwürgen     s  Kinder,   wie  sie  sein  sollen     4  Opferstock     5  Gegen- 
satz zu:  sich  eine  Eine  einlegen,   also   'dafs  wir  keine  Dummheit  machen' 


42  Volkslied-Miszellen.    II. 

7.  buema,  iezt  gehts  zu  da  kircha  hinaus, 

kiri  etc. 
und  fein  schnuergrad  ins  wirthshaus, 

Christi  etc. 
trinckhts  Salvators  gsundheit  fein  von  eh, 

juhe  etc. 

globt  etc. 

8.  und  wans  Salvators  gsundheit  trunckha  habt, 

kiri  etc. 
und  an  ieda  sein  kröpf  vol  an  thanH  hat, 

Christi  etc. 
so  renna  ma  haim  und  schreyen  von  ehe, 

juhe  etc. 

globt  etc. 

6  sich  vollgegessen  hat,  sich  das  Kröpflein  gefüllt  hat 

11.    Gerhards   'Spinnerin'   und   ihr  Verhältnis 
zum   Volkslied. 

Ein  weit  verbreitetes  Lied  (Arnim -Brentano,  Des  Knaben 
Wunderhorn  III  [1808]  40  f.,  danach  Erlach,  Die  Volkslieder  der 
Deutschen  IV  [1835]  152  f.;  A.  Kretzschmer,  Deutsche  Volkslieder 
I  [1840]  209  f.  Nr.  119;  K.  Simrock,  Die  deutschen  Volkslieder 
[1851]  408  f.  Nr.  266;  G.  Scherer,  Jungbrunnen  [1875]  298  f. 
Nr.  159;  Kuhländchen:  J.  G.  Meinert,  Alte  deutsche  Volkslieder  in 
der  Mundart  des  Kuhländchens  I  [1817]  21  f.,  danach  Fr.  L.  Mittler, 
Deutsche  Volkslieder2  [1865]  584  f.  Nr.  834;  Böhmen:  A.  W.  von 
Zuccalmaglio,  Deutsche  Volkslieder  II  [1840]  434  f.  Nr.  229,  da- 
nach Fr.  L.  Mittler  a.  a.  O.  586  f.  Nr.  838,  A.  Hruschka  und 
W.  Toischer,  Deutsche  Volkslieder  aus  Böhmen  [1891]  206  f.  Nr.  190; 
Steiermark:  A.  Schlossar,  Zeitschrift  für  österr.  Volkskunde  I  [1895] 
136  f.  Nr.  8;  Schlesien:  Hoff  mann  von  Fallersleben  und  E.  Richter, 
Schlesische  Volkslieder  [1842]  144  Nr.  119,  danach  Fr.  L.  Mittler 
a.  a.  O.  586  Nr.  837;  Provinz  Sachsen:  L.  Erk,  Neue  Sammlung 
deutscher  Volkslieder,  3.  Heft  [1842]  46  f.  Nr.  43,  danach  J.  M. 
Firmenich,  Germaniens  Völkerstimmen  I  [1846]  155  f.;  Franken: 
Ditfurth,  Fränkische  Volkslieder  II  [1855]  128  Nr.  171;  Schwaben: 
E.  Meier,  Schwäbische  Volkslieder  [1855]  151  f.  Nr.  66;  A.  Birlinger, 
Schwäbische  Volkslieder  [1864]  11  f.  Nr.  11:  Baden:  A.  Bender  und 
J.  Pommer,  Oberschefflenxer  Volkslieder  und  volkstümliche  Gesänge 
[1902]  155  f.  Nr.  136;  Cleve  und  Berg:  L.  Erk  und  W.  Irmer,  Die 
deutschen  Volkslieder  mit  ihren  Singweisen,  3.  Heft  [1839]  47  Nr.  51, 
Erk-Böhme,  Deutscher  Liederhort  II  [1893]  640  Nr.  838 a;  Schles- 
wig-Holstein :  K.  Müllenhof f,  Sagen,  Märchen  und  Lieder  der  Herzog- 
thümer  Schleswig,  Holstein  und  Lauenburg  [1845]  610  Nr.  22  und 
H.  Pröhle,  Weltliche  und  geistliche  Lieder  und  Volksschauspiele  [1855] 
157  f.  Nr.  88;  Braunschweig:  R.  Andree,  Braunschweiger  Volkskunde 
[1896]  S.  348  f.;  Siebenbürgen:  F.  W.  Schuster,  Siebenbürgisch- 
sächsische  Volkslieder  [1865]  135  Nr.  68)  ist  das  Spinnerlied,  worin 


Volkslied-Miszellen.    II.  43 

die  Mutter  ihre  Tochter  durch  mancherlei  Geschenke  zum  Spinnen 
aufmuntern  will,  doch  kann  dieselbe  nicht  spinnen,  weil  ihr  die 
Finger  weh  tun.  Endlich  verspricht  ihr  die  Mutter  einen  Mann, 
und  nun  geht  das  Spinnen  flott.  Eine  Variante  dieses  Liedes, 
die  uns  nicht  überliefert  ist  und  etwa  der  schwäbischen  bei  Meier 
entsprochen  haben  wird,  ist  die  Grundlage  des  Gedichtes  'Die 
Spinnerin'  von  Wilhelm  Gerhard  (1780—1858),  der  zu  Wei- 
mar geboren  wurde,  jedoch  schon  frühzeitig  in  das  Königreich 
Sachsen  kam,  so  dafs  wir  an  eine  sächsische  Variante  denken 
können.  Das  Gedicht  findet  sich  in  dessen  Gedichte  I  (Leipzig 
1826)  S.  101  f.  und  hat  folgenden  Wortlaut: 

[101]  Die  Spinnerin. 

1.  Spinn',  spinne,  liebes  Töchter-      [102]  4.  Und  spinn'  das  Fädchen  glatt 

lein!  und  rund, 

Ich  kaufe  dir  ein  Kleid.  Ich  kauf  dir  einen  Hut. 

Von  Seide,  Mutter,  laßt  es  seyn,  Ja,  Mütterchen,  doch  nicht  zu  bunt; 

Die  Kante  bunt  und  breit!  Ein  gelber  steht  mir  gut; 

Ich  will  auch  gleich  beginnen,  Ich  war',  ihn  zu  gewinnen, 

Seht  nur  wie  flink  ich  dreh.  Wohl  flinker  als  ein  Reh. 

Doch  nein,  ich  kann  nicht  spinnen,  Doch  kann  ich  heut  nicht  spinnen, 

Die  Finger  thun  mir  weh!  Die  Finger  thun  mir  weh! 

2.  Spinn',   liebe  Tochter,   spinne  5.    Spinn',   liebe  Tochter,   spinne 

fein !  flink, 

Ein  Hemde  kauf  ich  dir.  Ein  Kettiein  kauf  ich  dir. 

Das  Hemde,  Mutter,  wird  mich  freun,  Das  Kettlein  und  der  goldne  Ring 

Mit  Spitzen  wünsch  ich's  mir.  Sind  schöner  Bräute  Zier. 

Doch  wär's  vom  feinsten  Linnen  Wie  schmeichelt  ihr  den  Sinnen 

Und  weißer  als  der  Schnee,  Vom  Kopf  bis  auf  die  Zeh ! 

Kann,  Mutterchen,  nicht  spinnen,  Erlaßt  mir  nur  das  Spinnen, 

Die  Finger  thun  mir  weh!  Die  Finger  thun  mir  weh! 

3.  Spinn,  Tochter,  du  bekömmst  6.  Spinn',  Töchterchen,  spinn' flink 

ein  Paar  und  fein, 

Ganz  nagelneue  Schuh.  Ich  kauf  dir  einen  Mann. 

O  kauft,  mit  Zwickeln  fein  und  klar,  Ein  Mann,  ey!  liebes  Mütterlein, 

Auch  Strümpfe  mir  dazu.  Der  stände  mir  wohl  an. 

Mich  neiden  Nachbarinnen,  Er  soll  mich  zärtlich  minnen, 

Wenn  ich  zu  Tanze  geh.  Wenn  ich  mein  Kädchen  dreh', 

Doch  spinnen  ?    nur  nicht  spinnen !  Und  seht !  ich  kann  wohl  spinnen, 

Die  Finger  thun  mir  weh!  Thut  mir  kein  Finger  weh! 

W.  Gerhard  behält,  wenn  auch  etwas  variiert,  das  'ich  kann 
nicht  spinnen,  die  Finger  tun  mir  weh'  aus  dem  Volksliede  bei, 
ebenso  die  Eingangszeile  'Spinn',  spinn'  liebe  Tochter'.  Im  Volks- 
liede wird,  ebenso  wie  bei  Gerhard,  von  der  Mutter  der  Gegen- 
stand genannt,  den  sie  der  Tochter  kaufen  will,  worauf  im  Volks- 
liede die  kurze  Erklärung  der  Tochter  folgt,  die  Gerhard  in  den 
Zeilen  5  und  6  weiter  ausspinnt,  Die  in  dem  Gedichte  genannten 
Gegenstände,  Avelche  von  der  Mutter  der  Tochter  gekauft  werden 
sollen,  finden  sich  auch  in  den  überlieferten  Varianten;  die  Ant- 
worten   der   Tochter   sind    meist   abweichend.     Ein    vollständiges 


I  I  Volkslied-Miszellen.    II. 

Verzeichnis  wird  dies  lehren,  wobei  jedoch  Ditfurth  und  Schuster, 
da  nur  das  angegeben  ist,  was  die  Mutter  kauft,  eine  Antwort 
der  Tochter  jedoch  fehlt,  und  Müllenhoff,  da  er  nur  die  zwei 
ersten  Zeilen  des  Liedes  angibt,  auszuschalten  sind: 

Kleid:  nicht  zu  eng  und  nicht  zu  weit  (Erk-Böhme  II  640:  3;  Hoff- 

mann-Richter 144:  2  =  Mittler  586:  2;  Bender-Pommer 
156:  2;   Scherer  298  f.:  3). 
nicht  zu  weit  (Meier  152:  5). 

es  wäre  Zeit  (Simrock  409:  2;  Erk-Irmer  3,  47:  2). 
Hemd:  mit  dem  Namen  (Meier  151:  3). 

Schuhe:         mit  Schnallen  {Wunderhom  III  40:  1  =  Erlach  IV  152:  1 
Erk-Böhme  II  640:  1;    Kretzschmer  I  210:  1;    Zuccal 
magho   II   435:    1    =    Mittler   586:  1;     Meier   151:    1 
Hruschka-Toischer  206 :  1 ;   Simrock  408 :  1 ;  Hoffmann- 
Richter  144:  1    =  Mittler  586:  1 ;  Bender-Pommer  156:  3 
Scherer  298:  1;  Pröhle  157:  2). 
die  lasse  ich  ruhen  (Meinert  22:  4 r  =  Mittler  585:  4). 
tun  mir  kein  gut  (Erk  3,  47:  5  =  Firmenich  I  156:  5). 
Pantoffeln  dazu  (Erk-Irmer  3,  47:  1). 
Ringlein  dazu  (Birlinger  11:  1). 
Strümpfe:    mit  Zwickeln  (Wunderhom  III  40:  2  =  Erlach  IV  152:  2; 
Erk-Böhme  II  640:  2;  Kretzschmer  1210:  2;  Zuccalmaglio 
II  435:  2  =  Mittler  586:  2;    Meier  151:  2;    Hruschka- 
Toischer  206:  2;    Scherer  298:  2;    Birlinger  11:  2). 
komme  nicht  drum  (Meinert  21 :  3  =  Mittler  585:  3). 
Hut:  tut  mir  nicht  gut  (Erk  3,  46  f.:  1  =  Firmenich  I  155:  1). 

stünde  mir  gut  (Schlossar  I  136:  1). 
Haube:  tat  mir  taugen    (Zuccalmaglio  II  435:  3  =  Mittler  586:  3; 

Hruschka-Toischer  206:  3;    Schlossar  I  136:  2). 
mit  Florspitzen  (Meier  152:  7). 
Sammt  darauf  (Birlinger  12:  6). 
Mütze:  ist  mir  nichts  nütz  (Erk  3,  47:  2  =   Firmenich  I  155:  2; 

Pröhle  157:  1). 
Halsband:   zur  Zier  (Meier  152:  8). 
Rock:  hab  mirs  gedacht  (Meinert  21:  2  =  Mittler  585:  2). 

wird  mir  zu  kurz  (Erk  3,  47:  4  =  Firmenich  I  156:  4). 
bin  dann  wie  a  Dock  (Meier  151  f.:  4;   Birlinger  11  :  3). 
nicht  zu  kurz  (Pröhle  157  f.:  3). 
hab'  ich  zehn  Schock  (Andree  348:  1). 
Tuch:  ist  mir  nicht  gut  (Erk  3,  47:  3  =  Firmenich  I  155:  o). 

hab'  ich  genug  (Andree  318:  2). 
Schürze:       ist  mir  was  nütz  (Meinert  21 :  1  =  Mittler  584  f.:  1). 
nicht  zu  kurz  (Meier  152:  6). 

nicht  zu  lang,  nicht  zu  kurz   (Bender-Pommer  156:  1;   Bir- 
linger 12:  4). 
Mieder.  Schnüre  darauf  (Birlinger  12:  5). 

Haus:  mit  schönen  Schindeln  (Zuccalmaglio  II  435:  4  =   Mittler 

586:  4;  Hruschka-Toischer  206:  4). 
Bräutigam:  steht  mir  wohl  an  (Andree  349:  3). 

Mann:  steht  mir  wohl  an   (Wunderhorn  III   40:   3  =   Erlach  IV 

152  f.:  3;  Erk-Böhme  II  640:  4;  Zuccalmaglio  II  435:  5 
=  Mittler  587:  5;  Hruschka-Toischer  206  f. :  5 ;  Schlossar 
I  137:  3;  Simrock  409:  3;  Erk-Irmer  3,  47:  3;  Scherer 
299:  I;  Pröhle  158:  4). 
will  ich  haben  (Meinert  22:  5  =  Mittler  585:  5;  Erk  3,  47:  6 
=  Firmenich  I  156:  6). 


Volkslied-Miszellen.    II.  45 

möcht  ich  gern  haben  (Hoffmann-Eichter  14  1 :  3  =  Mittler 

586:  3). 
du  bist  recht  dran  (Meier  152:  9;    Birlinger  12:  7). 
strenge  mich  fleißig  an  (Kretzschmer  I  210:  3). 
der's  tanzen  kann  (Bender- Pommer  156:  4). 

Vergleichen  wir  mit  dieser  Übersicht  Gerhards  Gedicht,  so 
ergibt  sich:  Str.  1,  das  Kleid  ist  belegt,  die  Antwort  der  Tochter 
nicht  belegt;  Str.  2  das  Hemd  ist  belegt,  die  Antwort  nicht  zu 
belegen;  Str.  3  enthält  zwei  Motive:  in  der  Frage  den  Schuh  (be- 
legt), in  der  Antwort  die  Strümpfe  mit  Zwickeln  (belegt),  Motive, 
die  im  Volkslied  in  zwei  Strophen  auftreten;  Str.  4  der  Hut  ist 
belegt,  die  Antwort  ebenfalls,  wenn  auch  nicht  in  dieser  Ausführ- 
lichkeit; Str.  5  das  Kettlein  samt  Antwort  nicht  belegt;  Str.  6  der 
Mann  samt  Antwort  belegt.  Die  Gerhard  vorgelegene  Fassung 
enthielt  daher  einiges,  was  uns  nicht  erhalten  ist. 

12.    Weihnachtslied:   De   nativitate   Domini. 

In  Arnim-Brentano,  Des  Knaben  Wunderhorn  IH  (1808)  An- 
hang S.  29  f.,  und  bei  F.  M.  Böhme,  Deutsches  Kinderlied  und 
Kinderspiel  (1897)  322  Nr.  1585  (Ingolstadt  1758),  steht  ein  Weih- 
nachtslied, das  in  erweiterter  Fassung  bei  K.  Simrock,  Deutsche 
Weihnachtslieder  (1865)  131  ff.  zu  finden  ist.  Aus  Oberösterreich 
brachte  dann  W.  Pailler,  Weihnachtlieder  und  Krippenspiele  aus 
Oberösterreich  und  Tirol  I  (1881)  219  f.  Nr.  210,  eine  Variante  bei, 
wahrend  A.  Schlossar,  Deutsche  Volkslieder  aus  Steiermark  (1881) 
88  Nr.  65,  eine  solche  aus  Steiermark  und  A.  Hof  er,  Weihnachts- 
lieder aus  Niederösterreich  (1890)  29  Nr.  XX,  eine  solche  aus  Nieder- 
österreich mitteilte.  Nach  einem  fliegenden  Blatte  aus  Graz 
druckte  es  K.  Weinhold,  Weihnachtspiele  und  Lieder  aus  Süddeutsch- 
land und  Schlesien  (1875)  401  ff.  Nr.  III,  ab.  Dieses  Lied  ist  in 
der  Hs.  980  der  Innsbrucker  Universitätsbibliothek  in  einer  er- 
weiterten bayerischen  Fassung  aus  ca.  1760  erhalten,  die  auch 
dadurch  interessant  ist,  dafs  sich  deren  sechste  Strophe,  die  in 
den  übrigen  Texten,  aufser  in  dem  aus  der  Iglauer  Sprachinsel 
(J.  Stibitz,  Das  deutsche  Volkslied  VI  [1904]  162  f.),  nicht  enthalten 
ist,  als  zweite  Strophe  in  einem  gleich  beginnenden  oberbayeri- 
schen Liede  findet  (A.  Hartmann  und  H.  Abele,  Volkslieder  I. 
Volksthümliche  Weihnachtlieder  [1884]  220  Nr.  135),  das  sonst  die 
Erscheinung  der  heiligen  drei  Könige  behandelt;  diese  sechste 
Strophe  pafst  organisch  nicht  recht  in  unser  Lied  und  scheint 
zu  beweisen,  dafs  schon  um  1760  zwei  Lieder  gleichen  Anfanges 
existierten,  wovon  das  eine  die  Erscheinung  der  Engel  (unsere 
Fassungen),  das  andere  die  heil,  drei  Könige  und  ihre  Aubetung 
(Text  Hartnianns)  behandelte.  Da  das  Lied  auch  sonst  beachtens- 
werte Varianten  bietet,  so  möge  es  einen  Abdruck  finden. 


46 


Volkslied-Miszellen.    IL 


[83a]  De  pastoritia  (de 

1.  boz  hundert,  liebe  bue, 
mein,  los  a  wenig  zue, 

wa  i  da  will  verzehlen, 

das  heut  in  aller  frue 

ist  gschehen  auf  der  haid; 

wie  i  d' schaff  han  gweid, 

da  kom  in  hui  a  bot  hergrent, 

den  i  mein  lebta  ha  nit  kent. 

boz  hundert  etc. 

2.  Er  hat  a  botschafft   bracht, 
das  mir  das  herz  hat  glacht, 
das  unsa  hergott  sey, 

zunagst  drinna  in  da  stodt 
a  klaina  bue  sey  worn, 
äff  dise  weit  gebohrn; 
droff  sein  ma  alle  hingrent 
auf  betlhaim,  so  hat  ers  gnent. 
boz  etc. 

3.  ma  suechten  überall, 
in  ain  orth  offt  2  mohl, 
wies  umadum  ist  kema, 
so  lag  er  in  an  stall 

in  aina  alten  pfaidt, 

ist  nur  3  spana  braith; 

a  klaina  bue,  a  großer  gott 

ligt  in  an  stall,  ist  schier  a  spott. 

boz  etc. 

4.  dort  ligt  er  afn  heü, 
2  thier  seind  a  dabey; 
den  ochsen  ken  i  wohl, 
wais  nit,  was  anda  sey. 
es  ist  wie  a  ros, 


nativitate  Domini). 

ist  aba  nit  so  gros, 
steht  dorten,  wo  die  muetta  sizt 
und  hat  2  lange  ohrn  gspizt. 
boz  etc. 

[83 h]   5.  der  alte  zimamo, 
der  schaut  uns  alle  on, 
wie  er  den  klainen  kind 
so  herzli  schein  hat  thon, 
a  hatas  ja  dabust, 
das  grad  ist  gwest  a  lust; 
schafft  ihms  brod,  ist  selba  mit, 
ist  do  kain  rechta  votta  nit. 
boz  etc. 

6.  ma  sagt,  es  sey  a  fest 
in  himmel  heüt  nacht  gwest; 
mei  bue,  dös  war  a  gspaß 
und  war  nos  alleböst, 
glei  wie  i  haim  wolt  gehen, 
so  sachi  a  liecht  angehen, 
wie  a  große  wunderstern 
oder  gar  ain,  2  latern. 
boz  etc. 

7.  und  wars  uu  nit  so  weith, 
i  that  dirs  zaigen  glei! 
war  i  nit  gwösen  dort, 
gar  offt  hatts  mi  schon  greit. 
hatt  i  nu  eh  dran  denckht, 
i  hattn  kind  was  gschenckht, 
2  öpfl  han  i  gschenckht  mit  brodt, 
das  kind  hat  glacht,  es  gfiell  magrad. 
boz  hundert,  lieba  bue, 
die  höll  ist  iezt  schon  zue. 


13.    Volkslieder   in   Heyses  'Weltuntergang*. 

Paul  Heyses  fünfaktiges  Volksschauspiel  'Weltuntergang* 
(erster  Druck :  Deutsche  Dichtung,  hg.  von  K. .  E.  Franzos,  V 
[1888/89]  81—93,  120—123,  141-146,  163—167)  spielt  in  einer 
kleinen  rheinisch-westfälischen  Stadt,  wo  die  Spaltung  in  zwei 
Lager  (Katholiken  und  Protestanten)  streng  durchgeführt  ist,  zur 
Zeit  der  Glaubenskämpfe  (1649).  Mitten  in  diese  Gegensätze 
tritt  Rochus,  der  früher  in  dieser  Stadt  als  Mediziner  gewirkt 
hatte,  dann  bei  den  schwedischen  Reitern  diente,  ein,  der  nach 
Beendigung  des  Dreifsigj  ährigen  Krieges  wieder  in  seine  Heimat 
in  der  Uniform  eines  schwedischen  Reiters  zurückkehrt  und  ein 
keckes  Reiterliedlein  vor  sich  hinsingt  (I.  Akt,  2.  Szene,  S.  82 b): 

Und  komm'  ich  wieder  ins  alte  Quartier, 
Feinsliebchen  schaut  aus  dem  Fenster  herfür. 
'Wer  da?' 

Ein  schwedischer  Reiter.  — 

'So  reit'  Er  nur  weiter! 
Der  Riegel  ist  fest  an  der  Kammerthür.' 


Volkslied-Miszellen.    II.  47 

Das  Vorbild  für  dieses  Lied  ist  in  'Es  ritten  drei  Reiter  zum 
Tore  hinaus,  ade!'  (F.  L.  Mittler,  Deutsehe  Volkslieder2  [1865]  604  f. 
Nr.  878)  zu  suchen. 

Ein  feuriger  Komet,  der  am  Himmel  sichtbar  ist,  erregt  bei 
den  Leuten  Besorgnis  und  auf  Befragen  eines  Bauern  verkündet 
der  gelehrte  Arzt  Cornelius,  dafs  der  Jüngste  Tag  nahe  sei,  wobei 
er  von  der  Ansicht  ausgeht,  dafs  er  durch  diese  Verkündigung 
eine  Aussöhnung  der  beiden  feindlichen  Lager  bewirken  könne. 
Nun  gebärden  sich,  der  menschlichen  Natur  gemäfs,  einige  ver- 
zweifelt, während  andere,  darunter  auch  der  erste  Bürger,  des 
Lebens  Lust  noch  auskostend,  im  Wirtshause  trinken.  Für  sie 
singt  der  erste  Bürger  (I.  Akt,  8.  Szene,  S.  88 b): 

'Wir  haben  ein  Schiff  mit  Wein  beladen, 
Damit  woll'n  wir  nach  Engelland  fahren  — ' 

und  trotzdem  er  unterbrochen  und  an  ein  christliches  Ende  ge- 
mahnt wird,  singt  er  ruhig  weiter: 

'Lafst  uns  fahren,  fahren,  fahren,  fahren 
Nach  Engelland  und  in  den  Himmel  hinein!' 

Diese  vier  Zeilen  sind  bekanntlich  die  erste  Strophe  des  aus  dem 
17.  Jahrhundert  stammenden  Volksliedes  'Das  Schiff  lein'  (Mittler 
a.  a.  O.  839  Nr.  1373  Str.  1),  wobei  der  Dichter  gemäfs  der 
Situation  in  die  vierte  Zeile  'und  in  den  Himmel  hinein'  einschob, 
wodurch  dieselbe  metrisch  zu  lang  wurde,  daher  er  von  der  Volks- 
liedzeile 'Last  vns  fahrn  nach  Engelland  zu'  nur,  weil  das  übrige 
schon  in  der  dritten  Zeile  zu  finden  ist,  'nach  Engelland'  beibehielt. 
Diese  Spaltung  in  Nachtschwärmer,  die  das  Leben  noch  aus- 
kosten wollen,  und  in  Andächtige,  die  Reue  und  Leid  erwecken, 
kommt  auch  noch  später  (H.  Akt,  9.  Szene,  S.  93)  zum  Aus- 
druck; die  Nachtschwärmer  singen  die  zweite  Strophe  des  obigen 
Volksliedes  (Mittler  839  Nr.  1373  Str.  2)  mit  der  schon  bemerkten 
Abweichung  in  der  letzten  Zeile  und  Einschiebung  der  zweiten 
Zeile  der  ersten  Strophe  als  dritte  Zeile: 

'Der  Wein  ist  aus  der  Mafsen  gut, 

Er  macht  uns  frischen,  freien  Mut, 

Damit  woll'n  wir  nach  Engelland  fahren  — 

Lafst  uns  fahren,  fahren,  fahren 

Nach  Engelland  und  in  den  Himmel  hinein!'      (S.  93 a), 

worauf  der  Chor  der  Andächtigen  erklingt: 

'Ich  hab'  mein'  Sach'  auf  Gott  gestellt, 

Der  wird's  wohl  machen,  wie'.s  ihm  gefällt, 

Dem  thu'  ich  mich  befehlen. 

Mein  Leib  und  Seel',  mein  Ehr'  und  Gut, 

Das  hält  er  stets  in  seiner  Hut, 

Hie  und  im  ewigen  Leben.'  (S.  93 a.) 

Dies  ist  die  erste  Strophe  eines  schon  im  16.  Jahrhundert  be- 
kannten geistlichen  Volksliedes  (Goedeke-Tittmann,  Liederbuch  aus 


48  Volkslied-Miszellen.    IT. 

dem  sechzehnten  Jahrhundert-  [1881]  234  Nr.  29  Str.  1;  Mittler 
763  Nr.  1256  Str.  1).  Die  Trinker  singen  sofort  darauf  die  vierte 
Strophe  (Mittler  839  Nr.  1373  Str.  4)  des  'Schiffleius': 

'Schenk  ein,  schenk  ein  den  kühlen  Wein ! 

Das  Gütlein  mufs  verschlemmet  sein. 

Lafst  uns  fahren'  usw.  (S.  93 b), 

worauf  die  Andächtigen  mit  der  zweiten  Strophe  des  geistlichen 
Liedes  (Goedeke  -  Tittmann  234  f.  Nr.  29  Str.  2;  Mittler  763 
Nr.  1256  Str.  2)  einsetzen: 

'Was  alle  Welt  verloren  acht't, 

Das  hält  Gott  stets  in  seiner  Macht, 

Wenn's  ihm  gefällt  zu  wenden. 

Ich  geb'  mich  in  den  Willen  sein, 

Er  führt  mich  als  der  Vater  mein 

Zu  meinem  seligen  Ende.'  (S.  93 b.) 

Eine  andere  Wirkung  der  Prophezeiung  des  Doktor  Cornelius 
kommt  in  der  alten,  blinden  Bettlerin  Barbe  zum  Ausbruch.  Ihr 
Geist  verwirrt  sich,  und  sie  gibt  sich  selbst  den  Tod.  Als  sie 
mit  ihrer  Führerin  Lisbeth  über  den  Platz,  wo  der  Marienbrunnen 
steht,  zieht,  singt  sie  eintönig  das  Lied  vom  Jüngsten  Tage  vor 
sich  hin  (IV.  Akt,  1.  Szene,  S.  141): 

1.  Wenn  der  jüngste  Tag  will  wer-  3.  Ihr  sollt  treten  auf  die  Spitzen, 

den,  Wo  die  lieben  Englein  sitzen. 

Fallen  die  Sternlein  auf  die  Erden,  Ihr  sollt  treten  auf  die  Bahn, 

Beugen  sich  die  Bäumelein,  Unsern  Herrn  Jesus  beten  an! 

Schweigen  die  lieben  Waldvögelein.  4  Ich  bin  von  Gott,  ich  willzuGott. 

2.  Kommt  der  liebe  Gott  gezogen  Der  liebe  Gott  hat  mir  ein  Licht  be- 
Mit  dem  schönen  Regenbogen,  schert, 
Spricht:  Ihr  Toten  sollt  auferstehn,  Das  wird  mir  leuchten 

Sollt  vor  Gottes  Gerichte  gehn.  Bis  in  die  ewigen  Himmelsfreuden. 

Bruchstücke  dieses  Liedes  kehren  auch  in  der  Beschreibung  wieder, 
welche  Laurentia  dem  Doktor  Cornelius  vom  Tode  der  Barbe 
gibt,  als  man  diese  auf  einer  Bahre  daherträgt  (IV.  Akt,  10.  Szene, 
o.  145  a):  \yer  (jber  die  niedere  Mauer  [des  Friedhofs]  schaut, 

Sieht  unten  grad  in  den  Flufs  [Rhein]  hinein 

Und  droben  safs  die  Barbe  und  rief: 

'Ihr  sollt  treten  auf  die  Spitzen, 

Wo  die  lieben  Englein  sitzen  — ' 

Eiu  Schauer  mir  durchs  Gebeine  lief. 

Mutter  Barbe,  sagt'  ich,  was  fällt  Ihr  ein? 

Erst  morgen  kommt  ja  das  jüngste  Gericht. 

Da  schüttelte  sie  den  Kopf:  'Nein,  neinl 

Hört  Ihr  denn  die  Posaunen  nicht? 

Der  Himmel  ist  so  blutig  rot  — 

Ich  bin  von  Gott  —  ich  will  zu  Gott  — 

Hab  gute  Nacht,  du  arme  Welt!'  — 

Und  eh  das  letzte  Wort  verklungen, 

Hatt'  sie  sich  schon  hinabgeschwungen 

Kopfüber  auf  die  Kiesel  am  Strand 


Volkslied-Miszellen.    II. 


49 


Auch  dieses  Lied  ist  bei  Mittler  371  Nr.  474  aus  Kurhessen 
überliefert  und  entsprechen  die  obigen  vier  Strophen,  wenn  auch 
nicht  ganz  genau,  der  ersten,  zweiten,  dritten  und  sechsten  Strophe 
Mittlers.  Bekanntlich  legte  auch  Cl.  Brentano  dieses  Lied  in  seine 
'Geschichte  vom  braven  Kasperl  und  dem  schönen  AnnerF  ein 
(s.  R.  Sprenger,  Zeitschrift  für  den  deutschen  Unterricht  XVI  [1902] 
253).  Die  Vorstellungen,  die  darin  zum  Ausdruck  kommen,  sind 
uralte  (vgl.  G.  Nölle,  Beiträge  zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache 
und  Literatur  VI  [1879]  413  ff.,  besonders  432—34,  441  f.,  448). 


14.    Die   Schindershochzeit. 

Die  Handschrift  980  der  Innsbrucker  Universitätsbibliothek 
enthält  ein  bisher  nicht  bekanntes  bayerisches  Volkslied  aus 
ca.  1760,  das  in  launiger  Weise  über  die  Hochzeit  eines  Schin- 
ders zu  Nürnberg  berichtet. 


[63  b] 


Schindershochzeitlied. 


1 .  wo  wird  des  Schinders  hochzeit 

. .    ,  .    .  werden  ? 

schenckh  frisch  ein! 
zu  Niernberg  beyn  schwarzen  bärn, 
da  wird   des  Schinders  hozeit  warn, 
schenckh  frisch  ein ! 

2.  wo  gibt  man  sie  zusamen? 
schenckh  etc. 

zu  Niernberg  auf  den  branga, 
da  gibt  man  [sie  zusama]. 
schenckh  etc. 

3.  wer  gibt  sie  dan  zusama? 
schenckh  etc. 

ein  prasdicant  in  grauem  har, 
er  ist  a  schelm  und  ist  a  nar. 
schenckh  etc. 

4.  was  hat  der  schinder  für  hoch- 

zeitleith  ? 
schenckh  etc. 

schergen,  schinder  und  bett[l]leith 
seind  des  schinters  hochzeitleith. 
schenckh  etc. 

5.  was  gibt  ma  ihnen  für  die  erste 

rieht? 
schenckh  etc. 

kutteldreckh  und  schnepfeufleckh, 
fressen  d'  naren  alles  weckh. 
schenckh  etc. 

6.  was  gibt  ma  ihnen  für  die  ander 

rieht? 
schenckh  etc. 


[64 a]  fleh,  leiss  und  wanzen, 
da  kennen  d'  schelmen  danzen. 
schenckh  etc. 

7.  was  gibt  ma  für  die  dritte  rieht? 
schenckh  etc. 

hundsköpf  und  oxengrind 
seind  für  dises  lumpengsind. 
schenckh  etc. 

8.  was    gibt  man    für  die  vierte 

rieht? 
schenckh  etc. 
rossbeigl ',  kazenschlögl 
ist  guet  gnue  für  dise  flegl. 
schenckh  etc. 

9.  was  gibt  man  für  die  lezte  rieht? 
schenckh  etc. 

kraut  für  d'  narn  sezt  man  auf, 
legt  an  gselchten  fuxen  drauff. 
schenckh  etc. 

1 0.  was  haben  sie  aber  zu  trinckhen  ? 
schenckh  etc. 

bier,  most  und  blemplbier2 
ist  der  Sauköpf  Malvasier. 
schenckh  etc. 

11.  So  sauffns  dan  wies  liebe  vieh, 
schenckh  etc. 

sie  gBchwelln  auf  wie  d'brozen3, 
bald  fressens,  bald  wider  kozens. 
schenckh  etc. 


1  Haufen   Roftdreck       2  schlechtes  Bier       3  Hände;  wenn  man  sich  dieselben 
erfriert,  so   schwellen   sie   auf 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    CXV.  4 


50  Volkslied-Miszellen.    II. 

12.  was  gibt  es  für  ein  daflmusic?      die  heüt  beysam  wohl  geigen, 
schenckh  etc.  den  zeigt  man  morgen   die  feigen4, 

der  Schinder  nam  den  sauschneider      [schenckh  etc.] 

,             ,     ,      i-      ,               ,         '     ,  [64b]    14.    wan    khern  d' hochzeitleith 

da  sprach  der  hiessl,  a  sey  kan  nar!  L       J  ,    ,         9 

uii    „*„                                                   ,  nacn  naus  l 
schenckh  etc.                                            schenckh  etc. 

LS.    so    fangen    sie   an    zu    musi-       gegn  abend  kimbt  der  schinderkarrn, 
eieren.  da  wirfft  ma  drauff  die  volln  narrn. 

schenckh  etc.  schenckh  etc. 

4  man    macht    die    Feige,    damit    man    nicht    verschrien    werden    kann,    damit 
einem  kein   Unglück  zustöfst 

15.    Mörike   und   das   Nachtwächterlied. 

Ed.  Mörikes  Gelegenheitsgedicht  'An  Gretchen'  (erster  Druck : 
Deutsche  Dichtung,  hg.  von  K.  E.  Franzos,  X  [1891]  265),  das  er 
am  10.  Juni  1852  morgens  3  Uhr  dichtete,  beginnt  mit  den  Worten : 

'Wohlauf  im  Namen  Jesu  Christ! 
Der  helle  Tag  erschienen  ist!' 
So  hört'  ich  um  die  Dämmerzeit 
Den  Wächter  unten  singen  heut. 

Dies  ist  der  Anfang  eines  nur  aus  alemannischem  Sprachgebiet 
zu  belegenden  Tagansingeliedes  des  Nachtwächters,  für  welches 
Jos.  Wichner,  Stundenrufe  und  Lieder  der  deutscfien  Nachtwächter, 
1897,  eine  grofse  Anzahl  von  Belegen  bietet  (Baden:  Beuren  bei 
Meersburg    S.    31;  Elsafs:    Ammerschweier,    Dammerkirch, 

Orschweier  und  Westhalteu  S.  66;  Dorlisheim  S.  67;  — ■  Schweiz: 
Mayenfeld  in  Graubünden  S.  221;  —  Vorarlberg:  Bregenz  S.  161; 
Dornbirn  S.  165;  ■ —  Württemberg:  Balingen  S.  114;  Binsdorf 
S.  118;  Bühl  a.  d.  Rottenburg  S.  121;  Endingen  S.  127;  Ostdorf 
S.  146).  Dieses  Tagansingelied  kann  Mörike  wirklich  1852  in 
Stuttgart,  wo  er  sich  damals  aufhielt,  gehört  haben  oder  noch  aus 
einer  seiner  Pfarrgemeinden  (Oberboihingen,  Möhringeu,  Köngen 
am  Neckar,  Pflummern,  Plattenhardt,  Owen  bei  Kirchheim,  El- 
tingen bei  Leonberg,  Ochsenwang,  Weilheim,  Othlingen  und  Clever- 
sulzbach) in  Erinnerung  gehabt  haben. 

16.    Der  Italiener. 

Alfred  Tobler  (Das  Volkslied  im  Appenzellerlande  [1903]  S.  18  ff.) 
teilte  einige  'Tschinggelieder'  (Lieder  auf  die  Italiener)  mit,  die 
sich  an  italienische  Melodien  anschlielsen  und  das  Wesen  des 
Deutsch  sprechenden  Italieners  zur  Anschauung  bringen  wollen. 
Ein  solches  Lied  aus  Bayern  enthält  auch  die  Handschrift  980 
der  Innsbrucker  Universitätsbibliothek  aus  ca.  1760.  Darin  wird 
ein  mit  Drahtwaren  hausierender  Italiener  und  sein  deutscher 
Kauderwelsch  zur  Darstellung  gebracht. 


Volksüed-Miszellen.    II.  51 

[48b]  Italus. 

1 .  I  bin  si  braff  kerl,  bin  warb  kein  narr, 

I  bring  si  ans  welschland  vil  hübsch  und  schön  wahr, 
gut  hacherl1,  mausfall,  der  welschen  kunst,  dran 
der  Teutschland  nit  kan. 

2.  I  bin  si  braff  kerl,  kan  handwerckh  wohl  fein, 
hab  glehret  3  wochen,  bis  i  han  ergriffen; 

er  macht  dir,  last  geld  und  ist  dir  schön  kunst; 
lehr  niemand  umbsunst. 

3.  Du  hast  dir  daheimb  beym  teüffl  vil  meus, 
sie  stilt  dir  vil  körn  und  frißt  dir  vil  speil2, 
gauff  nur  den  mausfall  und  bsin  dir  nit  lang; 
wirst  warb  maus  fang. 

4.  du  thust  ihr  darein  ein  bisserl  speckh, 
kombt  nacher  der  maus,  macht  alleweil  schmeckh, 
gröbl3  über,  gröbl  ummer,  bis  endli  kombt  drein; 
nacher  ist  er  schon  dein. 

5.  und  wan  wir  dein  weib  will  teüfflbös  sein, 
kanst  machen  der  fozen',  in  mausfall  spör  ein, 
gib  nacher  zu  frei]  nicht,  das  hunger  leiden  thuet; 
wird  warb  bald  guet. 

1  Hechel  2  Splitter,  Späne  3  zu  g  rappeln,  greifen,  tasten,  auch  groppen 
in  gleicher  Bedeutung  (vgl.  Sehinpller-Frommann,  B.  Wb.  I  1006  und  1007)  4  fig. 
für   Frau  (s.  Schmeller-Frommann.   B.  Wb.  I  782  s.  v.  fotzen  4) 


17.     Ein   Gedicht    von   Fr.   Kind    und    seine  Beziehung 
zum   Volksliede. 

Friedrich  Kind  hat  in  seiner  Novelle  'Die  Jägersbräute'  (erster 
Druck:  Becker*  Taschenbuch  zum  geselligen  Vergnügen  für  1811, 
Leipzig  [1810],  S.  1  —  52)  das  'Waidmannslied  vom  ungetreuen 
Mädchen,  das  nach  dem  Junker  äugelte'  eingelegt.  Dasselbe  wird 
in  der  Krähenhütte  vom  Greise  zur  Harfe  gesungen  und  hat 
folgenden  Wortlaut: 

[37]        1.   Es  thät  ein  Jäger  wohl  jagen 
Zwei  Stündelein  vor  dem  Tagen 
Einen  Hirsch,  einen  Hasen,  ein  Reh. 
Er  jagte  auf  rosiger  Haide 
Ein  Mägdlein  im  fliegenden  Kleide, 
Das  wollt'  er  nehmen  zur  Eh. 

2.  Er  zog  sie  mit  flüchtigen  Schritten. 
Er  zog  sie  zur  Tannenreißhütten, 

Ließ  all  seine  Hündlein  los; 
Sie  saßen  mit  stillem  Verlangen, 
Mit  schneeweißen  Armen  umfangen, 
Auf  Klee  und  duftendem  Moos. 

3.  Und  als  nun  dahin  eine  Stunde, 
Da  bolleu  die  spürenden  Hunde; 

Es  blies  ein  Schäfer  ins  Rohr. 


52  Volkslied-Miszellen.    II. 

[38]    'Zieh  hin,  zieh  hin  mit  den  Schaafen, 
Mein  Jäger,  du  hast  es  verschlafen; 
Ich  bin  noch  Jungfrau,  wie  vor!' 

1.    Sie  thät  den  Jäger  wohl  fragen, 
Ob  sie  ein  Perl-Kränzlein  dürft'  tragen 
In  ihrem  schwarzbraunen  Haar? 
'Feines  Mägdelein !  laß  dir  sagen, 
Ein  grün  Hütlein  mußt  du  tragen, 
Wie  andre  Jägersfrau'n  gar!' 

5.  'So  will  ich  meine  Haare  lassen  fliegen, 
Einen  schmucken  Junker  zu  kriegen, 
Dem  Jäger  zu  Spott  und  Schand!' 
Das  thät  den  Jäger  verdrießen; 
Er  lud  die  Flinte  zum  Schieben ; 
Sie  starb  von  des  Liebsten  Hand. 

Inhaltlich  gehört  dieses  Gedicht  zu  den  von  Arnim  und 
Brentano,  Des  Knaben  Wunderhorn  I  (1806)  292  f.,  und  Büsching 
und  von  der  Hagen,  Sammlung  deutscher  Volkslieder  (1807)  134  ff. 
Nr.  51,  veröffentlichten  Volksliedern,  doch  sind  dieselben  nicht 
die  Quellen,  aus  denen  Kind  schöpfte.  Das  Wunderhornlied  ist 
zu  kurz,  enthält  daher  vieles  nicht.  Das  Lied  bei  Büsching  und 
von  der  Hagen  enthält  ebenfalls  einiges  wichtige  nicht,  so  fehlt 
die  entsprechende  Schilderung  zu  Kind  2  4—6  und  5  1—3.  Kinds 
Quelle,  wohl  eine  mündliche  Fassung,  die  er  wahrscheinlich 
irgendwo  in  Sachsen  vernahm,  stand  jedoch  dem  Liede  aus  dem 
Kuhlandchen  (J.  G.  Meinert,  Alte  deutsehe  Volkslieder  in  der  Mund- 
art des  Kuhländchens  I  [1817]  203  f.,  danach  F.  L.  Mittler,  Deutsche 
Volkslieder'2  [1865]  179  f.  Nr.  201)  sehr  nahe,  was  die  Überein- 
stimmungen zeigen.  So  entsprechen  sich  ziemlich  genau:  1  K.  = 
1,  2  M.;  2  K.  =  3,  4  M.;  3  4-6  K.  5  M.;  4  K.  =  8,  9  M.; 
5  i—3  K.  =  10  M.;  5  4-6  K.  =  6  M,  Ganz  durch  Kind  hinein- 
gebracht ist  3  1—3  samt  den  sich  daraus  ergebenden  Schafen  (3  4), 
ebenso  sind  2  3  und  2  6  Kindsche  Ausschmückungen.  5  4— 6  K. 
wurde  von  Kind  zum  Abschlufs  genommen,  das  Volkslied  kennt 
diesen  Schlufs  nicht,  denn  dort  will  der  Jäger  das  Mädchen  er- 
schiefsen,  als  sie  ihm  sagt,  dafs  sie  noch  Jungfrau  ist,  unterläfst 
es  jedoch  auf  ihre  Bitte  hin.  Im  Volkslied  währt  der  Schlaf 
vom  Abend  bis  zum  Morgen,  bei  Kind  ist  der  Zeitraum  von 
einer  Stunde  angenommen. 

18.    Der  Torwart. 

Die  Handschrift  980  der  Innsbrucker  Universitätsbibliothek 
aus  ca.  1760  enthält  ein  aus  Bayern  stammendes,  sehr  frisches 
Lied  auf  den  Flurwächter  und  Gutsaufseher,  der  seine  alten 
Tage  als  Torwart  verbringen  will.  Das  Lied  ist  sehr  humorvoll 
gehalten  und  verdient,  da  es  bisher  nicht  bekannt  war,  einen 
Abdruck. 


Volkslied-Miszellen.    II.  53 

[23a]  Officialis   militaris. 

1.  Kent  ihr  nit  den  bluethund,      drumb  heist  man  ihn  hans  friderich, 
wie  er  nicht1  turniert2,  in  ganzer  weit  bekhant. 

wie  er  mit  den  steckhen,  .     , ,  „  ,..-,, 

den  bauern  tribuliert3.  °-  be\m  Mageren8  ist  er  so  kockh 

und  steht  an  d'  mauer  on, 

2.  er  hat  a  bissl  pulver,  statt9  offen  und  stuehlweißenburg 
er  hat  a  bissl  a  bley,  dei10  reden  no  dervon. 

ein  rostigen  carbiner'4,  „  ,   ,        , 

kein  pfanner5  ist  dabey.  '■  em  offna  h,elm  als  ntter 

tragt  er  mit  si  herum, 

[23 b]  8.  er  tragt  an  seiner  seithen  zerrißnes  hemet  und  wames 

deu  spratspiß6  doli7  daher,  verlumpet  um  und  dum. 

vors  Hannibals  sein  Zeiten  .                       . 

und  etli  jähr  no  mehr.  8-  ie^  w}1}  <F  si  begeben 

ganz  gloreich  m  die  ruhe 

4.  mit  disen  feindla  meßer  und  kinfftig  als  thorwartl 
schlagt  er  dapfer  drein  sein  leben  bringen  zue. 
und  masacriert  vil  1U00,  n    '                .,,,,, 

das  no  lebendi  seyn.  9-  braunegg     und  buechhorne  ,2, 

che  streitten  umb  die  ehr, 

5.  er  ist  ein  braffer  officier,  wer  immer  ihn  bekhema  thuet, 
wans  frid  ist  in  dem  land,                 hat  umb  ein  narren  mehr. 

1  liier  keine  Verneinung,  sondern,  dem  bayerischen  Dialekt  gemäfs,  etwas 
Fragendes  ausdrückend  2  lärmt  3  neckt,  sekiert  4  Karabiner  5  Pulverpfanne 
6  für  pratepieß  =  Säbel  (verächtlich)  7  zum  Verwundern  schön  8  belagern  9  Stadt 
10  dö  —  die  "  Brauneck,  eine  Einöde  der  Pfarre  Harsdorf  im  Bezirksamt  Kulm- 
bach, Oberfranken  ,2  vielleicht  Buchschorn,  ein  Weiler  der  Pfarre  Hokenpeifsen- 
berg  im  Bezirksamt  Schongau,  Oberbayern 


19.    Die  drei   Röslein  in   Linggs  'Marodeure'. 

Die  Ballade  'Die  Marodeure'  von  Hermann  Lingg  (erster 
Druck:  Deutsche  Dichtung,  hg.  von  K.  E.  Franzos,  IX  [1891]  162), 
im  Ton  eines  echten  Landsknechtliedes,  worin  vier  Landsknechte, 
anstatt  an  der  Schlacht  teilzunehmen,  sich  mit  Tanz  unterhalten, 
wofür  sie  gehangt  werden,  spricht  in  der  dritten  Strophe: 

Die  Knöchel,  Krug'  und  Karten 
Sind  aller  Landsknecht'  Not, 
Drei  Röslein  rot 
Blühn  drunten  in  dem  Garten, 
Dahinter  steht  der  Tod  — 

von  drei  Röslein,  hinter  denen  der  Tod  lauert.  Die  Röslein  sym- 
bolisieren die  lebenslustigen  Landsknechte.  Der  Dichter  hat  über- 
sehen, dafs  eigentlich  vier  Röslein  entsprechend  den  vier  Lands- 
knechten nötig  gewesen  waren,  doch  hat  er,  da  das  Volk  die 
ungeraden  Zahlen  besonders  liebt  (O.  Weise,  Zeitschrift  für  hoch- 
deutsche Mundarten  I  [1900]  34  f.),  die  Dreizahl  beibehalten.  Das 
Motiv  der  drei  Röslein  hat  er  aus  dem  Volkslied  entlehnt  (vgl. 
M.  E.  Marriage,  Alemannia  XXVI  [1898]  11  i  und  117). 


54  Volkslied-Mißzellen.   II. 

20.    Das   Fest   der  Schneider. 

Von  den  Schneidern,  die  einen  Schmaus  halten  und  dabei 
echt  schneidermiifsige  Heldentaten  verrichten,  berichten  eine  grofse 
Anzahl  von  Liedern  (vgl.  die  Literaturzusammenstellung  bei  Köhler- 
Meier,  Volkslieder  von  der  Mosel  und  Saar  I  [1896]  453  Nr.  331). 
Eine  bemerkenswerte  bayerische  Variante,  die  der  leider  bei  Erk- 
Böhme,  Deutscher  Liederhort  III  (1894)  450,  nicht  vollständig  mit- 
geteilten Berliner  Fassung  aus  1855  sehr  nahe  zu  stehen  scheint, 
bietet  die  Handschrift  980  der  Innsbrucker  Universitätsbiblio- 
thek aus  ca.  1760. 

[4Pa]  Festuin  sartorum. 

1.  Die  Schneider  fügeten  ein  dinzltag1, 

S.  Florian  mit  nam 
und  körnen  nein  und  neinzig 
neinmahl  nein  und  neinzig 
der  schneiderböckh  zusam. 

2.  und  als  sie  nun  beysamen  waren, 

da  hieltens  einen  schmaus 
und  assen  nein  und  neinzig 
neinmahl  nein  und  neinzig 
zusam  ein  braten  laus. 

3.  und  als  sie  dis  geessen  hatten, 

so  hattens  no  nit  gnue 
und  frassen  nein  und  neinzig 
neinmahl  nein  und  neinzig 
ein  mugenfuei}  darzue. 

!.    und  als  sie  schon  ersöttiget  waren, 
da  warens  voller  mueth 
und  trankhen  nein  und  neinzig 
neinmahl  nein  und  neinzig 
aus  einen  fingerhuet. 

5.  und  da  sie  gnue  gesoffen  hatten, 

da  stig  der  wein  in  köpf 
und  danzten  nein  und  neinzig 
neinmahl  nein  und  neinzig 
auf  einen  glessern  knöpf. 

6.  und  als  sie  ausgedanzet  hatten, 

da  warens  voller  hiz 
und  hupfen  nein  und  neinzig 
neinmahl  nein  und  neinzig 
auf  einen  nadlspiz. 

[46 b]      7.    und  als  sie  dort  geschlaffen  hatten, 
da  kam  ein  sießer  wind 
und  bliese  nein  und  neinzig 
neinmahl  nein  und  neinzig 
[in]  ein  spinengweb  dahint. 

1  Tag  der  feierlichen  Zusammenkunft  der  Genossenschaft 


Volkslied-Miszellen.   II. 


55 


'2  erdrückt 


und  als  sie  dran  gehangen  waren, 

hätts  bald  ein  spinne  verschluckht, 
wan  nit  all  nein  und  neinzig 
neinmahl  nein  und  neinzig 
ein  fliegen  hätt  verdruckht 2. 


Gegenüber  allen  übrigen  Fassungen  bieten  die  Strophen  3, 
5,  7  und  8  Neues. 

21.    Henneke  Knecht. 

Von  diesem  niederdeutschen  Liede  des  16.  Jahrhunderts  sind 
bisher  zwei  Übersetzungen  ins  Lateinische  bekannt  geworden. 
Eine  steht  bei  Dan.  Eberh.  Baringius  in  dessen  Descriptio  Salae 
principatus  Calenbergici,  Lemgo  1744,  II  p.  155 — 157  (danach  ab- 
gedruckt bei  O.  L.  B.  Wolff,  Sammlung  historischer  Volkslieder  und 
Gedichte  der  Deutschen  [1830]  767  ff.),  die  andere  aus  1646  bei 
Hoffmann  von  Fallersleben,  Henneke  Knecht.  Ein  altes  niederdeut- 
sches Volkslied,  Berlin  1872.  Eine  dritte  lateinische  Übersetzung 
aus  1679  erwähnt  F.  M.  Böhme,  Altdeutsches  Liederbuch  (1877) 
S.  580.  Dazu  kommt  noch  eine  vierte  aus  1603,  welche  die 
Handschrift  M.  297  der  kgl.  öffentlichen  Bibliothek  in  Dresden 
aufbewahrt,  und  die  einiger  Abweichungen  wegen  hier  abgedruckt 
werden  mag. 


[202] 

1.  Henninge,  serve!  si  voles 
Mercede  prisca  servies 

Messern  per  hanc  aestivam. 
Novos  tibi  do  caleeos 

bene  scis  movere  stivam. 


Cantion.  de  Henning. 

[203]  6.  Bremam  sed  intrans  inelytam 
compellat  hisce  navitam: 
mi  navium  magister, 

tuos  fac  inter  remiges 
ad  transita  sim  minister. 


2.  Henningus  inquit:  ilico 

Servire  nolo  villico, 
Res  sperno  villicorum. 

Maris  petam  fluetus,  opum 
Spe  nempe  largiorum. 

3.  Hera  mox  ad  hanc  sententiam : 

miror  tuam  dementiam 
tum  nauta  navigabis? 

Agrum  ligone  citius 
stivaque  praeparabis. 

4.  Henningus  ipsi  neutiquain 

Parens,  avenae  copiaivi 
Arcu  statim  mutabat; 

Curtasque  vestes  militum 
de  more  comparabat. 

5.  Arcu  premente  pendulo 

Tergum,  pharetram  cingulo 
Costis  adhaerit  ensem, 

et  cursitans  illoc  et  hoc 
Vrbem  petit  Bremensem. 


7.  Respondet  ille:  remigem 

temet  libens  conducerem, 
Nisi  rudern  meorum 

Te  proderet  vox  rusticum 
Et  inscium  laborum. 

8.  Novi,  refert,  per  Herculem, 

Me  promptiorem  neminem 
Quamvis  ad  actionem 

Et  aequo  mentis  robore 
Et  corporis  Draconem. 

9.  Sed  navigans  in  aequore 

Fugacis  instar  capreae 
Obmutuit  repente, 

Multum  voluta[n]s  pectore 
Mortis  metu  tremente. 

10.  Se  fuleiens  ad  marginem 
Erructat  farraginem, 

Ab  ore  brachialem 

Hera,  quae  monebat  exitum 

Habere  cerno  talem. 


56  Volkslied-Miszellen.   II. 

[204] 

11.  Cucurrit  ales,  flat  notus  18.  Ah!  me  quis  hoc  nunc  ex  salo 

Trox,  aeris  furit  Status  Brunsvigio  reddet  solo? 

Ferociuntque  fluctus  habebit,  indc  dignum 

Ait,  mihi,  stivae  magis  Satus  avenae  premium, 

pareret,  hisce  ductus.  Et  cum  fabis  medimnum. 

12.  Ah,  nie  quis  hunc  ad  Nobiles  14.  En!  hujus  autor  cantici 

Modo  reducet  Saxones  Eduxit  Henningum  Mari, 

Dyistrum  inter  atque  Lainum,  Nee  iendibus  periret, 

Quo  surgit  inelyti  Ducis  Sed  hoc  ut  elatos  malo 

Arx  celsa  Lawenstainum.  Edoctus  erudiret. 

7  3  rutem  Hs.  —   7  6  Hs.  laborem.  —  8  4  Hs.  ad  aequo.   —  14  3  Hs. 
lentibus. 

Die  15.  Strophe  ist  auch  plattdeutsch   in    folgender  Gestalt 

gegeben : 

De  Vnij  düt  ledeken  hefft  erdacht, 
Hatt  Heunecken  van  der  See  gebracht, 
Dat  ehne  de  lüse  niht  freten, 
sundern  he  warnet  alle  gute  gesellen, 
datt  sy  nicht  sindt  vermeten. 


22.    Zwei   Bauernlieder. 

In  der  Handschrift  980  der  Innsbrucker  Universitätsbiblio- 
thek aus  ca.  1760  finden  sich  zwei  bayerische  Liedchen,  wovon 
das  eine  von  einem  lustigen  Bauernsohn,  das  zweite  von  einem 
Bauern,  der  ein  Herr  werden  will,  und  seiner  Frau  handelt.  Das 
erste,  ganz  im  Metrum  und  Ton  dem  Schnaderhüpfel  gleich, 
kann  auch  als  Beleg  für  das  Alter  dieser  Volksliedgattung  gelten, 
dessen  ältestes  auf  den  Grafen  Paar  aus  1600  (s.  J.  Zahn,  Steier- 
märkische  Geschichtsblätter  IV  [1883]  56;  H.  Grasberger,  Die  Natur- 
geschichte des  Schnader  hüpf  eis  [1896]  S.  25  f.),  dessen  zweitältestes 
aus  Appenzell  1754  (T.  Tobler,  Die  deutschen  Mundarten  IV  [1857] 
379)  überliefert  ist. 
f64b]  a)  Filius   rustici. 

1.  unter  mein  huet  'S.   und  wan  ma  mei  mutta 
stekht  aller  mein  mueth.  halt  wida  so  thuet, 

2.  frey  di,  mein  mutter,  4.    so  wird  i  a  tragona 

i  thue  dir  kain  guett.  und  thue  halt  [a]  guet. 

[45b]  b)   Rusticus  et  mulier. 

1.    Rusticus:  3.    Rusticus: 

i  mues  no  wem  zum  gstrengn  hern,         offtn  ge  i  mit  kain  bauerbuben, 
i  mag  kain  baur  bleiben.  i  friß  weda  kraut  no  rueben. 

2.    Mulier:  4.    Mulier: 

will  kain  hern,  i  ma1  kan  hern,  jacet. 

a  baur  must  ma  bleiben. 

1  mag 


Volkslied-Miszellen.    II.  57 

23.    'Die  Försterin   und  das  Rotkehlchen'  von  F.  Dahn. 

Die  Vögel  sind  im  deutschen  Volksliede  oft  allwissend,  be- 
sonders verkünden  sie  Todesfälle  und  Mordtaten  (vgl.  M.  E.  Mar- 
riage,  Alemannia  XXVI  [1898]  166—168,  173).  Dieses  Motiv 
verwendet  Felix  Dahn  in  seinem  Gedichte:  Die  Försterin  und 
das  Rotkehlchen  (Sämtliche  Werke  poetischen  Inhalts  XVI  [Leipzig 
1898]  109  f.).  Die  Försterin  fragt  das  wegfliegende  Rotkehlchen, 
ob  es  sich   an  einem  Dorn  ritzte,   da  es   mit  Blut   bespritzt   ist: 

[109]  3.  'Mich  hat  kein  Dorn  geritzt!  4.  'Mein  Nest,  das  bau  ich  nit! 

Bin  ich  mit  Blut  bespritzt,  Ich  flieg  zum  Bühl  damit, 

So  ist's  von  Menschenblut:  —  Dafs  ich  dem  blassen  Mann 

Först'rin,  du  kennst  es  gut.'  —  Sein  Auge  decken  kann.'  — 

'Trägst  du  zum  Neste  dein  'Liegt  Einer  am  Bühl  erschlagen? 

Die  Blätter  im  Schnäbelein?'  Wer  schlug  ihn,  kannst  du's  sagen?' 

[HO]     5.   'Horch,  ob  ich's  sagen  kann: 
Erschlagen  liegt  dein  Mann, 
Er  liegt  im  Blute  rot 
Und  dein  Buhle  schlug  ihn  tot.'  — 

'Schweig'  still!  —  Flieg'  fort,  Botkehlchen ! 

War'  ich  rein  wie  du,  Liebseelchen !' 

24.    Zu   'Du   Glöckerl  im   Thurm'. 

R.  H.  Greinz  und  J.  A.  Kapferer  [Tiroler  Volkslieder  [1889] 
188  f.)  bringen  ein  Volkslied  mit  diesem  Anfange,  das  sich,  seines 
ganzen  Inhaltes  wegen,  als  ein  volkstümliches  Lied  erweist,  und 
tatsächlich  ist  dessen  Verfasser  J.  Kart  seh  (Feldbleameln  [Ge- 
dichte in  österreichischer  Mtindart],  Zweiter  Buscb/n,  Wien  1847, 
S.  44  f.).  Auch  F.  F.  Kohl  (Echte  Tiroler-Lieder  [1899]  S.  XIX) 
erwähnt  dieses  Lied  für  Tirol.  Ich  gebe  hier  den  Originaltext 
und  die  Tiroler  Varianten. 

[44]  's  Hoamathglöckerl. 

1.  Du  Glöckerl  aum  Thurn  5.  Oft  sägst  ma:  Hiazt  san 
Bist  a  Ding  ohni  Herz,  Wied'r  glückli  a  Paar! 
Kannst  a'n  oanzigi  Sprach,  So  schwör'n  sih  dooTreu,  so 
Für  d'  Freud  und  für'n  Schmerz.  Läng  s'  leb'n  bein  Altar. 

2.  Kannst  nix  als  zwoa  Tön  [45]  6.  Oft  mahnst  mi,  dass  alias 
Und  mit  dö  sägst  so  viel,  Auf  der  Welt  vageht; 

Als  hast  in  dein  Züngerl  Daß  wied'r  a  Nächb'r 

A  Herz  und  a  G'fühl.  Bein  Leb'nspförtl  steht. 

3.  Oft  klingst  ma  so  liab  7.   Oft  singst  oan,  der  d'rin  liegt 
Und  so  hell  und  so  fein                          In  hölzana  Schrein. 

Als  ruafad'n  d'Engerln:  Wia  d'Muada  ihr  Kindl 

In  d'  Kirch'n  geh  'nein !  Zun  letzt'nmäl  ein. 

4.  Oft  schallst  ma  voll  Trost,  H.  Für  den,  den's  'd  da  einsingst, 
Wann  mein  Tagwerch  vollbracht;          Für  den  schallst  gär  schön; 

Als  wünscha's  'd  ma  herzli  Ab'r  trauri  für  dö, 

A  ruahsämi  Nacht.  Dö  nach  müaß'n  gehn.  — 


58  Volkslied-Mi szellen.    II. 

o  0.  D'rum  kummst  ma-r  oft  für,  10.  Als  müaßt'  as  dein  Nächb'rn 

Als  wanns'd  Herz  hast  und  G'fühl,  'n  Himml  AU's  säg'n; 

Als  müaßas'd  ob'n  los'n  Als  müafjas'd  mit  uns  herunt, 

Aum  Thurn  in  da  Still;  Lach'n  —  und  kläg'n.  — 

Zunächst  hat  das  Tirolerlied  die  Strophen  7  ff.  als  zu  reflexiv 
mit  richtigem  Gefühl  ausgelassen.  Die  übrigen  Abweichungen 
sind  gering: 

1  l  im ;  —  2  2  du  viel ;  —  2  3  hätt'st ;  —  2  3  dei'm ;  —  3  4  geh'  ein ;  — 
5  2.  3  Treu'  für's  Leben  . . . ;  —  6  2  auf  Erden. 

Besonders  hervorzuheben  ist  nur  noch,  dafs  eine  Strophe  des 
Tirolerliedes  aus  je  zwei  des  Originaltextes  besteht,  also  IG.  = 
1,  2  K.;  2  G.  =  3,  4  K.;  3  G.  =  5,  6  K. 

25.   Zu  'Wer  immer  annehmliche  Freuden  will  genießen'. 

Ditfurth  {Deutsche,  Volks-  und  Gesellschaftslieder  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts  [1872]  194  f.  Nr.  157)  bewahrt  uns  nach  einer 
alten  Handschrift  ein  Lied  obigen  Anfanges,  das  er  auch  nach 
mündlicher  Überlieferung  des  19.  Jahrhunderts  in  Fränkische  Volks- 
lieder II  (1855)  218  f.  Nr.  286  in  einer  vielfach  abweichenden 
Fassung  mitteilen  konnte.  Eine  ebenfalls  ziemlich  abweichende 
bayerische  Fassung  aus  ca.  1760  steht  in  der  Handschrift  980 
der  Innsbrucker  Universitätsbibliothek. 

[II1']  Deliciae  venatoriae. 

1.  Wer  immer  will  freiden  genießen, 
verfiege  sieb  eilends  in  wald 

und  falle  Dianae  zu  füeßen, 

ergebe  sich  ihren  gewalt. 

sie  wird  ihn  ergezen  mit  jagen  und  hezen 

in  ihren  grien  sameten  saal, 

wo  allerhand  thierlein,  füx,  hasen  und  rehlein, 

anstellen  ein  lustigen  baal. 

2.  Kaum  fanget  mit  güldenen  strahlen 
an  Phoebus,  nachdem  er  erwacht, 

die  gipfl  der  berg  zu  bemahlen, 

zum  jagen  wird  anstalt  gemacht. 

der  Jäger  blasts  hörn,  die  hund  spizen  d'  ohrn, 

gschwind  wie  der  wind  lauffen  sie  trauf, 

bis  das  sie  erdappen,  ein  wildbret  erschnappen 

und  fangen  in  völligen  lauff. 

:'•.    nit  minder  die  andere  Jäger, 
versechen  mit  pulver  und  bley, 
erwarthen  auf  ihren  grien  läger, 
bis  flieget  ein  thierlein  vorbey. 
der  feyrrohr  knallet,  das  wildpret  schon  fallet, 
weils  frisch  ist,  da  weid  man  es  aus; 
wer  aber  so  troffen,  das  es  durch  geloffen, 
den  mächen  die  schizen  ein  blaus '. 

1  vom  frz.  applaudir  'Beifall  klatschen',  aber  im  Bayerischen  im  verspottenden 
Sinne,  also  verspottendes  loben,  lachen,  klatschen,  spöttischer  Beifall 


Volkslied-Miszellen.    II.  59 

-1.    wan  gehet  zu  gaden2  die  Sonne 
und  Hesperus  ziechet  auf  d'  wacht, 
bey  einen  ciystallenen  bronen 
die  jägerbursch3  lustig  sich  macht. 
[12 ;l]     da  klingen  die  lauten,  waldhorn  und  flauten, 
Diana  fiert  selbsten  den  Chor, 

man  pfeiffet,  man  singet,  man  danzet,  man  springet, 
bis  Phoebus  zuschließet  das  thor. 

2  zu  mhd.  gaden  'Gemach,  Kammer';  gehet  zu  gaden  =  zieht  sich  in  ihr 
Gemach  zurück,  geht  unter  3  die  bursch  sing,  im  Bayer,  die  Bezeichnung  für  die 
Gesamtheit  der  Burschen,  daher  die  jägerbursch   =  die  Jägerburschen 

26.    I  häb   amähl  a  Ringerl  kriagt. 

Als  Verfasser  dieses  Liedes  hat  John  Meier  {Kunstlieder  be- 
kannter Verfasser  im,  Yolksmunde  [1898]  Nr.  413)  den  bekannten 
Dialektdichter  Anton  Freiherrn  von  Klesheim  nachgewiesen.  Als 
ersten  Druck  gibt  Meier  ''s  Schwarxblatl  aus'n  Weanerwald 4  1 
(Wien  1858)  106  V  an,  doch  findet  sich  das  Gedicht  schon  in 
's  Schwarxblatl  aus'n  Weanäwald  I  (Wien  1844)  S.  62.  K.  H.  Prahl 
(Hoffmann  von  Fallerslebeu,  Unsere  volkstümlichen  Lieder,  4  besorgt 
von  K.  H.  Prahl  [1900]  146  Nr.  686)  zitiert  die  dritte  Ausgabe 
des  Schwarzblatls  von  1856.  Aufzeichnungen  aus  dem  Volks- 
munde liegen  vor  aus  Tirol  (Greinz-Kapferer,  Tiroler  Volkslieder  I 
[1889]  45  f.;  erwähnt  bei  F.  F.  Kohl,  Echte  Tirolerlieder  [1899] 
S.  XX)  und  aus  der  badischen  Pfalz  (M.  E.  Marriage,  Volkslieder 
aus  der  badischen  PfaU  [1902]  132  f.  Nr.  85).  Dazu  kommt  eine 
Fassung  aus  Niederösterreich,  die  mein  Freund  R.  Zoder  dem 
geschriebenen  Liederbuche  der  Marie  Labner  zu  Kirchberg  an 
der  Pielach  (Bh.  St.  Polten,  Bg.  Kirchberg  a.  d.  Pielach)  1900  ent- 
nahm und  mir  freundlichst  überliefs.     Hier  der  Text: 

Eingerl  und  Rose. 

1.  I  hab  amal  a  Eingerl  kriagt  3.  Es  war  halt  no  koan  Jahr  vorbei", 
von  meiner  herzliaben  Dirn,                   wars  Eesal  nimma  roth 

I  hab  ihr  drauf  a  Kösal  gebm,  Und's  Dirndl,  was  mein  anzigs  war, 

so  wia's  im  Frühjahr  blühn  '.  wohnt  drobm  beim  liabm  Gott. 

2.  Sie     hat     das     RösaJ     voller  4.   Bevor's   gstorben   is,   hats    na 

Freud  gsogt  zu  mir: 

in  ihr  Gebetbuch  glegt  l  leh,   woa-n  dir  [d']  Augen  not  aus, 

Und  i  hab  mir  das  Eingerl  gleich  Wir  werden  uns  bald  wiedersehn, 

an  meinen  Finga  gsteekt.  da  drobm  im  Vatershaus. 

5.  Und  kommst  du  einst  in-  Himmelreich, 
an  den  Eing  erkenn  ich  dich 
und  an  den    Röserl    an   mein3  Herz. 
an  den  erkennst  du  mich. 

1  für  dial.  fruäjatar  blian       2  dial.  va  bei       3  H*.  dein 


60 


VblksHed-Miszellen.   II. 


[62] 


Zum  Vergleich  setze  ich  den  Originaltext  Kiesheims  bei: 
Ringerl  und   Röserl. 


1.  I  hab  ämahl  ä  Ringerl  kriägt 
Von  meiner  Herzens-Dirn, 
Und  i  hab  ihr  ä  Röserl  gebn, 
Wiä's  halt  in  Summer  blüak'u. 

2.  Si    hat     das     Röserl     voller 

Freud 
In  ihr  Bethbüächerl  glegt, 
Und  i,  i  hab  das  Ringerl  mir 
An  mein  klän  Finger  g'steckt. 

3.  Drauf  häm  mir  uns  gar  zärtli 

küßt 
Und  das  Väsprechn  gebn, 
Das  mir  uns  herzli  liäb'n  woll'n 
Durch's  ganzi  Erdnlebn. 

Das  Verhältnis  der  Aufzeichnungen  aus  dem  Volksmunde 
zum  Original  stellt  sich  folgendermafsen  dar: 

1  =  1  GK,  M.,  B.;  -  2  =  2B.;-3  =  2  GK.,  M.;  — 
4  =  3  GK.,  M.,  B.;  —  5  =  4  GK.,  M.  (mit  guter  Änderung  von 
Z.  2),  B.;   -      6  =  5  GK.  (mit  guter  Änderung  von  Z.  3),  M.,  B. 


4 .  's  war  no  not  ganz  ä  Jahr  väbey, 
War's  Röserl  nimmer  roth, 
Und's  Deänderl  dö  mei  All's  is  gwest, 
War  obn  beyn  liäb'n  Got! 

5.  Und  eh's  no  g'storbn  is   hat's 

gsagt : 
'Geh  wan  dir  d'Augn  not  aus, 
Mir  wer'n  uns  ja  bald  widersegn, 
Dort  obn  in  Vaterhaus! 

6.  Und    kumst    Du    h'nauf    in's 

Himmelreich, 
An'n  Ring  erkenn  i  Di, 
Und  an  dein  Röserl  an  mein  Herz, 
An  den  erkennst  Du  mü' 


27.    Zu  'Warumb  thustu   mich   kräncken,  Amor'. 

Das  'Venusgärtlein'  aus  1656  enthält  auf  S.  164  ff.  (Neu- 
ausgabe von  M.  Freiherrn  von  Waldberg  [1890]  122  f.)  dieses  Lied 
in  einer  an  manchen  Stellen  ziemlich  verderbten  Fassung.  Das  Lied 
selbst  kann  Waldberg  (a.  a.  O.  XXXIII  Nr.  81)  nicht  weiter  nach- 
weisen. Eine  altere  und  bessere  Fassung  aus  1603  findet  sich  in 
der  Handschrift  M.  297  der  kgl.  öffentl.  Bibliothek  in  Dresden 
und  gelangt  dieselbe  hier,  strophisch  gegliedert,  zum  Abdruck, 
wobei  das  Abweichende  durch  Kursivdruck  hervorgehoben  ist. 

[67] 


1.  Warumbthustdumichkrencken, 
Amor,  du  schwere  last? 

was  thustu  doch  gedencken, 

dass  du  mich  also  hast 

mit  solcher  schmertx  vnd  Pein 

verwundt  das  hertze  mein ! 

was  wil  man  dir  doch  schencken 

zu  dem  Siege  dein. 

2.  Weinig  wirstu  gewinnen, 
das  ich  meine  junge  tag 

in  trauren  muG  zubringen 
in  so  schmertzlicher  klag, 
in  solcher  tyranney 
der  schmertzen  rnaugerley; 
mein  kindt,  sey  doch  zufiieden, 
das  ich  Dein  Diener  sey. 


3.  Hettstu  mich  gelaßen 
Marti,  dem  Krieges  Gott, 
ihm  zu  dienen  ohne  ablaßen, 
wehr  ich  nicht  in  dem  spott 
gerathen,  wie  ich  bin; 
ach,  ihr  mein  betrübte  sin, 
wall  hat  euch  doch  betöhret? 
mein  freudt  ist  gantz  dahin ! 

[68]  4.  Ach,  ach,  es  ist  geweßen, 
ach,  ach,  ich  weiß  es  woll, 
ein  Mägdlein  außerleßen, 
die  mir  gefiel  so  woll, 
so  hüpsch  vnd  so  lieblich, 
xu  schertxen  so  freundlich; 
Galliarda  vber  die  maßen 
tantxt  sie,  dran  verlibt  ich  mich. 


Volkslied-Mizellen.    II. 


61 


5.  Gleich  wie  die  fische  im  mehr 
praesentiren  ihre  £  estalt 

an  einem  felßen  scharfe; 
alßdan  so  fliegen  sie  baldt, 
wen  dan  der  fischer  kompt, 
ihr  gestaldt  alda  vernirnbt, 
thut  er  das  netz  zerreißen, 
in  stücken  es  dahin  schwimbt. 

6.  Also  ist  auch  zerrißen 
das  netz  der  hoffnung  mein ; 
alß  ich  thett  erst  anschauen 
die  hoff  liehe  Schönheit  dein, 
meint  ich  zu  fangen  dich, 
betrog  aber  selber  mich, 
etwas  vom  Spiegel  zu  greif fen; 
wie  sehr  man  irret  sich! 

[69]  7.  Aber  wie  den  dem  Allen, 
ob  ich  schon  habe  fallirt 
vnd  es  hat  nicht  (hat)  sein  sollen, 
nach  dem,  wie  ich  petirt, 


so  bitte  ich  nur  allein, 
du  wolst  zufrieden  sein, 
daß  ich  dir  möchte  dienen 
nach  günstigen  willen  dein. 

8.  Hier  mit  wirdt  gtentiret 
mein  hochbetrübtes  hertz 
vnd  auch  recompensiret 

der  langwirige  schmertz, 
den  ich  so  manches  Jahr 
an  deiner  lieb  fürwar 
Vnschuldig  hab  erlitten, 
erduldet  gantz  vnd  gar. 

9.  Sollestu  aber  zürnen, 
das  ich  so  liebe  dich 

vnd  mich  darüber  erwürgen, 
ach  mein,  was  hulff  es  mich ! 
der  verlust,  der  were  zwar  klein, 
doch  würdt  es  so  viel  sein, 
verlohren  icürdestu  haben 
den  getreuesten  Diener  dein. 


Dem  Venusgärtlein  gegenüber  ergeben  sich  Besserungen  in 
1  5,  (i  und  9  e;  der  Reim  wird  hergestellt  in  2  2  und  3  3;  die 
Strophen  4  und  5  bieten  eine  klarere  Fassung,  wahrend  Strophe  6 
und  9  4  im  Venusgärtlein  besser  sind. 

28.    Ein  Volkslied   in   Heyses  'Jungfer  Justine'. 

Paul  Heyses  vieraktiges  Schauspiel  'Jungfer  Justine'  (erster 
Druck:  Deutscfie  Dichtung,  hg.  von  K.  E.  Franzos,  XIV  [1893] 
9—13,  41—48,  64-72,  88—94)  spielt  zur  Zeit  des  Siebenjäh- 
rigen Krieges,  im  Oktober  1758,  teils  in  Dresden,  teils  im  Lager 
bei  Hochkirch.  Im  dritten  Akt,  der  in  Friedrichs  Hauptquartier 
zu  Rodewitz  sich  abwickelt,  singt  einer  der  jungen  Grenadiere, 
welche  zu  Friedrichs  Leibwache  gehören,  zeitig  in  der  Frühe, 
nachdem  er  vom  Schlafe  erwacht  und  längere  Zeit  ins  Feuer  ge- 
starrt hatte,  mit  heiserer  Stimme: 

Morgen  früh  müssen  wir  marschieren 

Zu  dem  hohen  Thor  hinaus. 

O  du  schwarzbraunes  —         (III.  Akt,  1.  Sz.,  S.  t}üb), 

wird  jedoch  vom  Unteroffizier  unterbrochen,  der  ihm  befiehlt, 
still  zu  sein.  Dieses  Lied  scheint  Heyse  F.  L.  Mittler,  Deutsche 
Volkslieder}  (1865)  895  Nr.  1454,  entnommen  zu  haben,  wo  es 
nach  mündlicher  Überlieferung  aus  Hessen  mitgeteilt  ist. 

29.    Weicht  ihr  Nachtgespenster. 

Die  Handschrift  980  der  Iuusbrucker  Universitätsbibliothek 
aus  ca.  1760  enthält  auch  folgendes,  mir  bis  jetzt  noch  nicht 
untergekommene  bayerische  Lied: 


62  Volkslied-Miszellen.   II. 

[101 a]  [Htlb] 

1.   weicht  ihr  nachtgespenster,  2.  geh  ich  auf  und  nider,  nider 

stölirt  mich  nit  in  meiner  rueh.  mit  der  pfeifen  in  der  handt, 

dorten  an  den  fenster,  fernster  denckh  ich  halt  gleich  wider,  wider 

schauet  mir  mein  sehäzgen  zue.  an  das  gelobte  landt, 

und  ihr  helle  sterne,  alwo  nichts  als  freuden, 

die  ihr  leuchtet  bey  der  nacht,  ja  die  allergröste  lust, 

gebet  dan  von  ferne,  ferne,  ferne,  so  uns  allen  beyden,  beyden, 

ferne  auf  mein  sehäzgen  acht.  beyden  ist  gar  wohl  bewust. 

3.  guete  nacht,  mein  sehäzgen,  sehäzgen, 
weils  die  zeit  nit  lasset  zue, 
das  [ich]  auf  mein  pläzgen,  pläzgen 
mit  dir  reden  thue; 
schlafe  ohne  sorgen, 
dan  was  heunt  nit  kan  sein, 
werd  ich  ja  gleich  morgen,  morgen, 
morgen  doppelt  bringen  ein. 


30.    Grillparzer   und  das   deutsche  Volkslied. 

Grillparzer  ist  in  allem  ein  echtes  Wienerkind,  ein  Abbild 
des  Wieners,  der  sich  an  allem  und  jedem  seinen  Schnabel  wetzen 
mufs  und  zwar  besonders  an  Neuerungen,  die  sein  konservativer 
Sinn  nicht  verträgt  und  nicht  begreifen  will.  Nicht  treffender 
hätte  Grillparzer  sich  und  die  echten  Wiener  zeichnen  können 
als  mit  den  Worten:  'Da  mufs  ich  nun  vor  allem  einen  Fehler 
eingestehen,  der  mir  im  Leben  viel  Schaden  getan  hat:  Etwas 
Einsames  in  meiner  Natur  und  ein  Widerwillen  gegen  alles  Öffent- 
liche und  Gemeinsame,  letzteres  um  so  mehr,  als  ich  selten  mit 
der  Menge  und  den  Vielen  übereinstimme'  (Sämtliche  Werke,  hg. 
von  A.  Sauer,  5.  Ausgabe,  Stuttgart  [1892],  XVIII  75).  Daraus 
wird  uns  auch  sein  Hals  gegen  die  erst  durch  die  Romantiker 
aufgekommene  germanische  Philologie  und  alles  damit  Zusammen- 
hängende klar,  denn  er,  der  in  den  Gefilden  der  griechischen  und 
spanischen  Dichter  und  Denker  wandelt,  dem  die  deutsche  Klassi- 
zität (Goethe  und  Schiller)  das  Höchste  ist,  kann  nicht  begreifen, 
wie  man  sich  den  'faden'  mittelhochdeutschen  Dichtungen  und 
den  Volksliedern,  die  ihm,  von  seinem  klassischen  Standpunkte 
aus,  freilich  nichts  bieten  konnten,  aber  doch  auf  so  viele  unserer 
grofsen  Dichter  (Unland,  Heine,  Eichendorff  und  andere)  befruch- 
tend wirkten,  zuwenden  kann.  Er  verstand  als  Städter  nicht  den 
Wert  des  Volksliedes,  er  begriff  von  seinem  klassischen  Stand- 
punkt aus,  im  Gegensatz  zu  Goethe,  der  hier  doch  seine  Stürmer- 
und Drängerschaft  nicht  verleugnen  kann,  dessen  Wesen  nicht, 
und  so  verlegte  er  sich  als  echter  Wiener  aufs  Schimpfen,  ohne 
jedoch  die  Sache  totschimpfen  zu  können,  denn  mehr  als  je  er- 
kannte und  erkennt  man  das  Volkslied  als  Macht.  Ihm  gilt  die 
Volkspoesie  nichts,  und  so  konnte  er  1852  sagen: 


Volkslied-Miszellen.    II.  63 

Die  Volkspoesie,  die  eu're  Jünger 

Lobpreisen  mit  soviel  Emphatik, 

Stellt  gleich  mir  mit  der  Volksmathematik, 

Die  eben  nichts  als  die  zehn  Finger.     (A.  a.  O.  III 5  183.) 

Deutlich  ergibt  sich  aus  den  letzten  Zeilen,  dafs  er  das  Wesen 
der  Volkspoesie  nicht  erfafste,  und  so  konnte  auch  von  ihm  jener 
verhängnisvolle  Irrtum,  der  übrigens  auch  heute  noch  nicht  ganz 
aus  der  Welt  geschafft  ist  und  noch  immer  spukt,  dafs  das  Volk 
im  ganzen  der  geistige  Urheber  der  Volkslieder  sei,  nicht  um- 
gangen werden,  und  höhnisch  ruft  er  1853: 

Wenn  unsere  Zeit  keine  Dichter  zählt, 

Vermag  das  nicht  uns  einzuschüchtern; 

Damit  es  nie  an  Poeten  fehlt, 

Erheben  wir  das  Volk  zu  Dichtern.  (III  5  186.) 

Nicht  das  Volk  im  ganzen  dichtet,  sondern  immer  nur  ein  ein- 
zelnes Individuum,  und  erst  der  Erfolg  eines  Liedes  macht  es 
zum  Volkslied,  an  dem  dann  das  Volk  seine  glättende  und  um- 
arbeitende Tätigkeit  versucht. 

Er  selbst  gesteht  es  ja  1849  ein,  dafs  er  sich  nie  vom  Volks- 
lied angezogen  fühlte  (a.  a.  O.  XVIII5  161),  doch  auch  bei  ihm 
kommt  zeitweilig,  so  1846,  der  Gedanke  zum  Durchbruch,  dafs 
das  Volkslied  nicht  so  verächtlich  sei,  sondern  dafs  es  an  seinem 
Platze  entzückt  und  erfreut,  nur  dürfe  es  von  dort  nicht  ver- 
pflanzt werden:  'Volkslieder  sind  wie  die  Wiesenblumen,  die, 
wenn  man  sie  im  Felde  ohne  Pflege  und  Kultur  aufgewachsen 
antrifft,  erfreuen,  ja  entzücken;  in  den  Gärten,  zwischen  Rosen, 
Nelken  und  Lilien  versetzt,  sind  sie  nicht  viel  besser  als  Unkraut' 
(XVIII0  36).  Doch  kann  dem  Nachsatze  entgegengehalten  wer- 
den, dafs  es  auch  wahre  Perlen  von  Volksliedern  gibt,  die  ruhig 
in  die  Gärten  verpflanzt  werden  können,  und  dafs  gerade  jene 
Lieder,  die  auf  Volksliedern  aufgebaut  sind,  grofse  Wirkungen 
erzielten,  was  besonders  von  der  Heineschen  Lyrik  gilt.  Gerade 
jenem  Manne,  der  so  viel  dem  Volkslied  in  seiner  Dichtung  ver- 
dankt, dem  Begründer  der  wissenschaftlichen  Volksliedforschung, 
Ludwig  Uhland,  wirft  Grillparzer  seine  Volksliedersammlung 
1837  mit  den  Worten  vor: 

Was  führst  du  selber  Mörtel  und  Sand, 

Zu  höhern  Werken  berufen  und  schönem? 

Wer  bauen  kann,  bau'  auf  eig'ne  Hand 

Und  lasse  den  Karren  den  Tagelöhnern.         (III5   116), 

vergessend,  dafs  gerade  die  Beschäftigung  mit  dem  Volkslieds 
Unlands  beste  Gedichte  hervorrief.  Dafs  man  sich  mit  dem 
Volksliede  beschäftigt,  daran  ist  nur  die  germanische  Philologie 
schuld,  welche  die  poetische  Begabung  für  überflüssig  erachtet 
und  das  Volk  zu  Dichtern  macht,  wie  Grillparzer  das  ca.  1860 
anläfslich  der  Besprechung  der  germanischen  Philologie  und  Alter- 


64  Volksliod-Miszellen.    IT. 

tuinskunde  ausdrückt:  'Die  Volkslieder,  die  niemand  gemacht 
hatte,  wurden  der  rohen  Masse  in  die  Schuhe  geschoben,  und  man 
bedurfte  von  nun  an  nur  das  Volk  und  ein  paar  Pedanten,  um 
jede  poetische  Begabung  überflüssig  zu  machen'  (XVI 5  25).  Noch 
einmal  wendet  er  sich,  veranlafst  durch  Karajans  Funde,  ca.  1853  (?), 
gegen  die  germanistischen  Studien  der  Brüder  Grimm  und  deren 
Mitarbeiter,  wenn  er  zu  Sachsengang  im  Marchfelde  ein  Perga- 
mentblatt  entdeckt,  auf  dem  folgendes  geschrieben  steht: 

'Da  ob'n  aufm  Bergl 
Da  sitzen  zwei  Hasen, 
Der  eine  tut  Zithern  spiePn, 
Der  and're  tut  blasen. 

Also  ein  Volkslied.  Ein  Volkslied,  das,  wie  alle  Volkslieder, 
niemand  gemacht  hat,  das  naturwüchsig,  wie  einige  von  der  Welt 
behaupten,  von  selbst  entstanden  ist.  Ich  war  glücklich.  Zwar 
schien  das  Lied  sehr  abgeschmackt,  das  sind  aber  die  meisten 
Volkslieder,  bis  ein  Gelehrter  den  tieferen  Sinn  und  die  Bedeu- 
tung derselben  herausarbeitet.  Für  jeden  Fall  war  deutscher 
Humor  darin,  Hasen,  die  Zither  spielen  und  blasen!  Vielleicht 
ein  Bruchstück  aus  einem  viehischen  oder  Tier- Epos!'  (XIII5  183.) 
Wenn  sich  hier  Grillparzer  gegen  die  Auswüchse  der  germanischen 
Philologie  wandte,  so  hatte  er  vollständig  recht,  doch  hat  nicht 
jede  Wissenschaft  und  auch  die  Dichtkunst  Auswüchse,  ist  ein 
übertriebener  Klassizismus,  ein  Nichtachten  des  eigenen  Volkes 
nicht  auch  ein  Auswuchs?  Das  Wichtige  dieser  Mitteilung  liegt 
darin,  dafs  uns  hier  Grillparzer  ein  Kinderlied  mitteilt,  das  heute 
noch  im  Viertel  unterm  Manhartsberg  in  Niederösterreich  fort- 
lebt (s.  Blümml,  Der  niederösterreichische  Landes  freund  IX  [1900], 
S.  3;  vgl.  auch  «LA.  und  J.  Lux,  Deutsche  Kinderreime  [1904]  140; 
Ziska-Schottky,  Österreichische  Volkslieder  [1819]  24). 

Grillparzer  will  bei  der  alten  Kunst  bleiben    und   nicht   die 
neue  volkstümliche  Richtung  pflegen  (1861): 

Bleib  nur  der  alten  Kunst  getreu, 

Sie  ist  zu  allen  Zeiten  eine: 

Wer  sich  unter  die  volkstümlichen  Kleien  mischt, 

Den  fressen  die  patriotischen  Schweine.1  (III B  '12'.\.) 

Wohl  gibt  es  nur  eine  Kunst,  aber  bei  jedem  Volke  äui'sert 
sie  sich  anders,  und  das  vergifst  Grillparzer.  Nicht  nur  die 
Fremden  bieten  uns  Poesie,  auch  das  eigene  Volk  hat  solche, 
doch  Grillparzer  ist  zu  sehr  Kosmopolit,  um  das  einzusehen,  und 
so  schimpft  er  1837  frisch  darauf  los: 


1  S.  auch  Grillparxers  Briefe  und  Tagebücher,  hg.  von  K.  Glossy  und 
Aug.  Sauer,  II  (Stuttgart  1903)  51  unterm  li».  Februar  1825  (anläfslich 
der  Aufführung  des  Ottokar):  'Wer  sich  unter  die  volkstümlichen  Kleien 
mischt,  dem  geschieht  recht,  wenn  ihn  die  patriotischen  Schweine  fressen !' 


Volkslied-Miszellen.    IT.  65 

Mit  Mittelhochdeutsch  und  Volkspoesie 
Weifs  ich  fürwahr  nichts  zu  machen! 
Wer  trinkt  auch,  solange  es  Brunnen  gibt, 
Aus  Wegspur  gern  und  Lachen? 

Und  fragst  du  mich,  wo  der  Brunnen  sei  — 
Hast  du  Homer  nicht  gelesen? 
Fällt  dir  der  grofse  Brite  nicht  bei? 
Was  Spanien  und  Welschland  gewesen  ? 

Dort  lösche  deinen  brennenden  Durst, 

Dort  aus  dem  vollen  dich  letze! 

Der  Pöbel  erzeugt  das  Schöne  nicht, 

Noch  gibt  er  dem  Schönen  Gesetze.  (III 5  115.) 

Für  Grillparzers  Dramen  konnte  das  Volkslied  nichts  bieten, 
jedoch  der  Lyrik  bietet  es  viel,  und  hätte  da  Grillparzer  nicht 
so  verächtlich  darüber  hinweggesehen,  so  hätten  wir  innigere, 
bessere  Gedichte  von  ihm. 

Aber  der  grofse  Volksliedfeind  Grillparzer  konnte  sich  doch 
einige  Male  dem  Einflusse  des  Volksliedes  nicht  entziehen.  Das 
sehen  wir  besonders  an  einer  Stelle  in  'Des  Meeres  und  der  Liebe 
Wellen'  (1840),  wo  Hero  im  5.  Aufzuge,  nachdem  Leander  tot 
aufgefunden  wurde,  sagt: 

So  lafst  an  unser'm  Ufer  ihn  begraben, 

Wo  er  erblich,  wo  er,  ein  Toter,  lag, 

Am  Fufse  meines  Thurms.    Und  Rosen  sollen 

Und  weif'se  Lilien,  vom  Tau  befeuchtet, 

Aufsprossen,  wo  er  liegt.  (VII  •"■  100.) 

Das  sind  die  berühmten  Unschuldslilien  des  'Grafen  Friedrich' 
und  'des  Ritters  und  der  Magd',  Lieder,  die  im  Wunderhorn  und 
Unlands  Sammlung  reichlich  vertreten  sind  (vgl.  auch  M.  E.  Mar- 
riage,  Alemannia  XXVI  [1898]  127  ff.). 

Zu  einer  besonders  bissigen  Abfertigung  seines  Feindes 
Friedrich  Schlegel  und  dessen  Lucinde  verwendet  er  das  Schnader- 
hüpfelmetrum  und  benennt  seine  beiden  Vierzeiler  'Oberländer 
Lieder'  (mitgeteilt  von  A.  Sauer  im  Jahrbuch  der  Grillparzer- Ge- 
sellschaft VII  [1897]  166): 

D'Luzind'  hat  mir  g'schrieben,  Du  wass'riger  Hiesel, 

Will  jetzt  sich  beker'n;  Was  trinkst  denn  kan  Wein? 

Wann  d'Hurn  amal  alt  seyn,  Wie  soll  a  Geist  in  dein  Kopf  seyn? 

Thans  Betschwestern  wer'n.  Giesst  niemals  an  'nein. 

Auch  im  Satzbau  zeigt  sich  zweimal  deutlich  Volkslied- 
einflufs,  nämlich  in  der  behäbigen,  breiten  Aufzählung  der  Per- 
sonen. So  im  'Willkommen  bei  der  Ankunft  der  vierten  Ge- 
mahlin Kaiser  Franz  I.'  (1816): 

Ja,  staunet  nur,  staunet!  Und  wie  wir  so  stehen, 

Ich  stand  dort  am  Rain  Ein  jedes  für  sich 

Und  trieb  meine  Gänse  Und  schauen,  der  Entrich, 

Ins  Wasser  hinein.  Mein  Pudel  und  ich...  "(II5    I  12.) 

Archiv  f.  n.  Sprachen.     CXV.  5 


66  Volkslied-Miszellen.    II. 

Ebenso  im  Gedichte  'Zum  Namenstag  für  Anna  Fröhlich'  (26.  Juli 

'"  Auch  steh'n  auf  dem  Anger 

Musikanten  noch  drei; 
Ein  kurzer,  ein  langer, 
Ein  dicker  dabei.  (I  &  252.) 

Auch  das  Kinderspiel  wird  herbeigezogen,  so  wenn  in  'der  Zauber- 
flöte zweiter  Teil'  (1826)  die  Tiere,  an  deren  Spitze  der  Elefant 

*        o     •  im  Dunkeln  ist  gut  munkeln; 

Ich  bin  müd',  mein  Schatz. 
Ist  nirgends  ein  besserer  Platz? 
Frau  Gevatterin,  leih'  mir  d' Scher', 
Wo  steht's  her?  (XHI  »  130.) 

Sie  führen  dann  ein  Ballett  auf,  das  Kinderspiel:  'Gevatterin, 
leih'  mir  die  Schere',  aus  dem  oben  der  Spielreim  wörtlich  ent- 
lehnt ist  (vgl.  Jos.  M.  Wagner,  Die  deutschen  Mundarten  VI  [1859J 
111  Nr.  19;  F.  M.  Böhme,  Deutsches  Kinderlied  und  Kinderspiel 
[1897]  649  f.  Nr.  567;  Vernaleken-Branky,  Spiele  und  Reime  der 
Kinder  in  Österreich  [1876]  95  Nr.  21),  nachahmend,  wobei  eins 
den  Platz  des  anderen  zu  erhaschen  sucht. 

Aus  dem  Ganzen  geht  hervor,  dais  Grillparzer,  trotz  der 
steten  Bekämpfung  des  Volksliedes,  auch  an  sich,  wenn  auch  in 
geringem  Umfange,  woran  hauptsächlich  seine  dramatische  Be- 
schäftigung schuld  war,  die  Macht  desselben  erlebte,  so  dais  er 
sich  nicht  ganz  dessen  Einfluis  entziehen  konnte.  Für  das  Volks- 
lied gilt  auch  ebendas,  was  Grillparzer  1822  über  die  Poesie 
und  Religion  sagte:  'Mit  der  Poesie  ist  es  wie  mit  den  Religionen 
Wenn  beide  einmal  ihre  Ächtheit  durch  Wunder  bewährt  haben, 
mufs  man  über  die  einzelnen  Sätze  keine  Beweise  mehr  fordern, 
sondern  an  sie  glauben'  (XV 5  70).  Denn  auch  das  Volkslied 
ist  echte  Poesie. 

Wien.  E.  K.  Blümml. 


Über  den  Hymnus  Csedmons. 


Der  berühmte  Hymnus  Csedmons,  wie  er  in  der  Handschrift 
der  Cambridger  Universitätsbibliothek  KK.  V.  16  erhalten  ist, 
ist  bekanntlich  nicht  nur  sprachgeschichtlich,  sondern  vielleicht 
in  noch  höherem  Grade  literärgeschichtlich  von  gröfster  Wich- 
tigkeit, und  deshalb  wird  die  Frage,  wie  dieser  kostbare  Rest 
ältester  altenglisch-christlicher  Dichtung  in  die  Handschrift  der 
Historia  Ecclesiastica  gekommen,  den  Literarhistoriker  stets 
beschäftigen  und  zu  allerhand  Vermutungen  anregen.  Dazu 
ist  es  vor  allem  wünschenswert,  festzustellen,  wie  sich  der  alt- 
englische  Hymnus  zum  übrigen  Inhalt  der  Handschrift  verhält. 
Zupitza  hat  vor  mehr  als  27  Jahren  in  seiner  klaren,  scharf- 
sinnigen Weise  zuletzt  darüber  gehandelt  in  der  Zs.  d.  A.  22, 
210  ff.,  besonders  213 — 215;  ich  rekapituliere,  auf  Grund  einer 
Prüfung  der  Handschrift  am  19.  Juni  d.  J.,  ergänzend  den 
Tatbestand:  das  letzte  Blatt  der  gleichmäfsig,  d.  h.  in  gleicher 
Schriftgröfse  und  Zeilenzahl  geschriebenen  Handschrift  führt 
auf  der  Vorderseite  mit  . . .  semper  ante  faciem  tuam.  Ex- 
plicit  ...  die  Historia  Ecclesiastica  zu  Ende,  danach  folgt  noch 
in  derselben  Hand  und  Schriftgröfse  die  Stelle  bei  Plummer, 
p.  361,  Ante  DCCXXX  Ceoluulf  . .  .  bis  ad  lucem  propriam 
reuersa,  womit  ebenso  tief  herabgehend  wie  sonst,  also  mit  dem 
Seitenschlufs,  die  Vorderseite  schließt.  'Die  Rückseite  128 v'  — 
ich  lasse  jetzt  Zupitza  reden,  wobei  ich  das  mir  Wichtigschei- 
nende gesperrt  drucke  — ,  'gegenwärtig  die  letzte  Seite  der  Hand- 
schrift, beginnt  mit  dem  Hymnus.  Die  Hand,  die  ihn  schrieb, 
ist  nach  meiner  Ansicht  eine  andere  als  im  vorhergehenden: 
aber  nach  der  Form  der  Buchstaben  und  dem  Gesamteindruck 
kann  nicht  der  geringste  Zweifel  darüber  obwalten,  dafs  es  eine 
gleich  alte  Hand  ist  ...  (folgt  Abdruck  des  Hymnus  und  der 
Glossen).  ..  Dann  kommt  wieder  von  einer  anderen,  aber  eben- 
falls gleichzeitigen  Hand  die  Reihe  der  nordhumbr.  Könige  . . .' 
Nun,  bei  dem  bekannten  Scharfsinn  und  der  grofsen  Gewissen- 
haftigkeit Zupitzas  mufs  man  da  wieder  einmal  mit  Wehmut  be- 
klagen, dafs  der  unvergefsliche  Meister  nicht  mehr  unter  den 
Lebenden  weilt,  dafs  man  ihn  nicht  mehr  fragen  kann,  warum 
er  der  Ansicht  war,  dafs  die  Hand,  die  den  Hymnus  geschrieben, 
eine  andere  gewesen  sei  als  die,  die  den  vorhergehenden  latei- 
nischen Text  geschrieben!  Was  mir  den  Mut  gibt,  trotz  Zupitza 
die  Hand,  die  den  Hymnus  und  auch  die  darauf  folgenden  Notizen 


68  Über  den  Hymnus  Caedmons. 

geschrieben,  für  dieselbe  zu  halten,  die  den  vorhergehenden 
lateinischen  Text  geschrieben,  ist  die  Beschreibung  der  Hand- 
schrift von  Bradshaw,  dem  nun  leider  auch  nicht  mehr  unter 
den  Lebenden  weilenden  trefflichen  Bibliothekar  der  Cambridger 
Universitätsbibliothek,  in  The  Palceo graphical  Society.  Eacsi- 
miles  of  Manuscripts  and  Inscriptions.  Edited  by  E.  A.  Bond 
and  E.  M.  Thompson,  Vol.  IL  London  1873—1883,  Plate  139, 
140.  Bradshaw  sagt,  wobei  die  Sperrschritt  wieder  von  mir  her- 
rührt: then  on  ihe  succeeding  page  the  scri.be  closes  his 
work  with  (1)  ihe  original  Anglo-Saxon  of  the  song  of  Cced- 
mon,  followed.  by  four  glossed  words,  (2)  a  list  of  Northum- 
brian  kings  down  to  737  [but  not  including  Ceoluulf' 's  abdica- 
tion  and  Eadberct's  succession  in  that  year),  and  (3)  a  calcula- 
tion  of  several  events  backwards  from  the  year  737. x  Danach 
folgt  in  einer  Hand  des  10.  Jahrhunderts  Sententia  Hysidori  ... 
bis  zum  Seitenschlufs. 

Man  hat  trüber  bei  Beschreibung  der  handschriftlichen  Über- 
lieferung des  Hymnus  mehrfach  die  Angabe  gemacht,  er  wäre 
an  den  Rand  geschrieben  —  Zupitza  nicht,  er  sagt,  die  Seite 
beginnt  mit  dem  Hymnus.  Dem  gegenüber  scheint  es  mir  nütz- 
lich, auf  Grund  der  eigenen  Prüfung  der  Handschrift  die  nicht 
unwichtige  Erläuterung  hinzuzufügen,  dafs  der  die  Rückseite  be- 
ginnende Hymnus  in  der  gleichen  Zeilenhöhe  wie  die  Vor- 
derseite und  die  vorhergehenden  Seiten  der  Hs.  geschrieben  ist, 
dafs  also  der  ganz  logische  Ausdruck  Zupitzas:  'beginnt'  so  zu 
verstehen  ist,  dafs  der  betreffende  Schreiber  —  wer  immer  er 
gewesen,  mit  gutem  Vorbedacht  zu  Beginn  der  leergebliebenen 
letzten  Seite  die  altenglischen  Verse  nicht  wie  eine  beiläufige 
Randnotiz,  sondern  wie  etwas  zu  dem  Vorhergehenden  Gehöriges 
ordnungsmäfsig  hingeschrieben  hat.  Warum  aber  frühere 
Berichterstatter  die  Angabe  machen  konnten,  der  Hymnus  sei 
an  den  Rand  geschrieben,  macht  ebenfalls  der  Augenschein  der 
Handschrift  begreiflich.  Wenn  man  nämlich  das  Blatt  nicht 
durchs  Licht  betrachtet  und  so  die  Vorderseite  nicht  durch- 
schimmern sieht,  macht  der  Hymnus  allerdings  den  Eindruck, 
als  wäre  er  an  den  oberen  Rand  gekritzelt,  denn  die  danach 
folgende,  in  gröfserer  Schrift  geschriebene  Königsliste  Ida  regnare 
coepit  . . .  reicht  weiter  an  die  seitlichen  Ränder  und  gleicht  in 
ihrer  Regelmäfsigkeit  mehr  der  vorhergehenden  Historia  Eccle- 
siastica,  obwohl  die  Buchstaben  etwas  kleiner  als  in  dieser  sind. 
Wer  blofs  diese  Rückseite  betrachtet,  mag  allerdings  den  Ein- 
druck bekommen,  dafs  der  Hymnus  erst  nach  diesen  lateinischen 

1  Sweet,  <)ET  p.  148,  sagt  von  der  Schrift  der  Königsliste:  in  a  hand 
which  may  well  be  the  same  as  that  of  the  History,  und  über  den  Hymnus 
ebenda :  It  is  not  impossible  that  the  hymn  may  have  been  ivritten  later  than 
the  List,  to  fill  up  the  blank  space.    But  t/ie  hand  is  evidently  eontemporary. 


Über  den  Hymnus  Csedmons.  69 

Königslisten  auf  den  darüber  befindlichen  oberen  Rand  geschrie- 
ben worden  sei;  dieser  obere  Rand  müfste  freilich  etwas  breit 
gewesen  sein,  doch  das  fiele  nicht  auf,  wenn  man  die  Gröfse 
des  Randes  auf  der  Vorderseite  und  den  vorherigen  Seiten  nicht 
beachtete.'  Die  erwähnte  Tatsache  aber,  dafs  der  Hymnus  in 
derselben  Zeilenhöhe  wie  die  erste  Zeile  der  lateinischen  Vorder- 
seite, also  nicht  auf  den  in  der  Handschrift  üblichen  oberen 
Rand  geschrieben  ist,  beweist  meines  Erachtens  mit  Sicherheit, 
dafs  der  Hymnus  zuerst  geschrieben  wurde  und  später  erst 
daran  anschliefsend  die  Königsliste.  Der  Schreiber  des  Hymnus, 
wenn  er,  wie  ich  mit  Bradshaw  annehme,  auch  der  der  Historia 
Ecclesiastica  war,  hatte  nach  getaner  Arbeit  noch  eine  ganze 
freie  Seite  übrig.  Da  schrieb  er  denn  als  eine  Art  erläuternden 
Zusatz  noch  den  Hymnus  dazu;  danach  aber,  da  er  schon  am 
Zusetzen  war  und  schon  zum  Schlufs  der  Vorderseite  des  letz- 
ten Blattes  den  bei  Plummer,  S.  361,  abgedruckten  Zusatz  ge- 
macht hatte,  noch  die  Königsliste  und  weitere  Notizen  hinzu, 
und  zwar  diese  beiden  Zusätze  in  etwas  gröfserer  Schrift.  Den 
Rest  der  Seite  liefs  er  frei,  denn  diesen  hatte  später  ein  Schrei- 
ber des  10.  Jahrhunderts  noch  verwertet.  Der  seelische  oder 
gemütliche  Prozefs,  der  in  dem  Schreiber  des  Hymnus  vorge- 
gangen, und  den  der  Literarhistoriker  sich  in  seiner  Phantasie 
zurechtlegen  mag,  war  vielleicht  auch  kein  anderer,  wenn  der 
Schreiber  ein  anderer  als  der  der  Historia  Ecclesiastica  war. 
Ob  er  derselbe  war  oder  nicht,  diese  Frage  möchte  ich  doch 
noch  anderen,  in  altenglischen  Handschriften  Erfahrenen  bei  Ge- 
legenheit zur  Erwägung  geben;  die  verschiedene  Schriftgröfse 
scheint  mir  doch  kein  Grund  für  oder  wider  zu  sein.  Aber  ob 
er  derselbe  oder  ein  anderer  zeitgenössischer  Schreiber  war,  zur 
Beurteilung  der  Niederschrift  des  Hymnus  müssen  noch  die  vier 
Glossen  herangezogen  werden,  die  doch  mit  dem  Hymnus  und 
dem  übrigen  Inhalt  der  Hs.  nichts  zu  tun  haben.  Solche  Glossen 
finden  wir,  sei  es  als  Federproben  oder  aus  sonstigen  Gründen, 
häufig  an  leergebliebenen  Stellen  am  Schlüsse  von  altenglischen 
Handschriften.  Dies  scheint  mir  darauf  hinzudeuten,  dafs  der 
Schreiber  den  Hymnus  nicht  aus  dem  Gedächtnisse,  sondern  aus 
irgendeiner  handschriftlichen  Vorlage,  die  Altenglisches  und 
wohl  auch  diese  Glossen  enthielt,  niedergeschrieben  habe.  Es 
würde  dies  durchaus  nicht  gegen  das  Fortleben  der  Verse  in 
mündlicher  Tradition,  die  ja  doch  durch  König  Alfreds  Wieder- 
gabe sogar  für  anderthalb  Jahrhunderte  später  erwiesen  ist, 
sondern   nur   für  ihre  Verbreitung  im  8.  Jahrhundert  sprechen. 

1  So  heisst  es  auch  bei  Sweet,   OET  p.  148,  an  der  in  vorhergehender 
Fufsnote  angeführten  Stelle :  ...  to  fill  up  the  blank  space. 

Cöln  a/Rh.,  Juni  1905.  A.  Schröer. 


Noch  einmal  die  Quelle  des  ;Monk'. 


Im  Band  CXIII  des  Archivs  fp.  56  ff.)  hat  0.  Ritter  einen 
Aufsatz  veröffentlicht,  in  dem  er  sich  gegen  meine  früher 
(Band  CXI,  p.  316)  aufgestellte  Behauptung  v/endet,  dafs  der 
Monk  von  Lewis  auf  einen  deutschen  Roman  als  Quelle  zurück- 
gehe, und  seinerseits  das  umgekehrte  Verhältnis  annimmt.  Ich 
kann  mich  nicht  davon  überzeugen,  dafs  seine  Gründe  durch- 
weg stichhaltig  sind,  und  möchte  daher  mit  einigen  Worten  auf 
den  Gegenstand  zurückkommen. 

Für  die  Wahrscheinlichkeit  meiner  Annahme,  dafs  Lewis 
von  dem  deutschen  Roman  abhängig  ist,  liefert  mir  Ritter  selbst 
(in  einem  früheren  Aufsatz  [Bd.  CXI,  166  ff.])  einiges  Beweis- 
material. Er  zeigt  dort,  wie  schon  die  ältere  Kritik  auf  Lewis' 
Manier,  ganze  Stücke  anderen  Werken  zu  entlehnen,  aufmerk- 
sam geworden  ist.  Hierher  gehört  das  Räuberabenteuer  bei 
Strafsburg,  das  übrigens  auch  im  Gil  Blas  seine  Parallele  findet; 
hierher  auch  der  Schlufs,  der  wörtlich  aus  Veit  Weber  ent- 
nommen ist  (a.  a.  0.  p.  115,  Anm.  2  und  3).  Durchschlagend 
erscheint  mir  aber  das  Zitat  aus  A.  W.  Schlegel,  wonach  'einige 
der  beliebtesten,  anmafslichen  Originale  aus  schlechten  deut- 
schen zusammengeborgt  und  nachgeahmt  sind  [the 
monk'] !'  Spricht  doch  hier  ein  Mann,  der  genau  Bescheid  wufste, 
der  gewifs  den  deutschen  Roman  vor  sich  hatte  und  nur  zu- 
fällig genauere  Angaben  zu  machen  unterliefs. 

Diese  Abhängigkeit  des  Engländers  von  seinen  deutschen 
Vorbildern  ist  gerade  der  Punkt,  auf  den  ich  das  gröfste  Gewicht 
legen  möchte,  und  ich  habe  zwei  bisher  unbekannte  Beispiele 
davon  angeführt  {Feudal  Tyrants,  Romantic  Tales:  Bd.  CXI, 
319.  320).  Ich  mufs  hier  mein  Bedauern  ausdrücken,  dafs  Ritter 
auf  meine  Argumente  so  gut  wie  gar  nicht  eingegangen  ist. 
Dagegen  werde  ich  mich  im  folgenden  an  die  seinigen  halten 
und  sie,  soweit  es  möglich  ist,  zu  entkräften  suchen. 

Zunächst  scheint  es  mir  nicht  gar  so  auffallend,  dafs  von 
dem  deutschen  Roman  (falls  er,  wie  ich  immer  noch  annehme, 
zu  Anfang  der  neunziger  Jahre  erschienen  ist)  die  kritischen 
Zeitschriften  und  die  Literaturgeschichten  keine  Notiz  genommen 
haben.     Dazu  war   die  Masse   derartiger  Produkte  damals  doch 


Noch  einmal  die  Quelle  des  'Monk'.  71 

viel  zu  grofs,  und  der  Koman  wäre  nach  wie  vor  im  Dunklen 
geblieben,  wenn  nicbt  in  den  letzten  Jahren  die  Forschung  sich 
seiner  bemächtigt  hätte.  Wenn  dann  Ritter  auf  die  zahlreichen 
literarischen  Vorbilder  hinweist,  die  der  Monk  unzweifelhaft  ge- 
habt hat,  so  hätte  er  gleichzeitig  beweisen  müssen,  dafs  sie  für 
DR  ebenfalls  in  Betracht  kommen;  denn  bekanntlich  sind  ganze 
Partien  des  Monk  ohne  Entsprechung  im  Deutschen.  Übrigens 
leugnet  Lewis,  den  Diable  amoureux  des  Cazotte  vor  Abfassung 
seines  Romans  gekannt  zu  haben.  Die  Stelle  steht,  wenn  ich 
nicht  irre,  in  der  Vorbemerkung  zur  vierten  Auflage,  in  der 
übrigens  die  Änderungen  nicht  so  geringfügig  sind,  wie  Ritter 
(p.  61)  zu  glauben  scheint.  Der  grofse  Unterschied  zwischen 
Cazotte  und  Lewis  ist  der,  dafs  bei  jenem  Biondetta  Don  Alvare 
wirklich  liebt,  und  dafs  dieser  schliefslich  den  Schlingen  des 
Teufels  entgeht,  während  Matilda  nur  eben  ein  Werkzeug  des 
Dämons  ist,  dem  der  Mönch  am  Schlufs  zum  Opfer  fällt.1 

Dafs  von  DR  eine  frühere  Ausgabe  existiert  als  aus  dem 
Jahre  1816,  hat  Ritter  jetzt  auch  zugeben  müssen  (Bd.  CXIV, 
167).  Mir  war  die  Tatsache  schon  längst  durch  eine  gütige 
Mitteilung  von  Prof.  Sauer  bekannt.  Sie  folgt  notwendig  aus 
dem  von  mir  Bd.  CXI,  318  hervorgehobenen  Umstände,  dafs 
Grillparzer  schon  im  Sommer  1813  den  Stoff  zu  seinem  Drama 
gestaltete,  daher  die  Ausgabe  von  1816  nicht  benutzt  haben 
kann.  Aber  auch  eine  weitere  Behauptung  Ritters  erweist  sich 
als  irrig.  Er  kennt  als  erste  nichtmusikalische  Publikation  aus 
dem  Verlage  von  Franz  Haas,  (Wien  und)  Prag,  ein  Buch  aus 
dem  Jahre  1807.  Nun  besitze  ich  aber  aus  demselben  Verlage: 
a)  Yeleda,  ein  Zauberroman,  17  96;  b)  Graf  Rosenberg,  oder 
das  enthüllte  Verbrechen:  eine  Geschichte  aus  der  letzten  Zeit 
des  dreifsigjahrigen  Krieges  (von  B.  Naubert),  17  92.2  Beide 
Bücher  stammen  also  gerade  aus  den  Jahren,  in  denen,  wie  ich 
glaube,  DR  zum  erstenmal  erschienen  ist;  speziell  der  zweite 
Roman  zeigt  in  einigen  seiner  Motive  Ähnlichkeit  mit  DR.3 

Auf  S.  58  ff.  hat  dann  Ritter  eine  Reihe  von  Sätzen  aus 
Lewis  und  DR  einander  gegenübergestellt,  um  zu  zeigen,  dafs 
DR  von  Lewis  abhängig  ist.  Der  Beweis  scheint  mir  nicht  er- 
bracht zu  sein.  Vieles  ist  ja  gewifs  in  DR  ungeschickt  und 
undeutsch  ausgedrückt;  das  liegt  an  der  geringen  Bildung  des 
Verfassers  und  ist  ein  Nachteil,  den  er  mit  vielen  anderen 
Autoren  der  Zeit  gemein  hat.  Die  kritischen  Journale  dieser 
Periode  sind  daher  voll  von  Klagen  der  Rezensenten  über  den 
schlechten  Stil  gerade   dieser  Romane.     Anderseits  ist  nicht  zu 

1  Vgl.  auch  Rcntsch,  M.  0.  Lewis  p.  133. 

2  Vgl.  Goedeke    V,  497,  16. 

3  Natürlich  ist  auch  die  Angabe  in  Schwetschkes  Codex  Nundmarius 
falsch. 


72  Noch  einmal  die  Quelle  des  'Monk'. 

übersehen,  dafs  der  Verfasser  von  DR  die  Sprache  seiner  Zeit 
(untermischt  mit  einigen  Provinzialismen)  redet,  die  für  uns 
natürlich  einiges  Auffällige  bietet.  Ich  lasse  hier  eine  Anzahl 
Stellen  folgen,  die  ich  mit  Parallelen  aus  Werken  derselben  Zeit 
versehe : 

DR  p.  6:  (Die  Hütte)  war  klein,  aber  nett;  vgl.  Sanders, 
D.  Wb.  II,  430a:  Das  Schiff  war  zierlich  und  nett  (Goethe).  — 
Wieso  'bequeme  Stühle'  ein  undeutscher  Ausdruck  sein  soll, 
sehe  ich  nicht  ein  (vgl.  Adelungs  Wörterbuch  II,  854).  —  Ibid.: 
Der  Waldmann  (engl,  woodman).  Aber  beides  bedeutet  nicht 
nur  'Holzfäller',  sondern  überhaupt  und  speziell  'Waldbe- 
wohner'; vgl.  Cent.  Dict.  6967—69  und  Sanders  II,  232  c. 
(übrigens  schon  so  im  Mhd:  Benecke-Müller  II,  1,  47).  —  p.  8: 
würde  der  Herr  dich  nicht  so  alt  geglaubt  haben.  Vgl. 
Lessings  Nathan  3,  7:  so  glaube  jeder  sicher  seinen  Ring 
den  echten.  —  p.  11:  alle  diese  Umstände  blitzten  ihm  in 
die  Seele.  Vgl.:  es  blitzte  mir  ein  Gedanke  durch  die  Seele 
(Eichendorff  bei  Sanders  I,  169b).  Ähnlich  auch:  sie  blitzen 
Höllenflammen  in  mein  Herz  (Schiller,  Kab.  u.  L.  II,  2).  — 
p.  12:  wenn  ...  der  Wind  in  den  Ästen  rasselte.  Annette 
von  Droste  spricht  von  rasselndem  Winterlaub,  Bürger  von 
einem  Lager  von  rasselndem  Laube  (Heyne  s.  v.).  —  p.  17:  er 
floh  nach  der  Tür;  sie  flohen  gleich  dem  Blitze  fort.  Vgl.  hier- 
zu, was  in  Grimms  D.  Wb.  III,  1780  über  die  Berührung  zwi- 
schen den  Begriffen  des  Fliehens  und  Fliegens  gesagt  ist.  Ändere 
Beispiele  bei  Sanders  I,  463c.  —  p.  44:  eine  Nachtlampe  schofs 
einen  schwachen  Strahl,  vgl.  die  Sonne  schiefst  Strahlen  (Grimm, 
D.  Wb.  IX,  41):  drauf  schiefst  die  Sonne  die  Pfeile  von  Licht 
(Schiller).  Es  wird  hiernach  klar  sein,  dafs  auch  weniger  ge- 
wöhnliche Ausdrücke  noch  nicht  beweisen,  dafs  DR  aus  dem 
Englischen  übersetzt  ist.  Der  Beweis  dagegen  würde  noch  voll- 
ständiger geführt  werden  können,  wenn  wir  ein  Spezialwörter- 
buch   über  die  Sprache  des  18.  Jahrhunderts  besäfsen. 

Ein  anderer  Punkt,  der  hierher  gehört,  betrifft  die  Druck- 
fehler. Ritter  hat  selbst  zwei  recht  ergötzliche  auf  S.  61,  A.  2 
verzeichnet.  Es  sind  natürlich  nicht  die  einzigen.  Ritter  hat 
zunächst  einen  solchen  in  einer  der  von  ihm  zitierten  Stellen 
(p.  59  unten)  übersehen.  Es  mufs  da  (DR  p.  165)  natürlich 
heifsen:  dafs  es  einem  Weibe  kaum  verdienstlich  ist  (statt 
verdriefslich;  bei  Lewis  scarcely  a  merit).  Dafs  die  Lyrica 
auf  S.  60,  von  denen  gewifs  nicht  viel  Rühmens  zu  machen  ist, 
durch  Druckfehler  stark  entstellt  sind,  hat  R.  richtig  bemerkt. 
Einer  scheint  ihm  auch  hier  entgangen  zu  sein,  Str.  3  v.  u.  lies: 
dort  ein  Alter,  voller  Trug  (entsprechend  dem  engl,  vicious 
man  and  crafty  devil),  wodurch  der  Sinn  der  Stelle  klar  wird. 
Ich  sehe  aber  auch  in  diesem  Falle  nicht  ein,   warum  es  unge- 


Noch  einmal  die  Quelle  des  'Monk'.  73 

reimt  sein  soll  anzunehmen,  Lewis  habe  als  gewandter  Vers- 
künstler aus  schlechtem  Material  etwas  Besseres  gemacht. 

Wenn  dann  R.  (p.  62)  sich  darüber  aufhält,  dafs  in  DR 
Ambrosio  diesen  seinen  Namen  führt,  obwohl  er  Böhme  ist,  so 
ist  zu  entgegnen,  dafs  dieser  spanisch-italienische  Name  in  dem 
sprachlich  so  stark  gemischten  Österreich  keineswegs  auffallend 
ist.  Auch  der  Duft  der  Orangenblüten  in  einem  Garten  zu  Prag 
mag  als  eine  Nachlässigkeit  des  Verfassers  von  DR  hingehen. 
Anders  steht  es  freilich  mit  den  Namen  Claude  und  Baptiste,  die 
sich  in  dieser  Umgebung  merkwürdig  genug  ausnehmen.  Aber 
aus  diesem  nebensächlichen  Umstände  kann  man,  wie  mir  scheint, 
keine  weitergehenden  Schlüsse  ziehen.  Darf  man  vielleicht  an 
eine  französische  Quelle  für  DR  denken? 

Nach  allen  diesen  Ausführungen  glaube  ich  bei  der  Be- 
hauptung stehen  bleiben  zu  dürfen,  dafs  Lewis'  Abhängigkeit 
von  DR  mindestens  ebenso  wahrscheinlich  ist  wie  das  umge- 
kehrte Verhältnis.  Hoffentlich  bringt  uns  bald  ein  weiterer 
glücklicher  Fund  die  Entscheidung. 

Zum  Schlufs  noch  zwei  bibliographische  Notizen:  a)  die 
hiesige  Königl.  Bibliothek  besitzt  ein  Büchlein,  betitelt:  Die 
Rauher  im  Elsa/s,  oder  die  Abenteuer  Don  Al/onsens  von  ihm 
selbst  erzählt  (Gera  u.  Leipzig  1799).  Es  ist  dies  eine  wört- 
liche Übersetzung  der  Erzählung  Raymonds  im  dritten  Kapitel 
des  Monk.  b)  Der  Romantiker  Charles  Nodier  gab  im  Jahre 
1822  ein  Buch  heraus  unter  dem  Titel:  Infernaliana  ou  anec- 
dotes,  petits  romans,  nouvelles  et  contes  sur  les  revenans,  les 
spectres,  les  dtmons  et  les  vampires.  Gleich  die  erste  Ge- 
schichte, La  nonne  sanglante,  ist  eine  stark  verkürzte  Wieder- 
gabe der  Erzählung  bei  Lewis. 

Berlin.  Georg   Herzfeld. 


Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez. 


In  meinem  Besitze  befindet  sich  eine  beträchtliche  Zahl 
schon  von  dem  Empfänger  geordneter  Briefe  deutscher  und  aus- 
ländischer Gelehrter  an  Friedrich  Diez.  Ihrer  zwölf  rühren  von 
Gaston  Paris  her  und  sollen  nachstehend  denen  zur  Kenntnis 
gebracht  werden,  die  von  dem  wirklichen  geistigen  und  Gemüts- 
verhältnis des  jüngeren  Forschers  zu  seinem  um  fünfundvierzig 
Jahre  älteren  Lehrer  eine  zutreffende  Vorstellung  gewinnen 
wollen.  Hat  G.  Paris  1876  in  der  Romania  V,  412  und  später 
in  dem  bekannten  Aufsatze  des  Journal  des  Debats  vom  2.  März 
1894  seiner  Verehrung  und  Dankbarkeit  für  den  Meister  und 
für  den  Menschen  rührenden  Ausdruck  gegeben  —  dem  aka- 
demischen Lehrer,  den  er  als  ein  urteilsfähiger  Zuhörer  nicht 
kennen  gelernt  hatte,  wird  er  freilich  nicht  gerecht  — ,  so  haben 
die  erst  im  Jahre  1904  durch  Rajnas  inhaltreichen  Nekrolog 
für  den  französischen  Meister  bekannt  gewordenen  Briefe  des 
siebzehn-  oder  achtzehnjährigen,  noch  dazu  des  Deutschen  kaum 
kundigen  Bonner  Studenten  an  seinen  Schulkameraden  Durande 
die  kurzen,  früher  bekannt  gewordenen  Kundgebungen  wohl  etwas 
zurückgedrängt;  und  es  scheint  billig,  auch  der  Stimme  Gehör 
zu  verschaffen,  die  aus  den  Briefen  des  reiferen  Schülers  und 
denen  des  Mitforschers  zur  Nachwelt  spricht.  Das  oft  bewährte 
Wohlwollen  der  Witwe  des  verewigten  Freundes  hat  mich  in- 
stand gesetzt,  aus  den  gut  aufgehobenen  Antworten  Diezens 
einiges  beizubringen,  was  zu  besserem  Verständnis  gewisser 
Äufserungen  seines  Korrespondenten  dienen  konnte. 

Paris,  ce  6  octobre  1861. 
Monsieur  et  illustre  maitre, 

Voilä  bien  longtemps  que  je  n'ai  eu  de  relations  avec  vous  et  que  je 
me  suis  fait  le  fort  de  tne  priver  de  vos  nouvelles  et  de  votre  commerce. 
Tai  meme  laisse  passer  sans  vous  en  feliciter  votre  nomination  ä  l'Aca- 
demie,  comptant  il  est  vrai  sur  mon  pere  pour  vous  dire  combien  j'etais 
lieureux  de  vous  voir  im  lim  de  plus  avec  nous  en  mems  temps  que  de  voir 
In  France  comprendre  et  honorer  votre  merite.  J'espere  cependant  que  votis 
ne  me  gardert  ;  pas  raneu/ne  dt  mon  long  silence  et  que  vous  vous  retrou- 
verex  un  hon  sourrnir  pour  rntrr  nnrien  a/idifrnr  qui  sera  toujours  votre 
diseiple.     Jr   m'oecupe  beaueoup  de  philologie  en  ce  moment,  et  cette  etude 


Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez.  75 

m'a  naturellement  ramene  vers  vous,  d'autant  plus  que  vos  admirables  livres 
m'ont  ete  et  me  sont  tous  les  jours  du  plus  gravid  secours.  Je  fais  pour 
l'Ecole  des  Ghartes  une  these  sur  ce  sujet:  du  röle  de  l'aecent  latin  dans 
la  formaiion  de  la  langue  francaise.  Vous  avex  dit  excellemment :  Der 
Accent  in  der  romanischen  Sprachbildung  ist  der  Angelpunkt,  um  trelehefn] 
sie  sich  dreht.  C'est  cette  phrase  que  je  veux  developper  par  un  travail 
de  detail  et  wne  etude  minutieuse  des  cas  oü  l'aecent  a  persiste,  de  ceti.r  ou 
il  s'cst  deplace  et  des  causes  des  exceptions  qu'a  subies  la  rhgle  generale. 
J'espere  que  vous  prendrez  quelque  interet  ä  ce  travail;  s'il  ne  reneontre 
pas  ä  l'Ecole  des  Charles,  oü  il  sera  discute,  des  critiques  trop  vives,  je  le 
ferai  imprimer  et  je  vous  denianderai  la  permission  de  vous  le  dedier, 
comme  au  creafeur  et  au  maitre  de  la  philologie  romane.  Peut-etre  cet 
opnscule  pourra  eontribuer  ä  repandre  parmi  les  erudits  francais  les  prin- 
ci/pes  encore  trop  peu  connus  chex  nous,  sur  lesquels  vous  ave%  construit 
votre  Systeme. 

Si  je  ne  craignais  d'aJmser  de  votre  honte .  je  vous  demanderais  votre 
opi/nion  sur  quelques  points  qui  m'arretent  et  m'embarrassent.  Pensen -rons 
par  exemple  que  les  aecusatifs  en  ain  (Evain,  nonnain)  soiriit  tote  Imita- 
tion de  l'accusatif  en  am?  Um  latin.  il  me  senible,  ne  sonnait  plus  du 
tout  ä  la  fiu  des  mots,  et  ort  prononcait  Eva  au  nominatif  et  ä  l'accusatif. 
West-ce  pas  plufot  une  forme  diminutive  employee  pour  l'accusatif  et 
nen  cst-il  pas  de  meine  de  la  forme  on  dans  Pierron.  Gharlon,  ou  cet  on 
est-il  1  'Imitation  des  formes  Huon,  Guion  etc.?  —  La  1«  pers.  p/nr.  des 
rerbes  de  la  3e  conjuga/ison,  nous  lisomes  ou  lisons,  nous  courons  etc.  stip- 
pose-t-elle  une  forme  leglmus,  currlmus,  ou  faut-il  roir  dans  ons  une  termi- 
naison  appliqufe  lü  pur  analogie  (les  formes  fainies  et  dimes  semblent 
le  prouver)?  —  Faut-il  admettre  des  formes  comme  currire,  queerire 
ml  roir  dans  les  infnitifs  querir,  courir,  Vapplication  purement  romane 
et  non  dejä  faite  en  latin  vulgaire  de  la  termiuaison  ir?  La  terminaison 
escere  ne  peut  s'appliqurr  qu'aux  rerbes  qui  ont  la  le  pers.  plur.  en 
issons.  Je  vous  demande  bien  pardon  de  vous  faire  ces  questions,  /ums 
votre  autorite  me  deeiderait  saus  doute  pour  Vune  ou  l'autre  des  Solutions 
quon  prüf  Iriir  ilouurr.  et  je  m  suis  /ins  sur.  pur  exemple  pour  la  prent /'irr, 
que  vous  persistier  dans  l'opinion  exprimee  dans  votre  grammaire.  Kufin. 
si  vous  aviex  quelques  observations  nouvelles  sur  le  sujet  dont  je  m'oecupe, 
je  vous  serais  bien  reconnaissant  de  m'en  faire  pari. 

Nuus  avons  eu  pendant  quelque  temjjs  ici  Adolf  Tobler,  qui  es/  aussi 
uu  de  ros  eleves  et  avee  qui  nous  avons  beaueoup  parle  de  vous.  II  s'oe- 
eupe  surtout  maintenant  de  litterature  italienne  et  neglige  la  philologie 
romane;  e'est  dotnmage,  ea/r  il  a  un  esprit  juste  et  net. 

J'espere,  Monsi-eur.  que  raus  ne  m'en  roudrex  pas  de  vous  avoir  derange 
pendant  quelques  instants,  et  que  vous  me  croirex  bien  sincerement 

Votre  tres-devoue  serviteur  et  ecolier 

Gaston  Paris 

10,  place  royale. 

Über  persönliche  Berührung  oder  brieflichen  Verkehr,  die 
zwischen  Diez  und  G.  Paris  seit  des  letzteren  Abgang  von  Bonn 
im  Herbst  1857  bis  zum  Oktober  1861  stattgefunden  hätten, 
ist  mir  nichts  bekannt.  Dafs  Diez  zum  korrespondierenden 
Mitgliede  der  Academie  des  Inscriptions  ernannt  worden  sei, 
teilt  ihm  Paulin  Paris  in  einem  bei  mir  liegenden  Briefe  vom 
25.  Januar  1861  mit,  aus  dem  man  auch  erfährt,  dafs  neben 
Diez   noch   Schaffarik  und  Diefenbach   in   die  Wahl   gekommen 


76  Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez. 

waren,  und  dafs  ganz  besonders  Leclerc  sich  bemüht  hatte, 
Diezens  Wahl  durchzusetzen.  Die  Vermutung,  die  Gaston  in 
dem  obenangeführten  Artikel  der  Debats  ausspricht,  es  sei 
solche  Ehrung  auf  Littres  Einflufs  zurückzuführen,  stimmt  mit 
des  Vaters  bestimmter  Aussage  nicht  überein.  Vermutlich  sind 
die  beiden  französischen  Gelehrten  in  gleicher  Richtung  tätig 
gewesen,  und,  wie  Diez  im  Entwurf  eines  Dankschreibens  vom 
31.  Januar  an  Paulin  Paris  äufsert,  wird  auch  dieser  es  an 
freundschaftlichen  Bemühungen  nicht  haben  fehlen  lassen. 

Die  Schrift  über  den  Akzent,  von  der  noch  öfter  die  Rede 
sein  wird,  trägt  in  der  Tat  die  Widmung  A  Monsieur  Frederic 
Diez,  professeur  . . .,  correspondant  .  . .,  cet  essai  d'un  de  ses 
disciples  est  respectueusement  de'die.  Die  von  Diez  in  der 
zweiten  Auflage  des  zweiten  Bandes  (1858)  über  die  afz.  Femi- 
nina auf  -ain  vorgetragene  Ansicht  ist  noch  in  der  dritten  (1871) 
im  Texte  festgehalten;  eine  lange  Anmerkung  stellt  aber  einen 
anderen  Sachverhalt  als  möglich  hin,  der  jetzt  als  der  wirkliche 
meist  anerkannt  ist,  mit  dem  von  G.  Paris  für  möglich  gehal- 
tenen jedoch  nicht  zusammenfällt. 

Dafs  ich  'auch  einer  von  Diez'  Schülern'  sei,  ist  jedenfalls 
richtiger  als,  was  Paris  nach  Rajnas  Zeugnis  (S.  56)  an  diesen 
geschrieben  hat,  ich  sei  le  seul  vrai  eleve  de  Diez.  Jeder  von 
uns  beiden  —  und  aufser  uns  würde  denn  doch  noch  an  manche 
andere  zu  denken  sein  —  hat  zwei  Semester  in  Bonn  studiert 
und  daselbst  neben  anderen  vortrefflichen  Männern  auch  Diez 
gehört,  ich  allerdings  insofern  im  Vorteil,  als  ich  die  Landes- 
sprache nicht  erst  zu  erlernen  brauchte,  vier  Jahre  älter  war, 
vier  Semester  akademischen  Studiums  an  meiner  Heimatuniversi- 
tät hinter  mir  und  Diezens  bis  dahin  erschienene  Werke  fleifsig 
durchgearbeitet  hatte.  Wie  mein  schon  damals  liebgewonnener 
Freund  den  Tasso,  so  habe  ich  ein  Semester  zuvor  Dante  durch 
Diez  erklären  hören,  schlicht  und  so,  wie  es  für  Schüler  ange- 
messen war,  die  sich  meist  auf  der  Stufe  erster  Bekanntschaft 
mit  dem  Italienischen  befanden.  Daneben  habe  ich  seine  Vor- 
lesung über  Gotisch  gehört,  ein  Muster  besonnener  Auswahl  des 
Wichtigsten,  strenger  Ausschliefsung  alles  dessen,  was  die  Auf- 
merksamkeit von  der  Sache  ab  und  etwa  auf  den  Lehrer  hätte 
lenken  können,  immer  gleichmäfsig  vorbereitet,  ruhig  fortschrei- 
tend und  dabei  fesselnd  durch  das  unverkennbare,  wenngleich 
nie  zur  Schau  getragene  Interesse,  das  der  Gegenstand  für  den 
Lehrer  selbst  besafs.  Jede  Woche  einmal  durfte  ich  auf  eine 
Stunde  allein  zu  Diez  in  die  Wohnung  kommen  und  nach  eigener 
Wahl  dieses  oder  jenes  Stück  aus  Mahns  Werken  der  Trouba- 
dours übersetzen,  so  gut  ich  es  vermochte,  und  bin  dadurch, 
vielleicht  mehr  weil  ich  mich  zu  sorgsamer  Vorbereitung  ver- 
pflichtet fühlte,  als  durch  unmittelbare  Belehrung,  ohne  Zweifel 


Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez.  77 

ebenfalls  gefördert  worden.  Diez  war  als  Lehrer  auch  im  münd- 
lichen Unterrichte  höher  zu  schätzen,  als  man  nach  G.  Paris' 
frühesten  Briefen  denken  möchte,  und  auch  er  würde  jenen  in 
dieser  Hinsicht  anders  beurteilt  haben,  hätte  er  ihn  völlig  ver- 
stehen können.  Aber  was  er  und  ich  an  Wissen,  an  Sicherheit 
im  Forschungs verfahren,  kurz  an  Erlernbarem  von  Diez  empfan- 
gen haben  mögen,  das  haben  wir,  denk'  ich,  mehr  aus  seinen 
Büchern  als  sonstwie  gewonnen,  und  gleiches  wird  so  ziemlich 
von  allen  denen  gelten,  die  neben  und  nach  ihm  romanische 
Philologie  gepflegt  haben  und  insofern  seine  Schüler  sind.  Den 
unauslöschlichen  Eindruck  einer  unendlichen  Güte,  einer  vollen 
Reinheit  und  höchsten  Adels  der  Gesinnung  konnte  wohl  nur 
persönlicher  Umgang  hinterlassen.  Dafs  in  dieser  Hinsicht 
G.  Paris  auf  den  Spuren  seines  Lehrers  gewandelt  ist,  bei  man- 
chen Verschiedenheiten  seines  Wesens,  das  wissen,  so  viele  ihn 
gekannt  haben;  dafs  man  mich  in  solchem  Zusammenhang  ein- 
mal aussi  un  eleve  de  I).  nenne,  darf  ich  nicht  zu  hoffen 
wagen,  sonst  würde  ich  es  innig  wünschen.  Einen  Versuch, 
Diezens  Persönlichkeit  zu  kennzeichnen,  habe  auch  ich  1894 
gemacht,  s.  Archiv  XCI1I,  154. 


Paris,  ce  23  janvier  1861  (l.  1862 !). 
Monsieur, 

Je  vous  remercie  de  la  tres-aimable  lettre  que  vous  arex  biert  roulu 
repondre  ä  la  mienne,  et  de  l'amitie  que  vous  m'y  temoignex.  J'ai  termine 
il  y  ii  un  »lots  environ  le  travail  dont  je  vous  ai  parle;  il  va  passer  ä 
l'Eeole  des  Charte*,  oü  je  le  soutiens  comme  these,  lundi  proeham,  et  je 
eompte  le  /irrer  aussitöt  ä  l'impression.  J'espere  epue  raus  y  trourere\ 
quelque  interet  et  que  vous  ne  serex  pas  humilie  de  voir  votre  nom  suar  la 
premiere  page.  Vous  me  pardonnerex  aussi  de  me  trouver  sur  quelques 
points  en  desaeeord  avec  vous;  je  pense  que  vous  serex  de  mon  avis  sur  im 
ou  deux  petits  detail*,  et  specialeu/eut  sur  ee  que  je  dis  des  purfuifs  forts 
et  faibles  et  des  formes  anormales  comme  nourresimes,  choisisistes  etc. 
Je  a/e  permeitrai  de  vous  signaler  d'avanee  une  eiymologie  qui  m'est  vertue 
en  tele,  et  qui  me  parait  assex  heureuse,  c'est  celle  de  derver.  Votre  tres- 
ingenieuse  explicahon,  dissipare,  me  semble  avoir  ete  refut.ee  avec  assex 
de  justesse  par  Oachet;  outre.  les  raisons  qu'il  donne,  ne  pensex-vous  pas 
que  desver  est  um  adoucissement  de  derver  et  que  celfe  derniere  forme 
est  la  plus  aneienne'  L'etynudoyie  que  Oachet  subsfitue  a  la  röfre  est 
eertainemenl  i nadmissible ;  paar  moi  je  erois  que  derver  vient  de  dero- 
gare,  et  la  comparaison  avec  corrogata  =  cor r ee  et  interrogare  = 
enterver  m'a  paru  donner  wie  bien  grande  vraisemblance  ä  mon  opinion, 
que  je  vous  soumets.  Puisque  je  vous  parle  d'etymologies,  croyex-vous  pos- 
sihle  i/ue  eu/fur,  chuuffer.  rieuuent  de  calefaeere?  Ce  rerhr  ti'aurail- 
il   pas   'Imme   e  h  a  U  f  ja  i  r  r'r   et   la    rniijuipi  isuii    iir   smi  it-el  le  pas   tont  au/re'f 

Je  pense  que  a  verbe  vient  du  bas-latin  caleficare,  qu'on  trouve  dans 
du  Gange.  —  Nobile,  forme  de  nable  frequente  dans  les  ehausims  de  geste, 
m'a  paru  etre,  mm  pas  un  dep/aeement  de  l'accent  qui  sentit  sans  a/nalogie 
et  saus   vraisemblance,  mais  un  derive  de  nobilis,   derive  qua  aurait  ete 


78  Briefe  von  Gastori  Paris  an  Friedrich  Diez. 

en  6.  /.  nobilicus  ou  nobilius;  fem  ai  cu  une  preuve  dans  la  chanson 
de  Roland,  qui  ecrit  toujours  nobilie. 

Je  vous  ecris  surtout,  Monsieur,  pour  vous  demander  la  permission 
d'accoler  nos  deux  norm  sur  la  premiere  page  d'un  travail  queje  vais  faire. 
M.  Herold,  qui  dirige  actuellement  la  librairie  Franck,  ä  Paris,  voulant 
donner  ä  cette  maison  une  direction  specialement  philologique,  al' Intention 
de  publier  une  serie  d'opuseules  de  linguistique.  J'ai  eru,  ainsi  que  lui, 
que  rien  ne  pourrait  mieux  recommander  ces  publications  que  si  elles  debu- 
taieni  par  quelque  chose  de  vous,  et  il  a  ete  eonvenu  queje  lui  traduirais 
V Introduetion  de  la  Grammaire  des  Langtees  Romanes  (V.  I,  p.  1 — 132). 
Je  l'ai  assure  que  vous  verriez  ce  travail  avec  plaisir,  et  il  esperc  que  de 
son  röte  M.  Weber,  ä  qui  il  va  en  ecrire  d'iei  ä  quelques  jours,  n'y  mettra 
pas  d' Opposition.  Pour  moi  ce  sera  un  grand  plaisir  de  contfibuer  ä  faire 
eonnaitre  en  France  vos  travaux  et  votre  nom  et  de  payer  ainsi  auf  auf 
qu'il  est  en  moi  la  dette  que  j'ai  contractee  envers  vos  ouvrages,  oii  j'ai 
pulse  tout  le  peu  de  science  que  je  puis  avoir.  Je  vous  serai  oblige,  si  ce 
prqjet  a  votre  approbation,  de  vouloir  bien  ui'envoyer  une  r&ponse  lä-dessus. 

Je  vais  enroyer  au  Jahrbuch  de  Ebcrt  une  epitre  fareie  pour  le  jour 
de  S.  Etienne,  dont  les  deux  premieres  strophes  etaient  seules  eonnues:  il  y 
en  a  douxe.  Elle  est  du  eommencement  du  XIP  siede,  et  offre  quelques 
particularites  philolog iques  assex  interessantes.  Je  la  crois  ecrite  en  Tou- 
raine;  eile  offre  un  nielange  de  formes  normandes  et  bourguignonnes  qui 
indique  un  pays  oü  les  deux  dialectes  se  rencontraient.  J'y  ai  vu  des  fir- 
mes queje  n'ai  rencontrees  nulle  pari,  oonvme  escotet,  seet,  avet  ä  la 
2"  pers.  plur.  de  l'indicatif  present,  haier ent,  bater ent  ä  la  3e  pers. 
plur.  du  parfait.     Je  crois  que  M.  Ebert  la  publiera  volontiers. 

Mon  pere  a  ete  bien  sensible  ä  votre  bon  Souvenir,  Monsieur;  il  nie 
prie  de  (se)  vous  rappeler  l'affection  qu'il  a  pour  vous  et  l'estime  qu'il  fait 
de  nitre  merite.  Paul  Meyer  nie  prie  de  vous  dire  qu'il  est  l'auteur  d'un 
petit  article  publie  dans  la  Ghronique  de  la  Bibliotheque  de  l'Eeole  des 
('hartes  sur  votre  nounelle  edition;  c'est  aussi  un  de  vos  admirateurs  con- 
vaineus. 

Pour  moi,  Monsieur,  ce  n'est  pas  seulement  parmi  vos  disciples,  mais 
bien  parmi  vos  amis,  que  je  me  ränge,  et  c'est  ä  ce  titre  que  je  vous  prie 
d'agreer  l'expression  de  ma  respeetueuse  et  sincere  affection. 

Gaston  Paris 
10,  place  royale. 

Die  Jahreszahl  1861  im  Datum  des  Briefes  ist  irrtümlich 
und  mit  1862  zu  vertauschen.  Der  avant-p)  opos  der  zu  Anfang 
als  vor  einem  Monat  zum  Absei dufs  gebracht  erwähnten  Arbeit 
trägt  das  Datum  des  29.  Januar  1862.  —  Die  von  G.  Paris  in  der 
Schrift  über  den  Akzent  S.  74  gegebene  und  nachmals  auch  von 
Chabaneau  (1868)  gutgeheifsene  Erklärung  der  Perfektendungen 
-esis,  -esimes,  -esistes  bei  inchoativen  Verben  aus  Nachbildung 
starker  Perfekta  hat  Diez  merkwürdigerweise  iu  der  dritten  Auf- 
lage der  Grammatik  nicht  angenommen  und  doch  auch  in  seiner 
Rezension  nicht  angefochten;  heute  wird  sie  wohl  von  niemand 
angezweifelt.  Warum  Diez  die  etymologischen  Deutungen  seines 
Schülers  von  derver  S.  83,  chauffer  S.  39  ablehnte,  hat  er  im 
Etymol.  Wb.  ausgesprochen. 

Die  hier  erwähnte  Übersetzung  der  ersten  132  Seiten  der 
Grammatik    der   Romanischen  Sprachen   ist   wohl    unmittelbar 


Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez.  79 

nach  des  Verfassers  Gutheifsung  in  Angriff  genommen  worden; 
erschienen  ist  sie  erst  1863;  es  ist  von  ihr  in  den  späteren 
Briefen  noch  öfter  die  Rede. 

Die  Epitre  farcie,  die  G.  Paris  im  Alexius  S.  130  Anm.  2 
etwas  später  ansetzt,  ist  noch  1862  im  vierten  Bande  des  Jahr- 
buchs S.  311  ff.  gedruckt  worden,  seitdem  öfter  wieder,  bei 
Stengel,  Ausg.  u.  Abh.  I  (1882),  Foerster  u.  Koschwitz,  Übungsb. 
(1884),  Bartsch,  Langue  et  litter.  (1887)  usw.;  s.  Gröber  in  sei- 
nem Grundrifs  IIa  478. 

Der  erwähnte  Artikel  von  P.  Meyer  füllt  die  Hälfte  der 
Seite  77  in  der  Biblioth.  de  VEcole  des  Chartes  von  1862  und 
bespricht  den  ersten  Band  der  zweiten  Ausgabe  des  Etymolog. 
Wörterbuches.  Der  Rezensent  rühmt,  dafs  die  seit  der  ersten 
Ausgabe  ans  Licht  getretene  etymologische  Literatur  fleifsig  ver- 
wertet sei,  begrüfst  mit  Freuden  auch  die  Benutzung  der  in  der 
Zwischenzeit  erschienenen  Bände  der  Anciens  Poetes  de  la  France 
und  äufsert  seine  Befriedigung  darüber,  dafs  in  kaum  zehn 
Jahren  eine  zweite  Auflage  des  trefflichen  Werkes  nötig  gewor- 
den sei;  er  hofft,  dafs  Frankreich  recht  viel  dazu  beigetragen  habe. 


Paris,  ce  mercredi  14  mai  [1862]. 
Monsieur, 

Vous  recevrex  sans  doute  ä  peu  pres  en  meine  temps  que  eette  lettre 
quatre  exemplaires  de  mon  Etüde  sur  le  Role  de  l'accent  latin;  je 
vous  serai  fort  oblige  si  vous  voulex  bien  en  offrir  un  de  ma  part  ä  M.  Del  ins 
et  un  autre  ä  M.  Monnard.  JTespere  que  vous  ne  trouverex  pas  eet  essai 
tout-ä-fait  vndigne  de,  V illustre  patronnage  sous  lequel  il  s'est  place  et  que 
vous  ;i  retrouverez  avee  plaisir  la  plupart  de  ros  idees  et  avec  mdulgenee 
quelques  objections.  Je  ne  puis  vous  dire  eombien  je  serais  heureux  s'il 
vous  etait  possible  d'en  dire  un  mot  dans  tm  Journal  allemand,  et  plus 
particuliereiiii'iit  da/ts  //■  Jahrbuch  de  Ebert;  mais  je  n'ose  me  flatter  de 
l'espoir  que  vous  trouviex  le  loisir  de  vous  en  occuper. 

La  iraduction  de  V Introduction  ä  la  Grammaire  des  Langues  romanes 
est  achevee;  eile  commencera  ä  s'irnprimrr  des  que  31.  Herold,  le  suecesseur 
de  Franek,  sera  revenu  d'Allemagne,  oü  il  est  en  ce  moment.  J'y  ferai 
moi-meme  wie  Introduction  oü  je  m' efforcerai  peut-etre  d'etablir  la  part 
que  vous  avez  dans  la  creation  de  la  philologie  romane  et  la  valeur  de  vos 
divers  travaux.  Peut-etre  aussi  nie  bornerai-je  ä  une  courte  notice  sur  /<■ 
livre  et  l'auteur;  cela  dependra  du  temps  que  j'aurai. 

J'en  ai  pour  le  moment  fort  peu,  et  c'est  ce  qui  me  fait  vous  prier, 
Monsieur,  d'exeuser  l'extreme  lirirrete  de  cette  lettre.  Je  vous  ccrirai  dans 
quelque  temps  pour  vous  demander  divers  petits  eclaircissements  sur  quel- 
ques points  qui  tu' out  embarrasse  dm/s  ma  traduction.  Je  suis,  Mnnsieur, 
avec  les  sentiments  de  la  plus  vive  et  respcctueuse  affeetion 

Votre  bien  devoue  serviteur 
O  Paris 

Mon  pere  me  charge  de  tous  ses  compliments  pour  vous. 

Von  Beziehung,  in  die  G.  Paris  schon  als  Student  zu  Nico- 
laus Delius  (geb.  1813,  gest.  1888)  getreten  wäre,  ist  mir  nichts 


SO  Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez. 

bekannt.  In  dem  Nachruf,  den  er  ihm  in  der  Romania  XVIII, 
337  gewidmet  hat,  heifst  es:  il  y  a  32  ans,  quand  celui  qui 
ecrit  ces  lignes  suivait  les  cotirs  de  Vuniversite  de  Bonn,  ce 
n'etait  pas  Diez  —  chose  qui  surprend  aujourd'hui  —  qui 
enseignait  la  grammaire  romane.  Diez  faisait  un  cours 
public,  —  peu  suivi  — ,  de  philologie  germanique,  un  cours 
prive  dans  lequel  il  expliquait  un  texte  allemand,  et  un  pri- 
vatissimum  oü  on  lisait  la  Gerusalemme  liberata;  mais  Delhis 
faisait  quatre  leqons  par  semaine  sur  la  grammaire  comparee 
des  langues  romanes.  On  ne  peut  pas  dire  qu'il  exergdt  une 
grande  action  sur  ses  auditeurs,  ni  qu'il  exposät  des  idees 
tres  originales,  mais  il  possedait  bien  son  sujet  et  il  le  trai- 
tait  avec  une  grande  conscience.  Er  gedenkt  dann  der  Arbeiten 
des  Gelehrten  und  seiner  liebenswerten  Persönlichkeit.  Dafs  er 
ihn  selbst  gehört  hätte,  glaube  ich  nicht.  In  dem  Briefe  vom 
17.  Juni  1870  ist  von  einem  kurz  zuvor  erfolgten  Besuche  Delius' 
in  Paris  die  Rede. 

Auch  mit  dem  trefflichen  Charles  Monnard  (geb.  1790,  gest. 
1865)  hat  Paris,  glaube  ich,  nicht  in  engerer  Verbindung  ge- 
standen. Seine  Vorlesungen  bezogen  sich  vorzüglich  auf  die 
französische  Literatur  des  17.  Jahrhunderts;  und  der  von  ihm 
veranstalteten  Übungen  im  Sprechen  und  Schreiben  des  Fran- 
zösischen, in  denen  willige  Schüler  wohl  Förderung  finden  konn- 
ten, und  an  denen  ich  mich  gern  beteiligte,  bedurfte  der  junge 
Franzose  nicht.  Doch  könnte  wohl  sein,  dafs  die  Studenten  aus 
der  französischen  Schweiz,  mit  denen  wir  beide  viel  verkehrten, 
Paris  wohl  mehr,  als  für  sein  Erlernen  des  Deutschen  zuträglich 
war,  ihn  mit  dem  von  ihnen  wie  billig  hochverehrten  Lands- 
mann in  Verbindung  gebracht  hätten.  Im  Jahre  1862  erschien 
übrigens  Monnards  Chrestomathie  des  prosateurs  frangais  du 
XIV e  au  XVIe  siede  avec  une  grammaire  et  un  lexique  de  la 
langue  de  cette  periode,  une  histoire  abregee  de  la  langue 
franqaise  depuis  son  origine  jusqu'au  commencement  du  XVIIe 
siede  et  des  considerations  sur  l'etude  du  vieux  frangais, 
Genf  1862.  Was  ich  über  das  Buch  gesagt  habe  {Neues  Schweiz. 
Museum  II,  287 — 295),  deucht  mich  nicht  unbillig,  doch  hätte 
es  auszusprechen  einem  anderen  vielleicht  besser  angestanden 
als  mir,  der  ich  erst  sechs  Jahre  zuvor  Monnards  Schüler  ge- 
wesen war  und  immer  noch  manches  von  ihm  lernen  konnte, 
wenn  auch  nicht  gerade  Altfranzösisch.  Aber  Rezensenten  für 
derartige  Bücher  waren  damals  noch  nicht  so  leicht  zu  finden  wie 
später,  und  ich  konnte  mich  der  Aufgabe  nicht  leicht  entziehen. 

Die  gewünschte  Besprechung  von  Paris'  Schrift  über  den 
Akzent  hat  Diez  1864  im  fünften  Bande  des  Jahrbuchs  er- 
scheinen lassen;  sie  ist  dann  wieder  gedruckt  in  der  von  Brey- 
mann     besorgten     Sammlung    von    Diez'    Kleineren    Schriften 


Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez.  81 

S.  197—205  (1883).  Sie  enthält  einige  wohlbegründete  Ein- 
wendungen gegen  das  vom  Verfasser  Vorgetragene,  daneben  aber 
viel  Anerkennendes.  Paris  spricht  seinen  Dank  aus  in  den 
Briefen  vom  22.  März  1864  und  vom  8.  Juli  1865. 

Die  Vorrede  des  Übersetzers  zu  Diezens  Einleitung  ist  kurz 
ausgefallen;  warum,  erfährt  man  aus  dem  Briefe  vom  8.  Sep- 
tember 1862.  Die  folgenden  Briefe  kommen  noch  öfter  auf  sie 
zurück.  Dagegen  ist  die  Bitte  um  Aufklärung  über  zwei,  wie 
es  scheint,  Paris  nicht  recht  verständlich  gewordene  Einzelheiten 
auch  später  nicht  ausgesprochen. 


Ce  8  septembre  1862. 
Monsieur, 

La  traduction  de  votre  Introduetion  s'imprime  rapidement  et  sera  sans 
doute  publiee  le  mois  prochain.  L'annonce  de  la  publication  de  M.  Scheler 
ne  m'a  pas  decourage,  parce  que  j'aurai  d'abord  l'avantage  de  le  prevenir, 
et  ensuite  parce  qiie  V Introduetion,  plus  generale  et  plus  restreinte,  trouvera 
sans  doute  un  public  plus  considerable.  Ce  qui  nie  peine  seulement,  e'est 
que  man  editeur  a  naturellement  desire  que  je  ne  misse  ])lus  de  retard  ä  la 
publication,  ce  qui  m'empeche  de  faire  une  preface  aussi  considerable  que 
je  l'aurais  voulu.  Jusqu'ä  la  fin  d'aoiit,  des  examens  juridiques  tres- 
etrangers  ä  la  philologie  ont  completement  absorbe  mon  temps;  et  mainte- 
nant  je  suis  dans  un  village  oü  il  in' est  impossible  d'avoir  les  livres  dont 
j'aurais  besoin.  Je  dois  donc  renoncer  ä  faire,  comme  j'en  avais  l'inten- 
tion,  une  etude  approfondie  de  la  philologie  comparee  des  langues  romancs 
teile  qu'elle  s'est  creee,  principalement  par  vous,  depuis  trente  ans  en  Alle- 
magne,  et  de  la  rattacher  ä  la  direction  generale  des  travaux  historiques 
et  philologiques  allemands.  Je  voudrais  compenser  ce  qui  me  manquera, 
—  etant  oblige  de  travailler  ici  loin  de  toute  esp'ece  de  materiaux,  —  par 
quelques  details  sur  vos  ouvrages,  votre  personnalite  et  votre  influenae.  Tai 
lu  quelque  part  que  c'etait  Goethe  qui  vous  avait  indique  la  voie  que  vous 
avez  si  glorieusement  suivie;  pourrais-je  vous  demander  de  me  dire  ce  qui 
en  est?  En  un  mot,  et  pour  vous  dire  clairement  l'objet  de  ma  lettre,  j'ai 
pense.  que  ce  ne  serait  pas  trop  presumer  de  votre  bienveillance  pour  moi 
et  pour  une  tentative  qui  a  eu,  —  quand  je  l'ai  coneue  au  moins,  —  le 
inerite  d'etre  la  premiere  de  ce  genre,  que  de  vous  demander  quelques  details 
sur  l'esprit  general  de  vos  travaux  et  les  idees  qui  vous  ont  amene  ä  les 
faire  et  vous  ont  guide(s)  dans  leur  aecomplissement.  Ce  sera  donner  ä 
mon  essai  une  valeur  que  je  ne  puis  lui  donner  moi-meme :  car  vous  me 
flattex  bien  en  me  disant  que  vous  attendex  de  moi  des  notes  et  des  criti- 
ques.  A  peine  trouverex-vous  quatre  ou  cinq  observations  tres-insignifiantes 
sur  des  details.  C'est  dans  la  Preface  que  je  comptais  me  developper  ä 
mon  aise,  et  c'est  encore  la  que  gräce  ä  vous  j'espere  mettre  tout  le  merite 
de  ce  qui  m'est  personnel  dans  ce  travail. 

Pardonnex-rtioi  de  vous  importuner  de  la  sorte;  vous  m'avex  toujours 
temoigne  tant  de  bon  vouloir  et  d'amitie  que  j'ai  cru  pouvoir  me  permettre 
cette  demande,  et  que  j'ai  l'espoir  que  vous  me  l ' aecorderex. 

Je  vous  en  remereie  par  avance,  et  je  vous  supplie  bien  de  me  croire 
avec  autant  d'affection  que  de  respect,  Monsieur  et  eher  maitre 

Votre  tout  devoue  disciple  et  ami, 
Q  Paris 

Mon  pere  se  rappelle  ä  votre  bon  Souvenir.  —  Eerivex-moi,  je  vous  />>■/>■, 
ä  cette  adresse:  ä  Aveiuxy  —  par  A'i  (Marne). 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    CXV.  Q 


82  Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez. 

Das  Erscheinen  der  übersetzten  Einleitung  hat  sich  doch 
wohl  etwas  weiter  hinausgezogen,  als  Paris  gedacht  hatte.  Wenig- 
stens bedankt  sich  Diez  erst  am  26.  März  1863  aus  Bonn  für 
ein  schön  gebundenes  und  mehrere  geheftete  Exemplare  des 
kleinen  Buches.     In  dem  nämlichen  Briefe  liest  man: 

'Von  Hrn.  P.  Meyer  habe  ich  einen  freundlichen  Brief  erhalten. 
Seine  Arbeiten  interessieren  mich  ungemein.  Seine  Kritik,  deren  Leetüre 
ich  noch  aufschieben  mufs,  wird  gewifs  recht  schöne  Beiträge  und  Berich- 
tigungen enthalten.  Ich  würde  sie  später  in  einem  Supplement  zur  Rornan. 
Gramm,  mit  Dank  benutzen.  Wenn  Sie  mir,  theurer  Freund,  einmal 
schreiben,  so  bitte  ich,  mir  bemerken  zu  wollen,  aus  welcher  Gegend  von 
Frankreich  und  aus  welchem  Orte  Hr.  M.  ist.' 

Inzwischen  aber  hatte  Scheler  sich  mit  folgendem  Briefe 
an  Diez  gewandt: 

Brüssel,  den  10.  Mai  1862. 
Hochgeehrtester  Herr  und  Meister, 

Ich  trage  mich  seit  längerer  Zeit  mit  dem  Plane  herum,  Ihre  roma- 
nische Grammatik  für  das  französische  Publikum  zu  bearbeiten.  Diese 
Arbeit  entspricht  einem  wirklichen  Bedürfnisse  und  würde  sich,  wie  mir 
dünkt,  lohnen.  Ich  habe  mich  neulich  defsfalls  an  Didot  in  Paris  ge- 
wendet; derselbe  würde  wohl  den  Verlag  gerne  übernehmen,  wenn  augen- 
blicklich das  wissenschaftliche  Interesse  nicht  gar  so  abgestumpft  wäre. 
Er  bemerkt  dazu,  dafs  der  Absatz  in  Frankreich  200  Exempl.  kaum  über- 
steigen würde.  Da  ich  berechnet  habe,  dafs  circa  250  feste  Abonnenten 
die  Herstellungskosten  decken,  und  ich  nicht  verzweifle,  im  nichtdeutschen 
Europa  diese  Zahl  aufzutreiben,  vorzüglich  mir  schmeichle,  dafs  Didot, 
der  500  Ex.  meines  Dictionnaire  angekauft,  wohl  etwa  150  Ex.  Ihrer 
Grammatik  übernehmen  würde,  glaube  ich  den  Gedanken  noch  nicht  auf- 
geben, im  Gegentheil  die  Ausführung  desselben  um  so  ernstücher  betreiben 
zu  müssen. 

Dafs  ich  mich  aber  der  Aufgabe  nicht  unterziehen  will,  ohne  die  Be- 
friedigung zu  haben,  dafs  ich  es  mit  Ihrer  Einwilligung  und  unter  Ihren 
Auspicien  thue,  brauche  ich  Ihnen  nicht  zu  versichern. 

Die  Franzosen  müssen  endlich  in  die  offen  gelegten  Geheimnisse  der 
neueren  Sprachwissenschaft  gewaltsam  eingeweiht  und  zur  gerechten  Wür- 
digung der  deutschen  Forschung  und  besonders  Ihrer  hohen  Verdienste 
getrieben  werden. 

Mein  Freund  Grandgagnage  ermuthigt  mich  ganz  besonders  zur  Ver- 
wirklichung meines  Planes,  u.  ich  glaube,  dafs,  nach  Eintreffen  Ihrer  Zu- 
sage, ich  die  besagte  Uebersetzung  in  den  Vordergrund  meiner  literarischen 
Arbeiten  schieben  werde. 

In  der  Erwartung  Ihrer  freundlichen  Antwort  und  mit  der  Versiehe- 
rung  der  aufrichtigsten  Hingebung  Ihr  ergebenster  ScMler 

Dr.  Aug.  Scheler, 
Bibliothekar  des  Königs. 

Diez  scheint,  da  ja  Paris  die  Absicht,  das  ganze  Werk  zu 
übertragen,  nie  geäufsert  hatte,  seine  Zustimmung  gegeben  und 
Scheler  daraufhin  eine  vorläufige  Anzeige  seines  Unternehmens 
veröffentlicht  zu  haben;  von  einem  davon  offenbar  verschiedenen 
förmlichen  prospectus  Schelers  spricht  Paris  in  dem  undatierten 
Briefe  vom  Sommer  1863. 


Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez.  83 

Die  juristischen  Prüfungen,  denen  er  sich  zunächst  zu  unter- 
werfen hatte,  sind  die,  in  denen  er  den  Grad  eines  licencie  en 
droit  erwarb;  die  Thesen,  die  er  bei  diesem  Anlafs  am  28.  August 
1862  verteidigte,  sind  die  beiden  bei  Jouaust  in  diesem  Jahre 
gedruckten  De  tutela  und  De  la  tuteile,  die  man  in  der  Biblio- 
graphie des  travaux  de  G.  Paris  p.  p.  J.  Bedier  et  M.  Roques 
unter  Nummer  1195  findet. 

Das  Dorf  Avenay,  etwa  20  Kilometer  von  Reims,  war  der 
Geburtsort  des  Vaters  und  des  Sohnes,  und  da  pflegte  der 
Sohn  seine  Ferien  zu  verbringen;  siehe  darüber  in  der  Schrift 
von  Rajna  S.  49  Anm.  4  und  5.  Dafs  der  Vater  während  des 
Krieges  1871  sich  inmitten  deutscher  Truppen  dort  aufhielt, 
ohne  von  ihnen  zu  leiden,  wird  man  dem  Briefe  des  Sohnes  vom 
7.  Mai  1872  glauben  dürfen  oder  müssen. 

Dafs  Diez  sich  nicht  in  umfänglichen  Darlegungen  über 
seine  Persönlichkeit,  seine  Werke,  seinen  Einflufs,  über  die  Ge- 
danken auslassen  würde,  die  ihn  bei  seinen  Arbeiten  geleitet 
hätten,  war  zu  erwarten;  doch  hat  er  die  dringende  Bitte  seines 
jungen  Freundes  auch  nicht  ganz  unerfüllt  lassen  wollen,  und 
in  der  Vorrede  zu  der  Übersetzung  findet  man  zwei  kurze 
Stellen,  die  Paris  als  von  Diez  herrührend  bezeichnet:  'Ce  qui 
m'a  pousse  ä  entreprendre  mes  travaux  philologiques  et  ce 
qui  m'a  guide  dans  leur  execution,  c'est  uniquement  Vexemple 
de  Jacob  Grimm.  Appliquer  aux  langues  romanes  sa  gram- 
maire  et  sa  methode,  tel  fut  le  but  que  je  me  proposai.  Bien 
entendu,  je  n'ai  procede  ä  cette  application  qu'avec  une  cer- 
taine  liberte'  (S.  XVI);  und  'Si  je  pouvais  suivre  mon  goüt, 
je  voudrais  mettre  tout  ä  fait  de  cöte  les  etudes  grammati- 
cales,  et  moccuper  plutöt  d'histoire  litteraire;  mais  il  n'est 
pas  facile  de  se  retirer  d'un  champ  oü  on  a  travaille  tant 
d'annees'  (S.  XVIII).  Gleich  darauf  führt  Paris  (S.  XIX)  eine 
schriftliche  Aufserung  seines  Lehrers  an,  die  dieser  aus  Anlafs 
einer  Meinungsverschiedenheit  über  eine  grammatische  Einzelheit 
getan  habe;  man  könnte  dabei  an  die  in  dem  Briefe  vom  14.  Mai 
1862  in  Aussicht  gestellte  Bitte  um  Aufklärung  über  einige 
Punkte  denken,  wenn  nicht  jener  Brief  aus  dem  gleichen  Jahre 
stammte  wie  die  im  Oktober  1862  geschriebene  Vorrede,  in  der 
es  heifst:  'Etudiant,  V annee  demiere,  un  point  sur  lequel 
je  me  trouvais  un  peu  en  desaccord  avec  sa  grammaire,  je  lui 
ecrivis  pour  lui  demander  son  avis;  et  je  regus  cette  reponse: 
Voici  mon  conseil,  mon  eher  ami.  Si  vous  etes  en  doute  de 
ce  que  j'avance,  suivez  votre  inspiration  et  n'allez  pas  surfaire 
une  autorite  etrangere.  Nous  nous  trompons  totis,  et  les  vieilles 
gens  sont  specialement  sujets  ä  ce  defaut  de  se  tenir  attaches 
ä  une  ide'e  ä  laquelle  ils  se  sont  aecoutumes.  La  jeunesse  est 
plus  vive  et  plus  librej  eile  trouve  souvent  ce  qui  nous  echappe. 


84  Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez. 

Si  vous  nie  decouvrez  des  fautes,  dites-le  sans  hesiter,  je  vous 
en  remercierai.' 

Wo  schon  vor  1862  etwas  über  den  folgenreichen  Besuch 
Diezens  bei  Goethe  zu  lesen  gewesen  sein  mag,  weifs  ich  nicht. 
Später  ist  er  oft  erwähnt  worden.  Da  Diez  auf  den  Brief  vom 
8.  September  noch  vor  dem  Abschlufs  der  preface  geantwortet 
hat  und  in  dieser  S.  XIV  erzählt  ist,  wie  Diez  in  Jena  durch 
Goethe  auf  Raynouards  Arbeiten  hingewiesen  worden  sei,  so  ist 
an  der  Tatsache  nicht  zu  zweifeln. 

Die  Bemerkungen  des  Übersetzers  zu  dem  in  der  Vorlage 
Enthaltenen  sind  in  der  Tat  weder  zahlreich  (etwa  fünfzehn) 
noch  von  sonderlichem  Belang;  Diez  hat  denn  auch  später  nichts 
davon  in  die  dritte  Ausgabe  der  Grammatik  herübergenommen, 
obgleich  er  in  einem  Briefe  an  Paris  vom  6.  August  1863  freund- 
lich urteilt:  'Ihre  Noten  zur  Introduction  sind  kurz,  aber  tref- 
fend und  niemals  überflüssig.'  Er  hatte  damals,  da  die  Über- 
setzung der  Einleitung  in  die  nun  beabsichtigte  Übertragung 
der  gesamten  Grammatik  übergehen  sollte,  jene  genau  durch- 
gesehen und  eine  sehr  beträchtliche  Zahl  von  Druckfehlern  darin 
gefunden,  auf  die  er  nun  aufmerksam  machte,  damit  sie  in  dem 
neuen  Druck  nicht  wiederholt  würden.  S.  147,  wo  der  Über- 
setzer übrigens  ein  paar  nicht  unwesentliche  Zeilen  des  Ori- 
ginals (über  den  Leodegar)  vermissen  läfst,  hatte  er,  während 
Diez  1856  dies  mitzuteilen  versäumt  hatte,  angegeben,  Passion 
und  Leodegar  seien  seit  1852  von  diesem  herausgegeben.  Diez 
hat  nicht  einmal  von  diesem  kleinen  Nachtrage  Gebrauch  ge- 
macht. 


Monsieur  et  eher  maitre, 

Vous  devez  etre  surpris  de  mon  long  silence,  et  bien  que  j'en  sois  un 
pi-n  roupable,  vous  me  feriex,  fort  de  1  aftribuer  uniquenutit  a  aia  uegligou-r. 
J'etais  en  Italie,  oit  je  viens  de  faire  un  fort  agreable  voyage,  quand  votre 
lettre  est  arrivee  ä  Paris,  et  je  ne  suis  de  retour  que  depuis  assez  peu  de 
temps.  J'espere  que  vous  avez  passe  fieureusenient  le  temps  qui  s'est  eeoule 
depuis  quej'ai  eu  de  vos  nouvelles,  et  que  vous  etes  oeeupe  de  qudque  tra- 
vail  agreable  pour  vous  et  utile  pour  nous  autres.  Pour  moi,  je  n'ai  pas 
beaueoup  travaille  cette  ann.ee,  et  j'ai  besoin  de  rattraper  le  temps  perdu 
par  un  effort  vigoureux  eet  hiver.  Je  m' oeeupe  pour  le  moment  d'un  frarail 
d'histoire  litteraire  qui  nie  prendra  bien  du  temps  et  quej'ai  du  reste  eom- 
mence  depuis  plusieurs  mois.  J'espere  qu'il  vous  offrira  de  l'mt&ret:  c'est 
l'Histoin  poetique  de  Charlemagne.  Si  vous  covmaissiex  sur  ee  sujet  quelqut 
doeument  qui  ait  echappe  ä  Bartsch  et  aux  autres  chereheu/rs,  ou  si  vous 
aviez  vous-meme  quelque  renseignement  mteressant,  vous  savez  que  je  reee- 
vrais  vos  indications  avec  la  plus  grande  recönnaissance. 

Mais  fujnr  parier  de  choses  qui  vous  intcnss,  nt  plus  direetement,  vous 
avez  saus  du nie  appris  que  la  gra/nde  affaire  de  la  traduetion  de  la  Gram- 
maire  est  deeidement  en  bonne  voie.  II  a  (de  convenu  que  M.  Seheier  en- 
verrait  sa  traduetion  iei,  que  je  reverrais  les  epreuves  et  ä  l'oceasion  que 
je  pourrais  changer  ou  annoter,  et  que  le  tout  serait  imprime  ehez  Herold, 


Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez.  85 

l'aimable  et  intelligent  ed/iteur  de  l'Introduetion.  Vons  donneriex  ä  cette 
entreprise  nur  valeur  bien  gründe,  eher  Monsieur,  si  vous  avi< ,  quelque 
addition  ou  quelque  chwigement  ä  nous  envoyer;  eependemt  la  derniere 
edition  est  si  recenti  que  vous  ne  devez  guere  avoir  de  modificalimis  ii  y 
faire.  Mais  ce  que  je  vous  demanderai  mstamment,  c'est  de  mc  commu- 
niquer  les  observations  que  vous  avex  pü  faire  sur  V Introeluetion,  qui 
va  reparaitre  dans  l'ensemble  de  l'ouvrage;  je  connais  dejä  par  im  article 
de  Mussafia  un  lourd  contre-sens  (die  längste  Grenze  =  qui  fut  le  plus 
longtemps  In  frontiere);  j'ai  peur  qu'il  n'y  en  ait  encore  d'autres,  et  je 
compte  sur  vous  pour  me  signaler  toutes  les  femtes  que  vous  avex  remar- 
ques tant  dans  le  texte  que  dans  les  quelques  notes.  La  Preface  sera  con- 
siderablement  ehangee,  taut  in  restaut  ä  peit  pres  dans  le  tunnr  Ion,  niais 
avec  im  /ii "i/  plus  de  details  sur  l'ensemble  de  votre  methode  et  des  resultats 
que  rni/s  are:  iur/irau/nli/eruent  clablis.  Vous  pensez  que  pour  tout  cela 
nitre  eoneours  sera  le  bien-venu;  je  voudrais  que  la  traduetion  füt  digne 
iln  lim  :  j'espere  que  notre  entreprise  reussira  bien.  Au  moins  l'Intro- 
duetion se  vend-elle  Inen  et  a-t-dle  dejä  assea  bien  prepare  le  terrain. 

.Ii  rirns  de  n eevoir  le  prospectus  de  M.  Seheier  pour  In  traduetion 
iju'il  preparait  ii  lui  seul  Van  dernier;  il  pense  qu'on  pourrait  l'uliliser 
pour  In  nouvelle.  ■/<  suppose  que  vous  Vavex  vu.  Pour  moi,  je  crois  qu'il 
vaudrait  mieux  en  faire  un  autre.  D'abord  le  style  de  M.  Seheier  est  lourd 
it  un  peu  embarrasse;  puis  il  parle  de  ses  peines  et  i/r  ses  sacrifices 
fr  (jni  ist  i/'i/ssi:  mauvais  goüt  ä  mon  sens  et  er  que  je  ne  voudrais  pas 
prendre  pour  moi.  II  y  a  beaueoup  <lr  petites  observations  de  ce  genre  qui 
ine  feraient  rejeter  ee  prospectus.  En  untre,  il  intitule  votre  lim  :  Expose 
de  In  Formation  et  de  In  Oramma/ire  des  La/ngues  Bomanes.  Je  crois  qu'il 
null  mieux  mettre  simplement:  Grammaire  (ou  Gr.  eomparee?)  des 
Langues  Bomanes.  -fr  serais  content  de  savoir  quel  est  le  titre  qui  vous 
rnurii inl mit  le  mieux. 

Sur  tout  cela,  eher  maitre,  j'attends  avee  impatienee  votre  reponse.  Je 
serai  bien  heureux  de  /irr  dm/s  le  Jahrbuch  un  mot  de  vous  sur  mon 
Aecent  latin;  si  vous  ne  Vavex  pas  trouve  tout-ä-fait  mdigne  de  votre  eeole, 
c'est  le  plus  Inl  elogi   que  vous  puissiez  lui  donner. 

Man  peri  se  rapp'elle  ä  votre  Souvenir.  Vous  nnrr;  In  dans  In  Bibl. 
de  V Eeole  des  Charles  le  premier  article  >li  Meyer  sur  l'Histoire  de  In 
Langue  Francuise  (ainsi  nommee  l>i<  n  improprement)  de  31.  Littre;  je  crois 
ijin  ums  ,ii  nnrr;  itr  ussr:  rniitrut.  Je  serais  curieux  ilr  eonnaitre  votre 
opinion  sur  le  Dictionnairt  de  Littre  et  aussi  sur  eelui  <li  Seheier,  que  je 
ne  connais  pas.  Vous  nn  demandex  In  patrie  de  Paul  Meyer;  je  ne  sais 
pas  bien  quel  int  int  cela  offre  pour  vous;  rnfm  il  est  de  Paris:  c'est  im 
jeune  komme  intelligent,  mstruit,  philologue  serieusement  et  qui  par  con- 
sequent  vous  admire  comme  il  le  doil. 

Adieu,  eher  Monsieur,  eroyez-moi  toujours  bien  sincerement 

Votre  tout  devoue  serviteur  et  ami 
G  Paris. 

Dem  vorstehenden  Briefe  fehlt  die  Datierung;  es  kann  aber, 
da  Diez  am  6.  August  1863  darauf  geantwortet  hat,  keinem 
Zweifel  unterliegen,  dafs  er  im  Sommer  1863  geschrieben  ist, 
nach  einem  Schweigen,  das  seit  dem  8.  September  1862  ge- 
dauert hatte.  Diez  hatte  am  26.  März  1863  für  Exemplare  der 
Introduction  gedankt  und  bei  diesem  Anlafs  auch  nach  dem 
Heimatsorte  P.  Meyers  gefragt  (s.  oben  S.  82).    Über  G.  Paris' 


86  Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez. 

erste  Reise  nach  Italien  wie  auch  über  die  sechs  späteren,  die 
ihm  das  schöne  Land  immer  teurer  machten  und  ihn  mit  einer 
grofsen  Zahl  hervorragender  Menschen  in  persönliche  Berührung 
brachten,   gibt  Rajna  S.  40  und  Anm.  90  erwünschte  Auskunft. 

Die  Histoire  poetique  de  Charlemagne  hat  ihren  Verfasser 
natürlich  lange  beschäftigt;  er  spricht  davon  auch  im  März  1864, 
und  erst  im  Juli  1865  sieht  er  sich  am  Ziele. 

Zu  einer  gemeinsam  auszuführenden  Übersetzung  der  Gram- 
matik der  romanischen  Sprachen  hatten  sich  inzwischen  Scheler 
und  Paris  zusammengetan  und  hatten  in  Herold,  dem  Inhaber 
der  Firma  A.  Franck  in  Paris  und  Leipzig,  der  auch  die  Intro- 
duction  gedruckt  hatte,  einen  Verleger  gefunden.  Jeder  der 
beiden  Genossen  scheint  angenommen  zu  haben,  der  andere 
habe  Diez  von  der  Übereinkunft  in  Kenntnis  gesetzt;  denn  auch 
Scheler  schreibt: 

Brüssel,  3  Okt.   1863. 
Hochgeehrtester  Herr  Professor, 

Dafs  es  mir  gelungen  ist,  die  Franck'sche  Buchhandlung  in  Paris 
dazu  zu  bewegen,  meine  Uebersetzung  Ihrer  Komanischen  Grammatik  in 
Verlag  zu  nehmen,  ist  Ihnen  vielleicht  durch  H.  Gaston  Paris,  der  sich 
mehr  oder  weniger  an  meiner  Arbeit  betheiligen  wird,  kekannt  geworden. 
Der  Druck  des  Werkes  sollte  eben  beginnen,  als  ich  von  meinem  Ver- 
leger benachrichtigt  wurde,  dafs  der  Ihrige,  H.  Weber,  Einsprache  gegen 
das  Erscheinen  der  Uebersetzung  bei  ihm  eingelegt  habe. 

Sofort  schrieb  ich  H.  Weber,  dafs  ich  nicht  nur,  bereits  im  Mai  1 862, 
von  Ihnen  als  Verfasser  zur  Ausführung  meines  Vorhabens  ermächtigt 
worden  sei,  sondern  dafs  Sie  mir  in  demselben  Briefe,  auch  die  Erlaubnifs 
des  Verlegers  notifizirt  hätten. 

In  seiner  Antwort  bestätigte  H.  W.  ganz  einfach  seinen  Protest  u. 
nahm  von  jenem  erwähnten  Briefe  gänzlich  Umgang.  Auf  die  umgehend 
am  10ten  Sept.  an  ihn  gerichtete  Anfrage,  ob  er  den  Inhalt  Ihres  Briefes 
vom  Mai  1862  anerkenne  oder  nicht,  habe  ich  bis  jetzt  keine  Antwort. 
Er  ist  natürlich  in  die  unangenehme  Lage  versetzt,  entweder  sich  selbst 
oder  Ihnen  ein  Dementi  zu  geben. 

Ich  hielt  es  für  meine  Pflicht,  Sie  von  dieser  eben  so  unerwarteten 
als  leidigen  Ungelegenheit  in  Kenntnifs  zu  setzen.  Vielleicht  sind  Sie  im 
Stande,  durch  ein  vermittelndes  Einschreiten,  die  Schwierigkeit  zu  lösen. 

Ich  kann  mir  nicht  vorstellen,  dafs  H.  Weber  bei  vernünftiger  Uebcr- 
legung  des  durch  seinen  Protest,  der  Anerkennung  ihres  Verdienstes,  der 
Belohnung  meiner  mühsamen  Arbeit,  seinem  eigenen  merkantihschen  Rufe, 
u.  vor  Allem  den  Interessen  der  Wissenschaft  erwachsenden  Schadens, 
bei  seinem  Widerstände  verharrt. 

Vielleicht  werden  mich  bald  einige  Zeilen  von  Ihrer  Hand  hierüber 
beruhigen.  Einstweilen  genehmigen  Sie,  werther  Meister,  die  neue  Ver- 
sicherung meiner  tiefen  Verehrung. 

Dr.  Aug.   Scheler 
62  rue  Mercelis 

Man  sieht  hier  zugleich  zum  erstenmal  die  Schwierigkeiten 
auftauchen,  die  der  Durchführung  des  Unternehmens  sich  so 
lange  in  den  Weg  stellen  sollten,  und  von  denen  nachher  zu 
reden  sein  wird.    Was  die  Beteiligung  des  Verfassers  an  etwaigen 


Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez.  87 

Zusätzen  der  Übersetzung  gegenüber  dem  deutschen  Werke  be- 
trifft, so  schreibt  Diez  am  6.  August  1863  an  Paris: 

'Buchhändler  Weber  protestiert  gegen  meine  Theilnahme  an  der  fran- 
zösischen Ausgabe  der  Grammatik  und  man  kann  ihm  dies  nicht  übel 
nehmen,  aber  dieser  Protest  ist  überflüssig.  Was  den  Prospectus  von 
Hrn.  Scheler  betrifft,  so  bin  ich  in  allen  Puncten  Ihrer  Meinung.  Der 
passendste  Titel  scheint  auch  mir  Grammaire  des  langues  rom.  Vielleicht 
aber  ist  Gr.  comparee  etc.  mehr  nach  französischem  Geschmack.  Die 
Stelle:  avec  le  concours  de  l'auteur  mufs  ich  bitten  zu  unterdrücken  so- 
wohl mit  Rücksicht  auf  meinen  Verleger  wie  auch  auf  das  richtige  Sach- 
verhältnis. Ebenso  die  Worte  avec  V assentiment  de  l'editeur;  ich  glaube 
wenigstens  nicht,  dafs  dies  Statt  gefunden  hat.' 

Was  jenes  Sacliverhältnis  betrifft,  so  war  Diez,  wie  er  in 
demselben  Briefe  vorher  ausgeführt  hat,  zwar  willens,  später 
etwa  nötig  werdende  neue  Ausgaben  der  Grammatik  und  des 
Wörterbuches  um  einiges  zu  erweitern  (s.  oben  Bemerkungen 
zum  Briefe  vom  8.  September  1862),  hatte  aber  davon  noch  nichts 
ausgearbeitet,  so  dafs  er  zur  Übersetzung  Zusätze  zu  geben  nicht 
in  der  Lage  gewesen  wäre,  auch  wenn  er  das  für  schicklich  ge- 
halten hätte.  In  bezug  aber  auf  die  Zustimmung  des  Verlegers 
hat  ihm,  wie  der  anzuführende  Brief  Senders  vom  29.  Oktober 
1863  zeigt,  das  Gedächtnis  nicht  treu  gedient. 

Die  Besprechung  der  Introduction  hat  Mussafia  laut  Elise 
Richters  Verzeichnis  seiner  Schriften  in  der  Katholischen  Lite- 
ratur-Zeitung X,  85 — 86  (1863)  erscheinen  lassen.  Ob  die  Vor- 
rede zu  der  Übersetzung  in  dem  Neudruck  wirklich  eine  ein- 
greifende Umgestaltung  erfahren  hat,  vermag  ich  nicht  fest- 
zustellen. 

Mit  der  Besprechung  der  Schrift  über  den  Akzent  war 
Mussafia  in  der  Wochenschrift  für  Wissenschaft,  Kunst  und 
öffentliches  Leben,  1862,  Nr.  26,  S.  207,   Diez  zuvorgekommen. 

Der  Artikel  P.  Meyers  über  Littres  Histoire  de  la  langue 
frangaise  steht  in  der  Biblioth.  de  l'Ecole  des  Chavtes,  Ve  Serie, 
T.  5.  Das  Wörterbuch  Littres,  von  dem  in  der  Vorrede  der 
Introduction  S.  XIII  als  von  einem  Denkmal  die  Rede  ist,  das 
sich  den  bewundernswerten  französischen  lexikalischen  Arbeiten 
seit  dem  16.  Jahrhundert  würdig  anreihen  werde,  hat  1863  zu 
erscheinen  begonnen.  Schelers  Etymologisches  Wörterbuch  war 
zum  erstenmal  1861  herausgekommen.  Diez  beantwortet  die 
ihm  hier  vorgelegten  Fragen  am  6.  August  1863  wie  folgt:  'Was 
Schelers  Dictionn.  etyin.  betrifft,  so  scheint  es  mir  ein  brauch- 
bares Buch.  Der  Verfasser  zeigt  überall  ein  bescheidenes  und 
besonnenes  Urtheil.  Eine  Kritik  davon  hat  Diefenbach  geschrie- 
ben, sie  steht  in  der  Zeitschrift  für  vergleichende  Sprachwiss. 
(Kuhn).  Er  nennt  den  Verfasser  gelehrt,  aber  grade  die  Ge- 
lehrsamkeit, d.  h.  die  Quellenkunde  vermisse  ich.  Littre's  Wörter- 
buch  habe  ich  noch  nicht  genau  angesehen.     Was   den  Artikel 


88  Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez. 

des  Hrn.  Meyer  über  Littres  Hist.  de  la  langue  franq.  betrifft, 
so  bedaure  ich  sehr,  das  neueste  Heft  der  Bibl.  de  VEcole  des 
Chartes  noch  nicht  gesehen  zu  haben  . . .  Ich  freue  mich  aber 
nicht  wenig  auf  diese  Lecture,  denn  in  Hrn.  Meyer  verehre  ich 
einen  Forscher  im  vollen  Sinne  des  Wortes.  Er  hat  mich  vor 
einigen  Wochen  mit  seinem  angenehmen  Besuche  überrascht, 
der  aber  leider  nicht  lange  gedauert  hat.  Gegenwärtig  befindet 
er  sich  in  Soden  . . .' 

Die  Antwort  auf  Diezens  Frage  (s.  oben  zu  dem  Briefe  vom 
8.  September  1862)  nach  der  Gegend  und  dem  Orte  Frank- 
reichs, woher  P.  Meyer  stamme,  scheint  mit  einiger  Ungeduld 
gegeben,  beinah  so,  als  käme  sie  von  diesem  selbst.  Der  Name, 
dessen  provenzalischer  Ursprung  nicht  einmal  für  Herrn  Mistral 
in  seinem  Tresor  festzustehen  scheint,  legte  eben  die  Vermutung 
irgendeines  Zusammenhanges  mit  Deutschland  oder  doch  mit 
Elsafs-Lothringen  nahe,  und  ob  ein  solcher  bestehe,  durfte  Diez 
wahrlich  fragen,  ohne  dafs  darin  eine  Kränkung  lag. 


Paris,  ce.  samedi  31  octobre  1863. 
Monsieur  et  eher  maitre, 
Je  ne  sais  si  vous  etes  au  courant  des  negociations  qui  sont  intervenues 
depuis  quelque  temps  entre  M.  Weber,  M.  Scheler  et  M.  Herold  ä  propos 
de  la  traduetion  de  votre  Grammaire  des  langues  romemes.  J'etais  absent 
de  Paris,  et  vous  l'etiex  de  Bonn,  pendanf  que  s'echangeaient  la  plupart 
des  lettres  de  ees  messieurs,  depuis  la  premiere  oü  M.  Weber  a  notifie  ä 
la  librairie  Franck  (Herold)  son  refus  de  consentir  ä  la  traduetion  jusqu'd 
une  lettre  de  M.  Seheier  d  M.  Herold  qui  vient  de  m'etre  communiquee  et 
qui  me  jette  dans  In  plus  grande  surprise.  Je  riai  pas  doute  jusqu'ici  de 
la  bienveillance  que  vous  m'avex  toujours  temoignee;  j'ai  plus  d'une  lettre 
de  vous  oü  vous  m'en  donnex  les  assurances ;  je  sais,  et  par  votre  eonrer- 
sation  et  par  votre  correspondanee,  que  vous  desirex  vivement  voir  votre 
Uwe  traduit  en  francais;  et  quand  je  vous  ai  ecrit  que  je  ine  deeidais  ä 
m'associer  a  M.  Scheler  pour  atteindre  ce  but,  vous  m'avex  repondu,  le 
9  aoüt  dernier,  que  cette  nouvelle  vous  etait  extremement  agreable,  que  vous 
ne  doutiex  pas  de  l'Jieureux  succes  de  notre  entreprise,  et  quant  ä  ma  tra- 
duetion de  l ' Litroduction,  que  vous  la  trouviex  tres-reiissie.  Apres  de  pareilles 
assurances,  que  votre  loyaute  et  votre  caractere  me  rendaient  et  me  rendent 
encore  parfaitement  au-dessus  de  tout  soupcon,  jugex  de  mon  etonnement 
en  lisant  ce  matin  dans  une  lettre  de  M.  Weber  ä  M.  Scheler,  dont  celiii-ei 
reproduit  des  passages,  les  phrases  suivantes  (celui-ci  rappelait  ä  M.  Weber 
que  dans  une  lettre  de  mai  vous  l'aviex  assure  du  consentement  de  ce 
libraire) :  'Nur  so  viel  ist  mir  gegenivärtig,  dass,  als  ich  vor  ca  6  Wochen, 
vor  seiner  Abreise,  mit  ihm  (Prof.  Diez)  in  Bexug  auf  Ihre  Äusserung 
darüber  sprach,  er  doch  in  Abrede  stellte,  Ihnen  meine  Einwilligung 
du: ii  mitgetheilt  \u  hohen,  sich  aber  über  das  ganze  Unternehmen,  irie  es 
sieh  nun  Ihrerseits  und  seitens  des  Hn  Gasto»  Paris  und  Franck  jetzt  her- 
ausstellen soll,  nicht  eben  in  sehr  befriedigender  Weise  äusserte.  Ich  habe 
daraus  wenigstens  nicht  entnehmen  können  dass  es  ihm  besonders  angenehm 
sei.  —  Ob  er  in  seiner  Antwort  auf  ein  Sehreiben  des  Hn  Gaston  Paris, 
das  ich  ihm  entxiffern  half,   dies  auch  angedeutet  hat,  weiss  ich  nicht  xu 


Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez.  89 

Vous  comprendrex  assurement  quej'invoque  en  reponse  ä  cette  vnsinua- 
tion  totäe  la  franchise  <lc  votre  temoignage:  je  campte  d'autant  plus  sur  une 
declaration  eontraire  ä  l'mterpretation  de  M.  Weber  que  la  lettre  ä  laquelle 
il  fait  allusion,  et  dont  j'ai  rappele  le  fand  tout-ä-l'heure,  lui  est  complete- 
ment  opposec.  Jen  ai  aussi  le  plus  grand  besoin;  cor  je  me  suis  ersaht 
ä  accepter  les  propositions  qui  me  so/t/  fadtes,  /mar  cette  traduction,  sur- 
tout  par  le  desir  de  vous  tbre  agreable  en  realisant  un  vozu  que  je  suis  que 
raus  forme*  depuis  longtemps.  Sems  cette  hin-  et  celle  de  servir  la  science 
je  n'aurais  certainement  pas  consenti  ä  me  charger  d'iin  trarail  qui  saus 
doute  ne  me  rapportera  rien  et  qui  tue  derange  aa  milieu  d'oecupations 
nombreuses  et  trls-differentes,  Aussi  n'hesiterais-je  pas  ä  en  abandonner 
la  pensee  si  je  croyais  que  M.  Weber  eilt  raison,  et  que  raus  ne  visstex, pas 
cette  entreprise  avec  plaisir;  j'ai  donc  le  plus  grand  interet  ä  sa/voir  ce 
qui  en  est.  Je  desire  aussi,  si  vous  donnex  raison  a  mes  esperances,  que 
rous  fassiex  bien  nettement  pari  de  ros  dispositions  ä  M.  Weber;  il  ne 
pourra  plus  aiusi  cacher  des  refus  dont  le  but  peeundaire  im'  parait  assex 
clair  flerriirr  whe  pretendue  repugnance  <<<■  votre  pari.  Oserai-je  vous  de- 
montier, Monsieur  et  eher  maiire,  de  nie  donner  sans  retard  une  riponse? 
Si  M.  Weber  a  dit  vrai,  ne  croyex  pas  que  je  vous  en  veuille  pour  cela; 
vous  aurex  sans  doute  pense  que  votre  livre  gagnerait  ä  attendre  an  tra- 
dueteur  plus  digne,  et  je  seiis  trop  quelle  est  mon  insufßsance  pour  //<■  pas 
comprendre  eette  maniere  de  voir,  qui  me  surprendrait  seulement  en  ce  qu'elle 
contredirait  toides  vos  assertions  precedentes  et  m'enleverait  une  Illusion  gut 
m'etait  precieuse,  celle  de  votre  sympathique  appröbation  pour  mes  travaux. 

Pardonnex-moi,  fiter  Monsieur,  d'avoir  pü  supposer  que  rous  ne  m'eüs- 
siez  pas  dit  la  verite  tottt  entiere;  au  fondje  ne  doute  pas  que  Weber  n'ait 
ou  mal  eompris  o/t  mal  muht  ros  paroles,  et  je  me  persuade  que  vous  me 
regardex  toujours  comme  votfe  disciple.  Veuille*  donc  m'en  donner  prompte- 
ment  la  bonne  assurance;  je  pense  que  votre  Intervention  attpres  de  Weber 
ne  pourrait  nous  etre  que  d'un  tres-bon  secours. 

Croyex-moi  bien,  eher  maitre, 

Votre  tont  devoue, 
0  Paris. 

J'ai  vu  que  votre  livre  sur  la  poesie  portugaise  avait  paru;  je  serais 
heureux  de  le  lire.  —  Meyer  m'a  donne  de  ros  nouvellrs,  et  fort  heureuse- 
ment  de  bonnes. 

Etwas  früher  als  vorstehenden  Brief  wird  Diez  den  folgen- 
den, auf  die  nämlichen  Dinge  bezüglichen  Schelers  erhalten 
haben : 

Brüssel,  den  29  Okt.   1863. 
Hochgeehrtester  Herr  Professor, 

Meinen  vor  etwa  drei  Wochen  an  Sie  abgesandten  Brief,  worin  ich 
Ihnen  die  von  H.  Weber  gegen  das  Erscheinen  der  franz.  Ausgabe  Ihrer 
Grammatik  erhobene  Einsprache  gemeldet,  werden  Sie  bei  Ihrer  Rück- 
kunft vorgefunden  haben. 

Es  liegt  mir  nun  um  so  mehr  daran  Ihre  Ansicht  über  diese  leidige 
Angelegenheit  zu  kennen,  als  H.  Weber  mir  in  seinem  Briefe  vom  11.  Okt. 
schreibt,  er  überlasse  es  Ihnen  sich  über  die  Erlaubnifs  aus/.usprechen, 
die  Sie  mir  in  Ihrem  Schreiben  vom  28.  Mai  18(52,  betreffend  die  Ueber- 
setzung  des  Werkes,  in  Ihrem  u.  des  Verlegers  Namen,  ertheilt  haben. 
Er  beruft  sich  darauf,  dafs  Sie  die  Richtigkeit  meiner  Aussage  bezweifelt, 
als  er  Ihnen  davon  gesprochen,  u.  überhaupt  sich  über  das  Unternehmen 
Francks  in  Paris  nicht  in  sehr  befriedigender  Weise  ausgesprochen  hätten. 


90  Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez. 

Bis  ich  hierüber  von  Ihnen  selbst  ins  Klare  gesetzt  werde,  erlaube 
icb  mir  den  betreffenden  Passus  Ihres  Briefs  vom  Mai  186:2  hier  beU 
zufügen : 

„Meine  Zustimmung  also,  wegen  deren  Sie  bei  mir  anzufragen  die 
Güte  hatten,  haben  Sie  hiemit.  Zum  Ueberf hisse  habe  ich  auch  die 
des  Verlegers  noch  eingeholt.  Ich  fand  Herrn  Weber  mehrmals 
nicht,  mit  welchem  Umstand  ich  die  verzögerte  Antwort  zu  erklären  und 
zu  entschuldigen  bitte." 

Sie  sehen,  dafs  ich  es  nach  so  bestimmter  Genehmigung  mir  nicht 
einfallen  lassen  konnte,  von  Bonn  aus  auf  Hindernisse  zu  stofsen.  Ich 
bin  aus  Liebe  zur  Sache  ans  Werk  gegangen,  habe  Vieles  auf  die  Seite 
geworfen,  um  es  schnell  zu  Ende  zu  führen,  und  soll  nun  mit  dem  Ver- 
dachte belohnt  werden,  mich  unrechtmäfsiger  Weise  fremden  Eigenthums 
haben  bemächtigen  zu  wollen. 

Ich  hoffe  noch  immer,  dafs  Ihre  Dazwischenkunft  die  Sache  auf  güt- 
lichem Wege  lösen  wird. 

Mit  ausgezeichneter  Verehrung 

Ihr  ganz  ergebener 

Dr.  Aug.  Scheler. 

Über  dem,  was  Ursache  gewesen  war  zu  diesen  beiden 
Briefen,  und  was  leicht  nicht  blofs  die  Fortführung  der  begon- 
nenen Arbeit  hätte  in  Frage  stellen,  sondern  auch  das  Einver- 
nehmen zwischen  Diez  und  seinen  Übersetzern  gefährden  kön- 
nen, liegt  einiges  Dunkel.  Diez  scheint  insofern  nicht  ganz 
ohne  Schuld  gewesen  zu  sein,  als  er,  wie  aus  Schelers  Brief 
vom  29.  Oktober  1863  sich  ergibt,  letzterem  im  Mai  1862  ge- 
schrieben hatte,  er  habe  die  Zustimmung  des  Verlegers  ein- 
geholt, während  er  dieser  Zustimmung  doch  so  wenig  sicher 
war,  dafs  er  am  6.  August  1863  an  Paris  schrieb:  'ich  glaube 
wenigstens  nicht,  dafs  dies  (assentiment)  Statt  gefunden  hat.' 
Leider  fehlen  hier  Briefe,  die  gewechselt  worden  sein  müssen: 
von  Scheler  liegt  mir  überhaupt  kein  weiterer  mehr  vor;  der 
nächstfolgende  von  Gaston  Paris,  vom  22.  März  1864,  spr  cht 
zwar  noch  von  Schikanen  des  deutschen  Verlegers,  erwähnt  aber 
nicht  mit  der  leisesten  Andeutung  des  früheren,  jetzt  offenbar 
völlig  geschwundenen  Mifstrauens  gegenüber  dem  Meister,  und 
Diezens  darauf  antwortender  Brief  vom  23.  April  1864  spricht 
gegen  Ende  von  einem  letzten  Schreiben,  in  welchem  er  Paris 
auf  ein  neues  französisches  Gesetz  und  die  Deutung  des  darin 
vorkommenden  Ausdruckes  contrefaqon  aufmerksam  gemacht 
habe,  und  dieser  Brief  fehlt  im  Nachlafs.  Bis  auf  weiteres  wird 
man  glauben  müssen,  wenn  irgendwo  man  es  an  der  wünschens- 
werten Geradheit  habe  fehlen  lassen,  so  sei  es  beim  deutschen 
Verleger  gewesen. 

Das  Buch  über  die  erste  portugiesische  Kunst-  und  Hof- 
poesie ist  in  Bonn  bei  Eduard  Weber  1863  erschienen;  in  den 
folgenden  Briefen  ist  seiner  mehrmals  noch  gedacht.  —  Dafs 
P.  Meyer  in  Bonn  Diez  besucht  hatte,  ergibt  sich  aus  einer  oben 
(zu  Paris'  Brief  vom  Sommer  1863)  erwähnten  Briefstelle.    Meyer 


Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez.  91 

selbst  in  einem  mir  gehörenden  Briefe  an  Diez  vom  27.  Juli 
1864,  in  welchem  er  sich  für  die  Zusendung  des  Buches  über 
die  portugiesische  Kunstpoesie  bedankt,  sagt:  vous  avez  pu 
juger  par  vous-meme,  lors  de  la  visite  que  j'eus  l'honneur  de 
vous  faire  Van  dernier,  de  ma  faiblesse  en  allemand. 


Cannes,  ce  22  mars  186 4. 
Monsieur  et  eher  mäitre, 

Voilä  longtemps  que  je  ne  vous  ai  ecrit,  et  je  dois  commeneer  cette 
lettre  par  de  doubles  remerciements.  J'ai  rceu  ce  matin  une  lettre  de 
M.  Ebert,  qui  me  dit  avoir  entre  les  »min*  wn  artiele  de  vous  sur  mon 
Accent  lotin;  il  m'assure  que  vous  avez  bien  voulu  vous  eooprimer  sur  mon 
eompte  d'une  maniere  tres-favorable.  II  est  inutile  de  vous  dire  eombien 
j'en  suis  flaue  et  reconnaissant ;  qui  pourrait  m'etre  plus  doux  que  lc  suf- 
frage de  celui  qu'on  reconnait  uni-versellement  pour  le  maitre  des  etudes 
auxquelles  se  rattacke  mon  travail?  M.  Ebert  me  dit  aussi  que  vous  ajoutex 
beaueoup  de  details  nouveaux  sur  le  sujet  de  V 'accent;  je  m'en  rejouis  beau- 
eoup, et  j'espere  bien  y  trouver  de  quoi  completer  et  ameliorer  beaueoup  la 
tl/eorie  que  j'ai  developpee  d'apres  vous.  II  serait  fort  ä  souhaiter  qu'on 
fit  sur  l'ensemble  des  langucs  romanes  le  travail  que  j'ai  essaye  sur  le 
franeais;  mais  ce  ne  sera  pas  en  France  qu'on  entreprendra  quelque  ehose 
d' aussi  malaise;  nous  attendrons  cela  de  V Allemagne. 

J'ai  d'autres  remerciements  ä  vous  faire  pour  l'envoi  de  votre  petit 
lirrc  s/n-  Vaneienne  lyrique  portugaise.  H  m'est  arrive  justement  la  veille 
de  »wn  depart  pour  le  Midi,  oii  la  mauvaise  sante  de  ma  mere  nous  a 
fait  jmsser  l'hiver.  Je  l'ai  lu  ici  avec  d'autant  plus  d'interet  que  ce  sujet 
m'etait  tout-ä-fait  ineonnu,  et  que  votre  excellente  critique  le  place  mainte- 
nant  en  pleine  lumiere.  Cette  poesie  artiflciellc  qui  a  garde  un  ton  popu- 
laire  est  vraiment  un  phenomene  curieux  et  qui  dorenavant  et,  sa,  place 
marquee  da/ns  l'histoire  litteraire,  du  moyen-dge.  A  propos  d'une  note  de 
votre  ouvrage,  pennettex-moi  de  vous  soumettre  une  opinion  un  peu  diffe- 
rente  de  la  votre.  Vous  proposex  (p.  36,  note  *)  une  explication  de  la  forme 
orthographique  lh,  nh,  qui  me  parait,  si  j'ose  le  dire,  un  peu  foreee.  Chi 
trouve  dans  les  Serments  de  842,  comme  vous  savez,  adjudha,  cadhuna, 
et  il  est  bien  vraisembldble  que  l'usage  de  l'h  apres  une  eonsonne  pour  en 
marquer  sa)is  doute  V amollissement  (an  =  d  doux)  ou  l'aspiration  (dh  = 
th  anglais)  est  emprunte  aux  langues  germaniques.  Le  texte  allemand  des 
Serments  en  offre  plusieurs  exemples.  Or  il  me  sonble  que  l'ancien  alle- 
mand solhe,  weihe  etc.  offre  mir  grande  analogie  de  sons  avee  le  lh  pro- 
veneal  (weihet;  melhor),  dout  tu  prononeiation  pouvait  bien  etre  un  peu  plus 
rüde  et  aspiree  qu'elle  ne  fest  maintenant.  Je  crois  (tone  que  ce  groupe- 
ment  de  lettres  pour  exprimer  VI  que  nous  appelons  mouille  est  emprunte 
ii  V 'allemand.  Le  nh  aurait  lu  meine  origine  (manhß,  etc.).  C'est  um 
pure  Hypothese,  que  vous   trounrr:    pinl-itre  mim issihle. 

J'udiuire  dans  nitre  ouvrage  l'exaetitude  et  In  beaule  de  ms  traduetions 
en  vers:  voilä  qui  sera  ä  tout  jamais  impossible  dans  noi/re  langue.  11  y 
a  un  romancero  portugais  d' Almeida-QarreU  que  je  >/e  connais  pas.  Les 
romanees  qu'il  contient  sont-elles  aneiennes,  et  eroyex-vous  quej'y  trouverais 
quelque  ehose  ä  prendre  pour  mon  Histoire  poitique  de  Charle- 
magne?  Cest  lä  mon  imique  oecupation  pour  le  moment,  et  j'ai  bien  de 
la  peine  ä  1/  truruiller  beaueaup  ici,  oü  je  manque  de  /irres;  c'est  un  sujet 
qui  precisemenl  m  peut  se  traiter  qu'ä  l'aide  dum  multitude  de  volumes 
en  toutes  langues;  je  suis  oblige  de  laisser  dans  mon  travail  bien  des  blancs 
qua  je  remplirai  plus  tard. 


92  Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez. 

Mon  depart  pour  Ga/n/nes,  qui  a  ete  lout-ä-fait  vmprevu  et  subit,  et  qui 
eoincidait  avee  eelui  de  M.  Herold  pour  Alger,  a  suspendu  pour  quelque 
temps  Vaffaire  de  la  traduetion.  Mais  nous  sommes  decides  ä  passer  untre 
et  ä  ne  tenir  um  im  compte  des  chieurus  de  M.  Weber,  i/ui  in  nous  sem- 
blent  aueunement  fondees.  Avez-vous  fa/it  avec  lui  u/n  traite  dans  lequel 
raus  lui  riilie:  votre  droit  d'autoriser  ime  traduetion?  Si  vons  ne  l'avi  t 
pas  fait,  il  vous  reste  plein  et  entier,  et  votre  permission  nous  sufßt  pleine- 
ment  pour  ein  dans  notre  droit  D'ailleurs,  le  titre  du  lim  ne  contient 
aucune  prohibition  de  traduetion,  et  dans  ce  cas-lä  la  loi  prussienne,  m'a- 
!-ii,i  assure,  ne  limine  aucun  droit  ä  l'editeur  original.  II  <  st  impossible 
qu'un  editeur  prussien  ait  en  Tirance  un  droit  qu'il  n'a  pas  dans  son 
pays.  Nous  sommes  donc  resolus  ä  imprimer.  Des  qut  jt  serai  de  retour 
ä  Paris,  e'est-ä-dire  dans  trois  semaines,  nous  allons  mettre  sous  presse, 
et  je  täeherai  de  faire  marcher  In  chosi   rondement,  um  fois  eommeneee. 

Portex-vous  Inen,  eher  Mmisieur.  enu/iuue:  ii  nous  rejouir  de  temps  ä 
untre  pur  un  heuu  /irre,  et  croyex-moi  bien  entierement  ä  vous 

G  Paris 

Diezens  Erklärung  der  portugiesischen  Darstellung  des 
mouillierten  l  durch  Ih  geht  bekanntlich  dahin,  es  sei  zunächst 
z.  B.  das  aus  lat.  meliorem  entstandene  Wort  mellior  geschrie- 
ben worden  mit  doppeltem  l  zur  Andeutung  der  Kürze  des 
vorangehenden  Vokals;  da  aber  diese  Schreibung  zu  der  irrigen 
Auffassung  hätte  verleiten  können,  als  sei  das  Wort  dreisilbig, 
so  habe  man  das  obere  Ende  des  i  durch  ein  horizontales  Strich- 
lein mit  dem  vorangehenden  l  verbunden,  und  die  so  verbun- 
denen zwei  Buchstaben  hätten  dann  ein  h  ergeben,  das  so  ent- 
standene h  aber  wäre  dann  auch  zur  Andeutung  entsprechenden 
Sachverhaltes  nach  n  verwendet  worden. 

Der  Romanceiro  von  Almeida-Garrett  ist,  soweit  er  ursprüng- 
liche Volksdichtung  enthält,  1851  erschienen  und  in  Deutsch- 
land durch  F.  Wolfs  Abhandlung  und  Übersetzungen  in  den 
Sitzungsberichten  der  philosophisch -historischen  Klasse  der 
Wiener  Akademie,  Bd.  XX  (1856),  bekannt  geworden.  Durch 
Wolf,  der  mit  P.  Paris  befreundet  war,  mag  auch  Gaston  von 
dem  Werke  erfahren  haben,  das  ihm  in  Cannes  wohl  nicht  zur 
Verfügung  stand.  In  der  Histoire  poet.  de  Charlemagne  sind 
den  portugiesischen  Romanzen  nur  wenige  Zeilen  (S.  216)  ge- 
widmet. 

Diezens  Brief  aus  Bonn  vom  23.  April  1864   an  G.  Paris: 

Theuerster  Freund! 

Ihren  mir  sehr  erfreulichen  Brief  vom  21. '  März  empfieng  ich  nach 
meiner  Rückkehr  von  einer  Reise  nach  Giefsen  vor  9 — 10  Tagen.  Das 
gegenwärtige  Schreiben  wird  Sie  nun  wieder  in  Paris  finden.  Hoffentlich 
hat  der  Aufenthalt  im  Süden  auf  die  Gesundheit  Ihrer  Frau  Mutter  den 
besten  Einflufs  gehabt! 

Ich  ersehe  aus  Ihrem  Briefe,  dafs  Hr.  Ebert  Ihnen  einiges  aus  meiner 
Recension  Ihrer   Schrift  De  l'aee.  lat.  mitgetheilt  hat.     Es  versteht  sich, 

1  Genauer  22. 


Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez.  93 

dafs  sie  nicht  anders  als  sehr  günstig  sein  konnte.  Wenn  aber  Hr.  E. 
sagt,  dafs  ich  viele  neue  Details  über  den  Gegenstand  mitgetheilt  habe, 

so  werden  Sie  sich  sehr  getäuscht  finden,  wenn  der  Aufsatz,  welcher  6 7 

Seiten  füllen  wird,  Ihnen  zu  Gesicht  kommt.  Ich  habe  nur  über  den 
Accent  in  der  provenz.  Mundart  einige  neue  Bemerkungen  gemacht. 
Aufserdem  habe  ich  einige  Fälle  berührt,  worin  ich  andere  Ansichten 
habe  als  die  von  Ihnen  ausgesprochenen:  ob  diese  Ansichten  die  richtigen 
sind,  wissen  die  Götter.  Andere  Ihrer  Bemerkungen  hoffe  ich  bei  andern 
Gelegenheiten,  ich  glaube  fast  immer  beistimmend,  berühren  zu  können. 
Dafs  Ihre  Arbeit  für  die  Sprachwissenschaft  bedeutend  ist,  habe  ich,  nach 
meiner  Überzeugung,  entschieden  ausgesprochen. 

Ich  habe  mit  Vergnügen  gelesen,  dafs  Sie  sich  für  mein  Werkchen 
über  altportugiesische  Poesie  interessiert  haben.  Mir  selbst  war  diese 
Litteratur  fremd  geworden,  als  ich  diese  Arbeit  anfieng,  daher  hat  sie  viel 
Zeit  gekostet.  Möchte  das  Büchlein  den  Erfolg  haben,  dafs  ein  tüchtiger 
Kenner  den  ganzen  Codex  vaticanus  herausgäbe!  —  Sie  fragen,  ob  der 
Rornanceiro  von  Garrett  auf  Karl  d.  Gr.  Bezügliches  enthalte.  Mir  ist 
das  Buch  nicht  zur  Hand,  ich  ersehe  aber  aus  Bellermanns  portugiesischen 
Volksliedern  (Leipz.  1864)  p.  268,  dafs  die  port.  Romanzen  dieses  Cyclus 
aus  Spanien  eingeführt  und  spanisch  vorhanden  sind.  Dahin  gehören  auch 
die  beiden  bei  Bellermann  abgedruckten  von  Gaiferos  u.  D.  Beitran.  — 
Was  Sie  mir  mittheilen  über  die  Schreibung  Ih,  nh,  nehme  ich  mit  Dank 
an  und  werde  es  zu  seiner  Zeit  überlegen.  Das  Sprichwort  sagt  doeendo 
discimus;  ich  glaube,  man  würde  mit  mehr  Wahrheit  sagen  dubitando 
discimus.  Wenigstens  macht  die  Wissenschaft  auf  dem  letzteren  Wese 
gröfsere  Fortschritte  als  auf  dem  ersteren. 

Es  ist  ein  schöner  Entschlufs,  dafs  Sie  die  Übersetzung  der  Rom. 
Gramm,  nicht  aufzugeben  gedenken.  Was  Ihre  Frage  betrifft,  so  bemerke 
ich,  dafs  ich  Herrn  Weber  das  Recht,  eine  Übersetzung  zu  autorisieren, 
nicht  abgetreten  habe.  Dieses  Recht  gehört  nämlich  in  Preussen  und  ohne 
Zweifel  in  ganz  Deutschland,  dem  Verleger,  nicht  dem  Verfasser; 
ich  konnte  es  ihm  also  nicht  cedieren.  Der  Ausländer  aber  ist  an  dieses 
Recht  des  deutschen  Verlegers  nicht  gebunden,  und  wenn  er  den  deut- 
schen Verleger  oder  Verfasser  um  ihre  Einwilligung  ersucht,  so  ist  dies 
eine  blofse  Sache  der  Höflichkeit.  Weber  gab  Hrn.  Scheler  diese  Ein- 
willigung, weil  er  juristisch  kein  Mittel  gegen  die  Übersetzung  hatte,  denn 
er  glaubte,  das  Buch  sollte  in  Belgien  erscheinen.  Ob  aber  ein  deutscher 
Buchhändler  eine  Übersetzung  in  Frankreich  hindern  kann,  ist  eine 
andere  Frage.  Dafs  der  Titel  des  Originals  in  diesem  Falle  das  Verbot 
der  Übersetzung  enthalten  müsse,  ist,  so  viel  ich  weifs,  nicht  nöthig.  Eine 
Hinterlegung  {consignation)  von  2  Exemplaren  des  Originals  bei  einem 
der  .Ministerien  zu  Paris  (ich  weifs  nicht  bei  welchem?)  ist  genügend,  und 
dies  hat  W.  gethan.  Alles  kommt  darauf  an,  was  in  dem  neuen  franzö- 
sischen Gesetz  unter  contrefacon  zu  verstehen  ist.  Doch  darauf  habe  ich 
Sie  in  meinem  letzten  Schreiben  bereits  aufmerksam  gemacht;  ich  wünschte 
auch,  dafs  Sie  Hrn.  Herold  darauf  aufmerksam  machten,  damit  er  in  kei- 
nen Schaden  käme,  denn  ich  halte  es  für  möglich,  dals  W.  deshalb  eine 
Klaue  bei  den  französischen  Gerichten  anstellen  könnte. 

Leben  Sie  nun  recht  wohl,  lieber  Freund,  und  behalten  mich  in  gutem 

Andenken.     Ganz  der  Ihrijre  m  ■  j      t^- 

Fnedr.  Diez. 


Paris,  ce  samedi  8  juillet  [l8i 

Voilä  bien  longtemps  queje  in-  raus  ai  ecrit,  mon  eher  maitre,  et  depuis 
ma  demiere  lettre  j'ai  ete  frappe  par  un  Iura  grand  malheur;  j'ai  perdu 
ma  pauvre  mere,  que  /uns  avea  eonnue.     Voilä  plus  de  quatre  mois  mamte- 


94  Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez. 

na/nt,  ei  je  commence  ä  me  relever  de  ce  coup  terrible.   Je  ne  doute  pas  que 
vous  ne  preniex  pari  ä  notre  affliction. 

Je  remets  ce  mot  ä  un  jeune  komme  qui  desire  beaueoup  vous  voir  et 
vous  e.iprinirr  sott  admirafion  pour  cos  travaux.  C'est  l'auteur  d'une  petite 
plaquette  sv/r  Brunea/u  de  Tours,  qu'il  vous  a  envoyee.  Je  lui  ai  dit  qu'il 
pouvait  compter  sur  un  hon  accueil  de  votre  part,  et  je  vous  assure  qu'il 
le  merite  ä  tons  egards. 

Mon  Cliarlemagne  va  enfin  paraitre;  il  m'a  pris  bien  du  temps  et  de 
la  peilte;  je  suis  ravi  d'en  etre  enfin  debarrasse.  Nous  donnerex-vous  bien- 
tdt  quelque  chose? 

Je  ne  sais  plus,  dans  ce  lotig  silence,  si  je  vous  ai  remercie  de  votre 
artiele  sur  mon  Accent.  En  tout  cas,  vous  jugex  combien  il  m'a  ete  pre- 
cieux;  vos  critiques  sont  d'une  valeur  qui  donne  plus  de  poids  ä  vos  eloges, 
et  je  donne  les  niains  ä  presque  toutes.  Combien  j'ai  ete  heureux  et  fier 
de  lire  ces  lignes  signees  d'un  tel  nom!  Une  partie  de  l'eloge  etait  düe 
sans  doute  ä  l'amitie,  mais  eelte  aniitie  aussi  etait  pour  moi  une  grandejoie. 

Si  je  pais  faire  ce  que  je  veux  (chose  rare!),  j'irai  vous  voir  vers  la 
ftn  de  septembre;  j'ai  envie  de  faire  un  tour  de  votre  cote,  et  d'aller  au 
congres  des  philologues,  qui  se  tient,  je  crois,  ä  Heidelberg. 

Adieu,  mon  eher  mailre;  portex-vous  bien  et  faites-nous  jouir  de  temps 
en  temps  de  quelque  produetion  nouvelle. 

Tout  ä  vous, 
0  Paris. 

Die  Jahreszahl  fehlt,  kann  aber  nur  1865  sein,  in  welchem 
Jahre  der  8.  Juli  in  der  Tat  ein  Sonnabend  war.  G.  Paris' 
Mutter,  deren  Tod  er  hier  beklagt,  hatte  Diez  1857  kennen  zu 
lernen  Gelegenheit  gehabt,  wo  sie  zusammen  mit  einer  Tochter 
einen  Aufenthalt  von  über  drei  Monaten  in  Bonn  machte; 
s.  P.  Rajnas  vor  der  Akademie  der  Crusca  am  27.  Dezember 
1903  gehaltene  Rede  S.  58  Anm.  41  und  S.  38  des  Sonderdrucks. 

Der  junge  Mann,  der  empfohlen  wird,  ist  Auguste  Brächet. 
Die  Broschüre  Etüde  sur  Bruneau  de  Tours,  trouvere  du 
XIII e  siede  war  1865  bei  Franck  erschienen;  s.  den  Nekrolog, 
den  ihm  1898  P.  M.  widmet,  in  Romania  XXVII,  517.  Auch 
von  ihm  besitze  ich  eine  Anzahl  an  Diez  gerichteter  Briefe 
(1867 — 71).  Über  den  freundlichen  Empfang,  den  er  bei  Diez 
fand,  s.  Paris'  Brief  vom  21.  November  1865. 

Einen  Dank  für  die  Besprechung  der  Schrift  über  den 
Akzent  hatte  Paris  im  Briefe  vom  22.  März  1864  ausgesprochen, 
aber  ohne  sie  noch  gelesen  zu  haben. 


Paris,  ce  21  novembre  [1S65], 
Gher  maitre, 

Vous  avex  sans  doute  recu  mes  deux  theses;  j'espere  que  l'Histoire 
poetique  de  Charlemagne  meritera  votre  suffrage.  J'ai  ete  souffrant,  bien 
que  sans  gravite,  pendant  les  vacances,  au  moment  oü  je  voulais  aller  faire 
un  tour  en  Allemagne;  je  me  promettais  un  grand  plaisir  ä  vous  voir; 
j'espere  que  mon  projet  de  voyage,  pour  etre  differe,  n'est  pas  per  du. 

Le  jeune  Brächet  m'a  donne  de  bonnes  nouvelles  de  vous;  il  a  ete  touche 
et  tres-reconnaissant  de  la  reeeption  que  vous  lui  avex  faite. 


Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez.  95 

Avex-vmis  recu  la  circulaire  que  je  vous  ai  fait  cnvoyer  au  nom  de  la 
Revue  Critique  dont  je  suis  un  des  fondateurs?  Nous  voulons  essayer  de 
repandre  en  France  les  bonnes  methodes  seientifiques  et  pour  cela  coin- 
mencer  par  faire  ä  la  fausse  science  une  guerre  acharnee.  II  faut  que  la 
critique  deblaie  le  terrain  avant  que  la  produetion  sc  developpc.  Nous  serions 
bien  flaues  si  vous  nous  permettie\  de  vous  mserire  parmi  les  collaborateurs. 
Vos  articles,  si  vous  nous  en  envoyiex,  seraient  traduits  en  franeais  avec  soin. 

A  cc  propos,  Yaffaire  de  la  traduetion  de  votre  Orammaire  revient  sur 
l'eau.  Herold,  le  libraire,  est  mort,  ainsi  que  Seheier;  mais  Vieweg,  sue- 
eesseur  dl Herold,  est  dans  les  meines  idees,  et  je  compterais  m'associer  pre- 
cisement  Brächet,  qui  seraif  heureux  de  prendre  part  ä  une  aeuvre  si  kono- 
rable  et  si  utile.  Vieweg  a  du  eerire  ces  jours-ei  ä  Weher  /mar  savoir 
defiuitivcmeid  le  prix  qu'il  demanderait  pour  autoriser  la  traduetion;  e'est 
lä  en  somme  le  noeud  de  la  question.  Je  n'ai  pas  besoin  de  vous  d/vre  que 
je  compte,  si  vous  etes  consulte,  que  vous  userex  de  votre  influenae  en  nutre 
faveur. 

■Tose  m'etonner,  eher  maitre,  de  n'avoir  pas  reeu  votre  opuscide  sur 
les  Olossaires  romans.  Je  l'ai  vu  ckez  le  libraire,  et  ce  que  j'en  ai  lu 
r.rrife  man  interet  au  plus  haut  point;  je  vous  serais  bien  oblige  de  me 
l'envoyer  au  plus  tot;  j'en  rendrais  compte  dans  la  Revue  Critique. 

Je  ne  vous  en  ecris  pas  j)lus  long,  parce  que  je  sais  que  mon  eeriture 
vous  fatigue  les  yeux.     Croyez-moi  bien  entierement,   eher  maitre  et  ami, 

Votre  devoue, 
G  Paris. 

Meyer,  qui  est  en  Angleterre,  m'ecrit  un  mot  oü  je  lis  ceei:  'Comment 
se  fait-il  que  M.  Diex,  n'ait  pas  reeu  d' exeniplaire  de  la  traduetion  de 
V Introduetion?'  Je  dis  ä  man  tour:  eomment  sc  fait-il  que  Meyer  eroie 
eela.  puisque  je  sais  tres-bien  que  M.  Diex  en  a  uu  exemplaire? 

Mon  adresse  est  actuellement  44,  rue  du  Cherche-Midi. 

Die  zwei  Thesen  siud  bekanntlich  die  Histoire  jooetique  de 
Charlemagne  und  die  Schrift  De  Pseudo-Turpino,  beide  1865 
erschienen.  Die  Revue  critique,  über  deren  Gründung  Rajna 
S.  31  ff.  handelt,  hat  1866  zu  erscheinen  begonnen  und  besteht 
bekanntermafsen  in  geachteter  Stellung  fort,  übrigens  seit  längeren 
Jahren  ohne  Beteiligung  Paris'  an  der  Redaktion.  Charles  Morel, 
geboren  den  20.  März  1837  in  Lignerolles  (Kanton  Waadt),  einer 
der  ersten  vier  Herausgeber,  gehörte  zu  dem  Kreise  pchweize- 
rischer  Freunde,  mit  denen  G.  Paris  schon  1856  in  Bonn  gern 
verkehrte;  er  starb  am  26.  Februar  1902  in  Genf,  wo  er  einer 
der  Redaktoren  des  Journal  de  Geneve  war.  Siehe  über  sein 
Leben  und  seine  vielfache  Tätigkeit  einen  Nekrolog  im  Bulletin 
Nr.  VIII  der  Association  pro  Aventico,  Lausanne  1903. 

Die  Altromanischen  Glossare  berichtigt  und  erklärt  von 
Friedrich  Diez  sind  in  Bonn  bei  Weber  1865  erschienen.  G.  Paris' 
Besprechung  des  kleinen  Buches  steht  im  ersten  Bande  der 
Revue  critique  S.  85 — 88. 

Der  Verleger  Herold  war  laut  dem  Brief  vom  22.  März 
1864  krankheithalber  nach  Algier  gereist  und  nunmehr  gestor- 
ben. Scheler  aber  war  nichts  weniger  als  tot,  hat  im  Gegenteil 
noch  jahrelang   eine   sehr  rührige  und  verdienstliche  Tätigkeit 


96  Brief e  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez. 

entfaltet  und  bis  1890  gelebt  (s.  den  Nekrolog  in  der  Romania 
XX,  180).  Wenn  Paris  hier  von  ihm  als  einem  Verstorbenen 
spricht,  so  meint  er  damit  wohl  nur,  dafs  er  für  das  geplante 
Unternehmen  ein  Abgeschiedener  sei.  Was  seinen  Zurücktritt 
veranlafste,  vermag  ich  nicht  zu  sagen.  Dafs  G.  Paris  wenig 
Wohlgefallen  an  Schelers  Schreibweise  hatte,  erhellt  aus  dem 
Briefe  ohne  Datum  vom  Sommer  1863;  vielleicht  war  auch  in 
Fällen  von  Meinungsverschiedenheit  mit  dem  zwanzig  Jahre 
älteren  Gelehrten  weniger  leicht  fertig  zu  werden  als  mit  dem 
1844  geborenen  Brächet.  Übrigens  war  auch  mit  diesem  Mit- 
bearbeiter des  ersten  Bandes  Paris  laut  dem  Briefe  vom  1.  Fe- 
bruar 1875  weit  weniger  zufrieden  als  mit  Morel-Fatio,  der  die 
beiden  anderen  Bände  übertragen  half.  Die  ganze  Sache  zog 
sich  sehr  lange  hinaus:  während  am  22.  März  1864  Paris  ge- 
glaubt hatte,  in  drei  Wochen  mit  dem  Drucke  des  ersten  Bandes 
beginnen  zu  können,  erschien  dieser  erst  1872;  der  zweite  und 
der  dritte  wären  nach  der  Bibliographie  1874  ausgegeben  wor- 
den, und  nach  dem  Briefe  vom  7.  Mai  1872  sollte  gemäfs  dem 
Vertrage  mit  dem  Ministerium  bis  zum  1.  Januar  1874  alles 
erschienen  sein;  aber  am  1.  Februar  1875  war  der  sechste  Bogen 
des  dritten  Bandes  noch  nicht  abgezogen.  Dafür  konnte  freilich 
die  dritte  Ausgabe  des  Originals  zur  Grundlage  dienen. 


Mon  eher  et  venire  maitre, 

Ma  somr,  qui  est  mariee  ä  Moscou,  vient  nous  voir  cette  annee  et  je 
vais  apres-demain  la  chercher  ä  Gologne.  Je  ne  veux  pas  passer  si  pres  de 
voits  sans  aller  voits  voir;  je  campte  arriver  ä  Gologne  dimanche  matin, 
aller  vous  dire  bonjour  ä  Bonn,  puis  retaurner  attendre  ma  soeur  au  train 
qui  arrive  de  Berlin  ä  Gologne  a  8  Innres  du  soi/r,  je  crois.  J'espere  voir 
ausst  M.  Delius,  dont  la  reeente  visite  ä  Paris  nous  a  fait  taut  de  plaisir. 

Pour  etre  sur  de  vous  trouver,  j'ai  cru  bien  faire  de  vous  ecrire  ce 
rnot  d'aoance;  attendex-moi  done,  suivant  toutes  les  vraisemblanres,  dimanche 
avant  midi,  et  croyex  que  je  serai  bien  heureux  de  vous  assurer  une  fois 
de  plus  de  mon  vif  et  respectueux  devouement. 

Gaston  Paris. 

Paris,  le  17  juin  IS  70. 

Dafs  Paris  Diez  auch  vorher  einmal  wiedergesehen  hatte 
und  zwar  in  Giefsen  ersieht  man  aus  dem  schon  oben  erwähnten, 
im  Journal  des  Debats  1894  gedruckten  Aufsatz  zur  hundert- 
sten Wiederkehr  von  Diezens  Geburtstag,  wonach  1866  ein  sol- 
cher Besuch  stattfand.  Der  Tatsache  gedenkt  auch  Diez  in 
einem  Brief  an  Bartsch  vom  28.  Oktober  1866,  den  Stengel  in 
seinen  Diez- Reliquien,  Marburg  1894,  S.  23  abgedruckt  hat. 
Dafs  er  auch  1870,  unmittelbar  vor  dem  Ausbruche  des  Krieges, 
in  Bonn  mit  seinem  Lehrer  zusammengetroffen  sei,  erwähnt  Paris 
in  jenem  Aufsatze  nicht.     Sollte  der   hier  so  bestimmt   in  Aus- 


Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez.  97 

sieht  gestellte  Besuch,  gar  nicht  erfolgt  sein?  Auf  der  Reise  zu 
der  geliebten  Schwester  in  Moskau  war  er  auch  1874,  als  er 
auf  kurze  Zeit  in  Misdroy  bei  mir  einkehrte  und  bei  dieser  Ge- 
legenheit durch  mich  auch  Karl  Müllerihoff  persönlich  kennen 
lernte.  Von  der  Frau,  die  die  letzten  Jahre  seines  Lebens  be- 
glückt hat,  war  er  begleitet,  als  ich  ihn  und  sie  1900  auf  ein 
paar  Tage  in  Berlin  beherbergen  durfte,  wohin  er  zum  Jubiläum 
der  Akademie  der  Wissenschaften  als  einer  der  Vertreter  der 
französischen  Akademie  entsandt  war. 


Paris,  ce  7  mai 
Mon  eher  maitre, 

Dnfin  nous  avons  conelu  avec  le  Ministere  un  traite  qui  assure  la  tra- 
duetion  de  votre  Grammaire.  Le  premier  volume  paraitra  le  1er  aout  (ce 
ne  sera  qu'un  demi-volume) ;  les  trois  volumes  doivent  avoir  paru  avant  le 
1er  janvier  1874.  E  n'est  que  temps,  cor  si  nous  avions  tarde  nous  aurions 
sürement  ete  devanees  par  les  Italiens.  II  est  vrai  que  ceux-ci  trouvent  une 
sorte  de  compensatio)!  dans  V  abrege  de  Fornacciaro;  ce  qu'il  a  ajoute  de 
son  cru  est  rare  et  mauvais:  e'est  etonnant  que  les  theories  extravagantes 
de  Nannucei  n'aient  pas  encore  ete  absolument  deracinees  en  Italic 

J'ai  ete  profondement  touclie  et  je  vous  suis  bien  reconnaissant  de  ce 
que  vous  me  dites  d'amical  dans  votre  lettre.  Pour  ce  qui  concerne  V  Alexis, 
la  critique  allemande  l'a  juge  en  gener al  avec  une  bienveillance  extreme  et 
nieme  exageree.  J'y  vois  ä  present  bien  des  erreurs  et  bien  des  lacunes; 
il  s'en  faut  que  j'aie  encore  atteint  cette  Einsieht  et  cette  Umsieht  qui  per- 
mettent  d'  embrasser  d'emblee  toutes  les  faces  d'une  question,  et  graee  aux- 
quelles  vos  ouvrages  ne  vieillissent  pas. 

J'espere  que  e'est  par  un  simple  oubli  que  vous  ne  me  dites  rien  du 
premier  numero  de  la  Romania;  s'il  ne  vous  etait  pas  parvenu,  je  vous 
demanderais  de  m'en  prevenir  par  un  simple  mot;  au  reste,  vous  devex 
maintenant  avoir  recu  aussi  le  second.  Nous  vous  prions,  Meyer  et  moi, 
de  vouloir  bien  aeeepter  cet  hommage.  Je  n'ai  pas  besoin  de  vous  dire  que 
si  vous  trouviex,  dans  vos  papiers  quelques  lignes  inedites,  nous  serions 
lieureux  et  honores  de  les  inserer. 

Quand  vous  me  dites,  mon  eher  maitre,  que  vous  ave%  ihr  Geschäft 
geschlossen,  j'espere  bien  que  ce  n'est  pas  taut  ä  fait  exaet.  Bauer  m'a  dit 
que  vous  lui  aviex  eerit  que  vous prepariex,unremaniement  des  Olossaires; 
ce  serait  la  un  travail  bien  preeieux,  ear  ä  mes  yeux  e'est  un  de  vos  ecrits 
les  plus  utiles  et  les  plus  admirables.  Combien  j'ai  senti,  en  essayant  d'y 
joindre  quelques  notes,  quelle  est  notre  inferiorite  ä  tous!  Quand  il  i/'// 
aurait  que  cette  erudition  si  vaste  et  si  variee,  ä  laquelle  le  special iste  le 
plus  laborieux  peut  ä  peine  ajouter  ea  et  la  quelque  chose,  ce  serait  un 
avantage  incommenstirable;  et  pourtant  ce  n'est  que  la  matiere,  qui  est 
mise  en  ceuwe  avec  une  penetration  et  une  ingeniosite  sans  egales. 

Je  me  permets  cependant  de  vous  eontredire  quelquefois,  bien  qu'en 
tremblant.  Sur  faxte  je  ne  doute  pas  de  votre  a/ppröbation,  mais  j'en  suis 
moins  sür  pour  navrer;  pourtant,  je  l'avoue,  nabager  me  parait  inad- 
missible. 

J'ai,  non  pas  une  demande,  mais  une  exposition  fort  indiscrete  ä  vous 
faire.  Je  n'ai  achete  ni  la  troisieme  edition  de  la  Qrammaire  ni  eelle  du 
Dietionnriire,  pensant  que peut-etre  vous  en  auriex  eu  un  exemplaire  ä  m'< i>- 
voyer.  Pour  In  Qrammaire,  Vieweg  m'n  fowni  des  feuilles  de  la  troisieme 
Mition  (tome  I),   qui  ont  servi  ä  l'impression  de  la  traduetion  et  sont  fort 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    CXV.  7 


98  Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrieh  T>'\ez. 

incompUtes.  Je  n'ai  aucunemmf  l'idee  de  ne  pas  aeheter  ees  deux  ouvrages, 
mais  il  hu  seradt  desagreable  de  les  aeheter  si  vous  aviex  peut-etre  l'inten- 
tion  de  me  las  donner,  et  vous  seriez  sans  doute  aussi  contraria.  G'est  ce 
qui  m'euhardit  ä  vous  parier  de  eet  incident,  auquel  je  vous  supplie  de  nat- 
facher  aucune  importance  queleonque.  Si  votre  editeur  ne  vous  donne  pas 
d'exemplaires,  voilä  Ja  ehose  flnie;  mais  dans  le  cas  contraire  peut-etre 
vous  reste-t-il  dans  un  coin  quelque  exemplaire  dont  vous  ne  faites  rien, 
et  qui  me  serait  doubletnent  precieux  s'il  portait  un  mot  de  votre  main. 

Mon  pere  a  ete  bien  sensible  ä  votre  souvenir;  il  se  parte  tres-bien  et 
travaille  a  un  ouvrage  de  longue  haieine  sur  les  romans  de  la  Table  Rande. 
B  a  passe  le  temps  de  la  guerre  en  Champagne,  et  n'a  pas  eu  materielle- 
ment  ä  souffrir,  bien  que  les  Allemands  aient  oeeupe  et  oceupent  encore 
notre  village  d' Avenay. 

Je  vous'  demande  reellement  pardon  de  fatiguer  vos  yeux  par  un  si 
long  griffonnage,  mais  il  nie  faut  encore  repondre  ä  une  question  que  vous 
m' adressez.  Je  suis  maintenant  professeur  suppleant  au  College  de  Frcmce 
et  directeur  -  adjoint  ä  l'Ecole  pratique  des  Jmutes  Etudes.  Mais  si  vous 
me  faites  le  grand  plaisir  et  le  grand  konneur  de  m'ecrire,  il  est  inutile 
de  mettre  ces  titres  sur  l'adresse;  ce  n'est  pas  ici  un  usage  comme  en  Alle- 
magne.  Quant  ä  man  adresse  actuelle,  c'est  rue  du  Regard,  7;  mon  pere 
demeure  au  n°  3  de  la  meme  rue  avec  ma  sozur,  chex  laquelle  je  prends 
mes  repas,  de  sorte  que  sans  etre  marie  j'ai  une  veritable  vie  de  famille, 
ce  qui  est  bien  doux  pour  un  travailleur. 

Je  vous  prierais  de  saluer  pour  moi  M.  Delius  et  M.  von  Sybel  si  je 

ne  savais  que  vous  les  voyez  rarement.    Pardonnex-moi  mon  indiscretion  ä 

laquelle  vous  ferex  bien  de  ne  faire  aucune  attention,  et  permettez-tnoi,  mon 

eher  et  venere  maitre,  de  me  dire  une  fois  de  plus,  ou  pour  mieux  dire  de 

plus  en  plus  Tr  ,  ,  .    -,, 

r  *  Votre  respectueusement  devoue, 

O  Paris. 

Der  Name  des  italienischen  Bearbeiters  lautet  richtig  E,af- 
faello  Fornaciari  und  der  Titel  des  Buches  Grammatica  storica 
della  lingua  italiana  estratta  e  compendiata  dalla  grammatica 
romana  di  Federigo  Diez.  Parte  1.  Morfologia.  Torino,  Fi- 
renze  e  Roma,  Loescher.    1872.    16°.    128  S. 

Die  deutsche  Kritik  hat  den  Alexis  nicht  anders  als  mit 
wärmster  Anerkennung  besprechen  können;  ich  erwähne  die 
Äufserungen  von  Mussafia  im  Lit.  Centralblatt  1872  Sp.  335 — 337, 
von  J.  B.  (Baechtold)  in  der  Augsburger  Allgem.  Zeitung  1872, 
1.  Mai,  und  meine  eigene  in  den  Göttinger  Gelehrten  Anzeigen 
1872,  Stück  23  S.  881—903,  die  nach  Romania  1,  398  meinem 
Freunde  offenbar  Freude  bereitet  hat. 

Bauer,  Alfred,  ist  der  Verfasser  der  1870  erschienenen  fran- 
zösischen Übersetzung  der  Altromanischen  Glossare,  zu  welcher 
Rönsch  und  Paris  Anmerkungen,  letzterer  aufserdem  eine  Vor- 
rede beigefügt  hatten.  Seine  Bedenken  gegen  Diezens  Erklä- 
rungen von  faite  und  von  navrer  hat  Paris  in  der  Romania 
I,  96  und  216  eingehender  dargelegt  und  ebenda  die  eigenen 
Ansichten  kennen  gelehrt  und  gerechtfertigt  (s.  dazu  Baist  in 
Gräbers  Zeitschrift  V  556  und  Romania  XXIII  493). 

Von  dem  'Schlufs  des  Geschäftes'  spricht  Diez  auch  in  einem 


/Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez.  99 

an  mich  gerichteten  Briefe  vom  Juni  1873,  Jessen  hergehörige 
Stelle  in  der  Zts.  f.  rom.  Philol.  VII,  489  Anm.  1  zu  lesen  ist. 
Das  Werk,  mit  dem  Paris,  der  Vater,  1872  beschäftigt  war, 
trägt  den  Titel  Les  romans  de  la  Table  Ronde,  mis  en  nou- 
veau  langage  et  accompagnes  de  recherches  sur  Vorigine  et  le 
caractere  de  ces  gr  arides  compositions,  Paris  1868 — 77,  fünf 
Bände.  Über  den  reichen  Ertrag  des  langen  und  arbeitsamen 
Lebens  (1800 — 1881)  handelt  der  Sohn  in  Romania  XI,  1 — 21 
(1882).  ______ 

Paris,  ce  1er  fevrier  1875. 
Mon  eher  et  venere  maitre, 

J'ai  ete  bien  heureux  d'apprendre  par  M.  Andresen  que  non-seulement 
vous  etes  en  bonne  sante  de  corps  et  d'esprit,  mais  vous  avex  entrepris  un 
nouveau  travail,  sur  le  rapport,  m'a-t-il  dit,  des  langues  romanes 
au  tat  in.  Gelte  question,  que  vous  avex  volontairement  omise  dans  la 
Grammaire,  preoecupe  actuellement  beaueoup  de  vos  eleves;  mais  tous  re- 
connaitront  que  e'est  au  maitre  ä  la  resoudre.  Ne  pensex-vous  pas  que 
ce  travail  dewait  figurer  dans  le  quatrieme  volume  de  la  traduetion  fran- 
caise,  qui  doit  eontenir  un  Supplement  ä  tont  l'ouvrage?  Mais  je  ne  sais 
si  votre  manuscrit  est  pret  ä  etre  imprime.  Au  reste  on  pourrait  traduire 
directement  sur  le  manuscrit,  si  vous  vouliex  me  l'envoyer.  La  Romania 
serait  aussi,  naturellement,  fort  honoree  de  le  publier. 

Je  vous  eeris  surtout  pour  vous  demander  un  eclaircissement  avant  de 
donner  le  bon  ä  tirer  de  la  sixieme  feuille  du  tome  III  de  cette  traduetion. 
Vous  dites  ä  la  p.  98  que  le  nominatif  ne  peut  etre  regi  par  aueun  autre 
mot.  Puis  vous  ajoutez:  'Da  er  indessen  xu  dem  Accus,  in  einem  Wechsel- 
n rhiiltnisse  steht,  und  logisches  Subject  iverden  kann,  so  darf  er  in  diesi 
Lehre  mit  aufgenommen  werden.'  Je  ne  comprends  cette  phrase  qii'en  ehan- 
geemt  Subject  en  Object.  Si  j'ai  raison,  il  est  inutile  de  me  repondre; 
mais  si  je  me  trompe,  et  que  le  texte  tel  qu'il  est  soit  bon,  je  vous  serai 
bien  oblige  de  me  le  faire  savoir  par  un  simple  mot. 

Au  reste,  ce  5«  volume  offre  des  diffhcultes  de  traduetion  toutes  parti- 
ikI  ii 'res.  La  langue  franpaise  est  si  peu  habituee  ä  traiter  ces  sujets  qu'il  faul 
ä  tout  moment  creer  des  mots  ou  trouver  des  equivalents;  et  nous  serons 
bien  loin  d'arriver  ä  rendre  ce  style  si  concis  et  en  meine  temps  si  anime. 

Je  vous  en  ecrirais  plus  long  si  je  ne  craignais  de  vous  fatiguer. 
Laissex-moi  seidement  vous  dire  que  je  vous  serais  bien  reconnaissant  cU 
m'indiquer  les  faules  que  vous  aurex,  remarquees  dans  les  deux  volumes 
imprimes.  Ellcs  doivent  surtout  etre  nombreuses  dans  le  premier,  pour 
lequel  j'avais  un  collaborateur  moins  exaet  et  moins  attentif  que  pour  les 
deux  antres. 

Je  serai  bien  heureux  d'apprendre  de  temps  en  temps  de  vos  bonnes 

nouvelles,  et  j'espere  bien  un  jour  ou  l' autre  aller  vous  voir.    Rappelex-moi 

au   bon  souvenir  de  votre  seeur,   si  eile  est  aupres  de  vous,    et  croye-x-iimi 

bien,  mon  eher  et  venere  maitre,  Jr  .      .,.-       --,v        . 

'  Votre  tout  devoue  eleve  et  ami, 

G  Paris. 

7,  nie  du  Regard. 

L'Academie  de  Baviere  m'a  fait  l'insigne  honneur  de  me  nommer  votre 
coiifrere.  Elle  a  maintenant  pour  assoeies  etrangers  deux  romanistes,  mais 
...  les  extremes  se  touchent. 

Paul  Meyer,  qui  sorl  de  chex  moi,  me  Charge  de  vous  presenter  ses 
respects. 

7* 


100  Briefe  von  Gaston  Paris  an  Friedrich  Diez. 

Mit  der  von  Diez  noch  in  Angriff  genommenen  Arbeit,  deren 
Hugo  Andresen  bei  G.  Paris  erwähnte,  kann  nur  die  noch  1875 
erschienene  'Romanische  Wortschöpfung'  gemeint  sein.  Sie  trägt 
übrigens  auch  den  Nebentitel  'Grammatik  der  Romanischen 
Sprachen.    Anhang'. 

Wenn  Paris  darüber  klagt,  dafs  die  einleitenden  Zeilen  des 
fünften  Kapitels  im  ersten  Abschnitte  der  Syntax  (III3,  96)  nicht 
verständlich  seien,  so  kann  man  ihm  nicht  ganz  unrecht  geben. 
Es  scheint  mir  aber  nichts  gewonnen  zu  werden,  wenn  man 
'logisches  Subjekt'  mit  'logisches  Objekt'  vertauscht.  Diez  hat 
hier  den  Ausdruck  'logisches  Subjekt'  blofs  in  etwas  anderem 
Sinne  gebraucht,  als  gewöhnlich  geschieht.  Er  denkt  an  solche 
Fälle,  wo  das,  was  in  einem  Satze  Objektsakkusativ  ist,  durch 
abweichende  Gestaltung  des  nämlichen  Gedankeninhalts  zum 
Subjekt  gemacht  werden  kann  (me  laudant  =  ego  Jaudor);  dem 
Gedanken  nach  (logisch)  ist  dann  Subjekt,  was  zuvor  Objekt 
war,  ist  freilich  auch  dem  sprachlichen  Ausdrucke  nach  (gram- 
matisch) Subjekt;  und  wir  pflegen  die  beiden  Ausdrücke  'gram- 
matisch' und  'logisch'  sonst  da  zu  gebrauchen,  wo  grammatischer 
und  logischer  Sachverhalt  nicht  übereinstimmen.  Diez  hat  wohl 
vorzugsweise  an  die  Fälle  gedacht,  von  denen  er  unter  Nr.  7 
des  dem  Akkusativ  gewidmeten  zweiten  Abschnittes  (S.  121)  jenes 
fünften  Kapitels  spricht  (corsero  la  strada  neben  la  strada  fu 
corsa). 

Berlin.  Adolf  Tobler. 


Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung.1 


Die  romanischen  Idiome  bieten  uns  ein  Beobachtungsfeld  von 
seltener  Ausdehnung  und  wunderbarer  Mannigfaltigkeit:  seit  2000 
Jahren  ertönt  die  Sprache  Roms  von  Lissabon  bis  Bukarest  und  von 
Sj^rakus  bis  Brüssel,  und  je  weiter  hinunter  wir  sie  verfolgen,  um  so 
verwickelter  wird  ihre  dialektische  Verzweigung. 

Diese  unübersehbare  Differenzierung  desselben  Sprachstammes 
ist  ein  linguistisches  Schauspiel,  wie  es  uns  keine  andere 
Sprachgruppe  in  so  durchsichtiger  Weise  vor  Augen  führt;  denn 
nicht  nur  gehen  sieben  romanische  Schriftsprachen  und  unzählige 
Dialekte  auf  ein  und  denselben  Mittelpunkt,  auf  Rom,  zurück,  son- 
dern —  was  andere  sprachliche  Disziplinen  so  schmerzlich  ver- 
missen — •  dieser  gemeinsame  Ausgangspunkt  ist  uns  in  sprachlicher 
und  kultureller  Hinsicht  ungewöhnlich  gut  bekannt. 

So  dürfte  wohl  die  romanische  Sprachwissenschaft  ganz  beson- 
ders dazu  angetan  sein,  die  Fragen  nach  dem  Wesen  der  Sprach- 
entwickelung fördern  zu  helfen. 

Die  sprachwissenschaftlichen  Probleme  zerfallen  in  allgemeine 
und  spezielle.  Unter  allgemeinen  verstehe  ich  hier  solche,  die 
mit  dem  Wesen  der  Sprache  direkt  zusammenhängen,  unter  spe- 
ziellen solche,  die  eine  Eigentümlichkeit  einer  engeren  Sprach- 
genossenschaft behandeln.  Da  wir  nun,  nach  moderner  Auffassung, 
das  Wesen  der  Sprache  auf  keinem  anderen  Weg  als  auf  dem  empi- 
rischen erforschen  können,  und  da  dieser  empirische  Weg  uns  not- 
gedrungen durch  die  Einzelsprache  hindurchführt,  so  folgt  daraus 
einerseits,  dafs  es  im  Grunde  keine  allgemeine  Sprachwissenschaft 
geben  darf,  die  nicht  die  Erforschung  der  Einzelsprache  zum  Aus- 
gangspunkt nimmt,  und  anderseits,  dafs  jede  einzelne  Sprache  oder 
Sprachgruppe  Probleme  allgemeiner  Natur  enthält,  die  der  betreffende 
Fachmann  im  Zusammenhange  mit  den  Grundfragen  des  Sprach- 
lebens zu  behandeln  die  Pflicht  hat.  Demzufolge  erscheinen  die  Spezial- 

1  Nachfolgende  Arbeit  ist  die  erweiterte  Form  der  akademischen  An- 
trittsrede, die  Verfasser  am  28.  Oktober  1904  an  der  Universität  Basel 
gehalten  hat.  Was  sich  darin  an  allgemeiner  Orientierung  und  dem  Ro- 
manisten Allbekanntem  vorfindet,  möge  der  Fachmann  durch  den  erwähnten 
Anlafs  gütigst  entschuldigen, 


102        Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung. 

forschungen  auf  dem  Boden  der  Einzelsprache  den  Wurzeln  und 
Fasern  eines  gewaltigen  Baumes  vergleichbar,  dessen  Stamm  die  all- 
gemeine Sprachwissenschaft  darstellt,  und  dessen  Knospen  und  Blüten 
uns  den  erwünschten  Aufschlufs  über  das  Wesen  der  Sprache  hoffen 
lassen.  Der  Stamm  ist  die  Fortsetzung  der  Wurzeln,  kein  Teil  des 
Ganzen  hat  Existenzberechtigung  ohne  den  anderen.  Der  einzel- 
sprachliche Forscher  darf  nicht  das  gemeinsame  Ziel  aufser  Augen 
verlieren,  er  darf  mit  seinen  Studien  nicht  —  um  im  Bilde  zu  blei- 
ben —  sich  unter  der  Erde  verborgen  halten,  er  mufs  hinauf  trachten, 
er  mufs  dem  Stamme,  und  womöglich  der  Krone,  seine  Kräfte  zu- 
fliefsen  lassen. 

Wie  der  eine  nach  oben  streben  soll,  so  darf  der  andere,  der 
mehr  spekulativ  angelegte  Sprachphilosoph,  niemals  den  Boden  unter 
den  Füfsen  verlieren;  je  tiefer  er  im  Boden  der  realen  Verhältnisse 
wurzelt,  je  überzeugender  werden  seine  Schlufsfolgerungen  sein. 

In  dieser  Beleuchtung  betrachtet,  erscheint  die  allgemeine  Sprach- 
wissenschaft als  selbständiges  Fach  wie  ein  übermenschliches  Unter- 
fangen. Wo  wird  sich  das  Gehirn  finden,  das  imstande  wäre,  alle 
uns  bekannten  Sprachen  und  Dialekte  wissenschaftlich  zu  bewäl- 
tigen ?  Zwar  tauchen  da  und  dort  derartige  Sprachengenies  auf,  die, 
mit  ungewöhnlichem  Wortgedächtnis  versehen,  erstaunliche  Leistun- 
gen aufweisen:  ich  erinnere  z.  B.  an  den  erst  vor  einiger  Zeit  ent- 
deckten Italiener  Trombetti,  der  sich  mit  dem  Wagemut  des  Auto- 
didakten an  das  Rätsel  aller  Rätsel,  der  Frage  nach  dem  'Ursprung 
der  Sprache',  herangewagt  hat.  Dazu  brauchte  es  die  ganze  Kühn- 
heit und  Energie  eines  aufserhalb  der  Zunft  Stehenden,  denn  bereits 
hatte  die  reguläre  Sprachwissenschaft  auf  die  Lösung  dieses  Grund- 
problems verzichtet.  Ob  die  kühnen  Hoffnungen,  die  Italien  auf 
die  Forschungen  Trombettis  setzt,  in  Erfüllung  gehen,  wird  erst  die 
Veröffentlichung  seines  Werkes  lehren. 

Nach  wie  vor  darf  gesagt  werden,  dafs  solche  umfassenden  Gei- 
ster selten  sind,  und  solange  die  Wissenschaft  auch  auf  die  Mit- 
arbeit gewöhnlicher  Sterblicher  angewiesen  ist,  so  lange  wird  der 
Grundsatz  non  multa  sed  multum  zu  gelten  haben. 

Tatsächlich  wird  es  auch  so  gehalten.  Die  Vertreter  der  allge- 
meinen Sprachwissenschaft  —  oder,  wie  sie  unzutreffenderweise  auch 
heifst,  der  'vergleichenden'  Sprachwissenschaft  — ,  sie  beschäftigen 
sich  durchaus  nicht  ausschliefslich  und  direkt  mit  den  Grund- 
problemen, sie  sind  auf  ihrem  Gebiet  ebensogut  Spezialforscher  wie 
Germanisten,  Romanisten  oder  Orientalisten,  nur  hat  ihr  Gebiet  viel 
weiteren  Umfang  sowohl  in  räumlicher  wie  in  zeitlicher  Beziehung. 
Sie  haben  es  sich  zur  Hauptaufgabe  gemacht,  die  indogermanischen, 
besser  indoeuropäischen,  Sprachen  in  grofsen  Zügen  zu  vergleichen, 
insbesondere  jene  grofse  Brücke  zu  schlagen  vom  Lateinischen,  Grie- 
chischen, Germanischen,  Keltischen  und  Slawischen  hinüber  zu  den 
indischen  und  iranischen  Sprachgruppen. 


Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung.        103 

Doch  ihre  Tätigkeit  beschränkt  sich  nicht  auf  die  historisch  be- 
legten Sprachen,  sie  nehmen  sich  immer  mehr  der  allzulange  ver- 
nachlässigten Idiome  der  sogenannten  Naturvölker  an. 

So  sehen  wir  denn,  dafs  auch  die  Sprachvergleicher  in  ihren 
Beobachtungen  auf  die  einzelnen  Sprachen  und  Dialekte  zurück- 
gehen, um  auf  Grund  möglichst  eingehender  Einzelkenntnisse  der 
Sprache  ihre  ewigen  Gesetze  abzulauschen. 

Es  kann  demnach  auch  kein  wesentlicher  Unterschied  in  Ziel 
und  Forschungsmethode  bestehen  zwischen  Indogermanisten  einer- 
seits und  den  Vertretern  engerer  Sprachgruppen  wie  germanische 
und  romanische  Sprachen  anderseits.  Alle  zusammen,  die  einen  nicht 
mehr  als  die  anderen,  sind  Sprachvergleicher,  die  an  der  Ähn- 
lichkeit und  Unähnlichkeit  der  Formen  und  der  Bedeutungen  die 
für  alles  postulierte  Gesetzmäfsigkeit  ergründen  und  so  ihre  Ein- 
sicht in  den  Gang  der  Sprachdinge  mehren  wollen. 

An  und  für  sich  eignet  sich  jede  Sprache,  jeder  Dialekt  in  glei- 
chem Mafse  zum  Studium  ebendieser  immanenten  Entwicklungs- 
gesetze. Tatsächlich  aber  verdienen  naturgemäfs  diejenigen  Sprachen 
den  Vorzug,  deren  Entwicklungsgang  wir  durch  mehrere  Jahrhun- 
derte hindurch  verfolgen  können,  und  deren  Wort-  und  Formen- 
material uns  jederzeit  und  in  vollem  Umfange  zur  Verfügung  steht. 
Wie  sollen  wir  Lautgeschichte  treiben  an  literaturlosen  Neger- 
sprachen, deren  ältere  Sprachformen  ein  für  allemal  spurlos  ver- 
klungen sind? 

Um  so  mehr  gewinnen  die  Kultursprachen  an  linguistischem 
Wert.  Aus  ihrem  Schofse  sind  die  meisten  Probleme  hervorgewachsen, 
die  heute  den  Sprachforscher  beschäftigen. 

Es  sei  heute  einem  Vertreter  der  romanischen  Sprachwissenschaft 
vergönnt,  ein  Problem  allgemeiner  Natur  aufzuwerfen  und  mit  Bei- 
spielen aus  seinem  Wissensbereich  zu  beleuchten. 

Was  ich  vorbringen  möchte,  betrifft  die  Methode  der  etymo- 
logischen Forschung.  Die  Wissenschaft  hat  die  Autorität  ab- 
geschafft. An  ihre  Stelle  ist  die  wissenschaftliche  Methode  getreten, 
die  jedoch,  im  Gegensatz  zur  früheren  Autorität,  stets  der  Nachprü- 
fung bedarf.  Im  folgenden  soll  ein  Teil  dieser  neuen  Autorität  in 
Wiedererwägung  gezogen  werden.  Es  handelt  sich  um  die  prinzipielle 
Frage:  welche  Bedingungen  müssen  erfüllt  sein,  um  von 
einer  Etymologie  sagen  zu  können,  sie  sei  richtig? 
3i  Die  erste  Antwort  des  heutigen  Linguisten  wird  lauten:  eine 
Etymologie  ist  dann  richtig  zu  nennen,  wenn  nachgewiesen  werden 
kann,  dafs  der  vorgeschlagene  Entwickelungsgang  sich  mit  den 
Lautgesetzen  im  Einklang  befindet. 

Aber  dürfen  wirklich  die  Lautgesetze  allein  den  Ausschlag 
geben?  Ist  das  Wort  auf  seinem  langen  Wege  durch  die  Jahrhun- 
derte nur  lautlichen  Veränderungen  ausgesetzt?  Geschieht  es  nicht 
sehr  oft,  dafs  auch  sein  Inhalt  sich  umgestaltet,  dafs  sein  Sinn  sich 


104        Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung. 

trübt,  ja  bis  zur  Unkenntlichkeit  verstümmelt  wird?  Wer  vermöchte 
auf  den  ersten  Blick  im  frz.  truie  'Mutterschwein'  die  glorreiche 
Hauptstadt  Kleinasiens,  Troja,  wiederzuerkennen?  oder  was  hat  eine 
Briefmarke  mit  einer  Pauke  gemeinsam?  Und  doch  kommt  das  frz. 
timbre  vom  griech.-lat.  tympanüm  'Handpauke'. 

Um  solche  Dinge  glaubhaft  zu  machen,  genügen  die  kabalisti- 
schen  Formeln  der  Lautgesetze  nicht  mehr.  Da  braucht  es  anderer 
Argumente  für  den  Uneingeweihten,  denn  nicht  am  Lautwandel 
dieser  Wörter  nehmen  wir  Anstofs,  sondern  an  dem  sonderbaren 
Wandel  ihrer  Bedeutung. 

Damit  sind  wir  am  strittigen  Punkt  unserer  Frage  angelangt: 
bedarf  nicht  auch  die  begriffliche  Seite  einer  Etymologie  des  aus- 
drücklichen Nachweises  ?  Und  ist  nicht  etwa  dieser  begriffliche  Nach- 
weis ebenso  notwendig  zur  Richtigkeit  der  Etymologie  wie  der  laut- 
liche Nachweis? 

Auf  die  erste  dieser  Fragen  wird  jeder  Etymologe  ohne  weiteres 
mit  ja  antworten,  selbstverständlich,  wird  er  sagen,  erst  wo  die  Be- 
deutungsentwickelung möglich  erscheint,  ist  die  vorgeschlagene  Her- 
kunft des  Wortes  gesichert. 

Über  die  zweite  Forderung  aber,  dafs  lautliche  und  begriffliche 
Prüfung  der  Etymologie  mit  gleicher  Strenge  durchgeführt  werden 
soll,  darüber  herrscht  Meinungsverschiedenheit,  darüber  gibt  es  einen 
längeren  literarischen  Handel,  der  sich  in  den  letzten  Jahren  von 
1899 — 1903  zwischen  zwei  hervorragenden  Vertretern  der  roma- 
nischen Sprachwissenschaft  abgespielt  hat;  die  beiden  Opponenten 
heifsen  Antoine  Thomas  und  Hugo  Schuchardt. 

Unsere  Aufgabe  wird  also  in  folgenden  Punkten  zu  bestehen 
haben : 

Zuerst  haben  wir  über  den  Verlauf  der  Kontroverse  zu  be- 
richten, dann  das  Dafür  und  Dawider  des  neuen  Postulates  abzu- 
wägen und  endlich  unsere  persönliche  Stellung  dazu  Ihrem  Urteil 
zu  unterbreiten. 

Bevor  wir  jedoch  an  diese  eigentliche  Aufgabe  herantreten,  sei 
es  mir  gestattet,  einige  Erwägungen  allgemeiner  Art  vorauszuschicken. 

Der  Hang  zum  Etymologisieren,  worüber  sich  kürzlich  Rudolf 
Thurneysen  in  einer  trefflichen  Schrift1  geäufsert  hat,  ist  eine 
psychologische  Erscheinung  von  besonderem  Interesse,  erstens  weil 
er  sehr  alt  und  zweitens  in  allen  Schichten  der  Bevölkerung  ver- 
breitet ist.  Der  Herkunft  der  Wörter  nachsinnen  ist  wohl  die  älteste 
Form  des  Nachdenkens  über  die  Sprache  und  zugleich  auch  die- 
jenige linguistische  Tätigkeit,  die  auszuüben  jeder  ein  göttliches 
Recht  zu  haben  glaubt. 

Wie  keck  oft  der  Volksgeist   dabei   zu  Werke  geht,   das  zeigt 


Die  Etymologie,  Prorektoratsrede  vom  11.  Mai  1904.    Freiburg  i.  B. 


Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung.        105 

uns  jene  eigenartige  Umbildung  der  Wörter,  die  man  Volksety- 
mologie nennt:  'Abendteuer'  aus  mhd.  aventinre  und  Armbrust  aus 
arcubalista  sind  allbekannt.  Einleuchtender  als  diese  beiden  Unideu- 
tungen ist,  was  der  Volkswitz  aus  dem  Philosophen  Leibniz  ge- 
macht hat:  er  nannte  ihn  in  Hannover  Lövenix,  der 'nichts  glaubt'.1 
Wir  alle  sind  Zeuge  gewesen  der  drolligen  Verstümmelungen  des 
Wortes  Influenza,  das  die  moderne  Medizin  vor  einigen  Jahren  un- 
bedachtsamerweise  ihrem  geheimen  Dossier  hat  entschlüpfen  lassen. 
In  Frankreich  geht  es  den  medizinischen  Ausdrücken  nicht  besser. 
Die  lesion  interne  'innere  Verletzung'  wird  im  Volksmunde  zu  legion 
d'internes;  die  potion  opiacee  'der  opiumhaltige  Trank'  zu  la  potion 
ä  pioncer;  das  delirium  tremens  zu  einem  wenig  einleuchtenden  de- 
lire  d'homme  tres  mince.  Den  'Tramway'  nennt  der  Pariser  gern  le 
trame-moi. 

Oft  begegnet  man  recht  sinnreichen  Deutungen:  die  Orange 
heifst  frz.  orange,  ital.  dagegen  arancio;  die  ital.  Form  ist  die  ur- 
sprüngliche, das  Wort  ist  arabischer  Herkunft.  Das  o  von  orange 
ist  ein  Anklang  an  or  'Gold',  offenbar  im  Gedanken  an  die  gold- 
gelbe Farbe  der  Frucht.  —  Der  Deutsche  sagt  Admiral,  der  Fran- 
zose amiral;  die  letztere  Form  ist  die  etymologisch  richtige,  auch 
dieses  Wort  ist  arabisch.  Trotzdem  kommt  unser  Admiral  aus  dem 
Französischen,  wo  es  im  16.  und  17.  Jahrhundert  so  hiefs  in  Anleh- 
nung an  admirer. 

Sicherheit  in  etymologischen  Dingen  ist  erst  eingetreten  durch 
die  Entdeckung  der  Lautgesetze:  d.  h.  seit  dem  ersten  Drittel  des 
vorigen  Jahrhunderts,  wo  die  drei  grundlegenden  Grammatiken  von 
Bopp,  Grimm  und  Diez  erschienen  sind,  der  erste  der  Begründer 
der  indogermanischen,  der  zweite  derjenige  der  germanischen  und 
der  dritte,  Diez,  der  Gründer  der  romanischen  Sprachwissenschaft. 

Diese  Entdeckung  spaltet  die  ganze  etymologische  Forschung 
in  zwei  Perioden:  in  eine  unkritische  vor  dem  19.  Jahrhundert 
und  in  eine  kritische  oder  wissenschaftliche  in  und  nach  dem 
19.  Jahrhundert. 

Das  Verfahren  der  unkritischen  Etymologen  ist  allbekannt:  es 
ist  dasjenige  des  Volkes  und  der  Kinder,  denen  sich  gelegentlich 
auch  ein  Reimkünstler  beigesellt;  da  wird  auf  gut  Glück  aus  äufser- 
licher  Ähnlichkeit  zweier  Wörter  auf  ihre  innere  Verwandtschaft  ge- 
schlossen, und  will  die  Deutung  nicht  recht  plausibel  erscheinen,  so 
werden  ganz  willkürlich  einige  Mittelglieder  erfunden.  Ein  typischer 
Vertreter  dieser  Methode  in  Frankreich  ist  Menage,  ein  Zeitgenosse 
Molieres.  Berüchtigt  ist  seine  Ableitung  von  haricot  'Bohne',  das  in 
allem  Ernst  vom  lat.  faba  stammen  soll,  und  zwar  auf  folgende 
Weise:  von  faba  'Bohne'  wird  gebildet  fabaricus,  dann  fabaricotus 
und  durch  Aphärese  aricotus,  haricot.    Kein  Wunder,   dafs  derselbe 

1  Siehe  L.  Feuerbach,  Sämtliche  Werke  G  S.V. 


106        Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung. 

Hexenkünstler  es  fertig  bringt,  frz.  rat  vom  lat.  müs  herzuleiten 
über  die  Zwischenglieder:  muratus,  ratus,  rat\ 

Wir  können  uns  nicht  enthalten,  dabei  an  das  bekannte  ukamrjt, 
'Fuchs'  erinnert  zu  werden,  und  begreifen,  wie  Voltaire  von  dieser 
Pseudowissenschaft  sagen  konnte:  c'est  une  science  oü  les  voyelles  ne 
fönt  rien  et  les  consonnes  fort  peu  de  chose. ' 

Solchem  planlosen  Tasten  gegenüber  war  die  Begründung  der 
Sprachwissenschaft  für  die  Etymologie  eine  erlösende  Tat.  Erst 
seit  dieser  Zeit  haben  sich  wieder  ernste  Geister  ihr  zugewandt.  Man 
hat  unter  dem  Einflufs  der  naturwissenschaftlichen  Methode  erkannt, 
dafs  auch  die  Wortveränderungen  nicht  ein  Spiel  des  Zufalls  sind, 
sondern  dafs  sie  gesetzmäfsig  verlaufen,  dafs  also  die  erste  Aufgabe 
des  Linguisten  darin  besteht,  diese  Sprachgesetze  aufzufinden.  Nur 
an  der  Hand  dieser  Gesetze  können  wir  die  Richtigkeit  einer  auf- 
gestellten Etymologie  ermessen,  und  wenn  noch  hie  und  da  die  alte 
etymologische  Kunst  ihr  Wesen  treibt,  so  wird  sie  ebensowenig  ernst 
genommen  wie  die  astrologische  neben  der  astronomischen  Wissen- 
schaft. 

Es  ist  bis  jetzt  noch  nicht  gelungen,  vom  Inhalt  eines  Wortes 
auszusagen,  er  müsse  im  Lauf  der  Jahrhunderte  in  dieser  oder  jener 
Richtung  sich  verändern,  wie  wir  es  von  der  Lautform  eines  Wortes 
leidlich  behaupten  können.  Das  wäre  das  Ziel  einer  wissenschaft- 
lichen Bedeutungslehre;  wir  stehen  kaum  in  den  ersten  Anfängen. 
Das  einzige,  was  man  erreicht  hat,  ist  die  Abgrenzung  der  verschie- 
denen Arten  von  Bedeutungswandel,  wie  sie  Darmesteter,  Paul, 
Wundt  (Völkerpsychologie  I,  2,  487  ff.)  u.  a.  aufgestellt  haben.2  'Die 
'Semasiologie  ist  ein  Stiefkind  der  Grammatik'  (man  lese:  Linguistik), 
beginnt  Hey  seinen  bemerkenswerten  Artikel  (Arch.  f.  lat.  Lexiko- 
graphie 9,  193).  Darüber  haben  sich  viele  Forscher  beklagt,  so 
Curtius,  Heyse,  Schleicher,  Geiger,  Steinthal,  Lazarus, 
L.  Tobler,  Heerdegen  u.  a.  (siehe  darüber  Hecht,  Die  griechische 
Bedeutungslehre,  Leipzig  1888). 

Ich  mufs  hier  einen  wichtigen  Unterschied  andeuten:  all  den 
genannten  Semasiologen  liegt  daran,  die  Arten  und  die  Ursachen 
des  Bedeutungswandels  zu  kennen  und  sie  mit  möglichst  vielen  Bei- 
spielen zu  belegen.    Für  die  Etymologie  wäre  ein  anderes  Verfahren 


1  Weniger  begreiflich  ist,  dafs  der  grofse  Dictionnaire  encyclopedique 
von  Larousse  in  dasselbe  Hörn  bläst  und  sagt:  quand  une  etymologie  est 
savante,  il  y  a  eent  ä  parier  contre  im  qu'elle  est  fausse.  —  Man  sieht,  wie 
lange  begangene  Sünden  nachwirken,  man  sieht  aber  auch,  wie  lange  es 
geht,  besonders  in  Frankreich,  bis  sprachwissenschaftliche  Erkenntnis  in 
solchen  Sammelwerken  Eingang  findet. 

'  Was  gewisse  Sprachforscher  wie  Whitney  und  von  der  Gabe- 
len tz  noch  bezweifeln,  ist  doch  wohl  nicht,  wie  Wundt  (Völkerpsychologie 
I,  2,  4)  anzunehmen  scheint,  die  Gesetzmässigkeit  der  Bedeutungsverände- 
ruugen  an  sich,  sondern  die  Möglichkeit,  die  in  Frage  stehenden  Erschei- 
nungen in  Gesetze  zu  fassen. 


Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung.        107 

erspriefslicher:  nämlich  statt  vom  Wort  vom  Begriff  auszugehen 
und  zu  zeigen,  mit  welchen  Mitteln  irgendein  Begriff  ausgedrückt 
worden  ist,  folglich  ausgedrückt  werden  kann. 

Vergegenwärtigen  wir  uns,  dafs  jedes  Wort  aus  zwei  Elementen 
besteht,  einem  lautlichen  und  einem  begrifflichen,  und  dafs 
diese  Elemente  gleichwertig  sind,  weil  weder  ein  Wort  ohne  Be- 
deutung noch  eine  Bedeutung  ohne  lautlichen  Halt  bestehen  kann, 
so  folgt  daraus,  dafs  Lautwandel  und  Bedeutungswandel  bei  der 
Etymologie  gleichmäfsig  berücksichtigt  werden  müssen. 

Ein  Beispiel  mag  das  veranschaulichen :  die  romanische  Sprach- 
wissenschaft behauptet,  das  frz.  chetif  'armselig,  schwächlich'  komme 
vom  lat.  captivus  'der  Gefangene'. 

Worauf  gründet  sich  diese  Behauptung?  Sie  gründet  sich  auf 
zweierlei  Erwägungen : 

Erstens  wird  gesagt:  das  neufrz.  chetif  ist  die  lautgesetzliche 
Entsprechung  des  lat.  *cactivus  für  captivus,  was  so  viel  bedeutet 
als:  die  Lautverbindung  *cactivu  konnte  im  Neufranzösischen  nichts 
anderes  ergeben  als  chetif,  denn 

1)  der  Nexus  ca  erscheint  regelmäfsig  nfrz.  als  che:  cabaUv  zu 
cheval,  capillu  zu  cheveu  auch  unter  dem  Ton:  caput  zu  chef,  carus 
zu  eher  und  nach  dem  Ton :  manica  >  manche,  dominica  >  dimanche ; 

2)  der  Nexus  act  wird  regelmäfsig  zu  aii,  daher  afrz.  chaitif 
prov.  caitiu,  man  vergleiche:  factu  frz.  faxt,  lade  frz.  lait,  tractu  frz. 
trait;  endlich  wird 

3)  -ivufs)  zu  if:  so  vivu  zu  vif,  tardivu  zu  tardif,  *restivu(s)  zu 
retif  'widerspenstig'. 

Damit  ist  die  lautliche  Entwickelung  von  *cactivus  zu  chetif  be- 
wiesen, willkürlich  bleibt  nur  noch  der  Schritt  von  captivus  zu  *cac- 
tivus.  Diese  Vertauschung  —  kt  für  pt  —  ist  noch  nicht  genügend 
aufgeklärt;  am  einleuchtendsten  ist  der  Vorschlag  Thurneysens,  der 
keltischen  Einflufs  annimmt  (s.  KeUor omanisches  S.  16),  dadurch  er- 
klärt es  sich  auch,  weshalb  das  ital.  cattivo  'schlecht'  und  das  span. 
cautivo  'gefangen',  wo  ja  keltischer  Einflufs  fast  ausgeschlossen  ist, 
auf  captivus,  nicht  auf  *cactivus  zurückgehen. 

Trotz  dieser  letzteren  Schwierigkeit  darf  man  also  die  Etymo- 
logie, chetif  aus  captivus,  vom  lautlichen  Gesichtspunkt  als  ge- 
sichert hinstellen. 

Was  sagt  zweitens  nun  die  Semasiologie  zu  unserer  Aufstel- 
lung? Captivus  heifst  gefangen,  chetif  bezeichnet  ein  armseliges, 
kränkliches  Wesen,  ein  erbärmliches  Ding.  La  chetive  pecore  nennt 
Lafontaine  den  unverständigen  winzigen  Frosch,  der  es  dem  dicken 
Ochsen  an  Leibesfülle  gleichtun  wollte.  II  a  chetive  mine  sagt  man 
von  einem,  dessen  Äufseres  unansehnlich  ist,  une  chetive  recolte  ist 
eine  magere  Ernte. 

Damit  sind  wir  ziemlich  weit  von  der  ursprünglichen  Bedeutung 
'gefangen'  abgekommen,  die  sich,   wie  bekannt,  im  gelehrten  captif 


108        Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung. 

erhalten  hat,  und  müssen  zugeben,  dafs,  wenn  uns  nicht  die  Laut- 
gesetze kategorisch  auf  captivus  hingewiesen  hätten,  wir  kaum  darauf 
verfallen  wären,  ein  Wort  von  der  Bedeutung  'gefangen'  zu  suchen. 

Und  so  geht  es  bei  den  meisten  etymologischen  Versuchen:  die 
Lautgestalt  des  Wortes  bringt  das  Gedächtnis  des  Forschers  in  Be- 
wegung, er  sucht  nach  einem  ähnlich  klingenden  in  der  älteren 
Sprache  —  er  braucht  dazu  ein  gutes  Stück  Phantasie  — ,  glaubt  er 
ein  Etymon  gefunden  zu  haben,  so  gilt  es,  an  Hand  von  vielen  Bei- 
spielen die  lautliche  Nachprüfung  vorzunehmen,  fällt  diese  günstig 
aus,  so  sucht  man  nachträglich  auch  die  Bedeutungs Veränderung, 
falls  eine  solche  vorhanden,  durch  ein  paar  mehr  oder  weniger  zu- 
treffende Definitionen  plausibel  zu  machen,  und  —  die  Etymologie 
ist  fertig. 

Was  wir  in  unserem  Falle  haben  sollten,  ist  ein  semasio- 
logisches  Gesetz,  das  da  sagt:  bedeutet  ein  Wort  'gefangen',  so 
geht  es  innerhalb  eines  gewissen  Zeitraumes  und  innerhalb  eines  ge- 
wissen Sprachgebietes  in  die  Bedeutung  'armselig'  über.  Ein  solches 
Gesetz  dürfte  sich  ebenbürtig  unseren  Lautgesetzen  an  die  Seite 
stellen  und  gäbe  für  jede  Etymologie  die  erwünschte  Kontrolle.  Doch 
das  ist  Zukunftsmusik,  vorläufig  haben  wir  keine  solchen  Gesetze, 
und  es  ist  auch  keinerlei  Aussicht  vorhanden,  dafs  wir  je  den  Be- 
deutungswandel mit  dieser  Präzision  in  Formeln  fassen  können. 

Kehren  wir  zu  unserem  'Gefangenen'  zurück. 

Worauf  stützt  sich  —  so  fragen  wir  auch  hier  —  die  Behaup- 
tung, 'gefangen'  sei  zu  'elend'  geworden?  Sie  stützt  sich,  abgesehen 
von  ihrer  logischen  Möglichkeit,  auf  eine  bis  jetzt  verschwiegene  Tat- 
sache: das  Altfranzösische  hat  nämlich  seinem  chaitif 'die  ursprüng- 
liche Bedeutung  noch  bewahrt,  und  bis  ins  15.  Jahrhundert  hinein 
lebt  die  Bedeutung  'gefangen'  neben  der  neufranzösischen  fort,  diese 
erscheint  jedoch  ihrerseits  schon  im  Rolandsliede,  wo  es  von  der  um 
ihren  Gatten  trauernden  Heidenkönigin  Bramimonde  heifst  (V.  2596): 

trau  ses  chevels  si  se  cleimet  caitive 

'sie  rauft  ihr  Haar  und  klaget  jämmerlich'.  Wir  konstatieren  somit, 
dafs  dieselbe  Lautform  während  mindestens  drei  Jahrhunderten  un- 
sere beiden  Bedeutungen  'gefangen'  und  'elend'  in  sich  vereinigte. 

Da  diese  Bedeutungen  sich  begrifflich  so  nahe  stehen,  wäre  es 
ebenso  sinnlos,  anzunehmen,  chaitif  'gefangen'  sei  ein  anderes  Wort 
als  chaitif  'elend',  wie  dies  auf  der  Hand  liegt  bei  cousin  'Vetter' 
und  cousin  'Stechmücke'  und  durch  die  verschiedene  Etymologie  — 
das  eine  von  consobrinus,  das  andere  von  culicinum  —  bestätigt  wird. 

Wenn  nun  dasselbe  Wort  mehrere  Bedeutungen  aufweist,  so  ist 
logischerweise  nichts  anderes  denkbar,  als  dafs  die  eine  von  der  an- 
deren abgeleitet  ist,  es  mufs  sich  somit  auch  die  allgemeinere  Be- 
deutung 'armselig'  aus  der  spezielleren  'gefangen'  herausentwickelt 
haben. 


Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung.        109 

Sie  haben  sich  vielleicht  schon  längst  gewundert,  dafs  ich  mit 
einem  ganzen  Apparat  von  Tatsachen  und  Überlegungen  aufrücke, 
"während  doch  die  Dinge  so  einfach  lägen,  und  sind  vielleicht  an  jene 
ersten  Geometriestunden  erinnert  worden,  wo  man  angehalten  wird, 
Dinge  zu  beweisen,  deren  Evidenz  man  deutlich  vor  Augen  sieht. 

Es  sei  ja  leicht  begreiflich,  werden  Sie  sagen,  es  liege  ja  in  der 
Sache  begründet,  dafs  das  Wort  'Gefangener'  den  Sinn  'armselig' 
annehme,  da  der  meist  schlecht  behandelte  Gefangene  sich  in  einem 
kläglichen  Zustande  befinden  müsse. 

Darauf  erlauben  Sie  mir  wohl  zu  antworten,  dafs  der  gesunde 
Menschenverstand  zwar  eine  unentbehrliche  Eigenschaft  jedes  wissen- 
schaftlich Arbeitenden  sein  soll,  dafs  aber  dieser  sogenannte  gesunde 
Menschenverstand  nicht  bei  jedem  gleichgeartet  ist  und  deshalb  nicht 
immer  das  zuverlässigste  Mittel  sein  dürfte,  um  die  Wahrheit  zu  er- 
forschen. 

In  unserem  Fall,  ich  gebe  es  zu,  streifen  die  Dinge  an  Evidenz. 
Sobald  ich  Ihnen  aber  mitteile,  dafs  captivus  im  Italienischen  'schlecht' 
(un  uomo  cattivo)  und  captiva  im  Sardischen  'Witwe'  bedeutet,  so 
werden  Sie  im  ersten  Augenblicke  kopfschüttelnd  einwenden,  das 
müsse  ein  anderes  Wort  sein,  es  seien  doch  nicht  alle  Gefangenen 
'schlechte  Menschen',  noch  werden  alle  gefangenen  Frauen  zu  Witwen. 

Was  uns  zu  trennen  scheint,  ist  der  Unterschied  zwischen  histo- 
rischer Argumentation  und  logischer  Argumentation,  zwischen 
einem  Tatsachenbeweis  und  einem  Deduktionsbeweis.  Letzterer  mag 
oft  geringere  Mühe  kosten,  denn 

Leicht  beieinander  wohnen  die  Gedanken, 
Doch  hart  im  Räume  stofsen  sich  die  Sachen, 

aber  in  jeder  empirischen  Wissenschaft  gilt  der  Grundsatz:  eine  ein- 
zige sicher  beobachtete  Tatsache  besitzt  mehr  Beweiskraft  als  die 
schönste  aprioristische  Deduktion. 

Wir  stehen  noch  am  Bedeutungswandel:  'gefangen'  zu  elend. 
Sehen  wir  uns  nach  weiteren  semasiologischen  Beweismitteln  um. 
Da  liefert  uns  das  Keltische  ein  frappantes  Analogon  (Thurneysen, 
Op.  cit.  p.  16  Anm.  1):  altirisch  cacht  aus  lat.  captus  hat  ebenfalls 
die  Doppelbedeutung  'gefangen'  und  'unglücklich,  elend',  wobei  die 
erstgenannte  gleichfalls  die  ursprünglichere  ist. 

Fügen  wir  dazu  das  deutsche  'elend',  ahd.  eli-lenti,  in  anderem, 
fremdem  Lande  befindlich,  'ausländisch',  auch  'gefangen'  bedeutend, 
so  können  wir  mit  ruhigem  Gewissen  sagen :  der  Bedeutungsübergang 
'gefangen'  zu  'elend'  ist  nicht  nur  logisch  wahrscheinlich,  sondern 
—  was  mehr  wert  ist  —  historisch  gesichert,  und  zwar  durch  drei 
Sprachen,  französisch,  keltisch  und  deutsch,  die  sich  in  der  Haupt- 
sache unabhängig  voneinander  entwickelt  haben. 

Summa  summarum,  die  Etymologie,  chetif  aus  captivus,  ist 
lautlich   und   begrifflich   kaum    anfechtbar,    und    Sie   werden    nach 


110         Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung. 

dem  Gehörten  der  romanischen  Sprachwissenschaft,  die  sie  aufstellt, 
recht  geben. 

Ich  war  bemüht,  Ihnen  für  dieses  Beispiel  das  ganze  Beweis- 
material vorzuführen.  Es  geschah  in  der  Absicht,  Ihre  Aufmerksam- 
keit auf  die  Verschiedenheit  der  Beweisführung  zu  lenken,  die  be- 
steht zwischen  lautlichem  und  begrifflichem  Nachweis. 

Jenem  stehen  Lautgesetze  zur  Verfügung,  die  eine  fast  absolute 
Kontrolle  ermöglichen,  während  diesem,  dem  Bedeutungsnachweis, 
nichts  Ähnliches  zu  Gebote  steht. 

Wir  sind  in  semasiologischer  Hinsicht  auf  dreierlei  Hilfsmittel 
angewiesen : 

1)  auf  Belegstellen  aus  der  Übergangszeit, 

2)  auf  Parallelentwickelungen  aus  anderen  Sprachen, 

3)  auf  aprioristische  Erwägungen. 

Bei  der  Etymologie  chetif  —  captivus  waren  wir  in  der  glück- 
lichen Lage,  die  beiden  ersten  Mittel  mit  Erfolg  anwenden  zu  können, 
und  so  konnten  wir  dem  gefährlichen  dritten,  der  blofs  logischen 
Konstruktion,  aus  dem  Wege  gehen.  Sehr  oft  aber  ist  dieses  dritte 
Mittel  die  letzte  Zuflucht  der  Etymologie. 

Wir  kehren  zu  unserer  Streitfrage  zurück  und  berichten  zuerst, 
was  über  dieselbe  geschrieben  worden  ist. 

Der  erste,  der  meines  Wissens  auf  diese  Ungleichheit  in  der 
Beurteilung  aufmerksam  machte,  ist  der  französische  Sprachvergleicher 
Michel  Breal,  der  das  grundlegende  Werk  von  Bopp:  Verglei- 
chende Grammatik  der  indogermanischen  Sprachen  ins  Französische 
übersetzte  und  dadurch  die  vergleichende  Sprachforschung  in  Frank- 
reich begründete. 

Michel  Breal  schrieb  im  Jahre  1889  einen  kurzen  Aufsatz,  be- 
titelt: De  l'importance  du  sens  en  etymologie  et  en  grammaire  (Mem. 
de  la  Soc.  de  linguistique  VI,  163  ff.).  Gleich  am  Anfang  heilst  es: 
il  y  a,  en  etymologie,  un  guide  dont  on  ne  tient  pas  assez  compte: 
c'est  le  sens  du  mot.  Darin  erzählt  er,  wie  Stowasser  das  lat. 
meridies  'Mittag'  aus  merus  dies  'heller  Tag'  ableitet,  entgegen  der 
gewöhnlichen  Etymologie  von  medius  dies  'die  Mitte  des  Tages'.  Diese 
letztere  Ableitung  hält  Breal  mit  zweierlei  semasialogischen  Gründen 
aufrecht. 

Erstens  verweist  er  auf  andere  Sprachen,  wie  wir  es  bei  chetif 
aus  captivus  getan  haben.  Der  Begriff  'Mittag'  wird  in  den  meisten 
Sprachen  durch  'Mitte  des  Tages'  wiedergegeben. l 

Zweitens  führt  er  die  logische  Wahrscheinlichkeit  ins  Feld.  Es 
ist  in  der  Tat  von  vornherein  wahrscheinlicher,  dafs,  um  die  Mitte 
des  Tages   auszudrücken,   sich  dies  mit  medius  zu  einem  Worte  ver- 


1  Nur  das   Baseldeutsche   macht  hiervon   eine   bemerkenswerte  Aus- 
nahme, indem  es  dr  ximmis  'zum  Imbifs'  sagt. 


Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung.        111 

binde  als  mit  merus,  das  seiner  Kernbedeutung  'rein,  unvermischt' 
nach  überhaupt  schlecht  zum  Begriff  dies  pafst. 1 

Auch  Schuchardt  spricht  sich  für  medius  dies  aus,  er  meint 
geradezu,  einem  anderen  Ursprung  nachsinnen  sei  chercher  midi  ä 
quatorze  heuresf 

Wir  können  uns  hier  nicht  darauf  einlassen,  die  lautlichen  und 
begrifflichen  Schwierigkeiten,  die  beide  Vorschläge  bieten,  gegen- 
einander abzuwägen,  der  Fall  meridies  ist  für  uns  hier  lediglich  von 
prinzipieller  Bedeutung.  Lautlich  ist  merus  dies  vorzuziehen,  begriff- 
lich ist  medius  dies  zu  erwarten. 

Darf  in  einem  derartigen  Falle,  wo  lautliche  Bedenken  bestehen, 
die  Semasiologie  den  Ausschlag  geben?  So  lautet  die  Frage.  Breal 
sagt  ja,  er  drückt  sich  folgen  dermafsen  aus:  on  a  bien  tort  de  re- 
pousser,  au  nom  des  lois  phoniques,  des  etymologies  qui  s'imposent. 

Diesen  Grundgedanken  nimmt  ein  Jahr  später,  1890,  Hugo 
Schuchardt  in  einem  seiner  zahlreichen  etymologischen  Artikel 
wieder  auf.  Wir  werden  uns  im  folgenden  hauptsächlich  mit  ihm 
zu  beschäftigen  haben. 

In  dem  erwähnten  Artikel  fragt  sich  Schuchardt,  weshalb  so 
viel  Etymologien  nicht  befriedigen,  ohne  dafs  man  ihnen  einen  eigent- 
lichen Verstofs  gegen  die  Herleitungskunst  nachweisen  könne.  Er 
sieht  den  Grund  hierfür  in  der  Unvollkommenheit  der  Kunst,  die 
auf  die  lautliche  Prüfung  mehr  Gewicht  lege  als  auf  die  begriffliche. 
Schon  hier  argumentiert  er  mit  demjenigen  romanischen  Worte,  das 
unbestreitbar  am  meisten  Tinte  hat  müssen  über  sich  ergehen  lassen, 
mit  it.  andare,  fr.  aller,  prov.  anar,  span.  andar,  nach  Schuchardt 
aus  lat.  ambulare. 

Dieses  berühmte  andare  -  Problem  ist  allerdings  ein  treffliches 
Beispiel  zugunsten  seiner  These.  Wenn  ambulare  das  richtige  Ety- 
mon ist,  so  hat  die  Phonetik  einmal  glänzend  unrecht,  und  die  Se- 
mantik feiert  einen  seltenen  Triumph.  Denn  man  mag  ambulare 
drehen  und  wenden  wie  man  will,  um  zu  andare  oder  zu  aller  zu  ge- 
langen —  nie  werden  die  gestrengen  Lautgesetze  ihre  Zustimmung 
geben ;  begrifflich  aber  gehört  diese  Herleitung,  auch  für  unser  Dafür- 
halten, zu  jenen  etymologies  qui  s'imposent,  von  denen  Breal  spricht. 
Wo  eben  so  starke  Gleichheit  der  Bedeutung  vorliegt,  wie  romanisch 
'gehen'  und  lateinisch  'wandeln',  da  müssen  die  Lautgesetze  den 
kürzeren  ziehen,  d.  h.  als  uns  noch  unvollständig  bekannt  angesehen 
werden.    Vgl.  E.  Bovet,  Ancora  il  problema  andare,  Roma  1901. 


1  In  einem  Punkte  hat  Bre\al  unrecht.  Er  sagt:  quand  il  s'agit  d'ex- 
pressions  aussi  precises,  on  ne  doit  pas  les  expliquer  par  des  ä  peu 
pres.  Dem  widersprechen  die  Tatsachen :  z.  B.  gerade  die  Bedeutungs- 
entwickelung von  irnbis,  das  zuerst  irgendeine  Mahlzeit  ohne 
nähere  Zeitbestimmung  bezeichnet,  dann  das  Mittagessen,  und 
schliefslich  wird  es  auch,  gerade  in  Basel,  für  Mittagszeit  ohne  Bezug 
auf  das  Essen  gebraucht. 


112        Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung. 

Vorderhand  bleibt  die  Schuchardtsche  Anregung  unbeachtet. 
Nur  gelegentlich  fällt  eine  Bemerkung  in  seinem  Sinne:  so  sagt  z.  B. 
Brugmann  im  Jahre  1895  (Anzeiger  f.  idg.  Sprach-  u.  Altertumskunde 
V,  17):  'Es  gibt  nicht  nur  Gesetzmäfsigkeiten  im  Lautwandel,  son- 
dern auch  gewisse  Regelmäfsigkeiten  in  den  Bedeutungsverschiebungen. 
Wie  jene,  so  hat  der  Etymologe  auch  diese  zu  berücksichtigen.'  Be- 
merkenswert ist  die  Abstufung  im  Ausdruck:  der  Bedeutungswandel 
zeigt  nur  'gewisse  Regelmäfsigkeiten' ! 

Ähnlich  äufsert  sich  ein  anderer  Indogermanist,  Osthoff.  In 
der  Vorrede  zu  seinen  Etymologischen  Parerga  I  (Leipzig  1901)  sagt 
er,  er  habe  'die  lautliche  und  morphologische  und  vor  allen  Dingen 
auch  die  begriffsgeschichtliche  Seite  der  in  Rede  stehenden 
Fragen  ...  erörtert.'  Er  wird  seinen  guten  Grund  haben,  weshalb  er 
gerade  die  semasiologische  Seite  so  stark  betont. 

In  den  Jahren  1898  und  1899  erschienen  die  'Romanischen 
Etymologien'  von  Schuchardt,  die  den  Kampf  eröffnen  sollten.  Dieser 
Kampf  erstreckt  sich  über  einen  Zeitraum  von  vier  Jahren,  er  spielt 
sich  ab  in  den  zwei  angesehensten  romanistischen  Zeitschriften,  von 
denen  die  eine  in  Deutschland  (Zeitschr.  f.  rom.  Phil),  die  andere  in 
Frankreich  (Romania)  erscheint.  Den  einen  Gegner  kennen  wir  be- 
reits, es  ist  Schuchardt.  Der  andere  ist  Antoine  Thomas.  Es 
sind  somit  zwei  gewiegte  Etymologen,  die  aneinander  geraten.  Wir 
wollen  versuchen,  sie  in  Kürze  zu  skizzieren. 

In  der  erwähnten  Sammlung  von  romanischen  Etymolo- 
gien finden  sich  zwei  prinzipielle  Erörterungen.  In  der  ersten  ver- 
wahrt sich  Schuchardt  dagegen,  dafs  bei  etymologischen  Fragen  der 
persönliche  Geschmack  des  Forschers  mitspielen  dürfe.  Ein  solcher 
Protest  sollte  überflüssig  sein,  auch  scheint  er  mehr  als  Veranlassung 
zu  einigen  etymologischen  Grundsätzen  zu  dienen,  von  denen  ich 
zwei  hervorhebe: 

1)  'Es  sei  bei  jeder  Etymologie  die  lautliche  und  die  begriff- 
liche Entwickelungsreihe  in  ihrer  Kontinuität  zu  Verfolgen.'  Darauf 
folgen  drei  Wortuntersuchungen.  Neu  ist  an  seiner  Darstellung  die 
scharfe  Trennung  der  lautlichen  von  der  begrifflichen  Besprechung 
des  Wortes.  Beiden  Elementen  wird  gleich  gründliche  Behandlung 
zuteil. 

2)  Es  sei  erste  Aufgabe  des  Etymologen,  die  Bedeutung  des 
Wortes  möglichst  genau  zu  ermitteln. 

Beide  Ratschläge  sind  alt  und  selbstverständlich.  Neu  und  ori- 
ginell ist  bei  Schuchardt  nur  die  Art  ihrer  Befolgung.  Den  ersten 
haben  wir  durch  chetif  —  captivus  zu  veranschaulichen  versucht; 
wie  er  den  zweiten  verstanden  wissen  will,  soll  uns  das  Wort  gilet 
zeigen. 

Das  franz.  gilet  wird  gewöhnlich  abgeleitet  von  Gilles,  lat.  Mgi- 
dius,  deutsch  Gilgen,  z.  B.  Sankt  Gilgen  eine  Sommerfrische  im  Salz- 
burgischen.    Gille(s)   ist  in  Frankreich   der  Name  einer  komischen 


Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung.        IIP. 

Figur  des  Jahrmarkttheaters  —  ein  Hanswurst,  der  eine  kurze,  ärmel- 
lose Weste  getragen  haben  soll,  daher  gilet  'Weste',  gerade  wie  das 
neufranzösische  Wort  für  'Hose'  pantalon  ganz  sicher  von  einer  ita- 
lienischen Theaterfigur  herrührt,  dem  Pantalone,  der  lange  Hosen  trug. 

Bis  dahin  scheint  bei  gilet  alles  sehr  einleuchtend.  Doch 
Schuchardt  will  der  Sache  auf  den  Grund  gehen,  er  sagt  sich:  wenn 
die  Weste  nach  diesem  Gille  benannt  wurde,  so  mufs  jene  Theater- 
weste von  besonders  auffallender  Gestalt  gewesen  sein.  Es  drängt 
ihn,  eine  solche  wirklich  zu  sehen.  Er  sucht  also  in  umfangreichen 
Kostümwerken  und  findet  nichts,  er  durchblättert  drei  Bände  von 
Stichen  Watteaus  und  findet  nichts,  endlich  schreibt  er  an  den 
Kostümverwalter  des  Theätre  francais,  der  ihm  freundlichst  einen 
Gille  von  Watteau  zuschickt.  Und  was  findet  er?  Das  so  mühsam 
gesuchte  gilet  entpuppt  sich  als  gewöhnlicher  langärmliger  Pierrot- 
rock, der  bei  niemandem  den  Eindruck  einer  Weste  erweckt. 

Diese  Etymologie  ist  also  sachlich  sehr  schlecht  gestützt.  Ihr 
gegenüber  steht  nun  erstens  das  türkische  Wort  yelek,  das  ebenfalls 
'Weste'  bedeutet  und  begrifflich  keinerlei  Schwierigkeiten  macht, 
zweitens  die  kulturhistorische  Tatsache,  dafs  verschiedene  Völker  die 
türkische  Weste  entlehnt  und  yelek  oder  ähnlich  benannt  haben.  So 
die  Griechen,  die  Albaner,  die  Rumänen,  die  Slawen,  ferner  die  Ita- 
liener (giuleceo)  und  die  Spanier  (gileco,  jaleco,  auch  chaleco).  Das 
Wort  für  die  türkische  Weste  wurde  sodann  auf  ähnliche  Kleidungs- 
stücke übertragen,  unter  anderen  auch  auf  die  in  Paris  aufkommende 
moderne  Weste,  die  von  da  an  bald  die  zivilisierte  Welt  eroberte. i 

Wir  müssen  also  wohl  auf  die  Ehre  verzichten,  in  einem  Hans- 
wurstkostüm herumzugehen,  und  müssen  uns  mit  einem  gilet  tür- 
kischer Abstammung  zufrieden  geben! 

Ein  anderes  Gebiet,  in  das  sich  Schuchardt,  der  Etymologie  zu- 
liebe, hineingearbeitet  hat,  ist  das  der  Fischerei.  Er  hat  dabei  einen 
kostbaren  Fang  getan,  den  er  uns  ebenfalls  in  seinen  'Romanisehen 
Etymologien'  vorführt:  es  handelt  sich  um  die  Herleitung  von  frz. 
trouver,  it.  trovare,  prov.  trobar  (daher  Troubadur  eig.  'der  Versfinder'). 
Dem  schon  erwähnten  an^are-Problem  6tellt  sich  das  trovare-Prohlem 
würdig  zur  Seite.  Da  es  zum  Hauptzankapfel  zwischen  Schuchardt 
und  Thomas  wurde,  mufs  ich  Sie  kurz  darüber  unterrichten. 

Das  Lateinische  hat  zwei  Wörter  für  'finden':  reperire  und  in- 
venire,  beide  sind  in  den  romanischen  Volkssprachen  spurlos  ver- 
schwunden. An  ihre  Stelle  getreten  ist  das  romanische  trovare.  Woher 
mag  es  gekommen  sein  ?  Es  stehen  sich  in  der  Hauptsache  nur  zwei 
Ableitungen  gegenüber:  die  alte  von  Diez  aus  turbare  'verwirren', 
dann  'durchstöbern',  'durchsuchen'  und  von  da  'finden',  und  die 
neuere  von  Gaston  Paris  aus  einem  hypothetischen  *tropare,  vom 


1  Lautlich  ist  das  zu  erwartende  *gilee  durch  Suffixvertauschung  zu 
gilet   umgewandelt  worden.     Man  vergleiche  it.  albercocco  mit  frz.  abricot. 

Archiv  i.  n.  Sprachen.    CXV.  8 


111        Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung. 

griecli.  Tonuoc  'Art  und  Weise',  das  bedeutet  hätte:  'Melodien  erfin- 
den', 'komponieren',  dann  'finden'  überhaupt.  Lautlich  ist  *tropare 
einwandlos,  begrifflich  fehlt  ebenfalls  nichts  als  der  Nachweis,  dafs 
es  so  gegangen. 

Schuchardt  nun  nimmt  die  Diezsche  Ableitung  aus  turbare  wieder 
auf.  Dabei  ist  ihm  zweierlei  gelungen:  erstens  hat  er  die  lautlichen 
Bedenken  bedeutend  reduziert,  und  zweitens  hat  er  den  Bedeutungs- 
übergang von  'verwirren'  zu  'finden'  in  hohem  Mafse  wahrscheinlich 
gemacht. 

Auf  die  lautliche  Seite  kann  ich  hier  nicht  eintreten.  Ganz  neu 
ist  nur  die  Begriffsentwickelung;  sie  ist  ein  Muster  von  Gründlich- 
keit und  überzeugender  Darstellung.  Turbare  'verwirren'  wurde  in 
der  Fischersprache  gebraucht:  turbare  aquam  hiefs  das  Wasser  ver- 
wirren, das  Wasser  durchwühlen,  trüben,  um  die  Fische  aufzuscheu- 
chen und  in  die  Netze  zu  treiben,  eine  bestimmte,  weitverbreitete 
Art  des  Fischfanges,  die  man  deutsch  'Pulsen'  nennt.  Turbare  verlor 
den  allgemeinen  Sinn  'verwirren'  (worin  es  bald  durch  turbulare, 
troubler  ersetzt  wurde)  und  wurde  ausschliefslich  Fischerausdruck ; 
daher  die  Schwierigkeit,  das  Wort  literarisch  zu  belegen.  Das  Pulsen 
nun  ist  eine  Art  des  Fischesuchens,  und  Fischesuchen  ist,  wenig- 
stens für  einen  Fischer  von  Beruf,  meist  mit  einem  Fischefinden 
verbunden.  —  Suchen  und  Finden  stehen  in  einem  eigentümlichen 
Verhältnis  zueinander;  bald  gegensätzlich,  wie  z.  B.:  ich  habe 
ihn  lange  gesucht,  aber  nicht  gefunden,  bald  eng  verwandt,  wie 
im  Sprichwort:  wer  sucht,  der  findet,  bald  identisch,  denn  man 
kann  ebensogut  sagen  'er  sucht  überall  Schwierigkeiten'  wie  'er 
findet  überall  Schwierigkeiten',  oder  Quellen  such  er  und  Quellen- 
finder. Jedes  Finden  ist  nichts  anderes  als  ein  mit  Erfolg  betrie- 
benes Suchen;  da  das  in  der  Fischerei  die  Regel  ist  —  wie  könnte 
es  auch  ohne  diese  Bedingung  ein  Lebensberuf  sein?  — ,  so  ist  die 
Vertretung  von  'suchen'  durch  'finden'  naheliegend,  und  Schuchardt 
ist  theoretisch  unwiderlegbar.  Der  letzte  Schritt  endlich  von  'Fische 
finden'  zu  'finden'  überhaupt  läfst  sich  durch  viele  Analoga  belegen. 
So  heifst  frz.  gagner  ursprünglich  'durch  Weiden  (dial.  durch  Säen, 
aspan.  durch  Mähen)  erwerben',  dann  überhaupt  'erwerben,  gewinnen'; 
arracher  ist  zuerst  'Wurzeln  ausreifsen',  dann  'ausreifsen'  schlechthin ; 
bechern  früher  nur:  'aus  Bechern  trinken',  heute  von  jedem  Trink- 
gelage gebraucht. 

Was  ich  oben  über  den  Begriffsübergang  von  'verwirren'  zu 
'finden'  wiedergegeben  habe,  umfafst  in  der  Schuchardtschen  Ab- 
handlung allein  131  wohldurchdachte  Druckseiten!  Um  über  das 
Fischtreiben  in  den  verschiedenen  Ländern  genau  unterrichtet  zu 
sein,  hat  er  die  Mühe  nicht  gescheut,  sieben  vielbändige,  in  sechs 
verschiedenen  Sprachen  geschriebene  Spezialwerke  über  Fischerei 
durchzusehen.  Wir  begreifen,  dafs  ihm  daran  gelegen  ist,  dafs  ein 
so  ungewöhnlich  zähes  Suchen  nun  auch  zum  Finden   geführt  habe. 


Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung.        115 

Die  französischen  Gelehrten  Gaston  Paris  und  Antoine  Thomas 
waren  nicht  dieser  Ansicht.  Thomas  äufserte  sich  1900  in  einer  Re- 
zension der  Schuchardtschen  Schrift  (Rom.  XXTX,  438).  Darin  inter- 
essieren uns  zwei  Punkte:  seine  prinzipielle  Stellung  und  seine  Ab- 
lehnung der  Schuchardtschen  Etymologie:  trouver  aus  turbare. 

Nachdem  er  dem  Grazer  Gelehrten  nach  französischer  Art  ein 
Kränzchen  gewunden  hat,  kritisiert  er  seine  Methode  f olgendermafsen : 
er  behauptet  1)  M.  Seh.  revendique  fierement  la  liberte  de  traiter  l'ety- 
mologie  ä  sa  guise,  2)  il  faii  trop  bon  marche  de  la  phonetique  und 
3)  La  semantique  a  trouve  en  lui  un  brillant  champion :  j'ai  bien  peur 
qu'en  voulant  conquerir  le  monde  pour  sa  dame,  il  ne  seme  les  ruines 
sur  sa  route,  was  so  viel  heifst  als:  Herr  Schuchardt  geht  in  etymo- 
logischen Dingen  eigenmächtig  vor,  er  nimmt  es  zu  leicht  mit  den 
Lautgesetzen,  er  wird  statt  Rosen  nur  Dornen  ernten.  Diese  drei 
Gedanken  zusammen  —  eine  ungünstige  Charakteristik,  ein  metho- 
discher Vorwurf  und  eine  schwarze  Prophezeiung  —  liefsen  natürlich 
die  lobenden  Worte  am  Anfang  als  Zucker  für  die  Pille  erscheinen. 

Nach  so  schwerwiegenden  Anschuldigungen  hätte  man  eine  ein- 
gehendere Kritik  der  Schuchardtschen  Etymologien  erwarten  dürfen. 
Auf  eine  Diskussion  über  turbare  läfst  er  sich  vorläufig  gar  nicht 
ein ;  er  sagt  nur  kurz  am  Schlafs :  je  ne  crois  pas  du  tout  ä  turbare, 
et  pour  rien  au  monde  je  ne  deserterais  *tropare,  que  la  pho- 
netique peut  seul  avouer. 

Noch  im  selben  Jahr  erfolgt  Schuchardts  Erwiderung:  'die 
Kritik  einer  Kritik',  ein  scharfer  Artikel.  Schuchardt  hatte  die  Pille 
trotz  der  Versüfsung  nicht  verschluckt,  er  antwortet:  seine  Methode 
sei  nicht  willkürlich,  aber  er,  Thomas,  trete  dogmatisierend  auf;  sein 
Dogma  sei  die  Superiorität  der  Lautgesetze  über  die  Gesetze  des  Be- 
deutungswandels, während  doch  Laut  und  Begriff  sich  aufs  innigste 
im  Worte  verbänden  und  beide  der  allgemein  postulierten  Gesetz- 
mäfsigkeit  unterworfen  seien.  Deshalb  habe  er,  Schuchardt,  sich  der 
Dame  Semantik  angenommen,  die  wie  ein  Aschenbrödel  behandelt 
werde,  und  wenn  auch  diese  seine  Dame  nicht  durch  äufsere  Reize 
glänze  wie  die  Dame  Phonetik,  die  sich  Thomas  auserkoren  habe, 
so  habe  sie  dafür  innere  Vorzüge,  die  ihre  Verehrer  reichlich  ent- 
schädigen. 

Daraufhin  wird  Thomas  etwas  alttestamentlich  und  sagt:  ä  mon 
avis  la  science  a  parle  par  la  bouche  de  Gaston  Paris  (Rom.  XXX,  154), 
wie  wenn  es  in  der  wissenschaftlichen  Forschung  Priester  und  Pro- 
pheten gäbe! 

Doch  damit  ist  der  Streit  nicht  beigelegt.  Schuchardt  ruht  nicht, 
bis  Thomas  antwortet.  Dieser  Zähigkeit  verdanken  wir  eine  weitere 
prinzipielle  Erörterung  (Zeitschrift  f.  rom.  Phil.  XXV,  244  ff.).  Sie 
hebt  an  mit  dem  seither  oft  zitierten  Satze:  'Lautgesetze'  werden 
nicht  unter  Donner  und  Blitz  verkündigt!  Mit  anderen 
Worten:   was  wir  als  'Lautgesetze'  proklamieren,   ist  menschlichen 

8* 


116        Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung. 

Ursprungs,  und  was  Menschen  geschaffen,  darf  nicht  auf  Unfehl- 
barkeit Anspruch  erheben,  also  sei  eine  jeweilige  Nachprüfung  dieser 
'Lautgesetze'  geboten.  Der  Philologe  erkennt  darin  den  Autor  der 
bekannten  Streitschrift  gegen  die  Junggrammatiker  'Über  die  Laut- 
gesetze' (Berlin  1885). 

Neben  diesen  noch  sehr  revisionsbedürftigen  Lautgesetzen  stän- 
den die  'Bedeutungsgesetze',  die,  wie  auch  Wundt  annehme,  in  glei- 
chem Mafse  die  Sprachentwickelung  beherrschten  wie  die  Lautgesetze. 
Er  fafst  sein  Postulat  in  folgendem  Satz  zusammen:  Bei  jeder  ety- 
mologischen Untersuchung  sind  Lautwandel  und  Be- 
deutungswandel miteinander  in  Einklang  zu  bringen, 
unkritisch  verfährt,  wer  den  einen  über  dem  anderen  vernachlässigt. x 

Diese  erneute  Proklamation  drückt  Thomas  wieder  die  Feder  in 
die  Hand.  In  seinen  'Problemes  etymologiques'  (Rom.  XXXI,  1  ff.) 
beharrt  er  auf  seinem  Standpunkt  von  der  Allmacht  der  Phonetik. 
Bezeichnend  ist  folgende  Stelle,  worin  er  die  Unmöglichkeit  von  tur- 
bare  —  trouver  darzutun  sucht;  er  sagt:  si  t urbare  ne  peut  pas  sup- 
porter Vexamen  phonetique,  il  ne  compte  plus,  il  est  mort.  II  peut 
avoir  beaucoup  de  qualites  par  ailleurs,  comme  la  jument  de  Roland; 
rien  ne  pourra  compenser  ce  terrible  defaut;  (car)  on  ne  peut  rien 
pretendre  en  etymologie  sans  l'aveu  de  la  phonetique; 
mais  la  phonetique  ne  sufßt  pas  ä  tout. 

Nach  Thomas  äufsert  sich  G.  Paris,  der  Autor  der  von  Schuchardt 
bekämpften  Etymologie  *tropare.  Auch  er  hält  an  seiner  Idee  fest, 
folgt  aber  Schuchardt  auf  das  ihm  eigene  Gebiet  des  Bedeutungs- 
wandels, was  Thomas  nicht  tut,  und  stellt  folgendes  fest:  Zur  Evi- 
denz der  Gleichung  turbare  =  trouver  fehlen  noch  zwei  Dinge: 

1)  der  historische  Nachweis,  dafs  turbare  im  romanischen  Sprach- 
gebiet den  Sinn  von  pulsen  angenommen  habe;  die  jetzigen  Sprachen 
und  Dialekte  brauchen  andere  Wörter; 

2)  der  semasiologische  Nachweis,  dafs  ein  .  Wort  für  'suchen' 
vollständig  —  nicht  nur  gelegentlich  —  die  Bedeutung  'finden'  an- 
genommen hat. 

Inzwischen  war  eine  interessante  Sammlung  wohlerwogener  Ety- 
mologien von  Thomas  erschienen  unter  dem  Titel:  Melanges  d'etymo- 
logies  francaises  (Paris  1902),  deren  Vorrede  eine  Art  sprachwissen- 
schaftliches Glaubensbekenntnis  enthält.    Es  heilst  da  u.  a. : 

Pour  echapper  ä  Verreur,  nous  avons  deux  guides  tres  precieux, 

1  Diese  Forderung  steht  im  Gegensatz  zur  herkömmlichen  Auffassung, 
wie  sie  sich  z.  B.  bei  Diez  ausspricht.  Diez  schreibt  im  Jahre  1853  (Vor- 
rede zum  Etym.  Wörterbuch  p.  XVII):  'Die  Etymologie  hat  ihre  wissen- 
schaftliche Grundlage  in  der  Lautlehre',  oder  p.  XV:  'Die  Form  bietet 
dem  Etymologen  überall  den  sichersten,  von  subjektiver  Auffassung  un- 
abhängigsten Anhalt.'  Dafs  die  Bedeutung  einigermafsen  stimmen  mufs, 
ist  selbstverständlich.  Dafs  sie  aber  eine  entscheidende  Rolle  spielen 
könnte,  scheint  für  Diez  ausgeschlossen  zu  sein,  wenigstens  berührt  er 
diesen  Punkt  mit  keinem  Wort. 


Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung.        117 

qui  sont  comme  les  yeux  de  l'etymologie:  la  phonetique  et  la  se- 
mantique. 

Bis  dahin  ist  jedermann,  auch  Schuchardt  einverstanden;  denn 
dafs  die  Etymologie  mit  einem  ihrer  Augen  schielen  könnte,  daran 
denkt  niemand!    Nun  fährt  aber  Thomas  fort: 

J'attache  un  prix  particulier  au  concours  de  la  phonetique;  je  me 
suis  applique  ä  vivre  en  hon  accord  avee  eile;  je  la  vener e  et  j'observe 
ses  lois  religieusement,  denn,  sagt  er  weiter  unten,  (ces)  lois  une  fois 
elaborees  ont  un  caractere  absolu,  was  Schuchardt  und  viele  mit  ihm 
energisch  bestreiten. 

Mit  weniger  Wärme  spricht  er  von  der  Semantik. 

La  semantique  est  inseparable,  eile  aussi,  de  la  recherche  etymo- 
logique,  ...je  ne  crois  pas  cependant  qu'elle  puisse  jouer  un  röle  aussi 
actify  aussi  decisif,  que  la  phonetique  ...  ä  cause  de  V extreme  fluidite 
des  elements  sur  lesquels  portent  ses  speculations. 

Noch  deutlicher  wird  die  Stellung  der  beiden  Mächte  im  Schlufs- 
satz  markiert,  wo  es  heifst: 

La  semantique  est  appelee  ä  rendre  de  grands  Services  a  l'etymolo- 
giste;  mais  il  faut  qu'il  sache  la  discipliner  et  lui  inspirer  l'esprit  de 
Subordination  vis-a-vis  de  la  phonetique. 

Da  haben  wir's  mit  unzweifelhafter  Deutlichkeit  ausgesprochen : 
der  Bedeutungswandel  hat  bei  der  Beurteilung  einer 
Etymologie  vor  dem  Lautwandel  zurückzutreten. 

Diese  Schrift  samt  Vorrede  veranlafst  Schuchardt  1902  zu  einer 
vierten  (und  nicht  letzten)  Auslassung.  Etymologische  Probleme  und 
Prinzipien  heifst  der  Artikel  (Ztschr.  f.  rom.  Phil.  XXVI,  385 — 427). 
Er  bringt  nicht  viel  Neues  für  uns,  die  wir  hier  auf  eingehende 
Diskussion  der  Beispiele  verzichten  müssen.  Nur  eine  Stelle  sei 
ihrer  Prägnanz  wegen  erwähnt.  Thomas  zitierend,  sagt  Schuchardt: 
'Wenn  turbare  die  lautliche  Prüfung  nicht  bestehen  kann,  so  ist  es 
tot.'  Gewifs,  aber  ebenso  gewifs  ist  *tropare  tot,  wenn  es  die  begriff- 
liche Prüfung  nicht  bestehen  kann.  —  Ob  aber  die  begriffliche  Prü- 
fung mit  gleicher  Sicherheit  durchgeführt  werden  kann  wie  die  laut- 
liche, das  sagt  uns  Schuchardt  nicht.  Wir  werden  auf  diesen  Punkt 
zurückzukommen  haben. 

Die  Thomassche  Theorie  von  der  Unterordnung  des  Bedeutungs- 
wandels widerlegt  Schuchardt  treffend  durch  das  Beispiel  cousin 
'Vetter'  und  'Mücke'.  Er  sagt:  Wenn  wir  nicht  wüfsten,  was  die 
beiden  cousin  bedeuten,  so  würden  wir  nie  und  nimmermehr  das  eine 
auf  consobrinus,  das  andere  auf  *culicinus  'Schnake'  zurückf ühren ; 
die  Phonetik  arbeitet  hier  unter  Oberleitung  der  Semantik. 

Damit  freilich  gibt  Schuchardt  seiner  eigenen  Methode  unrecht, 
die  beide,  Phonetik  und  Semantik,  gleichstellt. 

Schuchardt  könnte  seinen  Artikel  und  damit  seine  Polemik  mit 
Thomas  nicht  besser  beschliefsen,  als  er  es  tut,  nämlich  mit  einem 
Arbeitsprogramm. 


118        Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung. 

Die  wissenschaftliche  Arbeit  hat  sich  stets  zu  verjüngen,  so  un- 
gefähr führt  er  aus:  Was  tun,  um  den  Gesetzen  des  Bedeutungs- 
wandels beizukommen?  Das  Auseinanderweichen  der  Laute  darf 
die  Sprachgeschichte  nicht  ausfüllen;  das  Auseinanderweichen  der 
Bedeutungen  (und  der  Ausdrucksweisen)  verdient  nicht  minder  eine 
systematische  Betrachtung.  Frisch  auf  denn  zur  Arbeit,  ruft  es 
uns  aus  seinen  Worten  zu.  Das  Feld  liegt  brach,  es  ist  in  doppelter 
Richtung  zu  durchpflügen :  einmal  sind  innerhalb  der  einzelnen  Sprach- 
gemeinschaft die  Wörter  nach  Begriffsgruppen  zusammenzustellen, 
um  so  die  gegenseitige  Beeinflussung  in  lautlicher  und  begrifflicher 
Hinsicht  ermessen  zu  können,  und  anderseits  sind  die  Ausdrücke  für 
die  gleichen  Begriffe  in  den  verschiedenen  Idiomen  zu  sammeln, 
um  so  für  die  Wahrscheinlichkeit  oder  Unwahrscheinlichkeit  eines 
vorgeschlagenen  Bedeutungswandels  einen   Mafsstab  zu  bekommen. 

Dieser  Vorschlag  deckt  sich  auffallend  mit  dem,  was  Brugmann 
sieben  Jahre  vorher  gesagt  hat  {Idg.  Forsch.  V  [1895],  Anz.  S.  17). 
Brugmann  äufsert  sich  etwa  folgendermafsen :  'Eine  systematische 
Bearbeitung  der  Bedeutungslehre  ...  ist  notwendig  für  die  gedeih- 
liche Weiterentwickelung  der  wissenschaftlichen  . . .  Etymologien.' 
Und  weiter  unten:  'Durch  semasiologische  Untersuchungen  (nach  Be- 
griffsgruppen) gewinnt  der  Etymologe  nicht  nur  Kriterien  zur  Ent- 
scheidung über  Wahrscheinlichkeit  und  Unwahrscheinlichkeit  von 
vorliegenden  Versuchen,  sondern  solche  Forschungen  haben  auch 
heuristischen  Wert  für  die  Auffindung  der  Grundbedeutung  der 
Wörter.' 

Beide  Gelehrten  kommen  so  in  ganz  verschiedenem  Zusammen- 
hang zum  gleichen  Schlufs:  nur  eine  systematische  Behand- 
lung des  Bedeutungswandels  kann  zur  gewünschten  Sicher- 
heit im  Urteil  führen. 

Was  sagen  nun  die  französischen  Gelehrten  zu  diesem  versöhn- 
lichen Ausblick  in  die  Zukunft? 

Thomas  (Rom.  XXXI,  625  ff.)  lenkt  etwas  ein.  Auf  die  62  Seiten 
der  'Etymologischen  Prinzipien'  Schuchardts  antwortet  er  mit  einer 
halben  Seite,  auf  der  er  die  prinzipielle  Forderung  Schuchardts  mit 
den  Worten  abtut:  des  considerations  bonnes  ä  mediter!  —  G.  Paris 
beschränkt  sich  auf  die  Diskussion  des  Bedeutungswandels  von  tur- 
bare.  In  einer  späteren  Notiz  (Rom.  XXXI,  646)  bekennt  er  Farbe; 
er  steht  auf  dem  Standpunkte,  den  Thomas  in  seiner  Vorrede  ein- 
nimmt. Die  Semantik  wirkt  wie  ein  heimtückischer  Sirenengesang. 
'On  doit  souvent/  sagt  er,  'boucher  ses  oreilles  aux  plus  seduisantes 
propositions  de  la  semantique. 

Was  von  da  an  noch  hüben  und  drüben  geschrieben  wird,  ist 
für  uns  belangloses  Nachspiel.  Schuchardt  wundert  sich  über  die 
'starre  Einseitigkeit'  von  G.  Paris  (Zeitschr.  f.  rom.  Phil.  XXVII,  97), 
und  darauf  folgen  ein  paar  rein  referierende  Zeilen  in  der  Romania 
(XXXII,  5)  über  den  Artikel  Schuchardts. 


Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung.        119 

So  endet  der  mit  einem  stattlichen  Bande  begonnene  Prinzipien- 
kampf in  ein  paar  Einzelbemerkungen. 

Wir  haben  einem  'richtigen  Gelehrtenstreit'  beigewohnt,  bei  dem 
es  nicht  ohne  Menschlichkeiten  abging.  Er  hat  auch  das  Typische 
an  sich,  dafs,  wenn  auch  der  Streit  selber  fertig  ist,  die  Streitfrage 
deshalb  noch  lange  nicht  zum  Abschlufs  gekommen  ist. 

Koordination  oder  Subordination  der  Semantik?  so  tönt 
es  durch  die  ganze  Polemik  hindurch.  Der  deutsche  Gelehrte  ver- 
langt gebieterisch  das  erstere,  die  französischen  das  letztere.  Wer  hat 
recht?  Bis  jetzt  hat  meines  Wissens  niemand  direkt  zur  Schuchardt- 
schen  Alternative  Stellung  genommen.  So  wollen  wir  denn  unser- 
seits eine  Lösung  versuchen. 

Ich  sagte  vorhin  absichtlich  zur  Schuchardtschen  Alternative, 
denn  er,  nicht  Thomas,  hat  sie  aufgestellt.  Thomas  hat  sich  erst  auf 
das  Drängen  seines  Gegners  hin  über  das  Rangverhältnis  geäufsert, 
mehr  'der  Not  gehorchend  als  dem  eigenen  Triebe'. 

Bevor  wir  uns  für  Koordination  oder  für  Subordination  ent- 
scheiden, mufs  die  Vorfrage  gestattet  sein,  ob  überhaupt  Phonetik 
und  Semantik  Dinge  seien,  die  unbedingt  in  einem  Rangverhältnis 
stehen  müssen. 

Vergessen  wir  nicht,  dafs  Phonetik  und  Semantik  Sammelnamen 
sind  für  alle  diejenigen  Argumente,  die  der  Etymologe  der  Laut- 
geschichte und  der  Bedeutungsgeschichte  entnimmt.  Besteht  ein 
Rangverhältnis,  z.  B.  das  der  Subordination,  so  heifst  das  im  kon- 
kreten Falle:  jedes  lautliche  Argument  hat  von  vornherein  mehr  Be- 
weiskraft als  das  begriffliche.  Anders  kann  ich  mir  die  Unterordnung 
nicht  vorstellen. 

Greifen  wir  auf  captivus  zurück.  Das  Palatalisierungsgesetz  — 
k  zu  ch  —  ist  eins  der  wichtigsten  Lautargumente,  wenn  bewiesen 
werden  soll,  dafs  chetif  auf  captivus  zurückgeht.  Halten  wir  daneben 
ein  begriffliches  Argument:  z.  B.  dafs  Gefangene  meist  elend  dran 
sind.  Wer  möchte  hier  entscheiden,  ob  das  lautliche  Argument  stär- 
ker, gleich  stark  oder  weniger  stark  ins  Gewicht  falle  als  das  be- 
griffliche? Denn  hätten  wir  statt  chetif  z.  B.  *petif,  so  käme  cap- 
tivus ebensowenig  in  Betracht,  wie  wenn  es  nicht  wahr  wäre,  dafs 
Gefangene  meist  elend  dran  sind.  Stellen  wir  aber  dem  Palatali- 
sierungsgesetz eine  andere  semasiologische  Tatsache  gegenüber,  z.  B. 
dafs  chetif  noch  im  Altfranzösischen  'gefangen'  heifst,  so  wird  man 
zugeben  müssen,  dafs  dieses  letztere  Argument  seinem  lautlichen 
Partner  an  Beweiskraft  erheblich  nachsteht.  Denn  wäre  uns  auch 
zufälligerweise  diese  altfranzösische  Bedeutung  nicht  überliefert,  wir 
würden  doch  an  captivus  festhalten. 

Anders  liegen  die  Dinge  bei  ambulare  —  aller.  Da  erscheinen 
alle  lautlichen  Bedenken  untergeordneter  Art  vor  der  einen  grofsen 
Tatsache,  dafs  ambulare  annähernd  die  gleiche  Bedeutung  hat  wie 
das  Verbum  für  'gehen'  in  den  romanischen  Sprachen.    Da  hat  die 


120        Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung. 

Phonetik  zu  schweigen  vor  der  Allgewalt  der  Semantik,  ein  einziges 
begriffliches  Argument  kann  hier  die  bestbelegten  Lautgesetze  über- 
tönen. Also  nicht  mehr  Koordination,  sondern  Subordination,  nur 
im  umgekehrten  Sinne. 

Ist  auch  Thomas  mit  aller  aus  ambulare  nicht  einverstanden,  so 
ist  er  es  doch  mit  dem  schon  berührten  cousin  aus  consobrinus,  wo 
Schuchardt  ausdrücklich  die  Oberleitung  der  Semantik  feststellt. 

Aber  auch  die  starke  Betonung  des  Begrifflichen  hat  ihre  Ge- 
fahren. So  sagt  Breal  (Op.cit.'p.  165):  ...  Vallemand  elf,  zwölf  doit 
caeher  le  nom  de  nombre  {dix'  dans  ton  If  final,  goth.  lif.  Quelque 
difficulte  qu'on  puisse  avoir  avec  la  phonetique  en  presence  de  l'equation 
taihun  =  lif,  je  penche  a  priori  pour  V affirmative,  en  vertu  d'une 
certitude  qui  a  bien  sa  valeur  aussi,  la  certitude  mathematique. 
Breal  hat  zwar  mathematisch  richtig  gerechnet,  aber  die  Rechnung 
ohne  den  Wirt  gemacht.  Die  moderne  Forschung  weifs  nichts  von 
einer  Bedeutung  'zehn';  zu  einem  sicheren  Grundwort  ist  sie  aller- 
dings auch  nicht  gekommen.  Das  Schweiz.  Idiotikon  (I,  283)  sieht 
in  dem  lif  den  Stamm  von  mhd.  beliben  'bleiben',  elf  wäre  somit  = 
eins  bleibt  noch,  eins  noch  übrig  (von  den  zehn,  über  die  man  be- 
reits hinweggezählt  hat).  Eine  onomasiologische  Studie  über  die  Zahl- 
wörter könnte  hierüber  Aufklärung  bringen. 

Wir  sehen,  dafs  das  Verhältnis  der  beiden  Argumentationen 
kein  konstantes  ist;  bald  sind  die  lautlichen  Gründe  stichhaltiger, 
bald  die  begrifflichen,  einen  absoluten  Mafsstab  für  beide  gibt  es 
nicht,  somit  auch  kein  absolutes  Rangverhältnis. 

Es  möchte  sich  damit  ähnlich  verhalten  wie  bei  der  pädago- 
gischen Streitfrage,  ob  die  körperliche  Ausbildung  wichtiger  sei  als 
die  geistige.  Wer  wollte  darauf  ohne  konkrete  Vorlage  antworten? 
Fragt  man  aber,  was  einem  englischen  Sportsman  oder  einem  über- 
arbeiteten Gymnasiasten  not  tue,  so  wird  man  sofort  jenem  die  gei- 
stige, diesem  die  körperliche  Betätigung  anempfehlen. 

Wenn  nun  wirklich  zwischen  Phonetik  und  Semantik  kein  Rang- 
verhältnis besteht  und  sowohl  die  Thomassche  Subordination  als  die 
Schuchardtsche  Koordination  illusorisch  sind,  worin  besteht  dann 
eigentlich  die  Differenz  zwischen  beiden? 

Wir  müssen  hier  unterscheiden  zwischen  Theorie  und  Praxis. 
Theoretisch  stehen  Thomas  und  Schuchardt  weit  auseinander,  prak- 
tisch stehen  sie  sich  viel  näher.  Wenn  die  etymologische  Arbeit  mit 
dem  Betrieb  eines  Bergwerks  verglichen  werden  darf,  so  stehen  sie 
beide  seit  langen  Jahren  in  den  untersten  Stollen  und  dort  wieder 
in  den  vordersten  Reihen.  Ihre  Funde  sind  mit  Erfolg  gekrönt,  ihre 
etymologische  Kunst  wird  allgemein  anerkannt.  Wie  wäre  es  denk- 
bar, dafs  beiden  zugestimmt  würde,  wenn  der  eine  von  ihnen  auf 
ganz  falscher  Fährte  wandelte?  Die  Übereinstimmung  im  Urteil  der 
Fachgenossen  deutet  an,  dafs  ihre  Methode  im  ganzen  und  grofsen 
dieselbe  ist.    Ihre  Divergenz  in  der  Theorie  tritt  nur  in  einzelnen 


Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung.         121 

Fällen  zutage,  wie  z.  B.  bei  den  vielbesprochenen  Verben  turbare  und 
ambulare,  wo  man  auch  ohne  prinzipielle  Gegensätze  in  guten  Treuen 
verschiedener  Meinung  sein  kann. 

Es  wäre  psychologisch  interessant,  zu  wissen,  ob  die  Theorie  be- 
stimmten Etymologien  ihren  Ursprung  verdankt  bezw.  ihnen  zuliebe 
erfunden  worden  ist,  oder  ob  sie  durch  blofse  logische  Deduktion 
entstanden  ist. 

Eins  sehen  wir  deutlich  aus  dem  Verlaufe  der  Polemik: 
Schuchardt  ist  der  alleinige  Urheber  der  Streitfrage.  Thomas  wird 
fast  gegen  seinen  Willen  zu  einem  Bekenntnis  gedrängt.  So  wird 
aus  dem  linguistischen  Problem  ein  psychologisches. 

Die  Polemik  hat  zwischen  Thomas  und  Schuchardt  eine  Kluft 
geschaffen,  die  bei  näherer  Betrachtung  auf  einen  Gradunter- 
schied hinausläuft:  Thomas  legt  mehr  Gewicht  auf  das  Lautliche, 
Schuchardt  mehr  auf  das  Begriffliche.  Diese  Divergenz  kann  keine 
wesentliche  genannt  werden. 

Wie  kommen  aber  die  beiden  Gelehrten  dazu,  eine  so  schroffe 
Alternative  wie  Subordination  oder  Koordination  aufzustellen? 

Mir  scheint,  sie  gehen  von  verschiedenen  Voraussetzungen  aus: 
Schuchardt  erscheint  Thomas  gegenüber  als  Idealist,  ihm  schwebt  ein 
Wortmaterial  vor,  das  räumlich  und  zeitlich  lückenlos  ist  und  bereits 
lautlich  und  begrifflich  verarbeitet  vor  ihm  liegt.  Diesem  Idealzustande 
hat  er  seine  Methode  angepafst,  und  da  gilt  ohne  jeden  Zweifel  der 
Satz:  eine  Etymologie  hat  nicht  nur  den  Lautgesetzen, 
sondern  auch  den  Bedeutungsgesetzen  zu  genügen. 

Diese  in  die  Zukunft  blickende  Auffassung  liegt  Thomas  fern. 
Er  treibt  Realpolitik,  wenn  ich  so  sagen  darf;  er  sagt  als  prak- 
tischer Etymologe:  beim  gegenwärtigen  Stande  der  Forschung  sind  die 
Lautgesetze  ein  zuverlässigerer  Führer  als  die  uns  noch  so  wenig  be- 
kannten Bedeutungsgesetze.  Er  huldigt  dem  Grundsatz :  'Das  Bessere 
ist  der  Feind  des  Guten'.  Bis  jetzt  sind  wir  mit  der  lautlichen  Me- 
thode nicht  übel  gefahren,  wie  leicht  könnten  wir  in  der  elastischen 
Welt  der  Begriffe  auf  Abwege  geraten? 

Mit  anderen  Worten:  Schuchardt  stellt  ein  ideales  Postulat 
auf,  Thomas  ein  reales.  Aber  indem  die  Thomassche  Forderung  der 
Wirklichkeit  angepafst  ist,  hört  sie  eigentlich  auf,  eine  Forderung  zu 
sein.  Summa  summarum:  Schuchardt  sagt,  was  man  tun 
sollte,  Thomas  sagt,  was  man  tut.  Schuchardt  empfindet  einen 
Mangel,  Thomas  nicht.  Schuchardt  strebt  höher,  Thomas  bleibt  stehen. 
Wir  werden  nicht  zögern,  uns  dem  Höherstrebenden  anzuschliefsen. 

Die  Vorliebe  Schuchardts  für  das  Begriffliche  hat  noch  einen 
anderen  Grund.  Jeder  Linguist  kennt  seine  skeptische  Haltung  den 
'Lautgesetzen'  gegenüber.  Sie  zeigt  sich  äufserlich  darin,  dafs  er  das 
Wort  'Lautgesetze'  gern  unter  Anführungszeichen  setzt.  Die  Kritik 
hat  seinen  Zweifeln  im  grofsen  und  ganzen  recht  geben  müssen. 

Nun  geht  es  ihm,  wie  es  schon  manchem  skeptisch  veranlagten 


122         Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung. 

Idealisten  gegangen  ist,  der  den  Glauben  verloren  hat.  Er  wirft  sich 
mit  jugendlichem  Eifer  auf  ein  neues  Gebiet,  in  der  Hoffnung,  hier 
einen  Ersatz  für  das  Verlorene  zu  finden.  Die  Enttäuschung,  die 
ihm  die  Lautgesetze  gebracht  haben,  sucht  er  durch  das  Studium  der 
begrifflichen  Vorgänge  allmählich  auszumerzen. 

Ganz  anders  denkt  Thomas:  während  Schuchardt  eine  Schrift 
verfafst  gegen  die  Ausnahmslosigkeit  der  gefundenen  Lautgesetze, 
beteuert  uns  Thomas  in  seiner  Vorrede,  dafs  er  als  Etymologe  diese 
Lautgesetze  verehre  und  sie  gewissenhaft  beobachte  (je  venere  [la 
phonetique]  et  fobserve  ses  lois  religieusement).  Wer  von  einer  Sache 
dergestalt  erfüllt  ist,  ist  begreiflicherweise  weniger  geneigt,  sich  für 
eine  andere  begeistern  zu  lassen. 

Versuchen  wir  zum  Schlufs  das  Gesagte  zusammenzufassen,  so 
können  wir  etwa  sagen :  was  die  drei  Sprachvergleicher  Breal,  Brug- 
raann  und  Osthoff  mehr  gelegentlich  betont  haben,  das  hat  Schuchardt 
in  die  Form  eines  kategorischen  Imperativs  gekleidet,  der  da  lautet: 
die  etymologische  Forschung  hat  ebensogut  mit  der  Ge- 
setzmäfsigkeit  des  Bedeutungswandels  zu  rechnen,  wie 
sie  es  bisher  mit  derjenigen  des  Lautwandels  getan  hat. 

Dieser  seiner  Mahnung  hat  Schuchardt  die  Tat  folgen  lassen. 
Seine  unter  diesem  neuen  Gesichtspunkte  durchgeführten  Unter- 
suchungen haben  fast  allgemein  Anerkennung  gefunden. 

Wenn  sein  Fachgenosse  Thomas  jene  idealistisch  gedachte  For- 
derung nicht  anzuerkennen  vermag,  so  scheinen  ihn  zwei  Dinge  davon 
abzuhalten ;  einerseits  die  Rücksicht  auf  das  gegenwärtig  Erreichbare 
und  anderseits  das  grofse  Vertrauen  in  die  Verwertbarkeit  der  Laut- 
gesetze. Jene  Rücksicht  ist  gewifs  praktisch  berechtigt,  sein  grofses 
Vertrauen  in  die  Lautgesetze  aber  halten  wir  für  gefährlich. 

Wenn  wir  auch  zugeben  müssen,  dafs  beim  jetzigen  Stand  der 
Forschung  die  Lautgesetze  im  allgemeinen  immerhin  noch  die  zu- 
verlässigeren Ratgeber  sind,  so  schliefsen  wir  uns  mit  voller  Zu- 
versicht der  Schuchardtschen  These  an,  soweit  sie  eine  von  der  Gegen- 
wart absehende,  ideale  Forderung  aufstellt,  die  zu  ihrer  Verwirk- 
lichung einer  vorbereitenden  Periode  bedarf. 

Über  die  Vorarbeiten  zum  Ausbau  einer  semasiologischen  Wissen- 
schaft liefse  sich  ein  ganzes  Buch  schreiben.  Ich  mufs  es  mir  ver- 
sagen, näher  darauf  einzugehen.  Nur  eins  sei  bemerkt:  es  sind  be- 
reits deutliche  Ansätze  vorhanden,  indem  der  eine  Hauptteil  des 
Schuchardtschen  Arbeitsprogramms  schon  in  Angriff  genommen  wor- 
den ist,  ja  sich  schon  einen  eigenen  Namen  zugelegt  hat,  ich  meine 
die  Lehre  von  der  Begriffsbezeichnung  oder  die  Onomasiologie, 
wie  sie  Zaun  er  (Die  romanischen  Namen  der  Körperteile  in  Rom. 
Studien  1902)  treffend  genannt  hat.  Die  Grundlage  jeder  onomasio- 
logischen  Studie  ist  die:  wie  wird  ein  gegebener  Begriff  in  verschie- 
denen Sprachen  und  Dialekten  ausgedrückt? 


Phonetik  und  Semantik  in  der  etymologischen  Forschung.        123 

Unter  diesem  Gesichtspunkte  sind  bereits  einige  Begriffsgruppen 
und  viele  Einzelbegriffe  untersucht  worden :  so  im  weitesten  Umfange 
die  Verwandtschaftsnamen,  nämlich  auf  indogermanischem,  roma- 
nischem und  deutschem  Sprachgebiet,  dann  im  Romanischen  allein 
die  Körperteile,  die  Jahreszeiten  und  die  Monate.  An  Einzelbegriffen 
seien  beispielsweise  erwähnt:  das  Wiesel,  die  Fledermaus,  der  Haspel, 
das  Alpdrücken  in  romanischen  Dialekten  u.  v.  a. 

Die  reichhaltigste  Ausbeute  dieser  Art  bietet  der  gegenwärtig 
erscheinende  Dialektatlas  Frankreichs,  der  Atlas  linguistique  de  la 
France  von  Gillieron  und  Edmond. 


Statt  Ihnen  die  romanische  Sprachwissenschaft  im  Sonntags- 
gewande  positiver  Ergebnisse  vorzustellen,  habe  ich  es  vorgezogen, 
Sie  in  eine  der  Werkstätten  romanistischen  Schaffens  einzuführen. 
Sollten  Sie  dabei  den  Eindruck  erhalten  haben,  als  sei  diese  etymo- 
logische Werkstätte  eine  Art  Versuchslaboratorium,  so  haben  Sie 
nicht  ganz  unrecht,  denn  es  hat  in  der  Tat  mit  der  Etymologie  seine 
besondere  Bewandtnis.  Sie  ist  von  allen  Betätigungen  des  Linguisten 
diejenige,  bei  der  das  subjektive  Empfinden  des  Forschers  am  ehesten 
zum  Durchbruch  kommt. 

So  vollständig  auch  unsere  Nachschlagewerke  sein  mögen,  so 
sicher  unsere  Methode  scheint  —  unser  Suchen  und  Tasten  nach  der 
Wahrheit  mahnt  uns  immer  wieder  daran,  dafs  die  Etymologie  nicht 
ein  Handwerk,  sondern  eine  Kunst  ist. 

Wissen  und  Methode  sind  unentbehrliche  Vorbedingung,  aber 
es  braucht  dazu  noch  Eigenschaften,  die  oft  von  der  Wissenschaft 
unterschätzt  werden:  es  braucht  Findigkeit  und  Phantasie. 
Wem  die  Natur  die  glücklichen  Einfälle  versagt  hat,  der  wird  es 
auf  etymologischem  Gebiete  schwerlich  zum  Meister  bringen. 

Jeder  Etymologe  ist  einem  Dichter  vergleichbar,  dem  das  Ideal 
eines  Reimwortes  so  lange  im  Kopfe  herumgeht,  bis  ein  erlösender 
Genius  ihm  das  Gesuchte  auf  die  Zunge  legt.  Beide,  Dichter  und 
Etymologe,  sind  Wortsucher,  die  darauf  bedacht  sein  müssen,  dafs 
Form  und  Inhalt  sich  harmonisch  ineinander  fügen.  Was  sie  so 
finden,  ist  jeweilen  eine  schöpferische  Tat,  und  wie  der  Dichter  zu 
seinen  Schöpfungen  in  ein  persönliches  Verhältnis  tritt,  so  mischt 
sich  auch  oft  in  die  wissenschaftliche  Forschung  des  Etymologen  ein 
subjektives  Element,  das  ihn  daran  erinnert,  dafs  die  Sprache  nicht, 
wie  Tier,  Pflanze  und  Stein,  der  Aufsenwelt  angehört,  sondern  dafs 
sein  Untersuchungsobjekt  aufs  engste  mit  seinem  geistigen  Organis- 
mus verwachsen  ist. 

Basel.  E.  Tappolet. 


Beiträge  zur  französischen  Stilistik  und  Syntax. 

(Vgl.  Archiv  CV,  48  f.) 


IV. 

Ich  habe  Archiv  CV,  48  f.  von  einer  im  Deutschen  recht 
häufigen  Art  von  Satzverbindung  gesprochen,  in  der  einem  Sub- 
jekte drei  verschiedene  Prädikate  beigelegt  werden,  und  festge- 
stellt, dafs  die  fast  regelmäfsige  Form  solcher  Sätze  mit  drei- 
gliederigem  Prädikat  im  Deutschen  ist:  Sie  plünderten  die  Dörfer, 
stiegen  wieder  auf  ihre  Pferde  und  schleppten  die  Beute  in 
die  Wüste  hinein,  d.  h.  das  Prädikat  enthält  drei  Glieder,  die 
gleichförmig  nebengeordnet  sind,  wobei  dann  das  dritte  Glied  mit 
'und'  an  die  beiden  vorhergehenden  gefügt  wird.  Ich  habe  dann 
weiter  darzutun  versucht,  dafs  eine  der  entsprechenden  typischen 
Formen  dieser  Sätze  im  Französischen  ist:  ils  pillaient  les  vil- 
lages,  et  remontant  sur  leurs  chevaux,  emportaient  leur  butin 
dans  le  fond  du  de'sert,  d.  h.  das  mittlere  Glied  ist  in  Gestalt 
eines  appositiven  Partizipiums  eine  blofse  Satzbestimmung  ge- 
worden, das  Prädikat  ist  also  nicht  dreigliederig,  sondern  nur 
doppelgliederig,  und  das  et  steht  gleich  nach  dem  ersten  Gliede. 

Es  lag  mir  nun  daran  festzustellen,  ob  auch  der  deutsche 
dreigliederige  Nebensatz  im  Französischen  ebenso  häufig  in  der 
gekennzeichneten  Form  auftrete  wie  der  dreigliederige  Haupt- 
satz; und  da  mufs  ich  bekennen,  dafs  ich  ihr  in  diesem  Falle 
überhaupt  noch  nicht  begegnet  bin.  Nebensätze  mit  dreigliede- 
rigem  Prädikat  sind  ja  naturgemäfs  nicht  so  häufig  wie  die  ent- 
sprechend gebauten  Hauptsätze,  aber  sie  finden  sich  doch  auch. 
Dann  entspricht  entweder,  wie  ja  nicht  selten  auch  im  Haupt- 
satze, die  französische  Aussageform  der  deutschen,  z.  B.  pendant 
que  la  tante  sautaü,  tournait  autour  de  nous  et  criait:  vive  le  roi, 
Erckmann  -  Chatrian,  Waterloo,  oder  aber  es  wird  nunmehr  das 
erste  (nicht  das  zweite)  Glied  appositive  Satzbestimmung  in  Form 
eines  Partizipialsatzes;  von  den  beiden  anderen  Gliedern  ist  ent- 
weder das  erste  dem  letzten  Gliede  nebengeordnet  und  mit  ihm 
durch  'et'  verbunden,  oder  es  tritt  gleichfalls  als  Partizipialsatz 
auf,  so  dafs  nur  noch  das  letzte  Glied  ein  Verbum  finitum  ent- 
hält. Wir  denken  uns  folgenden  deutschen  Satz:  Einmal  war 
es  der  junge  Graf  von  Chalais,  ivehher  dem  geheimen  Wunsche 
dieses  Fürsten  nachgab,  gegen  das  Leben  Richelieus  konspirierte  und 


Beitrage  zur  französischen  Stilistik  und  Syntax.  125 

auf  einem  Schafott  umkam.  Dieser  Satz  heifst  bei  Lame'-Fleury, 
Histoire  de  France:  ...  Tantot  c'e'tait  le  jeune  comte  de  Cha- 
lais  . . .  qui,  cedant  au  desir  secret  de  ce  prince,  conspirait  contre  la 
vie  de  Richelieu  et  perissait  sur  un  echafaud.  Oder  ich  habe  fol- 
genden deutschen  Satz:  Murad  Bei  schleuderte  auf  diese  leben- 
den Zitadellen  1000 — 1200  unerschrockene  Reiter,  die  unter  lautem 
Geschrei  vorsprengten,  ihre  Pistolen  abschössen  und  sich  dann  auf  die 
Front  der  Karrees  stürzten.  Er  heilst  bei  Thiers,  Egyptische  Ex- 
pedition, Weidmannsche  Sammlung,  4.  Aufl.,  S.  51 :  Murad  Bey 
lanca  sur  ces  citadelles  Vivantes  mille  ä  douze  cents  cavaliers 
intrepides,  qui,  se  precipitant  ä  grands  cris,  dechargeant  leurs  pistolets, 
vinrent  se  jeter  sur  le  front  des  carres. 

Ein  Satz  der  ersten  Form  würde  noch  folgender  sein,  der 
ebenfalls  aus  Lame'-Fleury,  Histoire  de  France,  entnommen  ist: 
Mais  voyant  s'avancer  le  conn^table  de  Bourbon  qui,  brouille  avec 
le  roi  de  France,  etait  sorti  du  royaume  et  avait  embrasse  le  parti  de 
ses  ennemis;  ein  Satz  der  zweiten  Form  aber  folgende  Verse  aus 
V.  Hugos  L'Expiation  (Engwer,  Anthologie  des  Poetes  Francais, 
Velh.  u.  Klas.,  S.  93,  23): 

La  D^route    —     —    —    —     —    —    —    — 

Qui,  pale,  epouvantant  les  plus  fiers  bataillons, 
Changeant  subitement  les  drapeaux  en  haillons  . . . 
Se  leve  grandissante  au  milieu  des  armees. 

Wenn  nun  im  Nebensatze  mit  dreigliederigem  Prädikat 
die  eben  besprochene  Satzform  eher  beliebt  wird  als  die,  welche 
wir  als  besonders  gebräuchlich  für  den  Hauptsatz  mit  drei- 
gliederigem Prädikat  kennen  gelernt  haben,  so  geschieht  das  nach 
meiner  Ansicht  unter  Einflufs  der  französischen  Aussageform, 
die  dem  deutschen  Nebensatze  mit  zweigliederigem  Prädikat 
entspricht.  Wir  kommen  damit  zu  einer  weiteren  typischen  Art 
von  Satzverbindung  im  Französischen.  Es  heifst  Racine,  Bri- 
tannicus,  V.  17: 

Vous  qui  desheritant  le  fils  de  Claudius 
Avex  nomme  Cesar  l'heureux  Domitius. 

W  i  r  würden  sagen :  Du,  die  du  den  Sohn  des  Claudius  um  sein 
Erbe  gebracht  und  den  glücklichen  Domitius  zum  Cäsar  ernannt  hast. 

Es  heifst  bei  Erckmann  -  Chatrian,  Histoire  d'un  Conscrit: 
Le  vent  secouait  les  peupliers,  dont  les  feuilles  jaunes,  voltigeant 
autour  de  nous,  annoncaient  l' hiver.  Wir  würden  sagen:  Der  Wind 
schüttelte  die  Pappeln,  deren  gelbe  Blätter  um  uns  herum  flatterten 
und  den  Winter  ankündigten. 

Es  liefsen  sich  leicht  Hunderte  solcher  Beispiele  anführen. 
Es  ist  dabei  ganz  gleich,  ob  der  Nebensatz  von  einem  Bindewort 
oder  von  einem  rückbezüglichen  Fürwort  eingeleitet  wird,  ob  wir 
es   also  mit   einem  Konjunktionalnebensatz   oder   mit  einem  Re- 


126  Beiträge  zur  französischen  Stilistik  und  Syntax. 

lativnebensatz  zu  tun  haben.  Eine  Auswahl  von  Beispielen  wird 
ausreichen. 

Fanden  wir  mit  dem  allgemeinsten  Bindewort  an,  mit  que 
(dal 's).  Mais  crains  que  l'avenir  detruisant  le  passe  II  ne  ftnisse  ainsi 
qu' Auguste  a  commence,  Racine,  Brit.  V.  33;  Bonaparte  soutenait 
que  l'entreprise  d'Egypte,  etant  tout  ä  fait  imprevue,  ne  rencontrerait 
point  d'obstacles,  Thiers,  S.  14;  II  vit  que  Vartillerie,  n'etant  pas 
sur  nfft'it  de  campagne,  ne  pourrait  se  porter  dans  la  pleine,  eb.  S.  55 
(kurz  vorher  [S.  53]  war  derselbe  Gedanke  bei  relativischer  Ver- 
knüpfung folgendermafsen  ausgesprochen  worden:  des  batteries 
immobiles,  dont  les  pieces,  n'etant  pas  sur  affüt  de  campagne,  ne  pou- 
vaient  etre  deplacees);  Les  lettres  qu'il  e*crivait  e*taient  si  de'sol^es 
que  Ciceron,  oubliant  qu'ü  avait  eprouve  les  memes  regrets  pendant 
son  exil,  lux  reprochait  doucement  ce  qu'ü  appelait  ses  sottises  ('dafs 
Cicero  vergafs  und  ihm  vorwarf),  Boissier,  Ciceron  et  ses  Amis,1 
S.  246 ;  On  nous  avait  preVenus  que  M.  Thiers,  mettant  au  service 
du  gouvernement  nouveau  sa  longue  experience  et  sa  grande  autorite, 
etait  parti  pour  porter  des  propositions  aux  divers  cabinets,  Sarcey, 
Siege  de  Paris. 

Nach  si.  Cher  ami,  si  mon  pere  un  jour  desabuse  Plaint  le 
malheur  d'un  fils  faussement  aecuse,  Rac,  Phedre  V,  4;  Qui  vou- 
drait  passer  sa  vie  en  de  steriles  contemplations,  si  chaeun,  ne 
Consultant  que  les  devoirs  de  l' komme  et  les  besoins  de  la  nature,  n' avait 
de  temps  que  pour  la  patrie,  pour  les  malheureux  et  pour  ses  amis, 
J.-J.  Rousseau,  Emile;  S'il  avait  des  l'abord  tenu  un  langage 
f  erme,  ou  si,  se  flaut  au  bon  sens  de  la  population  parisienne,  il  avait 
tout  de  suite  aecorde  les  elections,  nous  n'aurions  pas  vu  les  scenes 
attristantes  qui  nous  restent  ä  conter,  Sarcey,  Siege  de  Paris,  usw. 

Nach  lorsque  und  quand.  Les  noces  du  jeune  Henri 
avec  Marguerite  de  Valois  e*taient  pres  de  se  conclure,  lorsque 
la  reine  Jeanne  d' Albret,  atteinte  d'un  mal  subit  et  inconnu,  expira  en 
peu  d'instants  entre  les  bras  de  son  fils  inconsolable,  Lam£-Fleury, 
Histoire  de  France;  Quelques-uns  parlaient  dejä  de  prendre  la 
fuite,  lorsque  Henri,  reparaissant  tout  couvert  de  poussiere,  leur 
cria  . . . ,  eb. ;  Quelques  annöes  auparavant,  Caton  venait  de  leur 
rendre  un  eklatant  hommage,  lorsque,  ne  sachant  ä  qui  se  fier,  il 
l'avait  charge  de  recueillir  et  de  porter  ä  Rome  le  tresor  du  roi  de 
Chypre,  Boissier,  Cic.  et  ses  Am.,  S.  334;  Et  quand  un  membre 
de  la  gauche,  impatiente  de  ce  silence,  s'avisaü  de  demander  ä  la  Cham- 
bre  quelques  renseignements  plus  positifs,  Sarcey,  eb. 

Nach  parce  que.  'En  fait  de  re'cits  de  bataille,  lui  dit-il, 
je  me  fie  surtout  aux  plus  peureux';  probablement  parce  que, 
s'etant  tenus  loin  du  combat,  ils  en  ont  mieux  pu  voir  l'ensemble,  Bois- 
sier, Cic.  et  ses  Am.,  S.  247,  usw. 

1  Paris,  Hachette,  9.  Aufl.,  1892. 


Beiträge  zur  französischen  Stilistik  und  Syntax.  127 

Man  sieht,  dafs  das  appositive  Partizipium  sich  immer  an 
das  Subjekt  anlehnt.  Damit  hängt  denn  wohl  zusammen,  dafs 
sich  die  besprochene  Satzform  besonders  häufig  nach  dem  rela- 
tiven Nominativ  'qui'  findet,  in  Fällen  also  wie:  H  voulait  s'em- 
parer  de  cette  ile  qui,  commandant  la  navigation  de  la  Mediterranee, 
devenait  importante  pour  l'Egypte,  Thiers,  S.  26.  Thiers  ist  eben 
auch  im  Satzbau  der  Nationalfranzose  par  excellence. 

Wenn  das  Prädikat  nicht  ein  Geschehen,  sondern  ein 
Sein  ausdrückt,  so  tritt  an  Stelle  des  Partizipiums  natürlich  ein 
Adjektiv,  z.  B.  an  Stelle  von  oubliant  ein  oublieux.  Auch  hierfür 
einige  Beispiele :  Est-ce  qu 'oublieuse  de  sa  naissance  et  de  son  rang, 
eile  partagerait  la  passion  qu'elle  inspire,  Sandeau,  Melle  de  la  Seig- 
liere  III,  1 ;  Ils  frapperent  ä  coups  redoubles  sur  des  esprits 
dejä  e"mus  qui,  mecontents  des  ehoses  et  d'eux-memes  ...,  ne  savaient 
ä  qui  s'en  prendre  (die  unzufrieden  waren  und  nicht  wufsten), 
Sarcey,  Siege  de  Paris,  usw. 

Um  zu  zeigen,  wie  häufig  die  besprochene  Satzform  über- 
haupt ist,  will  ich  die  Beispiele  zusammenstellen,  die  mir  allein 
in  Racines  Brit.  aufgestofsen  sind. 

V.  17.       Vous  qui  desheritant  le  fils  de  Claudius 

Avez  nomine  Cesar  l'heureux  Domitius. 
V.  33.       Mais  crains  que  l'avenir  detruisant  le  passe 

II  ne  finisse  ainsi  qu' Auguste  a  commenee. 
V.  43.       Que  ni'iinporte,  apres  tout,  que  Neron  plus  fidele 

D'une  longue  vertu  laisse  un  jour  le  modele. 
V.  297.     Sans  doute  on  ne  veut  pas  que  melant  nos  douleurs 

Nous  nous  aidions  l'un  l'autre  ä  porter  nos  malheurs. 
V.  1073.  Souffrez  que  de  vos  cosurs  rapprochant  les  liens, 

Je  me  cache  ä  vos  yeux,  et  me  derobe  aux  siens. 
V.  1149.  C'est  alors  que  ehacun,  rappelant  le  passe, 

Decouvrit  mon  dessein  dejä  trop  acance. 
V.  1430.  Sur  les  pas  des  tyrans  veux-tu  que  je  m'engage, 

Et  que  Borne,  effagant  tant  de  titres  d'honneur, 

Me  laisse  pour  tous  noms  celui  d'empoisonneur? 

Die  beiden  Glieder,  die  im  Deutschen  einander  nebengeordnet, 
im  Französischen  mit  Vorliebe  einander  untergeordnet  auftreten, 
stehen  in  den  einzelnen  Aussagen  dieser  Art  nicht  immer  im 
gleichen  inneren  Verhältnis  zueinander.  Hinsichtlich  ihres  in- 
neren, logischen  Verhältnisses  nun  lassen  sich  vor  allem  folgende 
Hauptfälle  feststellen:  1)  die  beiden  Glieder  sind  auch  dem  Ge- 
danken nach  nebengeordnet;  2)  das  durch  das  zweite  Zeitwort 
ausgesagte  Geschehen  liegt  zeitlich  nach  dem  Geschehen  des 
ersten  Gliedes;  3)  das  erste  Glied  drückt  inhaltlich  die  Begrün- 
dung zu  dem  im  zweiten  Gliede  ausgesagten  Geschehen  aus. 

Im  ersten  Falle  sagen  wir  einfach  'und',  im  zweiten  'und 
nun',  'und  dann',  im  dritten  'und  so',  'und  daher'.  Beispiele 
zu  1 :  ce  gouvernement  qui  ramassant  un  pouvoir  tombe  d  teire, 
avait  usurpe  la  redoutable  mission  de  reparer  tant  de  malheurs  (welche 


128  Beiträge  zur  französischen  Stilistik  und  Syntax. 

. . .  aufgerafft  und  gewaltsam  die  furchtbare  Aufgabe  übernommen 
halte),  Sarcey,  Siege  de  Paris;  oder:  Le  roi  consentit  h  le  livrer 
ä  des  juges  qui,  lux  appliquant  toute  la  rigueur  des  lois,  le  condam- 
nerent  ä  mort,  Lanie'-Fleury,  Histoire  de  France;  zu  2:  D'un  cote" 
sont  les  dissipateurs  qui,  ayant  consume  leur  patrimoine,  ne  peuvent 
souffrir  ceux  qui  en  ont  un  (...  und  nun  . ..),  Taine,  Origines  de 
la  France  Contemporaine ;  oder:  Et  en  effet  ces  soldats  sont  les 
meines  qui,  mourant  de  faim  ä  Dyrrhachium,  declaraient  qu'ils  man- 
geraient  l'ecorce  des  arbres  plutöt  que  de  laisser  echapper  Pompee, 
Boissier  a.  a.  O.,  S.  256;  zu  3:  II  voulait  s'emparer  de  cette  ile, 
qui,  comniandant  la  navigation  de  la  Mediterranee,  devenait  importante 
pour  VEgypte  (...  und  daher  . ..),  Thiers,  S.  26;  oder:  il  lui  re- 
fusait  le  miri,  c'est-ä-dire  Pimpöt  foncier,  qui,  representant  le  droit 
de  la  conquete,  appartenait  ä  la  Porte,  eb.  S.  43. 

Hierzu  ist  noch  folgendes  zu  bemerken :  Soll  ausdrücklich 
hervorgehoben  werden,  dafs  das  erste  Geschehen  dem  zweiten 
vorangeht,  so  wird  es  lieber  mit  apres  avoir  . , .  untergeordnet, 
z.  B.  M.  Ducrot  e"tait  un  general  qui,  apres  avoir  ete  fait  prison- 
nier  ä  Sedan,  avait  eu  le  bonheur  de  s' echapper,  Sarcey,  Siege  de 
Paris.  Soll  aber  die  Gleichzeitigkeit  des  zweifachen  Geschehens 
betont  werden,  so  wird  das  erste  Geschehen  nicht  durch  das 
Partizipium,  sondern  das  Gerundium  mit  en  ausgedrückt,  das 
noch  durch  tout  verstärkt  werden  kann  (...  und  dabei  ...),  z.  B.: 
on  se  releve  ä  ses  propres  yeux  quand,  en  se  confessant,  on  croit 
confesser  le  genre  humain,  Taine,  eb. ;  Les  cafe*s  . . .  dCbordaient 
de  consommateurs  qui,  tout  en  buvant  des  liqueurs,  suivaient  des 
yeux  cette  scene  inouie,  Sarcey,  eb.,  usw. 

Nicht  selten  auch  gibt  bei  dieser  Aussageform  das  erste  Ge- 
schehen das  Mittel  an,  durch  welches  das  im  zweiten  ausgedrückte 
Geschehen  erst  möglich  wird.  Dann  ist  die  normale  deutsche 
Aussageform  ...  und  dadurch  ...,  z.  B. :  I7humanit6'  y  avait 
moins  de  part  que  FintCret  bien  entendu,  qui,  en  s'imposant  quelque 
retenue  dans  le  present,  menage  l'avenir,  Boissier,  S.  334,  usw. 

Ich  brauche  wohl  nicht  erst  zu  bemerken,  dafs  auch  die  deutsche 
Satzform  dem  Französischen  durchaus  nicht  fremd  ist  und  sich 
Sätze  wie :  Aucun  remords  n'atteint  plus  l'äme  qui  erige  sa  barbarie 
en  patriotisme  et  se  fait  des  devoirs  de  ses  attentats  nicht  gerade  selten 
finden.  Aber  es  steht  doch  fest,  dafs  dem  Französischen,  dank 
der  Tatsache,  dafs  sein  System  von  Partizipien  sich  volle  Lebens- 
kraft erhalten  hat,  noch  eine  weitere  Ausdrucksweise  zur  Ver- 
fügung steht,  die  durch  Flufs,  Lebendigkeit  und  Klarheit  ausge- 
zeichnet ist.  Dagegen  nimmt  sich  die  andere  Formgebung  des 
Gedankens,  die  dem  Deutschen  zu  Gebote  steht,  ungeschickt  aus, 
ich  meine  die,  wonach  das  erste  Glied  als  attributive  Bestimmung 
vor  das  Hauptwort  gesetzt  wird,  also  z.  B.  anstatt  zu  sagen: 
Und   als   ein  Mitglied   der  Linken   über  dieses  Schweigen  unge- 


Beiträge  zur  französischen  Stilistik  und  Syntax.  129 

duldig  wurde  und  sich  einfallen  liefs,  die  Kammer  um  bestimmtere 
Auskunft  zu  bitten,  zu  sagen:  'Und  als  ein  über  dieses  Schweigen 
ungeduldig  gewordenes  Mitglied  der  Linken  sich  einfallen  liefs,  ...' 
(franz.:  Et  quand  un  membre  de  la  gauche,  impatiente  de  ce  silence, 
s'avisait  de  demander  ä  la  Chambre  des  renseignements  plus  positifs). 

Ich  will  zum  Schlüsse  die  Gelegenheit  benutzen,  um  noch 
auf  einen  anderen  Fall  hinzuweisen,  in  dem  der  deutschen  Neben- 
ordnung zweier  Satzglieder  im  Französischen  häufig  subordinie- 
rende Ausdrucksweise  gegenübersteht,  und  zwar  dieselbe  sub- 
ordinierende Ausdrucksweise,  die  schon  aus  dem  Lateinischen 
bekannt  ist,  hier  allerdings  von  den  Lehrbüchern  der  Stilistik 
als  für  Hauptsätze  geltend  angeführt  wird.  Wenn  wir  sagen: 
Aristides  war  zwar  verbannt,  aber  er  nahm  doch  an  der  Schlacht 
bei  Salamis  teil,  so  kann  dieser  Satz  im  Lateinischen  folgende 
Form  annehmen:  Aristides,  obgleich  er  verbannt  war,  nahm  er  doch 
an  der  Schlacht  bei  S.  teil,  d.  h.  mit  quamquam  . . .  tarnen  ge- 
bildet werden;  s.  Nägelsbach,  Latein.  Stilistik,  8.  Aufl.,  S.  624. 
Damit  vergleiche  man  französische  Sätze  wie:  Murad-Bey,  qui, 
quoique  sans  instruction,  etait  doue  d'un  grand  caractere  et  d'un  coup 
d'ozil  penetrant,  devina  sur-le-champ  l'intention  de  son  adversaire, 
Thiers,  eb.  S.  56;  und:  Ciceron  avait  bien  prevu  que,  quoique 
Cdsar  en  ecrivant  ses  Commentaires  n'annoncät  d'autre  pr^tention 
que  de  pre"parer  des  mate'riaux  pour  l'histoire,  la  perfection  de 
cet  ouvrage  empecherait  les  gens  sense's  de  le  recommencer,  Bois- 
sier,  eb.  S.  255,  usw. 

V. 

Archiv  CV,  55  ff.  hatte  ich  auseinandergesetzt,  dafs  der 
Franzose  einen  Satz  von  folgender  Bauart:  'Wenn  Sie  wüfsten, 
welchen  Schmerz  Sie  mir  bereiten',  gern  in  folgender  Form 
ausspricht:  Si  vous  saviez  le  mal  que  vous  me  faites.  D.  h., 
im  Gegensatz  zum  Deutschen  und  noch  mehr  zum  Lateinischen 
mit  seinem  'novi  qua  via  ad  felicitatem  perveniatur'  (s.  Nägels- 
bach a.  a.  O.,  S.  171)  stellt  der  Franzose  aus  einem  indirekten 
Fragesatz  mit  dem  adjektivischen  'welcher'  als  Fragewort  das  zu 
'welcher'  gehörige  Substantiv  heraus  und  macht  dieses  zum  Ob- 
jekt des  Zeitwortes  des  Denkens  und  Sagens,  zu  welchem  im 
Deutschen  (und  im  Lateinischen)  der  indirekte  Fragesatz  als  Ob- 
jektsatz gehört,  wodurch  dann  der  Fragesatz  ein  auf  dieses  Objekt 
bezüglicher  Relativsatz  wird.  An  Stelle  also  zu  sagen:  'Er  sieht, 
in  welchem  Zustande  wir  sind',  sagt  der  Franzose  gern: 
Er  sieht  den  Zustand,  in  welchem  wir  sind. 

Ich  sagte  mir  nun  von  vornherein  folgendes :  Wenn  die 
französische  Sprache  wirklich  die  Neigung  hat,  sich  solchergestalt 
auszudrücken,  so  mufs  sich  das  auch  zeigen  in  solchen  abhängigen 
Fragesätzen,  die  im  Deutschen  mit  'was  alles'  anfangen,  d.  h. 
in  solchen  abhängigen  Fragesätzen,  in  welchen  von  dem  neutralen 

Archiv  f.  n.  Sprachen.     CXV.  9 


130  Beiträge  zur  französischen  Stilistik  und  Syntax. 

substantivischen  Frageworte  'was'  das  neutrale,  ursprünglich  gene- 
tivische 'alles'  abhängt.  Es  mufs  im  Französischen  also  auch 
hier  'alles'  als  Objekt  zum  Zeitwort  des  Obersatzes  treten  und 
was'  als  Relativuni  darauf  bezogen  werden  können.  Mit  an- 
deren Worten :  Ein  Satz  von  folgender  Bauart  'Ich  habe  ver- 
gessen, was  er  alles  versprochen  hat'  mufs  im  Französischen  in 
folgender  Form  auftreten  können:  'Ich  habe  alles  vergessen,  was 
er  versprochen  hat',  j'ai  oublie  tout  ce  qu'il  a  promis. 

Und  so  ist  es  auch  wirklich.  In  Racines  Britannicus  fragt 
V.  1022  Brit.  seine  Junie:  Et  savez-vous  pour  moi  tout  ce  que  vous 
quittez?  Dem  ganzen  Zusammenhange  nach  kann  das  nichts  an- 
deres heifsen  als :  Weifst  du  auch,  was  du  alles  für  mich  hingeben 
willst?  Ebenso  liegt  die  Sache  V.  1464,  wo  Narcisse  zu  N6ron 
sagt:  Quoi  donc?  ignorez-vous  tout  ce  qu'ils  osent  dire?  Was? 
Weifst  du  denn  nicht,  was  sie  alles  zu  sagen  sich  herausnehmen? 
Tout  ce  que  heifst  was  . . .  alles  auch  an  folgenden  Stellen  von 
Rostans  L'Aiglon  (I,  1):  On  ne  peut  pas  savoir  tout  ce  qu'on  perd; 
(H,  2)  J'admire  ce  'mais';  Sentez-vous  tout  ce  que  ce  'mais'  veut 
dire?  Aus  der  Prosa  führe  ich  folgende  Stellen  an:  Vous  etes- 
vous  quelquefois  demande  tout  ce  que  ce  titre  de  grand  professeur  dra- 
matique  suppose  de  qualite's  contradictoires  ?  Legouvd,  L'Art  de 
Lecture,  S.  213;  Qui  ne  sentirait  tout  ce  que  cette  succession  de  ter- 
mes,  eloignement,  organe,  Instrument,  mis  en  relief  par  les  vers  dou- 
nent  de  force  et  je  dirai  volontiers  de  noblesse  au  dernier  vers,  eb. 
S.  221 ;  Corneille  ne  nous  dit  rien  de  tout  ce  qu'on  peut  dire  pour 
la  defense  de  ce  röle,  L.  Petit  de  Julleville,  Einleitung  zum  Cid, 
Paris,  Hachette,  10.  Aufl.,  S.  43. 

Es  ergibt  sich  nun  die  bemerkenswerte  Erscheinung,  dafs 
tout  ce  qui,  tout  ce  que  vom  deutschen  Standpunkte  aus  gesehen 
doppeldeutig  ist,  dafs  es  heifseu  kann :  'alles,  was'  und  'was  alles'. 
Offenbar  ist  der  Sinn  nicht  ganz  derselbe.  Wenn  ich  sage:  'Ich 
werde  dir  alles  sagen,  was  ich  weifs',  so  kann  dies  'alles'  an  und 
für  sich  wenig  sein;  aber  dieses  Wenige  werde  ich  ohne  Rest 
sagen.  Wenn  ich  aber  sage:  'Ich  weifs  nicht  mehr,  was  er  alles 
gesagt  hat',  so  liegt  in  dieser  Ausdrucksweise  unter  allen  Um- 
ständen die  Vorstellung  einbeschlossen,  dafs  'er'  recht  viel,  eigent- 
lich zu  viel  gesagt  habe.  Ich  erinnere  hier  an  eine  andere  fran- 
zösische doppelsinnige  Satzform,  in  der  tout  eine  Rolle  spielt: 
tout  ce  qui  reluit  n'est  pas  or,  und  was  Tobler  darüber  Vermischte 
Beiträge  1',  S.  162  sagt. 

VI. 

Mit  tout  hat  es  auch  die  dritte  Frage  zu  tun,  die  hier  be- 
handelt werden  soll. 

Wenn  wir  von  einer  Allgemeinheit  von  Menschen  oder  einer 
Menschengruppe  ein  Sein,  Tun  oder  Erleiden  aussagen  wollen, 
es   uns   aber   nicht   genügt   zu  sagen:    alle,    alle   Menschen,   alle 


Beiträge  zur  französischen  Stilistik  und  Syntax,  131 

Franzosen,  alle  Untertanen,  sondern  wir  den  Körperteil,  den  Sinn, 
das  geistige  Vermögen  bezeichnen  wollen,  der  bei  dem  Tun  oder 
Leiden  (einer  Gesamtheit  von  Menschen)  besonders  beteiligt  oder 
in  Mitleidenschaft  gezogen  war,  so  pflegen  wir  das  auszudrücken, 
indem  wir  zu  der  speziellen  Bezeichnung  des  Sinnes  oder  des 
Seelenvermögens  den  Wesfall  von  'alle'  hinzufügen,  indem  wir 
also  sagen:  'aller  Augen',  'aller  Herzen',  'aller  Gesich- 
te r\  In  all  solchen  Fällen  setzt  nun  der  Franzose  fast  regel- 
mässig tous,^  toutes  nicht  als  genetivisches,  sondern  als  adjekti- 
visches Attribut  zum  Hauptwort,  er  sagt  also  nicht  'les  yeux  de 
tous'  usw.,  sondern  'tous  les  yeux,  tous  les  coeurs,  tous  les 
vi  sag  es'.  Aus  der  Fülle  von  Beispielen,  die  zu  Gebote  stehen, 
führe  ich  folgende  an: 

1.  Aus  Racine,  Brit. : 

V.  720.      La  foi  dans  tous  les  cceurs  n'est  pas  encore  Steinte. 

(Nicht  in  ailer  Herzen  ist  die  Treue  erloschen.) 
V.  923  f.     J'irai  semer  partout  ma  crainte  et  ses  alarmes 

Et  ranger  tous  les  cceurs  du  parti  de  ses  larmes. 
V.  1330.     Neron  dans  tous  les  cceurs  est-il  las  de  regner. 
V.  1633.     Jugex  combien  ce  coup  frappe  tous  les  esprits. 

Bei  Thiers  a.  a.  O.: 

S.  31.  La  possibilite  de  rencontrer  les  Anglais  etait  pr heute  ä 
tous  les  esprits. 

S.  72.  Le  debarquement  en  Egypte,  Voccupation  d'Alexandrie, 
la  bataille  des  Pyramides,  frapperent  toutes  les  imaginations  en 
France  et  en  Europe. 

S.  87.     ühe  sombre  tristesse  devorait  tous  les  cceurs. 

Bei  Erckm.-Chatr.,  Waterloo :  La  fureur  et  l'indignation  etaient 
peintes  sur  toutes  les  figures. 

Bei  Victor  Hugo: 

L/Expiation,  a.  a.  O.,   S.  93,  30 :    Toutes  les  bouches  criaient. 

Burggraves,  Pre'face :  Dans  une  famille  pareille,  ainsi  developpe 
ä  tous  les  regards ,  ä  tous  les  esprits  ... 

Eb.  I,  2:  Loin   de  tous  les  regards. 

Bei  Boissier  a.  a.  O. : 

S.  87 :  Une  cause  si  e*clatante,  qui  avait  attire  sur  lui  t  o  u  s 
les  regards. 

S.  325:  Aussi  tous  les  yeux  etaient-ils  fixes  sur  ce  grave 
jeune  komme  qui  ressemblait  si  peu  aux  autres. 

Bei  Sarcey,  Siege  de  Paris:  La  consternation  etait  sur  tous 
les  visages;  L'alUgresse  etait  peinte  sur  tous  les  visages;  Au 
fond  de  tous  les  cceurs,  il  y  avait  comme  un  secret  espoir  que  les 
choses  s'arrangeraient ;   Cela  flamboyait  ä  tous  les  yeux,  usw. 

Zu  'tout'  Heise  sich  noch  vieles  andere  sagen.  Ich  will  zum 
Schlüsse  nur  noch  auf  einen  Punkt  hinweisen.     In  zurückbezüg- 

9* 


132  Beiträge  zur  französischen  Stilistik  und  Syntax. 

liehen  Sätzen,  die  mit  'dont'  eingeleitet  werden,  und  in  denen 
von  einer  Allgemeinheit,  Gesamtheit  etwas  ausgesagt  werden  soll, 
stellt  der  Franzose  'tous,  toutes,  alle'  regelmäfsig  attributiv  vor 
das  Hauptwort,  der  Deutsche  aber  ebenso  regelmäfsig  'alle'  prä- 
dikativ zum  Zeitwort.  Taine  sagt  in  seinen  Origines:  II  leur 
est  impossible  d'entretenir  la  vie  et  ce  mouvement  du  vaste  corps 
dont  tous  les  membres  sont  paralyses,  wo  wir  sagen  müfsteu : 
'dessen  Glieder  alle  gelähmt  sind'.  Vergl.  folgende  Beispiele 
aus  Sarcey,  a.  a.  O. :  De  cette  lauterne  dont  tous  les  chässis  vitres 
peuvent  s'ouvrir,  totribe  un  jour  splendide.  —  Une  position,  dont  on  lui 
avait  avec  tont  de  complaisance  enumere  tous  les  avantages. 

Noch  deutlicher  wird  uns  der  Unterschied,  wenn  der  Begriff 
der  Allgemeinheit  durch  presque  eingeschränkt  wird,  wie  in  fol- 
gender Stelle  von  Erckm.-Chatr.,  Histoire  d'un  Consent:  Le 
maitre  de  poste  du  village,  dont  presque  tous  les  chevaux  avaient 
ete  mis  en  requisition  pour  notre  cavalerie  ('dessen  Pferde  fast 
alle  requiriert  worden  waren'). 

Man  wird  hier  mit  Recht  sagen,  die  Verschiedenheit  der 
Satzstelle,  an  der  die  Allgemeinheit  zum  Ausdruck  gebracht  wird, 
hängt  damit  zusammen,  dafs  dont  doch  eigentlich  gar  nicht  'des- 
sen, deren'  heifst,  überhaupt  eigentlich  kein  Relativ  wort,  sondern 
(aus  de  unde  entstanden)  ein  Umstandswort  ist,  und  dafs  sich 
die  Stellung  von  tous,  toutes  ungezwungen  auf  diese  Weise  er- 
klärt. Aber  so  erklärt  sich  auch  die  regelmäfsige  Wortstellung 
nach  dont,  so  auch  die  Beibehaltung  des  bestimmten  Artikels  bei 
dem  Satzteil,  der  durch  dont  mit  dem  Beziehungswort  relativisch 
und  possessivisch  verknüpft  wird.  Wird  in  den  Grammatiken 
von  der  regelmäfsigen  Wortstellung  und  der  Beibehaltung  des 
Artikels  beim  Hauptwort  in  besonderen  Paragraphen  gesprochen, 
so  verdiente  auch  wohl  die  verschiedene  Stellung  des  zu  diesem 
Hauptwort  gehörenden  'alle'  eine  Erwähnung  in  einer  Anmerkung. 

Friedenau  b.  Berlin.  Emil  Macke  1. 


Cyrano  de  Bergerac  (1619—1655), 
sein  Leben  und  seine  Werke. 

Ein  Versuch. 

(Schlufs.) 


Der  zweite  Teil  des  Romans,  die  Reise  nach  der  Sonne, 
schliefst  sich  unmittelbar  an  das  Ende  des  ersten  Teiles  an,  wie 
wir  diesen  aus  dem  Manuskript  wiederhergestellt  haben.  Cyrano 
kommt  zu  Schiff  in  Toulon  an  und  nimmt  Abschied  von  seinen 
Reisegefährten.  Der  Pilot  begnügt  sich,  da  der  Mondreisende 
kein  Geld  hat,  mit  der  Ehre,  einen  Mann  in  seinem  Schiffe 
transportiert  zu  haben,  der  vom  Himmel  gefallen  ist.  Er  reist 
nach  Toulouse  zu  seinem  Freunde,  Monsieur  de  Colignac,  der  sehr 
erfreut  ist,  ihn  wiederzusehen,  weil  er  ihn  in  Kanada  mit  jenem 
Drachen  verbrannt  glaubte.  Cyrano  erzählt  ihm  seine  Rettung 
und  seine  Abenteuer  im  Monde.  De  Colignac  fordert  ihn  auf, 
sie  niederzuschreiben.  Cyrano  tut  es  nach  einigem  Zögern,  und 
sobald  er  ein  Heft  fertig  hat,  bringt  es  de  Colignac  in  Toulouse 
unter  die  Leute.  Der  Autor  wird  schnell  berühmt.  'Die  Kupfer- 
stecher stachen,  ohne  mich  gesehen  zu  haben,  mein  Bildnis,  und 
die  Stadt  ertönte  auf  jedem  Platze  von  dem  heiseren  Geschrei 
der  Kolporteure,  welche  aus  vollem  Halse  schrien:  Voilä  le  por- 
trait  de  l'Autheur  des  Estats  et  Empires  de  la  Lune.'  Aber  bald 
schlägt  die  Stimmung  um.  Der  mit  Unwissenheit  gepaarte  Aber- 
glaube sieht  zuerst  in  dem  Werke  nur  kindische  Fabeleien  (des 
peaux  d'asnes):  'Tel  n'en  co?inoist  pas  seulement  la  sintaxe  qui  con- 
damne  l'Autheur  ä  porter  une  bougie  ä  St -Mathurin.'  Der  Streit 
zwischen  den  Lunaires  und  den  Antilunaires  trägt  zur  Verbrei- 
tung der  Schrift  bei.  Die  Exemplare  des  Manuskripts  werden 
unter  der  Hand  verkauft  ('se  vendirent  sous  le  manteau').  Aber  die 
Sache  wird  allmählich  schlimmer.  Eine  Deputation  von  neun 
oder  zehn  Mönchen  ('barbes  ä  longue  rober)  erscheint  im  Schlols 
und  verlangt  die  Herausgabe  des  Hexenmeisters.  Aus  Rücksicht 
auf  den  Schlofsherrn  werde  man  ihn  ohne  Skandal  verbrennen. 
Colignac  lacht  sie  aus  und  verspricht  Cyrano,  der  ängstlich  ge- 
worden ist,  seinen  Schutz.  Mit  einem  gebildeten  Nachbarn,  dem 
Marquis  de  Cussan,  zusammen  führen  sie  ein  genufsreiches  Leben 
mit  Jagd,  Promenade,  Besuchen,  Lektüre  und  wissenschaftlichem 
Gespräch,   bald  in  Cussan,   bald  in  Colignac.     Unterdessen  hetzt 


184  Cyrano  de  Bergerac. 

aber  ein  Pfaffe,  Messire  Jean,  dem  wir  schon  in  den  Lettres  be- 
gegnet sind,  gegen  Cyrano.  Dieser  wird  durch  seinen  Dämon, 
der  auch  den  beiden  Freunden  gleichlautende  Träume  eingibt, 
gewarnt.  Diese  Träume  werden  ausführlich  erzählt  und  erinnern 
ebenfalls  an  die  Träume  in  den  Briefen. 

Bei  der  Übersiedelung  nach  Cussan  wird  Cyrano  von  einer 
Bande  von  Bauern  unter  der  Führung  des  Pfarrers  (Messire  Jean) 
aufgehoben.  Die  Schilderung  des  Überfalls  ist  ein  Muster  gro- 
tesker Komik  und  gehört  wie  die  ganze  Zwischenerzählung,  welche 
die  beiden  Reisen  verbindet,  zu  dem  Besten,  was  aus  Cyranos 
Feder  geflossen.1 

Unter  den  Büchern,  die  bei  dieser  Gelegenheit  in  die  Hände 
der  Bauern  fallen,  befindet  sich  La  Physique  de  Monsieur  des 
Cartes*  mit  den  Kreisen,  welche  die  Planetenbewegung  darstellen, 
und  vor  welchen  die  Bauern  samt  dem  Pfarrer  einen  abergläu- 
bischen Schrecken  bezeugen.  Das  Reitpferd  Cyranos,  der  allein 
ist,  reifst  aus,  das  Maultier  mit  den  Büchern  wird  in  den  Pfarr- 
hof getrieben,  unser  Autor  in  einem  benachbarten  Flecken  in 
das  Gefängnis  geschleppt.  Von  diesem  wird  eine  haarsträubende 
Schilderung  entworfen.  Immerhin  gelingt  es  dem  Gefangenen 
durch  Bestechung  des  Kerkermeisters  und  seines  Knechtes,  sich 
etwas  Essen  und  eine  Gelegenheit  zur  Flucht  zu  verschaffen. 
Er  erfindet,  dafs  ihm  ein  Engel  den  Besuch  der  Kirche  mit  dem 
Knecht  empfohlen  habe,  und  macht  sich  während  der  Messe  davon 
nach  Toulouse.  Unglücklicherweise  stöfst  er  beim  Umherirren 
auf  den  Kerkermeister,  der  ihn  erkennt  und  verfolgt.  Es  gelingt 
Cyrano  zwar  durch  eine  List,  diesen  verhaften  zu  lassen,  aber 
auf  der  Flucht  gerät  er  immer  wieder  in  feindliche  Hände.  Die 
Verkleidung  als  Bettler,  die  Vermummung  als  Aussätziger  helfen 
nur  für  kurze  Zeit.  Den  Häschern  der  Stadt  wird  er  von  deneu 
des  Grofsprofosen  entrissen;  während  beide  Parteien  sich  um 
die  Beute  streiten,  flüchtet  er  sich  wieder,  aber  zu  seinem  Un- 
glück in  das  Gefängnis  selbst  und  wird  zum  Gefangenen  des 
Königs  erklärt.  In  diesem  Turme  wird  er  einer  Art  von  ge- 
richtlicher Anthropometrie  unterworfen.  'Chaque  Guichetier  Vun 
apres  Vautre,  par  une  exacte  disseetion  des  parties  de  mon  visage,  venoit 


1  Die  Bibliotheca  Bodleiana  in  Oxford  enthält,  unter  Nummer  V  08 
der  Kollektion  Douce,  mit  zwei  anderen  Flugschriften  des  17.  Jahrhun- 
derts zusammengebunden  einen  in  Köln  bei  rierre  Marteau  MDCXCIX 
gedruckten  anonymen  Sermon  du  Cure  de  Colignac,  der  von  La  Mon- 
naye,  Menagiana  vol.  III,  p.  68/69,  und  von  Ch.  Etienne  Jordan, 
Recueil  de  Litterature,  de  Philosophie  et  d'Histoire  (Amsterdam  1730)  p.  44, 
unserem  Cyrano  zugeschrieben  wird.  Bestimmte  Beweise  liegen  nicht  vor, 
aber  die  burleske  Predigt  verdiente  an  sich  publiziert  zu  werden,  und  ich 
habe  mir  dies  vorgenommen. 

-  Gemeint  sind  die  Principia  Philosophiae,  Amsterdam  1644,  in  wel- 
chen das  System  der  tourbillons  entwickelt  ist. 


Cyrano  de  Bergerac.  135 

tirer  mon  tableau  sur  la  toille  de  sa  memoire.'  Da  er  kein  Geld 
mehr  hat,  wird  er  für  die  Nacht  in  ein  schreckliches  unterirdi- 
sches Loch  geworfen.  Aus  diesem  wird  er  zwar  durch  die  Inter- 
vention von  Colignac  und  Cussan,  die  seine  Spur  aufgefunden 
und  jenes  Gefecht  zwischen  den  Häschern  veranlafst  hatten,  be- 
freit, aber  sie  können  nur  erreichen,  dafs  er  bis  zur  Beendigung 
der  Untersuchung  im  'Grofsen  Turm'  interniert  wird.  Von  ihnen 
erfährt  er  auch  das  Ende,  welches  der  Pfarrer  von  Colignac, 
'norman  de  nation  et  chicaneur  de  son  mestier'  verdientermafsen  er- 
fahren hat.  Er  ist  durch  den  Hufschlag  von  Cyranos  Pferd,  das 
er  für  sich  einfangen  wollte,  getötet  worden.  Cyrano  läfst  sich 
in  sein  Turmzimmer  mit  flachem  Dach  Bücher  und  Instrumente 
bringen  und  fabriziert  eine  Flugmaschine,  die  in  der  Amster- 
damer Ausgabe  von  1710,  vol.  H,  p.  79,  abgebildet  ist  und  so 
beschrieben  wird:  'Es  war  eine  grofse,  sehr  leichte  und  gut- 
schliefsende  Kiste  (boite),  sechs  Fufs  hoch  und  drei  bis  vier  Fufs 
breit;  im  Boden  und  in  der  Decke  waren  Öffnungen  angebracht. 
In  der  oberen  steckte  genau  eingepafst  das  Rohr  eines  zwanzig- 
eckigen Kristallgefäfees,  welches  einen  Brennspiegel  bildete,  da 
jede  Fläche  (facette)  konvex  und  konkav  war.  In  der  Kiste  war 
eine  kleine  Sitzbank  angebracht.' 

Nachdem  er  die  Abwesenheit  seiner  Wächter  dazu  benutzt 
hat,  diese  Maschine  auf  der  Terrasse  seines  Turmes  der  Sonne 
auszusetzen,  fliegt  er  eines  Morgens  nach  neun  Uhr  auf.  Die 
Sonne  erhitzt  und  verdünnt  durch  den  ikosaedrischen  Helm  der 
Maschine  die  Luft,  und  die  von  unten  nachdrängende  kalte  Luft 
hebt  sie  in  die  Höhe.  In  dem  Innern  seines  Schreins  (ehässe) 
entwickelt  sich  ein  prächtiges  Farbenspiel.  Das  rasche  Auf- 
steigen verhindert  es,  dafs  er  mit  einem  angebrachten  Segel 
steuern  kann,  um  nach  Colignac  zu  kommen.  So  gibt  er  das 
Segel  preis.  Auch  oberhalb  der  mittleren  Region  bleibt  die  Auf- 
wärtsbewegung konstant,  weil  der  Äther  zum  Luftzug  wird.  In 
der  mittleren  Region,  wo  Kälte  und  Hunger  ihn  plagen,  stärkt 
sich  Cyrano  mit  einer  Flasche  Lebensessenz.  In  gröfserer  Höhe 
läfst  die  steigende  Sonnenwärme  die  niederen  Bedürfnisse  des 
Organismus  nicht  mehr  aufkommen.  Da  die  radikale  Feuchtig- 
keit (kumeur  radicale)  im  Grunde  identisch  ist  mit  der  Körper- 
wärme (chaleur  naturelle)  oder  durch  sie  ersetzt  werden  kann,  so 
entsteht  in  der  Zusammensetzung  des  Körpers  kein  Defekt  bei 
zunehmender  Sonnenwärme.  'Je  n'avois  garde  d'en  manquer  dans 
une  region  oü  de  ces  petits  corps  de  flame  qui  fönt  la  vie  il  s'en  re- 
unissoit  davantage  ä  mon  estre  qu'il  ne  s'en  detachoit.'  Dafs  die 
Sonnennähe  ihn  nicht  verzehrt,  kommt  davon,  dafs  es  eigentlich 
nicht  das  Feuer  ist,  welches  brennt,  sondern  ein  gröberer  Stoff, 
welchen  das  Feuer  vor  sich  herstöfst.  'Dieses  Funkenpulver 
(poudre  de  bluettes),   welches  ich   Feuer  nenne,  durch   sich  selbst 


136  Cyrano  de  Bergerac. 

beweglich,  verdankt  wohl  alle  seine  Bewegung  (action)  der  Rund- 
heit seiner  Atome,  denn  sie  kitzeln,  erhitzen,  verbrennen  je  nach 
der  Natur  der  Körper,  welche  sie  mit  sich  ziehen/  Als  Beweis 
wird  das  Verhalten  von  Strohhalm,  Holz,  Eisen  gegenüber  dem 
Feuer  betrachtet.  Auch  die  Freude  und  das  Fieber  sind  im 
Grunde  ein  Feuer. 

Während  seines  Fluges  beobachtet  er  die  Erde,  welche  sich 
von  Osten  nach  Westen  (sie)  um  die  Sonne  dreht.  Zuerst  kommt 
nach  Frankreich  Italien,  Griechenland,  der  Bosporus,  das  Schwarze 
Meer  usw.  in  Sicht.  Bei  weiterem  Aufstieg  erscheinen  andere 
ungenannte  Erden  (terres),  die  etwelche  Attraktion  auf  ihn  aus- 
üben, aber  ohne  die  Kraft  seines  Aufstieges  brechen  zu  können. 
Den  Mond  passiert  er,  während  dieser  zwischen  Erde  und  Sonne 
steht.  Er  läfst  Venus  zur  Rechten.  Nach  neueren  astronomischen 
Theorien  hebt  er  ihre  Planetennatur  hervor.  'Ich  beobachtete 
immerhin,  dafs  während  der  ganzen  Zeit,  wo  Venus  diesseit  (au 
dega)  der  Sonne  erschien,  um  welche  sie  sich  dreht,  sie  beständig 
im  Wachsen  schien/  Dafs  die  Planeten  nur  reflektiertes  Licht 
haben  und  abgeben,  beobachtet  er  auch  an  Merkur,  ebenso  sieht 
er  die  Monde  der  Planeten.  Er  sucht  nach  kosmologischen 
Gründen,  um  diese  zu  erklären.  Im  Anfang  der  Schöpfung 
einigten  sich  die  ähnlichen  Körper  nach  dem  Prinzip,  dafs  jedes 
Ding  seinesgleichen  sucht.  Die  Ähnlichkeit  besteht  aber  in  der 
Form  der  Atome.  So  entstand  die  Luft.  Andere,  denen  die 
Gestalt  möglicherweise  eine  Kreisbewegung  verlieh,  bildeten,  indem 
sie  sich  vereinigten,  die  Gestirne,  welche  sich  nicht  nur  um  ihre 
Achse  drehten,  sondern  sich  auch  von  der  Masse  trennten  und 
anderen  kleineren  Kugeln,  die  in  ihre  Sphäre  gerieten,  die  rotie- 
rende Bewegung  aufzwangen.  Der  Übergang  der  Erde,  der  Venus, 
des  Merkur,  des  Jupiter,  des  Saturn  aus  Sonnen  in  Planeten  wird 
durch  Erkälten  erklärt.  Die  Sonnenflecken  beweisen,  dafs  auf 
der  Sonne  mit  dem  Abgeben  des  Lichtes  eine  Verminderung  der 
Wärme  verbunden  ist,  und  dafs  vielleicht  die  Sonne  einst  ein 
dunkler  Körper  wie  die  Erde  sein  wird.  Zur  Zeit,  wo  die  Erde 
noch  eine  Sonne  war,  war  sie  bewohnt  von  höheren  Wesen,  den 
Dämonen  des  Altertums,  den  Engeln  der  Heiligen  Schrift. 

Nach  viermonatlicher  Reise  landet  Cyrano  auf  einem  der 
Sonnenflecken;  sein  Kopf  ist  umgeben  von  der  Helligkeit  der 
Himmel.  Er  läfst  seine  Maschine  mit  verdecktem  Hut  auf  einem 
hohen  Berge;  durch  Erosionsrinnen  verschwundener  Gewässer 
steigt  er  in  eine  mit  Schlamm  bedeckte  Ebene  hinunter,  kommt 
dann  in  eine  Kiesgrube  (fondriere),  wo  er  einen  kleinen  Menschen 
ganz  nackt  auf  einem  Steine  sitzen  sieht.  Sie  unterhalten  sich 
sogleich  mit  vollem  Verständnis  in  einer  Sprache,  die  Cyrano 
nie  gehört  hat  und  doch  versteht.  Der  Kleine  erklärt  ihm  das 
durch    den  Satz,   dafs   es   in   den  Wissenschaften    eine  Wahrheit 


Cyrano  de  Bergerac.  137 

gebe,  aufserhalb  welcher  man  immer  vom  Verständnis  entfernt 
bleibe.  Das  nämliche  gelte  auch  von  der  Musik.  Sie  unterhalten 
sich  nun  über  diese  Ursprache  der  Menschheit,  welche  ein  In- 
stinkt der  Natur  ist  und  einst  auch  von  den  ersten  Menschen 
auf  der  Erde  gesprochen  wurde  und  deren  intimen  Verkehr  mit 
den  Tieren  ermöglichte. 

Der  Kleine  erklärt  Cyrano  die  Beschaffenheit  des  Bodens, 
auf  dem  sie  stehen.  Diese  Kosmologie  sieht  antik  aus.  Das 
Eigentümliche  daran  ist  die  dreifache  'codion',  welcher  die  Materie 
ausgesetzt  wird,  um  den  Menschen  hervorzubringen.  Die  vorher- 
gehenden Stadien  sind:  das  Meer  (feucht  und  salzig)  und  das 
Vegetative.  Die  drei  coctions  entsprachen  der  vegetativen  Seele 
(Leber,  Fähigkeit  zu  wachsen),  der  Lebenskraft  (Herz,  Sitz  der 
Tätigkeit)  und  dem  Intellekt  (Gehirn,  Sitz  des  Denkens).  Daher 
braucht  der  Mensch  auch  neun  Monate  zur  Entwickelung.  Wenn 
das  Pferd  zehn  bis  vierzehn  braucht,  so  kommt  das  nicht  von 
höherer  Organisation,  sondern  von  kälterem  Temperament,  wes- 
halb auch  das  Pferd  nur  an  geschwollener  Milz  oder  anderen 
Übeln  stirbt,  die  von  Melancholie  kommen.  Wenn  jetzt  auf  der 
Erde  keine  Menschen  mehr  aus  dem  Schlamm  entstehen,  so 
kommt  das  davon,  dafs  die  kalte  Feuchtigkeit  fehlt;  die  zweite 
oder  die  dritte  Umkochung  fällt  fort,  es  entsteht  eine  Pflanze 
(vegetal)  oder  höchstens  ein  Insekt.  Auch  habe  er  bemerkt,  dafs 
der  Affe,  welcher,  wie  wir,  seine  Kleinen  neun  Monate  lang 
trägt,  uns  nach  so  viel  Seiten  ähnelt,  dafs  viele  Naturforscher 
uns  als  Art  nicht  unterschieden  haben,  und  der  Grund  dafür  ist, 
dafs  ihr  Samen,  der  ungefähr  gleich  temperiert  ist  wie  der  un- 
serige,  während  dieser  Zeit  ungefähr  die  Mufse  gehabt  hat,  diese 
drei  Umformungen  (digestions)  durchzumachen. 

Dafs  der  kleine  nackte  Mann  so  gut  Auskunft  weifs  über 
Dinge  im  Weltall,  auch  auf  der  Erde,  erklärt  sich  leicht;  denn 
in  einer  der  Sonne  benachbarten  Gegend  wie  die  seinige  sind 
die  Seelen  voll  Feuer  und  viel  heller,  viel  feiner  und  durch- 
dringender als  andere  Geschöpfe  auf  entfernteren  Sphären;  ihre 
bewegliche  Vernunft  bewegt  sich  ebenso  leicht  rückwärts  als  vor- 
wärts, und  sie  ist  imstande,  die  Ursache  durch  die  Wirkung  zu 
erreichen,  da  sie  ja  durch  die  Ursache  zu  den  Wirkungen  zu  ge- 
langen vermag. 

Die  Diskussion  wird  dadurch  unterbrochen,  dafs  der  Kleine 
als  Hebamme  funktionieren  mufs  bei  der  Geburt  eines  Bruders, 
der,  wie  er  selbst  vor  drei  Wochen,  geboren  werden  soll  aus 
einem  von  der  Sonne  befruchteten  Erdklofs.  Cyrano  sucht  seine 
Maschine  auf,  die  im  Begriff  ist,  ohne  ihn  davonzufliegen.  Nach 
einer  aufregenden  Jagd  gelingt  es  ihm,  sie  wieder  einzufangcn 
und  in  ihr  zur  Sonne  aufzusteigen.  Die  Erde  verschwindet  dabei. 
Auf   der  Reise   braucht   er   weder   Nahrung   noch   Schlaf.      Das 


138  Cyrano  de  Bergerac. 

Körperliche,  auch  seiner  Maschine,  fällt  in  Gestalt  eines  schwarzen 
Nebels  von  ihm  ab,  und  er  wird  durchsichtig  wie  seine  Maschine. 
Er  sieht  sich  selbst,  aber  nicht  seine  Loge,  weil  die  Sonne  an- 
ders wirkt  auf  Belebtes  als  auf  Unbelebtes.  Seine  Bewegung 
wird  langsamer,  weil  die  Verdünnung  der  Luft  immer  gröfser 
wird.  Er  fürchtet  daher  zu  fallen,  aber  als  er  in  der  äufsersten 
Not  die  Augen  zum  Himmel  erhebt,  hebt  die  Glut  seines  Willens 
ihn  selber  samt  der  Maschine.  Da  diese  seinem  dagegendrängen- 
den  Kopfe  unangenehm  wird,  öffnet  er  tastend  die  Türe  und 
stürzt  sich  hinaus,  und  da  er  instinktiv,  um  sich  zu  halten,  den 
Ikosaeder  berührt,  springt  dieser  in  Stücke,  die  Maschine  fällt 
hinunter,  vereinigt  sich  in  der  unteren  Region  mit  dem  dunklen 
Nebel,  den  sie  abgesondert  hat,  und  gelangt  zur  Erde,  in  der 
Aquatoriallinie,  auf  Borneo,  wo  ein  Insulaner  sie  findet,  ein  por- 
tugiesischer Kaufmann  sie  erwirbt,  bis  sie  von  Hand  zu  Hand 
an  einen  polnischen  Ingenieur  kommt,  der  sich  ihrer  zum  Fliegen 
bedient.  Cyrano  hat  sie  selbst  in  ihrem  ursprünglichen  Zustand 
in  Polen  wiedergesehen. 

Sein  weiterer  Flug  zur  Sonne  wird  nur  durch  seinen  Willen, 
dorthin  zu  kommen,  gefördert.  Darin  liegt  nichts  Unverständ- 
liches, wie  an  dem  Beispiel  des  Sprunges  expliziert  wird.  Wenn 
ein  solcher  nicht  immer  zum  Ziele  führt,  so  kommt  dies  davon, 
dafs  die  allgemeinen  Prinzipien  in  der  Natur  die  besonderen  über- 
wiegen. Da  nun  die  Macht  des  Willens  eine  besondere  Eigen- 
schaft der  empfindenden  Dinge  ist,  die  Eigenschaft  nach  dem  Zen- 
trum zu  fallen  aber  allgemein  in  der  ganzen  Materie  verbreitet 
ist,  so  ist  mein  Sprung  gezwungen,  aufzuhören,  sobald  die  Masse, 
nachdem  sie  den  Einflufs  des  sie  überraschenden  Willens  über- 
wunden hat,  sich  dem  Punkte  nähert,  nach  welchem  sie  tendiert. 

Nach  einer  Reise  von  22  Monaten  kommt  er  in  den  'grofsen 
Ebenen  des  Tages'  an.  Der  Boden  gleicht  dort  feuerfarbigen 
Schneeflocken  (flocons  de  neige  ambrasee),  so  leuchtend  ist  er.  Wie 
Cyrano  von  dem  Augenblick  an,  wo  sein  Kasten  fiel,  nicht  mehr 
unterscheiden  konnte,  ob  er  steige  oder  falle,  so  ist  auch  das 
Gehen  auf  der  Sonne  beständig  aufrecht,  auf  welchen  Körperteil 
er  sich  auch  dabei  stützt.  Er  erkannte  daraus,  dafs  die  Sonne 
eine  Welt  ist,  welche  kein  Zentrum  hat,  und  da  er  sehr  weit 
von  der  Anziehungssphäre  unserer  Welt  und  aller,  welche  er 
begegnet  hatte,  ist,  so  war  es  folgerichtig  unmöglich,  dafs  er  noch 
Gewicht  hatte,  da  die  Schwere  nur  die  Attraktion  des  Zentrums 
innerhalb  der  Sphäre  seiner  Wirksamkeit  ist. 

Nach  einer  Reise  in  der  Sonne  von  ungefähr  14  Tagen, 
wobei  er  marschiert  wie  Gott  in  den  Wolken  schwebt,  kommt 
er  in  eine  weniger  leuchtende  Gegend.  Durch  das  Wiederauf- 
treten der  Undurchsichtigkeit  (opacite),  nach  der  sich  sein  Körper 
zu  sehnen  scheint,   wird  er  müde  und  empfindet  Schlaf,  'diesen 


Cyrano  de  Bergerac.  139 

Tyrannen  der  Hälfte  unserer  Tage'.     Er  schläft   auf   einer  ganz 
nackten  Ebene   ein   und   erwacht  unter   einem   Baume   mit  gol- 
denem  Stamme,    silbernen    Ästen,    Smaragdblättern    und    Blüten 
und  Früchten  aus  Edelsteinen.     Auf  diesem  Wunderbaume  singt 
eine  wunderschöne  Nachtigall.    Ein  Granatapfel,  den  er  aufmerk- 
sam betrachtet,  verwandelt  sich  in  einen  Däumling,   der  vor  ihn 
tritt  und  in  der  Ursprache  mit  ihm  redet.    Nachdem  ihm  Cyrano 
über  seine  Person   Auskunft  gegeben,   belebt   der  Däumling   alle 
Teile  des  Wunderbaumes  zu  kleinen  Menschen,  die  seine  Unter- 
tanen sind.     Das  Mittel  ist,   dafs  er  sich   in  sich  selbst  sammelt 
und  alle  inneren  Federn  des  Willens  hemmt.     Alle  tanzen  einen 
Reihen  um  Cyrano,  nur  die  Nachtigall  bleibt  unverwandelt,  'weil 
sie  ein  wirklicher  Vogel  ist  und  nur  das,  was  sie  scheint.'     Auf 
der  Reise  zu  den  'dunklen  Gründen'  will  der  Däumling,  auf  den 
Schultern    Cyranos    stehend,   ihm    die    Geschichte   der   Nachtigall 
ins  Ohr  sagen.     Aber  er  ermüdet  zu  rasch  und  schlägt  vor,   die 
Nachtigall    solle    ihre   Geschichte    singen.     Cyrano   fürchtet,    die 
Sprache  der  Vögel   nicht   zu  verstehen,    da  er   von   dem  Weisen 
auf  dem  Sonnenflecken  nur   die  Sprache   der   vierfüfsigen  Tiere 
(brutes)  gelernt  habe.     Der  Däumling  gibt  nach,   springt  von  der 
Schulter   zu  Boden   und  fängt    an,   mit  seinem  ganzen  Volke   in 
Kreisen,  die  sich  immer  mehr  verdichten  und  verringern,  zu  tan- 
zen.     Cyrano    empfindet    die    rhythmische    Bewegung    mit.     'Es 
schien    die    Absicht    des    Balletts,    einen    enormen    Riesen    darzu- 
stellen', in  der  Tat  aber  entsteht  aus  diesem  Wirbel  ein  wunder- 
schöner Mann  mittlerer  Gröfse,  der  dadurch  Leben  gewinnt,  dafs 
ihm    der  König   des  Baumvolkes   in  den  Mund   kriecht,     Dieser 
Jüngling  nun  erzählt  seine  eigene  Geschichte  und  die  der  Nach- 
tigall:  Er   und   sein   Volk   sind   in   den   leuchtenden   Teilen   der 
Sonne  geboren  und  unternehmen  grofse  Reisen  durch  die  Sonnen- 
welt.    Um  langsamer  reisen    und   dadurch   besser   beobachten  zu 
können,  verwandelten  sie  sich  in  Vögel,  die  Untertanen  in  Adler, 
der   König   in   eine   singende   Nachtigall.     Auf  der  Reise   durch 
eine  dunkle  Provinz  (region  opaque)  trafen  sie  auf  eine  Nachtigall 
dieser  Gegend,   welche  sich   durch    das,  was   sie   sieht,   täuschen 
läfst  und  den  Sonnenkönig-Nachtigall,  weil  sie  ihn  in  der  Gewalt 
der  Adler  glaubt,  melodisch  beklagt.    Er  findet  so  sehr  Gefallen 
an  ihren  Klagen,   dafs  er  sie  in  ihrem  Irrtum  bestärkt,    und  die 
beiden    singen    ein    Liebesduett    der    zärtlichsten    Art    während 
24  Stunden.    Die  Nachtigall  der  dunklen  Welt  macht  sogar  einen 
heroischen  Versuch,    ihren    Freund    aus   der   vermeintlichen    Ge- 
fangenschaft zu  befreien,  und  läfst  sich  auch  durch  sein  Bekennt- 
nis nicht  eines  anderen  belehren.    Daher  verwandelt  er  sein  Volk 
zum  Teil  in  einen  Flufs  mit  kleinem  Schiff,  in  welchem  die  bei- 
den Nachtigallen  fahren,  während  die  Adler  vorausfliegen.    Nach 
der  Wiedervereinigung  verwandeln  sie  sich,   um   die   ungläubige 


140  Cyrano  de  Bergerac. 

Nachtigall  von  ihrem  wahren  Wesen  zu  überzeugen,  in  den 
Wunderbaum,  den  Cyrano  angetroffen  hat.  Alle  diese  Verwand- 
lungen sind  nach  der  Erklärung  des  Königs-Nachtigall  durchaus 
keine  Wunder,  sondern  rein  natürliche  Wirkungen  aus  der  leuch- 
tenden Natur  der  wahren  Sonnenbewohner.  Sie  sind  das,  was 
die  stumpfsinnigen  Menschen  der  Erde  Geister  (esprits)  nennen, 
tatsächlich  keine  anderen  Wesen  als  die  Menschen,  nur  dafs  ihnen 
ihre  feurige  Einbildungskraft  die  Fähigkeit  gibt,  die  Materie, 
welche  sie  völlig  beherrschen,  in  jedem  Augenblicke  nach  ihrem 
Gutdünken  zu  verwandeln  und  zu  gestalten  durch  impulsive  Be- 
wegungen. Cyrano  denkt,  dafs  sich  so  auf  der  Erde  manche 
Fabel  erklären  lasse:  Cippus,  König  von  Italien,  Gallus  Vitius, 
der  König  Codrus,  mehrere  schwangere  Frauen,  welche  Unge- 
heuer gebaren,  der  berühmte  Hypochonder  des  Altertums,  wel- 
cher sich  einbildete,  ein  Krug  zu  sein. 

Der  Sonnenkönig  verwandelt  sich  wieder  in  eine  Nachtigall, 
der  Jüngling  zerfällt,  die  Adler  fliegen  davon,  und  Cyrano  folgt 
der  wirklichen  Nachtigall  in  einer  dreiwöchentlichen  Reise  in  eine 
Gegend  des  Königreiches  dieser  kleinen  Sängerin,  wo  sie  ihn 
verläfst.  Er  legt  sich  an  einem  mit  allen  Reizen  der  Natur  ge- 
schmückten Plätzchen  *  zum  Schlafen  nieder. 

Er  wird  geweckt  durch  das  Erscheinen  eines  wunderschönen 
Vogels,  der  ihm  zu  verstehen  gibt:  'Du  bist  ein  Fremder  und 
geboren  in  einer  Welt,  der  ich  entstamme'.  Der  Vogel  setzt 
ferner  auseinander:  dafs  nicht  alle  Menschen  und  Vögel  sich 
gegenseitig  verstehen,  beweist  nichts  dagegen,  dafs  beide  Teile 
sprechen  können  und  vernünftige  Wesen  sind.  Apollonius  von 
Tyana,  Anaximander,  Asop  und  andere  haben  die  Vogelsprache 
verstanden.  Es  ist  also  kein  Wunder,  wenn  einzelne  Vögel  die 
Menschensprache  verstehen.  In  jeder  Welt  hat  die  Natur  den 
Vögeln  den  Wunsch  eingegeben,  zur  Sonne  zu .  gelangen,  und 
vielleicht  sind  ihnen  deswegen  Flügel  gewachsen,  wie  schwangere 
Frauen    ihren  Kindern    die  Muttermale    von  Dingen   einpflanzen, 

1  Die  Ausgabe  von  1710,  mit  welcher  nach  P.  Lacroix  p.  '207  die 
Originalausgabe  und  die  von  1761  stimmt,  schliefst  diesen  Abschnitt 
p.  153  mit  den  Worten:  'Ce  rocher  estoit  couvert  de  plusieurs  arbres,  dont 
la  gaillarde  et  verte  fraicheur  exprimoit  la  jeunesse:  mais  comme  deja  tout 
amoly  par  les  charmes  du  Heu  je  commencois  de  m'endormir  ä  l'ombre.' 
Der  folgende  Abschnitt  beginnt  in  allen  mir  bekannten  Ausgaben  mit 
den  Worten :  'Je  commencois  de  m'endortntr  ä  l'ombre  lors  que  f  apperceus 
en  l'air  un  Oiseau'  etc. 

Das  scheint  mir  zu  beweisen,  dafs  ursprünglich  die  Reise  in  die  Sonne 
eine  zusammenhängende  Erzählung  war  und  die  Unterabteilung  Histoire 
des  Oiseaux  erst  von  dem  Buchhändler  hinzugefügt  wurde.  Für  den  Vogel- 
staat fand  Cyrano  Beispiele  bei  Aristophanes  und  Rabelais.  Für  die 
sprechenden  Bäume  eine  Stelle  bei  Sorel  {Francion  p.  97) :  'J'ouis  un 
caquet  continuel  ...  il  y  avoit  six  arbres  qui  au  Heu  de  feuilles  avoient  des 
langues  menues  attachees  aux  branches.' 


Cyrano  de  Bergerac.  141 

nach  denen  sie  begehren,  wie  man  im  Traum  schwimmen  lernt, 
wie  der  Sohn  des  Krösus  sprechen  lernte,  wie  jenem  Verfolgten 
aus  dem  Altertum  Hörner  wuchsen.  In  der  Sonne  angekommen 
begibt  sich  jeder  Vogel  in  den  Staat  seiner  Art.  Der  zu  Cyrano 
sprechende  ist  ein  Phönix,  wie  es  deren  auf  jeder  Welt  nur 
einen  gibt,  der  nach  100  Jahren  ein  Ei  in  die  Kohlen  seines 
Scheiterhaufens  von  Aloe,  Canelle  und  Weihrauch  legt  und  sich 
zur  Sonne  aufschwingt.  Der  Phönix  ist  ein  Hermaphrodit,  aber 
unter  den  Hermaphroditen  gibt  es  noch  einen  anderen,  aufser- 
orclentlichen  Phönix,  denn  . . .  Der  Vogel  unterbricht  hier  seine 
Erklärung,  weil  er  Zeichen  des  Unglaubens  an  seinem  Zuhörer 
bemerkt,  und  fliegt,  nachdem  er  die  Wahrheit  seiner  Aussage 
eidlich  versichert,  fort.  Cyrano  folgt  ihm  und  gelangt  nach  einem 
Marsche  von  50  Meilen  in  das  Vogelreich. 

Er  wird  gleich  von  den  Vögeln  umringt  und  von  vier  Adlern 
durch  die  Luft  mehr  als  1000  Meilen  weit  in  einen  Wald  fort- 
getragen, wo  die  Residenz  des  Vogelkönigs  ist.  Eine  Elster 
warnt  ihn,  keinen  Widerstand  zu  leisten.  Er  wird  in  den  hohlen 
Stamm  einer  Eiche  gefangen  gesetzt  und  scharf  bewacht.  Die 
Wache  wird  alle  24  Stunden  abgelöst.  Die  Elster  teilt  ihm  mit, 
dais  die  Vögel  sehr  aufgebracht  gegen  ihn  seien  und  ihn,  als 
einen  Menschen,  ein  ganz  unnützes  und  abscheuliches  Wesen, 
den  Erbfeind  der  Vögel,  umbringen  wollten.  Sie  nennen  ihn 
kahles  Tier,  gerupften  Vogel,  Schimäre,  Sammelsurium  aller  Arten 
von  Naturen,  das  allen  Furcht  einflöfst.  Sehr  sarkastisch  machen 
die  weisen  Vögel  sich  lustig  über  den  Menschen,  der  mit  seiner 
hellsehenden  Seele  Zucker  und  Arsenik,  Schierling  und  Peter- 
silie nicht  unterscheiden  kann;  'der  Mensch,  welcher  behauptet, 
dals  man  nur  durch  die  Sinne  Verstandesempfindungen  hat,  und 
der  doch  die  schwächsten,  langsamsten  und  unzuverlässigsten 
Sinne  unter  allen  Kreaturen  hat/  Die  Menge  vollends  urteilt: 
'Wie,  er  hat  weder  Schnabel,  noch  Federn,  noch  Klauen,  und 
seine  Seele  sollte  geistig  (spirituelle)  sein?  Ihr  Götter!  welche 
Impertinenz !' 

Dennoch  wird  ihm  ein  regelrechter  Prozefs  gemacht.  Die 
Klageschrift  wird  auf  die  Rinde  einer  Zypresse  geschrieben,  und 
nach  einigen  Tagen  wird  er  vor  das  Vogeltribunal  getragen.  Als 
Advokaten,  Räte  und  Richter  fungieren  nur  Elstern,  Häher  und 
Stare,  welche  die  Sprache  des  Angeklagten  verstehen.  Er  wird 
rittlings  auf  ein  Stück  verfaulten  Holzes  gesetzt  und  von  dem 
Präsidenten  nach  Herkunft,  Nation  und  Art  befragt.  Auf  den 
Rat  der  Elster  gibt  er  sich  für  einen  Affen  aus,  der  sehr  früh 
vou  den  Menschen  seinen  Eltern  entrissen  worden  sei.  Seine 
Heimat  sei  Frankreich,  im  gemäfsigteu  nördlichen  Klima,  wo  er 
seine  Muttersprache  verlernt  und  die  schlechten  Gewohuheiten 
der  Menschen,  z.  B.  auf  zwei  Fülsen  zu  gehen,  angenommen  habe. 


112  Cyrano  äe  Bergerat, 

Man  solle  ihn  von  Experten  untersuchen  lassen,  und  wenn  er 
sich  als  Mensch  herausstelle,  so  wolle  er  als  Ungeheuer  (monstre) 
vernichtet  sein.  Eine  Schwalbe  wendet  ein:  In  Frankreich  er- 
zeugen die  Affen  nicht,  also  sei  der  Angeklagte  nicht,  was  er 
behaupte.  Cyrano  repliziert,  dafs  er  eben  so  jung  von  Hause 
fortgekommen  sei,  dafs  er  als  Heimat  nur  den  Ort  angeben 
könne,  dessen  er  sich  am  frühesten  erinnere.  Dieses  Argument 
überzeugt  eigentlich  niemanden,  aber  man  findet  es  nützlich,  an- 
zunehmen, 'dafs  ein  so  abscheuliches  Wesen  wie  der  Mensch 
überhaupt  nicht  existiere/  Vor  Entzücken  schlägt  das  ganze 
Auditorium  mit  den  Flügeln.  Er  wird  also  zur  Untersuchung 
durch  die  syndics  in  ein  entferntes  Gehölz  gebracht.  Während 
24  Stunden  machen  sie  ihm  allerhand  Kapriolen  vor,  Prozessionen 
mit  Nufsschalen  auf  dem  Kopfe,  Purzelbäume,  graben  kleine 
Gruben,  die  sie  wieder  zufüllen,  u.  ä.  Im  zweiten  Termin  geben 
die  syndics  auf  ihr  Gewissen  an,  dafs  sie  den  Angeklagten  nicht 
für  einen  Affen  halten,  weil  er  auf  ihre  Affereien  (singeries)  nicht 
reagiert  habe. 

Die  Abstimmung  wird  durch  Verdüsterung  des  Himmels 
unterbrochen,  denn  im  Reiche  der  Vögel  wird  ein  Kriminalpro- 
zefs  nur  bei  heiterem  Himmel  erledigt,  damit  dem  Angeklagten 
kein  Unrecht  geschehe  durch  die  traurige  Stimmung  der  Richter. 
Im  Gefängnis  wird  Cyrano  durch  Königsbrot  (pain  du  Roy)  ge- 
nährt, d.  h.  durch  etwa  fünfzig  Würmer  und  Grillen,  die  man 
ihm  von  sieben  zu  sieben  Stunden  bringt.  Nach  fünf  bis  sechs 
Tagen  erfährt  er,  dafs  sein  Prozefs  verschoben  worden  sei  wegen 
einer  Klage,  welche  die  Gemeinde  der  Kohlmeisen  (communaute 
des  Chardonets)  gegen  einen  der  ihren  angestrengt  hat,  dem  es 
seit  sechs  Jahren  nicht  gelungen  ist,  einen  Freund  zu  erwerben. 
Er  wird  daher  verurteilt,  König  eines  ihm  fremden  Volkes  zu 
werden.  So  wird  er  alle  Mühsale  und  Bitternisse  des  König- 
tums erleiden,   ohne    eine   seiner  Freuden   geniefsen   zu   können. 

Gegen  Ende  der  Woche  wird  Cyrano  wieder  vor  seine 
Richter  gebracht.  Er  wird  auf  die  Gabel  eines  kleinen  blatt- 
losen Baumes  gesetzt;  die  Vögel,  sowohl  die  Gerichtspersonen 
(de  longue  rohe)  als  das  Publikum,  bedecken  die  Aste  einer  grofsen 
Zeder.  Die  Elster  steht  ihm  bei,  obschon  sie  zugibt,  dafs  die 
Gattung  Mensch  ausgerottet  zu  werden  verdiente.  Sie  erinnert 
sich  aber  mit  Dankbarkeit  an  ihr  Leben  unter  den  Menschen, 
besonders  an  die  guten  weichen  Käse. 

Cyrano  will  sich  vor  einem  Adler,  der  sich  auf  den  näch- 
sten Baum  setzt,  zur  Erde  werfen,  aber  die  Elster  belehrt  ihn, 
dafs  dieses  grofse  Tier  keineswegs  ihr  König  sei.  Dieser  Averde 
vielmehr  unter  den  schwachen  auserwählt,  damit  er  keine  Ty- 
rannei ausüben  könne.  Jede  Woche  versammeln  sich  die  Stände, 
um    über    den   König    zu  richten.     Er    sitzt    auf    einer   grofsen 


Cyrano  de  Bergerac.  143 

Eibe  (yf)  am  Rande  eines  Teiches,  Füfse  und  Flügel  gebunden. 
Wer  sich  über  ihn  zu  beklagen  hat,  kann  ihn  ins  Wasser  werfen, 
aber  er  niufs  nachträglich  seine  Anklage  beweisen;  sonst  stirbt 
er  des  traurigen  Todes,  d.  h.  er  wird  mit  traurigen  Liedern  zu 
Tode  gesungen.  Gegenwärtig  ist  eine  sanfte  Taube  König,  die 
nicht  begreifen  kann,  dafs  es  eine  Feindschaft  gibt. 

Die  mitleidige  Elster  wird  selbst  als  verdächtig  verhaftet. 
Als  die  Taube -König  ankommt,  wird  Klage  geführt  gegen  die 
Elster  von  dem  Grofszensor  der  Vögel.  Auf  die  Frage  nach 
ihrem  Namen,  und  ob  sie  den  Angeklagten  kenne,  gibt  sie  an, 
sie  heifse  Margot.  Auf  der  Erde  hat  sie  von  dem  anwesenden 
'guillery  l'enrume'  gehört,  ihr  Vater  heifse  'Courte  queüe'  und  ihre 
Mutter  '  Croquenoix' .  Sie  weifs  es  selber  nicht,  denn  sie  ist  ganz 
jung  ihren  Eltern  geraubt  worden.  Die  Mutter  starb  vor  Gram, 
der  Vater  ging  aus  Verzweiflung  in  den  'Krieg  der  Häher',  wo 
er  durch  einen  Schnabelhieb  in  das  Gehirn  getötet  wurde.  Die 
Elster  wurde  von  wilden  Tieren  geraubt,  die  man  Schweinehirten 
Borchers)  nennt,  und  in  ein  Schlofs  gebracht,  wo  sie  den  Ange- 
klagten kennen  lernte.  Dieser  sorgte  liebreich  für  sie,  schützte 
sie  vor  den  Verfolgungen  der  Dienstboten,  besonders  eines  ge- 
wissen Verdelet,  der  sie  der  Katze  geben  wollte  aus  Rache,  weil 
sie  ihn  unwillkürlich  verraten  hat.  (Die  Anekdote  scheint  aus 
Cyrauos  Leben  zu  stammen.)  Der  König -Taube  spricht  die 
Elster  unter  Verwarnung  frei  und  gibt  dem  Ankläger  das  Wort. 

Es  folgt  nun  das  lange  'Plaidoyer  vor  dem  Parlament  der 
Vögel,  bei  versammelten  Kammern,  gegen  ein  Geschöpf,  ange- 
klagt, ein  Mensch  zu  sein/  Er  vertritt  als  Zivilpartei  'Guille- 
mette  die  Fleischige,  Rebhuhn  von  Geburt',  welche  eben,  vom 
Blei  des  Jägers  verwundet,  von  der  Erde  kommt  und  Rache  an 
den  Menschen  heischt.  Da  der  Angeklagte  zu  diesen  gehört,  so 
sollte  er  unschädlich  gemacht  werden.  Aber  er  soll  nicht  un- 
gerecht behandelt  werden,  damit  wir  Vögel  nicht  den  Menschen 
gleich  werden. 

Der  Kern  (nceud)  der  Streitsache  besteht  darin,  zu  wissen, 
ob  dieses  Geschöpf  ein  Mensch  ist,  und  für  den  Fall,  dafs  wir 
erkunden,  dafs  er  es  ist,  ob  er  dafür  den  Tod  verdient. 

Die  Prämisse  wird  bewiesen  1)  durch  den  Abscheu,  welchen 
Cyrano  den  Vögeln  einflöfst,  2)  weil  er  lacht  wie  ein  Narr,  3)  weil 
er  weint  wie  ein  Tor,  4)  weil  er  sich  schneuzt  wie  ein  Bauer 
(vilain),  5)  weil  er  kahl  ist  wie  ein  Räudiger,  6)  weil  er  den  . . . 
vorn  trägt,  7)  weil  er  eine  Menge  kleiner,  viereckiger  Kiesel  im 
Munde  trägt,  die  er  weder  den  Verstand  hat  auszuspucken  noch 
zu  schlucken,  8)  weil  er  jeden  Morgen  Augen,  Nase  und  Mund 
zum  Himmel  aufhebt,  die  Hände  faltet  und  die  Beine  knickt 
und,  nachdem  er  einige  magische  Worte  gemurmelt,  aufsteht,  als 
ob  nichts  passiert  wäre.     Das  deutet  auf  Magie,   deren   nur   ein 


H4  Cyrano  de  Bergerac. 

Mensch  fähig  ist  mit  seiner  schwarzen  Seele;  also  ist  dieser  ein 
Mensch. 

IL  Soll  er  darum  getötet  werden?  Ja,  denn  alle  Wesen 
sind  von  der  Mutter  Natur  dazu  geschaffen,  in  Gemeinschaft  zu 
leben.  Wenn  nun  der  Mensch  dazu  bestimmt  scheint,  diese  Ge- 
meinschaft der  Schöpfung  zu  stören,  so  verdient  er,  dafs  die 
Natur  ihr  Werk  an  ihm  bereue.  Das  Fundamentalgesetz  jedes 
Staates  (repablique)  ist  die  Gleichheit  (egaliie).  Unter  nichtigen 
Vorwänden  seiner  Superiorität,  die  nur  eine  Barbarei  ist,  ohne 
die  Kraft  der  Adler,  Kondors  und  Greifen,  unterdrückt  er  die 
schwächeren  Vögel.  Ebensowenig  gibt  ihm  seine  gröfsere  Statur 
(auch  bei  den  Menschen  gibt  es  Riesen  und  Zwerge)  ein  Recht 
der  Herrschaft.  Diese  ist  überhaupt  bei  den  Menschen,  den  ge- 
borenen Sklaven,  imaginär.  Die  Armen  dienen  den  Reichen,  die 
Jungen  den  Alten,  die  Bauern  den  Edelleuten,  die  Prinzen  den 
Monarchen  und  diese  den  selbstgegebenen  Gesetzen.  Nur  um 
dienen  zu  können  und  der  Freiheit  zu  entgehen,  schmieden  sie 
sich  Götter  auf  allen  Seiten;  sie  werden  solche  lieber  aus  Holz 
machen  als  keine  haben,  und  der  Redner  glaubt  sogar,  dafs  sie 
sich  mit  den  falschen  Hoffnungen  auf  Unsterblichkeit  kitzeln, 
weniger  aus  dem  Schauer,  womit  das  Nichtsein  sie  erschreckt, 
als  durch  die  Furcht,  welche  sie  haben,  dafs  ihnen  nach  dem 
Tode  niemand  mehr  befehlen  wird. 

Von  diesem  törichten  Hochmut  ausgehend,  bildet  der  Mensch 
sich  ein,  dafs  die  Natur  alles  nur  zu  menschlichen  Zwecken  ge- 
schaffen habe,  wie  Vogeljagd  als  Preis  des  Adels,  Deutung  des 
Vogelflugs  und  der  Eingeweide  der  Vögel  (sie!). 

Für  die  Fehler,  welche  der  Mensch,  das  arme  Tier,  das  nicht 
wie  die  Vögel  mit  Vernunft  begabt  ist,  aus  Unverstand  begeht, 
verdient  er  zwar  nicht  den  Tod,  wohl  aber  für  die  aus  freiem 
Willen  begangenen  Missetaten,  wie  Vogelmord  und  Abrichtung 
der  Sperber,  Falken  und  Geier  zur  Jagd. 

Der  Redner  beantragt  den  traurigen  Tod.  Der  amtliche  Ver- 
teidiger verzichtet  aus  Gewissensgründen  auf  die  Verteidigung 
eines  solchen  Untiers  (monstre). 

Die  Elster,  welche  sich  hierauf  zur  Verteidigung  meldet, 
wird  recusiert,  als  zugunsten  des  Angeklagten  voreingenommen, 
denn  im  Gerichtshof  der  Vögel  darf  ein  Advokat  nur  für  die 
Sache,  nicht  für  den  Klienten  eingenommen  sein. 

Bei  der  Abstimmung  wird,  weil  der  König  zur  Milde  neigt, 
das  Urteil  dahin  abgeändert,  dafs  Cyrano  von  den  Mücken  ge- 
fressen werden  soll. 

Der  Angeklagte  wird  entfernt,  weil  ein  Vogel  in  Ohnmacht 
gefallen  ist.  Vorher  wird  ihm  das  Urteil  von  der  Ohreule,  welche 
als  Gerichtsschreiber  (greffier  criminel)  fungiert,  verlesen.  So- 
gleich   wird   der   Himmel    schwarz    von    kleinen   Insekten,    auch 


Cyrano  de  Bergerac.  145 

Flöhen  (sie!).  Fortgeführt  wird  Cyrano,  auf  einem  schwarzen 
Straufs  reitend,  welche  Stellung  als  schimpflich  gilt,  von  fünfzig 
Kondors  und  fünfzig  Greifen  und  gefolgt  von  einer  Schar  kräch- 
zender Raben.  Zwei  Paradiesvögel  sollen  ihn  auf  dem  letzten 
Gange  trösten,  und  folgendes  sind  ihre  Argumente: 

'Der  Tod  kann  kein  grofses  Übel  sein,  da  Mutter  Natur 
alle  ihre  Geschöpfe  ihm  unterwirft.  Er  ist  auch  nichts  Wichtiges, 
da  er  so  oft  und  ohne  Veranlassung  eintritt.  Wenn  Leben  oder 
Tod  ausgezeichnete  Dinge  wären,  so  läge  es  nicht  in  unserer 
Gewalt,  sie  zu  geben.  Es  ist  vielmehr  wahrscheinlich,  da  das  Ge- 
schöpf durch  Spiel  (jeu)  beginnt,  dafs  es  ebenso  endet.  Das  gilt 
für  den  Menschen,  dessen  Seele  nicht  unsterblich  ist  wie  die  der 
Vögel.  Wenn  du  stirbst,  stirbt  alles  mit  dir.  Was  dir  heute 
widerfährt,  geschieht  anderen  deinesgleichen  morgen.  Sie  sind 
beklagenswerter  als  du,  denn  wenn  der  Tod  ein  Übel  ist,  so 
steht  ihnen  dies  vielleicht  fünfzig  bis  sechzig  Jahre  lang  bevor, 
dir  nur  eine  Stunde.  Wer  nicht  geboren  ist,  ist  nicht  unglück- 
lich. Einen  Augenblick  nach  dem  Tode  wirst  du  sein  wie  einen 
Augenblick  vor  dem  Leben  oder  andere,  die  vor  abertausend 
Jahren  gestorben  sind.  Ist  aber  das  Leben  ein  Gut,  so  ist  nicht 
ausgeschlossen,  dafs  du  ein  zweites  Mal  seiest,  wenn  die  näm- 
lichen Zufälligkeiten  der  Materie,  die  dich  schufen,  sich  wieder 
zusammenfinden  sollten.  Dafs  du  dich  an  dein  erstes  Leben  er- 
innerst, ist  dabei  irrelevant,  wenn  du  dich  nur  leben  fühlst,  und 
vielleicht  wirst  du  dich  über  den  Verlust  des  zweiten  Lebens 
mit  den  Argumenten  trösten,  die  ich  dir  jetzt  vorhalte.  Aber 
wichtiger  ist  folgendes,  um  dich  zu  veranlassen,  diesen  Wermut 
(absinthe)  in  Geduld  zu  trinken.  Du  und  die  anderen  materiellen 
Tiere  (brutes)  werden  durch  den  Tod,  welcher  die  Materie  nicht 
vernichtet,  sondern  nur  verändert,  in  einen  anderen  Zustand  über- 
geführt. Wenn  du  auch  nur  ein  Erdklofs  oder  ein  Kiesel  wirst, 
so  ist  das  immer  noch  besser  als  ein  Mensch.  Aber  (und  das 
ist  ein  Geheimnis),  wenn  du  von  den  Mücken  und  kleineren  In- 
sekten gefressen  wirst,  wirst  du  in  ihre  Substanz  übergehen,  und 
wenn  du  selbst  auch  nicht  denkst,  wirst  du  sie  denken  machen.' 

Am  Hinrichtungsorte  warten  vier  Reiher  auf  vier  Bäumen. 
Fischadler  heben  den  Cyrano  iu  die  Höhe.  Die  Reiher  halten 
ihn  ausgespannt  in  der  Luft,  und  die  kleinen  Henker  machen 
sich,  jeder  an  seinem  Teile,  bereit,  als  der  Ruf:  Gnade!  Gnade! 
ertönt,  von  zwei  Turteltauben  überbracht.  Cyrano  fällt,  von  den 
Reihern  losgelassen,  auf  einen  weifsen  Straufs  herunter,  der  ihn 
im  Galopp  vor  den  König  bringt.  Sein  Retter  ist  Cäsar,  der 
Papagei  (perroquet)  von  Cyranos  Cousine,  dem  er  einst  die  Frei- 
heit wiedergegeben  hat,  und  zu  dessen  Gunsten  er  so  oft  den 
Satz  verfochten  hat,  dafs  die  Vögel  vernünftig  seien  (raison nent). 
Weil   nun,   wie   der  König -Taube   sagt,   eine  gute  Tat   bei   den 

Archiv  t.  n.  Sprachen.    CXV.  10 


116  Cyrano  de  Bergerae. 

Vögeln  niemals  verloren  ist,  und  in  Anerkennung  dessen,  dais 
er  die  Vögel  richtig  beurteilt  hat,  wird  er  frei.  Der  weifse  Straufs, 
geleitet  von  den  zwei  Turteltauben,  galoppiert  mit  ihm  einen 
halben  Tag  lang  und  verläfst  ihn  am  Eingang  eines  Waldes,  in 
den  Cyrano  eindringt  und  von  dem  herabträufelnden  Honig  sich 
nährt.  Aus  Müdigkeit  am  Fufse  der  Bäume  hingestreckt,  hört 
er  griechisch  reden  und  vernimmt  eine  medizinische  Konsultation, 
durch  welche  eine  Eiche  für  ihren  Freund,  die  Ulme  mit  drei 
Köpfen,  welche  von  einem  hektischen  Fieber  und  von  einem 
grolsen  Moosübel  (mal  de  mousse)  befallen  ist,  Hilfe  verlangt.  Der 
Rat  ist,  die  Ulme  solle  aus  ihrem  Bette  möglichst  viel  Feuchtes 
saugen,  fröhlich  sein  und  sich  von  den  Nachtigallen  etwas  vor- 
singen lassen.  Wenn  der  Zustand  sich  etwas  gebessert  hat,  wird 
ihr  der  Storch   ein  Klistier  geben. 

Nach  einiger  Zeit  hört  Cyrano  das  Zwiegespräch  der  ge- 
gabelten (fourchu)  und  der  frischen  Rinde,  die  einen  Menschen 
in  der  Nähe  wittern.  Er  ergreift  also  das  Wort  und  gibt  sich 
als  solchen  zu  erkennen;  ebenso  ihm  die  Eichen,  die  von  Dodona 
stammen.  Ein  Adler,  der  von  der  Erde  zur  Sonne  flog,  hat  sich 
einst  hier  seines  Überflusses  an  unverdauten  Eicheln  entledigt, 
und  daraus  sind  die  Eichen  entstanden.  Aber  nur  diese  Eichen 
sprechen  griechisch,  die  anderen  Bäume  haben  jede  Art  ihre  be- 
sondere Sprache,  die  im  Säuseln  des  Waldes  sich  äufsert, '  wel- 
ches aber  die  Menschen  zu  dumm  sind  zu  verstehen.  Ebenso- 
wenig merken  es  die  Menschen,  dafs  die  Bäume  leben  und  z.  B. 
der  Axt  des  Holzfällers  einen  bewufsten  Widerstand  entgegen- 
stellen. Es  folgt  eine  wundervolle  Schilderung  von  dem  Liebes- 
leben der  Natur.  Die  Vögel  singen  das  Lob  der  Bäume,  diese 
beschützen  deren  Nester  vor  dem  Menschen.  Nur  die  Wohnstätte 
(aire)  der  Raubvögel,  der  Zänker  und  der  Abschreckenden,  wie 
die  Eulen,  lassen  sie  ungedeckt.  Auch  die  Liebesszene  zwischen 
Baum  und  Erde  im  Frühling,  von  welcher  eine  sehr  weitgehende 
Schilderung  gegeben  wird,2  sehen  die  Menschen  beständig,  ohne 
sie  zu  begreifen.  Der  sprechende  Baum  bricht  hier  ab,  weil  ihm 
der  Atem  ausgeht.  Ein  anderer  befriedigt  die  Neugierde  Cyranos, 
indem  er  ihm  die  Geschichte  der  verliebten  Bäume  (arbres  amants) 
erzählt. 

Orestes  und  Pylades  fielen  in  einer  Schlacht,  sich  im  Sterben 
fest  umschlingend.  Aus  der  Verwesung  ihres  Rumpfes  erwuchsen 
zwischen  den  bleichenden  Knochen   ihrer   Skelette  zwei   Büsche, 


1  Wunderschöne  Stelle  und  frei  von  dem  Preziösen,  welches  das  sonst 
so  hübsche  Idyll  des  Campagnard  (s.  oben  Bd.  CXI.V,  S.  128)   entstellt. 

2  Dafs  diese  Stelle  in  der  Originalausgabe  unverkürzt  gegeben  wurde, 
scheint  mir  zu  beweisen,  dafs  Lebret  nicht  der  Redaktor  des  Textes  war. 
In  der  Ausgabe  von  Eugene  Müller  (s.  oben  Bd.  CXIII,  S.  :>5ö)  ist  sie 
ausgelassen. 


Oyrano  de  Bergerac.  147 

die  sich  in  ihren  Stengeln,  Zweigen  und  Knospen  wieder  zu  ver- 
einigen strebten  und  sich  ganz  gleichmäfsig  ernährten.  'Sie  zogen 
beide  die  Brustwarzen  ihrer  Amme  nach  innen,  wie  ihr  anderen 
sie  von  aufsen  aussauget/  So  erzeugten  sie  Wunderäpfel.  Wer 
von  den  Äpfeln  des  einen  als,  verliebte  sich  in  die  Person,  die 
von  den  Äpfeln  des  anderen  gegessen  hatte.  Unter  Personen 
des  gleichen  Geschlechtes  bewirkt  der  Genufs  Freundschaft,  bei 
ungleichem  Liebe.  Wer  mehr  davon  gegessen  hatte,  wurde  auch 
mehr  geliebt.  So  entstanden  die  Freundespaare  Herkules  und 
Theseus,  Achilles  und  Patroklus,  Nisus  und  Euryalus.  Man 
pflanzte  Absenker  dieser  Bäume  im  Peloponnes  und  bei  Theben. 
An  letzterem  Orte  entstand  so  die  Heilige  Schar  (bände  sacree). 
Aber  die  Äpfel  konnten  auch  Schaden  und  Gefahr  stiften,  z.  B. 
Myrrha  und  Kinyras  (hierbei  Wortspiel  mit  den  Folgen  dieses  In- 
cestes),  Pasiphae  und  der  Stier,  Pygmalion  und  die  Statue,  Iphis 
und  Janthe,  Narcissus  und  Echo,  Salmacis  und  Hermaphrodite. 
Diese  beiden  Fabeln  werden  in  einer  von  der  Tradition  abwei- 
chenden und  der  These  besser  entsprechenden  Form  erzählt. 
Seltsam  ist  die  Erzählung  von  der  Hochzeit  des  Cambyses,  bei 
welcher  dieser  Prinz  von  den  Äpfeln  des  Orestes  ifst.  Da  die 
Substanz  dieser  Frucht  sich  nach  den  drei  Umbildungen  (coctions) 
in  einen  vollkommenen  Keim  verwandelt  hatte,  bildete  sie  im 
Leibe  der  Königin  den  Embryo  ihres  Sohnes  Artaxerxes,  dessen 
Liebe  zu  einer  Platane,  auf  welche  sein  Vater  einen  Zweig  des 
Orestesbaumes  gepfropft  hat,  geschildert  wird.  Sein  Leichnam 
wurde  auf  dem  Scheiterhaufen  der  Platane  verbrannt,  und  ihre 
beiden  Seelen  stiegen  in  einer  Feuersäule  zur  Sonne  empor,  wo 
sie  den  Orestesbaum  erzeugten,  während  der  Eigennutz  der 
Mütter  diese  Pflanzen  auf  der  Erde  zerstörte,  so  dafs  man  dort 
keinen  wahren  Freund  mehr  findet.  Aber  aus  der  von  den 
Regengüssen  in  die  flammenden  Bäume  kalzinierten  Asche  ent- 
standen Eisen  und  Magnet,  die  sich  gegenseitig  anziehen.  Im 
Anschlufs  an  diese  Geschichte  wird  die  Natur  der  Erdpole  so 
entwickelt:  'Die  Pole  sind  die  Offnungen  (bouches)  des  Himmeis, 
durch  welche  er  das  Licht,  die  Wärme  und  die  Einflüsse  (in- 
fluences),  welche  er  auf  der  Oberfläche  verbreitet  hat,  wieder- 
gewinnt. Sonst,  wenn  nicht  alle  Schätze  (tresors)  der  Sonne  wieder 
zu  ihrer  Quelle  aufstiegen,  so  würde  es  nicht  lange  gehen  (da 
ihre  Helligkeit  nur  ein  Staub  entflammter  Atome  ist,  welche  sich 
von  ihrer  Kugel  [globe]  ablösen),  bis  sie  erloschen  wäre  und  nicht 
wieder  leuchtete,  oder  bis  dieser  Überflufs  kleiner  feuriger  Kör- 
per, welche  sich  auf  der  Erde  ansammelten,  um  sie  nicht  wieder 
zu  verlassen,  diese  aufgezehrt  hätten.  Also  müsse  es  im  Himmel 
Luftlöcher  (soüpiraux)  geben,  durch  welche  die  Anschoppungen 
(repletions)  der  Erde  und  anderer  (Weltkörper)  sich  entleeren,  und 
woraus  der  Himmel  seine  Verluste  deckt,  damit  der  ewige  Kreis- 

10* 


148  I  vrano  de  Bergerac. 

lauf  dieser  kleinen  Lebenskörper  allmählich  in  alle  Kugeln  (globes) 
des  groi'seu  Weltalls  eindringe.  Es  wird  behauptet,  die  Alten 
hätten  von  einem  entschwundenen  Heros  gesagt,  er  sei  zum  Pol 
aufgestiegen  u.  ä.  Auch  die  Beobachtung  moderner  Nordpol- 
fahrer über  das  Nordlicht  während  der  Polarnacht  spreche  dafür. 
Dieses  komme  von  den  Strahlen  des  Tages  und  von  einem  gro- 
fsen  Haufen  Seelen,  welche,  aus  leuchtenden  Atomen  bestehend, 
zum  Himmel  zurückkehren. 

Der  Diskurs  wird  unterbrochen  von  dem  Geschrei  der 
Bäume :  'gare  la  peste  et  passe  parole.'  Die  Gefahr  kommt  von  der 
Salamandre,  welche  das  Königreich  der  Bäume  zu  verbrennen 
droht.  Cyrano  will  fliehen,  verirrt  sich  aber  und  ist  nach  acht- 
zehn Stunden  hinter  dem  Walde,  aus  dem  er  fliehen  will.  Nach 
weiteren  vierhundert  Stadien  Marsch  wird  er  Zeuge  des  Kampfes 
zwischen  der  Salamandre  und  der  Remora,  auch  animal  glacon 
geheifsen.  Er  trifft  dort  mit  einem  Greise  zusammen,  der  durch 
Assimilation  an  Cyranos  Materie  dessen  Gedanken  errät  (hierbei 
eine  aktuelle  Erinnerung  an  Zwillinge  in  Paris  mit  unwillkürlich 
gleichen  Gedanken  und  Erlebnissen).  Es  ist  Thomas  Campa- 
nella,  der  ihm  alle  Auskunft  gibt  und  ihn  bis  ans  Ende  der 
Erzählung  begleitet. 

Auf  der  Erde  bewohnen  die  Remoren  das  Eismeer,  sie  er- 
zeugen durch  Verschlingen  des  Eises  die  eisfreien  Flächen,  welche 
man  gegen  den  Pol  hin  beobachtet  hat,  aber  auch  durch  ihr  Aus- 
speien die  Wiederbilduug  des  Eises  (hier  Anspielung  auf  Be- 
obachtungen von  Piloten  um  Grönland  herum).  Auf  dem  Laude 
nähren  sie  sich  von  Schierling,  Fingerhut,  Opium  und  'mandra- 
gore'.  Das  stygische  Wasser,  mit  dem  man  Alexander  den  Grofsen 
vergiftete,  war  Harn  eines  dieser  Tiere.  Sie  lassen  auch  die 
Schiffe,  welche  nach  dem  Nordpol  wollen,  einfrieren,  so  dafs  nur 
die  Hälfte  zurückkommt.  Die  Feuertiere  (bestes  ä  feu)  dagegen 
wohnen  unter  dem  Ätna,  dem  Vesuv  und  dem  Gap  rouge.x  'Die 
Knospen  (boutons),  welche  du  an  den  Brüsten  (gorge)  dieses  Tieres 
siehst,  und  welche  von  der  Entzündung  seiner  Leber  herrühren, 
sind  . . .  (hier  ist  offenbar  eine  Lücke  im  Text,  die  auch  von  der 
Amsterdamer  Ausgabe  als  solche  kenntlich  gemacht  ist.  Was  die 
Auslassung  veranlafst  hat,  ist  unklar). 

Das  Duell  endet  mit  dem  Tode  der  Salamandre.  Campa- 
nella ergreift  ihren  Leichnam,  nachdem  er  sich  die  Hände  mit 
Erde,  über  welche  sie  gegangen,  eingerieben  hat.  Er  will  sie  als 
unverwüstliches   Brennmaterial   in   seiner  Küche   an   dem  Koch- 


1  Es  gibt  ein  Vorgebirge  dieses  Namens  zwischen  Quebec  und  Mont- 
real, in  einer  Gegend,  die  Cyrano  kennt  (s.  oben  Bd.  CXIV,  S.  377),  aber 
es  ist  nicht  vulkanisch.  Vielleicht  liegt  eine  Verwechselung  mit  Feuer- 
land vor. 


Cyrano  de  Bergerac.  149 

kessel  (erimiliere  —  cremaillere)  aufhängen.  Die  Augen  sollen  ihm 
zur  Beleuchtung  dienen.  Schon  die  Alten  hätten  diese  benutzt 
als  'lampes  ardentes'.  Man  habe  sie  in  Gräbern  gefunden,  aber 
aus  Unverstand  zerstört.  Aus  dem  Laich  der  Remoren  entstehen, 
wenn  ein  Schiff  darüber  fährt,  eine  Art  fliegender  Fische,1  die 
man  Maquereuses  nennt,  und  die  eine  Fasteuspeise  sind. 

Cyrano  und  Campanella  setzen  ihre  Reise  durch  die  Sonne 
fort.  Diese  ist  in  Königreiche,  Republiken,  Staaten  und  Fürsten- 
tümer eingeteilt  wie  die  Erde.  Die  vierfüfsigen  Tiere,  die  Vögel, 
die  Pflanzen,  die  Steine  haben  ihre  besonderen  Reiche,  und  nur 
ein  Philosoph  darf  ungestraft  alle  besuchen.  Campanella  erklärt, 
er  sei  auf  der  Reise  in  die  Provinz  der  Philosophen  begriffen. 
Die  Sonne  ergänzt  sich  nämlich  durch  die  Seelen  der  aus  dem 
Merkur,  Venus,  der  Erde,  Mars,  Jupiter  und  Saturn  abgeschie- 
denen Pflanzen,  Tiere  und  Menschen.  'Die  gröbsten  dienen  ein- 
fach dazu,  das  Fett  (embonpoint)  der  Sonne  zu  ersetzen,  die  feinen 
schleichen  sich  an  den  Platz  ihrer  Strahlen,  aber  diejenigen  der 
Philosophen,  die  in  ihrem  Exil  nichts  Unreines  angenommen 
haben,  gelangen  ganz  in  die  Sphäre  des  Lichtes  (jour),  um  dessen 
Bewohner  zu  werden,  während  die  anderen  in.  der  Masse  der 
Sonne  aufgehen/ 

Campanella  zeigt  sich  eilig,  um  mit  dem  erst  angekommenen 
Descartes  zusammenzutreffen,  für  dessen  Philosophie  er  eine  hohe 
Verehrung  bezeugt.  Cyrano  macht  ihn  auf  einen  Widerspruch 
in  der  kartesianischen  Lehre  aufmerksam,  der  darin  besteht,  dafs 
Descartes  an  den  Anfang  aller  Dinge  ein  festes  Chaos  stellt,  das 
durch  Gott  in  eine  unzählige  Menge  kleiner  Würfel  aufgelöst 
wird,  deren  jedem  von  Gott  eine  entgegengesetzte  Anfangs- 
bewegung gegeben  wird,  aus  denen  durch  Reibung  kleinste  Körper 
von  allen  Formen  entstehen.  Diese  Bewegung  enthält  geometrische 
Widersprüche  und  läfst  sich  ohne  Annahme  des  Vakuums  nicht 
erklären.  Campanella  meint,  Descartes  werde  diesen  Widerspruch 
leicht  durch  Erklärung  beseitigen.  Auch  über  einen  anderen 
Widerspruch  im  kartesianischen  System2  geht  Campanella  etwas 


1  Nach  P.  Brun  p.  298  wäre  diese  Meinung  in  Cyranos  Zeit  allgemein 
verbreitet  gewesen. 

2  Auch  hier  zeigen  Varianten  in  den  Ausgaben,  dafs  fast  von  Anfang 
an  am  Cyranotext  Änderungen  vorgenommen  worden  sind,  die  ihm  nicht 
zum  Vorteil  gereichten.  In  der  Diskussion  vertritt  Campanella  den  Stand- 
punkt Descartes',  Cyrano  den  Gassendis.  Es  ist  aber  nicht  ganz  leicht, 
in  den  Textworten  die  beiden  Sprecher  auszuscheiden.  Die  Kritik  Cyranos 
beruht  darauf,  dafs  es  nicht  logisch  sei,  wenn  nach  Descartes'  Meinung 
unser  Verständnis  begrenzt,  die  von  demselben  zu  erfassende  Materie  aber 
unbegrenzt  teilbar  sei.  Über  die  Textvarianten  vgl.  P.  Lacroix  I,  p.  260 
Anm.  1.  Die  Ausgaben  von  1710  und  1761  stimmen  auch  hier  überein. 
Ob  die  Originalausgabe  ihren  Text  oder  den  von  P.  Lacroix  gegebenen 
fehlerhaften  hat,  kann  ich  nicht  entscheiden. 


150  Cyrano  de  Bergerac. 

oberflächlich  hinweg,  da  sie  in  dem  Wundertal  ankommen,  wel- 
ches den  See  des  Schlafes,  die  fünf  Quellen  und  die  drei  Flüsse 
enthält,  und  dessen  Wohltaten  sich  auf  das  ganze  Universum 
ausdehnen.  Die  fünf  Quellen  sind  die  fünf  Sinne,  die  nur  fünf- 
zehn bis  sechzehn  Stunden  tätig  sind  und  bei  der  Annäherung 
an  den  See  immer  schwächer  werden.  Nachdem  die  Nymphe 
des  Friedens  in  der  Mitte  des  Sees  sie  eine  Zeitlang  gewiegt 
hat,  treten  sie  auf  der  anderen  Seite  des  Sees  wieder  in  die  Er- 
scheinung und  zwar  Gehör  und  Tastsinn  zuerst,  der  Geschmack 
zuletzt.  Die  Beschreibung  der  Grotte  des  Schlafes  ist  wie  bei 
Ovid.  Hier  träumt  Cyrano  den  'gelehrtesten  und  geistreichsten 
Traum  der  Welt',  aus  dem  der  Philosoph  ihn  weckt,  und  dessen 
Erzählung  er  uns  schuldig  bleibt,  vielleicht  nur  aus  dem  Grunde, 
weil  er  ihn  dem  Leser  in  einem  seiner  'Briefe'  bereits  geschildert 
hat  (s.  oben  Bd.  CXTV,  S.  129).  Eine  Anspielung  auf  sich  selbst 
ist  vielleicht  die  lobende  Bemerkung  über  die  'philosophes-reveurs 
dont  nos  ignorans  se  moquent'.  Bei  raschem  Weitergehen,  einer 
Art  Fliegen,  kommen  sie  zu  den  Flüssen  Gedächtnis  (Memoire), 
Einbildungskraft  (Imagination)  und  Urteil  (Jugement). 

Die  Sonnenbewohner,  deren  brennende  Atome  beim  Tode 
durch  diese  Flüssigkeiten  angefeuchtet  werden,  leben  7 — 8000 
Jahre  lang  und  zerfallen  dann  in  Teilchen  roter  Asche.  Aber 
dabei  bleibt  es  nicht,  sondern  nach  den  Fähigkeiten,  welche  sie 
durch  Benetzung  aus  den  drei  Flüssen  etc.  erhalten  haben,  ver- 
binden sie  sich  in  den  umliegenden  Sphären  mit  den  vorgefun- 
denen Stoffen  zu  Pflanzen,  um  zu  vegetieren,  weiter  durch  Stoff- 
wechsel zu  Tieren,  um  zu  empfinden,  und  schliefslich  zu  Men- 
schen, um  die  drei  Funktionen:  Gedächtnis,  Einbildungskraft  und 
Urteil,  auszuüben. 

Unter  solchen  Beobachtungen  und  Gesprächen  reisen  sie  fünf 
bis  sechs  Tage  längs  der  drei  Flüsse  auf  dem  Wege  zur  Provinz 
der  Philosophen.  Unterwegs  stofsen  sie  auf  einen  Sterbenden, 
dem  das  Gehirn  vom  Denken  so  aufgeschwollen  ist,  dafs  ihm 
schliefslich  der  Kopf  zerspringt.  'Diese  Art  zu  sterben  ist  die 
der  grofsen  Genies,  man  nennt  das  vor  Geist  platzen  (crever 
d'esprit).' 

In  der  Sonne  sind  einige  Provinzen  dunkel,  andere  hell,  und 
diejenigen,  welche  sie  betreten,  folgen  diesem  Zustande.  Die 
Philosophen  ziehen  aus  Erinnerung  an  die  Erde  die  dunkleren 
Partien  vor.  Übrigens  können  sie  durch  lebhafte  Willenskraft 
durchsichtig  werden  und  so  einander  die  Gedanken  ablesen  und 
Gefühle  wie  Zuneigung  und  Hafs  ohne  Worte  mitteilen. 

Dieses  Gespräch  wird  durch  eine  Verfinsterung  des  Himmels 
unterbrochen.  Ein  Käfig  fällt  aus  der  Wolke,  die  ein  riesiger 
Kondor  ist,  wie  sie  auf  der  Insel  Mandragora  (sie)  vorkommen 
und  einen  Juchart  mit  ihren  Flügeln  bedecken,  zu  ihren  Füfsen. 


Cyrano  de  Bergerac.  151 

Ihm  entsteigen  ein  Mann  und  eine  Frau  aus  dem  Königreich 
der  Liebenden,  die  einen  seltsamen  Prozefs  miteinander  haben, 
den  sie  vor  den  Philosophen  entscheiden  lassen  wollen.  Die  Frau 
klagt  ihren  Maun  an,  ihr  jüngstes  Kind  zweimal  getötet  zu  haben. 
Im  Königreich  der  Liebe  reguliert  nämlich  ein  Gesetz  und  eine 
jeden  Abend  vorgenommene  ärztliche  Untersuchung  die  Anzahl 
der  Umarmungen,  welche  der  Ehemann  seiner  Frau  schuldet. 
Der  Angeklagte  war  auf  sieben  taxiert  worden,  hat  aber,  geärgert 
durch  einige  lebhafte  Worte  der  Frau  vor  dem  Zubettegehen, 
dieselbe  überhaupt  nicht  berührt.  'Gott  aber,  der  die  Sache  der 
Betrübten  rächt,  hat  zugelassen,  dafs  er,  von  einem  Traume  ge- 
kitzelt, im  Schlafe  einen  Menschen  verlor/  So  bewirkte  der 
Elende,  klagt  die  Frau,  'dafs  mein  Kind  nicht  ist  und  nicht  ge- 
wesen ist'. '  Der  Ehemann  brachte  die  Richter  durch  die  Aus- 
rede in  Verlegenheit,  dafs  er,  über  seine  Frau  erzürnt,  gefürchtet 
habe,  einen  Rasenden  zu  erzeugen.  Die  beiden  wurden  deshalb 
vor  ein  anderes  Gericht  verwiesen.  Deshalb  sind  sie  nun  hier 
mit  ihrem  Gefährt,  dessen  Bespannung,  die  Kondors,  auch  die 
zum  Schlafen  nötige  Dunkelheit  hervorbringt.  Campanella  ver- 
weist die  Frau  an  Sokrates,  dem  man  in  der  Sonne  die  Ober- 
aufsicht über  die  Sitten  gegeben  habe.  Sie  ihrerseits  gibt  den 
beiden  Auskunft  über  das  Königreich  der  Verliebten,  welches 
auf  der  einen  Seite  an  die  Republik  des  Friedens,  auf  der  an- 
deren an  die  der  Gerechten  stöfst. 

Im  Königreich  der  Verliebten  werden  die  Knaben  mit  sech- 
zehn, die  Mädchen  mit  dreizehn  Jahren  in  einen  grofsen  Palast, 
Noviziat  der  Liebe,  gebracht.  Während  des  Probejahres  suchen 
sich  die  Knaben  die  Zuneigung  der  Mädchen  und  diese  die 
Freundschaft  der  Knaben  zu  erwerben.  Nach  Ablauf  der  zwölf 
Monate  begibt  sich  die  medizinische  Fakultät  in  corpore  in  dieses 
Liebesseminar,  untersucht  die  Zöglinge  genau  und  bis  ins  ge- 
heimste und  läfst  die  erste  Paarung  unter  ihren  Augen  voll- 
ziehen. Die  Knaben,  welche  sich  zuchtfähig  erweisen,  erhalten 
zehn,  zwanzig,  dreifsig  oder  vierzig  Mädchen  zugeteilt,  von 
denen,  welche  sie  lieben  und  von  welchen  sie  wiedergeliebt  wer- 
den. Er  darf  aber  je  nur  mit  zweien  geschlechtlich  verkehren 
und  keine  mehr  berühren,  die  schwanger  ist.  Die  Unfruchtbaren 
werden  zu  Dienerinnen  erniedrigt,  die  Impotenten  zu  Sklaven, 
welche  sich  mit  den  Sterilen  (brayhaignes)  fleischlich  vermischen 
dürfen.  Sobald  eine  Frau  gebiert,  wirft  die  staatliche  Ersparnis- 
kasse eine  Summe  aus  für  die  Erziehung  des  Kindes.    Familien, 


1  Die  gleiche  burleske  Spitzfindigkeit  wird  auch  in  einer  anderen  un- 
edierten  Stelle  des  Voyage  ä  la  lune  erörtert  (s.  oben  Bd.  CXIV,  S.  B87  und 
Mss.  No.  4558,  p.  97),  wo  allerdings  der  Text  durch  Schreibfehler  weniger 
klar  ist. 


1FS2  Cyrano  dp  Bergerac. 

die  ihre  Kinder  nicht  alle  unterhalten  können,  nimmt  der  Staat 
dieselben  ab.' 

Die  Frau  ladet  die  beiden  ein,  ihr  Gefährt  zu  benutzen.  Der 
an  einem  Seidenfadeu  hängende  schwere  Anker  wird  auf  eine 
sophistische  Manier  gehoben.  Sophistisch  ist  auch  der  Grund, 
warum  der  Seidenfaden  nicht  reifst,  und  die  Methode,  wie  sie 
selbst  den  Korb,  in  dem  sie  sitzen,  an  einem  Kabel  zur  Rolle 
(poulic)  und  zum  Vogel  hinaufziehen.  So  fliegen  sie  etwa  zwei- 
hundert Meilen,  bis  sie  einem  anderen  Kondor  begegnen,  der 
einen  Gefangenen  transportiert.  Dieser  ist  zum  Tode  verurteilt, 
weil  er  überführt  ist,  sich  nicht  vor  dem  Tode  zu  fürchten.  Denn 
in  dem  Lande,  aus  dem  er  kommt,  dürfen  dies  nur  diejenigen, 
welche  ins  'Kollegium  der  Weisen'  aufgenommen  worden  sind; 
denn  'andere,  die  nicht  fürchten,  das  Leben  zu  verlieren,  sind 
geneigt,  es  allen  anderen  zu  rauben'. 

Die  Frau  kann  auf  Campanellas  Fragen  über  die  'loix  et 
coushimes  du  Royaume  des  Amans'  nicht  völlig  Auskunft  geben, 
weil  sie  aus  dem  'Königreich  der  Wahrheit'  stammt.  Ihre  Mutter 
hatte  nur  diese  Tochter,  darum  wurde  diese,  dreizehn  Jahre  alt, 
auf  Befehl  des  Königs  und  der  Ärzte  in  den  'Palast  der  Liebe' 
geführt,  damit  sie  fruchtbarer  werde  als  ihre  Mutter. 

Anfangs  hatte  sie  Mühe,  sich  einzugewöhnen,  und  die  Ge- 
wohnheiten und  namentlich  die  Reden  ihrer  jungen  Liebhaber 
sind  allerdings  seltsam  genug.  Die  jungen  Männer  beklagen  sich, 
dafs  die  Freundin  sie  mit  ihren  Augen  töte,  mit  ihrer  Flamme 
versenge  usw.  Darüber  erschreckt,  will  sie  fliehen,  aber  man  er- 
klärt ihr,  dafs  der  Palast  von  einer  Tränenflut  umgeben  sei,  in 
der  sie  alle  ertrinken  müfsten.  Die  unglückliche  Ursache  von 
so  viel  Unglück  will  sich  aus  der  Welt  schaffen,  aber  ihr  feu- 
rigster Anbeter  läfst  ihr  sagen,  dafs  die  Glut  seines  Herzens  den 
See  bereits  ausgetrocknet  habe.  Um  dieser  Sündflut  zu  ent- 
rinnen, empfiehlt  ihr  ein  anderer,  der  Eifersüchtige  genannt,  sich 
das  Herz  aus  der  Brust  zu  reifsen  und  in  diesem,  in  welchem 
so  viele  Platz  haben,  sich  auf  dem  Meere  seiner  Tränen  fort- 
treiben zu  lassen  von  dem  günstigen  Winde  seiner  Seufzer.  Sie 
öffnet  sich  also  die  Brust  mit  eiuem  Messer  und  will  sich  eben 
das  Herz  herausreifsen,  als  ein  neuer  Liebhaber  dazukommt,  sie 
daran  verhindert  und  den  schlimmen  Ratgeber  vor  Gericht  zieht. 
Die  Strafe  des  Eifersüchtigen  wird  durch  das  Parlament  im  König- 
reich der  Gerechten  ausgesprochen.  Er  wird  auf  ewig  verbannt, 
soll  seine  Tage  als  Sklave  in  der  Republik  der  Wahrheit  be- 
schliefsen.    Er  und  seine  Nachkommen  bis  ins  vierte  Glied  dürfen 


1  Diese  Beschreibung  des  Liebesreiches  ist  durchaus  originell,  und 
Cyrano  verdankt  Sorel  (Francion  p.  316)  nur  eine  Anregung.  Cf.  Em.  Roy, 
La  vie  et  (es  ceuvres  de  Ch.  Sorel,   Paris,  Hachette,  1891,  p.  386—87. 


Cyrano  de  Bergerac.  153 

nicht  in  die  Provinz  der  Liebenden  zurückkehren,  und  er  darf, 
bei  Todesstrafe,  keine  Hyperbel  brauchen.  Die  Frau  vermählt 
sich  nach  ihrer  Heilung  mit  ihrem  Retter,  hat  dann  aber  mit  ihm 
den  angeführten  Rechtsstreit.  Dafs  der  Angeklagte  nicht  spricht, 
kommt  von  einem  ausdrücklichen  Verbot.  Er  darf  den  Mund 
erst  vor  dem  Richter  wieder  öffnen. 

Auf  eine  Entfernung  von  drei  Meilen  verkündet  Campanella 
die  Annäherung  Descartes',  und  die  Zweifel  Cyranos  werden  ge- 
hoben durch  dessen  Erscheinen.  Sie  verlassen  den  Kondor  und 
begrüfsen  sich.  Die  Möglichkeit  des  Vorhersehens  einer  ab- 
wesenden Person  erklärt  Campanella  so:  'Es  gehen  von  allen  Kör- 
peru Stoffe  (especes),  d.  h.  körperliche  Bilder  {Images  corporelles) 
aus,  welche  in  der  Luft  herumfliegen.  Trotz  ihrer  Beweglichkeit 
behalten  sie  Gestalt  und  Eigenschaften  der  Dinge,  von  denen  sie 
sprechen,  und  dringen,  weil  sie  sehr  subtil  sind,  durch  unsere 
Organe,  ohne  sie  anzuregen,  bis  in  die  Seele,  welche  sie  auch 
ganz  entfernte  Dinge  sehen  machen/  Wie  das  geschieht,  wollen 
die  beiden  Cyrano  später  zeigen. 

Hier  bricht  der  Text  unerwartet  ab,  und  wir  sind  ohne 
Mittel,  zu  sagen,  was  und  wieviel  nachher  noch  hätte  kommen 
sollen;  denn  alles  spricht  dafür,  dafs  Cyrano  selbst  den  Roman 
nicht  zu  Ende  führen  konnte.  Ob  sich  die  mysteriöse  'Histoire  de 
rFAincelle'  hier  oder  bei  dem  Kampf  der  Remora  und  Salamandre 
hätte  anschliefsen  können,  wage  ich  bei  dem  Mangel  an  allem 
Material  nicht  zu  entscheiden. 


S  ch  1  u  f  s  w  o  r  t. 

Und  nun?  Wird  mir  gelingen,  was  der  gelehrte  P.  Brun 
gegenüber  der  Tradition  und  der  geistreiche  Emile  Magne  gegen- 
über dem  Theaterstück  Rostands  erstrebten,  nämlich  an  die  Stelle 
eines  Phantoms  den  wahren,  den  historischen  Cyrano  zu 
setzen?  Ich  fürchte  nein;  denn  abgesehen  davon,  dafs  es  sehr 
schwer  hält,  Anschauungen,  die  auf  der  poetischen  Einbildungs- 
kraft von  Tradition  und  Bühne  beruhen,  mit  den  nüchternen 
Vorstellungen,  welche  uns  Urkunden  und  Manuskripte  liefern, 
zu  korrigieren,  ist  eben  der  Charakter  Cyranos  selbst  ein  so  kom- 
plexer, dafs  auch  eindringendstes  Studium  nicht  in  alle  Falten 
seiner  Seele  blicken  lälst.  Das  ist  leicht  begreiflich,  weil  er  selber 
in  den  schwierigsten  Fragen,  welche  Religion  und  Wissenschaft, 
oft  in  Konkurrenz,  noch  öfter  in  Konflikt  gegeneinander,  gerade 
im  17.  Jahrhundert  so  lebhaft  beschäftigten,  nicht  zu  völliger 
Klarheit  in  sich  zu  gelangen  vermochte.  Und  dies  nicht  nur  aus 
äufseren  Gründen,  die  allerdings  viel  hemmender  wirkten,  als  man 
sich  dies  heutzutage  vorstellt,  sondern  doch  hauptsächlich  darum, 


154  Cyrano  de  Bergerac. 

weil  er  bei  einer  ungewöhnlichen  Begabung  auf  literarischem  und 
wissenschaftlichem  Gebiet  und  trotz  einer  starken  Hingabe  an 
seine  Stoffe  doch  nicht  das  Genie  besafs,  welches  überall  bis  ans 
Ende  geht  und  erst  am  Ziele  Halt  macht.  Nicht  dafs  er  nur 
ein  Dilettant  gewesen  wäre  oder  ein  geschickter  Macher:  im 
Gegenteil,  er  hat  beinahe  überall  neue  Wege  gefunden  und  neue 
Forderungen  aufgestellt,  aber  er  hat  diese  nicht  selber  erfüllen 
können.  Und  daran  hätte  wohl  auch  ein  längeres  Leben  nicht 
viel  gebessert.  Aber  zweifellos  war  er  einer  der  geistvollsten 
und  kenntnisreichsten  Franzosen  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahr- 
hunderts, und  sein  Ruhm  wäre  längst  fest  begründet,  wenn  das 
Werk  seines  Lebens  von  Freund  und  Feind  nicht  so  übel  be- 
handelt worden  wäre.  Zu  einer  vorurteilslosen  Würdigung  ist 
jetzt  sicher  die  Zeit  gekommen,  und  wenn  meine  Schrift  ein  Ver- 
dienst hat,  so  ist  es  das,  dafs  sie  die  Mittel  dazu  reiner  bietet 
als  die  bisherige  Literatur.  Ich  scheide  damit  für  einmal  von 
Cyrano  —  ungern  genug,  denn  er  hat  es  noch  jedem  angetan,  der 
sich  eingehend  mit  ihm  beschäftigte,  dieser  ungezogene  Liebling 
der  Musen. 


Beilage   B.1 

Beschreibung   des    Manuskripts   von    Cyranos 
Voyage  dans  la  Lune. 

Das  in  einem  alten  Einband  von  geprefstem  Leder  bucbförmig  ein- 
gebundene Manuskript  (Oktavformat)  ist  sehr  schön  und  gleichmäfsig  ge- 
schrieben in  einer  willkürlichen,  aber  konsequenten  Orthographie  und 
Interpunktion.  Es  weist  nur  sehr  wenige  Selbstkorrekturen  des  Schreibers 
Und  nur  ganz  vereinzelte  von  späterer  Hand  auf.  Auch  offenbare  Ver- 
schreibungen  sind  sehr  selten,  und  absichtlich  ausgelassen  scheint  ein  ein- 
ziges Wort  (Ortsname)  gegen  den  Schlufs  zu.  Handschrift  und  Ortho- 
graphie weisen  auf  das  17.  Jahrhundert  hin.  Es  enthält  152  auf  dem 
ßecto  paginierte  Blätter  und  ein  unbeschriebenes  mit  zweimal  durch- 
strichener  Pagina  135.     Zeilenzahl  21  —  23. 

Auf  dem   Deckel  steht  inwendig  von   alter  Hand   und   in  schlechter 
Schrift: 
VI.  11. 

^    Livre  rare  et  (unleserlich)  il  ien  a  trois  Exemplaires  en  France. 

Dann   folgt  ein  Vermerk  wahrscheinlich   von   M.  Deullin  d'Epernay, 
welcher  das  Manuskript  1890  der  Bibliotheque  Nationale  schenkte: 
Paye  fr.  66.   70  vente  Monmerque    n°  3891     mars   1861 

Hierauf  von  der  Hand  von  M.  de  Monmerquö: 
Ce  livre  a  ete  ecrit  sous  Louis  XIII. 

II  y  est  fait  mention  de  Tristan  l'Hermite  poete-attache  ä  Gaston. 
II  est  de  Cyrano  de  Bergerac,    mais  je    suis    etonne    qu'il  aie  ete    imprime 
et  qu'il  est  ici,  car  il  y  a  des  passages  bien  hardis  pour  le  temps. 

1  Beilage  A  ist  oben,  Bd.  CXIV,  S.  125—7,  abgedruckt. 


Cyrano  de  Bergerac.  155 

II  a  ete  imprime  dans  les  ceuvres  de  Cyrano  de  Bergerac  V.  lor  p.  288 
ed.  d'Amsterdam  1710,  mais  avec  de  grands  retrancbements  que  la  hardiesse 
du  livre  et  plus  souvent  son  impertinence  necessitaient. 

Cette  circonstance  donne  de  la  curiosite  a  ce  petit  mss.  J'indiquerai  en 
les  soulignant  les  passagcs  retranches  a  l'impression. 

De  Monmerque*  hat  dies  anfangs  mit  [  ]  versucht,  aber  später  auf- 
gegeben. Auf  der  ersten  (nicht  paginierten)  Seite  steht  aufgeklebt  die 
Bibliotheksnummer 

FE. 
N  O  U  V.     ACQ. 

4,    5  5  8. 

Es  folgen  fünf  leere  weifse  Seiten,  dann  folgt  am  Bande  oben  rechts 
mit  A  bezeichnet: 

A  Lauteur  Des  Estats  et 

Empires    de  la  Lune   ou  de 

L'autre  monde. 

Epigramme, 

Accepte  ces  six  mesehans  vers 
Que  ma  main  tescrit  de  trauers 
Tant  en  moy  La  Frayeur  abonde 
Et  permets  qu'aujourd'huy  J'Euite  ton  abord 
Car  autant  qu'une  affreuse  mort 
Je  crains  les  vens  de  Lautre  monde 
R  de  P 

Darunter  wieder: 

FR  nouv.  acq.   4558 

Auf  der  Bückseite  von  A  steht: 

Autre  du  Mesme 
au  mesme 

Ton  Esprit  qu'en  son  vol  nul  Obstacle  n'arreste, 
Descouure  vn  autre  monde  a  nos  Ambitieux, 
Qui  tous  Esgallement  respirent  Sa  conqueste, 
Comme  vn  noble  chemin  pour  arriver  Aux  cieux 

Mais  ce  n'est  point  pour  Eux  que  la  palme  S'apreste ; 
Si  J'Estois  du  conseil  des  destins  et  des  dieux 
Pour  prix  de  ton  audace  on  chargeroit  ta  teste 
Des  couronnes  des  Roys  qui  captiuent  ces  lieux. 

Mais  non  Je  m'endedis  L'Inconstante  Fortune 
Semble  auoir  trop  d'Empire  en  celuy  de  la  lune 
Son  pouuoir  ny  paroist  que  pr  tout  renuerser. 

Peut  estre  verrois  tu  dans  ces  demeures  mornes 
des  le  premier  Instant   ton  Estat  s'Eclipser 
et  du  moins  chacque   mois  en  retresser  les  bornes 
De  P. 

Es  folgt  noch  vor  dem  Text  Cyranos  ein  leeres  weifses  Blatt,  ge- 
zeichnet B. 


156  Cyrano  de  Bergerae. 

Auszug  c. 

PH-«  '-"-'  Cette  terre  cy  est  La  Lune  que  vous  voy6s  de  vre  globe  et  ce  Heu 

(V  ou  vous  march^s  est  [le  paradis  uiais  c'est  le  Paradis  Terrestre  ou 
q'oüI  Jamals  entre  quo  six  personnes,  Adam  Eue,  Enoc,  moy  qui  suis  le 
vuicil  helie,  St  Jean  L  Evaugeliste,  et  vous,  vous  scauds  bien  cornme  Los 
deux  premiers  en  furent  banis  mais  vous  ne  Scave's  pas  cöe  ils  arriuerent 
en  vostre  monde.  Scache\s  donc  qu'apres  auoir  taste  tous  deux  de  la 
pomme  deffendue  Adam  qui  craignoit  que  Dieu  irrite*  par  sa  presence  ne 
rengregeast  sa  punition  considera  La  Lune  Vostre  terre  cö  le  seul  refuge 
ou  il  so  pouuoit  mettre  a  L'abry  des  poursuittes  de  Son  createur]  ores 
v  on  |  ce  temps  L'imagination  chez  Lhöe  Estoit  Si  forte  pour  n'auoir  point 
Encore  este*  corrompue  ny  par  les  desbauches,  ny  par  la  crudite'  des  ali- 
mens,  ni  par  Lalteration  des  maladies,  qu'Estant  alors  Excite  du  Violent 
ilesir  d'aborder  cet  azile  &  que  toutte  Sa  masse  estant  deuenue  Legere 
par  le  feu  de  cet  anthousiasme  il  y  fut  enleue  de  la  mesme  sorte  qu'il 
s'est  veu  des  philosophes  Leur  imagination  fortem1  tendue  a  quelque  chose 
Estre  Empörtes  en  L'air  par  des  rauissemens  que  vous  appeles  extatiques. 
[Eue]  que  L'Infirrnite  de  Son  Sexe  rendoit  plus  foible  et  moins  cbaude 
n'auroit  pas  eu  Sans  doute  L'imagination  assez  Vigoureuse  pour  vaincre 
pag.  23,    par  la  contention  de  sa  volonte  le  poids  de  la  matiere  mais   par  ce  qu'il 

z.  l  v.  o.  y  auojt  tres  peu  [qu'elle  auoit  este*  tir6e  du  corps  de  son  mary]  La  Sim- 
patbie  dont  cette  moitiee  Estoit  encore  li6e  a  son  tout  La  porta  vers 
luy  a  mesure  qu'il  montoit  cöe  Lambre  se  faict  suiure  de  la  paille,  cöe 
Laimant  se  tourne  au  Septentrion,  d'ou  il  a  Este  arrache"  et  Adam  attira 
Louurage  de  sa  coste  cöe  la  mer  attire  les  fleuues  qui  sont  sortis  d'elle. 
Arriv^s  qu'ils  furent  en  Vostre  terre  ils  s'abituerent  entre  la  mesopotamie 
et  L'arabie  les  bebreux  l'ont  connu  Sous  le  nom  d'adam  et  les  Idolatres 
Sous  le  nom  de  Prometh6e  que  Leurs  poetes  feignirent  auoir  desrobe  le 
feu  du  ciel  a  cause  de  ses  descendans  qu'il  engendra  pour  ueus  d'vne  ame 
aussi  parfaicte  que  celle  dont    Dieu  L'auoit  remply,  ainsy  pour  babiter 

pag.  23  v"  Vostre  |  monde,  Le  premier  hf>e  Laissa  celuy  cy  desert,  mais  le  tout-sage 
ne  voulut  pas  qu'vne  demeure  si  heureuse  restast  sans  habitans  il  permit 
peu  de  Siecles  apres  qu'Enoc  Ennuye"  de  la  compagnie  des  hommes  dont 
L  Innocence  se  corrompoit  eut  Enuie  de  les  abandoner  mais  ce  Sl  Per- 
sonage  ne  Jugea  point  de  retraite  asseur£e  contre  L'ambition  de  ses  parens 
qui  S'esgorgeoient  desja  pour  le  partage  de  vre  monde,  si  non  la  terre 
bien  heureuse  dont  Jadis  Adam  son  ayeul  Luy  Avoit  tant  parle\  toutte 
fois  comment  y  aller  L'Escbelle  de  Jacob  n'estoit  pas  Encore  inventeV 
La  grace  du  tres  baut  y  supplea  car  eile  fit  qu'Enoc  s'avisa  que  le  Feu 
du  ciel  descendoit   sur  les  holocaustes  des  Justes   et  de  ceux  qui  estoient 

pag.  24  r»,  agreab  les  deuant  la  face  du  Seigneur  Selon  la  parole  de  Sa  bouebe, 
z  1  L'odeur  des  Sacrifices  du  Juste  est  monte  Jusques  a  moy  un  Jour  que 
cette  Flame  diuine  estoit  aebarn^e  a  consommer  une  victime,  qu'il 
offroit  a  PEternel  de  la  Vapeur  qui  S'Exaloit  il  remplit  deux  Grands 
vases  qu'il  luta  hermetiquement  et  se  les  attacha  sous  les  esseles,  La  fume'e 
aussitost  qui  tendoit  a  S'Eslever  droit  a  Dieu  ce  qui  ne  pouuoit  que  par 
miracle  penetrer  du  motal  poussa  Les  vases  en  baut  et  de  la  sorte  En- 
leuerent  auec  eux  ce  S'  höe,  quand  il  fut  monte*  Jusques  a  La  Lune  et 
qu'il  eust  Jette  les  yeux  Sur  ce  beau  Jardin  vn  epanouissem1  de  Joye 
casi  surnaturel  Luy  fit  connoistre  que  c'estoit  le  Paradis  Terrestre  ou  son 

pag.  24  v°,  grand  pere  auoit  autres-fois  demeure,  il  deslia  promptement  les  vaisseaux 

z.  1  v.  o.  qn>\\  avoit  eeinet  cöe  des  aisles  autour  de  ses  Espaules  et  le  fit  auec  tant 
de  bonheur  qu'a  peine  estoit  il  en  L'air  quatre  toises  au  dessus  de  La 
Lune  Lorsqu'il  prit  congd  de  ses  nageoires,  L'eleuation  cependant  Estoit 
assez  grande  pour  le  beaueoup  blaisser  sans  le  Grand  tour  de  sa  robe  ou 
le  vent  s'engouffra  &  L'ardeur  du  feu  de  la  charite*  qui  le  soustint  aussy: 


Cyrano  de  Bergerac.  157 

pour  les   vases   ilz   monterent    tousjours  jusques  a   ce   que  dieu   les   en- 

chässa  dans  le  ciel   et  c'est  ce  qu'aujourdhuy  vous  appellez  Les  Balances 

qui  nous  montrent  bien   tous   les  iours   qu'elles    Sont  Encore  pleines  des 

odeurs  du  sacrifice  d'un  |  Juste  par  Les  mfluences  fauorables  qu'elles  in-  Pae-  25  r°> 

spirent  sur  L'horoscope  de  Louys   le  Juste   qui  Eust   les   balances   pour    z' 1  v"  °" 

asceudant.     il  n'Estoit  pas  Encore  toutte  fois  en  ce  iardin,  il  ny  arriua 

que  —  quelque  ternps  apres.     Ce  fut  lorsque  desborda   le  deluge,  car  les 

Eaux  ou  vre  monde   S'Engloutit  monterent  a  vne  nauteur   Si  prodigieuse 

que  L'arche  voguoit  dans  les  cieux  a  coste"   de  la  lune,   Les  humains  ap- 

perceurent  ce  globe  par  la  Fenestre  mais  la  reflection    de  ce  grand  corps 

opacque  s'af'foiblissant  a  cause  de  leur  proximite'  qui  partageoit  sa  lumiere 

chacun    d  Eux   crut   que  c'estoit  un  canton   de  la  terre  qui   n'auoit  pas 

Este"  noye ;  II  ny  eust  qu  vne  fille  de  Noe  noinmee  Acbab  qui  a  cause  peut  i>ag-  25  v°, 

Estre  qu'elle  auoit  pris  Garde  qu'a  mesure  que  le  nauire  haussoit  ilz  ap-    Z-    v'  °" 

procboient  de  cet  astre,   Soustint  a  cors  et  a  cry  qu'asseurement  c'Estoit 

la  lune,  on  eut  beau  luy  representer  que  la  Sonde  iettee  on  n'anoit  trouue 

que  quinze  coudees  d'Eau.     eile  respondit  que  le  fer  auoit  donc  rencon- 

tre"  le  dos  d  vne  baleiue  qu'ilz  auoient  pris  pour  la  terre  que  quand  a  eile 

qu'elle  estoit  bien  asseuree,  que  c'estoit  la  lune  en  propre  personne  qu'ilz 

alloient  aborder.     Enfin    cöe    chacun    opine   pour    son    semblable   touttes 

Les  autres  femmes   se  le  persuaderent  en  suitte,  Les  voila  donc  malgre 

la  deffence  des  hoes   qui   Jettent  L'Esquif  en   mer  Achab  Estoit  la  plus  i)as-  26  r°> 

hazardeuse  aussy  voulut  eile  la  premiere  essayer  le  peril,  eile  se  lance     '    v'  °" 

allegrement  dedans   et  tout   son  sexe  L'alloit  ioindre  sans  vne  vague  qui 

separa  le  bateau  du  nauire   on  eust  beau  crier  apres  eile,   L'appeller  cent 

fois  lunaticque  protester  qu'elle  seroit   cause  qu'un  Jour  on  reprocheroit 

a  touttes  les  Femmes   d'auoir  dans  la  teste  vn  quartier  de   la  lune  Elle 

se  mocqua  d'Eux,  la  voila  qui  vogue  hors   du  monde  les  animaux  suiui- 

rent  son  exemple  car  la  plus  part   des  oyseaux  qui  se   sentirrent  L'aisle 

asses  forte   pour  risquer  le  voyage  impatiens   de  la  premiere  prison   dont 

on  eust  encore  arrestl  |  leur  liberte*  donnerent  Jusques  la,  des  quadrupedes  i)ag-  26  v  "• 

mesmes  les  plus  courageux  se  mirent  a  la  nage  il  en  Estoit  sorty  pres  de      '    v'  u' 

mille  auant  que  les  filz  de  Noe  pussent  fermer  les  Estables  que  la  foulle 

des  animaux  qui  s'Eschapoient  tenoient  ouuertes;  la  plus  part  aborderent 

ce  nouueau   monde;    pour    L'Esquif   il  alla  donner    cöre    vn   costau  fort 

agreable  ou  la  genereuse  Achab  descendit   et  ioyeuse  d'auoir  connu  qu'en 

effect  cette  terre  la  estoit  la  lune  ne  voulut  point  se  rembarquer  pour  re- 

joindre  Ses  freres,  eile  s'habitua  quelque  temps  dans  une  grotte  et  cöe  un 

Jour  eile  se  promenoit  balancant    si   eile  seroit  fachee   d'auoir  perdu  la 

compagnie   des  siens  ou  si  eile  en  seroit  bien  aise  eile  apperceut  vn  höe 

qui  |  abbatoit  la  Gland;   La  ioye  d'vne  teile  rencontre  la  fit  voler,  aux  P*£- .27  r°, 

Embrassements,  eile  en  receut  de  reciproques   car  il  y  avoit   encore   plus      '    v" 

longtemps   que  le  vieillard  n'auoit  veu  de  visage  humain   c'Estoit  Enoch 

le  iuste,  il  vesquirent  ensemble   et  sans   que  le  naturel  impie   de   ses  En- 

fans  et  L'orgueil  de  sa  femme  L'obligea  de  se  retirer  dans  les  bois   ils 

auroient  acheue"  ensemble  de  filer  leur  iours  auec  toutte  La  douceur  dont 

dieu  benit  le  mariage  des  Justes;  La  tous   les  Jours  dans   les  retraittes 

les   plus    sauuages    de    ces   affreuses    solitudes    ce    bon   vieillard    offroit 

a   Dieu    d'vn    esprit    espure    son    ceur    en    holocauste,    quand    de    l'arbre 

de  science  que  vous  scaves   qui  Est  en  ce  Jardin,   vn  Jour  estant  tombe 

vne   pomme   dans   la  riuiere  |   au    bord    de  la   quelle   il  est  plante'    eile  i,a"- '~'7 ' 

fust  portöe    a  la  mercy    des  vagues   hors  le   Paradis    un    vn   lieu    ou   le      '    >- 

pauure  Enoc   pour  sustenter    sa  vie  prenoit   du   poisson   a  la  pesche  ce 

beau  fruit  fut  arreste  dans  le  filet,   il  le  mangea,  aussitost  il  connut   ou 

estou   le  paradis   terrestre  et  par  des  secrets  que   vous  ne  scauries   con- 

ceuoir  si  vous  n'aues  mangö  cöe  luy  de  la  pomme  de  science  il  y  vint 

demeurer. 


lr^  Cyrano  de  Bergera« . 

Tl  fault  maintenant  que  ,lo  vous  raconte  la  facon  dont  J'y  suis  venu: 
vous  u'auc's  pas  oublie  Je  pense  que  ie  me  nomine  helie  car  ie  vous  l'ay 
dit  naguere  Vous  scaures  donc  que  J'estois  en  vre  monde  et  que  J'abitois 
auec  Elisee   vn  hebreu   cöe  nioy  sur  les  bords  du  Jourdain  ou   ie   uiuois 

pag.  28  r\  parmy  les  Liures  |  d'vne  vie  assez  douce  pour  ne  la  pas  regreter  encore 

z.  l  t.  o.  qU'cnc  s'escoulast,  cependant  plus  les  Lumieres  de  mon  Esprit  croissoient 
plus  eroissoit  aussy  La  connoissance  de  celles  que  ie  n'auois  point,  iainais 
nos  prestres  ne  me  ramenteuoient  Adam  que  le  Souuenir  de  cette  pbilo- 
sophie  parfaicte  qu'il  auoit  possedee  ne  me  fit  souspirer;  ie  desesperois  de 
la  pouuoir  acquerir,  quand  un  Jour  apres  auoir  sacrifie  pour  L'Expiation 
des  foiblesses  de  mon  Estre  mortel  ie  m'endormis  et  L'ange  du  Seigr  m'ap- 
parut  en  Songe;  aussi  tost  que  ie-fus  eueille  ie  ne  lnanque"  pas  de  tra- 
uailler  aux  choses  qu'il  m'auoit  prescrites:  ie  pris  de  L'aiman  environs 
deux  pieds  en  carre"  ie  les  mis  au  Fourneau  puis  lors  qu'il  fut  bien  purge, 

pag.  28  v  .  precipite  et  dissous  i'en  |  fire"  L'attractif,  calcine  tout  cet  elixir  et  le  re- 
'"    duisis  en  vn  morceau  de  la  grosseur  enuiron  d'une  balle  mediocre. 

En  suitte  de  ces  preparations  ie  fis  construire  vn  chariot  de  fer  fort 
Leger  et  de  la  a  quelques  mois  tous  mes  engins  estans  acheuez  i'entre 
dans  mon  industrieuse  charette :  vous  me  demauderes  possible  a  quoy  bon 
toit  cet  attirail.  Saches  que  L'ange  m'auoit  dit  en  Songe  que  si  ie  uou- 
lois  acquerir  vne  Science  parfaicte  cöe  ie  la  desirois;  ie  montasse  au 
monde  de  la  lune  ou  ie  trouuerois  dedans  le  Paradis  d'Adam  L'arbre  de 
science  parcequ'aussitost  que  J'aurois  taste  de  son  fruit  mon  ame  seroit 
esclaire  de  touttes  les  veritez  dont  vne  creature  est  capable  voila  donc  le 

pag  29  r»,  voyage  |  pour  lequel  i'auois  basty  mon  chariot,  enfin  ie  monte  dedans  et 
z  °"  Lorsque  ie  fus  bien  ferme  et  bien  appuye  sur  le  siege  ie  nie  fort  hault 
en  l'air  cette  boule  d'aiman,  or  la  machine  de' fer  que  i'auois  forgee  tout 
expres  plus  massiue  au  milieu  qu'aux  extreniitez  fut  enleu^e  aussi  tost 
et  dans  vn  parfaict  Equilibre  a  cause  qu'elle  se  poussoit  tousjours  plus 
viste  par  cet  endroit  La,  ainsy  donc.  a  mesure  que  i'arriuois  ou  l'aiman 
m'auoit  attire  et  des  que  i'estois  saute  iusques  la,  ma  main  le  faisoit  re- 
partir:  mais  L'interrompis-je  comment  Landes  vous  vre  balle  si  droit  au 
dessus  de  vre  chariot  quil  ne  se  trouuait  Jamais  a  coste,  ie  ne  vois  point 

pag.  29  t»,  de  rnerueille  en  cet  auanture  me  dit  il,  car  L'aiman  poussoit  qu'il  estoit 
"  v'  °'  en  Lair  attiroit  le  fer  droit  a  soy,  et  par  consequent  il  estoit  impossible 
que  ie  montasse  iamais  a  coste:  ie  vous  confesseray  bien  que  tenant  ma 
boule  a  ma  main  ie  ne  Laissois  pas  de  monter  parce  que  le  cbariot  cou- 
roit  tousjours  a  L'aimant  que  ie  tenois  au  dessus  de  luy  mais  la  saillie 
de  ce  fer  pour  embrasser  ma  boule  estoit  si  Vigoureuse  qu'elle  me  faisoit 
plier  le  corps  en  quatre  doubles;  de  sorte  que  ie  n'ose  tenter  qu'une  tois 
cette  nouuelle  experience  a  la  verite-  c'estoit  un  spectacle  a  veoir  bien 
estonnant,  car  le  soin  auec  lequel  iauois  polly  L'acier  de  cette  maison  vo- 

pag.  30  r°,  laute  reflessissoit  de  tous  costez  la  Lumiere  du  Soleil  |  si  viue  et  si  aigue 
/..  1  v.  o.  qUe  -e  croy0{s  m0y  mesme  Estre  empörte  dans  vn  chariot  de  feu:  Enfin 
apres  auoir  beaucoup  ru6  et  volle"  apres  mon  coup,  i'arriue  cöe  vous  aues 
faict  en  vn  terme  ou  ie  tombois  vers  ce  monde  cy,  et  parce  qu'en  cet 
instant  ie  tenois  ma  boulle  bieu  serree  entre  mes  mains  mon  chariot  dont 
le  siege  me  pressoit  pour  approcher  de  son  attractif  ne  me  quitta  point, 
tout  ce  qui  me  restoit  a  craindre  Estoit  de  me  rompre  le  col:  mais  pour 
m'en  Garantir  ie  regettois  ma  boule  de  temps  en  temps  affin  que  ma 
machine,  se  sentant  naturellem1  rattiree  prit  du  repos  et  rompit  ainsy  la 
force  de  ma  cheute,  puis  enfin  quand  ie  me  vis  a  deux  ou  trois  cens  toises 

pag.  30  v»,  pres  de  terre  ie  Lance  |  ma  balle  de  tous  costez  a  fleur  du  chariost  tantost 

z'  '•  °-  de  ca  tantost  dela,  Jusques  a  ce  que  mes  Yeux  le  descouurirent,  aussy 
tost  ie  ne  manqne"  pas  de  la  ruer  dessus  et  ma  machine  L'ayant  suiuie  ie 
me  Laisse  tomber  tant  que  ie  me  Discerne  pres  de  briser  contre  le  Sable 
car  alors  ie  la  iette  seulement  vn  pied  par  dessus  ma  teste,  et  ce  petit 


Cyrano  de  Bergerac.  159 

coup  la  esteignit  tout  a  faict  la  roideur  que  luy  auoit  imprime"  le  precipice 
de  sorte  que  ma  cheutte  ne  fut  pas  plus  violente  que  si  ie  fusse  tombe 
de  ma  hauteur.  Je  ne  vous  representeray  point  L'Estonnem1  dont  me 
Saisit  La  rencontre  des  merueilles  qui  sont  ceans  par  ce  qu'il  fut  a  peu 
pres  semblable  a  celuy  dont  ie  vous  viens  de  voir  consterne,  [vous  scaures 
seulement  que  ie  rencontre"  des  le  lendemain.  L'arbre  de  vie  par  le  moyen  v*s-  31 1°, 
duquel  ie  m'empecbö  de  vieillir,  il  consornma  bientost  et  fit  exaler  le 
serpent  en  fum^e. 

A  ces  mots  venerable  &  sacre"  Patriarcbe :  Luy  dis-je !  ie  serois  bien 
ayse  de  scauoir  ce  que  vous  entend^s  par  ce  serpent  qui  fut  consomme' 
Lui  d'vn  visage  riant  me  respondit  ainsy. 

J'oubliois  o  mon  filz  a  vous  descouurir  vn  secret  dont  on  ne  peut 
pas  vous  veoir  instruit,  vous  scaures  donc  qu'apres  qu'Eue  et  son  mary 
eurent  mange  dela  pomme  deffendue,  Dieu  pour  punir  le  serpent  qui  les 
en  auoit  tentez  le  relegua  dans  le  corps  de  Lhomme  il  n'est  point  ne 
depuis  de  creature  humaine  qui  en  punition  du  crime  de  son  premier 
pere  ne  |  nourrisse  vn  serpent  dans  son  ventre  issu  de  ce  premier  vous  le  Pa£-  31  v° 
nommes  les  boyaux  et  vous  les  croyets  necessaires  aux  fonctions  de  la  vie, 
mais  aprenes  que  ce  ne  sont  autre  cbose  que  des  serpens  pliez  sur  eux 
lnesmes1  en  plusieurs  doubles  quand  vous  entend£s  vos  Entrailles  crier 
c'est  le  serpent  qui  siffle  et  qui  suiuant  ce  naturel  gloutton  dont  Jadis 
il  incita  le  premier  büe  a  trop  manger  demande  a  manger  aussy,  car 
Dieu  qui  pour  vous  cbastier  vouloit  vous  rendre  mortel  cde  les  autres 
animaux  vous  fit  obseder  par  cet  insatiable  affin  que  si  vous  luy  donni£s 
trop  a  manger  vous  vous  Estouffassies  ou  si  Lors  qu'auec  les  dents  in- 
uisibles  dont  cet  affame  mort  vostre  Estomacb  vous  luy  refusi£s  sa  pi- 
tance  il  criast,  il  tempestat,  il  degorgeast  |  ce  venin  que  vos  docteurs  pa?.  32  i» 
appelent  La  bile,  et  vous  Escbauflast  tellem:  par  le  poison  qu'il  inspire 
a  vos  arteres  que  vous  en  fussi£s  bien  tost  consume,  Enfin  pour  vous 
monstrer  que  vos  boyaux  sont  vn  serpent  que  vous  aues  dans  le  corps 
— 2  souven£s  vous  qu'on  en  trouua  dans  les  tombeaux  d'Esculape  de 
Scipion  d'Alexandre  de  Cbarles  martel  et  d'Edouard  d  Angleterre  qui  se 
nourrissoient  Encore  des  cadaures  de  leurs  hostes,  En  Effect  luy  dis-ie 
en  L'Interrompant  i'ay  rernarque"  que  coe  ce  serpent  Essaye  toujours  a 
s'Escbapper  du  corps  de  Lnome  on  luy  voit  la  teste  et  le  col  sortir  au 
bas  de  nos  ventres  mais  aussy  Dieu  n'a  pas  permis  que  Lbome  seul  en 
fut  tourmente"  il  a  voulu  qu'il  se  bandast  contre  La  femme  pour  luy 
Jetter  son  venin  et  que  L  Enflure  durast  |  neuf  mois  apres  l'avoir  picquee  v*g-  32  v° 
et  pour  vous  monstrer  que  ie  parle  suiuant  La  parolle  du  seigy  c'est  qu'il 
dit  au  serpent  pour  le  maudire  qu'il  auroit  beau  faire  tresbucher  La 
femme  en  se  roidissant  contre  eile  qu'elle  luy  feroit  enfin  baisser  La  Teste, 
ie  voulois  continuer  ces  fariboles,  mais  bebe  m'en  empescba  song^s  dit  il 
que  ce  lieu  cy  est  sainct,  il  se  teut  en  suitte  quelque  temps  cöe  pour  se 
ramenteuoir  de  l'endroit  ou  il  estoit  demeure  puis  il  prit  ainsy  La  parole. 

Je  ne  taste  du  fruict  de  vie  qyö  de  cent  ans  en  cent  ans  son  Jus  a 
pour  le  goust  quelque  raport  auec  L  Esprit  de  vin,  ce  fut  ie  crois  cette 
pomme  qu  Adam  auoit  mangle  qui  fut  cause  que  nos  premiers  peres 
vesquirent  si  Ion  temps  — 2  pour  ce  qu'il  estoit  eoule"  dans  leur  |  semence  p^g.  33  r° 
quelque  chose  de  son  Energie  Jusques  a  ce  qu'elle  s'esteignit  dans  les 
eaux  du  deluge. 

L'arbre  de  Science3  est  plante"  vis  a  uis,  son  fruict  est  couuert  d'vne  P:isf-  33  r», 
Escorce  qui  produict  L'ignorance  dans  quiconque  en  a  gouste  et  qui  sous 
L'Espoisseur  de  cette  pelure  conserve  les  spirituelles  vertus  de  ce  docte 

1  Zweites  s  von  meames  von  späterer  Hand. 

2  —  nur  um  die  Linie  auszufüllen. 

3  Pag.  33  r°  Z.  4  fährt  fort  wie  Brun  p.   369. 


100  Ovrauo  de  Bergerac. 

manger.  Dieu  autrefois  apres  auoir  chasse"  Adam  de  cette  terre  bien- 
heureuse  de  peur  qu'il  n'en  retrouuast  le  chemin  Luy  frotta  les  Genciues 
de  cette  Eseorce,  il  fut  depuis  ce  tenips  la  plus  de  quinze  aus  a  radotter 
et  oublia  tellement  touttes  choses  que  luy  ny  ses  descendans  iusques  a 
Moyse  ae  se  souuinrent  seulement  pas  dela  eroation,  mais  les  restes  dela 

pag.  33  v«  vertu  de  cette  pesante  Eseorce  |  acheuerent  de  se  dissiper  par  la  chaleur 
et  La  clarte"  du  Genie  de  ce  Grand  prophete:  Je  m'adresse"  par  bonheur 
a  l'vue  de  ces  poinmes  que  la  maturite"  auoit  despouill^e  de  sa  peau  et 
ma  saliue  a  peine  L'auoit  mouillee  q/?  la  pbilosophie  vniuerselle  m'ab- 
sorba,  il  me  sembla  qu'un  nombre  ihfiny  de  petits  yeux  se  plongerent 
dans  ma  teste  et  ie  sceus  le  moyen  de  parier  au  Seigneur:  quand  depuis 
J'ay  faict  reflexion  sur  cet  Enleuement  miraculeux  ie  me  suis  bien 
ymagine"  que  ie  n'aurois  pas  peu  vaincre  par  les  vertus  oecultes  d  vn 
simple  corps  naturel  La  Vigilance  du  Seraphin  que  Dieu  a  ordonne"  pour 
La  Garde  de  ce  paradis,  mais  par  ce  qu'il  se  piaist  a  se  seruir  de  causes 

pag.  34  )  secondes  ie  creus  qu'il  m'auoit  |  inspire-  ce  moyen  pour  y  entrer  cöe  il 
voulut  se  seruir  des  costes  d'Adam  pour  luy  faire  vne  femme  quoy  qu'il 
peust  Le  former  de  terre  aussy  bieif  que  luy. 

Je  demeure"  Lon  temps  dans  ce  Jardin  a  me  promener  sans  compagnie 
mais  enfin  cöe  L'ange  portier  du  lieu  Estoit  mon  prineipal  hoste  il  me 
prit  enuie  de  le  saluer;  vne  heure  de  chemin  termina  mon  voyage,  car  au 
bout  de  ce  temps  iarriue  en  vne  contr^e  ou  mille  esclairs  se  confondans 
en  vn  formoient  vn  Jour  aueugle  qui  ne  seruoit  qu'a  rendre  L'obscurite 
visible;  ie  n'Estois  pas  encore  bien  remis  de  cette  auanture  que  iapper- 
ceux  deuant  moy  vn  bei  adolescent   et  Je  suis  me  dit  il  L'archange  que 

pag.  34  v°  tu  |  cherche,  ie  viens  de  Lire  dans  Dieu  qu'il  t'auoit  suggere"  les  moyens 
de  venir  icy  et  qu'il  vouloit  que  tu  attendisse  sa  volonte  il  m'Entretint 
de  plusieurs  choses  et  me  dit  entre  autres. 

Que  cette  Lumiere  dont  J'auois  paru  effraye  n'Estoit  rien  de  formi- 
dable  qu'elle  s'alumoit  presque  tous  les  soirs  quand  il  faisoit  la  ronde 
par  ce  que  pour  euiter  les  surprises  des  sorciers  qui  Entrent  partout  sans 
estre  veus  il  estoit  contrainet  de  iouer  de  L'Espadon  auec  son  Espee 
flamboyaute  autour  du  paradis  terrestre  et  que  cette  lueur  estoient  Les 
Esclairs  qu'Engendroit  son  acier  ceux  que  vous  apperceues  de  vre  monde 
adjousta-il  sont  produit  par  moy.  Si  quelques  fois  vous  les  remarques 
15  i°  bien  Loin  c'est  a  cause  |  que  les  nuages  d'vn  climat  esloigne"  se  trouuans 
disposez  a  receuoir  cette  impression  fönt  rejaller  jusques  a  vous  ces  legeres 
images  de  feu,  ainsy  qu'vne  vapeur  autrem'  situ£e  se  trouua  propre  a  for- 
mer L'arc  en  ciel,  ie  ne  vous  instruiray  pas  daduantage  aussy  bien  la 
pomme  de  science  n'est  pas  long  d'icy,  aussi  tost  que  vous  en  aurds  mange" 
uous  serais  docte  cöe  moy  mais  sur  tout  Gard6s  vous  d'vne  mesprise,  la 
pluspart  des  fruicts  qui  pendent  a  ce  vegetant  sont  enuironnez  d'vne  Es- 
eorce de  laquelle  si  vous  tastes  vous  descendres  au  dessous  de  lhöe  au 
lieu  que  le  dedans  vous  fera  monter  aussy  hault  que  L'ange. 

Elie  en  Estoit  la   des  Instructions   que  Luy  auoit  donne  le  Zeraphin 

pag.  35  V  quand  vn  petit  home  nous  vint  Joindre;  c'est  Icy  cet  Enoc  |  dont  ie  vous 
ay  parle"  (me  dit  tout  bas  mon  condueteur)  cöe  il  acheuoit  ces  mots,  Enoc 
nous  presenta  un  panier  piain  de  ie  ne  scay  quels  fruits  semblables  aux 
pommes  de  grenades  qu'il  venoit  de  descouurir  ce  iour  la  mesme  en  vn 
boccage  recule  i'en  serrois  quelques  vnes  dans  mes  poches  par  le  com- 
mandement  d'Elie  Lorsqu'il  luy  demanda  qui  i'estois.  C'est  vne  auanture 
qui  merite  un  plus  long  entretien  repartit  mon  Guide,  ce  Soir  quand  nous 
serons  retir£s  il  nous  contera  luy  mesme  les  miraculeuses  particularitez 
de  son  voyage. 

Nous  arriuasmes  en  finissant  ce  cy  sous  vne  Espece  d'hermitage  faict 
de  branches  de  palmier  ingenieusement  entrelaäsees  auec  des  mirthes  et 

lag.  36  r°  des  orangers :  la  |  i'apperceus  dans  vn  petit  reduit  des  monceaux  d'vne 


Cyrano  de  Bergerac.  161 

certaine  filoselle  si  blanche  et  si  deliee  qu'elle  pouuoit  passer  pour  lame 
de  la  nege  ie  vis  aussy  des  quenouilles  respandues  ca  et  la,  ie  demande" 
a  mon  conducteur  a  quoy  elles  seruoient,  a  filer  me  respondit-il  quand 
le  bon  Enoc  veut  se  debander  de  la  meditation  tantost  il  habille  cette 
filasse  tantost  il  tisse  de  la  toille  qui  sert  a  bailler  des  chemises  aux  onze 
mille  vierges,  il  n'est  pas  que  n'aye"s  quelque  fois  rencontre"  en  vre  monde 
ie  ne  scay  quoi  de  blanc  qui  voltige  en  automne  Enuiron  la  Saison  des 
semailles,  les  paisans  appellent  cela  cotton  de  nrö  Dame  c'est  la  bourre 
dont  Enoc  purge  |  son  Lin  quand  il  le  carde.  pag.  36  v< 

Nous  n  arrestames  gueres  sans  prendre  conge  d'Enoc  dont  cette  cabane 
Estoit  la  cellule  et  ce  qui  nous  obligea  de  le  quitter  si  tost  fut  que  de 
six  en  six  heures  il  fait  oraison  et  qu'il  y  auoit  — '  bien  cela  qu'il  auoit 
acheue"  la  derniere. 

Je  supplie"  en  cbemin  helie  de  nous  acbeuer  L  histoire  des  assomptions 
qu'il  m'auoit  entamöes  et  luy  dis  qu'il  en  Estoit  demeure"  ce  me  sembloit 
a  celle  de  S*  Jean  L  Euangeliste. 

Alors  Puisque  vous  n'auös  pas  me  dit-il  la  patience  d'attendre  que  la 
pomme  de  Scauoir  vous  enseigne  mieux  que  moy  touttes  ces   choses  ie 
veux  bien  vous  les  apprendre  scach^s  donc  que  Dieu  a  ce  mot  ie  ne  scay 
pas  comme  |  Le  diable  s'en  mesla  tant  y  a  qJ3  ie  ne  pus  pas  m'empescher  pag.  37  r« 
de  L'Interrompre  pour  railler. 

Je  m'en  souuiens  luy  dis  je  Dieu  fut  vn  Jour  aduerty  que  L'ame  de 
cet  Euangeliste  estait  si  detach^e  qu'il  ne  la  restenoit  plus  qu'a  force  de 
serrer  les  dents  et  cependant  Lheure  ou  il  auoit  preueu  qu'il  seroit  enleue" 
ceans  Estoit  presque  Expire"  de  facon  que  n'ayant  pas  le  temps  de  luy 
preparer  vne  machine  il  fut  contraint  de  ly  faire  estre  vistement  sans 
auoir  le  Loisir  de  l'y  faire  aller. 

[Ehe  pendant  tout  ce  discours  me  regardoit  auec  des  yeux  capables 
de  me  tuer  si  ieusse  Este"  en  Estat  de  mourir  d'aure  chose  que  de  faim: 
abominable  dit-il  |  en  se  reculant  tu  as  L'impudence  de  railler  sur  les  pag.  37  v> 
choses  sainctes  au  moins  ne  seroit-ce  pas  impunement  si  le  tout  sage  ne 
vouloit  te  laisser  aux  nations  en  exemple  fameux  de  sa  misericorde,  va 
impie  hors  d'icy,  va  publier  dans  ce  petit  monde  et  dans  L'autre  car  tu 
es  predestine"  a  y  retourner  La  haine  irreconciliable  que  dieu  porte  aux 
ath^es. 

A  peine  eut  il  acheue"  cette  Imprecation  qu'il  m'empoigna  et  me  con- 
duisit  rudement  vers  la  porte :  quand  nous  fusmes  arriues  proche  vn  grand 
arbre  dont  les  branches  chargees  de  fruict  se  courboient  presque  a  terre 
voicy  Larbre  de  scauoir  me  dit-il  ou  tu  aurois  puise"  des  Lumieres  in- 
conceuabl6s  sans  ton  |  irreligion.  pag.  38  v 

II  n'Eut  pas  acheue"  ce  mot  que  feignant  de  Languir  de  foiblesse  ie 
me  Laisse"  tomber  contre  vne  brancne  ou  ie  derobe"  adroittement  vne  pomme 
il  s'en  faloit  encore  plusieurs  ajambees  que  ie  n'eusse  lepied  hors  de  ce 
parc  delicieux  cependant  La  faim  me  pressoit  auec  tant  de  violence  qu'elle 
me  fit  oublier  que  i'estois  entre  les  mains  d'un  prophette  courrouce,  cela 
fit  que  ie  tire"  vne  de  ces  pommes  dont  i'auois  Grossy  ma  poche  ou  ie 
cache"  mes  dents  mais  au  heu  de  prendre  vne  de  Celles  dont  Enoc  m'auoit 
faict  pnt,  ma  main  tomba  sur  la  pomme  que  iauois  cueillye  a  l'arbre  de 
science  et  dont  par  malheur  ie  nauois  pas  despouille"  L'Escorce.]  |  i'en  pag.  38  v< 
auois  a  peine  Gouste"  qu'une  Espaisse  nuit  tomba  sur  mon  ame  ie  ne  vis 
plus  ma  pomme  plus  d'helie  aupres  de  moy  et  mes  yeux  ne  reconnurent 
pas  en  toutte  L'emisphere  vne  seule  trace  du  Paradis  terrestre  et  auec  tout 
cela  ie  ne  Laissois  pas  de  me  souuenir  de  tout  ce  qui  m'y  estoit  arriue\ 

1  —  zum  Ausfüllen  der  Linie. 

Bern.  H.  Dübi. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    CXV.  11 


Kleinere  Mitteilungen. 


Zur  Quellenkunde  und  Textkritik  der  altengl.  Exodus. 

Trotz  der  vielen  Arbeiten  und  Aufsätze,  die  bereits  der  altengl. 
Exodus  gewidmet  sind,  ist  sowohl  die  Frage  nach  der  eigentlichen 
Quelle  der  merkwürdigen  Dichtung  noch  ungelöst,  wie  auch  manche 
schwierige  oder  verderbte  Stelle  unerklärt.  Ohne  etwas  Abschliefsen- 
des  bieten  zu  können,  möchte  ich  wenigstens  einige  Beiträge  zum 
Verständnis  des  Gedichtes  veröffentlichen,  die  vielleicht  andere  auf 
den  richtigen  Weg  führen. 

a)  Zur  Quellenkunde. 

V.  47.  druron  deofolgyld. 

Vgl.  dazu  Bedas  Pentateuch-Kommentar,  Exod.  Kap.  1 2  (Migne, 
Patrol.  lat.  91,  Sp.  307):  Hebraei  autwmnant,  quod  nocte  illa,  qua 
egressus  est  populus  Israel,  omnia  templa  Aegyptiorum  destructa  sunt, 
sine  terrae  motu;  und  Petrus  Comestor,  Hist.  schol.  Exod.  Kap.  XXVII 
(Migne  198):  In  egressu  etiam  eorum,  terrae  motu  facto,  multa  templa 
Aegypti  cum  idolis  suis  corruerunt.  —  Bright  hat  Mod.  Lang.  Notes 
XVII,  424  ff.  darauf  hingewiesen,  dafs  die  Bibelstelle  Num.  33,  4: 
Nam  et  in  diis  eorum  exercuerat  ultionem  zu  dieser  Tradition  Anlafs 
gegeben  haben  wird;  Eusebius1  von  Caesarea,  Praep.  evang.  IX,  27, 
berichtet  nach  Artapanus,  dafs  fanaque  tum  plurima  corruisse. 

V.  290  ff.  erzählt  der  Dichter,  dafs  auf  die  Aufforderung  des 
Moses  hin  der  vierte  Stamm,  Juda,  zuerst  durchs  Rote  Meer  gezogen 
sei,  wofür  ihm  auch  die  Herrschaft  verliehen  wurde.  Ihm  folgten 
dann  die  Stämme  Rüben  und  Simeon.  Vgl.  hierzu  Comestor  a.  a.  0. 
Kap.  31 :  Et  advocans  Moyses  singulas  tribus  secundum  ordinem  na- 
tivitatis  suae  hortabatur  eos,  ut  ipsum  praeeuntem  sequerentur.  Cum- 
que  timuissent  intrare  Rüben,  Simeon  et  Levi,  Judas  primus  aggres- 
sus  est  iter  post  eum,  unde  et  ibi  meruit  regnum.  —  Offenbar  haben 
der  Dichter  und  Comestor  (f  1178)  aus  derselben  Quelle  geschöpft, 
die  mir  leider  trotz  alles  Suchens  bisher  nicht  zu  finden  gelungen  ist. 
In  der  Bibel  steht  davon  kein  Wort. 

V.  579  ff.  wird  berichtet,  wie  sich  die  Israeliten  die  Schätze  und 
Waffen  der  im  Roten  Meere  umgekommenen  Ägypter  aneigneten. 
Ähnlich  sagt  Comestor  a.  a.  O. :  et  tulit  Israel  arma  mortuorum.    Dies 


1  Ich  zitiere  nach  der  lat.  Übersetzung  in  der  Ausgabe  von  Fr.  Vi- 
gerus,  S.  J.,  Coloniae  1688. 


Kleinere  Mitteilungen/  163 

scheint  auf  Josephus,  Antiq.  jud.  II,  14,  zu  beruhen,  wo  es  in  Ruf- 
fins  Übersetzung1  heifst:  Postea  vero  armis  Aegyptiorum  per  fluctus 
et  violentia  ventorum  allatis  exercitui  Hebraeorum,  Moses  et  hoc  arbri- 
tratus  Dei  permissione  factum,  ut  neque  armis  egerent,  Jiaec  exiit  col- 
ligens :  Hebraeosque  his  muniens  duxit  eos  per  desertum  . . .  Auch 
Eusebius  a.  a.  O.  Kap.  29  berichtet  nach  Deraetrius:  qui  fluctibus 
obruiti  non  fuissent,  ülorwn  sese  armis  induisse. 

b)  Zur  Textkritik. 

V.  r<3.  baelce  oferbrsedde  byrnende  heofon, 

hälgan  nette  hätwendne  lyft. 

Statt  bcelce  ist  offenbar  balge  'mit  einem  Balge,  einem  Überzug' 
zu  lesen,  vgl.  V.  309 :  sances  —  sanges.  Auch  V.  81 :  segle  ofer- 
tolden  zeigt,  wie  sich  der  Dichter  die  Schutzwolke  denkt,  vgl.  Ps.  1 04, 
39:  expandit  nubem  in  protectionem  eorum  und  1.  Kor.  10,  1:  quo- 
niam  patres  nostri  omnes  sub  nube  fuerunt.  Johnson  übersetzt  daher 
im  Journ.  of  Germ.  Phil.  V,  44  ff.  ganz  richtig  bcelce  mit  'canopy'. 

V.  79  ff.         drihta  gedrymost.     Dgegscealdes  hleo 
wand  ofer  wolcnum:  hsefde  witig  god 
sunnan  sidfset  segle  ofertolden. 

Das  unerklärte  dcegscealdes  hleo  von  V.  79b  ist  wohl  in  dceg- 
sweal(o)ctes  hleo  'Schutz  gegen  die  Tageshitze'  zu  bessern ;  swealod,  die 
nebentonige  Entwickelung  von  sweolod  (vgl.  Bülbring,  Ae.  Elemb. 
§  422),  bedeutet  in  dieser  Zusammensetzung  dasselbe  wie  fcerbryne 
V.  70  a,  byrnende  heofon  73  b,  hätwendne  lyft  74  b  und  ligfyr  77  b; 
nach  der  Vorstellung  des  Dichters  hat  Gott  ein  Schutzdach  zwischen 
den  Wolken  und  dem  oberen  Himmel,  der  Bahn  der  Sonne,  ge- 
schaffen, um  die  Israeliten  gegen  deren  Strahlen  zu  schützen. 

V.  161  ff.  ergänze  ich: 

hreopon  herefugolas  hildegrtedige, 
deawigfedere  ofer  drihtneurn, 
[herge  on  laste;  hrsefn  üppe  göl,] 
wonn  wselceasega.     Wulfas  sungon  etc. 

indem  ich  mit  Kluge  on  hwcel  vor  hreopon  streiche  und  mit  Bright 
hrcefn  uppe  göl  nach  Elene  52  b  ergänze.  Zu  herge  on  laste  vgl.  ebd. 
30  a:  lädum  on  laste. 

Kiel.  F.  Holthausen. 

Zum  ae.  gerefa. 

Obgleich  sich  die  erprobtesten  Kräfte  um  die  Aufhellung  dieses 
zuerst  von  Liebermann  Anglia  Bd.  LX  gedruckten  ae.  Textes2  be- 
müht haben,  ist  doch  noch  manche  Stelle  der  Aufklärung  dringend 
bedürftig  geblieben.  Ich  wage  im  folgenden  einige  neue  Deutungs- 
versuche. 


Mir  hier  in  einem  alten  Kölner  Druck  von  1533  zugänglich. 
Jetzt  auch  Gesetze  der  Angelsachsen  I  453  ff. 

11* 


164  Kleinere  Mitteilungen. 

1.   bycgan  'to  bear  in  mind\ 

"ic  eal  geteallan  ne  maeig,  ])cet  god  scirman  bycgan  sceal"  (Ge- 
refa  §12;  Liebermann,  Ges.  der  Ags.  I  454  =  Kluge,  Ags.  Leseb.3 
S.  49,  Z.  45).  Die  Bedeutung  'kaufen'  ergibt  für  bycgan  an  unserer 
Stelle  keinen  passenden  Sinn;  man  erwartet  ein  Verb  von  der  Be- 
deutung 'bedenken,  überlegen,  bear  in  mind'  (vgl.  §  18,  Kluge  Z.  72 
'Hit  is  earfode  eall  to  gesecganne,  Ipcet  se  bedencan  sceal,  de  scire 
bealt').  So  hat  denn  Zupitza  (Anglia  IX  262)  bygän  emendiert,  im 
besonderen  Hinblick  auf  §  3  (Kluge  Z.  13)  'forgyme  [he]  da  ding 
to  begänne  7  to  bewitanne',  etc.  Wenn  Sweet  im  Student1 's  Diction- 
ary  für  bycgan  auch  die  Bedeutung  'get  done,  see  after'  angibt,  so 
stützt  er  sich  offenbar  allein  auf  unsere  Stelle. 

Erlaubt  uns  etwa  das  booflic  der  Lindisfarne  Gospels,  unser 
bycgan  in  behycgan  aufzulösen ? 1 

2.  ippingiren. 

"He  sceal  f ela  tola  to  tune  tilian  . . .  cimbiren,  tigehoc,  nsefebor, 
mattuc,  ippingiren,  scear",  etc.  (§  15,  Ges.  der  Ags.  455,  Kluge 
Z.  52).  Was  ist  mit  dem  Worte  ippingiren  gemeint?  Zumeist  stellt 
man  es  zu  yppan  und  übersetzt  es  mit  'Brech-,  Hebeeisen'. 2  Kluge 
allerdings  scheint  diese  Deutung  nicht  anzuerkennen,  da  er  das  Wort 
im  Glossar  zu  seinem  Ags.  Leseb.  einfach  mit  einem  Fragezeichen 
versieht. 

Ich  möchte  der  Vermutung  Ausdruck  geben,  dafs  im  Original 
des  Gerefa  gar  nicht  ippingiren,  sondern  cippingiren  gestanden 
hat:  der  (auch  sonst  nicht  allzu  sorgfältige)  Kopist  hätte  für  das 
mattuc  cippingiren  der  Vorlage  mattuc  ippingiren  geschrie- 
ben, sich  also  einer  Haplographie  schuldig  gemacht.  Wir  gewönnen 
damit  einen  zweiten  Beleg  für  das  Verb  ae.  cippian,  das  Etymon 
von  ne.  chip,  das  wir  sonst  nur  aus  dem  von  Lye  angeführten  Partizip 
forcyppod  'praecisus'  kennen.  Die  Bildung  der  Zusammensetzung 
cippingiren  wäre  der  von  huntifnjgspere,  screadungtsen  usw.  zu  ver- 
gleichen. „    '. . 

3.   timplean. 

Unter  den  in  §  15  aufgeführten  Webegeräten  erscheint  (Kluge 
Z.  57)  ein  timplean,  zu  dem  Liebermann  Anglia  IX  257   bemerkt: 


1  Das  Mnld.  kennt  den  Lautübergang  beh-  >  b  in  ausgedehntem  Mafse : 
behaghel  >  baghel,  behaghen  >  baghen,  bellende  >  bende,  behoef  >  boef,  behoren 
>  boren  usw. 

2  Ae.  yppan  erscheint  nur  mit  der  übertragenen  Bedeutung  'eröffnen, 
offenbaren'  (vgl.  me.  üppen  'disclose'  und  das  Adj.  yppe  'offenbar');  doch 
hat  an.  yppa,  worauf  mich  Pogatscher  freundlichst  aufmerksam  macht, 
noch  die  ursprüngliche  Bedeutung  'auf-,  in  die  Höhe  heben'.  Im  Hin- 
blick darauf  wäre„übrigens  (Zusammenhang  von  ippingiren  mit  yppan 
vorausgesetzt)  die  Übersetzung  'Hebeeisen'  oder  'Ziehhaken'  der  obenange- 
führten vorzuziehen ;  das  Wort  würde  ein  ähnliches  Werkzeug  bezeichnen 
wie  das  kurz  vorher  genannte  tigehoc. 


Kleinere  Mitteilungen.  165 

,Dem  Worte  timplean,  das  dem  Zusammenhange  nach  einen  zur 
Weberei  gehörenden  Gegenstand  bezeichnet,  steht  der  Übersetzer  rat- 
los gegenüber.'  Im  Hinblick  auf  tum  'Wolle  karden'  bei  Halliwell 
(vgl.  Anglia  1.  c.  263)  gibt  er  Ges.  der  Ags.  455  die  Übertragung 
'Karden  ..?'  Sweets  Angabe  (Stud.  Diction.):  'timple  once,  a.  tim- 
plean f.  an  implement  of  weaving'  hilft  uns  auch  nicht  weiter.  Kluge 
(Ags.  Leseb.)  verzichtet  auf  jede  Erklärung:  'timplean?' 

Liefse  sich  unser  timplean  nicht  in  Verbindung  bringen  mit  me. 
tempyll  (Cathol.  Anglic),  ne.  temple,  frz.  temple  (f.),  templu  etc., 
dtsch.  Tempel,  Tömpel  'Sperrrute,  Spannstock,  Breithalter'  ? l  Dem 
Worte  dürfte  ein  lat.  templa  zugrunde  liegen,  das  bei  frühzeitiger 
Übernahme  ins  Ae.  zu  timpfejl  (st.  F.)  oder  timpfejle  (schw.  F.)  wer- 
den mufste  (cf.  gimm  <  getnma;  ae.  tempfejl  <  templum  ist  später 
entlehnt  worden,  vgl.  Pogatscher  QF  64  §  123). 2  Allerdings  macht 
die  überlieferte  Form  timplean  Schwierigkeiten.  Dürfen  wir  es  in 
timpelan  emendieren  ?    Oder  hatte  die  Vorlage  etwa  timple  am  V  3 

4.   sceactele. 

Unter  den  Webegeräten  in  §  15  figuriert  des  weiteren  ein  scea- 
dele  (Kluge  Z.  58).  Liebermann  übersetzt  es  Anglia  IX  263  mit  'Schiff- 
chen', fügt  Ges.  der  Ags.  455  dieser  Übersetzung  jedoch  ein  Frage- 
zeichen bei.  Kluges  Glossar  begnügt  sich  mit  diesem  letzteren.  Auch 
Sweets  'scapel  (m.)  weaving  implement'  fördert  uns  nicht.  Sollte  das 
Wort  nicht  zu  an.  skeict  'the  slay  or  weaver's  rod'  zu  stellen  und 
das  ea  demgemäfs  als  lang  anzusetzen  sein  (sceäctel  /".)? 

Halle  a.  S.  Otto  Ritter. 

Eine  verlorene  Handschrift  der  Sprüche  Hendings. 

Eine  verlorene  oder  wenigstens  jetzt  verschollene  Handschrift 
der  Sprüche  Hendings  befand  sich  noch  Ende  des  14.  Jahrhunderts 
in  der  Bibliothek  der  Priorei  St.  Martin  zu  Dover.  Dies  lehrt  uns 
der  im  Jahre  1389  vom  Bruder  John  Whytefeld  zusammengestellte 
Katalog  dieses  Klosters  (jetzt  MS.  Bodley  920  der  Bodleiana  zu  Ox- 
ford), welcher  kürzlich  von  R.  James 4  veröffentlicht  worden  ist.  Dort 
wird  nämlich  als  No.  170  eine  Handschrift  aufgeführt,  welche  fol- 
genden Inhalt  hatte: 


1  Vgl.  Karmarsch,  Grundriß  der  mechanischen  Technologie,  1841,  II 
352;  Lueger,  Lex.  lechn.  s.  v.  Weberei;  Prechtl,  Technolog.  Encyclop.  XX  M4. 

2  Das  e  in  me.  tempyll,  ne.  temple  deutet  auf  Neuentlehnung  aus  dem 
Frz.  hin. 

3  am  'weaver's  reed'  kommt  in  der  Aufzählung  von  Webegeräten 
Oerefa  §  15  nicht  vor;  das  amb  in  genanntem  Paragraphen  ist  nicht  not- 
wendig als  am  aufzufassen  —  die  Vorlage  könnte  ein  [..-..  e]amb  ent- 
halten haben. 

4  The  Ancient  Libraries  of  Canterbury  and  Dover,  ed.  by  M.  R.  James, 
Cambridge  1903,  p.  107—495. 


166  Kleinere  Mitteilungen. 

Libellus  de  matre  beati  Thome  Can- 

tuarieusis  Electus  igitur  ante  constituc' 

Actus  in  exilium  beati  Thome  Cant.  10  a  Honor  et  gloria  beati 
Vita  beati  Thome  Cantuariensis  in 

gallicis  20  a  Adeu  loenge  et  soun 

Fabula  de  wlpe  medici1  in  angl.  34  b  Hit  by-ful~  whylem 

Parabole  Isopi  greci  metrificate  38b  Adaneis  satus 

La  romonse  de  Ferumbras  Seygnours  ore  escut' 
Gcsta   Octouiani    [sie/]   imperatoris 

in  gallicis  123  a  Le  deu  qui  en  la  crois 
Stulticie  mundi  principales  in  gal- 
licis 164  b  Qui  nul  bien  ne  soyt 
Reeordacio  passionis  in  gallicis  166  a  Vn  poy  escutes 
Libellus  de  caritate  in  gallicis  173  a  Chescun  home  dere 
Gesta  Karoli  magni  in  gallicis  178  b  Ore  escutx  seignouris 
Cato  in  gallicis  199  b  Seignours  oyex 
Mrönü  [?]  vtilitas  in  gallicis  203  b  Ore  vox  volum  monstrer 
Prouerbia  Hendung  [sief]  in  angl.  206a  Jhesu  Orist  al  ßys 

Der  angeführte  Inhalt  stimmt  zu  keiner  der  drei  uns  bisher  be- 
kannten Handschriften,  in  denen  die  Sprüche  Hendings  vorkommen ; 
also  handelt  es  sich  hier  um  eine  vierte  verschollene  Aufzeichnung 
dieses  Werkes.  Den  Anfangsworten  nach  zu  urteilen,  wie  sie  unser 
Katalog  anführt  (Jhesu  Christ  al  pys),  mufs  die  Hending- Version  des 
Dover -Ms.  der  Überlieferung  in  Digby  86  am  nächsten  gestanden 
haben;  denn  nur  hier  lautet  der  Anfang  Jesu  Crist  al  ßis  worldes 
red  (Angl.  IV,  191)  gegenüber  al  folkis  rede  in  der  Cambridger  und 
Londoner  Handschrift.  Auch  sonst  scheint  die  Dover-Handschrift 
ein  ähnliches  Gepräge  wie  Digby  86  gehabt  zu  haben.  Denn  wie 
letztere  bietet  sie  nebeneinander  französische,  lateinische  und  eng- 
lische Texte 3  und  unter  letzteren  sogar  ebenfalls  eine  Fuchs-Fabel, 
deren  Verlust  wir  um  so  mehr  bedauern  müssen,  als  sie  uns  vermut- 
lich ein  interessantes  Seitenstück  zu  den  spärlichen  Vertretern  mittel- 
englischer Fabeldichtung,  insonderheit  zu  The  Vox  and  the  Wolf  von 
Digby  86,  geliefert  haben  würde. 

Gegenüber  dem  nicht  geringen  Bestände  an  französischen 4 
Handschriften  in  Dover  ist  es  auffallend,  dafs  der  Katalog  nur  noch 


1  So!  vielleicht  für  medico?  (James). 

2  Die  (im  Oxford  Dictionary  fehlende)  Präteritalform  biful  ist  mehr- 
mals belegt  im  jüngeren  Layamon-Text  (westl.  Mittelland)  und  in  dem 
ebenfalls  im  westlichen  Mittellande  (Gloucestershire)  und  noch  im  13.  Jh. 
entstandenen  südlichen  Legendär.  Wahrscheinlich  wird  auch  die  obige 
Dover-Handschrift,  wie  die  drei  anderen  Hending-Mss.,  der  ersten  Hälfte 
des  14.  Jh.  angehört  haben. 

3  Vgl.  Codicem  manu  scriptum  Digby  86  descripsit  ...  E.  Stengel, 
Halle  1871. 

4  James  zählt  S.  85  24  Handschriften  mit  französischen  Texten  auf. 
Auch  die  weltliche  Literatur  Frankreichs  war  darin  nicht  schlecht  ver- 
treten. Aulser  den  bereits  oben  angeführten  Werken  nenne  ich  nur: 
No.  364  Le  romonse  du  roy  Charles  la  Playst  vos;  No.  3t>5  Le  romonse 
de  Athys  (Gröber  II,  1,  S.  588)  la  Qui  sagis  est;  No.  366  Le  romonse  de 
la  Rose  Seyntys  gens;   No.  367  Polistoria  Bruti   et  Britonum  la  Qui  reut 


Kleinere  Mitteilungen.  167 

eine  zweite  Handschrift  mit  einem  englischen  Text  aufführt:  es  ist 
dies  die  Handschrift  No.  355,  welche  unter  allerhand  lateinischen 
medizinischen  Werken  an  fünfter  Stelle  enthielt: 

Sinonoma  herbarum    25  b    Affa  a  pe  kessur1 

Offenbar  ist  damit  ein  ähnliches  lateinisch-englisches  medizinisches 
Pflanzenglossar  gemeint  wie  die  Sinonoma  Bartholomei  oder  die  Sy- 
nonyma des  Petrus  Paduensis,  welche  Mowat  für  die  Anecdota  Oxo- 
niensia  1882  bew.  (in  'Alphita')  1887  veröffentlicht  hat. 

Würzburg.  Max  Förster. 

Die  Bibliothek  des  Dan  Michael  von  Northgate. 

Die  drei  alten  Bücherkataloge  von  Christ  Church  Priory  und 
St.  Augustine's  Abbey  zu  Canterbury  und  der  St.  Martin's  Priory  zu 
Dover,  welche  M.  R.  James  unlängst  veröffentlicht  hat  (The  Ancient 
Libraries  of  Canterbury  and  Dover,  Cambridge  1903),  werfen  nach 
den  verschiedensten  Seiten  hin  interessante  Streiflichter  auf  die 
Geisteskultur  des  englischen  Mittelalters.  Namentlich  wird  aber  die 
englische  Literaturkunde  manchen  Gewinn  aus  dieser  Veröffentlichung 
ziehen  können,  wofür  heute  hier  auf  ein  Beispiel  hingewiesen  sei, 
dessen  Ausschöpfung  ich  künftiger  Forschung  überlasse. 

Die  Persönlichkeit  des  Dan  Michael  aus  Northgate,  welcher  uns 
bisher  nur  aus  dem  Epilog  zu  seinem  Ayenbiie  of  Inwyt  (1340)  als 
Benediktinermönch  von  St.  Augustin  zu  Canterbury  bekannt  war, 
gewinnt  für  uns  einen  neuen  Zug  durch  die  eben  genannte  Ver- 
öffentlichung. Wir  lernen  ihn  nämlich  daraus  als  einen  grofsen 
Bücherfreund  und  Handschriften  Sammler  kennen,  der,  dem  Umfange 
seiner  Bibliothek  nach  zu  urteilen,  wohl  über  einige  Mittel  verfügt 
haben  mufs.  Der  uns  erhaltene  Katalog  des  St.  Augustin  -  Klosters 
(jetzt  Ms.  360  des  Trinity  College  zu  Dublin),  welcher  kurz  vor  1497 
angelegt  ist,  verzeichnet  nämlich  nicht  nur  den  Inhalt  der  einzelnen 
Handschriften,  sondern  gibt  auch  in  sehr  vielen  Fällen  den  Namen 
der  ehemaligen  Besitzer  bezw.  Donatoren  derselben  an.  Auf  diese 
Weise  erfahren  wir,  dafs  noch  Ende  des  15.  Jahrhunderts  von  den 
1837  Handschriften  des  Klosters  mindestens  25  aus  der  Bibliothek 
des   'Michael  de  Northgate'   herstammten ; 2  darunter  auch  (als  No. 


sauoyr;  No.  369  Historia  Turpini  archiepiscopi  (Gröber  II,  1,  719):  Sy  co- 
mence  lestorye;  No.  373  Prophetia  Merlini  in  gallicis  13a  Oy  eomeme  aeune; 
No.  390  Liber  Cathonis  la  Catoun  estoit;  No.  390  a  Bestiarius  in  gallicis 
166  a  Qui  byen  comece;  No.  413  Lapidarius  in  gallico  83a  Hom  trouex. 

1  Das  a  bedeutet  vermutlich  anglice,  im  übrigen  ist  mir  die  Glosse 
unverständlich. 

2  Es  sind  dies  die  Handschriften  No.  69.  647.  649.  767.  782.  783. 
804.  841.  861.  876.  1063.  1077.  1155.  1156.  1170.  1267.  1275.  1536.  1548. 
1595.  1596.  1597.  1604.  1654.  Auiserdem  wird  in  einem  Verzeichnis  aus- 
geliehener Bücher  (in  Ms.  Ff.  4.  40)  ein  Diwrnale  Michaelis  de  Norgate 
(James  S.  503)  genannt. 


168  Kleinere  Mitteilungen. 

1536)  ein  Liber  in  anglico  Michaelis  de  Northgate  cum  CC  2°  fo.  ire 
vor  alse,  das  eich  auf  Grund  jener  alten  Signatur  (CG)  und  der  An- 
fangsworte des  zweiten  Blattes  (ire  vor  alse)  sicher  mit  dem  uns  er- 
haltenen Arundel-Ms.  57  des  Ayenbite  of  Inwyt  identifizieren  läfst, 
welches  höchstwahrscheinlich  Michaels  Autograph  darstellt. '  Über- 
schauen wir  kurz  den  Inhalt  der  übrigen  24  Handschriften,  der  auf 
ein  recht  bedeutendes  Bildungsniveau  unseres  Mönches  schliefsen 
läfst,  so  springt  uns  zunächst  der  starke  Bestand  an  theologischen 
Werken,  vor  allem  mystisch-asketischer  Richtung,  in  die  Augen,  was 
indes  bei  dem  Verfasser  des  Ayenbite  kaum  zu  verwundern  ist.  Stau- 
nend sehen  wir  aber,  dafs  Dan  Michael  auch  ein  sehr  starkes  Inter- 
esse für  Medizin,  Mathematik,  Astronomie,  Chemie  und  sonstige 
Naturkunde  besessen  hat.  Von  theologischen  Schriftstellern,  die  sich 
in  seiner  Bibliothek  befanden,  seien  hier  nur  genannt  Petrus  Co- 
mestor,  Bernhard  v.  Clairvaux, 2  Hugo  v.  S.- Victor,  Helinand  v.  Froid- 
mont,  Robert  v.  Flamesbury  und  Edmund  v.  Canterbury;  von  medi- 
zinischen Gallen,  Dioskurides,  Rhasis,  Gerber,  Afflacius  (?),  Gilbert, 3 
Bernard  Gordon,  Henri  de  Mondeville,  sowie  das  therapeutische  Ge- 
dicht Regimen  sanitatis  Salernitanum ;  von  naturwissenschaftlichen 
Aristoteles,  Hermes,4  Albertus  Magnus,  Roger  Bacon,  Petrus  de  Ma- 
harncuria,  Marbod,  Kyrannos,  John  Holywood,  Giovanni  Campano 
und  Richard  Grosseteste. 5  Dafs  er,  wie  doch  zu  vermuten,  ein  Exem- 
plar seiner  Quelle,  der  Somme  des  vices  et  des  vertus  des  Laurent  du 
Bois  (Gröber  1027),  besessen  hat,  ist  aus  dem  Katalog  nicht  direkt 
erweislich;  doch  mag  sich  dies  Werk  unter  anonymen  lateinischen 
Titeln  wie  Summa  de  confessione  (No.  649)  u.  a.  verbergen. 

Aufser  Arundel  57  sind  noch  drei  weitere  von  den  in  Michaels 
Besitz  gewesenen  Handschriften  uns  erhalten,  nämlich  die  No.  1155, 
1156  und  1170  des  Katalogs  als  Ii.  I.  15  Un.  Libr.  Cambr.,  Bod- 
ley  464  und  Corp.  Christi  Oxf.  221.  Autopsie  würde  wohl  fest- 
stellen können,  ob  diese  von  derselben  Hand  wie  Arundel  57  ge- 
schrieben sind,  also  auch  vielleicht  Autographen  des  Dan  Michael 


1  Eine  Seite  in  Faksimile  veröffentlichte  daraus  die  Palceographical 
Society,  Vol.  III,  plate  197. 

2  Dessen  Stimulus  amoris,  von  dem  Michael  zwei  Abschriften  (No. 
767  und  804)  besafs,  mag  auf  die  Titelfassung  des  englischen  Werkes  Ein- 
fluss  gehabt  haben,  wenigstens  sofern,  wie  ich  annehmen  möchte,  Ayenbite 
of  Inwyt  eher  'Stachel,  Sporn,  Antrieb  des  Gewissens'  heilst  als  einfach 
'Gewissensbifs'. 

3  Die  auffallende  Namensform  Gilbertyn,  welche  Chaucer  C.  T.  Prol. 
434  (im  Reime)  hat,  erklärt  sich  aus  dem  zu  Oilbertus  gebildeten  Adjek- 
tiv, wie  auch  obiger  Katalog  S.  348  liest:  Gilbertina  practica  puerorum. 

4  Angesichts  der  etwas  kargen  Angaben,  die  Skeat  im  Oxford  Chau- 
cer V  432  zu  Hermes  (Trismegistus)  macht,  sei  auf  die  reichen  Nachweise 
bei  Schürer,  Geschichte  des  jüdischen  Volkes  im  Zeitalter  Jesu  Christi  (Leip- 
zig 18983),  Bd.  III,  S.  482  f.,  hingewiesen. 

5  Näheres  über  die  meisten  der  genannten  Namen  in  Gröbers  Über- 
sicht über  die  lateinische  Literatur. 


Kleinere  Mitteilungen.  169 

darstellen.  Auch  wären  sie  bei  einer  erneuten  Quellenuntersuchung 
des  Ayenbite  wohl  zu  berücksichtigen. 

Im  Anschlufs  hieran  sei  noch  darauf  hingewiesen,  dafs,  wie 
James  S.  510  zeigt,  eine  Handschrift  des  Poema  Morale,  Digby  4, 
sich  identifizieren  läfst  mit  einer  Eintragung  in  dem  alten  Kataloge 
des  Christ-Church-Klosters  zu  Canterbury  (in  Galba  E.  IV ;  angelegt 
zwischen  1315 — 1331),  wo  das  englische  Gedicht  als  Rithmus  Anglice 
(No.  954)  bezeichnet  ist.  Diese  Tatsache,  im  Verein  mit  dem  aus- 
gesprochen kentischen  Sprachcharakter  der  Digby- Version,  macht  es 
wahrscheinlich,  dafs  diese  Abschrift  des  Poema  Morale  auch  in  Christ 
Church  entstanden  ist. 

Würzburg.  Max  Förster. 

Zu  Lydgates  Seereta  secretorum. 

Die  beiden  ehemaligen  Ashburnham-Mss.  No.  132  und  134, 
welche  Th.  Prosiegel  leider,  weil  damals  in  Privatbesitz  befindlich, 
bei  seiner  trefflichen  Arbeit  (1903)  über  die  Handschriften  von  Lyd- 
gates Seereta  Secretorum  nicht  benutzen  konnte,  sind  jetzt  im  Fitz- 
william-Museum zu  Cambridge  allgemein  zugänglich  geworden,  wo 
sie  nach  freundlicher  Mitteilung  von  Mr.  M.  R.  James  die  Signaturen 
McClean-Ms.  No.  180  und  181  tragen  werden. 

Würzburg.  Max  Förster. 

Die  mittelenglische  Version  von  Claudians 
De  consulatu  Stilichonis. 

Ein  neues  Beispiel  für  reimlosen  Septenar. 

In  seiner  'Englischen  Metrik',  Bd.  II  (1888),  S.  455,  hat  J.  Schip- 
per die  Ansicht  ausgesprochen  und  im  'Grundrifs  für  germanische 
Philologie'  noch  in  der  2.  Auflage,  Bd.  II,  2  (1905),  S.  210,  wieder- 
holt, dafs  der  reimlose  Septenar  des  Ormulum  'ganz  ohne  Nachfolge 
geblieben'  sei,  und  dafs  erst  im  16.  Jahrhundert  wieder  unter  dem 
Einflufs  der  antiken  Strophen  Versuche  mit  reimlosen  Versen  ge- 
macht seien.  Dem  gegenüber  möchte  ich  darauf  hinweisen,  dafs  ein 
reimloser  Vers,  und  zwar  ebenfalls  ein  Septenar,  in  einem  Werke 
aus  der  ersten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  vorkommt,  welches  frei- 
lich, soweit  ich  sehe,  bisher  von  der  Anglistik  nicht  beachtet  ist. 1 
Es  handelt  sich  um  eine  mittelenglische  Bearbeitung  eines  Teiles2 
des  panegyrischen  Gedichtes  De  consulatu  Stilichonis,  welches  von 
dem  spätrömischen  Hofpoeten  und  kaiserlichen  Geheimsekretär  Clau- 
dius Claudianus3  im  Jahre  400  abgefafst  worden  ist.  Die  mittel- 
englische Version  ist  uns  zusammen  mit  dem  lateinischen  Original 

1  Inzwischen  ist  das  Gedicht  gedruckt  von  E.  Flügel  in  Anglia 
XXVIII  255—297. 

2  Übersetzt  sind  nur  Liber  II,  V.  1 — 413. 

1  1  3  Vgl.  über  ihn:  Th.  Birt  in  seiner  unten  zu  nennenden  Ausgabe 
(Berlin  1892);    Vollmer  in  Pauly's  Real  -  Enzyklopädie  III  (18'J9),  2652  ff. 


170  Kleinere  Mitteilungen. 

im  Additional-Ms.  11814  des  Britischen  Museums  überliefert.  Nach 
Ausweis  des  Kolophons  (translat  and  wrete  at  Cläre  1445)  ist  sie  im 
Jahre  1445  (oder  kurz  vorher)  entstanden  und  zwar  auf  dem  Schlosse 
Cläre  in  SufFolk,  das  damals  dem  Herzog  Richard  von  York  gehörte, 
der  lobend  in  den  Einleitungsversen  genannt  wird.  Möglicherweise 
haben  wir  es  also  mit  dem  Autograph  des  Übersetzers  zu  tun,  der 
höchstwahrscheinlich  in  dem  Hofkreise  des  Herzogs  von  York  zu 
suchen  ist. 

Als  Beispiel  für  den  sehr  freien  Versbau  sei  hier  der  Anfang 
des  Gedichtes  hergesetzt,  welchen  ich  dem  Faksimile  der  Palseogra- 
phical  Society  (Vol.  III,  plate  200)  entnehme,  unter  Regelung  der 
Interpunktion  und  des  Gebrauches  von  Kapitalen  und  Einführung 
eines  schrägen  Striches  an  Stelle  des  die  Zäsur  bezeichnenden  um- 
gekehrten Semikolons.1 

Pref  ace. 
In   Ruffynes  legende,  which  late  was  write,  /  Stilico  hath  preysingts 

armyd. 
Our  Muse  now  more  mylde  with  losyd  stryngis  /  in  songe  shal  gyn 

to  teile, 
3    With  what  maners  and  with  what  love  /  this  dred  pWnce  rulyd   the 

world  e, 
With  whos  preyers  he  lyst  be  mevid  to  clothe  him  in  his  roobys 
And  grauntid  oo  yere  thestate  to  take,  /  as  consiüers  vsid  before. 

Benygnyte  ia  descryed  techyng  Stilico  the  prynce. 

6    The  keper  of  the  worlde,  Clemencia  callyd,  '  which  chase  hir  first  place 
In  Iupiters  girdil,  that  partith  a-sundir  /  grete  hetis  trotn  he  colde, 
Which  grettest  is  namyd  of  hevenly  duellers ;  /  for  Clemens  first  had 

ruthe 
9    Of  the  vnshaply  begynnyng  worlde,  /  wha«  al  hing  lackid  dieu  forme, 
And  with   her   bright   chere   put  thirkenes    aside,  /  yivyng  lijte  to 

erthys.2 
This  goddesse  the,  Stilico,  as  temple  vsith  /  and  as  offryng  at  awtrys, 
12    Where  frankencens  and  swete  odourys   '  to  hir  with  fire  is  yove. 
Her  principal  sees  high  in  thy  brest  /  she  hath  prövided  to  be, 
The  techyng  evir,  that  thou  sholdist  deme  /  and  nevir  as  manhode  holde 
15     Oo  man  reioise  a-nothirs  peyne,  /  or  othirs  deth  desire; 

That  in  thi  peas  thou  sholdist  so  breke  /  cruel  Martys  decrees, 
As  by  the  to  longe  haterede  /  occasion  noon  were  yove; 
18    That  to  trespassours  thou  sholdist  pardon  /  frely  askid  graunte, 
And  ire  soone  shuldist  put  awey;  /  seldome  thou  shuldist  it  meve; 
Onmevable  thou  owist  not  endure,  /  wha»  benygne  preyers  be  offrid ; 
21     To  truthe  distroye  al  aduersauntts ;  /  and  thingis  to  the  submytted 
Nevir  sett  in  herte  as  the  lyon  doothe,  /  which3  ovirthrowith  wilde 

boolys 
And  smaler  beestis  lettyth  renne  beside ;  /  not  oonys  vpon  hem  lokith. 
24    Thus  by  Clemens  taught  is  Stilico,  /  as  childe  enformyd  by  mastresse. 


1  Nur  in  wenigen  Versen,  wie  z.  B.  bei  Z.  4,  fehlt  dasselbe. 

2  Am  Rande  hier  folgende  Bemerkung  von  derselben  Hand:  Cle- 
mencia dwellith  in  the  midde-girdil,  for  sehe  is  (über  d.  Zeile)  not  hoot  with. 
veniawns  ne  coolde  with  pusillanimite. 

3  Dahinter  ist  in  der  Hdschr.  ein  gladly  ausradiert. 


Kleinere  Mitteilungen.  171 

Ein  Vergleich  mit  dem  lateinischen  Original,  das  ich  hier  nach 
der  gleichen  Handschrift  folgen  lasse,  zeigt,  dafs  die  englische  Ver- 
sion eine  sehr  freie  ist.1 

Pref  atio. 
Hactenus  armatae  laudes.    Nunc  qualibus  orbem 
Moribus  et  quanto  frenet  metuendus  amore, 
3    Quo  tandem  flexus  trabeas  auctore  togantes 
Induerit  fastisque  suum  concesserit  annum, 
Mitior  incipiat  fidibus  iam  Musa  remissis. 

Claudiani  de  consulatu   Stilichonis  liber  incipit. 
6    Principio  mundi  custos  dementia  magni, 

Quae  Jovis  incoluit  zonam,  quae  temperat  aethram 
Frigoris  et  flammae  medio;  quae  maxima  nutu 
9    Caelieolum.     Nam  prima  chaos  dementia  solvit 
Congeriem  miserata  rüdem  vultuque  sereno 
Discussit  tenebras,  in  lucem  saecula  fudit. 

12    Haec  dea  pro  templis  et  ture  calentibus  aris 
Te  fruitur  posuitque  suas  in  pectore  sedes. 
Haec  doeet,  ut  poenis  hominum  vel  sanguine  pasci 

15    Turpe  ferumque  putes;  ut  ferrum  Marte  cruentum 
Sic  cum  pace  premas;  ut  non  infensus  alendis 
Materiem  praestes  odiis;  ut  sontibus  ultro 

18    Ignovisse  velis,  deponas  otius  iras, 

Quam  moveas,  precibus  nunquam  implacabilis  hostis, 
Obvia  prosternes  prostrataque  more  leonum 

21    Despicias,  alacres  audent  qui  frangere  tauros, 
Traneiliunt  praedas  humiles.     Ac  iste  magistra 
Dat  veniam  victis;  hac  exortante  calores  ... 

Eine  nähere  Untersuchung  des  Versbaues,  wie  der  übrigen  mit 
dem  Gedichte  verknüpften  Fragen  mufs  ich  dem  künftigen  Heraus- 
geber desselben  überlassen.  Es  sei  nur  hier  schon  darauf  hingewiesen, 
dafs  der  vorliegende  Septenar  in  der  Taktfüllung  weit  vom  Ormulum 
absteht  und  in  seinem  ungemein  freien  Bau  vielmehr  an  die  alten 
Volksballaden  erinnert.  Aus  diesen  wie  aus  anderen  Gründen  möchte 
ich  es  denn  auch,  solange  nicht  neue  Bindeglieder  nachgewiesen 
sind,  dahingestellt  sein  lassen,  ob  unser  Dichter  wirklich  an  Orm  an- 
geknüpft hat.  Wahrscheinlicher  dünkt  mir,  dafs  er  selbständig  2  auf 
das  Aufgeben  des  Reimes  im  Septenar  gekommen  ist,  sei  es  in  Nach- 
ahmung der  zeitgenössischen  alliterierenden  Dichtung  oder  in  direkter 


1  daudians  Werke  sind  jetzt  am  besten  herausgegeben  von  Th.  Birt 
in  Monumenta  Germaniae,  auct.  antiquiss.  t.  X  (Berlin  1892).  Es  seien 
daher  die  von  unserer  Handschrift  abweichenden  Lesarten  von  Birts  kri- 
tischem Text  (S.  203  ff.)  hier  angegeben :  :J>  rogantes,  6  magni  . . .  mundi, 
8  mediam  natu,  11  Discussis  tenebris,  16  siccum  p.  premas,  18  iram,  19 
hostis]  obstes,  20  prosternas,  21  ardent,  22  Hac  ipse,  23  Das.  Diese  Ab- 
weichungen  lehren,  dafs  unsere  Handschrift  in  eine  Klasse  (x)   mit  Birts 

V  und  P  gehört  (vgl.  Birt  S.  103).     Birt  erwähnt  unsere  Handschrift  auf 
S.  126,  hat  sie  aber  wegen  ihres  textum  corruptissimum  nicht  weiter  benutzt. 

2  Es  bedarf  wohl  kaum  des  Hinweises,  dafs  auch  sonst  (Orm,  G.  Har- 
vey  usw.)  inhaltlich  gering  zu  bewertende  Dichter  in  formeller  Beziehung 
metrische  Neuerer  gewesen  sind. 


172  Kleinere  Mitteilungen. 

Anlehnung  an  den  ihm  vorliegenden  antiken  Hexameter.  In  letz- 
terem Falle  hätten  wir  in  unserem  Gedichte  den  frühesten  Vorläufer 
der  antikisierenden  Richtung  zu  sehen,  die  erst  in  der  Hochrenais- 
sance in  England  zu  voller  Entfaltung  gelangte. 

Literargeschichtlich  dürfte  das  Gedicht  namentlich  bemerkens- 
wert sein  als  ein  neuer  Beweis  für  die  Beliebtheit1  des  Claudianus 
im  Mittelalter,  welche  uns  durch  die  zahlreichen  Abschriften  seiner 
Werke  aus  dem  12. — 15.  Jahrhundert,  sowie  durch  Chaucers  Be- 
kanntschaft mit  seinem  Raptus  Proserpinae2  auch  sonst  hinreichend 
bezeugt  ist. 

Würzburg.  Max  Förster. 

Miszellen  zur  englischen  Wortkunde. 

1.  Ae.  sceota  'Forelle' 
wird  von  Bosworth-Toller,  Sweet,  Schröer  usw.  mit  langem  Diph- 
thong (eo,  eo)  angesetzt.    Weist  die  neuenglische  Form  des  Wortes: 
shote,  shoat,  shot  —  nicht  vielmehr  auf  ein  ae.  sceota  hin? 

2.  Me.  milternisse  <  mildhertnis 
zweifelt  Mätzner,  Sprachproben  I  54,  Anm.,  Wörterbuch  IH  584,  zu 
Unrecht  an:  Formen  mit  ausgestofsenem  t  kommen  bereits  in  ae.  Zeit 
vor,  wie  die  Zusammenstellungen  von  Klaeber,  Modern  Language 
Notes  XVHI  244,  lehren.  Ich  lasse  dahingestellt,  ob  es  sich  einfach 
um  eine  'Ekthlipsis'  des  t  zwischen  r  und  n  handelt,  oder  ob  die 
Verbindung  tn  zunächst  durch  den  'faukalen  Verschlufslaut'  -f-  n 
ersetzt  wurde,  wofür  dann  stimmloses  n  -}-  n,  und  schliefslich  ein- 
fach n  eintrat.3 

3.   Ne.  chafer,  chaffer 
mit  stimmlosem  f  gegenüber  ae.  ceafor  wird  durch  frühen  Anschlufs 
an  cliaff  zu  erklären  sein ;  die  lautgesetzliche  Entwickelung  hätte  zu 
ne.  *chaver  geführt.4 

4.  Ne.  donkey. 
'As  the  original  pronunciation  apparently  rimed  with  monkey  . .  .,5 
suggestions  have  been  made  that  the  word  is  a  deriv.  of  dun  adj.  (cf. 
dunnock  hedge-sparrow),  or,  more  probably,  a  familiär  form  of  Dun- 
can  (cf.  the  other  colloquial  appellations,  Bicky,  Neddy)'  schreibt  das 
New  English  Dictionary.     Zur  Unterstützung  der  ersteren  Ansicht 


1  S.  Th.  Birt  a.  a.  O.  p.  78—158. 

2  Siehe  die  Nachweise  in  Skeats  Oxford  Chaucer  VI,  385  unter  Clau- 
dian. 

3  Vgl.  die  Entwickelung  von  anlautendem  Im  im  Englischen. 

4  Vgl.  das  dial.  cheever  (<  cefer,  Erf.  Gl.).  —   Ne.  trifte  'zermalmen' 
(ae.  trifuliari)  dürfte  durch  trifte  <  afrz.  trufle  beeinflufst  sein. 

5  Die  heute  übliche  Aussprache  mit  o  ist  eine  'spelling  pronunciation'. 


Kleinere  Mitteilungen.  173 

möchte  ich  kurz  an  dtsch.  Grauchen,  Gräuling  'Esel'  erinnern.  Übri- 
gens hat  dunnock  im  Cant  auch  die  Bedeutung  'cow'  aufzuweisen  (cf. 
Groses  Dictionary  of  the  Vulgär  Tongue). 

5.  Ne.  flix,  flick,  fleck 
'the  für  of  various  quadrupeds' l  ist  nach  dem  N.  E.  D.  'Of  unknown 
origin:  possibly  connected  with  Fly  v.'  Sollte  flix  nicht  einfach 
eine  Variante  zu  flax  sein  ?  Während  ae.  fleax  zu  me.  ne.  flax  führte, 
entwickelte  sich  die  Nebenform  flex  zu  flix  weiter  (vgl.  me.  nekename 
>  nickname,  reek  >  rick,  seek  >  sick  usw.).  Diesem  Auseinander- 
gehen in  lautlicher  Beziehung  entsprach  eine  Differenzierung  der 
Bedeutung;  während  flax  seinen  ursprünglichen  Sinn  beibehielt,  nahm 
flex,  flix  die  Bedeutungen  'Flachshaar*  >  'Haar'  >  'Pelz'  an. 

Was  das  Verhältnis  von  flix  zu  flick  und  fleck  betrifft,  so  sind 
die  beiden  letzten  Formen  gerade  so  aus  flex,  flix  hergeleitet  wie 
dial.  kick,  keck  aus  kix.  kex  (cf.  E.  St.  30,  381),  dial.  flock  aus  phlox, 
vulg.  chay  aus  chaise,  wie  cherry,  me.  cheri  aus  cheris,  pea  aus  pease 
usw. :  zu  der  fälschlich  als  Plural  gefafsten  -s-Form  (*flick-s)  hat  man 
einen  neuen  Singular  durch  Abwerfen  ebendieses  -s  gebildet. 

6.  Ne.  jowl,  jole. 

'Jowl,  jole,  the  jaw  or  cheek  ...  M.  ~E.jolle;  all  the  forms 
are  corruptions  of  M.  E.  chol,  chaul,  which  is  a  contraction  of  M.  E. 
chauel  (chavel),  the  jowl.  —  A.  S.  ceafl,  the  jaw;  pl.  ceaflas,  the  jaws, 
chaps'  (Skeat,  Concise  Etymol.  Diction.  s.  v.).  Erklärt  sich  der  stimm- 
hafte konsonantische  Anlaut  von  jowl  vielleicht  durch  Anlehnung 
an  jaw,  me.  jowe  (<  ae.  *ceowe  -f-  frz.  joue)?  Oder  ist  die  Form 
mit  j  zunächst  eingetreten  in  Verbindungen  wie  cheek  by  jowl,'2  wo 
sich  das  ursprüngliche  ch  von  chol  vor  dem  Akzent  ( Vernersches 
Gesetz!)  in  den  entsprechenden  stimmhaften  Laut  verwandelt  hätte? 
Dieselbe  phonetische  Erklärung  hat  Read,  Mod.  Lang.  Notes  XVI  254, 
für  ajar  (<  a  -f-  char)  vorgeschlagen ;  vgl.  auch  Sweet  H.  E.  S.  §  928. 

Das  Englische  kennt  den  Übergang  von  [ts]  zu  [dz]  bez.  das 
Nebeneinander  der  beiden  Lautgruppen  noch  in  verschiedenen  an- 
deren (überwiegend  einsilbigen)  Wörtern.3  Wie  weit  es  sich  auch  da 
im  einzelnen  Falle  um  Akzentvarianten  handelt,  wird  kaum  festzu- 
stellen sein.  Bei  französischen  Lehnwörtern  ist  überdies  zu  berück- 
sichtigen, dafs  sich  im  Französischen  selbst  gelegentlich  ein  Schwan- 
ken zwischen  ch  und  g  beobachten  läfst.  Ich  habe  in  die  folgende 
Liste,  die  (zumal  in  ihrem  zweiten  Teile)  keine  Vollständigkeit  be- 
ansprucht, auch  einige  Fälle  zweifelhafter  Natur  mit  aufgenommen. 


1  Die  Bedeutung  wird  von  Flügel,  Muret  und  Schröer  nicht  ganz  zu- 
treffend mit  'Flaum,  Milchhaar'  angegeben. 

2  Die  Belege  im  N.  E.  D.  scheinen  darauf  hinzudeuten. 

3  Über  each,  which,  such  vgl.  Sweet  a.  a.  0. 


174  Kleinere  Mitteilungen. 


jace,  jass  <  chace  (cf.  N.  E.  D.); 

jacolatt,  jocklat  <  chocolate  (cf.  N.  E.  D.  und  D.  D.); 

jack-tep  ?  <  *  cheak  teß  (Langland) ; 

jam  'drücken'  neben  chamfpj ;  jamble  neben  chamble; 

jar  'knarren'  seit  dem    16.  Jahrh.  neben  charre,  char/ej  <  ae. 

ceoiran;  ähnlich  jarg,  jirk  neben  chark,  chirk  <  cearcian; 
jatter,  jadder  dial.  neben  chatter; 
jaudie  neben  chawdy  (dial.); 
Jauncey  (Name)  <  Giauncey  (nach  Bardsley,  Diction.  of  English 

and  Welsh  Surnames); 
jawn  <  chawn  (cf.  N.  E.  D.); 
jeer  'verspotten'  ?  <  cheer; 
jercock  neben  chercock  (dial.); 
jerque  'untersuchen'  ?  <  ital.  cercare; 
jiee  neben  chice  (dial.); 

[JW9  hy  joivl  (17.  und  18.  Jh.)  <  cheek  b.j.;  wohl  Assimilation] 
jiggin  neben  chiggin  (dial.)  'a  call  to  horses  to  go  on'  (cf.  chuck) ; 
jink  'Klang,  klingen'  neben  chink; 

[jolt-head[edJ  neben  vereinzeltem  cholt-  „ ,  cholter-  „  ;  cf .  N.  E.  D.] 
joop,  jupe  neben  choop  (dial.) l ; 
jower  neben  chower  'to  grumble'  (dial.); 
jowl,  jole  'the  external  throat  or  neck  when  fat  or  prominent'  etc. 

<  chowle,  me.  cholle,  choll,  ae.  ceole  {ceolor); 
jowter  (sowohl  sb.  'pedlar'  wie  vb.  'to  grumble')  neben  chowter 

(dial.); 
juck  neben  chuck  (falls  nicht  ==  jouk  <  jokier) ; 
junk  'Klumpen'  neben  chunk  (dial.). 

IL 

bodge  neben  botch; 

[crenge,  cringe  neben  crenche,  crintch  beruht  wohl  auf  ae.  *cren- 

gan  neben  *crencan] 
fidge  neben  fitch  (dial.); 
grudge  <  grutch  (afrz.  grouchier); 
hodge-podge  <  hotchpotfch]  ; 
lunge  neben  lunch  (dial.)  'to  cut  unevenly*; 
me.  nage  neben  nache(-hone)  (afrz.  nache,  nage); 
me.  nuthage  neben  nothache; 
scorge  (Chesh.)  <  scoreh; 
scrange  <  scranch  (dial.)  'to  Scratch'; 
slinge  neben  slinch  (dial.); 
sludge  neben  slutch; 


1  Neben  [tsup]  erscheint  auch  die  Lautform  [sup];  geht  diese  direkt 
auf  ae.  heöpe  <  heope  zurück  (vgl.  me.  shö  ?  <    heö)  ? 


Kleinere  Mitteilungen.  175 

smudge  neben  smutch; 
splodge  neben  splotch; 
trudge  ?  zu  frz.  trucher. 

III. 

Challand  (Name)  ?  <  Jalland  <  Julian  (so  Bardsley,  Diction.  of 
English  Surnames); 

cliarve  (Shetl.  und  Orkn.)  'grofs'  <  an.  djarfr ;  ist  die  Zwischen- 
stufe *  jarve  in  der  Adverbialform  jarvally  'actively'  er- 
balten ? 

chee  (-up)  dial.  =  gee,  interj.; 

cheege  (kent.)  <  jig,  frz.  giguer; 

Choice  (Name)  <  Joyce ; 

CJiubb  (Name)  <  Jubb,  Job;  — 

[bulch  <  bulge  ist  vielleicht  nicht  lautlich  zu  erklären,  vgl.  das 
N.  E.  D.] 

fletch  'befiedern'  ?  <  fledge ; 

munch,  dial.  maunch,  maunge?  <  frz.  manger. 

7.  Ne.  raddle  'Hürde;  Zaunstecken'. 

'raddle  Obs.  exe.  dial.  Also  6  radel ...  8  roddle,  9  ruddle 
[a.  AF.  reidele  (Wright  Vocab.  168),  OF.  reddalle,  ridelle,  rudelle 
(14th  c.  in  Du  Cange)  a  stout  stick  or  pole,  the  rail  of  a  cart  (so 
mod.  F.  ridelle),  of  obscure  origin]'  New  English  Dictionary  s.  v.  Am 
einfachsten  erklärt  sich  das  Wort,  dessen  Hauptbedeutung  'a  wattle 
or  hurdle  made  of  rods'  ist,1  und  das  erst  im  16.  Jahrh.  aufzutauchen 
scheint,  doch  wohl  aus  einer  Nebenform  von  hurdle  —  herdel,  har- 
del  — ,  in  der  das  r  umgesprungen  war;  aus  *hredel  resp.  *hradel 
mufste  natürlich  sofort  redel,  radel  mit  stimmhaftem  Anlaut  werden.2 
Jedenfalls  dürfte  an  urverwandtschaftlichem  Zusammenhang  mit  lat. 
crates,  gr.  xuoralog  usw.  nicht  zu  zweifeln  sein.  —  Ob  nicht  auch 
agfrz.  reidele,  afrz.  reddalle  etc.  mit  me.  hirdel,  herdel  (>  *ridel,  *  redel) 
in  Verbindung  zu  bringen  sind  ?  3 

8.  Ne.  dial.  seither s  'Schere'. 

Das  Wort  scissors  erscheint  in  den  englischen  und  irischen 
Dialekten  vielfach  in  der  Gestalt  scithers  [si-d8(r)z],  also  mit  dem 
Lautübergang  [z]  <  [3].     Dieser  Wandel,   den  das  D.  D.  unerörtert 


1  Die  Bedeutungen  'Zaunstecken,  Querholz'  möchte  ich  für  sekundär 
halten. 

2  Die  Metathese  des  r  könnte  mit  unter  dem  Einflüsse  des  sinnver- 
wandten wreath(e)  erfolgt  sein. 

3  Ich  sehe  nachträgüch,  dafs  der  Grundgedanke  der  obigen  Erklärung 
schon  von  anderer  Seite  (Ogilvie,  Cent.  Dict.)  ausgesprochen  worden  ist, 
und  bin  um  so  mehr  erstaunt,  ihn  im  N.  E.  D.  nicht  erwähnt  zu  linden. 


176  Kleinere  Mitteilungen. 

läfet,  dürfte  kaum  phonetisch  zu  erklären  sein;  vermutlich  liegt  An- 
lehnung an  das  sinnverwandte  heimische  scytfie  vor. 

9.  Ne.  skedaddle  'ausreifsen' 

möchte  ich  als  'Streckform'  von  dial.  scaddle  'to  run  off  in  a  fright' 
auffassen;  ähnlich  wird  in  dem  viel  umstrittenen  bambooxle  eine 
Streckbildung  zu  booxle  zu  erblicken  sein.  —  Hoffentlich  regt  der 
interessante  Aufsatz  H.  Schroeders  über  'Streckformen'  im  Deutschen 
(P.  B.  B.  29)  bald  einen  Anglisten  dazu  an,  der  fraglichen  Erschei- 
nung im  Englischen  nachzugehen.  Namentlich  aus  den  Dialekten 
würde  mancherlei  beizubringen  sein. 

10.  Ne.  dial.  yeild,  yeld,  yell  'unfruchtbar'. 

Schröer  stellt  das  Wort  mit  einem  Fragezeichen  zu  dial.  geld 
(<  an.  geldr  'barren').  Aber  kann  ein  Zweifel  bestehen,  dafs  yefijld 
mit  dem  zweimal  belegten  ae.  gelde  'effeta'  (Wr.  W.  226,  22,  394,  26; 
lautlich  =  an.  geldr)  identisch  ist? 

Halle  a.S.  Otto  Ritter. 

Byrons  Gedichte  To  Mr.  Murray 

(Ausg.  von  Coleridge,  VH  56,  76): 

'Strahan,  Tonson,  Lintot  of  the  times, 
Patron  and  publisher  of  rhymes, 
For  thee  the  bard  up  Pindus  climbs, 

My  Murray,'  etc.; 

'For  Orford  and  for  Waldegrave 

You  give  much  more  than  me  you  gave; 

Which  iß  not  fairly  to  behave, 

My  Murray  I'  etc. 

schliefsen  sich  in  Strophen-  und  Refrainbildung  mit  harmloser  Parodie 
an  Cowpers  Gedicht  To  Mary  an: 

'The  twentieth  year  is  well-nigh  past, 

Since  first  our  sky  was  overcast; 

Ah,  would  that  this  might  be  the  last! 

My  Maryl'  etc. 

Halle  a.  S.  Otto  Ritter. 


Eine  Shakespearesche  Redewendung  bei  Annette  von  Droste- 

Hülshoff. 
In  Annettes  Schilderungen :  'Bei  uns  zu  Lande  auf  dem  Lande' 
(sämtliche  Werke  herausgeg.  von  Ed.  Arens;  Leipzig,  Max  Hesse, 
5.  Bd.,  S.  77)  lesen  wir:  'Diese  junge  Rheinländerin  stiftet  überhaupt 
einen  greulichen  Brand  im  Schlosse  an;  die  westfälischen  Herzen 
seufzen  ihretwegen  wie  Öfen.'  Es  scheint,  als  ob  der  Heraus- 
geber die  auffallende  Wendung,  zu  der  er  nichts  bemerkt,  für  West- 


Kleinere  Mitteilungen.  177 

falen  eigentümlich  gehalten  hat.  Der  Dichterin  schwebte  aber  un- 
zweifelhaft die  Stelle  Shakespeares  As  You  Like  It  II,  7,  139  ff.  vor: 

All  the  world's  a  stage, 
And  all  the  men  and  women  merely  players: 
They  have  their  exits  and  their  entrances; 
And  one  man  in  his  time  plays  many  parts, 
His  acts  being  seven  ages.    At  first  the  infant, 
Mewling  and  puking  in  the  nurse's  arms. 
And  then  the  whining  school-boy,  with  his  satchel 
And  shining  morning  face,  creeping  like  snail 
Unwillingly  to  school.    And  then  the  lover, 
Sighing  like  furnace,  with  a  woeful  ballad 
Made  to  his  mistress'  eyebrow. 

To  sigh,  seufzen  soll  hier  den  langgezogenen  Ton  bezeichnen,  den 
grüne  Scheiter  im  glühenden  Ofen  von  sich  geben.  Dafür  gebraucht 
man  aber  im  Deutschen  'singen'.  Vgl.  M.  Heynes  Artikel  im  Deut- 
schen Wörterbuch,  Bd.  10,  sp.  1084. 

Northeim.  R.  Sprenger. 

Kentisch  hionne:  Hirnhaut. 

Aethelberhts  Gesetz  36  lautet  in  der  einzigen  Hs.,  dem  Codex 
Roffensis  um  1120,  und  in  allen  Drucken:  Gif  sio  uterre  hion  ge- 
brocen  worctep,  X  scillingum  gebete;  gif  butu  sien,  XX  scillingum  ge- 
bete.  Der  gelehrte  und  geistvolle  Price,  der  um  1830  das  Beste  an 
der  jetzt  B.  Thorpe  zugeschriebenen  Ausgabe  getan  hat,  vergleicht 
dazu  aus  nordischem  Rechte  Stellen,  in  denen  hinna,  in  ganz  ähn- 
lichem Zusammenhang  der  Gliederverwundungen,  gebüfst  wird.  Un- 
glücklicherweise mischte  er  (h)innod  und  eine  Stelle  Aelfreds  über  den 
äufseren  und  beide  Schädelknochen  mit  hinein.  Da  nun  J.  Grimm  * 
die  Verwandtschaft  mit  dem  nordischen  Worte  ablehnte,  blieb  sie 
unbeachtet;  als  'Kopfknochen'  ward  hion  zweifelnd  in  den  Wörter- 
büchern erklärt,  und  ich  wagte  nur  'Hirn..'  zu  übersetzen,  teilweise 
auch  veranlafst  durch  die  Wahrscheinlichkeit,  dafs  diese  Tafel  der 
Gliederbufsen,  die  mit  dem  Kopfhaar  beginnt  und  bei  den  Fufszehen 
endet,  hinter  den  Knochen,  wohl  des  Schädels,  vom  Hirn  sprechen  werde. 

Mit  der  Annahme  eines  leichtesten  Schreibfehlers  kann  geholfen 
werden :  man  lese  hion,  die  normale  Abkürzung  für  hionne,  wie  denn 
poh  unzählige  Male  für  ponne  steht,  auch  im  Codex  Roffensis.2  Jene 
Abkürzung  ward  öfter  von  den  Schreibern  übersehen;  daher  steht 
in  einigen  Hss.  viermal  pon, 3  wo  originalere  Texte  ponne  zeigen. 
Diesem  Übersehen  sind  die  zweimaligen  hi  statt  hine  im  Codex  Rof- 
fensis Wihtrsed  27  zuzuschreiben. 

Während  im  Westsächsischen  das  schwache  fem.  hinne  lauten 
würde,  fällt  dialektisch  der  a-Umlaut  zu  hionne  nicht  auf ;  vgl.  ionna 
innen,  ionnad  Eingeweide,  geonact  garrit,  siondan  sind.4 

1  Kleine.  Sehr.  V,  318.  2  Wif  3.  7.  3  Mein  Wörterbuch  zu  Oesetxen 
d.  Agsa.     4  Sievers  §  160,  3,  S.  257,  14;  Sweet  Oldest  Engl,  texts  p.  507  f. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    CXV.  12 


178  Kleinere  Mitteilungen. 

Sagen  wir  heute  von  der  Haut,  sie  werde  zerrissen  oder  ge- 
spalten, so  kennt  Aelfred  70  den  Fall  gif  sio  hyd  sie  tobrocen;  des 
'Brechens'  wegen  braucht  man  also  nicht  an  einen  Knochen  zu  den- 
ken. —  Da  Auge,  Hand  und  Fufs  nur  50  Schilling  im  Kenterrecht 
kosten,  erscheint  jene  Bufse  für  heilbare  Wunde,  auch  wenn  diese 
den  Schädel  spaltete,  hoch  genug,  entspricht  auch  ungefähr  ver- 
wandten Rechten. 

Die  'äufsere  Hirnhaut'  ist  die  dura  rnater;  berührt  die  Wunde 
beide  Hirnhäute,  so  hat  sie  jene  durchdrungen  und  trifft  die  pia  rnater. 
Das  friesische  Recht  nennt  jene  kann,  diese  helibrede, ''  membrana, 
qua  cerebrum  continetur.  Nordisch  wird  hinna:-  dura  rnater  erklärt. 
Die  mittlere,  Spinnwebenhaut  des  Hirns,  scheint  den  Alten  unbekannt. 

Berlin.  F.  Liebermann. 

Bemerkungen  zum  Beowulf. 

6  ff.  syddan  cerest  weard  |  feasceaft  funden;  (or,)  he  ßces  frofre 
gebad,  \  weox  under  wolcnum,  \  weordmyndum  pah  usw.  Der  Ge- 
danke ist  sehr  ähnlich  dem  im  Eingang  des  Ludwigsliedes  ausge- 
sprochenen: kind  uuarth  her  faterlos;  des  uuarth  imo  sdr  buoz,  I 
holöda  inan  truhthi,  magaczogo  uuarth  her  sin ;  gab  er  imo  dugidi  usw. 
In  der  verwandten  Beowulfstelle,  V.  16  f.:  htm  ßces  liffrea,  |  wul- 
dres  waldend,  woroldare  forgeaf  fasse  ich  (im  Gegensatz  zu 
Earle,  Trautmann,  Schücking)  him  gleichfalls  als  Singular:  als  Er- 
satz dafür  (Earle:  'in  consideration  thereof),  d.  h.  für  die  schlimme, 
herrscherlose  Zeit  verleiht  Gott  dem  Königssprofs  Ruhm  (es  folgt 
eine  Periode  des  Glanzes).  Dem  Dichter  ist  es  ganz  gewifs  nicht  so- 
wohl um  das  Volk  der  Dänen  als  um  das  Herrschergeschlecht  zu  tun. 

120.  Die  Gründe  gegen  wiht  unhcelo  und  für  wiht  unfalo 
brauchen  nicht  wiederholt  zu  werden.  Doch  sei  die  Frage  gestattet, 
ob  nicht  unhcelo  schliefslich  doch  das  richtige  sein  könne?  Wäre  es 
nicht  möglich,  dafs  dieser  (einzigartige)  Ausdruck  für  den  teuflischen 
Unhold  als  Gegensatz  zu  einem  hcelubearn  ('Crist'  586,  754)  geprägt 
wurde? 

183  ff.  wa  bid ßcem  de  sceal  |  ßurh  slidne  nid:  saivle  bescufan 
in  fyres  fceßm.  Die  Bedeutung  des  verschieden  aufgefafsten  ßurh 
slidne  nid  ist  meines  Erachtens  verkannt  worden.  Allerdings  könnte 
man  daran  denken,  es  'durch  verderbliche  Schlechtigkeit'  zu  über- 
setzen, aber  ein  solcher  indirekter  Vorwurf  gegen  die  Dänen  wäre 
unangebracht,  da  dieselben  eher  wegen  ihrer  Unwissenheit  bemitleidet 
werden  (V.  178  ff.).  Ich  verstehe  nid  als  'tribulatio,  afflictatio'  (Grein), 
wie  in  V.  423,  2404  (bealonid), 3  und  ßurh  als  Bezeichnung  der  Art 
und  Weise  (oder  der  begleitenden  Umstände),  s.  B.-T.  s.  v.  ßurh, 
A  HI,  6,  7;  vgl.  ßurh  egsan  276,  ßurh  ßearlie  ßrea  Jul.  678;  /.  Germ. 
Phil.  4.  104.    Also:  'in  furchtbar  unheilvoller  Weise'. 

1  Richthof en,  Altfries.   Wb.  s.  v.      a  Fritzner,  Ordbog  s.  v. 

3  So  vielleicht  auch  in  Finnesb.  10:  disne  folces  nid  fremman. 


Kleinere  Mitteilungen.  179 

484  f.  donne  was  ßeos  medoheal  on  morgentid  \  drihtsele  dreor- 
fah,  ßonne  dceg  lixte.  Es  scheint  mir  nicht  ganz  richtig,  wenn  L.  L. 
Schücking  in  seiner  gründlichen  Abhandlung  über  'Die  Grundzüge 
der  Satzverknüpfung  im  Beowulf  (1904)  S.  122  meint,  dafs  'der 
temporale  Nebensatz  die  nähere  Bestimmung  zu  dem  Adverb  [donne] 
gibt'.  Vielmehr  wird  ponne  dceg  lixte  als  nähere  Bestimmung 
(ausführende  Variation)  enger  zu  on  morgentid  gehören;  vgl.  Epist. 
Alex.  714:  da  on  morgne,  mid  py  hit  dagode  (u.  Mod.  Lang.  Notes 
18.  246).  Ähnlich  ist  die  Funktion  der  durch  die  Konjunktionen 
ßonne,  ßcer  eingeleiteten  Sätze  z.  B.  in  sum  in  mcedle  mceg  modsnot- 
tera  folcrcedenne  ford~ gehycgan,  \  ßcer  witena  biß  worn  cetsomne 
Crceft.  41;  sunt  bid  wiges  heard  ...  ßcer  bord  stunad  ib.  39;  se  de 
ivorna  fela  ...  guda  gedigde  ...  ßonne  hnitan  federn  Beow.  2542. 

572  f.  Wyrd  oft  nered  \  unfeegne  eorl,  ßonne  his  eilen  deah. 
Schückings  Versuch  (a.  a.  O.  S.  121)  einer  neuen  Erklärung  von  ßonne 
his  eilen  deah:  'dann  hält  seine  Kraft  noch  aus'  ist  entschieden  ab- 
zulehnen mit  Rücksicht  auf  1)  die  Bedeutung  von  dugan,  2)  das 
analoge  gif  his  eilen  deag  Rats.  73.  9  (schon  von  Schücking  zitiert) 
und  Andr.  460,  vgl.  Rats.  62.  7,  und  besonders  3)  die  fast  sprich- 
wörtlich ausgeprägte  Idee  der  Dualität  von  Geschick  (Gott)  und 
eigener  Kraft.  Vgl.  Beow.  670,  1056  f.,  1270  ff.,  1552  ff.;  Andr. 
459  f.:  ßcet  ncefre  forlceted  lifgende  Ood  |  eorl  on  eordan,  gif  his  eilen 
deah  (allein  schon  beweiskräftig);  ferner  z.  B.  Laxdsela  Saga,  c.  15: 
ok  med  ßvi  at  menn  vdru  hraustir  ok  ßeim  vard  lengra  lifs  audit,  ßä 
komask  ßeir  yfir  äna  ...  —  Weitere  Parallelen,  u.  a.  aus  Chaucer, 
bei  Cook,  Mod.  Lang.  Notes  8.  58;  Gummere,  Oermanic  Origins  236  f. 
'God  helps  those  that  help  themselves'. x    Vgl.  Grimm,  D.  MA  III  5. 

982  ff.  Die  folgende  Auffassung,  welche  die  Emendationen  von 
Sievers,  Rieger  (Zupitza,  Trautmann)  berücksichtigt,  sei  der  Erwägung 
empfohlen:  sißdan  ceßelingas  eorles  creefte  j  ofer  heanne  hrof  hand 
seeawedon,  |  feondes  fingras  (foran  ceghwylc  wees  |  stidra  ncegla  style 
gelicost),  \  heeßenes  hondsperu  hilderinces  |  eglu,  unheoru. 

1319  f.  freegn  gif  him  wäre  \  cefter  neodladu  niht  geteese.  Es 
liegt  nahe,  neodladu  nicht  nur  mit  freondlapu  1192,  sondern  auch 
mit  worldladu  'Crist'  664,  Andr.  635  zusammenzustellen.  Nach  Ana- 
logie der  Bedeutung  von  wordladu  'sermocinatio,  loquela'  könnte  man 
vermuten,  dafs  freondlapu  'Freundlichkeit'  und  neodladu  'Wunsch, 
Verlangen'  bezeichne  (zur  Etymologie  von  ladu  vgl.  Meringer,  Ind. 
Forsch.  16.  111  ff.?  Uhlenbeck,  P.  u.  B.  Beitr.  30.  298).  Es  wäre 
jedenfalls  ein  Vorteil,  wenn  von  der  Bedeutung  'Einladung'   abge- 

1  Auch  no  peet  yäe  byfi  |  to  befleonne  1002  erweckt  den  Anschein  einer 
—  auf  einen  bestimmten  Fall  bezogenen  —  sprichwörtlichen  Redensart: 
'niemand  kann  dem  Schicksal  entrinnen.'  Vgl.  etwa  Atlamal  48.  3:  skg- 
pum  vißr  manngi;  Vatnsdaela  Saga,  passim;  Volsunga  Saga  cap.  30,  36; 
R.  M.  Meyer,  Altgerm.  Poesie  45ti.  (Die  vorgeschlagene  Einschaltung  von 
deaä  oder  fyll  Beow.  1003  wäre  keine  Verbesserung.) 

12* 


180  Kleinere  Mitteilungen. 

sehen  werden  könnte,  cefter  neodlaäum  (Ettmüller,  Wülker,  Holt- 
hausen,  oder  neodlade  [Sweet];  neodladu  nach  Sievers  §  253,  a.  2 
[Wyatt]  wäre  bedenklich)  'nach  seinem  (Hrodgars)  Wunsche'  würde 
vortrefflich  passen.   Cosijns  neadläctum  (nydlääum)  liegt  etwas  abseits. 

1337  ff.  Der  neuerlichen  Erklärung  dieser  Stelle  durch  Schücking 
(S.  5  f.),  wonach  nu  in  V.  1338  (als  Konjunktion)  mit  nu  in  V.  1343 
(als  Adverb)  korrespondierte  und  nu  seo  hand  liged,  |  se  pe  eow  wel- 
hwylcra  wilna  dohte  sich  auf  Beowulf  bezöge,  stehen  erhebliche 
Schwierigkeiten  entgegen.  'Nun  fehlte  die  Hand'  ist  eine  mehr  als 
gewagte  Übersetzung.  Nicht  nur  ist  das  Präsens  (im  Hauptsatz)  statt 
des  Präteritums  bedenklich,  sondern  licgan  =  'fehlen',  d.  h.  'nicht 
dasein',  mit  Bezug  auf  einen  konkreten  Gegenstand,  ist  geradezu  un- 
glaublich; kann  man  auch  z.  B.  in  V.  1041  f.  (ncefre  on  ore  leeg  \ 
widcupes  wig)  das  Verbum  mit  'faiP  übersetzen  (Earle,  Garnett,  Wyatt, 
L.  Hall,  Cl.  Hall,  Tinker,  Child),  so  doch  nur  im  Sinne  von  'sich 
nicht  bewähren'.  Überdies,  auf  wen  sollte  sich  eow  beziehen?  Auf 
Beowulf s  Mannen?  Dann  fehlte  ein  vernünftiger  Zusammenhang 
zwischen  dem  Relativsatz  und  seinem  Hauptsatz.  Oder  auf  die 
Dänen  (von  denen  einige  sich  in  der  Umgebung  des  Königs  befunden 
haben  müssen)?  Aber  Hrodgars  Ansprache  ist  unzweideutig  an  Beo- 
wulf (und  sein  Gefolge)  gerichtet.  Die  ungezwungene  Interpretation 
ist:  'nun  liegt  die  [freigebige]  Hand  darnieder,  die  euch  früher  Gaben 
austeilte'1  (s.  Grein  s.  v.  dugan  ad  fin.!).  iEschere,  der  hochange- 
sehene Hofmann  —  dessen  Tugenden  nach  seinem  Tode  in  ein  über- 
trieben glänzendes  Licht  gestellt  werden  — ,  mag  in  der  Tat  Ge- 
schenke gespendet  haben.  Bezieht  man  sincgyfa  auf  Hrodgar,  so 
schafft  man  eine  neue  Schwierigkeit,  wie  man  aus  Trautmanns  künst- 
licher Deutung  ersieht. 

1732  f.  (geded  him  swa  gewealdene  worolde  dalas,  \  side  rice,) 
pcet  he  his  selfa  ne  mceg  |  [for]  his  unsnyttrum  ende  gepencean  be- 
deutet schwerlich:  'dafs  er  selbst  ...  seines  Reiches  Grenze  nicht  er- 
denken kann'  (Heyne,  Socin,  Simons,  L.  Hall,  Cl.  Hall,  Child)  oder 
'that  he  himself  may  not  for  his  folly  think  of  his  end'  (Kemble, 
Thorpe,  Grein,  Arnold,  Tinker),  sondern  'dafs  er  sich  das  [zeitliche] 
Ende  desselben  [des  Reiches,  seiner  Herrschaft]  nicht  vorstellen 
kann'  (so  wahrscheinlich  Garnett,  Wyatt,  Earle).  Die  erstgenannte 
Übersetzung  würde  eine  unvernünftige  Übertreibung  in  sich  schlie- 
fsen,  die  zweite  würde  nicht  genau  genug  in  den  Zusammenhang 
passen.  Das  grofse  Reich  wird  dem  Manne  so  vollständig  in  die 
Hand  gegeben,  dafs  er  nicht  daran  denkt,  dafs  es  jemals  wieder  aus 
seinem  Besitz  in  den  seines  Erben  übergehen  werde  (vgl.  V.  1750  f., 
1755  fehtt  oper  to).  Zu  dem  Gebrauch  von  gepencean  läfst  sich  ge- 
hycgan  stellen  in  Gudl.  17  f.:  forpon  se  mon  ne  pearf  \  to  pisse  wo- 


1  Man  wird  an  die  sinnige  Legende  von  der  freigebigen  Hand  Oswalds 
erinnert  {'ne  forealdige  peos  hond  afre'  Bed.  166.  10;  H.  E.  III  c.  6). 


Kleinere  Mitteilungen.  181 

rulde  wyrpe  gehycgan.    (Vgl.  auch  Heliand  261:  endi  ni  cumid,   \ 
tlies  uuiden  rikies  giuuand.) 

Trautmanns  Konjektur  selßa  ist  übrigens  vielleicht  nicht  ganz 
neu;  schon  bei  Ettmüller  (1840)  heifst  es:  'dafs  er  seiner  Saide  selber 
nicht  kann  in  seiner  Unklugheit  ein  Ende  denken'. 

2289  f.  he  to  forSt  gestop  \  dyrnan  crcefte  dracan  heafde  neah. 
Die  auf  Heyne  zurückgehende  Übersetzung  'er  war  zu  sehr  vorwärts 
geschritten'  (so  Socin,  Wyatt,  Simons,  L.  Hall,  Cl.  Hall,  Tinker, 
Child;  freilich  auch  schon  Thorkelin:  nimis  ultra  perrexit)  sollte  nicht 
immer  von  neuem  wiederholt  werden,  to  zeigt  ohne  Zweifel  die  Rich- 
tung an,  genau  so  wie  z.  B.  in  geong  sona  to  |  setles  neosan  Beow. 
1785;  ßat  se  [sc.  darod]  to  ford  gewat  |  ßurh  done  cepelan  JEßelredes 
ßegen  Maid.  150.  Also  mit  Grein:  'der  fort  hinzu  ging',  oder  ge- 
nauer: 'er  war  vorwärts  darauf  zu  gegangen'.  Zur  Nebeneinander- 
stellung der  zwei  Adverbien  vgl.  z.  B.  auch  Beow.  2364:  ße  him 
foran  ongean  \  linde  bceron. 

2453.  ßonne  se  an  hafact  \  ßurh  deades  nyd  dceda  gefondad.  Die 
handschriftliche  Lesart  scheint  weniger  bedenklich  als  die  vorgeschla- 
genen Verbesserungen,  hafad: . . .  dceda  gefondad  ist  =  'hat  die  Be- 
kanntschaft [schlimmer]  Taten  (vgl.  Bugge,  Tidsk.  f.  Phil.  8.  67)  ge- 
macht', oder  'hat  seh.  T.  ausgekostet'  (nicht  ganz  genau:  'hath  by  dint 
of  death  learned  the  lesson  of  his  deeds'  Child),  und  nyd  pafst  nicht 
übel  zu  dead,  vgl.  neidfaru,  nydgedal. 

2499  ff.  ßenden  ßis  sweordßoladJ,  \  ßcet  mec  cer  ond  sid  oft  gelceste,  j 
syddan  ic  for  dugedum  Dceghrefne  weard  |  to  handbonan,  Huga  cem- 
pan.  Wie  früher  —  im  Gegensatz  zu  den  anderen  Herausgebern  — • 
Grein,  Ettmüller  und  Arnold,  so  will  jetzt  Schücking  (S.  119)  einen 
neuen  Hauptsatz  mit  syddan  anfangen.  Die  Folge  dieser  Inter- 
punktion ist,  dafs  die  Dseghrefn-Episode,  aus  dem  natürlichen  Zu- 
sammenhange gerissen,  gänzlich  in  der  Luft  schwebt.  Was  hindert 
uns  denn  aber,  anzunehmen,  dafs  das  Schwert  in  enger  Beziehung 
zu  Beowulfs  Kampf  mit  Daeghrefn  stehe?  Kann  nicht  Beowulf  den 
Hugen  erst  mit  blofser  Faust  erschlagen  und  ihm  dann  sein  Schwert 
abgenommen  haben  ?  —  Heynes  Vermutung,  dafs  Hygelac  von  Dzeg- 
hrefns  Hand  gefallen  sei  (V.  121  Off.,  2 5 03 f.),  mag  das  richtige  treffen. 

2525  f.  Man  ergänzt  feehdo  (Schubert,  Barnouw,  Trautmann) 
oder  besser  feohte  (Bugge,  Holthausen,  Socin7),  was  richtig  sein  kann. 
Jedenfalls  aber  darf  man  dann  weordan  nicht  als  'sich  ereignen'  auf- 
fassen, sondern,  wie  aus  dem  folgenden  swa  unc  wyrd  geteod  zu  ent- 
nehmen ist,  als  'ausschlagen',  'zu  einem  Resultat  führen'  (vgl.  2530  f., 
2535  f.,  auch  685  ff.,  1490  f.),  analog  dem  Gebrauch  von  weordan  in 
V.  207 1 :  to  hwan  syddan  weard  \  hondrees  hceleda.  Nicht  unmöglich 
wäre  übrigens  furdor  (wie  in  der  bekannten  Parallelstelle  Maid.  247). 

Finnesburg  8b:  nu  scyneCt  ßes  mona.  Hierzu  bemerkt  Boer 
(Z.f.d.A.  47.  143):  'ßes  ist  zu  tilgen'.    Auch  Trautmann  und  Holt- 


182  "Kleinere  Mitteilungen. 

hausen  verwerfen  pes  (und  schreiben :  seyned  per  möna).  Aber  pes 
klingt  echt  und  ist  durchaus  idiomatisch.  Vgl.  deos  lyft  Rats.  58.  1 ; 
8.  4;  Exod.  430;  Mos  eorete  Met.  20.  118;  pes  middangeard  Rats. 
67.  1,  inpeosne  middangeard  (=  in  mundum)  Bed.  212.  19,  pas  miclan 
gemetu  middangeardes  'Crist'  826;  on  piosne  wind  (=  in  uentum) 
Bed.  440.  24;  pes  lytla  wyrm  Rats.  41.  76;  peos  beorhte  sunne  Gen. 
811;  piss  swearte  dust  (Par.)  Ps.  77.  27  usw.  S.  auch  Anglia  27. 
276  und  die  dort  angeführte  Literatur. 

The  University  of  Minnesota.  Fr.  Klaeber. 

Das  Mätzn  ersehe  Wörterbuch. 

Nach  dem  im  vorigen  Jahre  erfolgten  Tode  Hugo  Bielings, 
des  langjährigen  Mitarbeiters  Eduard  Mätzners  und  Fortsetzers 
seines  letzten  grofsen  Lebenswerkes,  ist  die  Beendigung  des  im  Ver- 
lage der  Weidmannschen  Buchhandlung  in  Berlin  erscheinenden 
mittelenglischen  Wörterbuches  ( Altenglische  Sprachproben  nebst  einem 
Wörterbuch'  vom  Unterzeichneten  übernommen  worden. 

Die  erste  Lieferung  erschien  im  Jahre  1872,  die  letzte,  bis  'mis- 
bileven'  reichend,  1900,  der  Druck  steht  bei  'moine',  und  Material  ist 
noch  für  den  Rest  von  M  vorhanden,  der  1906  als  Abschlufs  des 
dritten  Bandes  erscheinen  wird.  Es  gilt  jetzt,  das  Wörterbuch  mit 
Hilfe  einer  gröfseren  Organisation  und  Arbeitsteilung  zu  einem  raschen 
Ende  zu  führen.  Zu  diesem  Zwecke  soll  nicht  mehr,  wie  bisher  ge- 
schehen, die  me.  Literatur  zurzeit  nur  auf  einen  Buchstaben  hin 
durchgesehen  und  ausgezogen,  es  soll  vielmehr  das  Material  für  N 
bis  Z  auf  einmal  planmäfsig  gesammelt  werden. 

Es  ergeht  nun  an  die  deutschen  Anglisten,  insbesondere  an  alle 
diejenigen,  die  ein  Werk  der  me.  Literatur  herausgegeben  oder  be- 
arbeitet haben,  der  Ruf,  sich  durch  Übernahme  eines  oder  mehrerer 
Denkmäler  an  der  Sammlung  der  Belege  nach  gewissen  jetzt  im  Druck 
vorliegenden  Grundsätzen  zu  beteiligen  oder  einzelne  das  Wörterbuch 
fördernde  Beiträge  zu  liefern  und  mit  dieser  praktischen  Betätigung 
wissenschaftlichen  Interesses  eine  Ehrenpflicht  der  anglistischen,  ja 
der  deutschen  Wissenschaft  überhaupt  erfüllen  zu  helfen. 

Freundliche  Zusagen  werden  erbeten  an  den  Herausgeber 
Privatdozent  Dr.  Heinrich  Spies,  Berlin  W.  57,  Kur- 
fürstenstrasse  4. 

Mundartgrenz  en. 

In  seinem  Aufsatz  'Gibt  es  Mundartgrenzen'  hat  Gauchat  hier 
1903  einen  Überblick  über  die  Fortschritte  der  Mundartengeographie 
auf  romanischem  wie  germanischem  Gebiete  gegeben,  der  mit  seinen 
eigenen  Ergebnissen  als  Erforscher  des  französischen  Sprachgebietes 
der  Schweiz  abschliefst.  Es  ist  eine  Grundfrage  der  Sprach-  und  Kul- 
turgeschichte, deren  wechselvolle  Beantwortung  im  Laufe  der  letzten 
zwei  Jahrzehnte  er  uns  darbietet.    Die  sprachliche  Zerlegung  eines 


Kleinere  Mitteilungen.  188 

Volksganzen  in  mehr  oder  weniger  selbständige  Teile,  die  bis  zur 
Abzweigung  neuen  Volkstums  vom  alten  geben  kann,  ist  identisch 
mit  dem  Mundartenleben;  die  Aufdeckung  des  Verhältnisses  zwischen 
Sprache  und  Volkstum  in  ihrem  Werden  ist  Sache  der  Mundarten- 
geographie. Daneben  kommt  dieser  noch  eine  besondere  Bedeutung 
für  unsere  sprachwissenschaftliche  Erkenntnis  zu.  Mundartgrenzen 
sind  der  räumliche  Ausdruck  innerer  Vorgänge  und  Zustände;  sie 
stehen  in  gesetzmäfsigem  Zusammenhange  mit  letzteren  und  müssen 
uns  Aufschlüsse  geben  über  deren  Wesen  und  zwar  solche,  die  wir  auf 
keinem  anderen  Wege  erhalten  können.  Gerade  hier  hat  Gauchat 
meines  Erachtens  nicht  die  volle  Summe  des  Erarbeiteten  gezogen; 
einige  Ergänzungen  mögen  mir  gestattet  sein. 

Aus  Gauchats  Darstellung  ist  zu  ersehen,  dafs  das  Wissen  über 
die  Mundartgrenzen  hüben  wie  drüben,  bei  Germanisten  wie  bei 
Romanisten,  dieselbe  Entwickelung  durchlaufen  hat,  in  der  wir  drei 
Stufen  unterscheiden  können.  Bei  ihrer  Durchmusterung  empfiehlt 
es  sich,  die  tatsächlichen  Feststellungen  von  den  darauf  gegründeten 
Ansichten  zu  sondern.  Die  ursprünglichste,  von  jeher  bekannte  Tat- 
sache ist  die,  dafs  es  Lautgrenzen  gibt;  d.  h.  dafs  in  zwei  benach- 
barten Orten  nicht  nur  einzelne  Wörter  in  verschiedener  Lautgestalt 
erscheinen  können,  sondern  dafs  sämtliche  oder  die  meisten  Wörter, 
die  einen  bestimmten  Laut  enthalten,  im  Nachbarort  diesen  Laut 
durch  einen  anderen  ersetzen.  Die  Spottnamen  und  Spottverse,  die 
zur  Kennzeichnung  sprachlicher  Verschiedenheit  unter  dem  Landvolk 
üblich  sind,  beziehen  sich  fast  durchweg  auf  Lautgrenzen.  Solche 
Lautgrenzen  wurden  denn  auch  von  den  ersten  Grenzforschern  fest- 
gestellt, einzeln  und  mit  anderen  zusammen,  Punkte  und  Punktreihen, 
d.  h.  Grenzen,  die  mehrere  Orte  von  ihren  Nachbarn  trennen.  Aber 
das  waren  nur  sehr  vereinzelte,  fast  zufällige  Funde;  der  weite  dunkle 
Raum  blieb  der  Theorie  offen.  Das  Nächstliegende  war,  die  Laut- 
grenzen in  Gedanken  durch  das  ganze  Sprachgebiet  hindurchzuziehen 
und  zwar  so,  dafs  es  in  gröfsere  Teile  zerlegt  wird,  die  sich  scharf 
voneinander  abgrenzen.  Die  so  erhaltenen  Mundartgebiete  entsprechen 
dem  Stamme,  der  sie  bewohnt;  es  ist  der  Bereich  der  Stammesmund- 
art, die  der  Ausflufs  der  leiblich -seelischen  Sonderart  sämtlicher 
Sprachgenossen  ist.  —  In  dieser  Ursacherklärung  war  ein  Denkfehler. 
Nach  ihr  mufsten  die  sprachlichen  Merkmale  sich  auf  das  Stammes- 
gebiet beschränken,  die  Sprachgrenzen  sich  rings  um  dasselbe  zu- 
sammenschliefsen.  Für  scharf  umgrenzte  Gebiete,  die  durch  sich 
schneidende  Sprachgrenzen  entstehen,  wie  sie  Ascoli  aufstellen  wollte, 
war  kein  Entstehungsgrund  zu  finden.  Verhängnisvoller  für  sie  war 
aber  die  Betonung  einer  zweiten  Tatsache,  der,  dafs  allmähliche  Über- 
gänge neben  den  schroffen  vorhanden  sind,  dafs  Laute  von  Ort  zu 
Ort  sich  allmählich  wandeln,  dafs  einzelne  Wörter  von  Ort  zu  Ort 
in  neuen  Lauten  erscheinen.  Und  wie  man  früher  die  schroffen 
Übergänge  fälschlich  verallgemeinert  hatte,   so  geschah  es  jetzt  mit 


184  Kleinere  Mitteilungen. 

den  allmählichen.  Die  Wellentheorie  mufste  die  Stammestheorie  ab- 
lösen, die  völlige  Leugnung  von  Mundartgebieten  deren  gesetzraäfsige 
Aufstellung.  —  Nun  kam  die  Zeit  der  planmäfsigen  Erhebungen. 
Statt  nach  der  Bestätigung  vorgefafster  Meinungen  sich  umzusehen 
und  einzelne  Funde  rasch  zu  verallgemeinern,  unternahmen  es  Ger- 
manisten, ein  gröfseres  Sprachgebiet  auf  das  Verhalten  in  bezug  auf 
eine  möglichst  grofse  Reihe  von  Merkmalen  hin  zu  prüfen.  Fischers 
Schwäbischer  Atlas  erschien.  Er  brachte  die  Bestätigung  der  Wellen- 
theorie. Äufserste  Regellosigkeit  der  Grenzlinien;  keine  irgendwie 
erkennbare  Grundlage  für  dieselben.  In  dem  Gewirr  einige  lockere 
Anhäufungen,  'Bündel,  Linien  ungefähr  gleicher  Gesamttendenz';  doch 
auch  Lautgrenzen  stücke,  zum  Teil  mit  anderen  zusammenfallend.  In 
einzelnen  werden  physikalische,  in  Verbindung  mit  diesen  auch  poli- 
tische und  konfessionelle  Grenzen  erkannt,  doch  nur  als  äufserste  Aus- 
nahmen. Der  Verkehr  entscheidet;  seine  Grenzen  sind  von  den  ver- 
schiedenartigsten Umständen  bedingt,  die  sich  unserer  Wahrnehmung 
entziehen.  —  Mit  diesem  Ergebnis  waren  viele  unzufrieden.  Bohnen- 
berger  unternahm  es,  einzelne  dieser  Fischerschen  Grenzen  nachzu- 
prüfen und  ihr  Verhalten  zu  politischen  und  physikalischen  Schranken 
zu  untersuchen;  doch  entfernte  er  sich  nicht  weit  genug  vom  Fischer- 
schen Verfahren,  um  grundsätzlich  Neues  zu  gewinnen.  Ich  selbst 
schlug  den  Weg  der  eingehenden,  mündlichen  Durchforschung  meiner 
Heimatgegend  ein,  eines  beschränkten  Gebietes,  60  Quadratmeilen, 
doch  überreich  an  Mannigfaltigkeit  der  Sprache,  der  Natur  und  der 
Geschichte;  und  mit  seinen  200  Ortschaften  an  sich  schon  grofs 
genug,  um  allgemeine  Ergebnisse  liefern  zu  können.  Meine  Baar- 
mundartenkarte  zeigte  folgendes: 

1)  Lautgrenzen  Regel,  Einzelwortgrenzen  Ausnahme. 

2)  Zerspalten  von  Lautgrenzen  höherer  Ordnung  in  solche  nie- 
derer Ordnung  häufig. 

3)  Zerfliefsen  von  Lautgrenzen  (Ablösung  von  schroffen  durch 
unmerkliche  Übergänge)  selten. 

4)  Vereinigung  der  Lautgrenzen  zu  Bündeln  (d.  h.  Zusammenfall, 
nicht  Annäherung)  häufig.  (Gauchat  hat  sich  durch  das  Wort  'Bün- 
del', das  Fischer  für  vereinzelte,  lockere  Anhäufung  braucht,  zu  dem 
Irrtum  verleiten  lassen,  ihm  die  grundsätzliche  Aufstellung  von 
Grenzbündeln  zuzuschreiben.) 

5)  Zusammenfall  der  Sprachgrenzen  (sei  es  Laut,  Wortschatz, 
Beugung  oder  Fügung)  mit  politischen  Grenzen  Regel,  mit  nur  phy- 
sikalischen Ausnahme. 

6)  Entschiedenes  Vorherrschen  der  neupolitischen  Schranken 
(hier  letzte  drei  Jahrhunderte). 

Das  geographische  Gesamtbild  ist  nicht  mehr  das  der  regellos 
wirbelnden  Wellen;  es  zeigt  vielmehr  eine  täuschende  Ähnlichkeit 
mit  durch  Dürre  zerrissenem  Erdreich.  Durch  tiefe  Furchen  sind 
manche  Gebiete    allseitig   voneinander  getrennt;   wir  haben    fertige 


Kleinere  Mitteilungen.  185 

Sprachlandschaften,  aber  auch  unfertige;  solche,  die  nach  einer  Seite 
hin  allzu  schwach  abgegrenzt  sind,  um  dem  Nachbar  gegenüber  einen 
gewissen  Grad  von  Selbständigkeit  zu  behaupten.  —  Ebenso  gründ- 
lich hat  sich  das  kulturgeschichtliche  Bild  verändert.  Die  Sprache 
führt  kein  Sonderleben  mehr,  frei  von  allem,  oder  allem  feststellbaren, 
Einflufs  der  Kulturumgebung;  wir  sehen  sie  vielmehr  eng  an  die 
politischen  Verbände  gefesselt  und  ihrem  Wechsel  unterworfen,  dem 
sie  mehr  oder  weniger  zögernd,  aber  sicher  folgt. 

Alle  Einzeluntersuchungen,  die  inzwischen  über  das  geographische 
und  geschichtliche  Verhalten  von  Mundartgrenzen  ausgeführt  wurden, 
stimmen  in  ihrem  sachlichen  Ergebnis  mit  meinem  Befund  überein, 
treten  zum  mindesten  nicht  in  Gegensatz  zu  demselben,  und  bilden 
damit  die  willkommene  Bestätigung  meiner  politischen  Theorie.  So 
die  von  Wrede,  der  sich  ganz  dazu  bekennt;  so  Bohnenbergers  k-ch- 
Grenze,  obwohl  ihm  selbst  diese  Tatsache  entging;  so  auch,  was 
Gauchat  uns  in  seinem  Aufsatz  mitteilt.  Es  sind  auch  hier  wieder 
ausschliefslich  jungpolitische  Grenzen,  solche,  die  in  den  letzten  drei 
bis  vier  Jahrhunderten  bestanden,  von  denen  in  weitem  Umfange  der 
Zusammenfall  mit  Mundartgrenzen  nachzuweisen  ist.  Physikalische 
sind  wohl  zu  beobachten,  altpolitische  zu  vermuten,  aber  nirgend 
ohne  die  Begleitung  jungpolitischer  Grenzen.  Aber  auch  Gauchat 
zieht  die  naheliegende  Folgerung  nicht.  Der  dunkle  Begriff  der 
Stammverwandtschaft  drängt  sich  in  seine  Erwägungen  und  trübt 
sie.  Auch  Bremer  hält  ja  noch  an  dem  Worte  'Stamm'  fest;  doch 
hat  er  es  inzwischen  aufs  deutlichste  als  politischen  Begriff  gefafst. 
Und  ich  glaube  auch  einen  Weg  zu  sehen,  auf  dem  dieses  Festhalten 
an  der  Bedeutung  mittelalterlicher  Verbände  mit  der  klar  erwiesenen 
Wirkung  der  neuzeitlichen  sich  vereinbaren  läfst.  Ich  denke  dabei 
nicht  an  die  sogenannten  konstituierenden  Faktoren,  Druck,  Dauer 
und  Ton,  über  deren  geographische  Grenzen  man  noch  so  gut  wie 
nichts  weifs,  und  die  man  geneigt  ist,  für  unverrückbarer  zu  halten 
als  Laute  und  Formen.  Das  Verhältnis  von  Nord-  und  Südschwä- 
bisch legt  mir  die  Vermutung  nahe,  dafs  auch  diese  Seiten  der 
Sprache  raschen  Wandels  fähig  sind,  nicht  in  ihrem  ganzen  Zu- 
sammenspiel, so  wenig  wie  der  gesamte  Lautschatz  auf  einmal,  son- 
dern in  ihren  ablösbaren  Teilen.  Die  politischen  Grenzverschiebungen, 
die  von  so  sicherer  Wirkung  auf  die  Sprachverbände  sind,  tragen 
die  Laute  nicht  allzu  weit  über  ihre  alten  Grenzen  hinaus.  Leichte 
politische  Schranken  sind  fähig,  sie  festzuhalten.  Dem  raschen,  aber 
kurzen  Sprung  vorwärts  folgt  eine  lange  Ruhepause.  Das  ist  wohl 
die  Regel.  Die  Art  der  geschichtlichen  Vorgänge  ist  für  die  Weite 
des  Sprunges  und  die  Dauer  der  Pausen  freilich  entscheidend.  Wäre 
unser  Volk  nach  dem  Verschwinden  der  Stammesherzogtümer  in 
ebenso  grofse,  innerlich  gleichartige  Stücke  zerlegt  worden  von  völlig 
neuer  Umrahmung,  dann  hätten  die  heutigen  Mundartgrenzen  nichts 
mehr  zu  tun  mit  den  alten.    So  wie  die  Dinge  liegen,  dürften  die  gro- 


186  Kleinere  Mitteilungen. 

fsen  mittelalterlichen  Sprach  verbände  gewissermafsen  noch  den  Unter- 
grund bilden  für  die  heutigen :  in  den  alten  Grenzen  nur  da,  wo  diese 
in  neuen  fortlebten,  im  übrigen  aber  in  einem  Gewirr  von  neuen, 
nicht  allzu  weit  von  den  alten,  die  der  Sturm  zerzauste. 

Zu  dem  geographischen  Gesamtbilde  der  Mundartgrenzen,  als 
Rissen  in  dürrem  Erdreich,  wie  ich  es  oben  gezeichnet  habe,  ist  noch 
ein  Zusatz  zu  machen.  Die  zerf liefsenden  Lautgrenzen  sind  nicht 
darin  ausgedrückt;  nicht  blofs  ihrer  geringeren  Häufigkeit  wegen, 
wie  die  Einzelwortgrenzen,  deren  Spur  im  Gesamtbilde  verschwindet, 
sondern  ihrer  inneren  Verschiedenheit  wegen.  Wir  haben  es  eben  mit 
Grenzen  für  festen  und  solchen  für  flüssigen  Lautstoff  zu  tun,  wenn 
das  Bild  erlaubt  ist.  Jene  sind  spaltbar,  diese  zerfliefsbar.  Jene 
umgrenzen  abgestorbenen  Lautwandel,  geschichtlich  gebundene  Laut- 
herrschaft, Massen  fertiger  Wortformen,  diese  lebendigen  Lautwandel, 
freie  Lautherrschaft,  Teile  des  Lautsystems.  Jene  sind  die  erstarrten 
Formen  dieser.  Jene  spalten  sich  und  verwittern  durch  Abbröcke- 
lung  von  Einzel  Wörtern,  diese  entstehen  durch  Veränderungen  im 
Lautsystem.  Diese  Scheidung  von  lebendigen  und  toten  Lautgrenzen, 
von  Lautwandel  und  Wortverdrängung  ist  ein  weiteres  Ergebnis 
meiner  Baarmundartenkarte ;  es  ist  die  notwendige  Ergänzung  zudem 
geographischen  und  geschichtlichen  Bilde  und  stellt  neben  dieser  die 
dritte,  innersprachliche  Seite  der  neugewonnenen  Anschauung  dar. 

Die  Art  der  Verbreitung  sprachlicher  Neuerungen  weist  auf  die 
Entstehungsvorgänge  zurück.  In  politischen  Verbänden,  straffen  und 
lockeren,  vollzieht  sich  die  Übertragung  des  Neuen  von  einem  Men- 
schen zum  anderen;  daher  kann  auch  die  Quelle  nur  der  einzelne  sein. 
Was  bestimmt  nun  die  Richtung,  in  der  dieser  tonangebende  einzelne 
seine  Sprache,  vor  allem  seine  Sprachlaute  verändert?  Leichte  Ver- 
änderungsneigungen bestehen  innerhalb  der  engsten  Sprachgemein- 
schaft jederzeit  nach  allen  Richtungen  hin;  sie  werden  nur  durch  den 
ausgleichenden  Zwang  des  Verbandes  im  Zaum  gehalten.  Die  Frage 
nach  der  Entstehungsursache  im  strengen  Sinn  ist  unlösbar.  Gleich- 
wohl gibt  es  vorherrschende  Veränderungsneigungen,  deren  Ursache 
wir  im  Lautsystem  suchen  müssen.  Die  Diphthongierung  vokalischer 
Längen,  die  sich  auf  dem  Gebiete  der  germanischen  Sprachen  mit 
auffallender  Ähnlichkeit  an  den  entlegensten  Orten,  völlig  unabhängig 
voneinander,  vollzieht,  hat  Wrede  aus  den  gleichartigen  Druckver- 
hältnissen zu  erklären  versucht.  Dafs  sie  sich  aber  nicht  überall 
vollzieht,  obwohl  den  ähnlichen  Systemen  entsprechend  auch  überall 
ähnliche  Neigungen  vorauszusetzen  sind,  zeigt  deutlich  genug,  dafs 
es  sich  hier  um  keinen  gesetzmäfsigen  Vorgang  handelt.  Aus  dem 
System  folgt  keine  Veränderung  mit  Notwendigkeit.  Folgerichtig 
wirkende  Grundneigungen  mögen  für  den  einzelnen,  für  die  Quelle 
gelten,  für  die  Gemeinschaft  nicht.  Das  eine  nimmt  sie  an,  das  an- 
dere verwirft  sie.  Das  zeigt  deutlich  die  ungleiche  Verbreitung  der 
Ergebnisse  schlaffer  Nasenlautgebung  in  Schwaben.    Die  einzelnen 


Kleinere  Mitteilungen.  187 

Teile  des  Systems  sind  frei  veränderlich;  sie  liegen  selbstständig 
nebeneinander;  sie  können  sich  gegenseitig  beeinflussen,  aber  müssen 
es  nicht. 

Für  die  Ursache  der  Veränderungsrichtung  gibt  es  kein  Gesetz ; 
wohl  aber  für  die  mechanische  Wirkung  des  veränderten  Teiles  im 
Lautsystem,  zunächst  in  der  Rede  des  einzelnen.  Es  ist  das,  was 
man  Lautgesetz  heifst  innerhalb  des  fertigen  Systems  und  Laut- 
wandel im  Hinblick  auf  die  Veränderung  desselben.  Wo  keine  Ver- 
änderung im  System  die  Ursache  veränderter  Redeteile  ist,  da  liegt 
nicht  Lautwandel,  sondern  Wortverdrängung  vor.  —  Neben  dieses 
mechanische  Gesetz  der  gleichmäfsigen  Wirkung  des  Systems  tritt 
das  politische  Gesetz  der  völligen  Sprachgleichheit  unter  den  Gliedern 
des  engsten  politischen  Verbandes,  der  Ortsgemeinde.  Die  grofse 
Tatsache  der  einheitlichen  Ortsmundart,  mit  der  sich  keine  andere 
Spracheinheit  an  Strenge  vergleichen  kann,  zeigt  die  Kraft  der  poli- 
tischen Verbände  am  deutlichsten.  Die  vom  einzelnen  ausgehende 
Neuerung  wird  entweder  auf  die  Gesamtheit  übertragen  oder  ganz 
abgelehnt,  sei  es  am  Ort  der  Entstehung  oder  am  fremden.  Der  poli- 
tische Zusammenhang,  Nachwirkungen  eingerechnet,  bestimmt  die 
Richtung,  nach  welcher  die  Neuerung  6ich  verbreitet,  und  den  Weg, 
den  sie  durchläuft,  doch  ist  die  Frage,  warum  sie  im  einzelnen  Fall 
an  dieser  und  nicht  an  jener  Schranke  Halt  macht,  wohl  ebenso  un- 
lösbar wie  die  nach  der  besonderen  Entstehungsursache. 

Die  klare  Scheidung  von  Entstehung  und  Übertragung  in  der 
Geschichte  der  sprachlichen  Neuerungen  macht  es  auch  möglich, 
Wortformen  zu  verstehen,  die  aus  keinerlei  Lautwandel  erklärt  wer- 
den können.  Für  die  Gesamtmasse  der  fertigen  lautlichen  Verände- 
rungen ist  als  Regel  zu  setzen,  dafs  sie  aus  Lautwandel  entsprangen, 
als  Lautwandel  auf  eine  Reihe  von  Mundarten  sich  übertrugen,  dann 
aber  auch  als  fertige  Ergebnisse  des  Lautwandels  in  Einzelwörtern 
(unter  Bevorzugung  von  Lautgruppen:  vgl.  oben  Zerspalten  von  Laut- 
grenzen). Die  Übertragung  von  Einzelwörtern  brauchte  sich  aber 
nicht  auf  diese  Nachkommen  des  Lautwandels  zu  beschränken,  ob- 
wohl sie  das  Massenvorbild  unterstützte.  Bisweilen  mufste  es  auch 
geschehen,  dafs  der  tonangebende  einzelne  statt  eines  neuen  Lautes 
ein  lautlich  verändertes  Einzelwort  ohne  Lautsippe  zur  Geltung 
brachte.  Fast  in  jeder  Mundart  gibt  es  solche  Wechselbälge,  oft 
ganze  Reihen  solcher,  die  jeder  Bemühung  spotten,  sie  rechtmäfsig 
unterzubringen.    Es  sind  die  Brüder  der  Analogiebildungen. 

Die  Einheit  der  Ortsmundart  erfährt  vorübergehende  Trübung 
durch  Neuerungen,  die  aus  ihr  selbst  oder  den  Nachbarmundarten 
stammen,  sich  unmerklich,  dem  Sprechenden  unbewufst,  in  ihrem 
Schofs  durchsetzen  und  sie  eine  Zeitlang  in  die  Sprache  des  älteren 
und  des  jüngeren  Geschlechts  scheiden.  Sie  erfährt  gewaltsame  Stö- 
rung durch  Neuerungen,  die  von  oben  her  aus  der  Verkehrssprache 
auf  sie  eindringen,  die  bewufst  übernommen  werden,  sie  in  verschie- 


188  Kleinere  Mitteilungen. 

dene  Stufen  der  Anpassung  zersplittern  oder  sie  vollständig  besei- 
tigen. Dort  spielt  der  Lautwandel,  hier  der  Lautzwang  seine  Rolle; 
die  Wortverdrängung  zeigt  nur  Gradunterschiede.  Der  erstere  Vor- 
gang gehört  dem  natürlichen  Leben  der  Mundarten  an;  der  letztere 
ist  ihr  Zusammenstofs  mit  der  gesteigerten  Kultur.  Sie  verhalten 
sich  gleichsam  zueinander  wie  Schichtenbildung  und  Eruption ;  wage- 
recht und  senkrecht  wirkende  Kräfte  sind  auch  hier  im  Spiele,  wenn 
wir  die  Wirkung  von  Mundart  auf  Mundart,  die  nebeneinander  in 
derselben  Sprachschichte  liegen,  mit  wagerecht,  die  von  Verkehrs- 
sprache auf  Mundart,  die  in  verschiedenen  Schichten  übereinander 
liegen,  mit  senkrecht  bezeichnen  dürfen.  Aus  der  Betrachtung  der 
natürlichen  Lebensvorgänge  sind  letztere  soviel  wie  möglich  aus- 
zusondern. 

Was  Gauchat  als  der  ganze  sichere  Gewinn  der  bisherigen 
Mundartengeographie  erscheint:  der  häufige  Zusammenfall  von  Laut- 
grenzen und  die  gelegentliche  Wirkung  politischer  Schranken  (ganz 
unverständlich  ist  mir,  warum  er  sie  auch  noch  geringen  physi- 
kalischen zuspricht,  obwohl  sie  nie  und  nirgends  gezeigt  worden  ist), 
ist  nur  ein  bescheidener  Teil  dessen,  was  mir  schon  lange  feststeht, 
und  was  er  schweigend  übergeht  Ich  hoffe,  gezeigt  zu  haben,  dafs 
es  sich  bei  diesem  Rest  um  Dinge  handelt,  die  der  Mitteilung  wert 
sind.  Ich  habe  sie  hier  nur  skizzenhaft,  vielleicht  auch  nicht  mit  der 
wünschenswerten  Klarheit  behandelt.  Sie  finden  sich  ausführlich 
vorgetragen  und  auf  sachliche  Erhebungen  gegründet  namentlich  in 
folgenden  Arbeiten: 

Die  Mundarten  des  oberen  Neckar-  und  Donaulandes.    Programm. 
1898. 

Li  her  die  Notwendigkeit  der  kartographischen  Aufnahme  der  Mund- 
arten {Württemberg.  Korrespondenzblatt,  1899). 

Sätze  über  Sprachbewegung  {Zeitschrift  für  hochdeutsche  Mundarten, 
1900). 

Über  Mundartengeographie  {Alemannüz,  1901). 

Verkehrs-  und  Schriftsprache  auf  dem  Boden  der  örtlichen  Mundart 
{Die  Neueren  Sprachen,  1901). 

Konsonantenlängen  im  Schwäbischen  {Die  Neueren  Sprachen,  1903). 
Gauchats  Karte,  so  lehrreich  sie  ist,  erfüllt  einige  wesentliche 
Bedingungen  noch  nicht,  die  erforderlich  sind  zur  Gewinnung  klaren 
und  vollen  Aufschlusses  über  die  Fragen,  die  uns  hier  bewegen. 
Zunächst  erfahren  wir  von  ihm  selbst,  dafs  nur  ein  Teil  der  Grenzen 
eingetragen  ist;  das  Hinzutreten  der  fehlenden  wird  die  besonderen 
Züge  des  Bildes  verschärfen.  Für  das  tatsächliche  Bild  der  Zu- 
sammenhänge sind  ferner  aber  folgende  Dinge  unerläfslich :  1)  die 
Abstufung  der  Stärke  der  Lautgrenzen  nach  Zahl  und  Häufigkeit 
der  zugehörigen  Wörter,  der  Ausdruck  des  numerischen  Stärkegrades. 
2)  Die  Berücksichtigung  sämtlicher  Orte.  Solange  das  nicht  ge- 
schieht, sind  eine  Menge  Linien  rein  willkürlich  und  stören  den  Aus- 


Kleinere  Mitteilungen.  189 

druck  des  Gesetzmäfsigen.  3)  Die  mathematische  Behandlung  der 
Zeichnung,  die  Punkt  2  zur  Voraussetzung  hat.  Wo  ideale  Herr- 
schaftsgebiete zusammenstofsen,  kann  die  geographische  Grenze  ver- 
nünftigerweise nur  durch  eine  gerade  Linie  zur  Darstellung  gebracht 
werden  und  zwar  in  gleicher  Entfernung  von  den  Mittelpunkten. 
Beliebig  gekrümmte  Linien  durchschneiden  sich  blind  und  lassen 
Flächenstücke  zwischen  sich,  die  sinnlos  sind  und  das  Bild  fälschen. 
Gesteigerte  Klarheit  ist  auch  hier  der  Lohn  der  Strenge.  Wünschens- 
wert ist  ferner  noch  die  deutliche  Unterscheidung  der  Grenzen  für 
lebendigen  und  für  abgestorbenen  Lautwandel;  denn  mit  jenen  er- 
halten wir  die  Abgrenzung  der  in  der  Gegenwart  herrschenden  Laut- 
systeme. Besondere  Beachtung  verdient  auch  das  Zerfliefsen  der 
organischen  Lautgrenzen  (Beispiel:  Entnasalierung  mit  schroffen  und 
sanften  Übergängen)  und  sein  Gegenstück:  das  Zerbröseln  der  un- 
organischen (Beispiel:  Eindringen  diphthongierter  Formen  in  geringer 
und  in  Überzahl) ;  die  verhältnismäfsig  seltenen  Punkte,  an  denen  in 
der  Gegenwart  fast  durchweg  Bewegung  herrscht. 

Stuttgart.  C.  Haag. 

Die  Societe  des  Textes  franc;ais  modernes, 

von  der  hier  CXIII,  154  die  Rede  war,  hat  sich  endgültig  konsti- 
tuiert (Mai  1905).  Sie  zählt  vorläufig  gegen  150  Mitglieder.  An 
ihrer  Spitze  steht  ein  aus  G.  Lanson  (als  Vorsitzendem),  F.  Brunot, 
E.  Courbet,  H.  Chamard,  E.  Huguet  (als  Schriftführer)  und  M.  Ro- 
ques  (als  Schatzmeister)  gebildeter  Vorstand.  Im  Verwaltungsrat 
sind  auch  Belgien  und  die  Schweiz,  sowie  Deutschland,  Amerika  und 
Dänemark  vertreten.  —  Statuten  und  Geschäftsordnung  können  von 
Prof.  E.  Huguet,  30  rue  Guilbert,  Caen  (Calvados),  bezogen  werden. 
In  einer  Einleitung  dazu  entwickelt  Lanson  in  beredten  Ausführun- 
gen das  Arbeitsprogramm  der  neuen  Gesellschaft.  Unter  den  Texten, 
die  zunächst  für  die  geplanten  kritischen  Neuausgaben  in  Aus- 
sicht genommen  sind,  befinden  sich  die  Werke  von  Heroet,  Ron- 
sard, Du  Bellay,  D'Aubignä,  Pasquier,  D'Urfö,  Sorel, 
Mairet,  B.  de  St-Pierre,  Senancour,  Stendhal.  Vol- 
taires Leitres  sur  les  Anglais  werden  von  einem  Bande  begleitet 
sein,  der  die  polemische  Tagesliteratur  vereinigt,  die  sich  mit  den 
Lettres  beschäftigte.  —  Die  Veröffentlichungen  der  neuen  Gesellschaft 
werden  auch  bei  uns  das  gröfste  Interesse  finden,  und  der  niedrige 
Jahresbeitrag  (10  Frs.)  wird  ihr  hoffentlich  zahlreiche  Mitglieder 
sichern.  H.  M. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 


Ernst  Martin,   Wolframs  von   Eschenbach  Parzival   und  Titurel, 

herausg.  und  erklärt.    Zweiter  Teil :  Kommentar  (Germanistische  Hand- 
bibliothek, begründet  von  Julius  Zacher,  IX,  2),  C,  630  S.  8. 

Martin  hat  mit  diesem  zweiten  Band  seiner  Ausgabe  das  unentbehr- 
liche Hilfsbuch  für  Parzivallektüre  und  -Studium  geschaffen.  Lange  ver- 
laust und  gewünscht,  kommt  uns  der  Rarzivalkommentar  sofort  mit  einem 
Reichtum  an  Einzelheiten  und  in  einer  besonnenen  Durcharbeitung,  die 
Lehr-  und  Lernzwecke  aufs  beste  fördert.  Gewifs,  wer  beim  ersten  Lesen 
z.  B.  zu  xwivel  1,  1  auf  got.  tveifls,  zu  unfruot  5,  15  auf  got.  frods  ('zu 
frathjan'),  zu  videhere,  19,  12  auf  ahd.  fidula  usw.  verwiesen  sieht,  wird  der- 
gleichen zunächst  für  überflüssig  halten ;  aber  die  praktische  Verwendung 
des  Buches  beim  Unterricht  lehrt  dann  doch,  dafs  dem  Lernenden  auch 
solche  Elementaria  willkommen  sind,  und  es  entdeckt  sich  auch  der  Nutzen 
so  mancher  anderen  Abschweifung.  Den  vollen  Wert  des  Kommentars 
wird  überhaupt  der  praktische  Gebrauch  immer  mehr  ins  Licht  stellen. 

Die  Wolframliteratur  ist  durchaus  benutzt  und  an  geeignetem  Ort 
auch  im  Kommentar  zitiert.  Es  fehlt  aber  auch  nicht  die  zusammen- 
fassende Übersicht:  Martin  gibt  sie  in  der  sehr  reichhaltigen  Einleitung. 
Sie  ist  keineswegs  bares  Referat  über  das  bisher  Gewonnene,  Vermutete, 
Bondern  bringt  zur  Geltung  und  begründet  die  persönliche  Ansicht  des 
Verfassers,  dort,  wo  er  fremde  Ansichten  zu  berichtigen  oder  zu  bekämpfen 
Anlafs  hat.  Ganz  besonders  ist  das  in  den  zwei  Kapiteln  über  Wolframs 
Quellen  und  über  die  Sage  der  Fall :  Martin  hält  mit  Recht  an  Kyot  fest 
(wozu  ich  noch  bemerken  möchte,  dafs  die  S.  XXXIX  genannten  Unge- 
nauigkeiten  in  Wolframs  Angaben  über  Kyot  unter  der  Voraussetzung 
wegfallen,  dafs  Wolfram  Motive,  die  er  der  Quelle  entnahm,  mit  eigenen 
Zutaten  versehen  habe),  und  dem  Mosaik  von  Motiven,  aus  dem  die  Hypo- 
these vom  geistlich -legendarischen  Ursprung  der  Gralsage  aufgebaut  ist, 
stellt  er  —  mit  verwandter  Methode  —  seine  eigene  Anschauung  von  ihren 
keltisch -volkstümlichen  Ursprüngen  entgegen.  So  durchaus  erwünscht 
diese  einleitenden  Übersichten,  so  bequem  und  nützlich  die  Aufnahme 
und  Einarbeitung  des  Wertvollen  aus  der  Wolframliteratur  ist,  so  geben 
dem  Werk  den  besonderen  und  individuellen  Wert  die  eigentlichen  Sinn- 
erklärungen :  sie  sind  ohne  jene  gelehrten  Voraussetzungen  nicht  denkbar, 
ebensowenig  aber  ohne  das  Hineinleben  in  Stil  und  Gedankenkreise  Wolf- 
rams, das  bei  aller  philologischen  Hingabe  des  Unterschiedes  zwischen 
Damals  und  Heute  deutlich  sich  bewuist  bleibt.  Eine  grofse  Anzahl 
schwieriger  Stellen  ist  im  Kommentar  einleuchtend  erklärt.  Auch  bei 
den  Sinnerklärungen  hat  Martin  den  Kreis  der  Benutzer  weit  gedacht: 
neben  jenen  höchst  erwünschten  stehen  denn  auch  elementare. 

Die  folgenden  Bemerkungen  zu  Einzelheiten  wollen  nicht  mehr  Kritik 
sein,  sondern  kleine  Beiträge  zur  Erklärung,  wie  sie  sich  teils  durch  Mar- 
tins Kommentar,  teils  gegen  ihn  beim  seminaristischen  Unterricht  ergaben: 
ich  beschränke  mich  dabei  auf  Textstücke  und  Stellen,  die  der  Unterricht 
gerade  berührte. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  191 

Zu  1,  4  parrieren  ist  hervorzuheben,  dafs  die  Vorstellung  unverxaget 
mannes  muot  sprachlich  1)  das  Ganze  sein  kann,  das  durch  zwei  in  ihm 
enthaltene  Gegensätze  sich  parrieret,  2)  einer  der  Gegensätze  innerhalb 
eines  übergeordneten  Ganzen,  das  dadurch  'bunt'  wird.  Mir  wird  nicht 
klar,  welcher  der  beiden  Meinungen  sich  Martin  anschliefst,  denn  sein 
Satz  'ein  xwiveln  ohne  verzagen'  werde  hier  'als  buntfarbig'  bezeichnet, 
läfst  Undeutlichkeiten  übrig.  Und  eine  Folge  dieser  Undeutlichkeit  scheint 
mir  die  Auslegung  von  1,  7  der  als:  'der  noch  xwivelt'  —  während  doch 
wahrscheinlich  der  gemeint  ist,  in  dessen  unverzagtem  mannes  muot  der 
xwivel  mit  einem  —  guten  —  Gegensatz  zu  ihm  verbunden  ist.  —  1,  25 
alwdr  ist  schwerlich  nachgesetztes  attributives  Adjektiv,  sondern  machet 
kurxe  freude  ahcdr  wird  bedeuten:  'verwirklicht  (nur)  kurze  Freude'.  — 
Bei  1,  26 — 30  gibt  es  noch  andere  Möglichkeit  als  die  von  Martin  heran- 
gezogene: die  varhte,  gegen  die  Wolfram  och  ruft,  mufs  doch  auf  jene 
Gesellen  sich  beziehen,  die  ihn  an  der  Innenfläche  seiner  Hand,  wo  kein 
Haar  wächst,  raufen.  Martin  versteht  dieses  Bild  von  falschen  Freunden, 
die  sich  in  des  anderen  Vertrauen  einschleichen  —  aber  es  kann  doch 
auch  auf  jene  gehen,  die  seine  vorangehenden  Worte  mifsverstehen,  in 
einer  Weise  deuten,  die  einem  Raufen  an  unbehaarter  Handfläche  ver- 
gleichbar ist.  Die  vorhte  und  das  von  ihr  ausgepreiste  och  sind  dann 
humoristische  Steigerung.  —  5,  15  unfruot  ist  Gegensatz  zu  wise  5,  11  und 
verurteilt  eben  jene  Erbsatzung,  die  Alter  und  Armut  zusammenjocht. 
Die  sonst  ja  mögliche  Bedeutung  'trübselig'  spielt  hier  denn  keine  Bolle. 

—  6,  15  merte  ist  wie  an  den  anderen  zwei  von  Martin  zitierten  Stellen 
rein  phraseologisch,  nicht  prägnant  ('noch  mehr  zeigt').  —  Zu  6,  19  hant- 
gemcelde,  dax  man  möhte  sehen,  davon  der  herre  müese  jehen  sins  namen 
und  siner  vriheit  ist  wohl  die  Art  des  Satzes  dax  man  möhte  sehen  zu  er- 
örtern—  Relativsatz?  oder,  wie  ich  deuten  möchte,  Konsekutivsatz:  ...'ein 
Eigen,  so  dafs  man  den  Rechtstitel  erkenne,  auf  Grund  dessen  er  auf 
Namen  und  Freiheit  Anspruch  erhebe.'  —  7,  4  empfiehlt  es  sich,  das  Ot- 
fridische  theist  nicht  auf  thax  ist,  sondern  the  ist  zurückzuführen.  —  9,  23 
iedoch,  nicht  mit  Martin  'auch  so  schon',  sondern  einfach  'aber',  als  Gegen- 
satz zum  Vorhergehenden  uud  zu  den  Versuchen  des  Königs,  ihn  zu 
halten.  —  10,  24  mins  herxen  kraß  ist  hier  nicht  'Besinnung  und  Tat- 
kraft' —  das  verhindert  das  parallele  diu  süexe  miner  ougen  — ,  sondern 
(so  wie  dieses)  eine  Umschreibung  für  Gandin.  —  14,  15  wird  mit  gernden 
siten  als  'mit  Ruhmbegier'  aufgefafst;  aber  es  erhält  seine  besondere  hie- 
sige Bedeutung  durch  das  Wappensymbol  des  Ankers,  von  welchem  es 
99,  15  der  anker  ist  ein  recken  xil  heilst;  dazu  gehört  ferner  15,  2  der 
herre  muose  fürbax  tragen  disen  wäpenlichen  last  in  manegiu  lant  und  16,  1 
sin  eilen  strebte  sunder  wanc  (=  fürbax  gern  556,  22):  alles  das  weist  auf 
die  Bedeutung  'als  einer,  dessen  Sinn  aufs  Wandern  steht'.  Man  mag  zu- 
gleich an  den  gernden  valken  denken.  —  26,  26  min  wipheit  was  unbewart 
läfst  sich  bedeutungsvoller  auffassen,  als  Martins  Paraphrase  tut;  denn 
23,  2ti  dax  er  entsldx  ir  herxe  gar  . . .  dax  beslox  da  vor  ir  wipheit  gibt  den 
deutlichen  Fingerzeig:  'Meine  Weiblichkeit  war  unbehütet  (=  neigte  sich 
ihm  zu),  als  er  um  mich  warb.  [Hier  setze  ich  Punkt.]  Dafs  es  nicht 
zum  Heil  ihm  ausschlug,  das  betraure  ich'  usw. ;  27,  9  widerspricht  nicht, 
ebensowenig  die  scharfakzentuierte  Pointe  28,  9  ich  enwart  nie  ivip  decheines 
man.  —  114,  7  ir  freude  ist  hier  wohl  nicht  'das,  was  sie  erfreut',  son- 
dern bedeutungsvoller  'die  Freude,  die  sie  schaffen'.  —  114,  22  wipheit 
<  'weibliches  Gemüt'  —  dazu  palst  aber  114,  23  nicht  recht.  Ich  über- 
setze: 'Es  ist  vielmehr  ihre  Eigenschaft  als  Frauen  [um  deren  willen  mir 
ihre  Verstimmung  gegen  mich  wie  mein  Benehmen  gegen  sie  leid  tut],  weil 
ich  ungebührlich  über  sie  geredet  und  daher  mir  selber  Schande  gemacht 
habe,  und  das  soll  auch  nicht  mehr  geschehen'  (das  Ganze  als  Parenthese). 

—  115,  8  min  reht]  nicht  'meinen  Rechtsgrund',  sondern  'meine  Art'. 


192  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Fälle,  daXs  der  Kommentar  an  (Schwierigkeiten  oder  Eigentümlichkeiten 
Wolframs  vorbeiging,  fanden  sich  selten:  so  vermifste  ich  10,  27  und  12, 
28  ein  Wort  über  die  Bedeutung  des  ein  (und  ist  doch  ein  rihtcere;  da  ist 
lihte  ein  ungeloube  bi)\  91,  8  Luke!  ob  der  werdekeit,  106,  20  die  md.  Form 
die  für  der  bleiben  ohne  Bemerkung.  Machte  die  Note  zu  11,  26  tilgende 
ei)i  bernde  rts  den  'g.  pl.  von  bernde  abhängig',  so  war  ein  Wort  über  die 
Art  dieses  Genitivobjekts  (hier  wie  in  dem  ebenso  gedeuteten  lones  bernde 
vart  128,  26)  nötig. 

Zwischen  die  Anmerkungen  zu  81,  2  und  91,  16  ist  Widerspruch  ge- 
raten :  zu  91,  16  sagt  Martin,  dafs  die  Beziehung  der  Verse  80,  30  ff.  auf 
Galoes  und  Annore  mit  Unrecht  geschehe,  und  den  Vers  81,  2  hatte  er 
selbst  in  diesem  Sinne  erklärt.  Joseph  Seemüller. 

Die  Gedichte  Oswalds  von  Wolkenstein,  herausgegeben  von  J.  Schatz. 
Zweite  verbesserte  Ausgabe.  Göttingen,  Vandenhoeck  und  Ruprecht  19U4. 
312  S.  8°.    6  Mk. 

Als  man  vor  ein  paar  Jahren  erfuhr,  dafs  eine  neue  Ausgabe  der 
Gedichte  Oswalds  von  Wolkenstein  demnächst  erscheinen  würde,  da  freute 
sich  gewifs  jeder,  der  au  der  Kultur-  und  Literaturgeschichte  des  ab- 
sterbenden Mittelalters  ein  tiefer  gehendes  Interesse  nahm.  Die  frisch- 
lebendige, wiewohl  im  einzelnen  nicht  ganz  zuverläfsige  Studie  Ladendorfs 
(Neue  Jahrbücher  für  das  Mass.  Altertum  usw.  7  [1901]  S.  133  ff.),  im  Grunde 
der  erste  Versuch  einer  wirklichen  Charakteristik  des  Wolkensteiners,  hatte 
wohl  bei  manchem  den  Wunsch  rege  gemacht,  die  eigenartigsten  Blüten 
von  Minnesangs  Winter  in  einer  dem  heutigen  Staude  der  Forschung  an- 
gemessenen Edition  zu  lesen  und  womöglich  auch  zu  besitzen.  Denn  die 
alte  Ausgabe  Beda  Webers,  dessen  Leistungen  wir  nicht  unterschätzen 
wollen,  nachdem  6ie  Wackerneil  in  seinem  lehrreichen  und  anziehenden 
Buch  über  ihn  (Innsbruck  1903)  in  die  rechte  Beleuchtung  gerückt  hat, 
genügte  doch  längst  nicht  mehr  den  Ansprüchen  der  modernen  Wissen- 
schaft und  war  überdies  nur  noch  für  einen  respektablen  Phantasiepreis 
im  Buchhandel  zu  erstehen.  Die  neue  Ausgabe  erschien  1902  als  'Publi- 
kation der  Gesellschaft  zur  Herausgabe  der  Denkmäler  der  Tonkunst  in 
Osterreich'  (vgl.  Behaghel,  Literaturblatt  für  germ.  und  roman.  Philologie  1903, 
S.  367  ff.;  Wustmann,  Anzeiger  für  deutsches  Altertum  29,  S.  227  ff.).  Sie 
hatte  einen  grofsen  Vorzug:  ihr  war  die  Musik  beigegeben.  Oswald  Koller 
hatte  diesen  Teil  bearbeitet.  Wir  wissen  so  wenig  von  der  Musik  der 
Minnesinger  und  müssen  immer  dankbar  sein,  wenn  uns  ein  Kundiger 
über  diese  heikle  Materie  neuen  Aufschlufs  gibt.  Jeder  Philolog  hat  die 
unabweisbare  Pflicht,  sich  damit  vertraut  zu  machen,  sollte  er  sich  zu- 
nächst dabei  auch  etwas  ungemütlich  fühlen.  Hier  wie  stets  ist  eine 
Vogelstraufspolitik  nicht  am  Platz.  Den  Text  hatte  Joseph  Schatz  auf 
Grund  der  Handschrift  A  (Pergamenths.  Nr.  2777  der  Wiener  Hofbiblio- 
thek)  hergestellt,  die  etwa  1425 — 1427  auf  Oswalds  Anregung  hin  zustande 
gekommen  ist;  er  hatte  ferner  die  übrigen  Handschriften  genau  beschrieben 
und  ihren  kritischen  Wert  erörtert,  die  Gedichte  völlig  neu  nach  der  mut- 
mafslichen  Zeitfolge  geordnet  und  eine  Anzahl  Erläuterungen  und  Exkurse 
beigefügt;  dazu  trat  dann  noch  eine  kurze,  möglichst  auf  historisch  be- 
glaubigte Tatsachen  gestützte  Vita  des  Wolkensteiners.  Es  war  viel,  was 
wir  da  bekamen,  viel,  aber  nicht  genug.  Wer  an  Wackernells  gehaltvolle 
Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  von  Hugo  von  Montfort  (Innsbruck  1881) 
dachte,  fand  sich  enttäuscht.  Die  Sprache,  die  Metrik,  die  Poetik,  die 
literarhistorische  Stellung  des  Wolkensteiners  —  all  das  blieb  künftiger 
Untersuchung  vorbehalten.  Und  schliefslich:  die  Publikation  war  schön 
ausgestattet,  aber  sie  war  unhandlich  und  teuer. 

Vor  kurzem  hat  Schatz,  'vielfach  geäufserten  Wünschen  entsprechend', 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  193 

eine  zweite,  weit  handlichere  und  billigere  Ausgabe  der  Gedichte  Oswalds 
von  Wolkenstein  in  die  Welt  gesandt.  Sie  bietet  etwas  mehr  und  er- 
heblich weniger  als  die  erste  Veröffentlichung.  Mehr,  denn  hier  sind  auch 
die  Lesarten  aus  der  Handschrift  C  (Papierhs.  des  Innsbrucker  Ferdinan- 
deums  F  1950),  die  in  der  ersten  Ausgabe  nur  gelegentlich  notiert  wurden, 
durchweg  aufgenommen  worden.  Weniger,  denn  hier  fehlen  die  Anmer- 
kungen der  ersten  Ausgabe  und  der  gesamte  musikalische  Teil.  Im  übrigen 
zeigt  sie  ungefähr  das  gleiche  Bild.  Herübergenommen  ist  der  Lebens- 
abrifs  des  Wolkensteiners,  die  Beschreibung  der  Handschriften  und  im 
wesentlichen  auch  der  Text  der  Gedichte.  Leider  hat  Schatz,  durch  andere 
Arbeiten  gehindert,  die  schon  in  der  ersten  Ausgabe  angekündigte  Dar- 
stellung der  Sprache  des  Wolkensteiners  noch  nicht  liefern  können;  erst 
wenn  er  es  getan,  wird  sich  meines  Erachtens  über  die  Art  seiner  Text- 
behandlung gewinnbringend  reden  lassen.  Auch  eine  literarhistorische 
Untersuchung  verspricht  er  für  die  Zukunft;  die  in  der  ersten  Ausgabe 
veröffentlichten  Anmerkungen  sind  für  eine  zusammenfassende  Erklärung 
der  Gedichte  zurückgestellt  worden.  Etwas  viel  Zukunftsmusik,  aber  wir 
müssen  immerhin  zufrieden  sein,  dafs  wir  nun  Oswalds  Gedichte  in  einer 
jedenfalls  besseren  und  wohlfeileren  Ausgabe  haben  als  zuvor. 

Nur  noch  eine  Bemerkung  zur  Biographie  des  Wolkensteiners.  Sie 
will  Tatsächliches  bieten  und  weicht  jeder  Vermutung  geflissentlich  aus; 
wo  es  irgend  angeht,  werden  urkundliche  Zeugnisse  beigebracht,  hier  und 
da  aber  auch  die  Gedichte  selbst  als  Quellen  herangezogen.  Gewifs  mit 
Recht;  denn  bei  Oswald  liegt  die  Frage  nach  dem  biographischen  Gehalt 
seiner  Lieder  anders  als  etwa  bei  Reinmar  und  Walther.  Gleichwohl  kann 
man  auch  bei  ihm  in  dieser  Beziehung  nicht  vorsichtig  genug  sein.  Es 
ist  doch  sehr  gewagt,  zu  behaupten,  dafs  man  'seinen  Angaben  ...  durch- 
wegs Vertrauen  entgegenbringen'  dürfe  (S.  5),  wenn  man  noch  auf  der- 
selben Seite  sagen  mufs,  dafs  Oswalds  Mitteilungen  über  seine  Sprachen- 
kenntnis (Schatz  64, 21  ff.  =  Weber  1, 21  ff.)  'mit  der  nötigen  Einschränkung' 
aufzunehmen  seien. 

Berlin.  Hermann  Michel. 

Fr.  Stahl,  Wie  sah  Goethe  aus?     Berlin,  G.  Reimer,  1904. 

Wenn  wir  uns  einmal  fragen,  wie  eigentlich  einer  von  unseren  besten 
Bekannten  aussieht,  so  treffen  wir  gewöhnlich  in  unserem  Bewufstsein 
nur  ein  verschwommenes  Bild,  weil  die  vielen  Einzeleindrücke  sich  gegen- 
seitig beeinträchtigen.  Von  grofsen  Männern,  die  wir  nie  gesehen,  haben 
wir  oft  eine  viel  deutlichere  Vorstellung,  weil  Ein  bekanntes  Bild  sich  uns 
durch  wiederholte  Betrachtung  fest  eingeprägt  hat.  Wie  Goethe,  Napoleon, 
Bismarck  aussahen,  glauben  wir  genau  zu  wissen.  Aber  ist  das  Porträt, 
das  Stieler  oder  Schmeller,  David,  Lenbach  malten,  zuverlässig? 

Ikonographische  Studien  haben  z.B.  für  Wieland  Weizsäcker,  für 
Friedrich  den  Grofsen  v.  Taysen,  für  Bismarck  Graf  Yorck  mit  grofsem 
Erfolg  unternommen.  Stahl  sucht  die  Geschichte  von  Goethes  äufserer 
Erscheinung  an  der  Hand  der  Dokumente  zu  schreiben;  die  literarischen, 
obwohl  gut  ausgewählt,  treten  dabei  neben  den  künstlerischen  zu  sehr 
zurück,  so  dafs  wir  z.  B.  über  die  charakteristischen  Augen  und  ihre 
Wirkung  wenig  hören.  Auch  sind  zwei  verschiedene  Dinge  nicht  immer 
sorgfältig  gesondert:  eben  die  wirkliche  Erscheinung  und  der  Eindruck, 
den  sie  nervorrief.  Es  ist  ja  bekannt,  dafs  Goethe  durch  seine  straffe 
Haltung  gröfser  schien,  als  er  war.  Auch  die  Atmosphäre,  die  seine  Ge- 
stalt und  sein  Gesicht  verbreiteten,  gehört  schliefslich  zu  der  Erscheinung 
selbst.  Die  zunehmende  Vergeistigung,  die  Stahl  gut  beobachtet,  gehört 
sowohl  dem  Dichter,  der  immer  tiefer  im  Grofsen  aufging,  als  den  Künst- 
lern, die  ihn  mit  immer  größerer  Ehrfurcht  beschauten. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    CXV.  13 


194  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Lehrreich  sind  die  Interpretationen,  die  Stahl  einzelnen  Bildern,  wie 
dem  Tisehbeinschen  in  der  Campagna,  dem  der  Gräfin  Egloff stein,  bei- 
gegeben hat.  Gegen  Kügelgen  ist  er  ungerecht;  seine  Auffassung  hätte 
nicht  fehlen  dürfen,  wie  wir  denn  den  25  Tafeln  gern  noch  mindestens 
halb  so  viel  beigefügt  hätten,  z.  B.  ein  Uniformporträt  und  selbst  Thackerays 
Karikatur.  Doch  auch  so  ist  das  Kaleidoskop  lehrreich  genug.  Wie  sich 
Goethe  eine  'Maske'  für  die  Gesellschaft  bildet  (S.  38)  und  sie  wieder 
fallen  läfst  (S.  45),  das  ist  recht  ergötzlich  geschildert. 

Es  sollen  ebensolche  Bild  erfolgen  mit  Kommentar  zunächst  für  Bis- 
marck,  Rembrandt,  Schiller  folgen.  Die  letzte  wird  für  den  typischen 
Prozefs  des  Idealisierens  besonders  lehrreich  sein.  Aber  auch  hier  (wie 
bei  Bismarck!)  sollte  man  das  Gegengewicht  der  Zerrbilder  nicht  ganz 
vernachlässigen. 

Berlin.  Richard  M.  Meyer. 

Goethe,  Iphigenie  auf  Tauris.  Ed.  by  K.  Breul.  Cambridge,  at  the 
University  Press,  1904  (Pitt  Press  Series),  2  ed.  LXXXIV,  254  S. 
3  sh.  6  d. 

An  dieser  vortrefflichen  Ausgabe  für  englische  Studenten  wird  den 
deutschen  Leser  die  Einleitung  interessieren,  die  mit  aufserordentlicher 
Umsicht  die  Geschichte  dieser  'Gelegenheitsdichtung'  (S.  XIV)  schreibt. 
Die  'römische'  Iphigenie  wird  von  der  'deutschen'  (S.  XVIII)  sorgfältig 
abgehoben;  ebenso  fast  zu  reinlich  unterschieden,  was  in  ihr  griechisch 
sei,  was  deutsch  (S.  XLIV).  Der  Charakter  des  Orest  wird  (S.  XXIII) 
vielleicht  zu  entschieden  als  Hauptfaktor  der  Entstehung  betrachtet  und 
Lessings  Einflufs  auf  das  Metrum  doch  wohl  (S.  XXVI)  unterschätzt. 
Besonders  dankenswert  ist  in  dem  Zusammenhang  der  literarischen  Ein- 
flüsse der  Hinweis  auf  das  Singspiel  (S.  XXIII). 

B.  R.  M.  M. 

Zur  Schillerliteratur  des  Jubiläumsjahres.    I. 

1.  L.  Fulda,  Schiller  und  die  neue  Generation.  Stuttgart,  Cotta, 
44  S.  8. 

2.  Schillers  Sämtliche  Werke.  Säkular- Ausgabe.  In  16  Bänden  gr.  8. 
In  Verbindung  mit  Richard  Fester,  Gustav  Kettner,  Albert  Köster, 
Jakob  Minor,  Julius  Petersen,  Erich  Schmidt,  Oskar  Walzel,  Richard 
Weifsenf  eis  herausgegeben  von  Eduard  von  der  Hellen.  Stuttgart, 
Cotta,  1904  u.  1905.  Preis  des  Bandes:  geh.  M.  1,20,  in  Leinw.  geb. 
M.  2,  in  Halbfranz  geb.  M.  3.  Der  heutigen  Rezension  liegen  zu  Grunde: 
Band  I  (Gedichte,  ed.  von  der  Hellen),  XXII,  360  S.  Band  IV  (Don 
Carlos,  ed.  Weifsenfeis),  XLIV,  332  S.  Band  VI  (Maria  Stuart,  und 
Jungfrau  von  Orleans,  ed.  Petersen),  XXX,  402  S.  Band  IX.  (Über- 
setzungen, ed.  Köster,  1.  Teil:  Macbeth,  Turandot,  Parasit,  Neffe  als 
Onkel),  XXIV,  409  S.  Band  X  (deren  2.  Teil:  Phädra,  Iphigenie  in 
Aulis,  Phönizierinnen,  Virgil),  XX,  292  S. 

3.  Pantheon-Ausgabe.  Berlin,  S.  Fischer.  Schillers  Gedichte,  ed. 
WeiTsenfels.    XL,  411  S.  16.     Preis  M.  3. 

4.  Marbacher  Schillerbuch.  Zur  hundertsten  Wiederkehr  von  Schillers 
Todestag,  herausgegeben  vom  Schwäbischen  Schiller  verein.  Stutt- 
gart, Cotta,  1905.    X,  380  S.  gr.  4. 

5.  O.  Harnack,  Schiller.  (Aus  Bettelheims  Sammlung  'Geisteshelden'). 
Illustrierte  Ausgabe.    Berlin,  Ernst  Hofmann  u.  Co.    XIII,   476  S.  8. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  195 

6.  K.  Berger,  Schiller.  Sein  Leben  und  seine  Werke.  In  2  Bänden. 
I.  Band,  1.  u.  '?.  Auflage.  Mit  Photogravüren  nach  Graff.  München, 
C.  H.  Beck,  1905.     VIII,  630  S.  8.     Preis  M.  6,  geb.  M.  8,50. 

7.  Julius  Hartmann,  Schillers  Jugendfreunde.  Mit  zahlreichen  Ab- 
bildungen.   Stuttgart,  Cotta,  1904.    368  S.  8. 

8.  Kuno  Fischer,  Schillerschriften.  2.  Auflage,  Neu-Ausgabe.  Erste 
Reihe.  Schillers  Jugend-  und  Wanderjahre  in  Selbstbekenntnissen. 
Schiller  als  Komiker.  8.  Geh.  M.  6,  fein  Halbfranzband  M.  8.  Aus 
der  'Ersten  Reihe'  sind  einzeln  zu  haben:  1.  Schillers  Jugend-  und 
Wanderjahre  in  Selbstbekenntnissen.  Zweite  neubearb.  und  vermehrte 
Aufl.  8.  Geh.  M.  4,  Leinwandband  M.  5.  2.  Schiller  als  Komiker. 
Zweite  neubearbeitete  und  vermehrte  Aufl.  8.  Geh.  M.  2.  Schiller- 
schriften. Zweite  Reihe.  Schiller  als  Philosoph.  (1.  und  2.  Buch.) 
8.  Geh.  M.  6,  fein  Halblederband  M.  8.  Aus  der  'Zweiten  Reihe'  sind 
einzeln  zu  haben:  3.  Erstes  Buch:  Die  Jugendzeit  1779 — 1789.  8.  Ge- 
heftet M.  2,50.  4.  Zweites  Buch:  Die  akademische  Zeit  1789—1796.  8. 
Geh.  M.  3,50.  Beide  Teile  fein  Leinwandband  M.  7,50.  Heidelberg, 
Carl  Winter. 

9.  (Pitt  Press  Series).  Schiller,  Geschichte  des  Dreifsigj  ährigen 
Krieges  (Buch  III),  abridged  and  edited  by  Karl  Breul,  University 
Reader  in  Germanic.  Cambridge,  Universitv  Press.  1904.  XXXII, 
194  S.  kl.  8.    3  sh. 

'Goethe  und  Schiller  —  echtes  und  ewiges  Doppelgestirn !  Denn  wenn 
Goethe  der  Sonne  gleicht,  die  den  Tag  erst  zum  Tage  macht,  so  gleicht 
Schiller  dem  Mond,  den  die  Menschen  als  ihren  gütigen  Freund,  ihren 
zuverlässigsten  Führer  verehren,  so  oft  es  Nacht  wird.'  Mit  diesen  Worten 
schliefst  Ludwig  Fulda  seinen  gedankenreichen  und  formvollendeten 
Vortrag,  Worten,  die  wir  vor  allem  uns  gesagt  sein  lassen  dürfen,  die  wir 
uns  täglich  an  'die  neue  Generation'  zu  wenden  haben.  Und  wenn  Goethes 
Mutter,  mit  ihrem  feinen  Gefühl  die  Zusammengehörigkeit  der  Weimarer 
Dioskuren  früher  und  tiefer  erfassend  als  viele  unter  den  Zeitgenossen, 
ihrem  Liebling  im  Hinblick  auf  den  grofsen  Freund  zurief:  'Eure  Werke 
sind  vor  die  Ewigkeit  geschrieben,'  so  halten  wir  an  diesem  guten  Worte 
so  fest  wie  an  der  nicht  willkürlichen  und  äufserlichen,  sondern  organi- 
schen Verbindung  Goethes  und  Schillers,  trotz  des  Verdammungsurteils, 
das  Nietzsche  gegen  dies  Wörtchen  'und'  im  allgemeinen  und  gegen  den 
'Moraltrompeter  von  Säckingen'  im  besonderen  geschleudert  hat.  Für  uns 
sind  Schiller  und  Goethe  keine  ausschliefsenden  Gröfsen ;  auch  das  viel 
gebrauchte  Wort  von  der  gegenseitigen  Ergänzung  beider  hat  nur  in  dem 
seine  innerste  Berechtigung,  was  beide  gemeinsam  haben,  nicht  in  dem, 
was  sie  trennt;  gerade  das,  was  die  beiden  Grofsen  eint,  bedingt  ihre  Be- 
deutung für  die  Ewigkeit.  Mit  den  landläufigen  Gegensätzen,  wie  Rea- 
lismus und  Idealismus  oder  Individualismus  und  Universalisinus  usw.,  ist 
hier  wenig  getan;  gewifs  geht  Goethe  von  der  handgreiflichen  Wirklich- 
keit aus;  aber  weder  als  Forscher  noch  als  Dichter  bleibt  er  bei  ihr 
stehen;  er  fordert  vom  Poeten  nicht  die  photographische  Beschreibung, 
sondern  die  Epitomierung  der  Natur;  diese  aber  kann  nur  so  erfolgen, 
dafs  der  Dichter  dasjenige,  was  ihm  in  dem  Gewirr  der  realen  Tatsachen 
bedeutsam  erscheint,  hervorhebt,  das  Unbedeutende  wegläfst,  Ursache  und 
Wirkung  genauer  und  fester  verkettet  usf.,  das  alles  aber  doch  nur  auf 
Grund  einer  eigenen,  teils  in  bewufster  Gedankenarbeit  errungenen,  teils 
intuitiv  aufleuchtenden  Anschauung  von  dem  ewigen  Verlauf  der  Dinge, 
kurz  auf  Grund  einer  eigenen  Weltanschauung;   das  ist  im  Grunde  ge- 

13* 


196  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

nomnien  doch  wieder  ein  Idealismus ',  und  es  verschlägt  an  sich  nicht  viel, 
ob  Schiller  die  beherrschenden  Ideen  stärker  betont  oder  Goethe  sie  er- 
raten läfst;  die  Sache  ist  dieselbe,  nur  die  Form  eine  andere;  und  der- 
selbe Goethe,  den  man  für  einen  rücksichtslosen  Individualisten  zu  er- 
klären liebt,  hält  doch  so  streng  fest  an  der  inneren  Bestimmtheit  mensch- 
lichen Wollens  und  Handelns:  'Nach  dem  Gesetz,  nach  dem  er  angetreten' 
mufs  der  Goethische  Mensch  seines  Daseins  Kreise  vollenden.  Und  wie 
fern  steht  Schiller  anderseits  im  Leben  und  im  Schaffen  dem  Pöbel,  der 
grofsen  Masse,  wie  fern  steht  er  dem  Schwärm  derer,  die  ihn  als  Schutz- 
heiligen eines  engherzigen  Chauvinismus  auf  religiösem  oder  politischem 
Gebiete  anrufen  zu  dürfen  wähnen;  und  wie  berühren  sich  die  beiden 
Grofsen  schliefslich  in  ihren  letzten  Worten  an  ihr  Volk,  d.  h.  nicht  an 
die  empirische  Masse  der  Zeitgenossen,  sondern  an  das  Volk  über  und 
hinter  der  gemeinen  Gegenwart,  an  das  sich  schliefslich  jeder  tiefere 
Künstler  wendet:  wenn  Schiller  den  trotzigen  Individualisten  Teil  durch 
eigene  Erfahrung  zum  Vorkämpfer  einer  nationalen  Bewegung  reifen  läfst, 
so  endet  Faust,  die  gewaltigste  Individualität,  die  jemals  über  die  Bretter 
der  Bühne  geschritten  ist,  in  der  durch  innere  Erlebnisse  und  durch  die 
Wahrnehmung  der  Folgen  eigenen  Handelns  bewirkten  freiwilligen  Über- 
windung alles  Egoismus,  in  der  bewufsten,  erzieherischen  Arbeit  an  seinen 
Mitbürgern.  Der  eine  führt  sein  Volk  zum  Befreiungskampfe,  der  andere 
zur  ernstesten  Arbeit  ...  ein  lässiges  'Glück'  des  Philisters,  ein  Leben 
ohne  Gefahren  und  Entbehrungen  erschien  keinem  von  beiden  lebenswert, 
weder  dem  grofsen  Dulder,  dem  die  Parze  vorzeitig  den  Lebensfaden 
durchschnitt,  noch  dem  grofsen  Arbeiter  im  Staatsdienste,  der  bis  ins 
höchste  Greisenalter  hinein  geschafft  hat  wie  wenige  seines  Volkes,  der 
nie  Zeit  hatte,  müde  zu  sein,  der  fast  das  ganze  Wissen  seiner  Zeit  sein 
eigen  nennen  durfte,  vor  allem  aber  an  sich  selber  arbeitete,  unentwegt 
fortschreitend  auf  dem  Entdeckungswege  nach  Neuland,  nach  wissenschaft- 
lichen, künstlerischen,  sittlichen  Errungenschaften. 

Darum  also  gehören  uns  die  beiden  nach  wie  vor  zusammen,  inson- 
derheit auch  im  Hinblick  auf  die  deutsche  Schule;  denn  wenn  wir  auch, 
wie  Fulda  richtig  betont,  nicht  mehr  eine  Schillerfeier  begehen  können 
wie  1859,  wo  das  gewaltige  nationale  Sehnen  nach  Einheit  und  Freiheit 
in  dem  Namen  Schüler  gleichsam  ein  Symbol  fand,  an  das  es  sich  an- 
klammern konnte,  so  sind  wir  doch  heute  weit  davon  entfernt,  das  er- 
reicht zu  haben,  was  Schiller  erstrebte;  und  nicht  blofs  im  Hinblick  auf 
politische  und  soziale  Umwälzungen  einer  nahen  oder  fernen  Zukunft, 
woran  Fulda  denkt,  'wenn  Wogen  und  Stürme  das.  jetzt  friedlich  dahin- 
gleitende Boot  der  herrschenden  Klassen  eines  Tages  wieder  beunruhigen 
und  wenn  das  scheinbar  Feste  ins  Wanken  gerät',  sondern  auf  bedeut- 
samere und  tiefere  Wandlungen,  die  äufserlich  nicht  so  ins  Auge  fallen, 
um  so  mehr  aber  zum  Bewufstsein  erhoben  und  vor  allem  dem  Gefühl  nahe 
gebracht  werden  müssen,  verlangen  wir  eine  Schillerrenaissance,  eine  nicht 
blofs  vermehrte,  sondern  vertiefte  und  aufs  neue  durchgeistigte  Beschäfti- 
gung mit  Schiller :  im  Hinblick  auf  die  ästhetisch-sittliche  Erziehung  un- 
seres Volkes.  Der  verhältnismäfsig  geringe  Ertrag,  den  unsere  heutige 
Übersicht  auf  dem  Gebiete  der  philosophischen  Schillerforschung  zu  ver- 
zeichnen hat,  ist  bedeutsam  dafür,  wie  wenig  man  sich  eigentlich  mit  dem 
abgibt,  worin  die  Ewigkeitsbedeutung  Schillers  ruht.  Gerade  jene  Zeit, 
die  hier  und  da  gewifs  in  echter  und  wahrer  Begeisterung,  vielfach  aber 
sicherlich  auch  mit  jenem  faulen  Enthusiasmus,  von  dem  Goethe  als  von 
'eingepökelter  Herings  wäre'  redet,  dem  grofsen  Landsmanne  zujubelte,  ge- 


1  Vgl.   Schiller    über    die  Weltauffassung    des    ernsten  Realisten,   Schriften 
(Goedeke)  X,  519  f. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  197 

rade  sie  hat  den  einzigen,  der  mit  Schillers  künstlerischen  und  volks- 
pädagogischen Idealen  Ernst  zu  machen  suchte,  hat  Richard  Wagner 
mit  Spott  und  Undank  ohnegleichen  belohnt  und  ihm  ein  Martyrium 
bereitet,  das  oft  Zug  für  Zug  demjenigen  des  gefeierten  Meisters  zu  ver- 
gleichen ist.  Man  versenke  sich  wieder  in  Schillers  Weltanschauung,  die 
nur  in  ihrer  speziellen  Anwendung  auf  einzelne  Fragen  des  gesellschaft- 
lichen Lebens  seiner  Zeit  veraltet,  in  ihrem  Kern  noch  lange  nicht  ver- 
arbeitet, geschweige  denn  überholt  ist,  und  man  wird  finden,  wie  modern, 
ja  wie  weit  unserer  Zeit  vorausgeeilt  dieser  grofse,  tapfere  Mensch,  dieser 
tiefe  und  wahrheitsfreudige  Denker  ist.  Da  kommt  es  denn  nicht  darauf 
an,  ob  wir  in  politischer,  kultureller  und  künstlerischer  Hinsicht  heute 
anderer  Meinung  sind  als  damals,  was  Fulda  ganz  richtig  hervorhebt, 
auch  nicht  auf  die  veränderte  Stellung  der  Frau  oder  auf  unseren  Um- 
gangston, der  dem  Pathos  so  abgeneigt  ist,  dafs  er  den  Künstler  und  den 
Redner  herabzerrt;  auch  nicht  das  kann  uns  in  seinem  Genüsse  beein- 
trächtigen, dafs  wir  heute  entschieden  naturalistischer  geworden  sind  als 
Schiller,  dafs  wir  in  der  dichterischen,  insbesondere  dramatischen  Dar- 
stellung eine  ganz  erheblich  breitere  Heranziehung  der  konkreten  Elemente 
des  Daseins  ästhetisch  aufzunehmen  und  zu  verarbeiten  vermögen  und 
dementsprechend  fordern  als  vor  hundert  Jahren;  das  alles  will  wenig 
sagen ;  so  gut  wir  uns  in  die  Stube  eines  schlesischen  Fuhrmanns  oder  in 
die  Höhlen  russischer  Finsternis  hineinzuversetzen  und,  was  Schiller  zu 
seiner  Zeit  noch  nicht  vermochte,  auch  im  Lebenslauf  der  Enterbten  das 
'grofse,  gigantische  Schicksal'  wiederzufinden  vermögen,  können  wir  solche 
Abstraktionsfähigkeit  auch  ganz  gut  einmal  Schiller  gegenüber  zur  An- 
wendung bringen  und  uns  zu  dem  Ton  der  Genieperiode,  der  Empfind- 
samkeit, des  Klassizismus  zurücktasten  ...  es  lohnt  sich  schon,  einmal 
mit  Schiller  ein  Kind  seiner  Zeit  zu  werden,  weil  er  uns  dann  ebenso  wie 
seine  Zeitgenossen  über  die  eigene  und  scbJiefslich  auch  über  unsere  Zeit 
hinauszuführen  vermag,  bis  dahin,  wo  das  Zeitliche  schwindet  und  das 
Ewige,  soweit  es  dem  Menschen  durch  die  Kunst  zugänglich  gemacht 
werden  kann,  seinen  Glanz  verbreitet. 

Ist  Schiller  eines  derjenigen  Genies,  die  ihrer  eigenen  Zeit  voraus- 
geeilt sind,  dann  hat  jede  neue  Generation  die  Pflicht,  sich  aufs  neue  mit 
ihm  auseinanderzusetzen  und  zu  zeigen,  wie  weit  sie  seinen  Idealen  ent- 
gegengegangen ist;  sie  hat  ferner  mit  den  Hilfsmitteln,  die  sich  die  wissen- 
schaftliche Methode  inzwischen  erobert  hat,  aufs  neue  an  seine  Werke 
heranzutreten  und  zu  versuchen,  ob  sie  diese  nun  besser  versteht  als  eine 
frühere  Zeit;  sie  hat  endlich  diese  neuen  Erkenntnisse  für  die  Schule  und 
das  grofse  deutsche  Publikum  fruchtbar  zu  machen  und  dadurch  Schillers 
Gedanken  zur  erneuten  Überführung  ins  Leben  zu  verhelfen;  das  ist 
Arbeit  genug,  auch  wenn  die  Schillerforscher  nicht  das  Glück  haben  wie 
ihre  Genossen  im  Goethearchiv,  neue  Entdeckungen  im  reichsten  Mafse 
verwenden  zu  dürfen ;  in  Wahrheit  ist  doch  auch  hier  genug  zu  tun ;  wie- 
viel neues  Licht  haben  die  beiden  grofsen  Biographien  von  Minor  und 
Weltrich  über  den  Dichter  und  seine  menschliche  und  künstlerische  Jugend- 
entwickelung  zu  verbreiten  gewufst;  diese  Arbeiten  sind  nicht  abgeschlossen, 
es  scheint,  als  sollten  beide  Werke  Fragmente  bleiben;  da  heifst  es  zu- 
greifen, zum  mindesten  hier  und  da  die  einzelnen  Punkte  aufhellen;  und 
da  Goedekes  grofse  'historisch-kritische  Ausgabe'  weder  dem  Literarhisto- 
riker noch  dem  Textkritiker  heute  völlig  genügen  kann,  so  wäre  eine 
wahrhaft  wissenschaftliche  Schillerausgabe  doch  ein  dringendes  Bedürfnis. 
Leider  ist  aber  bis  heute  von  einer  solchen  nichts  ans  Tageslicht  getreten. 

Immerhin  können  wir  unseren  Lesern  eine  ganze  Reihe  von  wert- 
vollen Ausgaben,  biographischen  und  erklärenden  Schriften  vorlegen,  die 
zur  kräftigen  Wiederbelebung  einer  tätigen  Versenkung  in  Schillers  Werke 
geeignet  sind. 


108  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Die  vornehmste  unter  allen  literarischen  Jubiläum  sgabon  ist  jeden- 
falls die  'Säkularatmgabe'  der  'Sämtlichen  Werke'  Schillers  in  16  Bänden, 
die  unter  Leitung  von  der  Hellensim  Cottaischen  Verlage  erscheint, 
ein  würdiges  Gegenstück  zu  der  dortselbst  veranstalteten  Goetheausgabe. 
Wir  haben  hier  endlich  eine  klassische  Edition  für  das  deutsche  Haus, 
eine  solche,  die  nicht  nur  durch  relative  Vollständigkeit  und  würdigste 
A^lsstattung,  sondern  auch  durch  kritische  Gediegenheit  und  durch  er- 
klärende Beigaben  aus  der  Feder  hervorragender  Fachleute  sich  vor 
allen  uns  sonst  bekannten  auszeichnet.  Freilich  mufs  betont  werden,  dafs 
die  Wissenschaft  aus  dieser  Ausgabe  zwar  reichen  Nutzen  ziehen  kann, 
insbesondere  aus  den  exegetischen  Teilen,  dafs  es  sich  aber  um  eine  spe- 
zifisch wissenschaftliche  Ausgabe,  die  etwa  im  akademischen  Unterricht 
oder  Einzeluntersuchungen  zugrunde  gelegt  werden  könnte,  nicht  han- 
delt; der  Text  ist  zwar  nach  kritischen  Grundsätzen  hergestellt,  entbehrt 
aber  des  kritischen  Apparates;  jene  Vollständigkeit,  wie  sie  Gödekes  frei- 
lich in  Hinsicht  auf  die  Textgestaltung  hier  überholte  Edition  dar- 
bietet, ist  nicht  angestrebt.  Wir  sind  aber  weit  entfernt,  dem  verdienten 
Verfasser  aus  seiner  durch  die  Bestimmung  der  Ausgabe  bedingten  Zu- 
rückhaltung einen  Vorwurf  zu  machen ;  seine  selbständige,  sorgfältige  Ar- 
beit darf  nicht  unterschätzt  werden. 

Bietet  er  uns  doch  gleich  im  ersten  Bande  etwas  ganz  Neues  und 
Eigenartiges  in  der  Anordnung  der  Schillerschen  Gedichte.  Bekanntlich 
rührt  die  Reihenfolge,  an  die  wir  von  Jugend  auf  durch  die  landläufigen 
Ausgaben  gewöhnt  sind,  mit  ihrer  Einteilung  in  'drei  Perioden'  nicht  von 
Schiller  selbst,  sondern  von  Körner  her.  Die  Ausgabe  der  Gedichte  von 
1800  berücksichtigte  die  Jugendlyrik  so  wenig,  dafs  sie  für  einen  späteren 
Herausgeber,  der  minder  hohe  Ansprüche  stellte  als  der  gereifte  Dichter 
selbst,  nicht  bindend  sein  konnte.  Die  zweite  Sammlung  von  1803  nahm 
zwar  eine  grofse  Anzahl  der  ältesten  Arbeiten  auf,  aber  ohne  die  von 
Schiller  beabsichtigte  Umschmelzung.  Aus  beiden  Bänden  wollte  dann 
der  Dichter  für  die  von  seinem  Verleger  Crusius  vorbereitete  'Prachtaus- 
gabe' eine  Auswahl  in  ganz  neuer  Anordnung  treffen.  Die  Drucklegung 
dieser  im  Plane  fertiggestellten  Ausgabe  hinderte  zunächst  Krankheit, 
dann  der  Tod  Schillers  und  späterhin  geschäftliche  Verhältnisse.  So  blieb 
es  denn  in  der  Folgezeit  meistens  bei  Körners  recht  willkürlicher  Anord- 
nung, bis  in  neuerer  Zeit  einzelne  Herausgeber,  u.  a.  der  verdiente  Beller- 
mann, eine  chronologische  Reihenfolge  herzustellen  versuchten.  Schiller 
hatte  nicht  an  eine  solche,  sondern  an  eine  Anordnung  nach  inhaltlichen 
und  ästhetischen  Gesichtspunkten  gedacht.  Wie  feinsinnig  diese  durch- 
geführt ist,  zeigt  der  nun  durch  von  der  Hellen  bewirkte  Abdruck  der 
Gedichte  nach  seinen  Intentionen  in  vier  Büchern,  deren  erstes  und  zweites 
die  Lieder  und  Balladen,  deren  drittes  und  viertes  die  Gedankendichtungen 
bringen.  Im  'Anhang'  führt  von  der  Hellen  alle  diejenigen  Gedichte  auf, 
die  in  den  Sammlungen  von  1800  und  1803  stehen,  aber  in  die  Pracht- 
ausgabe nicht  mit  übergehen  sollten,  so  u.  a.  die  'Phantasie'  und  'Die 
Entzückung  an  Laura',  'Graf  Eberhard  der  Greiner  von  Württemberg', 
'Die  berühmte  Frau'  und  die  Rätsel,  und  endlich  soll  der  uns  noch  nicht 
vorliegende  zweite  Band  als  'Nachlese'  bringen,  was  von  jenen  beiden 
Sammlungen  ausgeschlossen  wurde.  Die  Stücke  aus  der  Aneide  sind  mit 
anderen  Übersetzungen  im  zehnten  Bande  vereinigt.  Wie  weit  die  'Nach- 
lese' reichen  wird,  läfst  sich  heute  noch  nicht  sagen,  doch  hoffen  wir  im 
Interesse  des  Publikums  auf  einen  durch  keine  Prüderie  verkürzten  Ab- 
druck der  'Anthologie'.  Es  ist  hohe  Zeit,  dafs  unsere  gebildeten  Zeit- 
genossen endlich  einmal  den  wahren  Schiller  auch  in  den  Jahren  seiner 
Entwickelung  kennen  lernen.  —  Minder  als  die  Textgestaltung  wird  die 
Erklärung  des  ersten  Bandes  alle  Ansprüche  befriedigen,  was  ja  durch  die 
Natur  der  Sache  gegeben  ist.    Von  der  Hellen  beschränkt  sich  im  grofsen 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  199 

ganzen  auf  die  Entstehungsgeschichte  der  Gedichte,  in  die  er  hier  und  da, 
z.  B.  beim  'Lied  an  die  Freude',  den  Abdruck  unterdrückter  Strophen 
einflicht.  Dafs  der  Erklärer  sich  nicht  in  Einzelheiten  verlieren  wollte, 
ist  wohl  verständlich,  aber  für  die  'Künstler',  für  'Das  Ideal  und  das 
Leben',  auch  für  die  'Glocke'  und  den  'Spaziergang'  mufste  entschieden 
mehr  geboten  werden,  als  hier  geschieht.  Im  allgemeinen  sucht  er  den 
Gehalt  der  bedeutenderen  Nummern  in  ein  kurzes  Schlagwort  zusammen- 
zufassen, wobei  er  meistens,  aber  nicht  immer  glücklich  ist.  Ich  sehe  in 
Leanders  Tat  nicht  eine  Versuchung  der  Götter  wie  von  der  Hellen 
S.  3ü9  (zum  'Taucher') ;  läge  eine  solche  vor,  so  hätten  nach  Schillers  An- 
schauung die  Himmlischen  längst  einschreiten  müssen;  an  Hybris  könnte 
man  höchstens  bei  den  kühnen  Worten  der  Hero  denken ;  das  Verhalten 
des  Jünglings  aber  möchten  wir  lieber  mit  dem  des  Ritters  Toggenburg 
auf  eine  Linie  stellen,  dessen  unüberwindüche  Liebe  unser  Erklärer  S.  311 
wohl  zu  würdigen  weifs. 

Erwähnt  sei  hier  gleich  noch  die  vornehm  ausgestattete  Pantheon- 
ausgabe der  Gedichte,  in  der  Weifsenfeis  eine  im  grofsen  ganzen  an 
Körner  sich  anschliefsende,  doch  mannigfach  erweiterte  und  auch  in  der 
Reihenfolge  oft  selbständige  Auswahl  mit  sehr  knappen  Bemerkungen, 
aber  mit  einer  gehaltvollen,  das  allmähliche  Ausreifen  der  Weltanschauung 
des  Dichters  darstellenden  Einleitung  des  Dichters  veranstaltet  hat.  Eine 
besonders  wertvolle  Beigabe  bilden  die  Reproduktionen  der  Schillerporträts 
von  Graff,  Doris  Stock  und  Weitsch,  ferner  Frau  von  Kalb  von  Tischbein 
und  Lotte  von  Simaaowitz,  endlich  Schillers  Geburtshaus  und  eine  Hand- 
schriftprobe. 

Weilsenf  eis  verdanken  wir  auch  die  Bearbeitung  des  'Don  Carloß' 
in  der  Jubiläumsausgabe.  Eine  sehr  ausführliche  Einleitung  erklärt  das 
Werk  auf  Grund  seiner  Quellen  und  der  gerade  hier  besonders  wichtigen 
Entstehungsgeschichte.  Wir  wüfsten  seiner,  gründliche  Beherrschung  des 
Materials  beweisenden  knappen,  doch  vielsagenden  Zusammenfassung  wenig 
hinzuzufügen;  nur  die  Entwickelung,  die  Marquis  Posa  durchmacht,  die 
dramatische  Bedeutung  des  Widerspruchs  zwischen  seiner  besonnenen  Art 
in  den  ersten  und  seiner  Schwärmerei  in  den  letzten  Akten  scheint  uns 
nicht  ganz  den  Absichten  des  Dichters  gemäfs  erfafst,  und  den  'Briefen 
über  Don  Carlos'  ist  der  Herausgeber  hier  noch  nicht  gerecht  geworden. 
Seinem  Text  legt  Weilsenfels  im  ganzen  die  Fassung  zugrunde,  die  der 
Dichter  selbst  im  'Theater'  (1805  ff.)  letztwillig  drucken  liefs,  geht  aber 
in  Einzelheiten  oft  auf  die  älteren  Drucke  zurück,  besonders  wo  es  sich 
um  willkürliche  Schlimmbesserungen  fremder  Hand  und  um  einzelne,  von 
Schiller  selbst  später  nicht  absichtlich,  sondern  unter  dem  Zwange  des 
von  ihm  zugrunde  gelegten  Abdrucks  von  1801  fallen  gelassene,  ältere 
metrische  Besserungen  handelt.  Seinen  reichen  Anmerkungen  geht  ein 
Abdruck  des  Bauerbacher  Entwurfes  und  der  ersten  Szene  in  der  Thalia- 
fassung von  1785  voraus. 

Weit  kürzer  als  Weifsenf  eis  fafst  sich  Petersen  in  den  Einleitungen 
zum  sechsten  Bande,  der  'Maria  Stuart'  und  die  'Jungfrau  von  Orleans' 
bringt,  doch  geben  die  Anmerkungen  reichlichen  Aufschlufs  über  das  Ver- 
hältnis der  Dramen  zu  den  historischen  Quellen.  Petersen  sieht  in  der 
'Jungfrau'  wie  späterhin  im  'Teil'  eine  Reaktion  des  Temperaments  gegen 
die  im  'Wallenstein'  und  in  der  'Maria'  bewährte  Objektivität  gegenüber 
dem  Stoff.  Ob  wirklich  Schiller  die  Geschichte  der  englischen  Königin 
blofs  mit  der  'reinen  Liebe  des  Künstlers'  behandelt  hat?  Wir  hoffen  an 
anderer  Stelle  nachzuweisen,  dafs  selbst  Wallenstein  gegenüber  die  Kühle, 
mit  der  Schiller  an  seinen  Stoff  herantrat,  allmählich  doch  einer  wärmeren 
Stimmung  Platz  machte;  aber  während  hier  der  Gegenspieler,  Octavio, 
eine  zwar  kleinliche,  aber  doch  im  ganzen  würdige  Rolle  spielt  und  dem 
Helden  gegenüber  in  unseren  Augen  steigt,  sinkt  Elisabeth,  wie  Petersen 


200  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

richtig  darstellt,  vor  uns  von  Stufe  zu  Stufe,  so  dafs  sie  schliefslich  wohl 
äulserlich  den  Sieg  davonträgt  und  sich  rühmen  darf,  'Königin  von  Eng- 
land' zu  sein,  in  Wahrheit  aber  eine  sehr  empfindliche  moralische  Nieder- 
lage erlitten  hat.  Diesen  äufseren  Erfolg  bei  innerem  Zusammenbruch  und 
gänzlichem  Überwiegen  des  egoistisch-leidenschaftlichen  Elements,  gegen 
das  im  Anfang  noch  ein  menschliches  Gefühl  ankämpfte,  fanden  wir  schon 
bei  König  Philipp,  und  meisterhaft  hat  es  später  Hebbel  in  seinem  Hero- 
des  durchzuführen  gewufst.  Auch  das  ist  Tragik,  dies  allmähliche  Hin- 
sinken, gegen  das  der  Träger  des  Charakters  sich  vergeblich  zu  wehren 
strebt.  So  wird  auch  Wallenstein  allmählich  zum  vollendeten  Egoisten. 
Dem  gegenüber  steht  die  Figur  Marias,  die  mit  ihrer  schrittweisen  Läute- 
rung uns  das  Herz  abgewinnt  und  entschieden  auch  dem  Dichter  ab- 
gewonnen hatte.  Zu  ihr  steht  er  anders  als  zu  Wallenstein;  von  diesem 
wenden  sich  die  Getreuesten  und  Edelsten  der  Seinen  allmählich  ab, 
Marias  Getreue  halten  bis  zuletzt  bei  ihr  aus,  ja  in  ihren  Augen  steht 
sie  schliefslich  wie  eine  Heilige  da,  Bie  rechtfertigen  sie  nicht  blofs,  sie 
beten  sie  fast  an  und  lenken  dadurch  unser  eigenes  Herz,  wie  ihre  Worte 
das  Sprachrohr  der  Gefühle  des  Dichters  sind.  Dem  gegenüber  kann  auch 
die  bekannte  Briefstelle  vom  19.  Juni  1799  nicht  verfangen  (Jonas  VI  46) : 
'Meine  Maria  wird  keine  weiche  Stimmung  erregen,  es  ist  meine  Absicht 
nicht,  ich  will  sie  immer  als  ein  physisches  Wesen  halten,  und  das  Pa- 
thetische mufs  mehr  eine  allgemeine  tiefe  Rührung  als  ein  persönliches 
und  individuelles  Mitgefühl  sein.  Sie  empfindet  und  erregt  keine  Zärt- 
lichkeit, ihr  Schicksal  ist,  nur  heftige  Passion  zu  erfahren  und  zu  ent- 
zünden. Blofs  die  Amme  fühlt  Zärtlichkeit  für  sie.'  Das  beweist  nur, 
dafs  Schiller  während  der  ersten  Phase  seiner  Ausarbeitung  (das  Stück 
war  erst  ein  Jahr  später  fertig!)  sich  mit  der  Absicht  einer  möglichst 
objektiven  Darstellung  trug;  der  Schlufs  ist  ihm  augenscheinlich  erst 
später  aufgegangen,  wie  ja  bekanntlich  auch  der  Beschlufs  des  Wallenstein 
seine  tieftragische  Gestaltung  erst  in  der  letzten  Periode  der  Tätigkeit  am 
Werk  erhielt.  Aus  ebendiesem  Grunde  möchte  ich  hinsichtlich  der  'Jung- 
frau von  Orleans'  das  Böttigersche  Zeugnis  nicht  so  ohne  weiteres  ver- 
werfen, wonach  Schiller  zunächst  im  Anschlufs  an  die  Geschichte  Johannas 
Feuertod  in  Rouen  erwogen  hätte.  Freilich,  'Schillers  Art  war  es  nicht, 
ohne  entschiedenen  Plan  ins  Blaue  hinein  zu  arbeiten'  (Petersen,  S.  21), 
wohl  aber  hatte  er  meist  mehrere  Pläne  zur  Verfügung,  die  einander  nicht 
selten  kreuzten.  Hier  handelte  es  sich  nur  um  den  Eindruck  auf  den 
Zuschauer,  nicht  zwar  einen  gemein  theatralischen,  sondern  um  die  'In- 
okulation' des  grofsen  Schicksals,  und  dieser  Zweck  verlangte  das  Durch- 
kämpfen der  Heldin  bis  zur  freiwilligen  Anerkennung  des  Unumgänglichen, 
bis  zu  der  von  Schiller  geforderten  'moralischen  Selbstentleibung',  da  die 
Heldin  mit  freundlich  dargebotenem  Busen  das  Geschofs  vom  sanften 
Bogen  der  Notwendigkeit  empfängt.  Das  konnte  sie  dem  Holzstofs  gegen- 
über so  gut  bewähren  wie  angesichts  des  Todes  im  Kampfe.  Was  den 
Dichter  dennoch  abschreckte,  war  wohl  ein  anderes.  Die  Gerichte,  denen 
sich  ein  Karl  Moor  oder  ein  Präsident  Walter  überliefern,  bleiben  hinter 
der  Szene  und  dürfen,  so  erbärmlich  uns  die  äufsere  Weltordnung  er- 
scheinen mag,  gegen  die  der  Räuber  und  Ferdinand  angekämpft  haben, 
doch  immer  auf  Respekt,  auf  innere  Anerkennung  bei  uns  rechnen,  sie 
sind  die  irdischen  Vollstrecker  des  allmächtigen  Schicksals,  gegen  das  die 
Helden  in  die  Schranken  getreten  sind.  Der  englische  Gerichtshof  aber, 
vor  dem  Johanna  erscheinen  sollte,  mufste  notwendig  widerwärtig  und 
abstofsend  wirken,  und  eine  Unterwerfung  unter  seinen  Spruch  hätte  dem 
heroischen,  erhebenden  Abschlufs  Eintrag  getan ;  gerade  die  Ahnung  eines 
höheren  Schicksals,  mit  dem  sich  die  Heldin  identifizieren  sollte,  wäre 
doch  durch  eine  derartige  theatralische  Anschauung  unterbunden  worden.  — 
Petersen   legt  der  'Maria  Stuart'  den   ersten  Druck  (1801)  zugrunde,  be- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  201 

rücksichtigt  aber  auch  die  älteren  Bühnenmanuskripte  und  die  englische 
Übersetzung  von  Mellish,  leider  auch  diese  ohne  Kenntlichmachung  der 
betreffenden  Abweichungen.  Für  die  'Jungfrau'  konnte  der  Herausgeber 
das  für  die  Neuausgabe  im  'Theater'  (1805)  von  Schiller  eigenhändig  und 
sehr  stark  durchkorrigierte  Exemplar  des  ersten  Druckes  benutzen. 

Für  die  Herausgabe  der  Schillerschen  Übersetzungen  (Band  IX  und 
X)  war  Albert  Kost  er,  der  Darsteller  'Schillers  als  Dramaturgen',  der 
berufene  Mann.  Die  Einleitungen  geben  im  grofsen  ganzen  die  Resultate 
jenes  gröfseren  Werkes  wieder.  Auch  heute  noch  steht  Köster  auf  dem 
Standpunkte,  dafs  Schiller,  der  in  seiner  Jugend  Macbeth  'teuflisch'  nannte 
(Schriften  I,  'M\),  späterhin  einen  'edlen  Feldherrn'  in  ihm  sah,  'der  nur 
der  Versuchung  der  Hexen  und  seines  Weibes  erliegt'.  Ein  solcher  Held 
wäre  in  der  ganzen  Schillerschen  Dramatik  unerhört,  und  gerade  die  Frei- 
heit, die  sich  Schiller  in  ethopoetischer  Hinsicht  allen  seinen  Vorlagen 
gegenüber  nimmt  (trefflich  hat  das  Köster  selbst  für  die  'Turandot'  nach- 
gewiesen !),  hätte  am  wenigsten  hier  eine  heteronomische  Beeinflussung 
eines  Mannes,  der  sich  doch  im  Kampfe  seiner  Haut  zu  wehren  weifs,  zu- 
gestanden. Auch  von  Wallenstein  heilst  es,  zu  schwer  sei  für  sein  schlimm 
verwahrtes  Herz  die  Versuchung  gewesen,  aber  das  schlimm  verwahrte 
Herz  ist  das  erste  und  die  Versuchung  das  zweite;  auch  für  Gestalten 
wie  Max  Piccolomini  kommt  es  zu  einer  Trübung  ihrer  seelischen  Har- 
monie, aber  sie  bleibt  vorübergehend,  und  sie  finden,  mögen  sie  auch 
physisch  zugrunde  gehen  oder  des  Lebens  überdrüssig  werden,  doch 
moralisch  ihr  Gleichgewicht  wieder.  Zu  diesen  Naturen  gehört  Wallen- 
stein nicht,  der  sich  selber  sagt,  dafs  er  nicht  ohne  Wunsch  durchs  Leben 
gehen  könne,  dafs  seine  Natur  ihn  zur  Erde  herniederziehe,  unter  deren 
Oberfläche  schlimm  geartete  Dämonen  hausen.  Gewifs  verfolgt  er  edle 
Zwecke,  aber  dazu  bedarf  er  der  Macht,  und  diese  'Macht  ist's,  die  sein 
Herz  verführt'.  Genau  so  steht  es  mit  Macbeth.  Die  Versuchung  ist 
eben  nicht  das  Ausschlaggebende,  der  letzte  Grund  des  Unheils  liegt  im 
eigenen  Charakter,  und  um  das  so  klar  und  deutlich  als  möglich  zu 
machen,  hat  Schiller  die  Hexenszene  am  Eingang  so  bedeutsam  erweitert. 
Hier  wird  dreimal  ganz  klar  ausgesprochen,  dafs  es  auf  den  Menschen 
selbst,  auf  seine  innerste  Anlage  ankomme,  wie  er  sich  der  Prophezeiung 
gegenüber  verhalten  werde.  Einen  Banquo  läfst  die  Wahrsagung  ziemlich 
kalt,  Macbeth  wird  aufs  tiefste  von  ihr  betroffen,  weil  sie  an  seinen  Lebens- 
nerv rührt.  Schon  lange  hat  er  von  Herrscherwürde  geträumt,  nun  scheint 
sich  die  Erfüllung  darzubieten.  Die  Tragik  liegt  aber  bei  ihm  wie  bei 
Wallenstein  und  der  Königin  Elisabeth  darin,  dafs  er,  zum  mindesten  nach 
Schillers  Auffassung,  keine  Renaissancenatur  im  Sinne  der  Übermenschen 
der  italienischen  Dynasten  ist,  dafs  ihm  das  robuste  Gewissen  fehlt,  worüber 
Richard  III.  verfügt.  Was  er  um  seiner  Leidenschaft  wegen  tun  mufs, 
das  bereitet  ihm  aus  sittlichen  Gründen  Schauder,  und  es  bedarf  eines 
gewaltsamen  Anlaufs,  um  über  diese  Bedenken  hinwegzukommen.  Dieser 
Anlauf  nun  erfolgt  auch  hier  auf  ganz  parallele  Weise  wie  bei  Wallen- 
stein :  der  energische  Abfall  zum  Egoismus  und  zur  Sinnlichkeit,  die  Um- 
wandlung zum  krassen  Tyrannen  fällt  mit  der  Hingabe  an  den  Aber- 
glauben, an  das  bewufste  Erforschenwollen  des  Unergründlichen  zusammen ; 
hier  sucht  Macbeth  selbst  die  Hexen  auf,  um  bei  ihnen  Rats  zu  holen ; 
und  getreu  dem  Wink  ihrer  Meisterin,  die  schon  böse  darüber  ist,  dafs 
sie  einem  schwachen  Menschen  Ungeheures  zugemutet  haben,  verblenden 
sie  ihn  nun  bis  zur  Bewufstlosigkeit  und  lassen  ihn  auf  diese  Weise  in 
sein  Verderben  rennen.  Wie  Wallenstein,  ficht  dieser  Macbeth  zuletzt 
blofs  noch  um  sein  äufseres  nacktes  Leben;  sein  Herrschertrieb  ist  zum 
Selbsterhaltungstrieb  herabgesunken.  'Betrüglich'  sind  die  Wahrsagungen 
der  Hexen  nicht,  insofern  sie  sich  nachher  als  falsch  herausstellten,  son- 
dern insofern  sie  von  dem  abergläubischen  und  durch  Leidenschaft  ver- 


202  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

blendeten  Menschen  als  Bestimmung  aufgefaist  werden,  die  er  mit  irdischen 
Mitteln  zu  verwirklichen  habe.  Banquo  wartet  ab,  was  das  Schicksal 
bringt,  und  strebt  der  Königswürde  für  seine  Nachkommen  nicht  nach; 
'mit  dem  Geschick  in  hoher  Einigkeit'  erreicht  er  ohne  Eingriff  in  den 
natürlichen  Verlauf  der  Dinge  das  in  Aussicht  gestellte  Ziel.  —  Wenn 
anderseits  Köster  meint,  der  Wortreichtum  der  Schillerschen  Bearbeitung 
gegenüber  dem  Original  sei  darin  begründet,  dafs  es  Schiller  'häufig  genug 
Selbstzweck  war,  schöne  Verse  zu  dichten,  für  die  erstrebte  neue  Kunst 
der  Bühnendeklamation',  so  möchten  wir  auf  den  weiter  unten  zu  Bartels' 
Aufsatz  herangezogenen  Ausspruch  des  Dichters  über  die  Notwendigkeit 
einer  ausgiebigeren  Diktion  verweisen. 

Auf  die  treffliche  Einleitung  zu  'Turandot',  die  alles  für  das  weitere 
Publikum  zur  literarhistorischen  Orientierung  Unentbehrliche  mit  muster- 
gültiger Knappheit  bringt  und  Gozzis  dichterische  Eigenart  und  Technik 
scharf  beleuchtet,  sei  nur  mit  dem  Ausdruck  des  Dankes  verwiesen.  Was 
die  'Phädra'  angeht,  so  hätten  wir  gern  eine  Erklärung  dafür  gehört, 
warum  Schiller  unter  den  französischen  Klassikern  allein  Racine  von  der 
sonst  allgemeinen  Verurteilung  ausnahm;  die  bei  aller  formellen  Gebun- 
denheit doch  unverkennbar  realistische  Darstellung  des  emotionellen  Lebens, 
die  diesen  Dramatiker  vor  dem  descartisch  vernunftkühlen  Corneille  aus- 
zeichnet, mochte  wohl  den  Ausschlag  geben.  Das  meint  wohl  Karoline 
Wolzogen  mit  ihren  auch  bei  Köster  angeführten  Worten:  'Diese  grol'se 
Darstellung  der  Menschheit  in  ihrer  Allgemeinheit  und  ewigen  Natur- 
wahrheit ergriff  uns  im  tiefsten  Inneren  und  entzückte  uns.'  Leider  .geht 
Köster,  der  in  den  Einleitungen  zu  den  euripideischen  Stücken  die  Über- 
setzertechnik Schillers  so  eingehend  und  klar  erörtert,  auf  die  Auffassung 
der  griechischen  Figuren  nicht  ein.  Die  Anmerkungen  zur  Tphigenia'  hat 
er  in  seinem  reichen  Kommentar  mit  verarbeitet,  sie  sollen  aufserdem  noch 
einmal  unter  den  'Vermischten  Schriften'  im  Zusammenhang  gebracht 
werden ;  wie  gern  hätten  wir  aus  der  Feder  des  feinsinnigen  Herausgebers 
eine  Auseinandersetzung  über  den  Charakter  des  Agamemnon  usw.  ge- 
lesen ! 

Leider  reicht  der  hier  zur  Verfügung  stehende  Raum  nicht  zu,  um 
einem  so  inhaltreichen  Werke  wie  dem  Marbacher  Schillerbuch,  das  den 
Reigen  der  Forschungen  billig  eröffnet,  in  allen  seinen  Teilen  gerecht  zu 
werden.  Für  die  prachtvolle  Ausstattung  haben  wir  unseren  Dank  wohl 
der  Verlagsbuchhandlung  abzustatten,  die  auch  für  eine  im  ganzen  treff- 
lich gelungene  Wiedergabe  einer  sehr  grofsen  Anzahl  von  Porträts  Schillers 
und  der  Seinigen,  von  Abbildungen  seiner  Wohnstätten  usw.  Sorge  ge- 
tragen hat.  Hier  nur  ein  kurzer  Überblick  über  das  Wichtigste  des  Ge- 
botenen mit  einzelnen,  mehr  gelegentlichen  Bemerkungen.  Erich  Schmidt 
teilt  einen  Brief  Humboldts  an  Frau  von  Stael  über  Schillers  Tod  mit, 
Alexander  von  Gleichen-Rufswurm  berichtet  über  das  'Schillermuseum 
zu  Greifenstein',  Baumeister  versucht  'Schillers  Ideen  vor  seinem 
Dichterberuf'  zu  entwickeln.  Über  das  Thema  eines  der  bedeutendsten 
Beiträge:  'Freiheit  und  Notwendigkeit  in  Schillers  Dramen'  von  Theo- 
bald  Ziegler,  habe  ich  mich  inzwischen  in  einem  eigenen  Buche  ge- 
äufsert.  Feinsinnig  verfolgt  Walzel  die  Andeutungen  über  bildende 
Kunst  in  Schillers  Werken.  'Nicht  seine  Begabung,  nicht  eine  anregungs- 
reiche künstlerische  Umgebung  hat  Schiller  dem  Reiche  der  Plastik  und 
Malerei  zugeführt.  Und  doch  möchten  wir  nicht  missen,  was  innerhalb 
seines  Schaffens  diesem  Reiche  angehört.  Der  Philosoph  Schiller  hat  hier 
Anschauungen  gefunden  für  seine  Lieblingsideen ;  der  Phantasie  des  Dich- 
ters ist  diese  Anschauung  eine  Quelle  geworden,  aus  der  sie  gern  schöpft. 
Dem  Dramatiker,  der  von  einer  musikalischen  Stimmung  ausging,  er- 
standen durch  die  bildende  Kunst  plastische  Ruhepunkte  für  die  Melodie 
seiner  tragischen  Muse.'    Mit  besonderer   Freude  Degrüfsen   wir  die  Bei- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  203 

träge  der  amerikanischen  Germanisten.  Da  spricht  M.  Dexter  Learned- 
Philadelphia  über  'Schillers  literarische  Stellung  in  Amerika',  F.  Richter- 
St.  Louis  über  den  Schillerverein  in  Amerika  und  Otto  Schneider- 
Evanston  über  'Schiller  als  Bannerträger  des  deutschen  Gedankens  in 
Amerika';  ganz  kurz,  aber  bedeutsam  sind  die  Ausführungen  Franckes 
über  'die  innere  Verwandtschaft  von  Naturalismus  und  Symbolismus'. 
'Sowohl  Naturalismus  wie  Symbolismus  sind  Ausflüsse  einer  intensiv  ge- 
steigerten Subjektivität,  eines  fieberhaft  gespannten  Interesses  an  dem 
Innenleben.'  Leichter  wiegt  P fisters  Aufsatz  über  'Schiller  als  Kriegs- 
mann' oder  ein  Beitrag  wie  die  'Teilstudien'  Auerbachs,  die  Bettelheim 
aus  dem  Nachlafs  abdruckt.  Biographische  Ausführungen  geben  Kraufs, 
'Friedrich  Schiller  in  der  Ludwigsburger  Lateinschule',  H.  Fischer, 
'Schiller  und  die  Seinigen  bei  Hermann  Kurz',  Pfeiffer  über  'Schiller 
in  der  Karlsschule';  auch  Weizsäcker  über  'Christophines  Schiller bilder' 
gehört  dahin.  Für  uns  bedeutsamer  sind  die  literargeschichtlichen  Aus- 
führungen. Geschickt  führt  Kilian  ('Don  Carlos  auf  der  Bühne')  seine 
aus  der  Reclamschen  Bibliothek  bekannte,  ausgezeichnete  Don  Carlos- 
Bearbeitung  ein.  Weniger  spricht  uns  der  Aufsatz  von  Westen  holz 
'Wallenstein  und  Macbeth'  an,  der  bei  weitem  nicht  so  tief  in  das  psycho- 
logische Problem  des  'Wallenstein'  eindringt  als  die  obenerwähnte  Arbeit 
von  Ziegler.  L.  Geigers  Aufsatz  'Schiller  und  Diderot'  ist  wichtig  durch 
seine  Vergleichung  zwischen  der  Erzählung  'Merkwürdiges  Beispiel  einer 
weiblichen  Rache'  mit  dem  Original,  weniger  durch  den  kurzen  Hinweis 
auf  die  verschiedene  Gestaltung  des  gleichen  Stoffes,  des  Motivs  der 
'Bürgschaft'  bei  beiden  Dichtern.  Adolf  Frey  weist  die  Beziehung  zwischen 
'Schiller  und  Matthisson',  insbesondere  im  'Spaziergang'  nach,  verfolgt 
auch  Spuren  der  Einwirkung  des  Lyrikers  bis  in  den  'Teil'  hinein,  dessen 
Held  dem  von  jenem  verherrlichten  Berufe  des  Gemsjägers  obliegt.  Treff- 
lich wägt  er  in  einer  Analyse  des  Schweizerdramas  die  durch  die  fest- 
stehenden Motive  bedingten  Schwierigkeiten  ab,  die  sich  der  dramatischen 
Komposition  in  den  Weg  stellten  und  bei  dem  eiligen  Abschlufs  des  Werkes 
sich  nur  um  so  fühlbarer  machten.  Sehr  wertvoll  für  den  deutschen 
Unterricht  sind  seine  Ausführungen  über  Gefsler,  minder  zwingend  er- 
scheinen seine  Bedenken  gegen  den  Schlufs  der  Eingangsszene.  Inter- 
essante Studien  über  'Schillers  Balladentechnik'  bietet  Bulthaupt,  und 
Litzmann  erfafst  'Schillers  Balladendichtung'  als  Ganzes,  um  auf  ihren 
tiefen  Gehalt  und  ihre  formale  Vollendung  hinzuweisen.  Mit  Recht  be- 
tont er  den  hohen  künstlerischen  Wert  dieser  kleineren  Werke  des  Dich- 
ters und  verwahrt  sich  gegen  ihre  handwerks-  und  gewohnheitsmäfsige 
Behandlung  in  der  Schule.  'Die  Folge  ist,  dafs  die  Jungen  alle  Freude 
und  allen  Respekt  vor  dem  Kunstwerk  verlieren  und  mit  Schillerschen 
Balladen  den  Begriff  und  die  Vorstellung  von  unerträglicher,  moralisieren- 
der Pedanterie  und  höchstens  von  einer  Reihe  schön  klingender  Verse 
verbinden  lernen.  Wenn  wir  so  fortfahren,  so  werden  wir  Schiller  uns 
und  unseren  Kindern  bald  völlig  verleidet  haben.  Hier  wäre  ein  War- 
nungsruf, videant  consules,  am  Platze.  Denn  es  handelt  sich  um  einen 
geistigen  Raubbau,  der  uns  unermefslichen  Schaden  tut.'  Diese  Gefahr 
können  Aufsätze,  wie  die  beiden  zuletzt  genannten,  die  sich  teilweise  mit- 
einander berühren,  gar  wohl  vermindern,  und  darin  beruht  der  Wert 
solcher  Mahnrufe,  dafs  die  Meister  der  Wissenschaft  selbst  Hand  anlegen, 
um  die  Zustände  zu  bessern.  Nur  gilt,  was  Litzmann  von  den  Balladen 
sagt,  noch  mehr  von  den  Dramen.  Was  uns  not  tut,  ist  ein  wissenschaft- 
lich exakt  fundierter  und  von  künstlerischem  Nachempfinden  getragener 
grofser  Gesamtkommentar  zu  Schillers  Werken  —  eine  Arbeit,  um  deren 
Anbahnung  und  Förderung  sich  unsere  Akademien  im  Jubiläumsjahre 
verdient  machen  dürften! 

Wertvoll   durch  die  mutige  Zerstörung  altererbter  Irrtümer  ist  auch 


204  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

der  Aufsatz  von  Otto  Harnack  über  'Schiller  und  Herder'.  Vielleicht 
geht  er  etwas  zu  weit  in  der  Behauptung,  Weimar  sei  zur  Klassikerzeit 
überhaupt  keine  literarische  Stadt  gewesen,  aber  das  kann  man  ihm  ohne 
weiteres  zugeben:  'Was  die  grofsen  Dichter  anzog  und  festhielt,  waren 
die  Persönlichkeiten  des  Herzogs  und  seiner  Mutter,  die  es  verstanden, 
die  verschiedensten  Individualitäten  zu  fesseln ;  für  sich  aber  lebte  jede 
dieser  Individualitäten  isoliert,  wohl  fanden  sie  sich  bisweilen  für  eine 
Strecke  Wegs  mit  einer  anderen  zusammen,  aber  nur  soweit  es  der  Gang 
des  eigenen  Geistes  ihr  wünschenswert  machte.  Selbst  mit  dem  spät  ge- 
schlossenen Freundschaftsbund  Schillers  und  Goethes  steht  es  nicht 
anders.'  Und  ausgezeichnet  ist  die  Auseinandersetzung  über  die  schliefs- 
liche  Trennung  Herders  von  der  Horengenossenschaft,  der  er  nur  schein- 
bar eine  Zeitlang  angehört  hatte;  vielleicht  hätte  Harnack  hier  die  Farbe 
etwas  kräftiger  auftragen  und  auch  der  weiblichen  Einflüsse  gedenken 
sollen,  die  hier  im  Spiele  waren,  immerhin  war  es  gut,  den  Nachdruck 
darauf  zu  legen,  dafs  bei  dem  grollenden  Ausweichen  Herders  weniger 
kleinliche  Verbitterung  als  ein  klares  Bewufstsein  davon  entscheidend  war, 
dafs  jede  der  grofsen  Naturen  ihre  eigenen  Wege  ging;  das  Ziel  mochte 
das  gleiche  sein,  die  Weggenossen  aber  konnten  nicht  Schulter  an  Schulter 
dahinsteuern.  Dagegen  möchte  ich  nicht  gleich  für  die  erste  Weimarer 
Zeit  und  besonders  für  die  Jenaer  Jahre  das  Verhältnis  der  beiden  Männer 
so  kühl  auffassen,  wie  Harnack  tut.  Dieser  übersieht  augenscheinlich 
manches  wichtige  Dokument,  wie  den  Brief  (Jonas  Nr.  271)  an  Körner 
vom  15.  Mai  1788:  'Ich  habe  mich  mit  Herder  über  historische  Schrift- 
stellerei,  Magnetismus  und  verborgene  physische  Kräfte  unterhalten.  Er 
ist  sehr  für  die  letzteren  ...  so  sagt  er  von  sich,  dafs  ihm  das  erste  Zu- 
sammenkommen mit  einem  fremden  Menschen  ein  dunkles  physisches 
Gefühl  erwecke,  ob  dieser  Mensch  für  ihn  tauge  oder  nicht.  Herder  neigt 
sich  äufserst  zum  Materialismus,  wo  er  nicht  schon  von  ganzem  Herzen 
daran  hängt.  Sein  letzter  Teil  der  Ideen  wird,  wie  er  mir  sagt,  nicht 
herauskommen.  Fertig  ist  er  längst;  warum  er  damit  zurückhält,  mochte 
ich  ihn  nicht  fragen,  weil  es  wahrscheinlich  seine  verdriefsliche  Ursache 
hat.  Vielleicht  kann  ich  ihn  im  Manuskript  von  ihm  erhal- 
ten, und  dann  sollst  Du  auch  dabei  zu  Gaste  sein.  Ich  bin  willens, 
Herdern  diesen  Sommer  sozusagen  zu  verzehren.'  Diese  Stelle 
zeigt,  dafs  von  einer  gegenseitigen  Interesselosigkeit,  wie  sie  Harnack 
S.  75  konstatiert,  keine  Rede  sein  kann ;  und  dafs  Schiller  die  'Ideen' 
nicht  blos  gelesen,  sondern  auch  für  seine  eigenen  historischen  Arbeiten 
benutzt  habe,  hoffe  ich  in  Kürze  an  anderer  Stelle  nachweisen  zu  können. 
Auch  kann  man  nicht  Herder  so  ohne  weiteres  als  Kulturhistoriker, 
Schiller  als  vorwiegend  politischen  Geschichtschreiber  hinstellen,  wie  das 
S.  76  geschieht.  Auch  Schiller  hat  das  allgemeine  Kulturelement  theo- 
retisch und  praktisch  scharf  betont.  Freilich  hat  Harnack  sehr  recht 
damit,  dafs  Schiller  immer  wieder  bei  der  Herausarbeitung  der  grofsen 
Menschen  anlangt,  die  eigentlich  die  Geschichte  'machen',  und  ebenso 
klar  legt  unser  Berichterstatter  den  Grundunterschied  der  Weltanschauung 
dar,  der  Herder  von  den  beiden  grofsen  Freunden  trennte.  Herder  strebt 
nach  Humanität  an  sich,  Goethe  und  Schiller  meinen,  'dafs  jede  Tätigkeit 
nur  dadurch  zu  ihrer  höchsten  Stufe  gelange,  dafs  sie  Selbstzweck  wird'; 
wir  werden  sagen  können :  Herder  fafst  die  Humanität  in  realistischem, 
die  beiden  Klassiker  in  nominalistischem  Sinn  auf;  es  geht  ihnen  mit 
ihr  wie  Luther  mit  der  Religion  und  dem  Christentum,  sie  ist  nicht  eine 
Sache  für  sich,  sondern  gleichsam  eine  Methode,  andere  Sachen  anzu- 
fassen; der  Künstler,  der  Gelehrte,  der  Staatsmann,  sie  alle  haben  auf 
ihrem  besonderen  Betätigungsfelde  an  der  Herausarbeitung  des  allgemein 
Menschlichen  mitzuarbeiten;  dabei  läfst  sich  klar  und  scharf  etwas  den- 
ken; Herders  Begriff  der  Humanität  aber  schwebt  in  der  Luft  und  ist 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  205 

im  Grunde  genommen  von  seiner  eigenen  Individualität  abhängig;  je 
enger  und  kleiner  diese  allmählich  wurde,  um  so  mehr  mulste  er  an  Wirk- 
samkeit ins  Grofse  einbüfsen. 

Weniger  zufrieden  sind  wir  mit  dem  Beitrage  Adolf  Bartels'  über 
'Schillers  Theatralismus';  der  Verfasser  verwahrt  sich  gegen  den  Vorwurf 
der  Schillerfeindschaft ;  wir  wollen  diesen  nicht  aufs  neue  erheben,  mag 
Schiller  befeinden,  wer  will  und  sich's  zutraut.  Wenn  aber  Bartels  in 
der  Stelle  seiner  Literaturgeschichte,  die  er  hier  ausschreibt,  die  Behaup- 
tung aufstellt :  'Ich  bin  allerdings  der  Ansicht,  dafs  das  spezifisch  Schiller- 
sche  (im  Drama,  wohlverstanden,  besser  noch  in  der  dramatischen  Ge- 
staltung) überwunden  werden  mufs,  ja  längst  überwunden  ist,  da  alle 
Schillerianer  von  Auffenberg  bis  Wildenbruch  in  der  Hauptsache  ge- 
scheitert sind'  —  dann  müssen  wir  doch  sein  Verständnis  billig  einiger- 
mafsen  anzweifeln;  denn  alle  Formen  der  Schillerschen  Dramatik  fliefsen 
aus  dem  Bestreben  hervor,  seine  von  Bartels  höchlichst  gepriesene  Welt- 
anschauung an  dem  bestimmten  dramatischen  Problem,  das  er  bearbeitet, 
zum  Ausdruck  zu  bringen.  Weil  aber  Schiller  zwar  überkommene  For- 
men verschiedener  Art  zur  Verfügung  hatte,  seine  Weltanschauung  aber 
neu  und  einzig  war,  so  sehen  wir  ihn  in  der  Form  bald  hier,  bald  dort 
tastende  Versuche  wagen,  so  dafs  von  einem  'spezifisch  Schillerschen'  in 
der  dramatischen  Gestaltung  eigentlich  kaum  die  Rede  sein  kann.  Bartels 
wirft  nun  Schiller  'Theatralismus'  vor,  d.  h.  den  'blofsen  Schein  an  Stelle 
des  das  Leben  spiegelnden  Scheins,  im  tiefsten  Grunde  natürlich  das  Un- 
vermögen, das  Leben  wahrhaft  zu  gestalten,  dann  natürlich  auch  das  quasi 
geschäftliche  Raffinement,  das  die  durch  das  Theater  mögliche  Wirkung 
genau  studiert  hat  und  nun  statt  des  wirklichen  Gewitters  das  brillante 
Feuerwerk  abgibt.'  Natürlich  stellt  Schiller  diese  Unarten  nicht  in  ihrer 
äufsersten  Form  dar,  und  'a  priori  verwerflich  ist  sie  ja  nicht,  so  wenig 
wie  die  Rhetorik,  es  kommt  auf  den  Gebrauch  an.'  Ich  glaube  aber,  wenn 
der  Theatralismus  wirklich  den  blolsen  Schein  .statt  des  ästhetischen  Scheins 
verwendet,  dann  ist  er  ein  für  allemal  vom  Übel  und  darum  verwerflich. 
Also  entweder  hat  Schiller  auf  den  blolsen  Schein  hin  gearbeitet  oder 
nicht,  das  ist  die  Kernfrage.  Wer  seinen  Briefwechsel  aufmerksam  durch- 
gearbeitet hat,  wer  seine  Prosaschriften,  insbesondere  die  ästhetischen  Briefe, 
wirklich  kennt,1  wird  anderer  Meinung  sein  und  hohe  Achtung  vor  Schillers 
künstlerischem  Ernst  davontragen ;  wer  in  seinen  Dramen  Wort  für  Wort 
nachwägt,  der  wird  jedenfalls  kaum  in  die  Lage  kommen,  irgendwo  auch 
nur  die  Ansätze  zu  einer  blofs  sinnlichen  oder  Wirkung  um  ihrer  selbst 
willen  nachzuweisen,  die  nicht  aus  dem  dramatischen  Gefüge  mit  Not- 
wendigkeit hervorginge.  Freilich,  aus  dem  dramatischen  Gefüge  im  Sinne 
Schillers.  Und  ihm  ist  es  ja  vor  allem  darum  zu  tun,  in  dem  Einzel- 
schicksal, das  sich  da  vor  uns  abspielt,  das  Ewige,  Bleibende,  Natur- 
gemäfse  hervorzuheben ;  wer  dies  seinen  Hörern  zum  Bewufstsein  bringen 
will,  braucht  mit  Rücksicht  auf  das  tiefe  Verständnis,  das  unser  Publikum 
dem  Gehalt  eines  Dramas  entgegenzubringen  pflegt,  szenische  und  Aus- 
drucksmittel, die  an  und  für  sich  betrachtet  wohl  den  Eindruck  reiner 
Theatralik  machen  können.  Aber  Bartels  glaubt,  aus  einem  Briefe  Schillers 
das  Geständnis  seiner  theatralischen  Arbeitsweise  herauslesen  zu  können. 
Ist  das  richtig,  dann  können  wir  nichts  Besseres  tun,  als  Schillers  Dramen 
sofort  aus  dem  Lehrplan  unserer  Schulen  herauszustreichen:  Theatralik 
bietet  unser  öffentliches  Leben  genug,  wir  brauchen  uns  nicht  auch  noch 
in   der  Schule  mit  Phrasenschwindel  herumzuschlagen    und  ihn   gar  als 

1  Vgl.  über  den  Scheinbegriff  besonders  den  sechsundzwanzigsten  Brief,  z.  B. : 
'Nur,  soweit  er  aufrichtig  ist  (sich  von  allem  Anspruch  auf  Realität  ausdrücklich 
lossagt),  und  nur,  soweit  er  selbständig  ist  (allein  Beistand  der  Realität  entbehrt), 
iat  der  Schein  ästhetisch.' 


20G  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Bildungsmittel  zu  verwenden.  Nun  lautet  die  Stelle,  in  der  Schiller  einen 
Vergleich  zwischen  sich  und  Goethe  zieht,  folgendermal'sen  (Jonas  II,  238): 
'Er  hat  weit  mehr  Genie  als  ich  und  daher  weit  mehr  Reichtum  an  Kennt- 
nissen, eine  sicherere  Sinnlichkeit  und  vor  allem  diesem  einen  durch 
Kunstkenntnis  aller  Art  geläuterten  und  verfeinerten  Kunstsinn,  was  mir 
in  einem  Grade,  der  ganz  und  gar  bis  zur  Unwissenheit  geht,  mangelt. 
Hätte  ich  nicht  einige  andere  Talente,  und  hätte  ich  nicht  soviel 
Feinheit  gehabt,  diese  Talente  und  Fertigkeiten  in  das  Gebiet  des  Dramas 
hinüberzuziehen,  so  würde  ich  in  diesem  Fache  gar  nicht  neben  ihm  sicht- 
bar geworden  sein.  Aber  ich  habe  mir  eigentlich  ein  eigenes  Drama  nach 
meinen  Talenten  gebildet,  welches  mir  eine  gewisse  Excellence  darin  gibt, 
eben  weil  es  mein  eigen  ist.  Will  ich  in  das  natürliche  Drama  ein- 
lenken, so  fühle  ich  die  Superiorität,  die  er  und  viele  andere  Dichter  aus 
der  vorigen  Zeit  über  mich  haben,  sehr  lebhaft.'  Es  erhebt  sich  sofort 
die  Frage,  welcher  Art  denn  nun  diese  besonderen  Talente  Schillers  sein 
mögen,  und  Bartels  ist  alsbald  mit  der  Auskunft  bereit,  das  sei  'doch  nur 
so  zu  deuten,  dafs  der  Dichter  sich  der  ihm  aus  seinem  Talent  erwachsen- 
den Notwendigkeit,  im  Drama  bisweilen  das  theatralische  Surrogat  für 
die  wahrhaft  dramatische  Darstellung  zu  geben,  selber  bewufst  war.'  Das 
heifst  interpretieren!  Nun  geht  aber  alles  rein  Theatralische  allemal  aufs 
Sinnliche,  und  gerade  darin  hatte  doch  Schiller  einen  Goethe  als  superior 
anerkannt!  Wenn  nur  Bartels  die  nächsten  paar  Zeilen  hinzugezogen 
hätte,  so  wäre  er  auf  den  Kern  der  Sache  gestofsen.  'Denn  ohne  ein 
grofses  Talent  von  der  einen  Seite  hätte  ich  einen  so  grofsen  Mangel  von 
der  anderen  nicht  so  weit  bringen  können,  als  geschehen  ist,  und  es  über- 
haupt nicht  so  weit  bringen  können,  um  auf  Goethe  zu  wirken.'  Und 
darauf  kam  es  ihm  vor  allem  an.  Wenn  Richard  Wagner  einmal  im  Hin- 
blick auf  Beethoven  sagt,  der  Deutsche  wolle  seine  Musik  nicht  blofs 
fühlen,  er  wrolle  sie  auch  denken  bezw.  sich  etwas  dabei  denken,  so  können 
wir  Beethoven  in  dieser  Hinsicht  unmittelbar  neben  Schiller  stellen.  Goethe 
ist  ein  so  allgewaltiger  Beherrscher  der  Sinnlichkeit,  dafs  er  durch  die 
blofse  Anordnung  des  realen  Lebens  den  Zuschauer  mit  fortreifst,  wohin 
er  ihn  haben  will;  Schiller  mangelt  eine  Anschaulichkeit  in  diesem  Grade, 
er  kann  den  Hörer  nicht  unmittelbar  empfinden  lassen,  dafs  da  eine 
Einzelhandlung  von  symbolischem  Werte  sich  abspielt,  er  braucht  ein 
Bindeglied  zwischen  Bühne  und  Zuschauerraum,  die  volle  Wirkung  wird 
durch  intellektuelle  Hilfe  vermittelt,  Schiller  will  den  Hörer  auf  eine 
Höhe  heben,  von  der  aus  er  Handlung  und  Leiden  des  Helden  freier, 
unter  dem  Gesichtspunkte  der  Notwendigkeit  überschauen,  mit  der  Frei- 
heit der  Vernunft  darüber  urteilen  kann.  Darin  liegt  seine  Stärke,  und 
diese  hat  er  mit  gutem  Rechte  ausgebildet.  Darauf  beziehen  sich  alle 
seine  Studien,  alle  seine  Experimente.  Den  tieferen  Gehalt  des  Dramas 
möglichst  klar  herauszustellen,  teils  durch  das  mehr  oder  minder  subjektiv 
gefärbte  Aussprechen  der  wirkenden  Gesetze,  teils  durch  eine  scharf  aus- 
geprägte Form  der  Katastrophe,  die  ihre  Wirkung  auch  auf  den  Durch- 
schnittshörer nicht  verfehlen  kann.  Denn  darauf  eben  kommt  es  Schiller 
an,  diesen  durch  die  ästhetische  Anschauung  'das  unvermeidliche  Schick- 
sal zu  inokulieren,  wodurch  es  seiner  Bösartigkeit  beraubt  und  der  An- 
griff desselben  auf  die  starke  Seite  des  Menschen  abgelenkt  wird.'1  Dazu 
ist  die  Möglichkeit  völliger  Substitution  des  Hörers  unter  die  Gestalten 
des  Dramas  nötig,  und  diese  ist  von  der  unbedingten  Wahrhaftigkeit  der 
Darstellung  abhängig;  diese  aber  verwechselt  Bartels  mit  der  Wirklich- 
keit, mit  dem  Realismus,  wenn  er  'geradezu  erschrickt',  dafs  in  dem  Auf- 
satz 'Über  die  tragische  Kunst'  das  'unbedingt  Wahre,  das  blofs  Mensch- 
liche in  menschlichen  Verhältnissen'  als  eigentlich  tragisch  ergiebig  hin- 

1  Schriften  X,  228. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  207 

gestellt  wird,  weil  die  Kunst  'bei  diesem  allein,  ohne  darum  auf  die  Stärke 
des  Eindrucks  Verzicht  tun  zu  müssen,  der  Allgemeinheit  desselben  ver- 
sichert ist.'  Daraus  will  Bartels  nämlich  eine  jede  Individualisierung  aus- 
schliefsende Verallgemeinerung  der  Figuren  ableiten  und  betont  Schiller 
gegenüber  als  eigentliches  Element  des  Ästhetischen  das  Spezifische!  Ich 
glaube,  in  Wahrheit  ist  Schiller  von  dem,  was  Bartels  fordert,  in  Theorie 
und  Praxis  gar  nicht  so  weit  entfernt.  Denn  nicht  von  den  Charakteren 
und  der  Motivierung  menschlicher  Pläne  und  Handlungen  im  einzelnen 
fordert  Schiller,  wenn  wir  genauer  zusehen,  jene  Allgemeingültigkeit,  son- 
dern von  den  letzten  Prinzipien  des  Handelns;  in  bezug  auf  diese  soll 
Einheit  zwischen  dem  Publikum  und  dem  Dichter  walten,  damit  der  Rollen- 
tausch zwischen  dem  Zuschauer  und  dem  Helden  auf  der  Bühne  nicht 
erst  eine  intellektuelle  Zwischentätigkeit  nötig  habe.  In  die  heldenmütige 
Aufopferung  eines  Leonidas  werden  wir  uns  alle  hineinversetzen  können, 
nicht  aber  in  den  Richterspruch  des  ersten  Brutus,  wie  Schiller  meines 
Erachtens  mit  vollem  Rechte  betont;  wenn  sich  der  Zuschauer  erst  davon 
überzeugen  mufs,  dafs  unter  bestimmten  Verhältnissen,  wie  sie  die  römische 
Doktrin  mit  sich  brachte,  eine  Tat  wie  die  des  Brutus  nötig  und  begreif- 
lich wurde,  vor  der  er  doch  selber  zurückschauert,  so  ist  seine  eigene  Er- 
hebung zur  ästhetischen  Anschauung  des  Schicksals,  das  sein  eigenes 
Leben  durchwaltet,  aber  durch  die  empirische  Wirklichkeit  zumeist  ver- 
dunkelt wird,  zum  mindesten  behindert;  und  wenn  wir  ehrlich  sein  wollen : 
sucht  denn  ein  moderner  Dramatiker,  sobald  er  ein  Problem  wie  das  vor- 
liegende zu  lösen  hat,  uns  wirklich  zeitweilig  zu  alten  Römern  zu  machen  ? 
Beruht  nicht  die  ganze  Gröfse  der  Shakespearischen  Römerdramen  darauf, 
dafs  seine  Helden  eben  in  psychologischer  Beziehung  so  gar  nicht  römisch 
sind?  Wird  man  nicht  den  Anschlag  eines  Coriolan  unmittelbar  aus  dem 
allgemein  Menschlichen  bezw.  den  Renaissanceanschauungen,  in  denen 
Shakespeare  lebte,  ableiten  müssen,  um  ihn  verständlich  zu  machen? 
Anders  handelt  auch  Schiller  nicht,  und  wer  die  grofsartige  Individualität 
Wallensteins  verkennt,  die  uns  doch  so  gewaltig  zu  Herzen  spricht,  dem 
ist  nicht  zu  helfen.  Zitiert  man  aber  eine  Schillersche  Abhandlung,  dann 
mufs  man  sich  mit  Schillers  Gedankengängen  so  genau  als  möglich  ver- 
traut machen.  Hier  können  wir  nur  so  viel  sagen,  dafs  Schiller  seinem 
eigenen  Geständnis  nach  in  der  angezogenen  Schrift  stark  mit  Kantischen 
Gedanken  arbeitet;  wenn  er  das  'blofs  Menschliche'  nennt,  mit  dessen 
Hülfe  er  auf  das  wirken  will,  was  allen  Menschen  gemein  ist,  so  handelt 
es  sich  da  um  gesetzmäfsige  Verhältnisse  wie  das  allgemein  gültige  Moral- 
prinzip des  kategorischen  Imperativs;  wie  aber  dieser  für  Kant  nur  ein 
Formales  ist,  das  bald  diesen,  bald  jenen  spezifischen  Inhalt  annehmen 
kann,  so  bietet  Schillers  Theorie  und  Praxis  für  das  Spezifische,  Charak- 
teristische den  weitesten  Raum  und  verlangt  nur  die  stete  Beziehung  auf 
das  allgemein  Menschliche,  ohne  die  eine  unmittelbare,  eine  ästhetische 
Anschauung  durch  den  Zuhörer  nicht  möglich  ist.  Auf  diese  kann  Schiller 
nicht  verzichten  um  des  Zweckes  willen,  den  er  der  tragischen  Dichtung 
überhaupt  zuschreibt.  Man  mag  diesen  Zweck  verwerfen  und  damit  die 
ganze  Schillersche  Kunst;  wenn  man  aber  über  sie  urteilen  will,  mufs 
man  sie  doch  als  Ganzes  bis  in  ihre  psychologischen  Wurzeln  hin  ver- 
folgen :  'Wollt  ihr  nach  Regeln  messen,  was  nicht  nach  eurer  Regeln  Lauf, 
der  eignen  Kunst  vergessen,  sucht  davon  erst  die  Regel  auf!'  Jedenfalls 
wird  niemand,  der  Schillers  Kunsttheorie  im  Zusammenhang  durchdenkt 
und  seine  dramatische  Praxis  damit  vergleicht,  eine  äufserliche,  unmittel- 
bare Wirkung  einzelner  Teile  konstruieren  können.  Nur  ein  paar  Bei- 
spiele dafür.  Jene  wunderbare  Einmischung  Albas  in  die  Schlufsszene 
des  'Egmont',  die  Goethe  so  widerwärtig  war,  und  die  zum  Glück  nicht 
in  unsere  Bühnenpraxis  eingedrungen  ist,  läfst  nicht,  wie  Goethe  meinte, 
auf  besondere  Grausamkeit  Schillers  schliefsen,  was  Bartels   auch  ganz 


208  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

richtig  hervorhebt;  es  handelt  sich  aber  auch  nicht  blofs,  wie  er  meint, 
um  ein  'rednerisches  Unterstreichen',  um  die  unorganische  Herausarbeitung 
eines  Akzents,  sondern  um  die  letzte  Durchführung  der  dramati- 
schen Entwickelung  des  Charakters;  denn  darin  äufsert  sich  das 
gewaltige  Schicksal  in  seinen  Dramen,  dafs  es  die  Natur  herstellt,  nicht 
blofs  im  grofsen  Weltlauf,  sondern  in  allen  einzelnen  Figuren ;  und  die- 
jenigen, die  auf  eine  abnorme  Einseitigkeit  angelegt  sind,  erscheinen  am 
Schlufs  auf  dem  Gipfelpunkt  dieser  Entartung;  ein  Fiesko  ist  am  Schlüsse 
nur  noch  der  Despot,  Wallenstein  sinkt  vor  unseren  Augen,  König  Philipp 
droht,  furchtbare  Zeichen  seiner  Macht  und  Grausamkeit  aufzurichten ; 
und  dieser  finstere  Alba,  der  den  Unschuldigen  zum  Tode  führen  läfst, 
sollte  so  einfach  von  der  Bühne  scheiden,  wie  wir  ihn  zuletzt  sahen,  gleich- 
sam als  Werkzeug  höherer  Befehle,  während  doch  persönlicher  Neid,  klein- 
liche Eifersucht,  wenigstens  nach  Schillers  Auffassung,  offenbar  mit  im 
Spiele  waren?  Nein,  er  mufs  am  Schlufs  als  der  Bösewicht  dastehen, 
nicht  zum  Schreckbild,  sondern  um  der  dramatischen  Entwickelung  an 
seinem  Teile  ihre  Rundung  zu  geben.  Ein  anderes  Beispiel,  das  viel  be- 
rufen ist.  Max  und  Thekla  erscheinen  nicht,  um  dem  Verlangen  des 
Pöbels  nach  der  'belle  passion'  nachzugeben;  sie  bilden,  wie  uns  Schillers 
Briefwechsel  zur  Genüge  zeigt,  in  ihrer  idealen  Lebenshaltung  nicht  nur 
ein  Gegengewicht  gegen  die  blofs  realistische  Handlungsweise  der  Haupt- 
figuren, sondern  ein  Hilfsmittel  für  den  Zuschauer,  um  zu  jener  höheren 
Warte  zu  gelangen,  von  der  aus  der  Untergang  des  Helden  als  eine  ver- 
nünftige Zweckmäfsigkeit  erscheinen  mufs.  Endlich  und  vor  allem:  die 
Schillerschen  Sentenzen  sind  keine  Glanzstücke,  sind  nicht  auf  äufserliche 
Wirkung  berechnet,  im  Gegenteil  wollen  sie  eine  möglichste  Vertiefung 
des  Eindrucks  beim  Zuschauer  üben,  sie  wollen  ihn  zur  Auffassung  der 
Handlung  von  jenem  höheren  Gesichtspunkt  anleiten,  also  nicht  etwa 
moralische  Belehrung  im  einzelnen  geben,  sondern  im  Gegenteil  zur  ästheti- 
schen Anschauung  des  Ganzen  verhelfen.  'Ich  lasse',  sagt  der  Dichter 
selbst,  'meine  Personen  viel  sprechen,  sich  mit  einer  gewissen  Breite  her- 
auslassen; Sie  haben  mir  darüber  nichts  gesagt  und  scheinen  es  nicht  zu 
tadeln.  Ja  Ihr  eigener  Usus  sowohl  im  Drama  als  im  Epischen  spricht 
mir  dafür.  Es  ist  zuverlässig,  man  könnte  mit  wenigen  Worten  auskom- 
men, um  die  tragische  Handlung  auf-  und  abzuwickeln,  auch  möchte  es 
der  Natur  handelnder  Charaktere  gemäfser  erscheinen.  Aber  das  Beispiel 
der  Alten,  welche  es  auch  so  gehalten  haben  und  in  demjenigen,  was 
Aristoteles  die  Gesinnung  und  Meinung  nennt,1  gar  nicht  wortkarg  ge- 
wesen sind,  scheint  auf  ein  höheres  poetisches  Gesetz  hinzudeuten,  welches 
eben  hierin  eine  Abweichung  von  der  Wirklichkeit  fordert.  Sobald  man 
sich  erinnert,  dafs  alle  poetischen  Personen  symbolische  Wesen  sind,  dafs 
sie  als  poetische  Gestalten  immer  das  Allgemeine  der  Menschheit  darzu- 
stellen und  auszusprechen  haben,  und  sobald  man  ferner  daran  denkt, 
dafs  der  Dichter  sowie  der  Künstler  überhaupt  auf  eine  öffentliche  und 
ehrliche  Art  von  der  Wirklichkeit  sich  entfernen  und  daran  erinnern  soll,'2 
dafs  er's  tut,  so  ist  gegen  diesen  Gebrauch  nichts  zu  sagen.  Aufserdem 
würde,  deucht  mir,  eine  kürzere  und  lakonischere  Behandlungsweise  nicht 
nur  viel  zu  arm  und  trocken  ausfallen,  sie  würde  auch  viel  zu  sehr 
realistisch,  hart  und  in  heftigen  Situationen  unausstehüch  sein,  dahingegen 
eine  breitere  und  vollere  Behandlungsweise  immer  eine  gewisse  Ruhe  und 
Gemütlichkeit  auch  in  den  gewaltigsten  Zuständen,  die  man  schildert, 
hervorbringt'  (Jonas  V,  418,  an  Goethe).  Goethe  erkennt  nur  immanente 
Gesetze  als  im  Menschenleben  wirksam  an,  er  arbeitet  mit  dem  Dämoni- 
schen und  erreicht  den  Eindruck  des  Lebenswahren   durch   seine  grofs- 

1  TJfros  xal  Sidvoia. 

1  Vgl.  die  oben  gestreifte  Lehre  vom  ästhetischen  Schein. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  20!) 

artige  'Sinnlichkeit',  die  Schiller  an  ihm  neidlos  anerkennt,  durch  eine 
wunderbare  Fülle  von  Einzelheiten,  die  durch  ihre  Zusammenstimmung 
den  Zuschauer  zur  völligen  Aneignung  des  Dargestellten  zwingen.  Schiller 
ist  einerseits  die  Gabe  des  'Schauens  in  irdischen  Dingen  nicht  in  dem 
Mafse  verliehen  wie  Goethe,  anderseits  kommt  es  ihm  mehr  auf  die 
transzendenten  Gesetze  an,  zu  denen  er  den  Zuschauer  hinleiten  will; 
darum  stört  ihn  alles,  was  die  Aufmerksamkeit  von  den  Hauptsachen, 
vom  Bedeutsamen  abzieht;  wollte  er  sich  nun  in  reaüstischen  Formen 
ausdrücken  und  doch  die  Überfülle  des  Nebensächlichen,  nicht  streng  Zu- 
gehörigen, Indifferenten,  wie  sie  das  reale  Leben  bietet  und  eine  natura- 
listische Kunst  mit  verwerten  mufs,  ausscheiden,  so  bliebe  ein  karger  Rest 
übrig,  der  eher  illusionszerstörend  wirken  könnte;  daher  arbeitet  Schiller 
mit  wenigen  Einzelmomenten,  aber  diese  sucht  er  zu  erschöpfen;  er  geht 
nicht  in  die  Breite,  sondern  in  die  Tiefe,  bis  in  jene  Tiefe,  wo  wir  den 
Erscheinungen  einigermafsen  auf  den  Grund  kommen.  Wenn  das  theatra- 
lisch ist,  dann,  aber  auch  nur  dann,  ist  Schiller  der  gröfste  Theatraliker 
unter  unseren  Klassikern. 

Zum  Schlufs  nur  noch  einen  Beleg  dafür,  wie  Schiller  selbst  über 
das  blofs  Theatralische  dachte:  'Die  Kunst  mufs  den  Geist  ergötzen  und 
der  Freiheit  gefallen.  —  Aus  diesem  Grunde  verstehen  sich  diejenigen 
Künstler  und  Dichter  sehr  schlecht  auf  ihre  Kunst,  welche  das  Pathos 
durch  die  blofse  sinnliche  Kunst  des  Affekts  und  die  höchstlebendigste 
Schilderung  des  Leidens  zu  erreichen  glauben.  Sie  vergessen,  dafs  das 
Leiden  selbst  nie  der  letzte  Zweck  der  Darstellung  und  nie  die  un- 
mittelbare Quelle  des  Vergnügens  sein  kann,  das  wir  am  Tragischen 
empfinden.' '  — 

Der  Rest  des  Bandes  mufs  rasch  erledigt  werden.  Wohlwill  mustert, 
ohne  viel  Neues,  besonders  an  tatsächlichem  Material,  beizubringen,  die 
Beziehungen  zwischen  'Schubart  und  Schiller',  R.  Vi  sc  her  teilt  aus  seines 
Vaters  Vorträgen  über  neuere  deutsche  Poesie  den  Abschnitt  'Friedrich 
Hölderlin'  mit.  Wertvolles  neues  Material  dagegen  bringt  Seuffert: 
sechs  'Wieland  -  Briefe'  aus  dem  Marbacher  Schiilermuseum,  die  freilich 
nicht  vorzugsweise  für  die  Schillerkunde  in  Betracht  kommen.  Wichtiger 
für  unser  Thema  sind  die  'Ungedruckten  Briefe  an  Schiller',  die  uns 
Hartmann  mitteilt.  Sie  stammen  zum  gröfsten  Teil  von  Fr.  von  Hoven, 
dann  von  Conz,  Haug  und  L.  Schubart  und  illustrieren  somit  Hartmanns 
Buch  über  Schillers  Jugendfreunde.  Wertvolle  Urkunden  und  Briefe  'Von 
und  an  Schiller'  teilt  Güntter  mit  und  beleuchtet  damit  bedeutsame 
Wendepunkte  in  Schillers  Leben,  Jonas  schildert  die  Schwiegermutter 
des  Dichters,  Louise  von  Lengefeld,  Ernst  Müller  macht  Mitteilungen 
'aus  dem  Nachlafs  von  Karoline  von  Wolzogen',  Petersen  aus  dem  Brief- 
wechsel zwischen  Schillers  Witwe  und  Cotta. 

Sehr  willkommen  zum  Jubiläum  erscheint,  in  zweiter  Auflage,  Har- 
nacks  Schiller,  diesmal  im  Festgewande,  d.  h.  mit  reichem  und  treff- 
lichem Bilderschmuck,  leider  in  einer  das  Auge  ermüdenden  Druckaus- 
stattung; unter  den  heute  fertig  vorliegenden  Schillerbiographien  immer 
noch  die  gediegenste,  obwohl  der  Verfasser  auf  kritische  Auseinandersetzun- 
gen über  strittige  Punkte  grundsätzlich  verzichtet  und  sich  mit  Rücksicht 
auf  sein  Publikum  mehr  berichtend  als  diskutierend  verhält.  Was  die  Aus- 
einandersetzung des  Vorworts  mit  den  Kritikern  der  ersten  Ausgabe  be- 
trifft, so  billigen  wir  Harnacks  Unterdrückung  rein  literaturgeschichtlich 
interessierender  Abschnitte,  wie  z.  B.  der  Nachgeschichte  der  Räuber, 
zumal  ja  die  literarischen  Vorbedingungen  der  Werke  im  ganzen  voll  ge- 
würdigt werden;  ebenso  danken  wir  ihm  für  seine  Sparsamkeit  hinsicht- 
lich der  Anekdoten  aus  der  Kinderzeit,  hätten  aber  das  Milieu  mit  Leitz- 

1  Schriften  X,  155. 
Archiv  f.  n.  Sprachon.    CXV.  14 


210  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

mann  hier  und  da  etwas  breiter  ausgeführt  sehen  mögen.  Wichtig  und 
entscheidend  für  den  Wert  des  Buches  ist  Harnacks  Auffassung  Schillers 
als  einer  sich  stetig  entwickelnden  Energie,  die  nirgends  in  den  Zustand 
der  Ruhe  und  Stagnation  übergeht.  Auch  für  alle  Einzelfragen,  für 
Schillers  Ästhetik  und  Ethik,  für  seine  äufsere  dramatische  Technik  wie 
für  die  Gestaltung  seiner  Charaktere  mufs  der  chronologische  Standpunkt 
entschieden  durchgeführt  werden;  freilich  wird  dann  überall  das  Bleibende 
und  Unabänderliche  hervortreten,  aber  ebenso  scharf  werden  sich  die  immer 
wechselnden  und  sich  immer  vervollkommnenden  Formen  abheben,  in 
denen  das  Bleibende  seinen  Ausdruck  findet.  Im  übrigen  schöpft  Harnack 
die  Urkunden  nach  Möglichkeit  aus,  wo  es  sich  um  wirkliche  Aufhellung 
des  Seelenlebens  seines  Helden  handelt,  vor  allem  in  der  viel  umstrittenen 
Frage  nach  Schillers  Verhältnis  zu  Liebe  und  Ehe.  Ich  glaube  Harnack 
auch  hier  recht  geben  zu  müssen:  er  war  der  Dichter  und  der  Mann  der 
Freundschaft,  nicht  der  Liebe,  wenigstens  nicht  der  sinnlichen  Liebe;  er 
betrachtete  die  Leidenschaft  immer  nur  als  einen  vorübergehenden  Zu- 
stand, der  durch  die  vernünftige  Natur  des  Menschen  überwunden  werden 
müsse,  und  sah  eben  in  der  bleibenden  Liebe  nur  eine  Form  der  reinen 
Freundschaft,  wie  sein  nichts  weniger  als  anstöfsiges  Doppelverhältnis  zu 
den  Schwestern  Lengefeld  zur  Genüge  dartut.  Hätte  Schiller  sein  Ver- 
hältnis zur  Gattin  nicht  vorzugsweise  als  Freundschaft  aufgefafst,  wie 
wäre  es  ihm  dann  möglich  gewesen,  in  den  'Idealen'  der  Liebe  mit  den 
anderen  Traum-  und  Wahnvorstellungen  den  Laufpafs  zu  geben  und  nur 
'der  Freundschaft  leise,  zarte  Hand'  und  die  'Beschäftigung,  die  nie  er- 
mattet', zu  feiern,  ohne  die  Gattin  aufs  tiefste  zu  verletzen,  was  kein  Ver- 
nünftiger für  seine  Absicht  halten  wird  ?  Schiller  überwand  die  Anstürme 
der  Leidenschaft  ohne  Verbitterung,  ohne  quälenden  Schmerz.  Gerade 
darum  möchte  ich  aber  auch  die  'Resignation'  nicht  in  so  pessimistischem 
Sinne  erklären,  wie  Harnack  S.  129  tut.  Der  Held  des  Gedichtes  ist  nicht 
ohne  weiteres  mit  dem  jungen  Schiller  zu  identifizieren,  der  sich  eben  von 
Frau  von  Kalb  losgerissen  hat,  denn  ihm  schwebten  ganz  sicherlich  nicht 
egoistische  Erwägungen  über  den  Ausgleich  im  Jenseits  vor!  Dazu  war 
er  zu  edel,  und  darum  bezieht  sich  die  strenge  Abweisung,  die  er  dem 
Schicksal  in  den  Mund  legt,  nicht  auf  ihn  selbst.  Auch  möchten  wir 
aus  den  Worten  über  'Hoffnung'  und  'Genufs'  nicht  so  sehr  schneidenden 
Hohn  heraushören  als  eine  sehr  frühe  dichterische  Formulierung  von 
Schillers  sittlicher  Weltanschauung.  Was  er  hier  'Hoffnung'  nennt,  ist 
ihm  später  die  reine,  ästhetische  Anschauung,  die  Freude  an  der  blofsen 
Form;  an  ihr  finden  edlere  Naturen  ihr  Glück,  gemeine  nur  im  sinn- 
lichen Genufs.  Zwischen  beiden  steht  der  unglückliche  Halbmensch,  den 
das  Gedicht  schildert,  der  sich  den  Genufs  versagt,  ohne  sich  doch  über 
die  Begierde  erheben  zu  können;  er  findet  keinen  Ersatz  für  das,  was  er 
sich  versagt;  so  erkennt  Schiller  keine  Ausgleichsmoral  mit  lüsternen 
Blicken  auf  das  Jenseits  an,  sondern  nur  eine  prinzipielle  Entsagung  aus 
Ekel  vor  der  Leidenschaft;  eine  solche  kann  den  Menschen  zum  Glück 
führen;  auch  hier  gibt  es  eine  'Hoffnung',  denn  die  Vollkommenheit,  die 
der  Mensch  erstrebt,  wird  nicht  mit  einem  Schritt  erreicht,  sondern  in 
unablässig  treuem  Streben,  das  sein  Ziel  niemals,  weder  in  dieser  noch 
in  jener  Welt  erreicht,  das  aber  an  sich  schon  Glücks  genug  verleiht.  — 
Übrigens  kommt  Schillers  Weltanschauung  und  insbesondere  seine  Ästhetik 
in  der  zweiten  Auflage  des  Buches  besser  fort  als  in  der  früheren.  Harnacks 
Ansichten  über  Schillers  philosophische  Entwickelung  sind  ja  aus  seinem 
gröfseren  Werk  über  die  klassische  Ästhetik  der  Deutschen  hinreichend 
bekannt,  er  bleibt  ihnen  auch  hier  getreu.  Von  den  Beziehungen  zu  Fichte 
erfahren  wir  wenig,  nur  die  derbe  Abfertigung  in  den  Xenien  wird  her- 
vorgehoben. Immerhin  hätte  eine  ausreichende  Darstellung  der  gegen- 
seitigen   Durchdringung   von   Schillers  Anschauungen     mit   denen   seiner 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  211 

Umgebung  im  Hinblick  auf  den  Zweck  des  Buches  entschieden  zu  weit 
geführt,  und  gerade  die  Beschränkung,  die  sich  Harnack  überall  auferlegt, 
zeigt  den  Meister,  der  den  Stoff  wahrhaft  beherrscht,  äufserlich  und  inner- 
lich, wie  er  denn  mit  eigenem  Urteil  auch  über  seinen  Helden  nirgends 
zurückhält  und  weder  in  der  Jugendgeschichte  noch  in  der  Darstellung 
des  Verhältnisses  zu  Goethe  irgendwelchen  Beschönigungen  und  Ver- 
tuschungen huldigt. 

Diese  mutige  Objektivität  ist  auch  dem  neuesten  Biographen,  Karl 
Berger,  nachzurühmen,  von  dessen  Biographie  zur  Weihnachtszeit  der 
erste  Band  erschien;  sie  wird  nicht  Fragment  bleiben,  wie  es  die  monu- 
mentalen Arbeiten  von  Minor  und  Weltrich  bisher  geblieben  sind;  sie 
wird  aber  auch,  wenn  diese  einst  fertig  vorliegen,  ihren  Platz  neben  ihnen 
zu  behaupten  wissen.  Waltet  über  ihr  auch  nicht  jener  volle,  künst- 
lerische Zauber,  der  Bielschowskys  Goethebiographie  zu  einem  klassischen 
Werke  unserer  wissenschaftlichen  Literatur  macht,  so  werden  wir  doch 
immer  dankbar  zu  der  trefflichen,  gediegenen  und  geschmackvollen  Arbeit 
zurückgreifen,  um  sie  als  rechtes  Hausbuch  zu  empfehlen.  Das  sei  denn 
auch  schon  heute  getan;  eine  ausführlichere  Würdigung  versparen  wir 
uns,  bis  wir  das  Werk  als  Ganzes  überblicken  können. 

Eine  wahrhaft  köstliche  Gabe  hat  uns  Hartmann  mit  seinem  Buche 
über  'Schillers  Jugendfreunde'  dargeboten.  Auf  Grund  sorgfältigster  lite- 
rarischer und  archivalischer  Studien  entwirft  er  Lebens-  und  Charakter- 
bilder aller  irgendwie  bedeutenderen  Persönlichkeiten  jener  an  originellen 
Geistern  und  Charakterköpfen  so  fruchtbaren  Zeit,  in  der  sich  auch  der 
junge  Schiller  emporringen  mufste.  Nach  einer  kurzen  Einführung  über 
Schillers  freundschaftliches  Talent,  wenn  man  so  sagen  darf,  das  allent- 
halben rückhaltlos  anerkannt  wurde  (eine  Darstellung  der  Freundschafts- 
motive in  den  Jugendwerken  wird  leider  nicht  gegeben),  setzt  die  Dar- 
stellung gleich  mit  der  Lorcher  Zeit  ein  und  geht  von  der  ehrwürdigen 
Gestalt  des  Pfarrers  Moser  aus,  dem  der  junge  Dichter  in  den  'Räubern' 
nachher  ein  ehrendes  Denkmal  setzen  sollte.  Im  übrigen  ist  Hartmann 
leider  der  Frage  nicht  genügend  nachgegangen,  wie  weit  die  einzelnen 
dieser  scharf  umrissenen  Persönlichkeiten,  mit  denen  sein  Buch  uns  be- 
kannt macht,  Schiller  als  Modelle  für  seine  dichterischen  Figuren  gedient 
haben  mögen.  Der  von  Schiller  sehr  ungünstig  beurteilte  K.  Kempf 
scheint  mir  bestimmt  auf  die  Gestaltung  Franz  Moors  hinübergewirkt  zu 
haben;  man  sagte  ihm  un kam eradschaftliches  Verhalten  und  Neigung  zur 
Intrige  nach ; '  was  hier  von  dem  Gegner  gilt,  dafs  Schiller  sein  Bild  in 
der  Phantasie  abrundete,  bis  die  Abnormität  'Franz'  zum  Vorschein  kam, 
das  mag  in  höherem  Grade  noch  von  den  Freunden  gelten.  Was  diese 
anlangt,  so  fafst  Hartmann  den  Begriff  im  weitesten  Sinne.  Auch  die 
Freunde  unter  den  Lehrern,  vor  allem  der  treffliche  Abel,  'der  engel- 
gleiche Mann',  einer  der  liebenswürdigsten  unter  den  deutschen  Popular- 
philosophen,  dessen  Lebensbeschreibung  niemand  ohne  innere  Teilnahme 
lesen  kann,  auch  Drück  und  Nast  werden  behandelt.  Den  Löwenanteil 
trägt,  wie  billig,  der  'engere  Freundeskreis'  davon,  Scharffenstein,  Petersen, 
Haug  und  Lempp,  wozu  noch  Schubart,  Dannecker  und  Zumsteeg  kommen. 
Hoven  hat  schon  vorher,  unter  den  Kameraden  der  Ludwigsburger  Zeit, 
die  gebührende  Beachtung  gefunden.  Es  folgen  die  Mediziner  und  endlich 
der  ganze  weitere  Freundes-  und  Bekanntenkreis,  ein  Andreas  Streicher, 
Hetsch,  Heideloff,  Grammont  usw.,  lauter  dem  Schillerforscher  wohlver- 
traute Namen,  die  uns  nun  zum  Glück  keine  blofsen  Namen  mehr  bleiben  ; 
äufserlich  und  innerlich  werden  sie  uns  nähergebracht,  denn  den  statt- 
lichen Band  schmückt  eine  grofse  Anzahl  trefflich  reproduzierter  Silhouetten 
und  Porträts,  auch  Heideloffs  instruktiver  Stich:  'Die  Erhebung  der  Karls- 

1  Schriften  I,  16. 

14* 


212  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

akademie  zur  Hochschule  1782'  ist  beigegeben.  Rechtfertigt  schon  allein 
dieser  reiche  Bilderschnmek  eine  eindringliche  Empfehlung  des  Werkes 
insbesondere  für  die  Benutzung  im  deutschen  Unterricht,  so  werden  sich 
für  die  Schule  noch  weit  fruchtbarer  die  abgedruckten  Mitteilungen  der 
Freunde  über  ihr  Leben,  insbesondere  aber  über  ihren  Verkehr  mit  Schiller 
erweisen.  Hier  tritt  uns  die  Jugendzeit  des  Dichters  in  greifbarer  Deut- 
lichkeit vor  Augen,  und  wie  weit  den  einzelnen  Verfassern  zu  trauen  ist, 
wieviel  mehr  wir  dem  grundehrlichen  Conz  folgen  dürfen  als  dem  Klatsche- 
reien nicht  ganz  abgeneigten  Petersen,  ergibt  sich  aus  der  Darstellung 
selbst  zur  Genüge.  Die  Hauptsache  ist,  dafs  das  biographische  Material 
für  Schillers  Jugendzeit  hier  mit  einer  Vollständigkeit  ausgebreitet  ist, 
die  bisher  einfach  unerreicht  dasteht.  Kuhns  'Schiller,  Zerstreutes  als 
Bausteine  zu  einem  Denkmal'  (1859)  hatte  manche  der  früher  in  Zeit- 
schriften gedruckten  Aufzeichnungen  wiederholt,  Kurz,  Weltrich  u.  a. 
hatten  aufserdem  für  ihre  künstlerischen  und  gelehrten  Arbeiten  die  reichen 
Schätze  des  Cottaischen  Archivs  einsehen  und  benutzen  dürfen,  aber  das 
Material  war  eben  verzettelt  und  somit  für  die  Schule  im  ganzen  un- 
benutzbar. Diesem  Mangel  ist  nun  abgeholfen,  und  auch  der  Forscher 
wird  für  den  abermaligen,  übrigens  hier  und  da,  z.  B.  bei  Petersen,  ver- 
mehrten und  erweiterten  Abdruck  dankbar  sein.  Dafs  Hartmann  keine 
unbedingte  Vollständigkeit  anstrebt,  ist  manchmal  peinlich,  z.  B.  von 
Abel  möchten  wir  mehr  erfahren,  als  er  mitteilt;  dafs  er  dagegen  gerade 
bei  Petersen  mit  dessen  hämischen  Exzerpten  aus  Eberhards  verständnis- 
losen Mäkeleien  Mafs  hält,  ist  nur  zu  loben.  Im  ganzen,  eine  höchst 
dankenswerte  Arbeit,  die  sich  der  Wissenschaft  durch  Zuführung  reichen 
biographischen  und  psychologischen  Materials  förderüch  erweist. 

Nur  hingewiesen  sei  hier  auf  die  zum  Jubiläum  erscheinende  Neu- 
ausgabe der  Schillerschriften  von  Kuno  Fischer,  über  die  keine  Lob- 
sprüche mebr  zu  verlieren  sind.  Der  schwer  erkrankte  Verfasser  hat  keine 
Umarbeitung  vornehmen  können,  auch  sind  wohl  seine  Ansichten  über 
den  Entwickelungsgang  der  Schillerschen  Philosophie  bis  zuletzt  sich 
gleich  geblieben.  Wer  diese  Ansichten  nicht  teilt,  wird  sich  doch  an  der 
in  ihrer  Art  vollendeten  Darstellung  erfreuen. 

Erwähnt  sei  zum  Schlufs  eine  Neuauflage  von  Breuls  englischer 
Schulausgabe  des  dritten  Buches  der  'Geschichte  des  Dreifsigjährigen  Krie- 
ges'; der  Herausgeber  hat  den  Text  in  den  ersten  Partien  etwas  gekürzt, 
übrigens  auf  alle  Weise  für  das  Verständnis  gesorgt.  Seine  geschickte 
Einleitung  berichtet  über  die  Entstehungsgeschichte,  die  Quellen,  die  Vor- 
züge und  Mängel  des  Schillerschen  Werkes,  legt  die  Komposition  des 
dritten  Buches  im  besonderen  dar  und  gibt  einen  freilich  unselbständigen 
Abrifs  der  Geschichte  des  ganzen  Krieges,  der  durch  eine  Karte  illustriert 
wird.  Im  Anhang  werden  Szenen  aus  dem  'Wallenstein'  und  reichhaltige 
bibliographische  Angaben  dargeboten.  Das  Hauptverdienst  des  Heraus- 
gebers ruht  unstreitig  in  den  sehr  reichhaltigen  sachlichen  (besonders 
kulturgeschichtlichen)  und  sprachlichen,  übrigens  mehr  lexikalischen  als 
syntaktischen  Anmerkungen,  aus  denen  auch  der  deutsche  Leser  manches 
lernen  kann,  wenngleich  er  nicht  mit  jeder  Erklärung  ohne  weiteres  ein- 
verstanden sein  mag.  Hier  und  da  dürften  sich  kleine  Zusätze  empfehlen. 
Bei  den  Zusammensetzungen  mit  =  'fürt'  (11,  4)  sollte,  gerade  im  Hinblick 
auf  Oxford,  das  deutsche 'Ochsenfurt'  nicht  fehlen,  'Anstand' =  'appearence' 
(12,  22)  mufste  aus  dem  Gebrauch  der  Klassiker,  vor  allem  Goethes, 
stärker  belegt  und  synonymisch  erläutert  werden,  der  'Belt'  (12,  27)  ist 
mit  der  'Ostsee'  im  allgemeinen  doch  nicht  ohne  weiteres  identisch,  wenn- 
gleich Schiller  das  Wort  so  gebraucht;  zur  Personifizierung  des  Namens 
aber  mufste  aufser  der  'Huldigung  der  Künste'  Wallensteins  Gespräch  mit 
Wrangel  als  näherliegend  herangezogen  werden  (v.  230,  Goedeke);  zu 
'Wagehals'  (14,   7)   konnten  andere  imperativische  Eigennamen  aus  dem 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  213 

Deutschen  und  Englischen  beigebracht  werden,  der  synonymische  Artikel 
'Schiefsgewehr'  (87,  3)  sollte  den  Ausdruck  'Flinte'  enthalten  und  er- 
klären usw.  Jedenfalls  wild  der  Herausgeber  bei  späteren  Neuauflagen, 
die  wir  seiner  trefflichen  Arbeit  im  Interesse  des  Verständnisses  unserer 
Nachbarn  für  die  deutsche  Literatur  herzlich  wünschen,  selber  auf  die 
weitere  Vervollkommnung-  seiner  Interpretationen  bedacht  sein. 

Wir  brechen  unseren  Bericht  heute  ab  und  werden  nach  dem  Jubiläum 
den  Best  der  Ernte  in  die  Scheuern  zu  bringen  suchen. 

Heidelberg.  Robert  Petsch. 

Franz  Deibel,  Dorothea  Schlegel  als  Schriftstellerin  im  Zusammen- 
hang mit  der  romantischen  Schule.  (Palaestra,  herausgegeben  von 
A.  Brandl,  G.  Koethe  u.  Erich  Schmidt,  XL.)  Berlin,  Mayer  u.  Müller, 
1905.    188  S.    M.  5,60. 

Dorothea  Schlegel  ist  als  Persönlichkeit  eigentlich  gar  nicht  so  inter- 
essant, wie  man  von  der  mit  Friedrich  Schlegel  verheirateten  Tochter 
Moses  Mendelssohns  erwarten  sollte.  Sie  war  witzig,  aber  nicht  geistreich 
wie  Caroline;  formgewandt,  klug,  leidenschaftlich  —  und  schliefslich  hat 
man  doch  überall  den  Eindruck  einer  Natur  zweiten  Banges. 

Vielleicht  hat  dies  Gefühl  den  Verf.  bestimmt,  die  Schriftstellerin 
Dorothea  ausschliefslich  von  der  literarischen  und  gar  nicht  von  der 
psychologischen  Seite  zu  betrachten.  Was  er  aber  unternimmt,  hat  er  in 
erschöpfender  Weise  geleistet  und  über  sein  Thema  heraus  auch  die  Zu- 
sammenhänge des  'Florentin'  mit  Goethe  beleuchtet.  Nur  kommt  selbst 
innerhalb  des  Literarischen  das  Menschliche  etwas  zu  kurz:  über  d' Alton 
müfste  doch  mehr  gesagt  werden,  zumal  D.  selbst  (S.  47)  mit  vollem  Becht 
bemerkt,  dafs  der  merkwürdige  Mann  Gegenstand  romantischer  Legenden- 
bildung wurde. 

Am  glücklichsten  sind  die  Übersetzungen  Dorotheas  ausgenutzt,  wie 
D.  denn  auch  allgemein  scharfsinnige  Bemerkungen  über  das  Wesen  der 
Übersetzungskunst  (S.  146)  macht.  In  der  Tat  kommt  die  Evolution  der 
Moral  bei  dem  Schlegelschen  Ehepaar  in  der  veränderten  Stellung,  die  sie 
vor  und  nach  dem  Sündenfall  zu  erotischen  Problemen  einnehmen,  be- 
sonders deutlich  zur  Anschauung. 

Beigegeben  sind  aufser  einem  wichtigen  Brief  an  Tieck  nach  Fried- 
richs Tode  (S.  179)  Briefe  an  Brinckmann  —  klassische  Denkmale  des  alten 
Berlinisch  in  der  Zeit,  in  der  noch  Schriftsteller  wie  Arnim,  Tieck  und 
besonders  Dorothea  selbst  das  Geheimnis  des  Dativs  nicht  zu  erraten  ver- 
mögen. Auch  inhaltlich  lassen  sie  in  die  engen  Verhältnisse  des  Familien- 
und  Freundesklatsches  hineinsehen;  in  bezug  auf  die  Überschätzung, per- 
sönlicher Beziehungen  zu  Nebenpersonen  hatte  Dorothea  bei  dem  Über- 
gang in  die  Romantik  nichts  mehr  zu  lernen.  Übrigens  ist  auch  bei  ro- 
mantischen Liebhabereien,  wie  Anekdote  und  Witz  (S.  75  f.),  an  verwandte 
Erscheinungen  des  Naturalismus  zu  erinnern;  Fr.  Schlegel  hat  nicht  um- 
sonst für  Lessing  geschwärmt. 

Berlin.  Richard  M.  Meyer. 

Franz  Zinkernagel,  Die  Grundlagen  der  Hebbelschen  Tragödie. 
Berlin,  Georg  Reimer,  1904.    XXXIV,  188  S.     Preis  3  Mk. 

Zwei  leitende  Gedanken  bewegen  den  Verf.  Er  will  zeigen,  'wie  das 
gesamte  Hebbelsche  Gedankensystem,  von  einer  alles  befruchtenden  Grund- 
idee ausgehend,  unabhängig  von  fremden  Einflüssen,  sich  organisch  aus 
sich  selbst  entwickelt,  um  schliefslich  in  einem  neuen  Dramentypus  dem 
Ganzen  den  krönenden  Abschlufs  zu  geben'  (S.  V.).  Aber  er  will,  auch 
'die  tiefgehende  Bedeutung 'des  Hebbelschen  Lebenswerkes  für  die  Ästhe- 


214  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

tik  des  Tragischen'  nachweisen  (S.  187).  Jener  Absicht  dient  der  Haupt- 
teil des  Buches,  die  vier  Kapitel,  die  sich  mit  Hebbels  Persönlichkeit,  Welt- 
anschauung, dramatischer  Theorie,  dramatischer  Produktion  beschäftigen, 
■während  in  Einleitung  und  Schlufsbetrachtung  Ilaum  gegeben  ist,  'die 
entwickelungsgeschichtliche  Stellung  der  Hebbelschen  Tragödie'  festzu- 
legen. 

Der  Grundrifs  ist  klar  und  sieht  vielversprechend  aus.  Und  das  Ge- 
bäude, das  der  Verf.  mit  redlichem  Bemühen  und  nicht  ohne  schrift- 
stellerisches Geschick  darauf  errichtet  hat?  Ich  will  gleich  von  vorn- 
herein gestehen,  dafs  ich  in  einigen  wesentlichen  Punkten  Widerspruch 
erheben  mufs.  Da  die  Schrift  Z.s  der  Erstling  des  Verf.  ist,  so  ist  die- 
sem Umstand  allerdings  manches  zugute  zu  halten. 

Zunächst  ist  festzustellen,  dafs  im  wesentlichen  aus  der  gleichen  Ab- 
sicht, die  Z.  zu  seiner  Darstellung  getrieben  hat,  auch  das  Buch  von 
Scheunert,  Der  Pantragismus  usw.,  entstanden  ist.  Liest  man  nun  die 
Kritik,  die  Z.  in  seinem  Vorwort  von  der  Scheunertschen  Arbeit  gibt,  und 
die,  stark  vom  Gefühl  der  Existenzberechtigung  der  eigenen  Arbeit  dik- 
tiert, doch  wohl  absprechender  und  ausdrückliche  Erklärungen  Scheunerts 
mifsachtender  ausgefallen  ist,  als  billig  sein  dürfte,  so  darf  man  erwarten, 
dafs  Z.  seine  Sache  wesentlich  besser  macht.  Ich  will  zugeben,  dafs  ein 
Ansatz  dazu  vorhanden  ist,  sofern  Z.  nachdrücklicher  und  ausführlicher, 
als  es  Scheunert  auf  den  ersten  Seiten  seiner  Arbeit  tut,  die  Persön- 
lichkeit Hebbels  mit  ihrem  individuellen  Erleben  zum  Ausgangspunkt 
der  gedanklichen  Entwickelung  macht.  Nun  fragt  es  sich  nur,  ob  es  Z. 
gelungen  ist,  sich  mit  vollem  Verständnis  in  die  Persönlichkeit  des  Dich- 
ters einzuleben  und  einzufühlen. 

Nach  meiner  Kenntnis  mufs  ich  die  Frage  verneinen.  Das  Bild  Heb- 
bels, das  dem  Verf.  vorschwebt,  ist  durch  persönliche  Velleitäten  getrübt, 
verzerrt,  unvollständig.  Man  wird  von  niemandem  verlangen,  dafs  er  sich 
selbst  verleugne,  aber  man  darf  verlangen,  dafs  bei  Wertungen,  die  man 
vorzunehmen  gedenkt,  vor  allen  Dingen  die  sich  messenden  Werte  klar 
herausgestellt  werden.  Das  unterläfst  Z.,  indem  er  von  seinem  persönlichen 
sittlichen  Standpunkt,  von  der  Meinung  aus,  die  er  von  'Sittlichkeit'  hat, 
über  die  'Sittlichkeit'  Hebbels,  über  des  Dichters  'sittliches'  Ringen  sich 
abzusprechen  erlaubt,  ohne  auch  nur  sich  darüber  klar  zu  sein,  dafs  hier 
zwei  grundsätzlich  verschiedene  Anschauungen  einander  gegenüberstehen. 
Ja,  man  ist  versucht  zu  fragen,  ob  allererst  dem  Verf.  die  eigene  Auffas- 
sung denn  auch  klar  und  deutlich  zu  Bewufstsein  gekommen  ist.  Jeden- 
falls gibt  Z.  im  ganzen  Verlauf  seiner  Arbeit  nirgends  unzweideutig  seinen 
Standpunkt  an. 

Dafür  redet  er  um  so  mehr  von  dem  Mangel  an  sittlichem  Gefühl  bei 
Hebbel  (S.  27,  136),  dem  die  'Sittlichkeit'  nur  ein  Verstandesmoment  ge- 
wesen sei.  'Vergebens  suchen  wir  in  seinen  Tagebüchern  Spuren  wirk- 
licher Selbsterziehung,  aufrichtiger  Selbstprüfung,  wahrer  sittlicher  Arbeit' 
(S.  28).  Der  Mangel  an  sittlichem  Gefühl  sei  'die  Achillesferse  der  Hebbel- 
schen Natur'  (S.  37)  gewesen.  Z.  gebraucht  gelegentlich  die  Floskel  vom 
'harten  Panzer  seines  Herzens'  (S.  137),  und  jene  berüchtigte  Auffassung 
der  'poetischen  Gerechtigkeit'  blickt  verstohlen  aus  den  Worten  des  Verf. 
hervor,  dafs  'ohne  irgendwelche  wirkliche  sittliche  Schuld'  das  Schicksal 
der  Hebbelschen  Menschen,  gemäfs  den  Intentionen  des  Dichters,  sich  er- 
eignet (S.  177).  Und  vollends  charakteristisch  ist  das  abschliefsende  Ur- 
teil Z.s:  'Nicht  seine  Theorie  an  sich  trägt  die  Schuld,  wenn  das  Welt- 
bild, das  er  (Hebbel)  unseren  Blicken  entrollt,  unserem  innersten  Bedürf- 
nis nicht  ganz  zu  genügen  vermag.  Der  Grund  liegt  vielmehr  im  Wesen 
seiner  sittlichen  Natur.  Ihm  fehlte  die  grofse,  der  Menschheit  sich  hin- 
gebende Liebe,  die  das  in  der  Welt  verkörperte  grofse  Sittengesetz  voll 
gläubigen  Vertrauens   umfafst   und   sich  ihm   nicht  nur  als  der  die  Welt 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  215 

beherrschenden  Notwendigkeit  voll  bewundernder  Eesignation  unterwirft. 
Aber  vielleicht  war  Hebbels  neues  Kunstgesetz  nur  um  diesen  Preis  mög- 
lich, und  es  wird  Aufgabe  der  Zukunft  bleiben,  Hebbels  Schuldbegriff 
mit  dem  Glauben  an  eine  weltbeglückende  Sittlichkeit  in  eine  höhere 
Einheit  aufzulösen'  (S.  186  f.).  Solche  emphatische  Behauptungen  werden 
auf  ihr  richtiges  Mals  zurückgeführt,  wenn  man  zugibt,  dafs  Hebbel  keine 
bequeme  Natur  war,  dafs  er  nicht  die  'Läfslichkeit'  passiver  Naturen  hatte, 
dafs  er  als  Mensch  wie  als  Dichter  an  sich  und  andere  Ansprüche  stellte 
und  ihm  allerdings  nicht  der  bequeme  und  faltige  'Mantel  der  christ- 
lichen Nächstenliebe',  in  der  populären  Auffassung  des  Wortes,  zur  Ver- 
fügung stand.  Was  für  Hebbel  wahrhaft  sittliche  'Liebe'  war,  das  zeigt 
ebenso  jenes  Gedicht  aus  seiner  Frühzeit,  das  für  ihn  'im  Sittlichen  eine 
Epoche'  bildete  (Tagebücher  I,  576),  wie  jenes  andere,  'in  schweren  Leiden' 
geschriebene  aus  der  Spätzeit  'Der  Brahmine'. 

Also,  es  mangelt  Z.  an  einer  klaren  Einsicht  und  Erkenntnis  von 
Hebbels  sittlichem  Standpunkt,  und  es  fehlt  ihm  ein  brauchbarer  Mafsstab, 
um  sich  über  diesen  Standpunkt  ein  zureichendes  Urteil  bilden  zu  können. 
Es  wäre  einem  künftigen  Doktorand  zu  empfehlen,  gerade  einmal  das 
Werden  der  sittlichen  Auffassung  Hebbels,  in  dessen  Theorie  'Sittlich- 
keit und  Notwendigkeit'  eine  so  bedeutende  Rolle  spielen,  mit  möglichster 
Genauigkeit  zu  untersuchen.  Überhaupt  möchte  ich  es  für  die  künftige 
Hebbelforschung  am  erspriefslichsten  halten,  nachdem  die  Bücher  von 
Scheunert  und  Zinkernagel  vorliegen,  in  denen  die  unzulängliche  Centonen- 
methode  den  Bau  leitet,  vorerst  von  weiteren  zusammenfassenden  Dar- 
stellungen Abstand  zu  nehmen  und  vor  allem  einmal  dem  geistigen  Wer- 
den, der  seelischen  Entwickelung  Hebbels  in  seinen  einzelnen  Stadien  die 
Aufmerksamkeit  zuzuwenden.  Gewifs  werden  die  Schriften  der  beiden 
genannten  Autoren  dabei  als  Fermente  nützliche  Dienste  leisten. 

Aus  dem  bezeichneten  Grundmangel  bei  Z.  erklärt  sich  im  übrigen 
die  Mischung  von  richtigen  Einsichten  und  schiefen  Auffassungen,  die  ich 
hier  nicht  im  einzelnen  entwirren  will.  —  Beiläufig:  Elise  Lensing  (geb. 
18.  Oktober  1804)  war  nicht  zwei  (S.  25),  sondern  fast  neun  Jahre  älter 
als  Hebbel. 

Dagegen  habe  ich  noch  ein  entschiedenes  Bedenken  gegen  die  Ein- 
leitung Z.s:  'Die  Hauptentwickelungsphasen  der  vorhebbelschen  Tragödie.' 
Gleich  der  erste  Satz  macht  den  freundwilligen  Leser  stutzig:  'Die  Tra- 
gödie ist  die  Darstellung  des  Widerstreites  zwischen  Weltwillen  und  Ein- 
zelwillen.'  Eine  kühne  Behauptung,  deren  historische  Beglaubigung  man 
erwartet.  Der  Verf.  gibt  denn  auch  etwas,  das  so  aussieht.  Prüft  man 
indessen  das  Gewebe  dieser  Einleitung  genauer,  so  erkennt  man,  wie  brü- 
chig es  ist.  Der  Verf.  macht  sich  nämlich  die  Arbeit  ziemlich  leicht,  in- 
dem er  seine  ganze  Ausführung  auf  die  Autorität  Goethes  stützt,  dessen 
geistreicher  Aufsatz  'Shakespeare  und  kein  Ende',  vor  allem  die  Auslas- 
sungen darin  über  das  'Sollen'  und  'Wollen'  der  antiken  und  neueren 
Tragödie,  allerdings  auch  Hebbel  ausserordentlich  plausibel  vorkamen. 
Aber  so  geistreich  die  Goetheschen  Apercus  auch  sein  mögen,  es  bleibt 
die  Frage,  ob  der  heutige  Stand  der  Altertumswissenschaft  sie  dean  auch 
rechtfertigt.  Die  Antwort  lautet:  Nein!  Anstatt  jene  Anschauungen  ein- 
fach als  wissenschaftlich  feststehend  zu  adoptieren,  hätte  der  Verf.  nur 
einen  Blick  in  die  doch  wohl  leicht  zugänglichen  Einleitungen  von  U.  von 
Wilamowitz-.Möllendorf  zu  den  von  ihm  übersetzten  'Griechischen  Tra- 
gödien' zu  werfen  brauchen.  Er  hätte  dort,  in  der  Einleitung  zur  äschy- 
leischen  'Orestie'  hinreichenden  Aufschlufs  gefunden  (vgl.  Griech.  Trag.' 
Bd.  II,  14 — 29):  'Wer  den  Ödipus  und  den  Agamemnon  verstanden  hat,  der 
ist  all  das  Gerede  von  dem  blinden  oder  erhabenen  Schicksal  der  Griechen 
und  ihrer  Tragödie  los.  Dafs  dieser  Wahn  so  weithin  Geltung  hat,  ist 
nur   ein    Beweis,    wie   fern   der   gräzisierende  Klassizismus   vor   hundert 


216  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Jahren  dem  Verständnis  des  echt  Hellenischen  gestanden  hat,  vornehmlich 
weil  er  der  Sohn  des  Rationalismus  der  Aufklärung  war'  (ib.  S.  26  f.).  Ich 
überlasse  es  Zinkernagel,  die  Konsequenzen  daraus  zu  ziehen. 

In  seinem  ausgedehnten  Vorwort  bespricht  Z.  die  neueren  Arbeiten 
zur  Hebbelforschung.  Was  er  da  u.  a.  über  die  von  Poppe  sagt,  mufs 
deren  Verfasser,  bei  allem  Dank  gegen  die  Anerkennung,  im  wesentlichen 
als  an  sich  vorbeigeredet  bezeichnen. 

Frankfurt  a.  M.  Theodor  Poppe. 

Fritz  Stahl,  Wie  sah  Bismarck  aus?     Berlin,  G.  Reimer,  1905.    Mit 
28  Tafeln.    3  M. 

Das  Ich,  lehrt  der  bedeutende  Wiener  Philosoph  Mach,  ist  unhaltbar : 
es  gibt  nichts  als  sich  folgende  Einzelmomente  ohne  Einheit.  Stahl  sucht 
an  der  äufseren  Erscheinung  Bismarcks,  wie  früher  Goethes,  diese  Mei- 
nung zu  widerlegen :  eine  Reihe  gut  gewählter  Bilder  zeigt  in  dem  Gründer 
des  Reiches  durch  allen  Wechsel  der  Erscheinungen  den  bleibenden  Pol. 
Darin  ruht  das  besondere  Interesse  des  Büchleins.  Sorgfältig  verfolgt  der 
Verf.  das  Entstehen  des  eigentlichen  'historischen'  Bismarckbildes;  aber 
er  weifs  es  schon  in  den  prähistorischen  Teilen  des  Schulknaben,  des  Stu- 
denten, des  Abgeordneten  nachzuweisen.  Vielleicht  betont  der  feinsinnige 
Kommentar  freilich  auch  die  Züge  zu  stark,  die  sich  in  der  Physiognomie 
am  deutlichsten  abspiegeln.  Etwa  der  Humor,  der  so  wichtig  für  das 
weltgeschichtliche  Bild  des  ersten  Kanzlers  ist,  spielt  bei  ihm  kaum  eine 
Rolle,  weil  Porträts,  die  ihn  wiedergeben,  in  der  Sammlung  fehlen;  oder 
der  Berserker,  der  so  furchtbar  losbrechen  konnte.  Aber  wie  der  eigent- 
liche monumentale  Bismarck  aus  seinem  Geist  sich  seinen  Körper  und 
vor  allem  sein  Haupt  baute,  das  macht  das  hübsche  Schriftchen  mit  Ge- 
schick anschaulich. 

Berlin.  Richard  M.  Meyer. 

Dr.  Jan  v.  Rozwadowski,  Wortbildung  und  Wortbedeutung.    Eine 
Untersuchung  ihrer  Grundgesetze.   Heidelberg,  C.  Winter,  1904.    109  S. 

Nach  dem  Titel  kann  man  sich  nicht  wohl  eine  Vorstellung  machen 
von  dem,  was  das  Buch  enthalten  mag.  In  Form  und  Inhalt  behandelt 
es  ein  sprachphilosophisches  Problem.  Zunächst  beschäftigt  es  eich  mit 
den  Prinzipien  der  Wortbenennung.  Gegenstände  werden  nach  einem 
dominierenden  Merkmal  benannt,  das  sich  verändern,  wechseln  oder  sogar 
schwinden  kann.  Jedenfalls  ist  die  Tatsache,  dafs  es  vorhanden  ist  oder 
war,  von  Wichtigkeit  für  die  Bedeutungsentwickelung.  Anschaulich  wird 
dies  dargetan  an  dem  Kompositum  (Regenschirm  —  Schirm),  das  in  seiner 
Zweigliederigkeit  die  Vorbedingung  nicht  nur  des  Bedeutungswandels,  son- 
dern auch  der  Neuschöpfung  enthält.  Denn  das  Kompositum  kann  je 
nach  Art  und  Beschaffenheit  ein  Simplex  werden,  das  in  seiner  einheit- 
lichen Form  die  Geschichte  seiner  Entstehung  und  den  Wandel  der  Gestalt 
nicht  mehr  erkennen  läfst.  Wenn  dieser  Vorgang  sich  fortwährend  vor 
unseren  Augen  vollzieht,  so  sind  wir  berechtigt,  denselben  als  ein  Wort- 
schöpfungsprinzip anzusehen,  das  auch  in  vorhistorischer  Zeit  schon  galt 
und  das  Wurzelnomina  geschaffen  hat.  Soweit  es  sich  um  Benennung 
eines  Gegenstandes  handelt  und  dieser  nicht  absolut  neu  ist,  ist  also  ein 
diesen  bezeichnendes  Simplex  im  Prinzip  von  dem  Kompositum  nicht  ver- 
schieden. Den  Ausgangspunkt  zu  diesen  Ausführungen  gibt  dem  Verfasser 
Wundt,  gegen  dessen  sprachpsychologische  Anschauungen  er  heftig  polemi- 
siert; die  Form  ist  zuweilen  recht  unerquicklich.  Er  wirft  ihm  vor,  dafs 
er  das  Gesetz  der  Zweigliederigkeit  als  Prinzip  des  Bedeutungswandels 
nicht  erkannt  habe.  Dieses  sieht  der  Verfasser  auch  in  der  Entstehung 
der  einzelnen  Satzteile,  nicht  nur  des  Substantivs,  sondern  auch  des  Verbs 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  217 

und  Adjektivs.  Substantiv  und  Satz  sind  im  Prinzip  dasselbe,  verschieden 
sind  sie  nur  in  der  Art  der  apperzeptiven  Gliederung  derselben  Gesamt- 
vorstellung. Der  Satz  ist  das  Resultat  der  Zerlegung  dieser  in  ein  identi- 
fiziertes und  in  ein  unterscheidendes  Glied.  Das  auf  der  Synthese  der 
Apperzeption  beruhende  Element  ist  das  Substantiv.  In  diesem  Zusam- 
menhang behandelt  der  Verfasser  auch  die  häufig  aufgeworfene  Frage,  ob 
es  eingliederige  Sätze  gibt.  Das  Gesetz  der  zweigliederigen  Apperzeption 
sieht  er  sogar  wirksam  auf  rein  lautlichem  Gebiet  und  erklärt  mit  seiner 
Hilfe  z.  B.  das  Verhältnis  der  Formen:  Gast  —  Gäste!  Auch  hier,  meint 
er,  finde  eine  Gliederung  einer  Gesamtvorstellung  stets  statt,  wenn  man 
sie  in  den  Anfangsstadien  auch  nicht  verfolgen  könne  (S.  95).  Dies  ist 
lediglich  eine  Theorie  und  weiter  nichts  als  eine  solche.  Der  Verfasser, 
Vertreter  der  vergleichenden  Sprachwissenschaft  an  der  Universität  Krakau, 
präsentiert  sich  hier  als  vollendeter  Sprachphilosoph.  Die  Erfahrung  hat 
gelehrt,  dafs  verläfsliche  Erkenntnis  auf  sprachvergleichendem  Gebiet  nur 
erreichbar  ist  innerhalb  der  Grenzen  und  auf  dem  Boden  des  tatsächlich 
Gegebenen,  die  exakte  Forschung  mufs  erst  viel  weiter  gediehen  sein,  ehe 
man  an  eine  fruchtbringende  Vereinigung  von  Sprachgeschichte  und  Sprach- 
psychologie, wie  sie  vereinzelt  in  Paul  erfolgreich  vertreten  ist,  in  gröfse- 
rem  Mafstabe  denken  kann. 

Tübingen.  W.  Franz. 

Emil  Sulger-Gebing,  Hugo  v.  Hofmannsthal.  Eine  literarische  Studie. 
(Breslauer  Beiträge  zur  Literaturforschung,  herausgegeben  von  M.  Koch 
und  Gregor  Sarrazin,  III.)  Leipzig,  M.  Hesse,  1905.  M.  2,50,  Sub- 
skriptionspreis M.  2,15.     93  S.  8. 

Die  Schrift  will  (S.  81)  nicht  der  Kritik,  sondern  der  Einführung  in 
das  Wirken  des  Wiener  Dichters  dienen.  Sie  tut  es  mit  Takt  und  Liebe, 
doch  ohne  die  Vertiefung  des  literarhistorischen  Hintergrundes,  die  diese 
merkwürdige  Figur  erst  ganz  verständlich  machen  würde.  Seine  Be- 
ziehungen zur  deutschen  Romantik  (S.  5  f.,  29)  und  zur  romanischen 
Kunst  (d'Annunzio  S.  21,  die  Düse  S.  22)  darf  das  Wienerische  seiner 
Poesie  nicht  vergessen  lassen;  und  wenn  er  auch  das  eherne  Gesetz  (S.  16) 
gar  wohl  kennt,  das  Problem  des  Todes  (S.  54)  ernst  anfafst  —  es  ist 
doch  kein  Zufall,  sondern  ein  Problem,  weshalb  er  einen  Prolog  für 
Schnitzler  geschrieben  hat!  Ebenso  zeigt  S.-G.  fein  des  Dichters  Stel- 
lung zu  den  grofsen  Fragen:  Natur  (S.  4)  und  bildende  Kunst  (S.  19), 
Leben  (S.  8)  und  Traum,  Antike  (S.  71)  und  Moderne;  aber  die  Grund- 
lage seiner  philosophischen  Stimmungen  (S.  27)  kann  aus  dem  'Heimweh 
nach  der  Jugendlichkeit'  (S.  13  —  ein  wunderschöner  Ausdruck  des  Dich- 
ters!) allein  nicht  aufgeklärt  werden.  Was  Hofmannsthal  zur  Renaissance 
zieht  (S.  31  f.),  was  die  beiden  grofsen  Gruppen  seiner  Menschen  (S.  25) 
scheidet,  das  müfste  doch  aus  seinem  eigenen  Wesen  gedeutet  werden ; 
der  Verf.  aber  läfst  den  Dichter  (S.  21  f.)  allzusehr  hinter  dem  bunten 
Teppich  seiner  Werke  verschwinden. 

Eingehende  Studien  über  Sprache  und  Verskunst  wird  man  hier  nicht 
erwarten,  so  sehr  auch  die  Virtuosität  zu  ihnen  locken  mag;  doch  wird 
Hofmannsthals  Dichtung  mit  den  Vorbildern  bei  Otway  (S.  43)  und 
Euripides  (S.  75)  geschickt  verglichen.  Unverständlich  freilich  bleibt  mir 
(S.  24)  das  Lob  der  Übersetzung  von  Renards  'Fuchs';  diese  eilige  Wieder- 
gabe, die  etwa  'la  derniere  des  elenderes'  (das  verworfenste  Weib  unter 
der  Sonne)  mit  'die  Letzte  der  Letzten'  verdeutscht,  scheint  mir  in  ihrer 
Hast  des  sorgfältigen  Künstlers  geradezu  unwürdig. 

In  dem  Hervorzaubern  von  Stimmungen  sieht  S.-G.  (S.  18)  mit  Recht 
Hofmannsthals  gröfste  Kraft.  Durch  die  Reihe  seiner  nach  Gattungen 
übersichtlich  geordneten  Werke  verfolgt  er  diese  Kunst  in  sympathischer 
Besprechung.     In    einer  glänzend  vollständigen  Aufzählung  der  Schriften 


218  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

macht  rieh  der  Verf.  dann  noch  besonders  um  den  Literarhistoriker  ver- 
dient, der  wohl  weife,  dafs  so  ziemlich  nichts  schwerer  ist,  als  alle  Ar- 
beiten auch  nur  eines  wenig  produktiven  Modernen  zu  sammeln. 

Berlin.  Richard  M.  Meyer. 

Dr.  Bruno  Busse,  Wie  studiert  man  neuere  Sprachen?  Ein  Rat- 
geber für  alle,  die  sich  dem  Studium  des  Deutschen,  Englischen  und 
Französischen  widmen.  Stuttgart,  Wilhelm  Violet,  1904  (Violets  Studien- 
führer). 

Dr.  Busse  rechtfertigt  sein  Unterfangen,  einen  neuen  Ratgeber  für 
Neuphilologen  zu  schreiben,  mit  der  Bemerkung,  dafs  die  vorhandenen 
fast  alle  die  Germanistik  mehr  als  stiefmütterlich  behandelten,  während 
doch  erfahrungsgemäfs  Deutsch  immer  das  beliebteste  Kombinationsfach 
im  Staatsexamen  war.  Sein  Buch  sollte  also  als  bequemes  Nachschlage- 
buch für  drei  miteinander  eng  verbundene  und  auch  durch  die  Praxis 
aufeinander  angewiesene  Fächer  zuverlässigen,  wenn  auch  knappen  Rat 
geben.  Nicht  als  ob  Busse  den  gleichmäfsigen  Betrieb  von  Deutsch,  Fran- 
zösisch und  Englisch  zum  Zweck  der  Erwerbung  einer  Fakultas  für  Ober- 
klassen in  allen  drei  Fächern  empfehlen  möchte ;  denn  er  hält  trotz  gegen- 
teiliger Behauptungen  an  der  Meinung  erfahrener  Dozenten  und  Schul- 
männer fest,  dafs  die  Aufgabe,  zwei  moderne  Sprachen  zugleich  zu  be- 
herrschen, die  durchschnittliche  Leistungsfähigkeit  übersteige.  Aber 
die  Sache  liegt  nun  einmal  so,  dafs  Französisch  und  Englisch  fast  immer 
zusammen  genommen  werden,  und  danach  hat  denn  auch  Busse  sein  Buch 
eingerichtet.  In  acht  aufeinander  folgenden  Kapiteln  spricht  er  von  der 
Berufswahl  und  den  deutschen  Universitäten ;  vom  Begriff  und  Umfang 
der  germanischen  und  romanischen  Philologie  und  den  Anforderungen  der 
Praxis;  von  der  praktischen  Ausbildung;  vom  wissenschaftlichen  Studium 
im  engeren  Sinne;  von  Studien  plan,  Promotion,  Staatsexamen  und  von 
der  pädagogischen  Vorbildung.  Was  er  darüber  zu  sagen  hat,  deckt  sich 
naturgemäfs  vielfach  mit  den  Ausführungen  seiner  Vorgänger;  aber  er 
bringt  es,  in  lebendiger  Erinnerung  an  seine  eigene,  noch  nicht  lange  zu- 
rückliegende Studienzeit,  mit  solchem  Eifer  und  solcher  Frische  vor,  dafs 
er  des  Eindruckes  auf  seine  Altersgenossen  sicher  sein  kann.  Zwar  fehlt 
es  den  Studenten  auch  nicht  an  Rat  und  Belehrung  von  Seiten  der  Do- 
zenten, die  ja  heute  nicht  mehr  in  unzugänglicher  Höhe  über  ihnen  thro- 
nen und  unbekümmert  um  die  Bedürfnisse  der  Schule  ihre  Weisheit  ver- 
künden; allein  man  läfst  sich  doch  einen  Weg  am  liebsten  von  dem 
weisen,  der  ihn  selber  eben  erst  gegangen  ist. 

Besonders  wohltuend  berührt  die  Wärme,  mit  der  Busse  die  Not- 
wendigkeit einer  streng  wissenschaftlichen  Vorbildung  für  den  künftigen 
Lehrer  verteidigt,  ohne  darum  die  Erfordernisse  der  Praxis  zu  übersehen. 
Denn  Wissenschaft  und  Praxis  befehden  sich  keineswegs,  und  die  Uni- 
versität, die  zwar  vornehmlich  die  eine  pflegt,  sucht  daher,  in  richtiger 
Erkenntnis  des  Verhältnisses  zwischen  beiden,  doch  auch  die  praktische 
Ausbildung  der  neuphilologischen  Studenten  nach  Möglichkeit  zu  fördern. 
Zur  reinen  Schule  der  Sprechfertigkeit  und  zur  ausschliefslichen  Verabrei- 
chung dessen,  was  der  künftige  Lehrer  brühwarm  seinen  Jungen  vorsetzen 
will,  wird  sie  aber  hoffentlich  der  laute  Ruf  radikaler  Reformer  mit  ihrer 
allzu  beschränkten  Vorstellung  von  den  Aufgaben  eines  'brauchbaren 
Schulmeisters'  niemals  herabdrücken.  Es  mag  zugestanden  werden,  dafs 
der  praktischen  Ausbildung  der  Studenten  auf  unseren  Universitäten  lange 
Zeit  nicht  die  gebührende  Sorge  zuteil  wurde.  Ihre  Bedeutung  ist  gewifs 
nie  unterschätzt  worden,  aber  die  Verhältnisse  lagen  zu  ungünstig.  So 
klagten  die  Lehrer  über  Vernachlässigung  dieser  wichtigen  Seite  der  Vor- 
bildung für  ihren  künftigen  Beruf,  und  die  Dozenten  hinwiederum  be- 
riefen sich  darauf,   dafs  die  Kandidaten   die  praktische  Grundlage   fürs 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  219 

wissenschaftliche  Studium  billigerweise  von  der  Schule  mitbringen  müfsten. 
Man  bewegte  sich  da  in  einem  beständigen  Zirkel.  Nun  ist  in  dieser  Hin- 
sicht überall  vieles  besser  geworden.  Busse  weist  in  einer  Anmerkung 
auf  S.  61  auf  die  idealen  Zustände  hin,  die  in  Berlin  für  das  Englische 
zu  bestehen  scheinen.  Auch  wir  in  Greifswald  haben,  freilich  mit  be- 
scheideneren Mitteln,  einen  englischen  Konversationskurs  eingerichtet, 
nachdem  schon  lange  vorher  auf  Anregung  des  Lektors  Ashby  eine  'De- 
bating  Society'  nach  englischem  Muster  gegründet  werden  war,  die  meh- 
rere Jahre  bestand,  aber  aus  mancherlei  Ursachen  ihren  Zweck  nicht  voll- 
kommen erfüllte.  Es  kann  sein,  dafs  man  den  praktischen  Bedürfnissen 
der  neuphilologischen  Studenten  nicht  an  allen  Universitäten  so  hilfreich 
entgegenkommt  wie  in  Berlin;  allein  ich  möchte  doch,  im  Gegensatz  zu 
Busse,  glauben,  dafs  das  Gebotene  überall  ausreichen  würde,  um  den  For- 
derungen der  Prüfungsordnung  zu  genügen,  wenn  nur  die  Gelegenheit, 
zu  lernen,  insbesondere  auch  von  den  Lektoren  zu  lernen,  immer  recht 
fleifsig  benutzt  würde.  Gerade  die  kleineren  Universitäten  gewähren  bei 
der  Möglichkeit  eines  engeren  persönlichen  Verkehrs  mit  den  Lektoren  in 
dieser  Hinsicht  manche  Vorteile.  Immerhin  bleibt  auf  dem  wie  auf  allen 
Gebieten  der  selbständigen  Arbeit  des  einzelnen  noch  vieles  überlassen. 
Busse  gibt  verständige  Batschläge  für  die  zweckmäfsigste  Ausnutzung  der 
Mittel,  die  dem  Studierenden  zur  Erlernung  der  modernen  Sprache  ge- 
boten sind.  —  Unter  den  Handbüchern  der  Phonetik  wäre  auch  Otto 
Jespersens  Lehrbuch  der  Phonetik,  autorisierte  Übersetzung  von  Hermann 
Davidsen,  1904,  Leipzig  und  Berlin,  Druck  und  Verlag  von  B.  G.  Teub- 
ner,  zu  erwähnen.  —  Statt  A.  Westen  mufs  es  heifsen  Western.  —  Bei- 
läufig bemerkt:  Was  meint  Busse  mit  dem  'Schwund  des  r',  der  als  Lon- 
dinismus  nicht  zu  empfehlen  sei?  Er  denkt  dabei  wohl  an  den  Mangel 
jener  von  Lloyd  beschriebenen  koronalen  Artikulation  der  Vokale  vor 
dem  r  bei  folgendem  Konsonanten  oder  in  pausa?  Der  ist  aber  nicht  nur 
in  London,  sondern  überhaupt  im  gebildeten  Südenglisch*  heute  allgemein; 
vgl.  Storm  I-,  S.  450  und  463.  —  Was  den  wünschenswerten  Aufenthalt 
im  Auslande  betrifft,  so  glaube  ich  auch,  dafs  die  geeignetste  Zeit  dafür 
unmittelbar  nach  dem  Abschlufs  der  Studien  sein  würde.  Jedenfalls  mufs 
man,  wenn  er  wirklich  nutzbringend  werden  soll,  möglichst  gut  dafür 
vorbereitet  sein,  sonst  kehrt  man  mit  all  den  Mängeln,  die  man  mitgenom- 
men hat,  und  noch  dazu  mit  einem  ungerechtfertigten  Dünkel  wieder 
heim;  denn  man  darf  ja  nicht  glauben,  dafs  einem  im  fremden  Lande  die 
Sprache  und  alles  übrige,  was  man  lernen  will,  von  selbst  angeflogen 
kommt.  —  Die  Zahl  derer,  die  als  'Repef  iteurs  eHrangers'  nach  Frankreich 
gehen,  scheint  sich  zu  mehren.  Busse  rät  vorläufig  von  der  Übernahme 
einer  solchen  Stelle  noch  ab,  allein  nach  dem,  was  ich  von  Studenten 
darüber  erfahren  habe  (es  sind  gegenwärtig  fünf  von  uns  so  beschäftigt), 
darf  man  sie  unter  bestimmten  Voraussetzungen  vielleicht  doch  empfehlen. 

Ein  umfangreiches  Kapitel  widmet  Busse  dem  wissenschaftlichen  Stu- 
dium im  engeren  Sinne;  denn  das  ist  es,  'was  dem  Universitätsstudium 
seinen  eigentlichen  Charakter  verleiht'  und  den,  der  sich  ihm  mit  Lust 
und  Liebe  ergibt,  über  den  Banausen  erhebt,  der  'stets  ängstlich  die  Para- 
graphen der  Prüfungsordnung  zu  Rate  zieht,  um  ja  nicht  einmal  zu  viel 
zu  tun'. 

In  den  einzelnen  Paragraphen  handelt  Busse  von  der  allgemeinen  und 
der  vergleichenden  Sprachwissenschaft,  vom  Lateinischen,  von  der  deut- 
schen, englischen  und  französischen  Philologie,  von  der  historischen  Gram- 
matik, von  der  Lektüre,  der  Literaturgeschichte  und  den  Hilfsdisziplinen 
(Schriftwesen,  Metrik,  Mythologie  und  Heldensage,  Geschichte).  Prak- 
tische Hinweise  auf  die  vorhandenen  hauptsächlichsten  Hilfsmittel,  auf 
passende  Verteilung  der  einzelnen  Teilgebiete  auf  die  Zeit  des  Studiums 
und  ähnliches  schliefst  er  an  allgemeine  Bemerkungen  über  die  in  Frage 
kommenden  Wissensgebiete  an.    Hier  wäre  nun  insbesondere  bei  den  Lite- 


220  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

raturangaben  freilich  vieles  nachzutragen  und  manche  Ungenauigkeit  zu 
verbessern.  Das  Englische  namentlich  ist  nicht  allzu  gut  weggekommen. 
So  heifst  das  bekannte  Buch  von  Zupitza-Schipper  (jetzt  in  7.  Auflage  er- 
schienen): 'Alt-  und  mittel  englisches  (nicht  altenglisches  und  neueng- 
lisches) Übungsbuch'.  —  'The  Student' s  Chaucer'  ist  doch  nur  von  Skeat 
allein,  nicht  von  Skeat  und  Morris  herausgegeben.  —  Für  die  mittelenglische 
Lektüre  empfiehlt  Busse  unter  anderem  'The  Ormulum',  ed.  R.  M.  White 
(und  R.  Holst).  Er  wird  doch  hoffentlich  nicht  im  Ernst  verlangen,  dafs 
einer  das  ganze  langatmige  und  trockene  Werk  durchlesen  soll,  während 
er  für  Uterarisch  ungleich  bedeutsamere  Denkmäler  anscheinend  nur  auf 
Auszüge  in  Chrestomathien  angewiesen  ist.  Bei  der  Gelegenheit  möchte 
ich  übrigens  nicht  unterlassen,  neben  der  Tauchnitx  'Collection  of  British 
Aidhors'  und  neben  den  Bänden  der  'English  Library'  von  Heinemann 
und  Balestier,  die  Busse  als  Textbücher  für  neuenglische  Lektüre  erwähnt, 
die  Benutzung  der  vortrefflichen,  von  M.  Förster  besorgten  Neuausgabe 
von  Herrigs  'Glassical  Authors'  den  Studenten  recht  warm  ans  Herz  zu 
legen.  —  Die  Zahl  der  empfehlenswerten  Literaturdarstellungen  liefse  sich 
ebenfalls  leicht  vermehren.  Im  übrigen  aber  glaube  ich,  dafs  der  Student 
immer  am  besten  tut,  in  betreff  der  Hilfsmittel  zum  Selbststudium  sich 
an  die  Weisungen  der  Dozenten  zu  halten  und  auch  die  Bücher  der 
Seminarbibliothek  fleifsig  zur  Hand  zu  nehmen. 

Die  Zeit  vom  Beginn  des  Studiums  bis  zum  Staatsexamen  schlägt 
Busse,  entsprechend  der  jetzt  üblichen  Praxis,  auf  zehn  Semester  an  und 
stellt  für  die  zweckmäfsigste  Ausnutzung  derselben  sehr  umfassende  Stu- 
dienpläne auf:  1)  für  Germanisten,  2)  für  Anglisten,  3)  für  Romanisten, 
wobei  jedesmal  die  Verbindung  von  zwei  sprachlichen  Hauptfächern  mit 
einem  solchen  Nebenfach  vorausgesetzt  wird.  Dafs  die  genaue  Befolgung 
dieser  Pläne  kaum  einmal  möglich  sein  wird,  gesteht  Busse  selbst  zu. 
Aufgefallen  ist  mir  nur,  dafs  S.  124  'historische  Grammatik'  und  'Einfüh- 
rung in  das  wissenschaftliche  Verständnis  der  lebenden  Sprache'  als  zwei 
getrennte  Vorlesungsgegenstände  nebeneinander  gestellt  werden.  Ich  habe 
bisher  immer  gemeint,  die  Aufgabe  der  historischen  Grammatik  bestehe 
eben  darin,  dafs  sie  in  das  'wissenschaftliche  Verständnis'  der  lebenden 
Sprache  einführe.  'Historical  grammar  tries  to  explain  the  phenomena  of 
a  language  by  tracing  them  back  to  their  earlier  stages  in  that  language' 
(Sweet).  Vorausgesetzt  werden  mufs  natürlich  die  Kenntnis  der  lebenden 
Sprache  und,  was  auch  Busse  S.  52  betont,  phonetische  Schulung  —  hier 
berühren  sich  also  Wissenschaft  und  Praxis  — ;  dazu  aber  auch  eine 
wenigstens  elementare  Kenntnis  der  Tatsachen  der  älteren  Sprachperioden 
(vgl.  Busse  S.  97),  denn  sonst  wird  einer  von  der  Masse  des  ihm  völlig 
fremden  Stoffes  erdrückt  und  schreibt  sich  im  Kolleg  nur  einen  roten 
Kopf  an.  Das  ist  mir  von  Studenten  oft  genug  bestätigt  worden.  Ich 
halte  es  daher  für  sehr  bedenklich,  Studenten  schon  im  zweiten  Se- 
mester den  Besuch  einer  Vorlesung  über  historische  Grammatik  zu  empfeh- 
len, wie  es  die  meisten  der  bisher  aufgestellten  Studienpläne  zu  tun  pflegen. 
Man  braucht  nur  einmal  einen  Blick  in  das  Kollegienheft  eines  solchen 
Neulings  zu  werfen,  um  mit  Schaudern  den  Greuel  der  Verwirrung  zu 
bemerken,  den  ein  Dozent  bei  so  Unvorbereiteten  anrichten  kann. 

Zum  Schlüsse  noch  ein  Wort  über  die  Promotion,  worüber  Busse  im 
6.  Kapitel  spricht.  Es  handelt  sich  darum,  ob  die  Promotion  in  jedem 
Falle  zu  empfehlen  sei,  und  ob  sie  vor  oder  nach  dem  Staatsexamen  er- 
folgen solle.  Die  erste  Frage  beantwortet  Busse  nach  Erwägung  der 
Gründe  für  und  wider  mit  ja.  Ich  möchte  ihm  nicht  unbedingt  recht 
geben.  Ein  Student  mit  Durchschnittsbegabung  und  Fleifs  kann  ein  guter 
Lehrer  werden.  Er  kann  so  viel  Wissenschaft  in  sich  aufnehmen,  als  die 
richtige  Ausübung  seines  Berufes  erfordert;  aber  die  Befähigung,  durch 
selbständige  Forschung  die  Wissenschaft  zu  fördern,  braucht  er  "darum 
noch   nicht   zu   besitzen.    Nun  meint  zwar  Busse  S.  133,   derJKandidat 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  221 

habe  im  -wesentlichen  nur  den  Nachweis  zu  liefern,  dafs  er  es  gelernt  habe, 
wissenschaftlich  zu  arbeiten  . . . ;  im  übrigen  verböte  ja  schon  die  enge  Be- 

frenzung  des  Themas  samt  der  verhältnismäfsigen  Unerfahrenheit  des  Kandi- 
aten,  (an  eine  Dissertation)  allzu  grofse  Ansprüche  zu  stellen.  Aber  das  ist 
es  eben,  was  mich  etwas  bedenklich  macht:  die  Gefahr,  dafs  bei  Massen- 
produktionen die  Ansprüche  zu  niedrig  gestellt  werden  und  die  deutschen 
Universitäten  mit  Recht  den  Vorwurf  verdienen  könnten,  die  'Dissertation- 
mongery'  zu  befördern.  Wer  freilich  das  Zeug  dazu  hat,  'an  seinem  Teile 
an  dem  stolzen  Bau  der  Wissenschaft  mitzuarbeiten  und  aus  eigener  Kraft 
eine  wissenschaftliche  Aufgabe  zu  lösen'  —  und  Busse  selbst  hat  es  ja 
rühmlich  dargetan  — ,  der  mag  sich  immerhin  ein  Thema  für  eine  Disser- 
tation geben  lassen,  obwohl  es  mir  wünschenswerter  und  auch  für  die 
Wissenschaft  keineswegs  nachteiliger  schiene,  wenn  einer  im  Verlauf  seiner 
Studien  selber  auf  etwas  stiefse,  was  ihn  zu  eingehender  Forschung  und 
Bearbeitung  anreizte. 

Die  zweite  Frage,  ob  man  vor  oder  nach  dem  Staatsexamen  promo- 
vieren soll,  entscheidet  Busse  im  ersten  Sinne.  Die  Gründe,  die  er  dafür 
anführt,  sind  ja  einleuchtend.  Aber  auch  hier  habe  ich  einige  Bedenken. 
Wer  durch  die  Verhältnisse  darauf  angewiesen  ist,  sich  vor  allem  mög- 
lichst bald  eine  feste  Grundlage  für  seine  künftige  Existenz  zu  schaffen, 
dem  rate  ich  unter  allen  Umständen,  seinen  Blick  zunächst  auf  das  Staats- 
examen zu  richten  und  seine  ganze  Kraft  dafür  einzusetzen;  denn  nie- 
mand weifs  im  voraus  genau,  wie  lange  ihn  eine  Dissertation  aufhalten 
werde.  Mancher  hat  schon  mehr  Semester  damit  verbracht,  als  er  sich 
vorgenommen,  und  hat  während  der  Zeit  auf  verschiedenen  Wissens- 
gebieten Lücken  offen  lassen  müssen,  die  dann  beim  Staatsexamen  in  un- 
erfreulicher Weise  zutage  kamen.  Auf  jeden  Fall  sollte  man,  wie  auch 
Busse  rät,  erst  in  den  späteren  Semestern  an  die  Wahl  und  Bearbeitung 
eines  Themas  für  eine  Dissertation  gehen.  Einer  der  von  Busse  S.  134 
erwähnten  Vorteile  der  Promotion  vor  dem  Staatsexamen  erweist  sich 
übrigens  für  Anglisten  und  Romanisten  als  trügerisch :  eine  englische  oder 
französische  Dissertation  darf,  da  sie  in  der  Regel  deutsch  geschrieben 
sein  mufs,  in  Preui'sen  nicht  als  schriftliche  Prüfungsarbeit  angerechnet 
werden.1  Für  Dissertationen  aus  anderen  Fächern  besteht  kein  solches 
Verbot.  So  kann  z.  B.  einem  Germanisten,  der  promoviert  hat  und  beim 
Staatsexamen  eine  Lehrbefähigung  im  Deutschen  und  Englischen  oder 
Französischen  für  Oberklassen  erwerben  will,  die  Anfertigung  einer  schrift- 
lichen Hausarbeit  erlassen  werden;  der  Examinator  im  Englischen  oder 
Französischen  mufs  sich  dann,  oder  darf  sich  wenigstens,  mit  einer  Klausur- 
arbeit des  Kandidaten  begnügen,  die  also  in  diesem  Falle  für  die  Bewer- 
bung um  eine  Fakultas  für  die  erste  Stufe  allein  schon  als  ausreichend 
erachtet  wird.  Aber  zusammen  mit  einer  Dissertation  auf  dem  Gebiete 
des  Englischen  oder  Französischen  reicht  die  Klausurarbeit  für  jenen 
Zweck  nicht  mehr  aus;  es  mufs  noch  eine  schriftliche  Hausarbeit  hinzu- 
kommen, und  die  einzige  Vergünstigung,  die  dem  Kandidaten  gewährt 
werden  kann,  ist  die,  dafs  durch  eine  Entscheidung  des  Vorsitzenden  der 
Prüfungskommission  im  Einvernehmen  mit  dem  betreffenden  Examinator 
das  Thema  für  die  Hausarbeit  dem  Bereiche  der  Dissertation  entnommen 
werden  darf.  Man  sieht,  es  wird  den  Neuphilologen  nicht  gerade  leicht 
gemacht,  ihr  Ziel  zu  erreichen.  Busses  Studienführer  kann  ihnen  durch 
seine  Ratschläge  manchen  Um-  und  Irrweg  ersparen. 

Greifswald.  M.  Konrath. 


1  Nur  eine  Teil  Übersetzung  der  Diss.  in  die  Fremdsprache  wird  nachgefordert. 
In  zehn  Jahren  Berliner  Tätigkeit  sah  ich  noch  nicht  Einen  zur  Doktorsprüfung 
gelangen,  der  die  Staatsprüfung  bereits  gemacht  hatte.  Dafs  möglichst  viele  Neu- 
sprachler den  Doktor  machen,  empfiehlt  sich  sowohl  behufs  ihrer  besseren  Aus- 
bildung als  zur  Hebung  ihres  Ansehens  in  Kollegenkreisen.  A.  B. 


222  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Ernst  Otto,  Typische  Motive  in  dem  weltlichen  Epos  der  Angel- 
sachsen.    Berlin,  Mayer  &  Müller,  1901.    91  S. 

Der  Verfasser  dieser  Abhandlung  hat  es  unternommen,  gewisse  Ge- 
danken, die  Heinzel  (Stil  der  altgerm.  Poesie)  in  den  Umsissen  festgelegt, 
Richard  M.  Meyer  (Die  altgerm.  Poesie  nach  ihren  formelhaften  Elementen 
beschr.)  auf  breitester  Basis  weiter  ausgeführt  und  in  historischen  Zusam- 
menhang gebracht  hatte,  für  einen  Teil  der  ae.  Dichtung,  das  weltliche 
Epos,  noch  einmal  in  ausführlicherer  Weise  zu  belegen.  Er  schöpft  sein 
Material  aus  Beowulf,  Finn,  Widsid,  Waldere,  Byrhtnöd  und  den  histo- 
rischen Gedichten  der  Sachsenchronik  und  legt  es  vor,  in  ein  straffes 
Schema  gespannt,  etwas  zu  sehr  statistisch  und  darum  beim  Lesen  oft 
recht  ungeniefsbar.  Er  behandelt  im  ersten  Teil  Lebewesen  (A.  Mora- 
lische Eigenschaften:  Gott,  König,  Gefolgsleute,  Ungeheuer.  B.  Geistes- 
kräfte. C.  Stimmung.  D.  Aufsere  Eigenschaften.  E.  Lebenslauf),  im 
zweiten  Zuständliches  (Waffen,  Schatz,  Szenerie),  im  dritten  Vor- 
gänge (Kampf,  Reden,  dream,  Begräbnis,  Schiffahrt,  Körperliche  Übungen 
und  Spiele,  Kunst  und  Wissenschaft),  im  vierten  Urteile  und  Empfin- 
dungen des  Dichters.  —  Die  Fülle  dieses  auf  knappen  Raum  zu- 
sammengedrängten Materials  macht  die  Arbeit  nützlich  und  brauchbar, 
wenn  auch  vieles  nicht  neu  und  manches  nicht  typisch  ist.  Leider  sind 
die  Zitate  nur  selten  ausgedruckt,  so  dafs  man  des  Nachschlagens  in  den 
Quellen  nicht  überhoben  wird.  Indem  der  Verfasser  seine  Ergebnisse  mit 
den  über  das  geistliche  Epos  der  Angelsachsen  bekannten  Tatsachen  ver- 
gleicht, sowie  Parallelen  aus  dem  As.,  Ahd.  und  An.  heranzieht,  folgt  er 
der  Methode  seiner  Vorgänger.  Manches  bleibt  dabei  aber  doch  recht  an 
der  Oberfläche.  Wie  in  solchen  Fällen  eine  Vertiefung  zu  erreichen  ge- 
wesen wäre,  zeigt  z.  B.  ein  Vergleich  zwischen  dem,  was  der  Verfasser 
über  die  Frau  in  der  weltlichen  Dichtung  sagt,  im  Vergleich  zu  Roeders 
Darstellung  (Familie  bei  den  Angelsachsen),  die  Otto  nicht  zu  kennen 
scheint. 

Bremen.  Heinrich   Spies. 

Leonhard  Wroblewski,  Über  die  altenglischen  Gesetze  des  Königs 
Knut.     Diss.    Berlin,  Mayer  &  Müller,  1901.    60  S. 

Diese  Untersuchung  reiht  sich  anderen  Arbeiten  an,  die  in  jenen 
Jahren  über  altenglische  Gesetze  erschienen  sind.  Die  Einleitung  (Knuts 
Verhältnis  zur  altenglischen  Sprache)  schildert,  um  eine  Voraussetzung 
für  die  im  Gesetzbuch  zu  erwartende  Sprache  zu  gewinnen,  kurz  die  Um- 
gebung des  Königs:  Traditionen  der  Regierung,  Knuts  religiöse  Stellung, 
seine  geistliche  und  weltliche  Umgebung,  die  ausschliefsüch  aus  Süd- 
engländern, insbesondere  aus  Westsachsen,  bestand.  —  Kap.  II  befafst 
sich  mit  der  Überlieferung  und  dem  gegenseitigen  Verhältnis  der  Hand- 
schriften der  Gesetze  sowie  eines  ebenfalls  zur  Untersuchung  herangezoge- 
nen Erlasses  Knuts  vom  Jahre  1020.  —  Kap.  III  bildet  den  Hauptteil 
der  Arbeit:  Die  Sprache  der  Handschriften  (Vokalismus  und  Konsonan- 
tismus). 

Der  Verfasser,  der  gute  Kenntnisse  und  gewissenhafte  Arbeitsweise 
verrät,  geht  von  den  westgerm.  Lauten  aus  und  behandelt  unter  jedem 
sämtliche  ae.  Entsprechungen,  wobei  er  verwandte  Arbeiten  zum  Vergleich 
heranzieht.  Was  zunächst  die  Quantitätslehre  anlangt,  so  vermag  ich  hier 
den  Ausführungen  des  Verfassers  grundsätzlich  nicht  zuzustimmen.  Er 
erklärt,  Länge  des  Vokals  wird  (u.  a.)  durch  Akzente  bezeichnet,  und 
zählt  dann  die  Fälle  auf,  in  denen  sich  auf  Vokalen  oder  Diphthongen 
Akzente  finden.  Diejenigen  Fälle,  die  sich  nicht  lautgesetzlich  erklären 
lassen,  werden  durch  Analogie  zu  erklären  gesucht,   wenngleich  der  Ver- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  223 

fasser  auch  so  vorsichtig  ist,  ein  Fragezeichen  hinzuzusetzen  (so  heönan 
nach  heo,  odäe  nach  öp,  öper,  hwcene  =  hwone  nach  hwcem  etc.).  Meines 
Erachtens  ist  der  Verfasser  hier  im  Irrtum ;  sein  an  und  für  sich  löbliches 
Bestreben,  möglichst  zu  erklären  und  nicht  nur  zu  konstatieren,  hat  ihn 
dazu  verführt,  Erklärungen  um  jeden  Preis  zu  geben.  Solange  nicht 
zwingendere  Gründe  und  sichere  Belege  aus  anderen  Denkmälern  beigebracht 
werden,  müssen  wir  in  diesen  Fällen  einfache  Schreibfehler  sehen,  zumal 
das  Me.  in  keinem  dieser  Fälle  Dehnung  aufweist.  Dasselbe  läfst  sich 
in  der  Qualitätslehre  beobachten.  Man  vermifst  ein  festes  Prinzip,  nach 
dem  Schreibungen  als  Schreibfehler  gebucht  oder  als  Formen  mit  laut- 
lichem Wert  angesetzt  werden.  —  Im  Schlufs  der  Arbeit  sind  die  Resul- 
tate zusammengestellt.  Die  in  allen  oder  mehreren  Handschriften  vor- 
kommenden Eigentümlichkeiten  werden  dem  Original  zugewiesen.  Die 
Eigenheiten  einzelner  Handschriften  werden  als  spät  oder  dialektisch  ge- 
deutet und  geschieden.  —  Der  wenig  übersichtliche  Druck  und  der  Mangel 
einer  fortlaufenden  Paragraphenzählung  erschweren  sehr  die  Orientierung 
und  das  Zitieren. 

Ein  paar  Einzelheiten  (von  vielen)  seien  hier  noch  angefügt:  Warum 
wird  sccel  (S.  23  §  5)  als  'Partikel'  bezeichnet?  —  S.  34  §  1,  2  gehört 
streng  genommen  nicht  dahin.  —  S.  36  §  4,  2  -ig  in  penig  als  'Zusammen- 
ziehung von  -mg'  zu  bezeichnen,  dürfte  nicht  ganz  korrekt  sein.  Es  han- 
delt sich  um  denselben  Vorgang,  der  neuerdings  in  zahlreichen  Fällen,  als 
Gegenstück  zur  Einschiebung  von  n  anläfslich  der  Betrachtung  von  nightin- 
gak,  eingehend  erörtert  ist.  —  S.  40,  3.  Die  Zusammensetzung  der  Pro- 
zente (622/3  +  30Va  +  7l/s)  stimmt  nicht.  —  S.  48  §  1.  Unter  1)  heifst  es 
w  >  u  vor  /  z.  B.  saule,  unter  2)  / >  u  z.  B.  liues.  Das  ist  zum  min- 
desten schief  ausgedrückt.  —  S.  51,  6  heifst  es,  'lythum  für  lytlum  könnte 
Analogiebildung  nach  dem  synonymen  lythwön  sein'.  Hier  liegt  doch 
zweifellos  einfacher  Schreibfehler  vor. 

Bremen.  Heinrich   Spies. 

Oskar  Boerner,  Die  Sprache  Robert  Mannings  of  Brunne  und 
ihr  Verhältnis  zur  neuenglischen  Mundart  (Studien  zur  englischen 
Philologie,  herausgegeben  von  Lorenz  Morsbach,  XII).  Halle,  Max 
Niemeyer,  1904.    VII,  313  S.  8.    M.  8. 

Eine  gründliche  Untersuchung  der  Sprache  Roberd  Mannings  mufs 
aus  mehreren  Gründen  als  ein  sehr  wichtiger  und  hochwillkommener  Bei- 
trag zur  englischen  Sprachgeschichte  betrachtet  werden.  Denn  wir  haben 
hier  einen  Dichter  vor  uns,  der  Werke  von  grofsem  Umfange  hinterlassen 
hat,  so  dafs  wir  mit  einem  besonders  reichhaltigen  Material  arbeiten  kön- 
nen ;  besonders  wichtig  ist  aber  der  Umstand,  dafs  wir  über  die  Heimat 
und  die  Lebenszeit  des  Dichters  recht  genau  unterrichtet  sind.  Dadurch 
gewinnen  wir  zuverlässige  Anhaltspunkte  für  die  Beurteilung  anderer 
Denkmäler  aus  benachbarten  Gegenden.  Robert  Manning,  der  ungefähr 
1260  in  Brunne  (jetzt  Bourn)  im  Süden  von  Lincolnshire  geboren  war 
und  in  den  vierziger  Jahren  des  14.  Jahrhunderts  höchst  wahrscheinlich 
in  derselben  Gegend  sein  Leben  beendigte,  verlebte  ohne  Zweifel  den  weit- 
aus gröfseren  Teil  seines  Lebens  innerhalb  der  Grenzen  seiner  heimatlichen 
Grafschaft.  Es  ist  deshalb  anzunehmen,  dafs  er  an  seinem  heimatlichen 
Dialekt  festhielt;  diese  Annahme  wird  auch  durch  die  Schlüsse,  die  sich 
aus  Roberds  Persönlichkeit  und  äufseren  Lebensumständen  ziehen  lassen, 
durchaus  bestätigt.  Er  mufs  entschieden,  wie  Boerner  bemerkt,  in  einer 
Sprache  geschrieben  haben,  die  der  Umgangssprache  seiner  Heimatsgegend 
ziemlich  nahekam.  Infolge  dieser  Umstände  wird  seine  Sprache  für  die 
englische  Sprachkunde,  besonders  für  die  Lokalisierung  und  Datierung 
der  me.  Denkmäler,  um  so  wichtiger. 


224  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Trotzdem  waren  die  bisherigen  Untersuchungen  über  Roberds  Sprache 
recht  dürftig  jedenfalls  vollkommen  unzureichend.  Die  einzige  Spezial- 
arbeit  vor  der  hier  zu  besprechenden  Arbeit  ist  die  Göttinger  Dissertation 
von  G.  Hellmers,  Über  die  Sprache  Hob.  Mannings  of  Brunne  und  über 
die  Autorschaft  der  ihm  zugeschriebenen  Meditations  on  the  Supper  of  our 
Lord  (1885),  mit  Fortsetzung  erschienen  zu  Goslar  in  demselben  Jahre. 
Die  Lautlehre  wird  hier  sehr  knapp  abgefertigt.  Was  in  anderen  Arbeiten 
über  Roberds  Sprache  zu  finden  ist,  ist  noch  spärlicher. 

Mit  um  so  gröfserer  Freude  ist  eine  Detailuntersuchung  wie  das  uns 
vorliegende  Buch  zu  begrüfsen.  Der  Hauptwert  des  Buches  scheint  mir 
in  dem  ungemein  grofsen  und  mit  rühmenswertem  Fleifs  und  lUmsicht 
gesammelten  Material  zu  liegen.  Aus  diesem  Material  hat  der  Verfasser 
auch  Schlüsse  allgemeinerer  und  weittragenderer  Natur  gezogen,  die  er 
an  besonderen  Stellen,  namentlich  am  Ende  der  verschiedenen  Abschnitte, 
fein  sauber  zusammenstellt. 

Diese  Schlüsse  sind  selbstverständlich  so  gut  wie  ausschliefslich  gram- 
matischer Natur.  Einen  Punkt  will  ich  aber  hier  zuerst  herausgreifen, 
weil  er  auch  für  die  Literaturgeschichte  wichtig  ist,  nämlich  die  Frage 
nach  der  Autorschaft  der  Roberd  zugeschriebenen  Meditations  on  the  Supper 
of  our  Lord.  In  seiner  obenerwähnten  Arbeit  hatte  Hellmers  darzutun 
versucht,  dafs  sie  sehr  wohl  von  Roberd  verfafst  sein  könnten,  da  die 
Sprache  in  den  Med.  von  derjenigen  in  den  anderen  von  Roberd  of  Brunne 
sicher  verfafsten  Werken  nicht  wesentlich  abweicht.  Boerner  aber  glaubt 
nun  einen  gröfseren  Einschlag  südlicher  Elemente  konstatieren  zu  können. 
Gegen  die  Verfasserschaft  Roberds  fallen  nach  der  Ansicht  Boerners  auch 
Unterschiede  hinsichtlich  der  Verskunst  und  der  Reimtechnik  ins  Gewicht. 

In  dem  Boernerschen  Buche  wird,  wie  schon  angedeutet,  eine  unge- 
meine Menge  Detailfragen  erörtert.  In  ziemlich  vielen  Fällen  kann  ich  dem 
Verfasser  nicht  beipflichten ;  über  einige  von  diesen  läfst  sich  wohl  streiten, 
aber  in  mehreren  scheint  mir  jedoch  die  irrtümliche  Auffassung  des  Ver- 
fassers auf  der  Hand  zu  liegen.  Einige  Ungenauigkeiten  —  zwar  meistens 
geringfügiger  Art  —  wären  auch  leicht  zu  vermeiden  gewesen.  Auf  alle 
diese  Punkte  kann  ich  hier  nicht  eingehen.  Einige  werde  ich  am  Schlufs 
dieser  Anzeige  beispielsweise  erwähnen,  will  aber  gleich  hervorheben,  dafs 
sie  den  Wert  der  Arbeit  nur  in  sehr  geringem  Maise  beeinträchtigen,  und 
dafs  sie  uns  ihre  Verdienste  nicht  vergessen  lassen  dürfen. 

Nach  einer  kurzen  Einleitung  wird  zuerst  die  Überlieferung  der  Werke 
behandelt.  Interessant  ist  dabei  die  Tatsache,  dafs  der  Text  der  Chronik 
einen  ganz  anderen  und  zwar  nördlicheren  Sprachcharakter  aufweist  als 
der  der  Handlung  Synne.  Die  Verschiedenheiten  rühren  aber  lediglich  von 
den  Schreibern  her;  denn,  wie  Boerner  (und  vor  ihm  Hellmers)  hervor- 
hebt, ist  es  nicht  denkbar,  dafs  Roberd  zur  Zeit  der  Abfassung  der 
Chronik  einen  mehr  nördlich  gefärbten  Dialekt  sprach  als  zur  Zeit,  wo 
er  die  H.  S.  schrieb.  Mit  Recht  werden  in  der  ganzen  folgenden  Dar- 
stellung die  Erscheinungen  in  den  drei  Werken  (Chron.,  H.  S.,  Meditations) 
streng  auseinander  gehalten. 

Danach  folgt  ein  Abschnitt  über  die  Verskunst  und  Reimtechnik  des 
Dichters,  dem  sich  Abschnitte  über  das  auslautende  -n  und  das  auslau- 
tende -e  anreihen.  Das  auslautende  -n  ist  im  allgemeinen  weggefallen, 
nur  in  hochtoniger  Silbe  ist  es  lautgesetzlich  erhalten  geblieben.  Daraus 
zieht  der  Verfasser  den  Schlufs,  dafs  auch  für  den  Havelok  kein  -n  mehr 
anzunehmen  sei.  Statt  der  reichen  Materialsammlung  oder  wenigstens 
neben  ihr  hätte  ich  etwa  eine  kurze  Besprechung  der  Fälle,  in  denen  -n  er- 
halten ist,  erwartet,  da  uns  ja  die  Ausnahmen  weit  mehr  als  die  Hauptregel 
interessieren.  Aus  der  Untersuchung  über  das  End-e  ergibt  sich,  dafs  der 
Prozefs  des  Verstummens  des  -e  noch  nicht  abgeschlossen  war,  dafs  Ro- 
berd ein  Wort  mit  verstummtem  -e  allemal  da  verwenden  konnte,  wo  er 
es  im  Reime  nötig  hatte. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  225 

Der  nun  folgende  Abschnitt  über  die  Lautlehre  (S.  55 — 209)  nebst 
einer  Übersicht  über  dialektische  Formen  (S.  2U9 — 211)  bildet  entschieden 
den  Kern  der  Arbeit.  Die  Lautlehre  umfafst  nur  den  Vokalismus  und 
zwar  nur  den  Vokalismus  der  Keimwörter ;  sie  zerfällt  in  zwei  Abschnitte : 
in  dem  ersten  wird  der  germanische,  in  dem  zweiten  der  aufsergermanische 
Bestandteil  behandelt.  Wir  haben  es  hier  also  mit  einer  Darstellung  zu 
tun,  die  sich  von  den  meisten  derartigen  Arbeiten  dadurch  vorteilhaft  ab- 
hebt, dafs  sie  die  Schreibungen  nur  ausnahmsweise  berücksichtigt  und 
nur  die  Reime  für  beweiskräftig  hält.  Hier  und  dort  geben  die  Reim- 
untersuchungen auch  zu  Emendationen  Anlafs,  von  denen  manche  mir 
sehr  gelungen  erscheinen.  Die  Darstellung  gewährt  gelegentlich  auch 
Einblicke  in  die  Konsonanten  lehre,  besonders  in  die  Frage  über  die  Ent- 
wickelung  von  Vokal  -f-  w,  j,  h,  ht. 

Die. folgenden  Abschnitte  (S.  212 — 271)  behandeln  nun:  die  Flexions- 
lehre, Übersicht  über  die  dialektischen  Formen  aus  der  Flexionslehre, 
dialektische  Abweichungen  der  Meditations  von  der  Handlyng  Synne  und 
der  Chronik,  Listen  der  altnordischen  und  der  französischen  Lehnwörter 
nach  Wortklassen  geordnet. 

Danach  setzt  (S.  271)  die  Vergleichung  von  Roberds  Sprache  mit  der 
neuenglischen  Mundart  ein.  Wir  finden  hier  die  folgenden  Kapitel:  Cha- 
rakteristik der  ne.  Mundart,  Vokalismus  der  ne.  Mundart,  Konsonantis- 
mus im  Me.  und  im  Ne.  und  zuletzt  einige  Resultate  und  Schlulsbemer- 
kungen.  Wenn  man  von  einigen  literarischen  Entlehnungen  bei  Roberd 
absieht,  so  steht  es  nach  der  Darstellung  Boerners  fest,  dafs  in  der 
Mundart  seit  Roberds  Zeit  keine  durchgreifenden  Verschiebungen  ein- 
getreten sind. 

Es  würde  uns  zu  weit  führen,  auf  alle  interessanten  Details,  die  aus 
dem  Buche  herauskommen,  einzugehen.  Statt  dessen  will  ich,  bevor  ich 
schliefse,  mich  mit  einigen  Spezialfragen  beschäftigen,  worin  ich  dem  Ver- 
fasser nicht  beistimmen  kann. l 

S.  35  sagt  Boerner  (betreffs  des  auslautenden  -n):  'wenn  aber  trotz 
der  allgemeinen  Regel  im  part.  praet.  das  -n  zum  Teil  erhalten  ist,  so 
mögen  hier  Ursachen  gewirkt  haben,  die  noch  nicht  ermittelt  sind.'  Als 
'unermittelt'  sind  doch  diese  Ursachen  kaum  zu  bezeichnen!  S.  42  be- 
spricht Boerner  ein  paar  Ortsnamen  aus  Lincolnshire,  die  auf  frühen  Ver- 
lust von  -n  deuten  sollen,  und  die  er  den  von  Bradley  gesammelten  Bei- 
spielen gegenüber  anführt,  die  das  -n  meist  gewahrt  haben  und  demnach 
südliche  Formen  repräsentieren  sollen.  Die  von  Boerner  angeführten  Fälle 
beweisen  aber  gar  nichts,  da  sie  beide  altnordische  Bildungen  sind.  Frisebi, 
Frisatorp  sind,  wie  Saxby,  sicher  von  den  Nordleuten  in  Lincolnshire  ge- 
bildet (ursprünglich  Frtsaby,  Frisaporp,  Saxby).  -by,  -ßorp  sind  typische 
nordische  Ortsnamenkomponenten.  S.  56.  In  me.  pakk,  ne.  dial.  thack 
'roof  ist  der  /t-Laut  vollkommen  lautgesetzlich.  In  ae.  pcec  gen.  pceces  etc. 
na.  pl.  pacu,  gen.  pl.  paca,  dat.  pl.  paeum  kann  kein  ts  entstehen.  Wes- 
halb man  also,  um  die  A-Form  in  der  Gegend  Roberds  zu  erklären,  an 
eine  Einwirkung  des  altn.  pak  denken  könnte,  ist  mir  unklar.  S.  58.  Was 
der  Verfasser  mit  an.  kl&pdi  (sie !  so  auch  S.  ö8)  meint,  verstehe  ich  nicht. 
S.  04.  Betreffs  des  Verhältnisses  von  altostn.  grees  zu  altwestn.  gras  ver- 
weise ich  auf  den  Aufsatz  von  Ekwall  in  Nordiska  Studier,  tillegnade  Adolf 
Noreen  S.  247  ff.  S.  70.  Ohne  mich  auf  die  Frage  nach  der  ursprünglichen 
Quantität  des  ne.  crumb  (ae.  erüma  oder  crüma'l)  einzulassen,  mufs  ich  es 
sonderbar  finden,  dafs  Boerner  das  Sb.  als  erüma  ansetzt,  aber  das  dazu 

1  Da  in  Gothenburg,  wo  ich  dieses  schreibe,  sehr  wenige  Hilfsmittel  für  dus 
Studium  von  Roberd  Manning  (einstweilen  nicht  einmal  eine  einzige  Ausgabe  einer 
Manningschen  Arbeit)  vorhanden  sind,  bin  ich  aufserstande  gewesen,  vieles,  was  ich 
gern  nachprüfen  wollte,  näher  zu  untersuchen.  Es  gilt  dies  besonders  für  die  Keim- 
wörter, deren  Bedeutungen  aus  Boerners  Arbeit  sich  öfters  nicht  erschliefaen  lassen. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    CXV.  15 


226  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

gebildete  Verb  *crymman  (nicht  cryn/ari)  schreibt.  Schon  Orrm  hat  emm- 
mes.  —  Als  verwandt  zu  aglyfte^ 'erschrocken'  betrachte  ich  schwed.  dial. 
gluft  'Öffnung',  norw.  dial.  glyfs  'Öffnung',  me.  glopnen  'be  astonished,  terri- 
fied'  usw.;  die  ursprüngliche  Bedeutung  war  'offenstehen,  gaffen'.  S.  71. 
fytte  (H.  £.7756)  mit  'ae.  7  vor  mehrfacher  Konsonanz'  verstehe  ich  nicht; 
die  Ausgabe  von  H.  S.  steht  mir  aber  nicht  zur  Verfügung.  S.  75.  Dafs 
britn  'wild,  wütend'  aus  einer  ae.  Grundform  mit  'unfestem  y'  stammt, 
wird  wohl  niemand  glauben.  —  Kutte  'to  cut'  ist  sicher  nicht  dem  Kel- 
tischen entlehnt;  denn  wie  wären  dann  die  entsprechenden  skandinavischen 
und  niederländischen  Formen  zu  erklären?  Vgl.  übrigens  Ekwall,  Shake- 
spere's  Vocabulary  S.  15  Anm.  4.  S.  79.  Wie  ae.  cnafa  aus  älterem  ae.  Inapa 
entstanden  sein  kann,  ist  mir  unklar.  S.  82  Anm.  2  ist  mir  völlig  unbe- 
greiflich und  wohl  verderbt.  S.  102  mom.  4  anm.  1.  'Anglia  IX'  und 
'Beowulf  1001'.  Der  Verfasser  sagt,  dafs  wend  {Chr.  1771)  ein  Versehen 
für  wond  ist,  das  'in  beiden  Handschriften  steht'.  Von  wem  rührt  dann 
das  Versehen  her?  S.  106.  Zu  der  Schreibung  iverd  'world'  sind  die  Formen 
des  Wortes  in  den  modernen  nordischen  Sprachen  zu  vergleichen,  wo  l  nicht 
mehr  gesprochen  wird ;  im  Dänischen  wird  es  nicht  einmal  mehr  geschrie- 
ben. S.  112.  Im  Reim  wonde  'fear,  hesitate'  :  husbonde  ist  wohl  o  in  hus- 
bonde  eher  aus  ö  in  ostn.  böfajnde  als  aus  ü  in  dem  von  Boerner  angeführten 
büandi  zu  erklären.  Die  Überschrift  ( :  y  'reimt  mit  o  an.  Ursprungs') 
pafst  übrigens  schlecht  zu  'husbonde  (an.  büandiy.  S.  121.  Aschwed.  lä>ra, 
dän.  Imre  stammt  aus  dem  Deutschen  und  kann  nicht  das  me.  lere  er- 
klären. S.  135.  An.  heäan  hat  kurzes  e!  S.  138.  Sehr  verwirrend  für  den 
Leser  ist,  dafs  hier  nach  einer  Anmerkung  in  Petit  Fälle  in  gewöhnlichem 
Druck  gegeben  werden,  die  nur  die  Fortsetzung  der  Anmerkung  bilden. 
Solche  redaktionelle  Fehler  sind  in  ziemlicher  Menge  vorhanden.  Es  mag 
kleinlich  aussehen,  auf  solche  Aussetzungen  einzugehen;  aber  gerade  bei 
einer  Arbeit,  die  ihren  Wert  hauptsächlich  als  Nachschlagebuch  behaupten 
wird,  spielt  doch  die  Übersichtlichkeit,  ja  sogar  eine  zweckmäfsige  Ver- 
wendung der  verschiedenen  Schriftarten  eine  gewisse  Rolle.  S.  145.  y  in 
pryde  ist  nicht  auf  das  Franz.  zurückzuführen,  sondern  ist  durch  ana- 
logischen (funktionellen)  Umlaut  von  ü  in  dem  aus  dem  Franz.  entlehnten 
prüd  entstanden.  S.  154.  Me.  cöme  sb.  ist  nicht  eine  Nachbildung  zu 
an.  kväma,  sondern  entstammt  solchen  nordischen  Formen,  wo  ö  laut- 
gesetzlich ist.  S.  155.  Ein  ae.  jewän  <  an.  vciii  kann  ich  nicht  belegen. 
Ae.  jewan  bedeutet  'wanting,  diminished'.  S.  156.  Ein  Orrmsches  lafe  < 
ae.  geleäfa  kann  ich  nicht  sicher  belegen :  eine  solche  Lesart  soll  zwar  V.  1537 
vorkommen,  scheint  mir  aber  kaum  korrekt.  S.  15.9.  Die  etymologische 
Gleichstellung  von  an.  rot  und  ae.  wyrt  ist  unhaltbar.  S.  166.  Me.  may 
enthält  nicht  ai  <  an.  öe  +  J.  S.  192.  Me.  file  'a  worthless  person',  womit 
Boerner  nichts  anzufangen  weifs,  glaube  ich  in  meinen  Loan-words  richtig 
erklärt  zu  haben.  Das  f  spricht  entschieden  gegen  die  Annahme,  dafs 
es  eine  Variante  von  vile  sei,  erklärt  sich  aber  ungezwungen  aus  an.  -fyla 
'a  worthless  person';  vgl.  an.  mannfyla  'rascai'  (a  term  of  abuse). 

Obwohl  meine  Bemerkungen  noch  bedeutend  vermehrt  werden  könn- 
ten, mache  ich  hier  Schlufs,  da  sie  alle  zu  speziell  sind,  als  dafs  ich  mit 
ihnen  hier  mehr  Raum  in  Anspruch  nehmen  möchte.  Auf  die  ziemlich 
zahlreichen  Druckfehler  einzugehen,  finde  ich  auch  zwecklos. 

Göteborg.  Erik  Björkman. 

Grace  Fleming  Swearingen,  Die  englische  Schriftsprache  bei 
Coverdale,  mit  einem  Anhang  über  ihre  weitere  Entwicklung  in  den 
Bibelübersetzungen  bis  zu  der  Authorized  Version  1611.  Berlin,  Mayer 
&  Müller,  1904.    52  8.  8. 

Tndem  die  Verfasserin  Arbeiten  von  Sopp,  Roemstedt,  Hoelper, 
Dibelius  u.  a.  sich  als  Muster  dienen  läfst,  versucht  sie,  die  Stellung  Cover- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  227 

dales  in  der  Entwickelungsgeschiehte  der  englischen  Schriftsprache  zu 
fixieren.  Ihre  Darstellung  und  die  daraus  erhaltenen  Ergebnisse  beziehen 
sich  aber  hauptsächlich  auf  die  Orthographie.  Die  Aussprache  Coverdales 
ist  übrigens  —  das  mufs  zugestanden  werden  —  für  die  von  der  Ver- 
fasserin behandelten  Fragen  ziemlich  belanglos.  Coverdale,  der  aus  York- 
shire  gebürtig  war,  schrieb  die  Londoner  Schriftsprache  mit  Sorgfalt  und 
Regelmäfsigkeit.  Die  Sprache  (oder  eher  die  Orthographie)  in  Coverdales 
Bibel  (1535)  wird  mit  der  Chaucers  und  mit  den  Sprachformen  Caxtons, 
Tindales  und  Tottels  verglichen.  Auch  die  orthographischen  Eigentüm- 
lichkeiten der  Drucker  Wynkyn  de  Worde  und  Pynson  werden  zum  Ver- 
gleich herangezogen.  Die  Ergebnisse  der  Untersuchung  fafst  die  Ver- 
fasserin (S.  43 — 46)  handlich  zusammen.  In  der  Schreibung  der  Cover- 
daleschen Bibelübersetzung  macht  sich  in  mehreren  Hinsichten  eine  uni- 
formierende Tendenz  geltend.  So  wird  z.  B.  Vokallänge  vor  einfachem 
Konsonanten  konsequent  durch  End-e  bezeichnet.  Für  mehrere  Wörter, 
deren  Orthographie  bei  Tindale,  Bale  und  Tottel  schwankt,  ist  bei  Cover- 
dale eine  bestimmte  einheitliche  Schreibung  durchgeführt. 

In  dem  Anhange  wird  die  Stellung  einiger  späteren  Bibeldrucke  (der 
Craumerschen  Bibel  1539,  der  Geneva-Bibel  1557,  der  Rheims-Bibel  1582 
und  der  Authorized  Version  1611)  zu  der  Coverdaleschen  Bibel  behandelt. 
Wie  Coverdales  Orthographie  im  wesentlichen  nur  eine  Uniformierung 
von  der  Tindales  ist,  so  zeigen  die  späteren  hier  untersuchten  Drucke  eine 
immer  bestimmtere  Einheitlichkeit  in  der  Orthographie,  wobei  Coverdales 
Stellung  als  Zwischenglied  sich  deutlich  erkennen  läfst. 

S.  36 — 42  wird  auch  eine  kurze  Darstellung  der  wichtigsten  Eigen- 
tümlichkeiten der  Flexion  bei  Coverdale  gegeben. 

Mehrere  Irrtümer  und  Ungenauigkeiten  kommen  vor.  Sie  sind  aber 
für  die  Zwecke  der  Arbeit  belanglos,  und  ich  finde  mich  nicht  veranlafst, 
darauf  weiter  einzugehen.  Ein  Beispiel  möge  genügen:  a  in  ae.  grass- 
hopper  soll  nach  der  Ansicht  der  Verfasserin  aus  grass  'durch  Volks- 
etymologie' genommen  sein. 

Für  denjenigen,  der  ein  Gesamtbild  von  dem  Entwicklungsgänge  der 
englischen  Orthographie  sich  schaffen  will,  wird  unser  Büchlein  gewifs 
nicht  ohne  Bedeutung  sein. 

Göteborg.  Erik  Björkman. 

John  Erskine,  The  Elizabethan  lyric.  A  study.  Columbia  University 
■    Press,  1903.    XVI,  344  S. 

Die  hohe  Entwicklung  der  dramatischen  Literatur  in  dem  England 
des  16.  Jahrhunderts  hat  lange  Zeit  hindurch  eine  arge  Vernachlässigung 
und  Verkennung  der  Bedeutung  jener  Epoche  für  die  englische  Lyrik 
hervorgebracht;  erst  die  Einzelstudien  der  letzten  Zeit  auf  den  verschie- 
denen Zweigen  der  damaligen  Lyrik  haben  ein  gröfseres,  allgemeineres 
Interesse  auf  sie  gelenkt.  Der  Verfasser  des  obigen  Buches  will  nun  eine 
zusammenfassende  Darstellung  der  gesamten  Lyrik  der  Elisabeth  -  Zeit 
geben.  Er  geht  dazu  aus  von  einer  allgemeinen  Besprechung  über  Form 
und  Inhalt  der  lyrischen  Dichtungen,  die  zwar  von  einer  scharfen  Be- 
obachtungsgabe des  Verfassers  zeugt,  die  Grenzen  dieser  Dichtungsart 
aber  so  eng  zieht,  dafs  der  grölsere  Teil  der  Goetheschen,  Heinischen  oder 
Burnsschen  Lyrik  kaum  vor  den  aufgestellten  Anforderungen  bestehen 
könnte.  Im  zweiten  Kapitel  folgt  eine  kurze  Übersicht  über  die  Geschichte 
der  Lyrik  im  Alt-  und  Mittelenglischen.  Diese  Einleitung  hätte,  um  mit  der 
dem  Verfasser  gestellten  Aufgabe  im  Einklang  zu  stehen,  den  Zweck  haben 
müssen,  zu  zeigen,  wie  die  einzelnen  Themen  und  Formen  der  englischen 
Lyrik  in  der  Literatur  zuerst  auftraten,  wie  sie  sich  weiter  entwickelten 
und  welches  ihr  Bestand  im  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  war;  so  dafs 
man   erkennen  konnte,  was  die  zu  behandelnde  Epoche   an  heimatlichen 

15* 


228  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Bestandteilen  übernehmen  konnte  und  was  von  aulsen  dazutrat.  Dieser 
Aufgabe  wird  die  Einleitung  infolge  ihres  allzu  starken  bibliographischen 
Charakters  nicht  im  vollen  Maf'se  gerecht.  Auch  in  dem  Hauptteile  tritt 
dieser  Charakter  des  Buches  zum  Schaden  des  Ganzen  zu  stark  hervor; 
die  Methode  der  chronologischen  Aufzählung  der  einzelnen  Erscheinungen 
mufste  ihre  Mängel  zeitigen.  Zwar  ist  das  vorhandene  Material  fleiisig 
und  geschickt  gesammelt,  so  dafs  das  Ganze  eine  erschöpfende  und  ver- 
läi'sliche  Zusammenstellung  bietet,  aber  von  dem  Mangel  einer  durchgrei- 
fenden Verarbeitung  und  klaren  Anordnung  des  Stoffes  ist  die  Arbeit, 
vielleicht  infolge  der  beobachteten  Methode,  nicht  freizusprechen.  Dafs 
die  Einteilung  in  Miscellany-  und  Sonnet-Periode  etwas  Verschwommenes 
an  sich  hat,  mufste  Erskine  selbst  erkennen,  wenn  er  z.  B.  den  Passionate 
Pilgrim,  der  doch  sicher  zu  den  Miscelfanies  gehört,  nicht  bei  diesen,  son- 
dern bei  den  Sonetten  behandelt,  Englands  Helicon  und  Davisons  Poet. 
Rhapsody  bei  den  ersteren.  Ein  anderer  Nachteil,  den  die  rein  chrono- 
logische Anordnung  mit  sich  bringt,  besteht  darin,  dafs  die  dichterischen 
Persönlichkeiten  zu  sehr  in  den  Hintergrund  treten  und  ein  Gesamtbild 
derselben  durch  die  wiederholten  Einzelbesprechungen  ihrer  Werke  nicht 
mögüch  wird. 

Bei  der  Besprechung  der  Miscellany- Periode  geht  Erskine  von  den 
Mss.-Misc.  der  Zeit  Heinrichs  VIII.  aus,  zu  denen  er  auch  die  Sammlung 
Wynkyn  de  Wordes  153U  rechnet,  die  jedoch  im  Druck  erhalten  ist  und 
das  erste  in  England  gedruckte  Liederbuch  darstellt.  Bei  den  gedruckten 
Miscs.  hätte  eine  allgemeine  Charakteristik  der  Entwicklung  ihres  Ge- 
dankeninhalts und  ihrer  äufseren  Eormen  manches  zu  bieten  vermocht. 
So  scheint  mir,  um  nur  eins  hervorzuheben,  nirgends  die  wachsende  Vor- 
liebe jener  Zeit  für  den  Stabreim,  die  unter  dem  Einflufs  des  wieder 
populär  gewordenen  Piers  Plowman  und  Norths  Gwerara-Ubersetzung  von 
neuem  auflebte,  so  zutage  zu  treten  wie  gerade  in  den  Miscs.  Den  Höhe- 
punkt erreichte  sie  wohl  in  der  Gorg.  gallery  of  gallant  inventions,  bei 
Turberville  und  Churchyard ;  aber  auch  in  Spensers  Schäferkalender  macht 
sie  sich  deutlich  bemerkbar.  Auch  über  die  Persönlichkeiten  in  den  Miscs. 
hätte  einiges  gesagt  werden  müssen.  Beim  Paradise  of  d.  devices  scheint 
es  mir  nahe  zu  liegen,  in  dem  Oxforder  Musiker  Eichard  Edwards,  einem 
der  Hauptbeiträger,  den  Redakteur  des  Ganzen  zu  erblicken,  nach  dessen 
Tode  die  Sammlung  herausgegeben  wurde.  Einer  Klage  von  W.  H.  (William 
Hunis)  über  falsche  Freundschaften  folgt  von  Edwards,  gleichsam  als 
redaktionelle  Anmerkung: 

If  suche  false  shippes  haunte  the  shore, 
titrike  down  the  sailes  and  trust  no  more. 

Ist  der  ebenfalls  unbekannte  Herausgeber  des  Phoenix  Nest  1593,  R.  S., 
vielleicht  mit  dem  Richard  Smith  identisch,  der  1594  Constables  Diana 
mit  mehreren  Sonetten  anderer  Dichter  als  Mise,  herausgab?  Turbervilles 
Epitaphs  etc.  verlegt  Erskine  nach  15/0;  sie  waren  aber  schon  1567  in 
zweiter  Auflage  erschienen ;  die  Nachahmungen  aus  dem  Klassischen,  von 
denen  eine  erwähnt  wird  (S.  102),  sind  Übersetzungen  aus  der  Anthologia 
Qraeca,  die  T.  wahrscheinlich  in  lateinischer  Übersetzung  vorgelegen  hat 
(Koeppel,  Anglia  XIII  09). 

Sowohl  in  der  Mise-  als  auch  in  der  Sonett-Periode  hat  Erskine  den 
Einflüssen  der  kontinentalen  Literatur  noch  nicht  bis  zu  dem  notwendigen 
Grade  nachgeforscht;  die  Lyrik  der  Elisabeth-Zeit  kann  nur  im  engsten 
Anschlufs  und  stetem  Vergleich  mit  der  französischen  und  italienischen 
Literatur  studiert  werden.  In  vielen  Fällen  haben  wir  es  nicht  nur  mit 
Konventionellem  und  Nachempfundenem  zu  tun,  sondern  mit  direkten 
Entlehnungen.  So  sind  sogar  unter  den  Beispielen,  die  Erskine  als  Proben 
aus  den  einzelneu  Dichtern  abdruckt,  manche  nur  Übertragungen.  Dem 
S.  130  angeführten  'Care-charmer  sleep'  von  Daniel  hegt  ein  Sonett  von 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  229 

Desportes  (Amours  d'Hippolyte  I  xxv)  zugrunde,  wie  auch  dem  S.  137 
abgedruckten  'If  this  be  love'  (Amours  de  Diane  I  xxix).  Das  Gedicht 
Fletchers  'In  tyme  the  strong'  (S.  146)  entstammt  der  Anthologia  Oraeca; 
das  Spensersche  'Faire  is  my  love1  (S.  156)  ist  die  Übersetzung  eines  So- 
netts von  Tasso  'Bella  e  la  donna  mia'.  Die  Form  von  Frage  und  Ant- 
wort, die  nach  Erskine  Grimauld  eingeführt  haben  soll,  hat  ihre  Vorlage 
in  der  Epistel  'In  simulacrum  Occasionis'  der  Anthologia  Oraeca;  Gri- 
mauld, der  unabhängig  von  den  Italienern  schafft,  ist  überhaupt  typisch 
für  den  Einfluls  der  Klassiker.  Einen  Einflufs  Ronsards  auf  Lodges  Lyrik 
stellt  Erskine  in  Abrede;  Sidney  Lee,  Elixabethan  Sonnets  I  xvm,  führt 
nicht  weniger  als  fünf  direkte  Übersetzungen  an.  Selbst  die  Verwendung 
religiöser  Stoffe  zu  Sonetten  stammt  aus  der  französischen  Literatur,  in 
der  schon  1577  die  Sonnets  spirituels  des  Abbe"  Jacques  de  Billy  erschienen. 

Ebenso  stark  tritt  dieser  kontinentale  Einflufs  in  den  Songbooks  zu- 
tage, wo  es  Erskine  auch  mit  Recht  hervorhebt.  Als  ergänzend  möchte 
ich  noch  anführen,  dafs  das  S.  222  abgedruckte  'Brown  is  my  love'  eine 
wörtliche  Übersetzung  des  italienischen  Madrigals  'Bruna  sei  tu  ma  bella' 
von  Ferabosco  ist.  Auch  die  Triumphs  of  Oxiana  haben  ein  kontinentales 
Vorbild  in  den  Triomfi  de  Dori,  von  denen  sie  sogar  den  Refrain  ent- 
lehnten. 

Auch  in  den  Songbooks  führt  die  Anordnung  nach  chronologischen 
Gesichtspunkten  Nachteile  mit  sich:  es  tritt  der  Unterschied  zwischen  den 
einzelnen  Gattungen  der  Madrigale,  Ballets  und  Airs  nicht  genügend  her- 
vor. Ungenau  ist  auch,  wenn  Erskine  mit  diesen  zusammen  die  Catches 
bespricht  oder  sie  gar  aus  ihnen  sich  entwickeln  lassen  will.  Die  Catches 
sind  englisches  Erbgut  und  gehören  der  Volks-  und  nicht  der  Salonmusik 
an;  schon  ihre  Verwendung  in  der  zeitgenössischen  dramatischen  Literatur 
(vgl.  Shakespeare,  Twelfth  night  II  3  und  lempest  III  2)  läfst  darauf 
schliefsen,  dafs  sie  den  unteren  Volksschichten  angehörten.  In  den  Ballets 
1595,  zu  denen  Morley  übrigens  durch  die  Balletti  Castoldis  angeregt  wurde, 
verwechselt  Erskine  das  Lied  'My  bonny  lass  she  smyleth'  mit  dem  von 
Lodge  'My  bonny  lass  thyne  eye';  beide  haben  aufser  der  Anrede  an  die 
Geliebte  nichts  gemeinsam.  Für  Byrds  erstes  Liederbuch  ist  1588  ange- 
geben ;  aus  einer  Eintragung  in  die  Buchhändlerregister  vom  6.  November 
1587  (Collier,  Transcr.  II  477)  geht  aber  hervor,  dafs  es  schon  1587  er- 
schienen war. 

Das  Kapitel  über  die  Lyrik  im  Drama  zeichnet  sich  durch  seine  Voll- 
ständigkeit aus.  Eine  Tabelle  aller  Erscheinungen  der  betreffenden  Epoche 
auf  dem  Gebiete  der  Lyrik  bildet  den  Schlufs  des  Buches,  das  allerdings 
eine  abschliefsende  Geschichte  der  Elisabethanischen  Lyrik  noch  nicht 
liefert,  infolge  der  Fülle  und  genauen  Anführung  des  Materials  aber  als 
ein  guter  Fortschritt  jenem  Ziele  entgegen  zu  begrüfsen  ist. 

Berlin.  Wilhelm  Bolle. 

Eimer  Edgar  Stoll,  John  Webster;  the  periods  of  his  work  as 
determined  ;by  his  relations  to  the  drama  of  his  day.  Cam- 
bridge, Harvard  Cooperative  Society,  1905.    216  p. 

Kleine  Typen,  enger  Druck,  viel  Belesenheit,  ein  Stil  wie  telegraphiert, 
ernste  Sachlichkeit  ohne  Spur  von  Eitelkeit  und  dazu  eine  vorzügliche 
literarhistorische  Methodik,  wie  man  sie  selten  findet:  diesen  Eindruck 
macht  Stolls  Buch,  das  nicht  blofs  für  die  Erforschung  Websters,  sondern 
der  ganzen  nach-Shakespearischen  Dramatik  einen  bedeutenden  Fortschritt 
bildet. 

Das  erste  Kapitel  stellt  die  Chronologie  der  Websterschen  Dramen 
fest  und  sucht  die  noch  viel  schwierigeren  Verfasserfragen  aufzuhellen. 
Von  Stücken,  die  man  Webster  vermutungsweise  zuwies,  werden  'Ihracian 
wonder'   und   'The  weakest  goeth  to  the  wall'  abgelehnt,  während  'Cure  for 


230  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

a  cucl:old'  sich  als  ein  ziemlich  sicheres  Werk  von  Webster  erweist.     Den 
Dramen,  an  denen  er  in  seiner  Frühzeit  mitarbeitete,  gilt  das  zweite  Ka- 

{ritel.  'Wyattf'  woran  er  wohl  nur  geringen  Anteil  hatte,  beruht  wesent- 
ich  auf  Holinsheds  Chronik,  mit  etwas  Einflufs  von  Shakespeares  'Hein- 
rich VI'  B.  Es  ist  eine  Historie  volkstümlicher  Art,  nicht  von  jener  Mar- 
iowischen Tragik  wie  'Richard  II'  oder  'Richard  IIP.  Etwas  selbständiger 
betätigte  sich  Webster  in  der  Induktion  zu  'The  malcontent' .  Aber  auch 
noch  in  den  bürgerlichen  Komödien  'Westward  ho'  und  'Northward  ho' 
ringt  er  sich  nicht  zu  viel  Originalität  durch,  sondern  bleibt  ein  enger 
Nachahmer  Dekkers.  Einzelnes  kommt  zugleich  aus  den  'Merry  wives  of 
Windsor'  herüber.  Das  dritte  Kapitel  ist  den  Stücken  gewidmet,  in  denen 
sich  Webster  freier  gibt  und  sein  Charakteristisches  schafft:  'White  deviV 
und  'Duehess  of  Malfi'.  Bei  jenem  führte  die  Quellenuntersuchung  nicht 
auf  das  Dokument,  durch  das  die  italienische  Mordgeschichte  zur  Kennt- 
nis Websters  gelangte,  obwohl  Stoll  eigene  Forschungen  auf  italienischen 
Bibliotheken  darüber  anstellte.  Dagegen  konnte  er  bei  'Duehess  of  Malfi' 
aulser  Painters  28.  Novelle  noch  Sidneys  'Arcadia'  als  unmittelbares  Vor- 
bild erweisen.  Die  Abhängigkeit  im  Stoff  hat  aber  Stoll  mit  Recht  als 
sekundär  betrachtet  gegenüber  der  Entwickelung  des  ganzen  Typus  der 
Rachetragödien,  zu  dem  die  genannten  Stücke  beide  gehören.  Indem  er 
mit  weitem  und  eindringendem  Blick  diese  Gattung  mustert,  unterscheidet 
er  hauptsächlich  zwei  Klassen :  die  Tragödien  des  richtenden  Rächers,  mit 
überwiegend  sittlicher  Auffassung,  viel  melodramatischem  Beiwerk  und 
deutlichen  Einflüssen  Senecas;  und  die  des  machiavellistischen  Rächers, 
mit  stärkerer  Betonung  eigenwilligen  Temperaments  und  ohne  übernatür- 
liche Motive.  Erstere  Art  ist  zuerst  bei  Kyd  zu  finden,  letztere  bei  Mar- 
lowe.  Webster  gehört  zur  ersteren;  Zwischenglieder,  die  von  Kyd  zu  ihm 
überleiteten,  waren  Werke  von  Chapman  und  Tourneur;  von  Shakespeare 
kamen  nur  einige  Wahnsinns-  und  Knabenmotive  mit  herein.  Das  Schlufs- 
kapitel  beschäftigt  sich  mit  'Hie  devil's  law-case',  'Appius'  und  'Cure  for 
a  cuckold',  derberen  Stücken,  in  denen  Webster  in  die  Nachahmung  zu- 
rückversank, besonders  von  Fletcher  und  Massinger,  gelegentlich  auch 
von  einer  Volks-  oder  Advokatenszene  Shakespeares.  Das  Ganze  gipfelt 
naturgemäls  in  einem  sorgsam  abgewogenen  Urteil  über  Websters  Erfin- 
dungskraft. Zwei  Exkurse,  über  'The  atheist's  tragedy'  und  über  Fletchers 
Einflufs  auf  Chapman,  sind  als  Anhang  beigegeben. 

Manches  hat  Stoll  sichergestellt,  vieles  wahrscheinlich  gemacht.  Er 
weils  selbst,  wie  viele  Schwierigkeiten  durch  die  Ungenauigkeit  der  mei- 
sten Neudrucke,  die  Unsicherheit  der  Verfasserschaft  und  Mitverfasser- 
schaft, die  Überfülle  der  möglichen  Stoff-  und  Stilquellen  und  den  Verlust 
zahlreicher  Dramen  für  den  Forscher  entstehen.  Aber  wer  wird  auch  von 
einer  Verarbeitung  philologischen  Materials  ein  Abschliefsen  erwarten? 
Anregung  hat  er  reichlich  gegeben,  indem  er  es  verstand,  die  richtigen 
Entwickelungsf  ragen  auf  zu  werfen,  wie  betreffs  der  Rachetragödie,  der 
Knabengestalten,  der  Volksaufläufe  u.  dgl.  Dadurch  hat  er  seiner  Studie 
ein  weit  über  Webster  hinausgehendes  Interesse  verliehen  und  sie  für 
jeden,  der  das  ältere  Stuartdrama  wissenschaftlich  anfafst,  unentbehrlich 
gemacht. 

Berlin.  A.  Brandl. 

Alexander  GUIs  Logonomia  Anglica.  Nach  der  Ausgabe  von  1621 
diplomatisch  herausgegeben  von  Otto  L.  Jiriczek  (Quellen  und  For- 
schungen, XC).    Strafsburg,  Karl  J.  Trübner,  19U3.    (Preis  M.  7,50.) 

Unsere  Kenntnis  der  englischen  Lautentwicklung  vom  15.  Jahrhundert 
bis  auf  die  Gegenwart  ist  vornehmlich  aus  den  Angaben  von  Gram- 
matikern und  Orthoepisten  der  vergangenen  Jahrhunderte  geschöpft,  und 
Ellis   gebührt  das  groi'se  Verdienst,   durch  Mitteilung  reichlicher  Auszüge 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  231 

dies  Material  zugänglich  gemacht  und  die  Grundlinien  der  Entwicklung 
festgestellt  zu  haben.  Damit  ist  aber  die  Aufgabe,  vor  der  unsere  For- 
schung steht,  noch  nicht  völlig  gelöst.  Geht  man  näher  auf  sie  ein,  so 
merkt  man  bald,  dafs  Ellis'  Auszüge  nicht  immer  ausreichen,  dals  wir 
viele  Zeugnisse  erst  in  ihrem  vollständigen  Zusammenhang  richtig  deuten 
können  und  daher  die  wichtigeren  Gewährsmänner  Neudrucke  verdienen. 
Darauf  habe  ich  schon  vor  einem  Jahrzehnt  hingewiesen,  aber  gewifs  nur 
dem  Ausdruck  gegeben,  was  anderen,  die  sich  mit  diesen  Grammatikern 
beschäftigt  haben,  ebenso  lebhaft  vor  Augen  getreten  ist.  Einer  Anregung 
Brandls  folgend,  hat  es  nun  Jiriczek  unternommen,  eines  der  wichtigsten 
dieser  Quellenwerke,  von  einem  Mann,  der  als  Altersgenosse  Shakespeares 
und  Lehrer  Miltons  besonderes  Interesse  beanspruchen  darf,  in  einem 
Neudruck  uns  vorzulegen. 

Die  Aufgabe  war  gerade  bei  diesem  Autor  viel  schwieriger  als  zu  er- 
warten war.  Gills  'Logonomia  Anglica'  ist  eine  englische  Sprachlehre  im 
weitesten  Sinne  des  Wortes  —  sie  bietet  aufser  der  eigentlichen  Gram- 
matik auch  eine  Stilistik  und  Metrik  —  und  sucht  namentlich  eine  neue, 
rationelle  Orthographie  einzubürgern,  in  welcher  die  zahlreichen  Beispiele 
und  Sprach  proben  wiedergegeben  sind.  In  der  ersten  Auflage  von  1619 
ging  nun  Gill  sehr  radikal  vor  und  verwendete  so  viel  neue  Zeichen,  dafs 
er  damit  schon  beim  Druck,  man  kann  sagen,  Schiffbruch  litt:  die  oft 
minuziösen  Unterschiede  zwischen  den  Lettern  kamen  so  schlecht  heraus, 
dafs  es  nötig  war,  die  einzelnen  Exemplare  handschriftlich  durchzukorri- 
gieren.  So  berichtet  er  selbst  in  der  zweiten  Auflage  (vgl.  25, 10  des  Neu- 
drucks), und  in  der  Tat  zeigen  alle  bekannten  Exemplare  des  ersten 
Druckes  fast  auf  jeder  Seite  solche  Verbesserungen,  nicht  selten  in  recht 
bedeutender  Anzahl.  Zwei  Jahre  später  (1621)  veranstaltete  Gill  eine 
neue,  inhaltlich  fast  gar  nicht  veränderte  Auflage,  in  welcher  er  ein  be- 
deutend einfacheres  orthographisches  System  zur  Anwendung  brachte,  das 
sich  beim  Druck  als  durchführbar  erwies.  Diese  Ausgabe  letzter  Hand 
mufste  natürlich  dem  Neudruck  zugrunde  liegen.  Aber  wenn  sie  auch 
den  handschriftlichen  Verbesserungen  in  den  Exemplaren  der  ersten  Auf- 
lage in  der  Regel  gerecht  wird,  so  finden  sich  doch  in  einer  Beihe  von 
Fällen  Abweichungen,  und  es  ergibt  sich  die  Frage,  ob  etwa  nur  Druck- 
fehler oder  Versehen  der  zweiten  Auflage  vorliegen,  oder  ob  Gill  eine  an- 
dere Lautung  lehren  wollte  als  früher.  Dazu  kommt  aber  noch  weiter, 
dafs  manche  jener  Besserungen  nicht  in  allen  Exemplaren  stehen,  somit 
zu  erwägen  ist,  ob  sie  wirklich  von  Gill  gewollt  oder  vielleicht  nur  von 
einem  Helfer  irrtümlich  eingefügt  sind  (denn  er  selbst  kann  doch  schwer- 
lich alle  Exemplare  durchkorrigiert  haben).  Diese  verwickelten  Verhält- 
nisse haben  es  sehr  schwierig  gemacht,  einen  Neudruck  zu  liefern,  der 
uns  das  gesamte  Material  der  Zeugnisse  Gills  in  übersichtlicher  Form  zu- 
gänglich macht,  und  es  gehörte  kein  geringes  Mafs  von  Entsagung  und 
Ausdauer  dazu,  diese  unsäglich  mühevolle  Kleinarbeit  durchzuführen. 
"^  Jiriczeks  Ausgabe  bietet  nun  einen  genauen  Abdruck  der  zweiten  Auf- 
lage und  eine  Zusammenstellung  solcher  Abweichungen  von  den  hand- 
schriftlichen Besserungen  der  ersten,  die  irgendwie  von  Belang  sein  können. 
Dieser  Beschränkung  wird  man  nur  zustimmen  können.  Absolute  Voll- 
ständigkeit war  bei  der  Sachlage  überhaupt  nicht  zu  erreichen  —  sie 
würde  eine  genaue  Vergleichung  jedes  einzelnen  Exemplars  der  ersten  Auf- 
lage erheischt  haben  — ,  und  sie  wäre  auch  von  geringem  Nutzen  gewesen. 
Für  den  einzigen  wesentlichen  Unterschied  zwischen  den  beiden  Auflagen, 
die  Scheidung  von  rj  und  >jg,  die  in  der  zweiten  gleichmäfsig  durch  ng 
bezeichnet  sind,  hat  Jiriczek  das  gesamte  Material  besonders  und  sehr 
lehrreich  zusammengestellt  (S.  XLII).  Aufserdem  enthält  die  Einleitung 
alle  Behelfe,  um  Gills  Angaben  und  Schreibungen  richtig  zu  deuten.  Be- 
sonders wertvoll  ist  das  Glossar  am  Schlufs,  welches  sämtliche  Transkrip- 
tionen verzeichnet  und  bei  seinem  beträchtlichen  Umfange  (ca.  2600  Stich- 


232  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Wörtern)  uns  erst  einen  vollen  Einblick  in  die  Sprechweise  Gills  gibt.  In 
Einzelheiten  würde  man  vielleicht  die  Einrichtung  des  Buches  anders 
wünschen.  So  fände  ich  es  sehr  nützlich,  wenn  im  Glossar  durch  ein 
einfaches  Zeichen  bei  den  betreffenden  Wörtern  auf  die  in  der  Einleitung 
mitgeteilten  abweichenden  Lesungen  der  ersten  Auflage  hingewiesen  wäre. 
Diese  selbst  hätte  man  lieber  am  Fufse  der  Seite  gesehen,  eine  Anordnung, 
die  doch  wohl  nicht  so  schwer  durchführbar  gewesen  wäre.  Aber  im 
ganzen  verdient  das  Vorgehen  Jiriczeks  gewifs  allen  Beifall. 

Da  ich  im  Besitz  der  ersten  Auflage  der  Logonomia  Anglica  bin 
und  nach  dem  Dargelegten  jedes  einzelne  Exemplar  an  handschriftlichen 
Besserungen  zum  Teil  Neues  bietet,  möchte  ich  zunächst  zur  Varianten- 
liste, S.  LV  ff.,  einige  Ergänzungen  bringen,  meist  Fälle,  in  denen  mein 
Exemplar  die  zu  erwartenden  Korrekturen  im  Gegensatz  zu  dem  Ox- 
forder aufweist,  also  bestätigt,  was  bereits  zu  vermuten  war.  Ich  setze  sie 
gleich  in  die  Orthographie  der  zweiten  Auflage  um. 

Abroad:  die  auffällige  Schreibung  abräd  (d  =  a  in  all)  ist  in  mei- 
nem Exemplar  ganz  deutlich  am  Rande  zu  abröd  (ö  =  o  in  spoken)  ge- 
bessert (S.  54  Z.  4).  Die  Vermutung  Jiriczeks,  dafs  blofs  ein  Versehen 
vorliegt,  nicht  etwa  schon  ein  Beleg  für  die  Aufhellung  zu  dem  heutigen 
Laut,  bestätigt  sich  also. 

All:  al  in  Kap.  XV,  16,  Z.  2  (=  Neudruck  83,  21)  ist  zu  dl  gebessert. 

Fault:  faut  ist  zu  fdlt  gebessert. 

Haste:  hast  gebessert  zu  hast  (ä  =  o  in  tale). 

Manure:  bereits  richtig  manvr  gedruckt  (v  =  u  in  duke). 

Refuse:  für  das  refüx  der  zweiten  Auflage  (Neudruck  136,  19),  mit 
einem  ü,  das  entweder  [u]  wie  in  but  oder  [u]  wie  in  soon  anzeigt,  wäh- 
rend sonst  refvx  erscheint  (v  =  u  in  duke),  bietet  mein  Exemplar  das  zu 
erwartende  refvx,  und  zwar  schon  gedruckt. 

Walk:  wäkt  auch  bei  mir  nicht  verbessert. 

Youth:  die  Bemerkung  'ergänze  27,  13'  beruht  auf  einem  Versehen. 
An  Stelle  von  72,  13  ist  27,  13  zu  setzen. 

Bezüglich  des  ng  in  offspring  und  nothing  S.  XLV  Anm.  2  stimmt 
mein  Exemplar  mit  dem  Oxforder  überein,  im  Gegensatz  zum  Londoner. 

Von  den  geringfügigen  textlichen  Varianten,  die  in  der  Einleitung 
besprochen  sind,  ist  eine  an  etwas  versteckter  Stelle  erwähnt  und  daher 
leicht  zu  übersehen.  Im  Kap.  V  wird  erklärt,  dafs  au  (z.  B.  in  lawn, 
pawn)  wie  d  klinge,  d.  h.  wie  der  Laut  in  all,  der  anderwärts  dem  deut- 
schen langen  a  gleichgestellt  wird.  Dann  fährt  Gill  fort:  'at  vbi  vere 
diphthongus  est,  a,  deducitur  in  d,  vt  du,  alue  imperium,  duger  terebra.' 
Was  soll  das  heifsen?  Diese  Stelle  enthält  offenbar  einen  Fehler!  In  der 
ersten  Auflage  hiefs  es,  wie  Jiriczek  allerdings  S.  LVII  Anm.,  aber  in 
einem  ganz  anderen  Zusammenhang,  erwähnt:  'u  deducitur  in  ü'  (ü  = 
dem  Laut  in  too).  Dies  ist  verständlich:  Gill  glaubt  ein  langes  u  als 
zweite  Komponente  zu  hören.  Woher  die  seltsame  Änderung  in  der 
zweiten  Auflage  kommt,  ist  schwer  zu  ersehen.  Da  er  du,  duger  transkri- 
biert, könnte  man  vermuten,  er  habe  schreiben  wollen :  'd  deducitur  in  &', 
d.  h.  der  Laut  von  all  gehe  in  ein  u  als  zweite  Komponente  über.  An 
dieser  Stelle  wäre  es  wohl  besonders  angemessen  gewesen,  die  Lesart  der 
ersten  Auflage  am  Fufse  der  Seite  zu  sehen. 

Fragen  wir  uns  nun,  welche  Förderung  unserer  Forschung  aus  die- 
sem Neudruck  erwächst,  so  müssen  wir  in  erster  Linie  anführen,  dafs  wir 
nun  Gill  in  seiner  Eigenart  erkennen  und  daher  seine  Zeugnisse  besser 
beurteilen  können.  Er  stellt  zunächst  ganz  streng  die  Forderung  nach 
einer  Lautschrift  auf :  wie  der  Maler  bei  der  Wiedergabe  des  menschlichen 
Gesichts  die  lebendigen  Züge  nachbilde,  so  müsse  man  auch  'ä  vivä  voce 
verba  describere'  (14,  16).  Aber  in  der  Praxis  gäbe  es  doch  Rücksichten, 
die  zu  Abweichungen  führen.  Es  sei  personx,  nicht  persnx,  geschrieben, 
weil  in   den  Ableitungen  personal  und  personaliti   das  o   noch  nicht  ge- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  233 

8chwunden  ist.  Der  Gelehrte,  der  das  Etymon  vor  Augen  habe,  solle 
skolar,  onor  schreiben  —  Gill  tut  dies  tatsächlich.  Wenn  aber  der  Unge- 
lehrte seinen  Ohren  folgend  skoler,  oner  schreibt,  so  mache  er,  Gill,  sich 
nichts  daraus.  Weiter  sucht  er  Unterschiede  der  Bedeutung  zum  Aus- 
druck zu  bringen  'quoad  fieri  potest  &  sonus  permittit'.  Er  hält  7 'ich', 
ei  'Auge'  und  ci  'ja'  auseinander  (14,  38)  und  tadelt  sogar  Grammatiker, 
die  ei  als  Aussprache  von  I  lehren  (13,  33).  Aber  an  einer  anderen  Stelle 
(30,  18)  erklärt  er,  dafs  in  ei  'Auge'  und  ei  'ja'  'sonus  vocalis  exiguum 
distat  ab  illo  qui  auditur  in  äjn  tuus  &  mjn  meus',  und  von  j,  d.  i.  'i  crassa', 
sagt  er  24,  17:  'fere  est  diphthongus  ei'.  Er  hat  also  klärlich  in  den 
Wörtern,  die  wir  heute  1,  eye  und  aye  schreiben,  denselben  Laut  ge- 
sprochen, wie  auch  alle  drei  auf  me.  t  zurückgehen  (vgl.  Angl.  14,  272), 
und  ist  nur  durch  die  Verschiedenheit  der  Bedeutung  zu  verschiedenen 
Transkriptionen  veranlafst  worden.  Noch  wichtiger  sind  die  Bemerkungen 
über  seine  Kücksichtnahme  auf  die  'consuetudo'  (15,  10  ff.).  Er  bezeugt 
unter  anderem,  dafs  in  folk,  fault,  balm,  half,  tall;  walk  das  l  häufig  ('fre- 
quentius')  ausfällt;  weil  aber  die  'eruditi'  es  nicht  abwerfen,  schreibe  er 
teils  mit  Rücksicht  auf  diesen  Brauch,  teils  im  Hinblick  auf  die  Etymo- 
logie (deutsch  voll;  halb)  fölk,  fält,  bälm  usw.  Wir  haben  also  hier  ein 
klares  Zeugnis  für  das  Bestehen  von  Doppellautungen  —  einerseits  volks- 
tümlich-fortschrittlichen, anderseits  gelehrt-konservativen  —  und  erkennen 
deutlich  die  Entstehung  von  spelling-pronunciations,  die  später  eine  so 
grofse  Rolle  spielen. 

Gills  Angaben  über  die  einzelnen  Laute  sowie  seine  Transkriptionen 
sind  allerdings  zumeist  schon  von  Ellis  gebucht.  Aber  auch  abgesehen 
davon,  dafs  sie  vielfach  erst  im  Zusemmenhang  ins  richtige  Licht  rücken, 
ist  es  doch  von  grofser  Wichtigkeit,  dafs  wir  nun  die  ursprünglichen  Um- 
schriften Gills  vor  uns  haben  und  die  Umdeutungen  Ellis'  kontrollieren 
können,  die  in  gewissen  Fällen  nicht  den  Wert  eines  Zeugnisses,  sondern 
einer  Konjektur  haben.  Dies  gilt  namentlich  von  seiner  Wiedergabe  des 
Gillschen  ng  teils  durch  n,  teils  durch  ng,  die  jetzt  durch  die  Mitteilungen 
Jiriczeks  über  die  erste  Auflage  zum  Teil  berichtigt  wird.  Auch  im  ein- 
zelnen ergeben  sich  Berichtigungen.  So  hätte  nach  Ellis  III  882  Gill  in 
dem  Worte  aye  aufser  der  obenerwähnten  noch  eine  andere  Aussprache 
gekannt,  den  ««'-Diphthong,  durch  den  er  sonst  me.  ai  wie  in  day  wieder- 
gibt. Ihre  Erklärung  hat  mir  Angl.  14,  273  einige  Schwierigkeiten  ge- 
macht. Nun  stellt  sich  heraus,  dafs  Gill  deutlich  zwischen  aye  'ja'  und 
ay  'immer'  scheidet_und  den  erwähnten  a«-Diphthong  nur  dem  letzteren 
zuweist,  in  bester  Übereinstimmung  mit  dem,  was  die  Sprachgeschichte 
erwarten  läfst.  Weiter  ist  es  bei  schwankenden  Umschriften  nicht  un- 
wichtig, die  Zahl  der  Belege  für  jeden  Fall  und  besonders  auch  die  An- 
gaben der  ersten  Auflage  übersehen  zu  können,  und  endlich  hat  Ellis 
doch  nicht  alle  bei  Gill  transkribierten  Wörter  in  sein  Glossar  aufge- 
nommen, so  dafs  seinen  2100  Stichwörtern  bei  Jiriczek  2600  gegenüber- 
stehen. 

Ist  nun  auch  Gills  Buch  vor  allem  für  die  Lautgeschichte  von  Wert, 
so  dürfen  wir  seine  Bedeutung  in  anderen  Richtungen  keineswegs  über- 
sehen. Die  phonetischen  Ausführungen  des  Verfassers  nehmen  keinen  so 
grofsen  Raum  ein,  vielmehr  wendet  er  der  Grammatik,  Stilistik  und 
Metrik  sein  Hauptaugenmerk  zu.  Wir  können  aus  seiner  Logonomia 
ersehen,  was  für  Ansichten  auf  diesen  Gebieten  ein  feingebildeter  Ge- 
lehrter und  hervorragender  Schulmann  der  Stuart-Zeit  hatte,  und  das  ist 
für  die  Beurteilung  mancher  literarischer  Erscheinungen  recht  lehrreich. 
(Vgl.  Jiriczek  in  Kochs  Studien  xur  vergleiehetiden  Literaturgeschichte  II 
129  ff.); 

Wir  sind  somit  dem  verdienten  Herausgeber  für  seine  mühevolle  Ar- 
beit zu  Dank  verpflichtet  und  können  nur  wünschen,  dafs  sein  Bei- 
spiel bald  Nachahmung  ifinde  und  auch  die   übrigen   wichtigeren  Gram- 


234  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

matiker  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  uns  in  Neudrucken  vorgelegt  wer- 
den. Brotaneks  kürzlich  ins  Leben  gerufene  Serie  von  'Neudrucken  früh- 
fieuenglischer  Grammatiken'  eröffnet  uns  ja  erfreulicherweise  die  besten 
Aussichten. 

Graz.  K.  Luick. 

Martin  Wolf,  Walter  Scotts  Kenilworth.  Eine  Untersuchung  über 
sein  Verhältnis  zur  Geschichte  und  zu  seinen  Quellen.  Würzburger 
Dissertation.    Leipzig  1903.     77  S. 

Es  gewährt  immer  wieder  einen  besonderen  Reiz,  die  Entstehung  eines 
dichterischen  Kunstwerkes  zu  verfolgen,  zu  sehen,  wie  der  Dichter  sich 
seinen  Stoff  formt  und  die  Elemente  zu  einem  harmonischen  Ganzen  zu- 
sammenfügt. Freilich  wird  es  uns  nicht  immer  so  leicht  gemacht  wie  in 
dem  vorliegenden  Falle,  wo  es  sich  um  wohlbekannte  historische  Erschei- 
nungen handelt  und  man  bezüglich  der  Quellen  schwerlich  in  die  Irre 
gehen  kann ;  hat  doch  Scott,  der  ja  nach  den  Worten  des  Verfassers  'ein 
ganzer  Philolog'  (besser:  'Antiquar')  war,  das  Wesentliche  schon  ange- 
deutet. 

Nachdem  Scott  in  zwei  Romanen  die  Geschichte  der  Maria  Stuart 
behandelt  hatte,  lockte  es  ihn,  auch  die  Figur  der  Elisabeth  in  einem 
seiner  Werke  zu  verewigen.  Schon  früh  hatte  er  sich  für  Mickles  Ballade 
'Cumnor  Hall'  begeistert,  in  der  die  verlassene  Gattin  Leicesters  ihr  Leid 
klagt.  Diese  griff  er  jetzt  wieder  auf  und  machte  das  Verhältnis  Lei- 
cesters zur  Königin  wie  zu  Amy  Robsart  recht  eigentlich  zum  Mittelpunkt 
der  Handlung.  Als  Hauptquelle  benutzte  er  Elias  Ashmoles  Antiquities 
of  Berkshire,  der  seinerseits  die  Schmähschrift  'Leicesters  Commonwealth' 
ausschreibt.  Daneben  kommen  Nauntons  Fragmenta  Regalia  sowie  die 
Schilderungen  der  Feste  zu  Kenilworth  (1575)  von  Laneham  und  Gas- 
coigne  in  Betracht;  die  beiden  erstgenannten  Werke  hatte  Scott  selbst 
(1808  bezw.  1821)  herausgegeben. 

Dafs  der  Dichter  von  der  historischen  Wahrheit  hier  stark  abgewichen 
ist,  war  schon  längst  bekannt.  Der  geheimnisvolle  Tod  Amys  hat  nichts 
mit  den  Festen  auf  Kenilworth  zu  tun,  sondern  erfolgte  schon  fünfzehn 
Jahre  vor  diesen  (S.  12).  Das  Motiv  der  Entführung  Amys  und  die  Ver- 
heimlichung der  Ehe  vor  Elisabeth  ist  mit  Absicht  von  anderen  Personen 
herübergenommen  und  auf  Amy  übertragen.  Die  Enthüllung  eines  solchen 
Verhältnisses  war  wahrscheinlich  der  Grund,  dafs  die  Festlichkeiten  so 
schnell  abgebrochen  wurden  (S.  14,  19).  Vielleicht  ist  eine  Vermischung 
mit  einem  ähnlichen  Ereignis  denkbar,  das  drei  Jahre  später  zu  Green- 
wich  eintrat.  Am  stärksten  ist  die  Abweichung  von  der  Geschichte  bei 
der  Darstellung  von  Leicesters  Charakter.  Warum  Scott  hier  geändert 
hat,  ist  S.  34  ff.  richtig  auseinandergesetzt.  Es  ging  eben  nicht  an,  den 
Liebling  der  Königin  als  den  verworfenen  Schurken  zu  kennzeichnen,  wie 
er  in  den  (freilich  etwas  getrübten)  Quellen  uns  entgegentritt. 

Nur  in  einem  Punkte  mufs  ich  dem  Verfasser  der  Abhandlung,  die 
sonst  alles  Lob  verdient,  widersprechen.  Es  handelt  sich  um  die  Charak- 
teristik Varneys,  an  der  der  Verfasser  Anstofs  nimmt,  indem  er  den  Aus- 
führungen von  Warner  (Illastrations  of  Novels  by  the  Author  of  Waverley 
II,  349)  zustimmt  (S.  40).  Warner  nennt  Varney  ein  'moral  monster'  und 
findet,  dafs  durch  die  Schilderung  seines  Endes  (er  stirbt  durch  Selbst- 
mord) die  poetische  Gerechtigkeit  verletzt  werde.  Nun  wird  niemand  Var- 
neys Handlungsweise  beschönigen,  aber  er  handelt  doch  nicht  aus  blofser 
Ruchlosigkeit,  sondern  weil  er  seinem  Herrn  zu  nützen  glaubt,  dem  er 
zu  Dank  verpflichtet  ist,  und  mit  dessen  Hilfe  er  eine  höhere  soziale 
Stellung  zu  erreichen  hofft.  Die  Haupttriebfeder  bei  ihm  ist  also  sein 
Ehrgeiz,  an  sich  kein  unedles  Motiv.  Auf  welche  Weise  aber  Varney 
seinen   Tod  findet,   das  ist  etwas,  das  dem  modernen  Leser  gleichgültig 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  235 

bleibt.  Wesentlich  ist  nur,  dafs  er  das  Ziel  seines  Ehrgeizes  so  wenig  wie 
sein  Herr  erreicht.  Ganz  verkehrt  ist  es  endlich,  wenn  Warner  den  Dichter 
tadelt,  weil  er  sich  die  Gelegenheit  entgehen  läfst,  aus  dem  Ende  des 
Sünders  für  den  Leser  eine  moralische  Lehre  zu  ziehen.  Wie  oft  mufs 
man  es  wiederholen,  dafs  der  Dichter  in  erster  Reihe  künstlerische  und 
nicht  sittliche  Tendenzen  zu  verfolgen  hat! 

Berlin.  Georg  Herzfeld. 

Oscar  Wilde,  De  profundis,  herausgegeben  und  eingeleitet  von  Max 
Meyerfeld.     Berlin,  S.  Fischer,  1905.    VIII,  115  S. 

In  der  grofsen  Reihe  von  Autobiographien,  die  in  England  von  Johann 
von  Salisbury  bis  zur  Gegenwart  geschrieben  wurden,  ist  dies  vielleicht 
die  merkwürdigste,  gewifs  die  geistreichste.  Für  die  Merkwürdigkeit  sorgte 
in  erster  Linie  das  Erlebnis  des  Autors;  kein  englischer  Dichter  hat  jemals, 
wie  er,  wegen  eines  Sittenvergehens  im  Zuchthause  gesessen,  nachdem 
er  vorher  der  verwöhnte  Liebling  der  feinen  Welt  gewesen.  Aber  noch 
auffälliger  ist  der  starke  Mut  zum  Leben,  zum  Schaffen,  ja  zum  Ruhme, 
mit  dem  der  Sträfling,  die  Hände  noch  wund  vom  Säckenähen,  hier  vor 
Mit-  und  Nachwelt  tritt.  Seine  Schrift  ist  nicht  so  sehr  eine  Erzählung 
als  vielmehr  eine  Reihe  Reflexionen  zur  Selbstaufrichtung,  untermischt 
mit  brennenden  Augenblicksbildern  aus  seinem  Vorleben,  seiner  zwei- 
jährigen Haft  und  der  Gerichtsverhandlung,  eingestreut  aufs  Geratewohl 
und  mit  wenigen,  tief  subjektiven  Worten  hingeworfen.  Man  sieht,  ohne 
dafs  es  ausdrücklich  festgestellt  wird,  wie  der  ganze  Sinn  Wildes  in  der 
ästhetischen  Richtung  der  siebziger  Jahre  wurzelte;  Paters  'Renaissance' 
hat  den  seltsamsten  Einflufs  auf  ihn  gehabt  (S.  28);  nur  Künstler,  nur 
Schönheitskenner  wollte  er  um  sich  haben;  von  der  Frucht  aller  Bäume 
im  Garten  der  Welt  gelüstete  ihn  zu  essen.  In  solch  schrankenloser 
Genufsfreude  wuchs  sein  Individualgefühl  nicht  blofs  in  die  Höhe,  son- 
dern wild  ins  Kraut;  die  unmittelbare  Folge  davon  hat  er  selbst  in  die 
frappanten  Worte  gekleidet:  'Was  mir  das  Paradoxe  in  der  Sphäre  des 
Denkens  war,  wurde  mir  das  Perverse  im  Bereich  der  Leidenschaft'  (S.  14). 
Er  macht  also  kein  Hehl  aus  der  Verirrung,  in  die  er  mit  dem  Sohn  des 
Marquis  von  Queensberry  verfallen  war;  doch  nicht  das  Urteil  der  Phi- 
lister, der  gegen  Schönheit  Gleichgültigen,  erkennt  er  an;  diese  Leute 
deuten  auf  das  Zuchthaus  in  Reading  und  sagen :  'Dahin  führt  einen 
Menschen  das  Künstlerleben.'  Einsichtiger  und  milder,  meint  er,  würde 
Jesus  über  ihn  gesprochen  haben,  denn  seine  Religion  sei  eine  der  Schön- 
heit, sein  Wesen  individuell  wie  das  keiner  anderen  Persönlichkeit.  Und 
hiemit  beginnt  Wilde  einen  Hymnus  auf  das  Neue  Testament,  das  viel 
seelischer  sei  als  die  Mythologie  der  Griechen  mit  ihrem  grausamen  Apoll. 
Die  geistreiche,  ja  bizarre  Seite  des  Büchleins  ist  hier  am  stärksten  aus- 
geprägt; Wilde  bringt  es  fertig,  den  Natursinn  des  Franz  von  Assisi  in 
sein  System  einzureihen  und  selbst  den  'Taciteischen'  Ernst  des  Dante. 
In  einem  der  angehängten  Briefe  an  seinen  Freund  und  Testaments- 
vollstrecker Robbi  (Robert  Rols)  stellt  er  eine  Liste  der  Bücher  auf,  mit 
denen  er,  sobald  in  Freiheit  gesetzt,  ein  neues  Leben  anheben  möchte: 
Flaubert,  Stevenson,  Baudelaire,  Maeterlinck,  Dumas  pere,  Keats,  Mar- 
lowe,  Chatterton,  Coleridge,  Anatole  France,  Gautier,  Dante  und  die  ganze 
Literatur  über  ihn,  Goethe  und  die  ganze  Literatur  über  ihn;  dem  letz- 
teren zuliebe  nimmt  er  sich  vor,  wieder  Deutsch  zu  lernen.  Es  ist  ein 
höchst  bestechender  und  etwas  verzweifelter  Versuch,  sich  aus  dem 
Sumpfe  auf  die  Planke  des  Übermenschen  zu  retten,  mit  bemerkenswerter 
Neuerung  gegenüber  St.  Augustin,  der  sich  durch  Selbstanklage  und  Zer- 
knirschung auf  den  Überchristen  hinausspielte.  Die  Schrift  wird  sich 
wegen  dieses  kunstphilosophischen  Hintergrundes  unter  den  hervorragen- 
den Autobiographien  der  Welt  dauernd  einen  Platz  bewahren. 


236  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Ungewöhnlich  ist  auch  die  Art  ihres  Erscheinens.  Sie  kam  zuerst 
'made  in  Oermany'  heraus ,  in  der  sorgfältigen  Übersetzung  des  als 
Essayisten  bekannten  Dr.  Max  Meyerfeld,  der  mit  Gewissenhaftigkeit  den 
Inhalt  und  auch  den  Stil  des  Originals  zu  bewahren  trachtete.  Vielleicht 
könnte  der  Ausdruck  manchmal  schlagender  und  kühner  sein.  Wenn  es 
z.  B.  bei  Wilde  heifst,  das  englische  Volk  sage  von  einem  Sträfling  nicht, 
er  ist  im  Gefängnis,  sondern  'in  trouble',  so  habe  ich  das  Gefühl,  es 
müsse  schlankweg  der  Ausdruck  'im  Unglück'  gebraucht  werden;  Meyer- 
feld schwächt  ab:  'ist  in  ihrer  Sprache  eben  einfach  ins  Unglück 
geraten'  (S.  11).  Wenn  Wilde  bemerkt,  Byrons  'relations  tvere  to  the 
passion  of  his  age  . . .  mine  were  to  something  more  noble',  so  ist  es  zwar 
vorsichtig  zu  übersetzen :  'er  hatte  Beziehungen  zu  der  Leidenschaft  seiner 
Zeit'  (S.  13);  doch  möchte  ich  eher  wagen:  'er  vertrat,  er  spiegelte 
die  Leidenschaft  seiner  Zeit'.  Aber  welcher  Übersetzer  hat  es  noch 
jedem  recht  gemacht?  Danken  wir  ihm  lieber  für  die  knapp  und  takt- 
voll orientierende  Einleitung,  sowie  für  die  angehängten  Briefe,  die  das 
Ganze  zu  einer  praktischen  vita  nuova  ergänzen  und  abrunden.  An- 
ders ging  der  brave  Robert  Bofs  vor,  der  im  Februar  1905,  zwei  Monate 
nach  der  deutschen  Ausgabe,  die  englische  folgen  liefs.  Rofs  hat  vor 
allem  eine  Menge  unterdrückt.  Gleich  zu  Anfang  hat  er  neun  Sätze  ge- 
tilgt, darunter  den  charakteristischen  Eingang:  'Zwischen  Gilles  de  Retz 
und  dem  Marquis  de  Sade  sollte  ich  eingereiht  werden.'  Hier,  bei  der 
Auslassung  der  Gerichtsszene  (S.  91)  und  öfters  hatte  er  gewifs  mit  dem 
Anstandseifer  der  englischen  Gesellschaft  zu  rechnen.  Aber  er  schaffte  auch 
wee,  was  auf  ihn  selbst  Bezug  hatte;  sagen  wir:  aus  Bescheidenheit;  ob- 
wohl es  leichter  ist,  vor  dem  Gefängnistor  auf  den  verfemten  Kameraden 
zu  warten  als  sich  vor  aller  Welt  schwarz  auf  weifs  zu  ihm  zu  bekennen. 
Das  Mifslichste  jedoch  sind  die  positiven  Änderungen,  die  er,  ohne  es  zu 
vermerken,  am  Texte  vornahm.  So  sagt  Wilde  bei  Meyerfeld  (S.  4),  dafs 
seine  Frau  'in  jenen  Tagen  sehr  gütig  und  liebenswert'  war;  bei  Rofs 
hingegen  lesen  wir:  'my  wife,  always  Hnd  and gentle  to  me'  (S.  14).  Daraus 
folgt:  .niemand  darf  das  Denkmal  benutzen,  ohne  bei  jedem  Satze  Meyer- 
felds Übersetzung  nachzuschlagen.  Zwei  Drucke  werden  ausgeboten ;  der 
eine  vielfach  untreu  in  bezug  auf  den  Inhalt,  der  andere  in  fremder 
Sprache.  Wahrhaftig,  die  Verlegenheit  von  R.  Rofs  erinnert  an  die  von 
Thomas  Moore,  als  er  die  nachgelassenen  Tagebücher  Byrons  herausgeben 
sollte.  England  hat  kein  Glück  mit  seinen  autobiographierenden  Dichtern, 
diese  hinwieder  haben  wenig  Glück  mit  ihren  Herausgebern.  Gut  ist  es, 
dafs  Shakespeare  seinen  Lebensroman  in  Sonetten  beschrieb,  die  sich  in 
poetisch  umflorten  Bildern  bewegen  und  zur  Not  sogar  allegorisch  deuten 
oder  doch  deuteln  lassen ;  und  mit  Genugtuung  sehen  wir  einen  deutschen 
Schriftsteller  als  unbefangenen  Verbreiter  und  Verfechter  von  Wildes 
Kunst,  so  zwar,  dafs  seine  Übersetzung  von  Wildes  'Duchess  of  Padua', 
deren  Original  nicht  erscheinen  darf,  von  den  Engländern  in  einer  Rück- 
übersetzung aus  dem  Deutschen  gelesen  werden  mufs. 

Berlin.  A.  B ran  dl. 

W.  Sattler,  Deutsch-englisches  Sach Wörterbuch  mit  besonderer  Be- 
rücksichtigung der  Grammatik,  Synonymik  und  der  Realien.  Mit  Zi- 
taten und  einem  alphabetischen  Verzeichnis  der  englischen  Wörter. 
Leipzig,  Rengerßche  Buchhdlg.  (Gebhardt  &  Wilisch),  1904. 

Rascher  als  man  vielleicht  erwarten  mochte  —  Bücher  in  Lieferungen 
bringen  selten  gerade  die  angenehmsten  Überraschungen  — ,  hat  sich  das 
stattliche  Buch  seinem  Abschlufs  genähert.  Vor  nicht  langer  Zeit  kün- 
digte ich  das  Erscheinen  der  zwei  ersten  Lieferungen  an,  und  jetzt  .liegt 
bereits  die  elfte  Lieferung  vor,  mit  der  das  Buch  selbst  vollständig  ist. 
Zur  bequemeren  Benutzung  desselben  soll  in  diesem  Jahre  noch  ein  Ver- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  237 

zeichnis  der  in  ihm  behandelten  englischen  Worte  erscheinen,  das  etwa 
15  0UU  Wörter  umfassen  wird.  Mit  ihm  wird  dem  Leser  ein  passe-partout 
in  die  Hand  gegeben,  der  leichten  und  allseitigen  Zutritt  zu  den  reichen 
Schatzkammern  des  Werkes  gestattet.  Eine  Lebensarbeit  ist  hier  nieder- 
gelegt, und  sie  bedeutet  einen  wesentlichen  Fortschritt  und  eine  stattliche 
Bereicherung  der  Bibliothek  der  Lehrenden  und  Lernenden.  Wer  sich  von 
dem  Reichtum  der  hier  zusammengetragenen  Information  aus  den  ver- 
schiedensten Wissensgebieten  überzeugen  will,  der  schlage  einmal  das  Stich- 
wort Ländernamen  auf.  Er  wird  staunen,  nicht  allein  ob  der  Menge  des 
Gebotenen,  sondern  auch  ob  der  Eigenart  des  Mitgeteilten.  Auf  S.  514 
liest  er  z.  B.  Interessantes  und  Unterhaltendes  über  die  Spitznamen  des 
Amerikaners:  er  erfährt  die  Geschichte  und  den  Ursprung  von  Uncle  Sam 
und  Brother  Jonathan.  Der  an  sich  oft  insipide  Stoff  bekommt  durch 
derartige  Zutaten  die  nötige  Würze.  Die  Artikel,  in  denen  es  auf  idio- 
matischen Wortgebrauch,  grammatische  Unterscheidung  und  Gliederung 
ankommt,  sind  zum  Teil  geradezu  Glanzleistungen,  die  Zeugnis  ablegen 
von  des  Verfassers  Beherrschung  des  Sprachschatzes  und  sicherem  In- 
stinkt. Ganz  besonders  aufmerksam  machen  möchte  ich  auf  Artikel  wie 
machen  oder  Wirt.  Allerdings  war  der  Autor  nicht  überall  so  reich  mit 
Material  ausgestattet,  so  glücklich  in  der  Verarbeitung  des  Stoffes,  so  klar 
und  scharf  im  Urteil  wie  gerade  hier.  Die  Arbeit  ist  zu  ausgedehnt  und  für 
den  einzelnen  zu  ermüdend,  um  nicht  Stellen  aufzuweisen,  die  die  Kritik 
herausfordern.  So  hat  z.  B.  der  Artikel  so  (S.  737)  nicht  meinen  Beifall, 
weder  in  der  Anordnung  noch  nach  dem  Inhalt.  Bei  trotx  sollte  das  stark 
archaische  maugre,  das  wahrscheinlich  zu  keiner  Zeit  in  weiteren  Kreisen 
volkstümlich  war,  nicht  an  erster  Stelle  erwähnt  sein  und  das  ungelenke 
notwitlistanding  nicht  an  zweiter.  Die  Rücksicht  auf  die  Etymologie  sollte 
bei  der  Gruppierung  ganz  schwinden.  Hiermit  berühre  ich  einen  Punkt, 
der  geradezu  ein  wunder  Fleck  ist.  Auf  Etymologie  hätte  der  Verfasser 
entweder  ganz  verzichten  sollen  oder  das  reproduzieren,  was  Autoritäten 
an  gesicherter  Erkenntnis  bieten.  Verben  wie  glorify,  horrify  (S.  543)  sind 
doch  entschieden  keine  Komposita  von  fio\  Ich  will  auf  die  Sache  nicht 
näher  eingehen,  denn  hier  wäre  viel  zu  bessern  und  richtigzustellen.  Der 
Autor  war  entschieden  nicht  gut  beraten.  Anstatt  sich  an  einen  Fremden 
zu  wenden,  wie  er  es  getan  hat,  hätte  er  lieber  der  eigenen  Kraft  ver- 
trauen sollen.  Bei  seit,  since  (S.  727)  steht  z.  B.  in  Klammer:  d.  h.  sith- 
hence,  seit  da.  Derartige  Zutaten  kommen  wohl  auch  auf  Rechnung  des 
von  ihm  engagierten  Etymologen.  Auch  auf  dem  Gebiet  der  Realien,  da 
wo  es  sich  um  Lebensgewohnheiten,  Lebensart  und  Sitten  der  Engländer 
handelt,  war  ich  zuweilen  im  Zweifel,  ob  ich  dem  Urteil  eines  Helfers 
oder  dem  des  Autors  gegenüberstehe.  Unter  drunkenness,  Trunkenheit 
(S.  812)  liest  man:  'früher  auch  in  den  besseren  Ständen  allgemein'.  Was 
soll  ein  derartig  summarisches  und  unzutreffendes  Urteil?!  —  Manche 
Seiten  des  englischen  Sports  haben  den  Verfasser  sehr  interessiert,  so  die 
Fuchsjagd,  über  die  er  eine  reiche  Literatur  gelesen.  In  ihrer  Wider- 
spiegelung in  der  Sportliteratur,  ebenso  wie  in  ihrer  praktischen  Hand- 
habung seitens  der  Jagdbediensteten  ist  sie  fast  zu  einer  Wissenschaft  ge- 
worden, die  man  am  besten  in  der  vornehmsten  und  umfangreichsten 
Sportzeitschrift  'The  Field'  studiert.  Sie  bringt  Sportnachrichten  aus  der 
ganzen  Welt,  vor  allem  auch  aus  den  englischen  Kolonien.  Über  den 
Kostenaufwand  Angaben  zu  machen,  den  die  Fuchsjagd,  der  vornehmste 
und  teuerste  Sport  von  allen,  für  den  einzelnen  erfordert,  ist  sehr  schwer, 
da  dieser  sich  nach  den  Mitteln,  Lebensgewohnheiten  und  Neigungen  des 
Individuums  richtet.  In  dem  field  ist  man  bei  aller  sonstigen  gesell- 
schaftlichen Abstufung  und  Exklusivität  in  England  von  einer  weitgehen- 
den Toleranz  und  Liberalität.  Die  Gesellschaftsunterschiede  sind  für  den 
Jagdtag  aufgehoben.  Jeder,  der  mitreiten  will,  ist  willkommen,  erscheint 
er  auch  auf  einem  Wagenpferd  oder   auf  einem  Esel.    Von  dem   Nicht- 


238  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

begüterten  erwartet  man  weder  eine  Subskription  noch  einen  indirekten 
Beitrag.  Es  gibt  nicht  wenige  Meuten,  deren  Unterhalt  ausschlielslich 
von  dem  Masler  of  the  Eounds,  einem  reichen,  sportliebenden  Herrn,  ge- 
deckt wird.  5000  Pfund  Sterling  pro  Jahr  betrachtet  man  als  die  Summe, 
die  ausreicht  für  erstklassiges  Material  an  Pferden  und  Hunden,  der  hunts- 
man  bezieht  allein  ein  Gehalt  von  800  Pf.  St.  im  Jahre.  Die  Fuchsjagd 
ist  auf  dem  Lande  in  England  der  Sport  par  excellence.  Aufser  Fasanen- 
und  Kaninchenjagd  treiben  viele  countrygentlemen  überhaupt  nichts  an- 
deres. Es  ist  sehr  anerkennenswert,  dafs  der  Verfasser  sich  so  eingehend 
mit  dem  Gegenstande  beschäftigt  hat,  der  für  die  englische  Nation  eine 
so  tiefgehende  Bedeutung  hat.  Das  field  ist  die  Bildungsstätte  der  vielen 
Offiziere,  die  Englands  Ansehen  und  Macht  in  den  Kolonien  haben  grün- 
den und  mehren  helfen.  Ein  tüchtiger  Fuchsjäger  ist  in  den  meisten 
Fällen  identisch  mit  einem  leistungsfähigen  und  tapferen  Offizier.  Der 
Kontinentalgermane  hinter  seiner  grofsen  Brille  sieht  in  ersterem  mit  Vor- 
liebe einen  geistig  nicht  ganz  normalen  Herrn,  der  um  ein  Nichts  den 
Hals  riskiert.  Der  Hinterwäldler  in  einer  schlecht  gelüfteten,  raucherfüllten 
Stube  schaut  gern  bei  endlosen  Schoppen  mit  selbstgefälliger  Überlegen- 
heit auf  den  herab,  der  Tag  für  Tag  in  harten  Strapazen  um  Gesund- 
heit und  eine  wahrhaft  vornehme  Unterhaltung  in  der  freien  Natur  be- 
müht ist.  Dafs  der  Sport  der  Engländer  gleichbedeutend  ist  mit  Ge- 
sundheit, Männlichkeit  in  Denken  und  Handeln,  dafs  er  Energie,  Mut 
und  Ausdauer  erfordert,  ahnt  er  nicht,  auch  ahnt  er  nicht,  dafs  hier  ein 
Stück  des  ungeheuren  Erfolges  der  Nation  liegt.  Es  ist  Zeit;  dafs  wir 
die  Kraftquellen  des  Nachbarvolkes  erkennen  und  richtig  einschätzen  lernen. 
Vorurteil  auf  unserer  Seite  mufs  überwunden  werden,  zumal  es  auf  der 
anderen  Seite  leider  auch  sehr  mächtig  ist.  Ich  bin  sicher,  dafs  das 
Sattlersche  Werk,  das  auf  jeder  Seite  Anregung  zum  Studium  der  Sprache, 
der  Sitten  und  des  Charakters  des  fremden  Volkes  bietet,  das  Seinige  zur 
Lösung  dieser  hohen  und  nationalen  Aufgabe  beitragen  wird. 

Tübingen.  W.  Franz. 

Festschrift,  Adolf  Tobler  zum  siebzigsten  Geburtstage  dargebracht 
von  der  Berliner  Gesellschaft  für  das  Studium  der  neueren 
Sprachen.  Braunschweig,  George  Westermann,  1905.  VI,  477  S.  8  °. 
M.  8  (für  Mitglieder  der  Gesellschaft  M.  4). 

Zum  zweiten  Male  darf  ich  von  einem  Festgeschenke  berichten,  das 
aus  Anlafs  einer  für  mein  Leben  bedeutungsvollen  Tatsache  mir  von 
Freundeshänden  überreicht  worden  ist.  Was  ich  mit  Bezug  auf  die  vor 
zehn  Jahren  mir  gewidmete  Festschrift  im  Archiv  Bd.  XCV,  S.  198  ein- 
leitend gesagt  habe,  gilt  in  der  Hauptsache  auch  von  der  mir  jetzt  vor- 
liegenden, und  meiner  Dankbarkeit  wüfste  ich  heute  keinen  anderen  Aus- 
druck zu  geben  als  damals;  man  nehme  die  dort  gebrauchten  Worte  als 
jetzt  von  Herzen  wiederholt  an.  Eine  gewisse  Verschiedenheit  der  Um- 
stände liegt  allerdings  insofern  vor,  als  heute  nicht  von  nah  und  fern 
zusammengetretene  ehemalige  Schüler  die  freundlichen  Spender  sind,  son- 
dern ausschliefslich  Mitglieder  eiuer  Berliner  wissenschaftlichen  Vereini- 
gung, von  denen  nur  manche,  bei  weitem  nicht  alle,  durch  ihre  Mitglied- 
schaft eine  Verbindung  mit  mir  aufrechterhalten,  in  die  sie  vor  Jahren 
zuerst  als  meine  Schüler  getreten  sind.  Drei  von  den  Beteiligten  gehören 
zu  der  von  mir  seit  Jahren  geleiteten  Gesellschaft  allerdings  nicht  als 
ordentliche  Mitglieder,  und  die  Freude,  sie  in  unserer  Mitte  zu  sehen, 
wird  uns  kaum  einmal  zuteil;  aber  die  Gesellschaft  sieht  es  als  wertvolle 
Auszeichnung  an,  dafs  sie  bereit  gewesen  sind,  als  Ehren-  oder  als  korre- 
spondierende Mitglieder  zu  ihr  in  Beziehung  zu  treten,  und  ich  habe  allen 
Grund,  mich  ihrer  Teilnahme  an  der  mir  erwiesenen  Ehrung  ganz  beson- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  239 

ders  zu  freuen.  Ihre  Arbeiten  stehen  an  der  Spitze  der  fünfundzwanzig, 
von  denen  ich  hier  in  Kürze  Rechenschaft  zu  geben  habe. 

Gusta„v  Gröber  eröffnet  den  Band  mit  einer  in  gereimten  Versen 
gegebenen  Übertragung  des  Dit  dou  vrai  aniel.  Das  altfranzösische  Ge- 
dicht ist  bekanntlich  nichts  weniger  als  eine  gewandte,  glatte,  lebendige, 
das  Wesentliche  geschickt  heraushebende  Erzählung,  und  der  Übersetzer 
hat  sich  gehütet,  anderes  als  eine  getreue  Wiedergabe  des  Originals  vor- 
zulegen, hat  vermieden,  es  durch  moderne  Künste  heutigem  Geschmack 
näher  zu  bringen.  An  einigen  Stellen  scheint  seine  Auffassung  des  nicht 
immer  völlig  klaren  Textes  von  der  meinigen  etwas  abzuweichen,  was  mir, 
hätte  ich  das  Gedicht  noch  einmal  herauszugeben,  Anlals  zu  neuer  Er- 
wägung geben  würde.  In  Z.  19  scheint  maistre  mir  'Herr'  (der  über  Ein- 
sicht verfügt),  nicht  'Lehrer'  zu  bedeuten.  Z.  136  tritt  der  Sinn  des 
compere  'büfse'  nicht  hervor.  Die  Verse  206  bis  209  habe  ich  als  Fort- 
setzung der  Rede  des  zweiten  Sohnes  angesehen  und  dies  durch  den  Ge- 
dankenstrich nach  209  angedeutet.  311  kann  Gröbers  Auffassung  leicht 
die  richtige  sein,  wie  auch  Z.  356  gegen  seine  Gestaltung  des  Textes  sich 
kaum  etwas  einwenden  läfst.  Dagegen  finde  ich  390  bis  392  den  Gedan- 
ken des  Dichteis  in  der  Übersetzung  nicht  wieder:  'den  beiden  älteren 
Söhnen  ist  ihre  Feindseligkeit  gegen  den  jüngsten  nicht  zu  verdenken, 
da  dessen  eigene  Glieder  (die  Christen)  ihn  im  Stiche  lassen',  und  Z.  426 
vermisse  ich  den  Gedanken  der  Vorlage:  'man  ist  (ja  schon)  dem  gekränk- 
ten Nächsten  Hilfe  schuldig,  wenn  man  sie  gewähren  kann;  und  hier 
handelt  es  sich  um  unsere  eigene  Angelegenheit.' 

Frau  Carolina  Michaelis  de  Vasconcellos  verbreitet  sich  in 
einer  sehr  gelehrten,  aber  auch  höchst  lehrreichen  Einleitung  über  Fund- 
stätten, wo  portugiesische  Sprichwörter  zu  treffen  sind,  und  über  die 
mancherlei  Namen,  mit  denen  man  in  Portugal  zu  verschiedenen  Zeiten 
diese  anziehenden  Erzeugnisse  des  Volksgeistes  belegt  hat.  Daran  schliefst 
sich  die  Vorführung  von  ihrer  ungefähr  tausend,  die  alle  mit  dem  Buch- 
staben a  beginnen  und  alphabetisch  aneinander  gereiht  sind.  Man  mag 
daraus  auf  den  Umfang  des  Schatzes  schliefsen,  der  noch  zu  heben  bleibt. 
Hie  und  da  ist  etwas  aufgenommen,  das  zwar  durch  volkstümliche  Aus- 
drucksweise anzieht,  als  Sprichwort  aber  nicht  gelten  darf,  wie  z.  B.  A 
bom  santo  te  encomendaste ;  A  essoutra  porta,  que  esta  nab  se  obre;  A  mim 
nab,  que  sou  perro  velho ;  A  quantos  cai  a  pascoa  ?  cai  este  ano  no  domingo. 
Auch  über  die  Zugehörigkeit  von  Sentenzen,  wie  A  Deus  nab  se  mente, 
kann  man  verschiedener  Ansicht  sein.  Aber  auch  was  vielleicht  fehlen 
dürfte,  möchte  man  nicht  missen.  Schlimmer  ist,  dafs,  aus  einem  un- 
bekannten Zusammenhang  gelöst,  sehr  viele  von  den  aufgeführten  Sprüchen 
ihren  Sinn  nicht  erkennen  lassen,  so  dafs  man  ihnen  gegenübersteht  wie 
einer  Glosse,  zu  der  das  Glossierte  fehlt.  Wenn  es  heilst  A  faxenda  de 
raix  farta,  mas  nab  abasta,  so  erführe  man  gern,  an  welche  unentbehrliche 
Zugabe  zum  Grundbesitze  zu  denken  ist,  ob  an  Betriebskapital,  an  Ver- 
ständnis für  das  Gewerbe,  an  Bewässerung;  vielleicht  aber  will  der  Spruch 
auch  gar  nicht  mehr  sagen,  als  er  sagt.  Was  mag  der  Sinn  von  182,  190, 
193,  205,  223,  352  sein?  Möge  die  gelehrte  Verfasserin,  die  in  so  dichtem 
Rohr  sitzt,  recht  oft  derer  gedenken,  die  sich  so  schöne  Pfeifen  nicht 
schneiden  können. 

Karl  Sachs  gibt  nach  einer  Einleitung,  in  der  mir  die  wünschens- 
werte Klarheit  des  Gedankens  namentlich  auch  bei  dem  Versuch  einer 
Einteilung  des  Gesammelten  nicht  erreicht  scheint,  eine  lange  Reihe  fran- 
zösischer Interjektionen  oder  solcher  Dinge,  die  wenigstens  er  so  nennt 
(z.  B.  ä  bientot,  aux  armes,  bis,  ä  cheval,  chargex).  Auf  irgendwelche  Son- 
derung von  anderem  Gesichtspunkte  als  dem  des  Alphabetes  aus,  auf  jede 
Aufklärung  über  die  Gebrauchsweise  ist  verzichtet.  Bisweilen  wird  genau 
angegeben,  wo  etwas  gefunden  ist;  andere  Male  wird  nur  ein  Autor,  als 
Gewährsmann  genannt,   manchmal  fehlt  jede  Angabe  einer  Quelle.     Über 


240  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

den  mir  nicht  sicher  scheinenden  Sinn  von  bour  bour  hätte  ich  mir  gern 
durch  Prüfung  des  Zusammenhanges  Gewii'sheit  verschafft;  aber  an  der 
zitierten  Stelle  habe  ich  nichts  Hergehöriges  gefunden. 

Alois  Brandl  bezeugt  bei  einem  Gönner  seiner  Knabenjahre,  dem 
Naturforscher,  Arzt  und  Dichter  Adolf  Pichler,  eine  warme  Verehrung 
für  Dante,  die  sich  in  zahlreichen  direkten  Äufserungen,  aber  auch  durch 
manche  Anklänge  in  des  Tiroler  Sängers  Gedichten  bekundet. 

Nach  einem  kurzen  Blick  auf  die  spanischen  Romantiker  der  zweiten 
Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  kennzeichnet  George  Carel  die  drei 
hervorragendsten  spanischen  Lyriker  der  letzten  Jahrzehnte,  Nunez  de 
Arce,  Campoamor  und  Bäcquer,  in  ihren  Hauptwerken. und  gibt  eine  An- 
zahl Proben  daraus  in  ebenso  gewandter  wie  getreuer  Übersetzung. 

Hermann  Conrad,  der  in  früheren  Aulsätzen  schon  mehrfach  auf 
verschiedenartige  Unzulänglichkeiten  des  'Schlegel-Tieckschen'  Shakspere 
hingewiesen  hat,  geht  hier  mit  Baudissins  Antonius  und  Kleopatra  in  ein 
strenges  Gericht.  Man  wird  seinen  Ausstellungen  und  der  Art,  wie  er 
das  Mifsratene  ersetzt,  Beifall  nicht  versagen  können. 

Max  Cornicelius  geht  mit  dem  oft  bekundeten  feinen  Sinn  und 
jener  gründlichen  und  ausgebreiteten  Kenntnis  alles  in  Betracht  kommen- 
den Stoffes,  ohne  die  er  nie  urteilt,  romauischen  Einflüssen  in  Gottfried 
Kellers  Dichtung  nach.  Spuren  romanischer  Einwirkung  weii's  er  darin 
reichlicher  und  sicherer  nachzuweisen,  als  manch  einer  erwarten  mag,  der 
in  seinem  Keller  auch  leidlich  Bescheid  zu  wissen  meint.  Sollte  man  nicht 
denken,  der  herrliche  Has  von  Überlingen  stammte  von  dem  freilich  kin- 
derlos verstorbenen  Don  Quixote?  Aber  man  weifs  ja  durch  Baechtold 
ganz  genau,  wo  die  köstliche  Figur  dem  Schweizer  Dichter  vor  Augen 
getreten  ist.  Auf  die  Wiederkehr  eines  Zuges  aus  Molieres  L'Amour 
medecin  I,  1  im  'Fähnlein  der  sieben  Aufrechten'  habe  ich  später  im 
Feuilleton  der  Neuen  Zürcher  Zeitung  vom  23.  August  1905,  Beilage  zu 
Nr.  233,  hingewiesen. 

Otto  Driesen  hat  in  mündlichem  Verkehr  mit  den  in  verschiedene 
Gruppen  sich  sondernden  Angehörigen  des  Standes,  der  Abfälle  auf  der 
Strafse  sammelt  und  sie  durch  Verkauf  verwertet,  mit  löblichster  Vorsicht 
und  unter  Kontrolle  durch  Fachautoritäten  reiche  lexikalische  Ausbeute 
zur  Kenntnis  der  in  diesem  Berufe  üblichen  Sondersprache  zusammen- 
gebracht und  das  einzelne  Gewonnene  ausgiebig  erklärt,  wobei  auch  manche 
sachliche  Belehrung  abfällt.  Man  erfährt  hier  wiederum,  wie  wenig  zu- 
verlässig manchmal  die  Auskunft  über  mancherlei  argot  ist,  die  man  etwa 
aus  realistischer  schöner  Literatur  oder  aus  Wörterbüchern  des  argot  ge- 
winnen zu  können  hofft,  die  aus  jener  schöpfen.  Dem  Echten  mischt 
sich  da  gar  zu  leicht  Gemachtes,  gelegentlich  individuell  Geschaffenes  bei. 

Max  Goldstaub,  den  von  ihm  schon  so  vielfach  geförderten  Phy- 
siologusstudien  treu  und  immer  neues,  mannigfaltigstes  Material  herbei- 
ziehend, verfolgt  diesmal  die  über  das  Brüten  des  Vogels  Straufs  ver- 
breiteten wunderlichen  Einzelheiten,  das  Legen  zur  Zeit  des  Erscheinens 
der  Pleiaden,  das  Bergen  der  Eier  im  Sande,  wo  die  Sonne  sie  zum  Aus- 
kriechen bringt,  das  Ausbrüten  durch  die  Kraft  des  eigenen,  starr  darauf 
gerichteten  Blickes  der  einander  ablösenden  Alten,  das  Bergen  der  Eier 
im  Wasser  u.  dergl.  Die  Wege  nachzuweisen,  auf  denen  Kunden  solcher 
Art  von  Volk  zu  Volk,  von  Zeit  zu  Zeit  sich  verbreitet  haben,  ist  in  der 
Regel  kaum  möglich;  zu  unsicher  ist  meist  das  Alter  der  auf  uns  ge- 
kommenen Fassungen,  zu  zahlreich  sind  die  Möglichkeiten  der  Konta- 
mination, des  Mif'sverständnisses  bei  der  Herübernahme.  Aber  von  Wert 
ist  auch  schon  die  Darlegung  des  kaum  übersehbaren  Reichtums  der  Über- 
lieferung. 

Georg  Herzfeld  macht  nach  englischen  Quellen  mit  der  geschicht- 
lichen Persönlichkeit  des  Alchimisten,  Astrologen  und  Geisterbeschwörers 
John  Dee  (1527  bis  1608)   genauer  bekannt,  dessen   zu  seiner  Zeit  nicht 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  241 

alleinstehendes  Treiben  noch  bis  tief  ins  17.  Jahrhundert  hinein  in  Eng- 
land wohl  bekannt  war  und  nach  Herzfeld  vermutlich  die  Ursache  dafür 
wurde,  dafs  der  Graf  Hamilton  den  in  seiner  Novelle  L' enchanteur  Faustus 
erzählten  Vorgängen  England  zum  Schauplatze  gab.  Diese  Novelle  selbst 
ist  lange  als  eine  der  Quellen  (neben  Hans  Sachs)  für  die  siebente  Szene 
im  ersten  Akte  des  zweiten  Teiles  des  Faust  erkannt. 

Adolf  Kolsen  gibt  von  der  verheifsenen  Gesamtausgabe  des  Guiraut 
(oder,  wie  jetzt  verlangt  wird,  Giraut)  de  Bornelh  eine  neue  Probe  in  einer 
auf  Grund  aller  Handschriften  ausgeführten  Bearbeitung  der  zwei  Kreuz- 
lieder (bei  Bartsch  Grdr.  242,  6  u.  41).  Man  vermifst  da  nichts  von  dem, 
was  bei  solchem  Anlafs  zu  verlangen  ist,  weder  Einblick  in  die  Verhält- 
nisse der  Handschriften  und  Rechtfertigung  der  Wahl  der  Grundlage, 
noch  Darlegung  der  formalen  Besonderheiten  jedes  Stückes ;  weder  Über- 
sicht über  den  Gedankengang  jedes  Liedes  noch  genaue  Übersetzung  des 
(natürlich  von  allen  Varianten  begleiteten)  Textes;  und  reichliche  Anmer- 
kungen rechtfertigen  die  dem  Texte  gegebene  Auslegung  und  klären  über 
grammatische  oder  lexikalische  Schwierigkeiten  auf.  Der  Dichter  gehört 
bekanntlich  zu  denen,  die  einem  gewissenhaften  Philologen  besonders  viel 
zu  schaffen  machen;  und  es  wird  kaum  ausbleiben  können,  dafs  dem 
Herausgeber  hier  oder  dort  Zustimmung  versagt  werde.  So  möchte  ich 
I,  9  Qu'apodera  oder  Qu'empodera  peehatx,  23  den  (im  Sinne  des  Dativs) 
schreiben,  26  dels  seus  feritx  verstehen  'von  den  durch  ihn  Getroffenen', 
80  die  Auffassung  von  non  so'n  deslonhatx  als  non  sum  inde  remotus  für 
unzulässig  halten  wegen  der  Stellung  des  tonlosen  Adverbium  n  und  die 
Lesart  s'es  für  son  vorziehen.  Aber  hier  kann  auf  dergleichen  kleine  Be- 
denken nicht  eingegangen  werden.  Wir  dürfen  die  von  Kolsen  mutvoll 
unternommene  Arbeit  mit  bester  Hoffnung  begleiten. 

Gustav  Krueger  sucht  die  Frage  zu  beantworten,  'was  ist  slang, 
beziehungsweise  argot?'  Er  geht  von  unzulänglichen  Definitionen  und  von 
dem  Schwanken  im  Gebrauch  der  Zeichen  aus,  deren  sich  verschiedene 
Wörterbücher,  oft  genug  auch  ein  und  dasselbe  Wörterbuch,  bedienen,  um 
das  Familiäre,  das  Niedrige,  das  Rotwelsch  und  dergl.  als  solches  kennt- 
lich zu  machen.  Er  gibt  Beispiele  der  vielen  Arten  von  Ausdrücken,  die, 
neben  der  gemeinsamen  Sprache  der  Gebildeten  hegend,  gelegentlich  mit 
wechselnder  Absicht  und  Wirkung  in  diese  aufgenommen  werden,  und 
handelt  von  den  psychologischen  Ursachen,  die  dazu  führen. 

Albert  Ludwig  betrachtet  im  Anschlufs  an  früher  schon  mit  gutem 
Erfolg  von  ihm  in  Angriff  genommene  Studien  Lope  de  Vega  diesmal  im 
Verhältnis  zu  Ariosto,  indem  er  die  Komödie  Los  üelos  de  Rodamonte,  das 
lange  Epos  La  Hermosura  de  Angelica,  endlich  die  aus  diesem  hervor- 
gegangene Komödie  El  Premio  de  la  Hermosura  kennen  lehrt,  eingehend 
prüft  und  nach  ihrem  künstlerischen  Wert  und  ihrem  Verhältnis  zu  Ariosto 
(und  zu  Bojardo)  kennzeichnet,  was  um  so  dankenswerter  ist,  als  diese 
Werke  alle  wenig  bekannt  sind,  das  bedeutendste  davon  auch  in  der  neue- 
sten Biographie  des  spanischen  Dichters  (der  von  Rennert,  Glasgow  19U4) 
kaum  besprochen  wird. 

Emil  Mackel  beschäftigt  sich  in  zwei  voneinander  unabhängigen 
Aufsätzen  mit  Beziehungen  zwischen  dem  Niederdeutschen  und  dem  Ro- 
manischen, insbesondere  dem  Französischen,  indem  er  in  dem  vorange- 
stellten aus  lautlichen  Erscheinungen  der  älteren  Periode  des  Nieder- 
deutschen auf  den  Stand  der  lautlichen  Entwickelung  des  Romanischen 
in  der  Zeit  schliefst,  in  welcher  aus  diesem  Wörter  in  jenes  übergingen, 
und  im  zweiten  sehr  einleuchtend  dartut,  dafs  die  in  grofser  Zahl  vor- 
handenen französischen  Fremdwörter  im  heutigen  Niederdeutsch  weder 
zur  Zeit  der  Hansa  noch  zu  der  des  Dreifsigj ährigen  Krieges,  noch  auch 
zu  derjenigen  der  französischen  Fremdherrschaft  zu  Anfang  des  19.  Jahr- 
hunderts Aufnahme  gefunden  haben,  sondern  aus  der  hochdeutschen  Sprache 
der  vornehmeren  Kreise  zur  Zeit,  wo  diese  am  meisten  mit  dem  in  Mode 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    GX.V.  16 


242  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

gekommenen  Französisch  aufgeputzt  war,  auch  in  die  niederdeutsche  Sprache 
der  unteren  Stände  und  des  täglichen  Lebens  sich  hineingedrängt  haben. 
Man  wird  gleichartige  Erscheinungen,  die  auch  in  anderen  deutschen  Mund- 
arten begegnen,  nicht  anders  erklären  dürfen. 

Wilhelm  Mangold  ist  bei  der  Fortsetzung  seiner  sorgsamen  und 
erfolgreichen  Studien  über  Pflege  französischer  Dichtung  durch  Friedrich  II. 
und  ihm  nahestehende  Franzosen  abermals  auf  Inedita  gestofsen,  die  er 
hier  bekannt  macht  und  mit  allen  irgend  wünschbaren  Erläuterungen 
ausstattet,  Dichtungen  oder  sagen  wir  lieber  Verse  von  Gresset  an  den 
königlichen  Gönner  für  seinesgleichen,  der  ihn  vergeblich  zu  sich  zu  ziehen 
suchte,  sich  mit  schriftlicher  Lobhudelei  begnügen  mufste.  Wer  dergleichen 
über  sich  ergehen  zu  lassen  sich  in  die  Lage  brachte,  der  erlitt  für  seine 
Mifsachtung  der  gleichzeitigen  Dichtung  seines  Volkes  eine  schwerere  Strafe, 
als  ihm  zum  Bewufstsein  kommeu  konnte. 

Pedro  de  Mugica  hat  immer  noch  nicht,  so  lange  er  nun  6chon  in 
Deutschland  lebt  und  so  oft  er  neben  Zeitungen  seiner  spanischen  Heimat 
mit  seinen  Aufsätzen  auch  gelehrte  Zeitschriften  unseres  Landes  bedenkt, 
sich  in  den  Ton  gefunden,  der  in  diesen  zu  herrschen  pflegt.  Wir  ande- 
ren, soweit  wir  schwimmen  können  oder  es  „zu  können  meinen,  steigen 
gleichmütig  zu  unserer  Erfrischung  und  zur  Übung  der  eigenen  Kraft  in 
das  vertraute  Element  hinab,  streben  mit  ruhigen  Stöfsen  irgendeiner 
lockenden  Klippe,  einer  freundlichen  Bucht  zu  und  kehren,  wenn  wir  uns 
dort  nach  Verlangen  umgesehen  haben,  zufrieden  und  erquickt  zu  unserem 
Ausgangspunkte  zurück.  Ihn  zieht  es  weniger  in  die  kühle  Weite  hinaus ; 
er  bleibt  in  der  Nähe  des  Landes  und  sieht  kritischen  Auges  denen  zu, 
die  sich  zu  Schwimmausflügen  anschicken  oder  von  mifsglückten  Unter- 
nehmungen zurückkommen.  Und  da  er  findet,  dafs  bereits  erlebter  oder  be- 
vorstehender Mifserfolg  zumeist  aus  unzulänglichem  Können  oder  schwäch- 
lichem Wollen  sich  erkläre,  so  sagt  er  ihnen,  und  zwar  höchst  unverhohlen, 
wo  seiner  Meinung  nach  es  ihnen  gebricht,  taucht  sie  auch  wohl  einmal 
zur  Strafe  auf  ein  paar  Sekunden  unversehens  unter  oder  spritzt  ihnen 
Wasser  ins  Gesicht,  bis  ihnen  Hören  und  Sehen  vergeht,  und  macht  sie 
zum  Gespötte  der  Umstehenden.  Besonders  oft,  uud  so  geschieht  es  auch 
in  der  vorliegenden,  in  die  Form  eines  witzigen  Gesprächs  gebrachten 
Kundgebung,  richten  sich  seine  Grausamkeiten  gegen  die  spanische  Aka- 
demie und  insbesondere  gegen  die  für  deren  Wörterbuch  verantwortlichen 
Mitglieder  ('acade-memos'  oder  'club  de  los  inütiles'  u.  dergl.).  Manzoni 
braucht  einmal,  freilich  bei  ganz  anderem  Anlafs,  den  Ausdruck  Segno 
d'immensa  invidia  e  di  pietä  profonda.  Ob  die  spanische  Akademie  ersteres 
ist,  weifs  ich  nicht;  für  unwahrscheinlich  kann  ich  es  nicht  halten.  Aber 
es  wäre  zu  begreifen,  wenn  sie  letzteres  für  solche  würde,  die  mit  ansehen, 
wie  mit  ihr  umgesprungen  wird,  ohne  dafs  sie  sich  wehren  kann  oder 
mag,  vielleicht  ohne  dai's  sie  es  auch  nur  ahnt.  Werden  solche  Angriffe 
etwas  bessern?  —  In  Frankreich  haben  der  Lexikographie  der  Landes- 
sprache die  Arbeiten  von  Littre-  und  die  von  Darmesteter,  Hatzfeld,  Thomas 
mehr  Förderung  gebracht  als  alle  Sarkasmen,  die  jemals  über  die  Aka- 
demie ergangen  sind.  Der  Hinweis  darauf  sei  mein  Dank  für  mehrere 
unverdient  freundliche  Aufserungen,  in  denen  der  Verfasser  seinem  Wohl- 
wollen für  mich  Ausdruck  gibt. 

Alfred  Eisop  behandelt  in  seinen  Miszellen  zur  neufranzösischen 
Syntax,  die  auf  weit  ausgedehnter,  namentlich  auch  mittelfranzösischer 
und  mundartlicher,  übrigens  nebenher  italienischer  Lektüre  ruhen,  eine 
grofse  Zahl  noch  kaum  zur  Sprache  gebrachter  Erscheinungen.  Sie  haben 
grofsenteils  das  miteinander  gemein,  dafs  neben  Konstruktionsweisen,  die 
in  Betracht  der  ersten  Bedeutung  gewisser  Verba  zunächst  als  deren  allein 
natürliche  oder  berechtigte  gelten  müssen,  andere  Konstruktionen  auf- 
treten und  jene  wohl  sogar  verdrängen,  die  nur  bei  gewissen  anderen,  mit 
jenen  ersten  sinnverwandten  Verben  ihr  gutes  Recht  von  vornherein  haben. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  243 

Anhangsweise  ist  von  solchen  Fällen  die  Rede,  wo  gewisse  Satzelemente, 
die  im  zusammenhängenden  Sprechen  bis  zu  fast  völliger  Unwahrnehm- 
barkeit  einschwinden,  ein  zweites  Mal,  eigentlich  überflüssigerweise,  ver- 
lautbart  werden,  damit  der  durch  sie  dargestellte  Gedankengehalt  beim 
Hörer  doch  auch  zu  seinem  Rechte  komme  (hierher  gehört  ja  auch  die 
Wiederholung  des  Artikels  in  le  lendemain  u.  dergl.).  Das  der  Tiefe  zu- 
strebende Verfahren  des  Verfassers,  das  überall  die  Denkvorgänge  zu  ent- 
hüllen strebt,  die  in  Sprachvorgängen  sich  spiegeln,  wird  bei  denkenden 
Grammatikern  auch  diesmal  Beifall  finden. 

Felix  Rosenberg  hebt  aus  der  langen  Reihe  der  dramatischen  Be- 
arbeitungen des  Estherstoffes  (zu  den  1891  durch  Emile  Picot  im  sechsten 
Bande  des  Mistere  du  Viel  Testament,  S.  VI — LXIII,  aufgezählten  sind 
seither  noch  verschiedene  hinzugefunden)  eine  Anzahl  verständig  ausge- 
wählter hervor,  an  denen  zu  veranschaulichen  ihm  wohl  gelingt,  wie,  sei 
es  verschiedenes  Mafs  von  künstlerischem  Vermögen,  seien  es  herrschende 
religiöse  Bestrebungen,  hier  bestimmte,  im  Augenblick  gehegte  persönliche 
Absichten,  dort  hinwieder  die  rein  dichterische  Gabe  des  Eindringens  in 
die  Tiefen  menschlicher  Empfindungsweise  zur  Entstehung  so  ungleich- 
artiger und  ungleichwertiger  Kunstwerke  haben  führen  können.  Dafs 
unter  den  gestaltenden  Geistern  Racine,  Lope,  Grillparzer  (auch  Goethe) 
erscheinen,  erhöht  das  Interesse  des  geschickt  behandelten  Gegenstandes. 

Siegbert  Schayer  unterzieht  an  einem  ganz  geringen  Quantum  ältest- 
französischen Textes  der  Untersuchung  die  Arten,  wie  Gedankenzusammen- 
hang zwischen  selbständigen  (Haupt-)  Sätzen  in  sprachlichem  Ausdruck 
zur  Erscheinung  kommt.  Konjunktionen  (für  deren  Wesen  übrigens  eine 
wohlerwogene  Definition  not  tun  würde)  spielen  dabei  eine  ganz  untergeord- 
nete Rolle,  eine  weit  wichtigere  die  persönlichen  und  die  demonstrativen 
Pronomina,  auch  die  blofs  in  der  Verbalflexion  gegebenen  Subjektsbezeich- 
nungen, ferner  Einzelaussagen  im  Verhältnis  zu  vorangegangenen  um- 
fassenderen, Parallelismus  der  Satzgestaltung  und  anderes.  Achtsame  Fort- 
setzung des  hier  Begonnenen  wird  gewifs  zu  wertvollen  Ergebnissen  führen. 

Giovanni  Speranza  knüpft  an  eine  nur  wenig  auf  einzelnes  ein- 
gehende Erwähnung  der  Liebe  Michelangelos  (den  er  immer  Buonarotti 
nennt)  zu  Vittoria  Colonna,  durch  welche  Liebe  erst  er  ein  wahrhaft 
grofser  Künstler  geworden  sei,  Betrachtungen,  denen  es  meines  Erachtens 
zwar  nicht  an  rhetorischem  Pomp,  wohl  aber  an  Schärfe  und  Klarheit  des 
Gedankens  fehlt,  über  Materialismus  und  Idealismus  in  der  Kunst.  Um  der 
Vierzahl  der  Künste  willen,  in  denen  Michelangelo  Grofses  vollbracht  hat, 
nennt  ihn  die  Überschrift  nicht  eben  glücklich  l'uomo  dalle  quattro  anime. 

Heinrich  Spies  beschäftigt  sich  eindringlich  mit  der  Frage  der 
Echtheit  der  Chaucer  von  manchen  zugeschriebenen,  von  manchen  aber 
auch  abgesprochenen  retractatio.  Er  führt  die  bisher  abgegebenen  Vota 
vor,  tritt  dann  aber  in  selbständige  Prüfung  der  Sache  ein  und  äufsert 
sich  schliefslich,  ohne  zu  verhehlen,  dafs  ein  durchaus  zwingender  Beweis 
sich  nicht  führen  lasse,  zugunsten  der  Ansicht,  dafs  die  Stelle  allerdings 
von  Chaucer  herrühre,  dafs  sie  ihrem  Inhalte  nach  sich  in  Übereinstim- 
mung befinde  mit  Aufserungen  ähnlicher  Art,  die  der  Dichter  anderwärts 
getan  habe,  und  dafs  er  so,  wie  es  geschehen,  sich  am  ehesten  in  der  Zeit 
habe  aussprechen  können,  wo  er  mit  der  Durcharbeitung  des  für  die  spätere 
Persones  Tale  in  Betracht  kommenden  religiösen  Stoffes  fertig  gewesen  sei. 

Willy  Splettstöfser  führt  von  Alneris  Tragödien  Agamennone  und 
Oreste  die  Handlung  vor,  zeigt,  wie  sie  gemäfs  dem  Verlaufe  des  dar- 
gestellten Geschehens  auf  den  Zuschauer  wirken  müssen,  und  welche  Trieb- 
federn ihres  Tuns  die  bei  diesem  Dichter  bekanntlich  immer  nur  in  ganz 
geringer  Zahl  auftretenden  Personen   in  Taten   und  Worten   zu  erkennen 

§eben.    Gelegentliche  Blicke  auf  die  Behandlung,   welche  die  nämlichen 
Itoffe  bei  Alten  und  bei  Neueren  gefunden  haben,  lassen  Alfieris  künst- 
lerische Eigenart  deutlicher  erkennen.    Des  Dichters  eigenem  Urteil  über 

16* 


244  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

den  Agamennone  kann  der  Verfasser  des  Aufsatzes  nicht  beistimmen,  der 
das  Werk  bei  weitem  höher  einschätzt. 

Gustav  Thurau  verhilft  mir,  und  vermutlich  wie  mir  so  auch 
manchen  anderen,  zu  einer  ersten  Bekanntschaft  mit  Theodore  Botrel, 
einem  1870  in  Dinan  geborenen  fruchtbaren  Dichter  volkstümlicher  chan- 
sons,  die,  übrigens  in  gutem  Französisch  und  in  den  bisher  allgemein 
üblich  gewesenen  Versmafsen  abgefafst  und  selbstverständlich  zum  Vor- 
trag im  Gesang  bestimmt,  Eindrücke,  Anschauungen,  Gedanken,  Stim- 
mungen zu  ansprechendem  Ausdruck  bringen,  wie  sie  in  des  Verfassers 
bretonischer  Heimat  wurzeln  oder,  soweit  sie  allgemein  menschlich  sind, 
von  dort  ihre  besondere  Färbung  empfangen  haben.  Wer  der  Volks- 
kunde Teilnahme  zuwendet,  wird,  wenn  er  von  dieser  Dichtung  Kenntnis 
nimmt,  gar  wohl  auf  seine  Rechnung  kommen,  auch  umgekehrt  zu  ihrem 
rechten  Verständnis  bei  der  Volkskunde  wirksame  Unterstützung  finden. 
Der  Verfasser  lehrt  eine  grofse  Menge  Literatur  kennen,  die  zum  Gegen- 
stande seiner  Abhandlung  in  Bezug  steht;  er  weist  auch  auf  sachliche 
Berührung  hin  zwischen  seinem  'Barden'  und  Loti  oder  Maupassant  und 
gewährt  willkommene  Aufschlüsse  über  dessen  Lebensverhältnisse. 

Hans  Willert  gibt  eine  reiche  Sammlung  von  neuenglischen  Zu- 
sammensetzungen aus  reimenden  Stämmen  oder  Wörtern  und  von 
Wortgruppen  aus  reimenden  und  durch  Konjunktion  verbundenen 
Wörtern  (nach  Art  der  deutschen  'Klimbim',  'holterpolter';  'Sang  und 
Klang',  'schlecht  und  recht',  'Ach  und  Krach'),  die  er  nicht  aus  Wörter- 
büchern zusammengeklaubt,  sondern  bei  ausgedehnter  Lektüre  in  zusam- 
menhängender Rede  selbst  aufgetrieben  hat  und  darum  auch  sämtlich  zu 
belegen  vermag.  Künftige  Lexikographen  und  Grammatiker  werden  an 
dieser  Fundgrube  nicht  achtlos  vorübergehen  dürfen.  Vermisse  ich  an 
der  verdienstlichen  Arbeit  etwas,  so  ist  es  ein  Versuch,  festzustellen,  unter 
welchen  Umständen  die  Sprache  solche  Wege  der  Wortbildung  einschlägt, 
und  wie  es  kommt,  dafs  das  gewählte  Mittel  dem  empfundenen  Bedürfnis 
Genüge  tut.  Der  Stellen,  wo  von  den  nämlichen  Erscheinungen  schon 
früher  die  Rede  gewesen  ist,  hat  der  Verfasser,  wie  billig,  gedacht. 

Georg  Ebeling  versucht,  die  'syntaktische  Etymologie',  wie  ich 
dergleichen  gern  nenne,  von  tant  soit  peu  und  damit  zugleich  die  der 
gleichartigen  Sätze  der  älteren  Sprache  zu  geben,  in  welchen  bei  eben- 
falls vorantretendem  tant,  bei  Inversion  des  (meist  pronominalen)  Sub- 
jektes und  des  Verbums  im  Konjunktiv,  gleichfalls  der  Sinn  einer  Ein- 
räumung gegenüber  negativem  Hauptsatze  vorliegt.  Er  findet  die  Er- 
klärung der  gewifs  nicht  ohne  weiteres  durchsichtigen  Ausdrucksweise  in 
einer  Kontamination,  infolge  deren  z.  B.  passer  ne  pot,  tant  ne  fu  forx 
und  passer  ne  pot,  ja  fust  il  forx  zu  passer  ne  pot,  tant  fust  il  forx  zu- 
sammengeflossen wären,  von  welchen  drei,  sämtlich  üblich  gewesenen  Rede- 
weisen wenigstens  die  letzten  beiden  in  der  Tat  als  fast  gleichbedeutend 
gelten  dürfen.  Die  Annahme  derartiger  Entwickelung  als  überhaupt  un- 
zulässig zu  bezeichnen,  würde  mir  übel  anstehen,  habe  ich  doch  selbst 
mehr  als  einmal  in  ähnlichem  Zusammenfliefsen  zweier  im  Grunde  ver- 
schiedenartigen Wendungen  die  Erklärung  einer  dritten  gesucht.  Das 
hier  Angenommene  aber  scheint  mir  schwer  denkbar,  weil  die  beiden  zu 
vereinigenden  Ausdrucks  weisen  gar  so  verschieden  sind,  1.  nach  dem 
Verhältnis  zum  negativen  Vordersatz  (Kausalität  dort,  Einräumung  hier), 
2.  nach  dem  Modus  des  Verbums  (Indikativ  dort,  Konjunktiv  hier),  3.  nach 
dem  Wesen  der  Rede  (negativ  dort,  positiv  hier).  Ich  habe  mir  meiner- 
seits das  tant  in  dem  vorliegenden  Falle  als  ursprünglich  mit  einer 
Gebärde  gesprochen  gedacht,  die  ebenso  eine  groi'se  Menge,  einen  hohen 
Grad  angedeutet  hätte  wie  im  deutschen  'ich  mache  mir  daraus  nicht 
soviel'  eine  andere  Gebärde  eine  geringste  Menge  angedeutet  hat  oder 
noch  andeutet.  Diese  Verwendung  von  tant  als  einmal  üblich  gewesen 
anzusehen,  geben,  wie  mir  scheint,  solche  Stellen  ein  Recht,  wie  ne  puet 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  245 

avoir  tresliaute  honnour,  tant  ait  d'avoir,  s'il  ne  set  les  bons  honnorer,  Cleom. 
488 ;  Quant  je  m'aroie  tant  pene,  Ne  vos  aroie  dit  anuit  L'appareil,  RViol. 
S.  276 ;  n'en  poroie  avoir  joie,  Quant  tant  m'en  serai  peneis,  Bern.  LHs. 
399,  1.  Wer  Ebelings  andere  Arbeiten  kennt,  dem  braucht  man  nicht 
erst  zu  sagen,  dafs  er  sich  immer  mit  grofser  Sorgfalt  ausdrückt,  dafs 
ihm  für  die  verschiedenartigsten  syntaktischen  Erscheinungen  überaus 
reichliche,  durch  ihn  selbst  zusammengebrachte  Parallelstellen  zur  Ver- 
fügung stehen  und  —  dafs  er  seine  Leser  mit  solchen  gern  auch  dann 
überschüttet,  wenn  es  des  Beweises  der  Gewöhnlichkeit  eines  lange  be- 
kannten Vorkommnisses  kaum  mehr  bedarf.  Meine  oben  gegebene  Auf- 
fassung des  tant  hätte  er  übrigens  auch  bei  Dubislav,  Über  Satzbeiord- 
nung für  Satzunterordnung  im  Altfranzösischen,  (in  Berlin  entstandene) 
Dissertation  aus  Halle  1888,  S.  18  ff.  finden  können,  dem  ich  freilich  in 
der  Deutung  eines  grofsen  Teiles  seiner  Belegstellen  nicht  beistimmen  kann. 

Damit  wäre  ich  denn  am  Ende  meiner  Berichterstattung  angelangt, 
einer  Berichterstattung,  die  freilich  auch  nicht  jede  bescheidene  Andeutung 
etwa  abweichender  Ansicht  oder  schüchterner  Mifsbilligung  ausgeschlossen 
hat.  Die  Gesellschaft,  von  der  das  inhaltreiche  Buch  ausgegangen  ist, 
hat  denjenigen,  den  sie  seit  neun  Jahren  immer  wieder  an  ihre  Spitze 
nötigt,  durch  die  gutmütige  Geduld  verwöhnt,  womit  sie  seine  Bemer- 
kungen über  die  in  ihrem  Schofse  gehaltenen  Vorträge  hinnimmt,  und 
durch  das  Vertrauen,  das  sie  unter  allen  Umständen  in  seine  gute  Ab- 
sicht setzt.  Wird  er  zu  dem  Buche  oftmals  dankbar  und  gern  zurück- 
kehren als  zu  einem  Beweise  anhänglicher  Gesinnung  und  zu  einem  Denk- 
mal erfreulichen  und  gewifs  nicht  ganz  vergeblichen  Zusammenarbeitens, 
so  mag  es  anderen  schon  durch  seinen  reichen  und  mannigfaltigen  In- 
halt, abgesehen  von  der  Entstehung,  wert  werden.  Es  wird  auch  nach 
aufsen  zeigen,  wie  viele  und  wie  tüchtige  Kräfte  die  Gesellschaft  in  sich 
vereinigt.  Und  die,  deren  Namen  oben  zu  lesen  stehen,  sind  doch  erst 
ein  kleiner  Teil  der  gesamten  Mitglieder;  mit  ihnen  stehen  in  Reih'  und 
Glied  zahlreiche  andere  Männer,  die  bei  anderen  Gelegenheiten  nicht 
minder  glänzende  Beweise  ihres  Vermögens  gegeben  haben.  Zeuge  eines 
friedlichen  und  erspriefslichen  Zusammenwirkens  der  einen  und  der  an- 
deren und  eines  viel  versprechenden  Nachwuchses  noch  ein  Weilchen  zu 
bleiben,  würde  mir  eine  herzliche  Freude  sein. 

Berlin.  Adolf  Tobler. 

George  N.  Oleott,  Thesaurus  linguae  latinae  epigraphicae.  Band  I, 
Lieferung  1.  A — AB.  Rom,  Loescher  &  Co.  (Bretschneider  &  Regen- 
berg), 1905.    24  S.  8. 

Die  Verzettelung  und  nachherige  lexikographische  Verarbeitung  des 
in  den  rund  200  000  bisher  veröffentlichten  lateinischen  Inschriften  ent- 
haltenen sprachlichen  Materials  durch  einen  einzelnen  Gelehrten  ist,  wie 
sich  der  Verfasser  in  der  Vorrede  treffend  ausdrückt,  'the  work  of  a  pygmy 
struggling  against  a  giant'.  Mögen  die  den  Amerikanern  eigene  zähe  Aus- 
dauer und  die  treffliche  epigraphische  Schulung  Oleotts,  von  der  schon 
1896  seine  Dissertation  'Studies  in  the  word  formation  of  the  Latin  in- 
scriptions'  Zeugnis  abgelegt  hat,  das  grofsartige  Unternehmen,  dessen  Be- 
deutung speziell  für  den  Romanisten  besonders  zu  betonen  überflüssig  sein 
dürfte,  glücklich  zum  Ziele  führen.  Soweit  der  geringe  Umfang  des  dem 
Referenten  vorliegenden  Probeheftes  Schlüsse  zuläfst,  ist  in  bezug  auf  Kor- 
rektheit und  Vollständigkeit  das  Beste  zu  erwarten.  Zugrunde  gelegt  sind 
die  von  dem  jeweiligen  Herausgeber  adoptierten  Lesungen,  auf  deren  kri- 
tische Nachprüfung  der  Verfasser  sich  nicht  einlassen  zu  können  erklärt, 
was  man  ohne  weiteres  begreifen  wird.  Leider  ergeben  sich  hieraus  ge- 
wisse Übelstände,  wie  hier  an  einem  Beispiel  gezeigt  sein  mag.  CIL.  xn 
186  druckt  Hirschfeld    mit   dem   Codex  Filonardianus   SEX  ■  IVL  ■  CAE 


246  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

ARXITECTOR  und  löst  auf  in  Sex.  Jul(ius)  Cae[cüianus  ?]  archüecl{us)  or, 
indem  er  hinzufügt:  scilicet  ipsius  arcus  in  quo  titulus  legebatur.  Zufolge 
dieser  irrtümlichen  Auflösung  fehlt  der  hier  zutage  tretende,  wohl  älteste 
Beleg  für  das  mehrfach  bezeugte  vulgärlateinische  architector  im  Thesaurus 
linguae  latinae  II  464,  und  es  steht  zu  befürchten,  dafs  auch  der  Thesaurus 
linguae  latinae  epigraphicae  Oleotts  ihn  nicht  verzeichnen  werde.  Hoffen 
wir,  dafs  dergleichen  Fälle  nicht  allzu  zahlreich  vorkommen. 

Wir  sehen  der  Fortsetzung  des  monumentalen  Werkes  mit  lebhaftem 
Interesse  entgegen. 

La  Chaux-de-Fonds.  Max  Niedermann. 

A.  Walde,  Lateinisches  etymologisches  Wörterbuch.  Lieferung  1. 
Heidelberg,  Carl  Winters  Universitätsbuchhdlg.,  1905.  80  S.  8.  (Das 
Werk  soll  in  etwa  10  Lieferungen  von  je  5  Bogen  zum  Subskriptions- 
preise von  M.  1,50  erscheinen.) 

Nachdem  die  in  den  letzten  Jahren  von  verschiedenen  Seiten  ge- 
machten Anläufe,  die  Wissenschaft  mit  einem  brauchbaren  etymologischen 
Wörterbuch  des  Lateinischen  zu  dotieren,  insgesamt  ohne  Resultat  ge- 
blieben sind,  hätten  wir  kaum  zu  hoffen  gewagt,  dafs  das  von  A.  Walde 
in  der  unter  der  Leitung  von  Hermann  Hirt  herausgegebenen  Sammlung 
indogermanischer  Lehrbücher  angekündigte  in  verhältnismäfsig  so  kurzer 
Frist  den  Fachgenossen  zugänglich  sein  würde.  Zwar  liegt  dem  Refe- 
renten zurzeit  erst  ein  Spezimen  von  80  Seiten  vor,  allein  der  Wintersche 
Verlag  verspricht  den  Rest  noch  für  dieses  Jahr,  und  es  liegt  kein  Grund 
vor,  die  pünktliche  Erfüllung  dieses  Versprechens  in  Zweifel  zu  ziehen.  ' 
Der  Plan  des  Werkes  und  seine  Durchführung  verdienen  ungeteilte  An- 
erkennung. Im  allgemeinen  ist  das  Prinzip  der  alphabetischen  Anordnung 
befolgt,  doch  wird  am  Schlufs  eines  jeden  Artikels  jeweils  ausdrücklich 
auf  die  anderswo  eingereihten  Ableger  der  betreffenden  Sippe  hingewiesen, 
also  z.  B.  s.  v.  ago  auf  agito,  ambiguus,  agäso,  indägo,  prodigus,  abiga, 
ambages,  agina,  exämeti  u.  s.  f.  Der  Romanist  konstatiert  mit  Vergnügen, 
dafs  auch  der  spezifisch  vulgärlateinische  Wortschatz  mit  einbezogen  er- 
scheint (acedia,  aciarium,  amiddola  amandola,  auca,  bacca,  blatta  'Motte', 
bruta  u.  dgl.).  Dankenswert  sind  ferner  die  zahlreichen  Literaturangaben, 
gegen  deren  Unterdrückung  in  sprachwissenschaftlichen  Handbüchern  der 
Referent  schon  zu  wiederholten  Malen  hat  protestieren  müssen.  In  jedem 
Falle  den  wirklichen  Urheber  einer  Etymologie  zu  ermitteln,  ist  ja  wohl 
ein  Ding  der  Unmöglichkeit;  jedenfalls  aber  darf  Walde  das  Zeugnis  nicht 
vorenthalten  werden,  dafs  er  sich  aufs  gewissenhafteste  bemüht  hat,  jedem 
das  Seine  zukommen  zu  lassen.  Eigene  Sammlungen  würden  uns  ge- 
statten, eine  Anzahl  von  Nachträgen  sowie  auch  die  eine  oder  andere  Be- 
richtigung beizusteuern;  da  wir  indessen  auf  das  Werk  zurückzukommen 
gedenken,  sobald  es  einmal  vollständig  vorliegt,  so  wollen  wir  damit  lieber 
zuwarten.  Wir  schliefsen  diese  vorläufige  Anzeige  mit  den  besten  Wün- 
schen für  den  rüstigen  Fortgang  der  Arbeit  und  dem  aufrichtigsten  Dank 
für  das  bisher  Gebotene. 

La  Chaux-de-Fonds.  Max  Niedermann. 

Dr.  Wilhelm  Münch,  Geh.  Regierungsrat,  Professor,  Didaktik  und 
Methodik  des  französischen  Unterrichts  (Sonderausgabe  aus  Bau- 
meisters 'Handbuch  der  Erziehungs-  und  Unterrichtslehre  für  höhere 
Schulen').   2.  umgearb.  Aufl.   München,  C.  H.  Beck,  1902.    IV,  179  S. 

Münchs  schönes  Buch,  das  in  der  ersten  Ausgabe  (1895)  vereint  mit 
Glaunings  'Didaktik  und  Methodik  des   englischen  Unterrichts'   erschien, 

1  Korrekturnote  vom  11.  September  1905:  Bis  heute  sind  uns  fünf  Liefe- 
rungen zugegangen. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  247 

liegt  jetzt  selbständig  in  umgearbeiteter  und  erweiterter  Auflage  vor,  und 
zwar  so  lange  schon,  dals,  glaube  ich,  es  keinen  Lehrer  des  Französischen 
gibt,  dem  es  nicht  schon  geistiger  Besitz  geworden  sei,  dem  es  nicht  schon 
Anregung  und  Förderung  auch  durch  das  viele  Neue,  das  es  enthält,  ge- 
geben habe. 

Das  Buch  fiel  bei  seinem  ersten  Erscheinen  in  eine  Zeit  heilsen 
Kampfes,  eiue  Zeit,  wo  manche  der  Reformer  noch  alles  Alte  mit  Stumpf 
und  Stiel  auszurotten  und  etwas  gänzlich  Neues  an  dessen  Stelle  zu  setzen 
sich  vermafsen.  Es  verrichtete  ein  Friedenswerk  im  schönsten  Sinne  des 
Wortes;  es  vereinte,  wie  es  der  persönliche  Einflufs  des  Verfassers  so  oft 
auf  den  Philologentagen  getan  hat,  ehrliche  Gegner,  die  auf  verschiedenen 
Wegen  doch  demselben  hohen  Ziele  zustreben.  Und  ein  Friedens  werk 
bleibt  dem  Buche  auch  nach  seinem  neuen  Erscheinen  zu  verrichten.  Der 
Kampf  ist  von  neuem  entfacht:  der  Königsberger  Zeit-  und  Streitschrift 
nach  könnte  man  glauben,  die  einst  Triumphierenden  seien  jetzt  in  vollem 
Bückzuge  begriffen,  alle  die  Arbeit,  die  sie  getan  haben,  sei  nur  von 
schädlicher  Wirkung  gewesen,  nur  in  einer  Rückkehr  zum  alten  Zustande 
bestehe  das  wahre  Heil.  Reaktion  und  Gegenreaktion.  Ehrliche  Gegner 
werden  sich  wieder  in  Hinblick  auf  das  gleiche  hohe  Ziel  zusammenfinden. 
Arbeit  bleibt  nie  ohne  Nutzen;  so  begeistertes  Streben  kann  fehlen  und 
über  das  Ziel  hinaustreffen,  aber  nicht  verloren  gehen. 

Münchs  Buch  war  ein  grofses  Ereignis  in  der  Geschichte  der  Bestre- 
bungen um  die  Gestaltung  nicht  blofs  des  französischen,  sondern  des 
ganzen  neusprachlichen  Unterrichtes.  Wenige  Schriften  sind,  glaube  ich, 
nach  1895  auf  diesem  Gebiete  erschienen,  die  nicht  von  den  hier  fest- 
gelegten Ergebnissen  ausgehen,  nicht  zu  den  hier  aufgeworfenen  Fragen 
Stellung  nehmen.  Hat  das  Buch  einen  Boden  geschaffen,  auf  dem  recht 
verschiedenartige  Ansichten  zusammentreffen  können,  so  ist  dies  doch  nicht 
durch  schwächliche  Kompromisse  geschehen,  durch  die  kein  dauernder 
Friede  zustande  kommt.  Der  Verfasser  wirkt  durch  die  guten  Gründe, 
mit  denen  er  seine  Ansichten  zu  stützen,  die  er  abweichenden  entgegen- 
zustellen weifs,  durch  das  hohe  Gerechtigkeitsgefühl,  das  ihn  auszeichnet, 
durch  den  vornehmen  Ton,  der  sich  ruhige  Entgegnung  erzwingt.  Infolge 
seines  eigenen  Entwickelungsganges  steht  Münch  mitten  in  der  unterricht- 
lichen Bewegung,  kennt  Ideal  und  Wirklichkeit,  das  Ziel  und  die  Wege, 
es  zu  erreichen,  und  zugleich  hoch  genug  über  ihr,  um  dem  Einzelfache 
seinen  Platz  in  dem  Gesamtorganismus  der  Schule  anzuweisen. 

'Oft  war  dasjenige  in  Wahrheit  Streit  um  das  Ziel,  was  als  Streit  um 
die  Methode  angesehen  und  durchgeführt  wurde'  (S.  3).  Wie  bei  jedem 
Unterrichtsfache,  so  kommen  beim  französischen  drei  Momente  miteinander 
zur  Geltung:  'Der  Wert  der  inhaltlichen  Aneignung  oder  des  stofflichen 
Besitzes,  die  Ausnutzung  zu  formaler  Schulung  und  die  ideal  anregende 
Kraft'  (S.  4).  Die  drei  Bestandteile  sind  zu  verschiedenen  Zeiten  ver- 
schieden betont,  oft  ist  eins  dem  anderen  zuliebe  vernachlässigt  worden. 
Ein  Gleichgewicht,  soweit  es  bei  der  Natur  jedes  einzelnen  Faches  mög- 
lich ist,  herzustellen,  soll  das  Ideal  des  Lehrers  sein,  und  bei  der  Lösung 
dieser  Aufgabe  will  ihm  die  reiche  Erfahrung  des  Verfassers  helfen. 

Welches  sind  die  älteren  Unterrichtswege  gewesen,  welche  Erwägungen 
haben  zu  den  neueren  Bestrebungen  geführt?  'Sicherheit  des  Könnens 
und  geistige  Bildung'  ist  unser  Ziel,  sollte  es  sein.  Wir  haben  das  letz- 
tere Ziel  mit  allen  gemeinsam;  wir  legen  auf  das  erstere  mehr  Gewicht, 
als  es  nach  gewissen  Richtungen  früher  allgemein  Brauch  war.  Knapper, 
klarer,  umsichtiger,  vollständiger  als  (S.  15 — 19)  die  'schwebenden  Ein- 
zelfragen' formuliert  sind,  die  auf  den  verschiedensten  Gebieten  unseres 
Faches  zur  Erörterung  stehen,  scheint  mir  eine  Gesamtdisposition  des 
Ganzen  kaum  gegeben  werden  zu  können.  Die  Erörterung  alles  Wesent- 
lichen, auf  das  sich  die  Fragen  beziehen,  bildet  den  Inhalt  der  folgenden 
Kapitel.    Jedermann,  der  die  erste  Auflage  kennt,  weifs,  in  wie  ausführ- 


248  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

licher  und  gründlicher  Weise  die  nach  den  Einzeldisziplinen  (Aussprache, 
Sprechen,  Anschauungsunterricht,  Grammatik,  schriftliche  Arbeiten,  Lek- 
türe, "Wortschatz,  Nebengebiete:  Synonymik,  Stilistik  usw.)  geordneten 
Abschnitte  den  Gesamtstoff  behandeln.  So  ausgeprägt  der  Standpunkt 
des  Verfassers  ist,  Anhänger  und  Gegner  werden  mit  gleichem  Nutzen 
seinen  Erörterungen  folgen,  und  es  wird  kaum  eine  wichtige  Frage  geben, 
in  der  man  sich  vergebens  an  den  umsichtigen  Berater  wendet.  Der  grofse 
Zug,  der  durch  die  einleitenden  Betrachtungen  ging,  zeigt  sich  auch  bei 
der  Erörterung  der  Einzelfragen.  Nie  verlieren  wir  den  Zusammenhang 
aus  den  Augen.  Jeder  einzelnen  Betätigung  des  nach  so  vielen  Seiten 
hin  sich  erstreckenden  sprachlichen  Unterrichtes  weifs  der  Verfasser,  nach 
sorgfältiger  Abwägung  seiner  Bedeutung  für  das  Endziel,  den  gebührenden 
Platz  anzuweisen.  Alle  möglichen  Einwendungen  kommen  zur  Sprache, 
das  Für  und  Wider,  das  sich  aus  Umfang  des  Stoffes,  Stundenzahl,  Vor- 
bildung des  Lehrers  (s.  bes.  S.  46  ff.)  wie  des  Schülers  ergeben  könnte, 
wird  sorgsam  geprüft.  So  sehr  die  Erörterung  bei  jeder  Disziplin  ins 
einzelne  geht,  verliert  sie  doch  nie  darum  die  grofsen  Gesichtspunkte  aus 
den  Augen ;  sie  berücksichtigt  auch,  nachdem  sie  das  Ideal  hingestellt, 
vorsichtig  die  oft  grausame  Wirklichkeit;  sie  weist,  ohne  darum,  berech- 
tigtes Streben  zu  entmutigen,  Übertreibungen,  die  sich  durch  Übereifer 
für  neuerschlossene  Gebiete  (z.  B.  Phonetik)  nach  gewissen  Seiten  hin  er- 
geben haben,  in  die  Schranken  zurück. 

Die  'Fragen',  die  in  der  ersten  Auflage  etwa  anderthalb  Seiten  füllten 
(8  und  9),  nehmen  trotz  ihrer  knappen  Fassung  in  der  neuen  Auflage 
fast  fünf  Seiten  des  grofsen  Formates  ein.  Entsprechend  gröfseren  Raum 
braucht  natürlich  auch  ihre  Erörterung:  das  Buch  hat  jetzt  im  ganzen 
179  Seiten  statt  der  107  der  ersten  Fassung.  Eine  Erweiterung,  Bereiche- 
rung, eine  Umformung,  die  die  fortgesetzte  Arbeit  auf  diesem  Gebiete 
zeigt,  haben  fast  alle  Kapitel  erfahren;  der  Literaturnachweis  am  Ende 
beweist,  wie  aufmerksam  der  Verfasser  auch  in  seinem  sehr  veränderten 
Wirkungskreise  neueren  und  neuesten  Erörterungen  zu  folgen  gewufst  hat. 

Die  Änderungen,  die  die  neue  Auflage  erfahren  hat,  scheinen  mir  im 
letzten  Grunde  weniger  grundsätzlicher  Natur  zu  sein  als  solche  —  sei  es 
Erweiterungen,  sei  es  Einschränkungen  — ,  die  fortgesetzte  Überlegung 
und  mehr  noch  Erfahrungen  der  Praxis  mit  sich  gebracht  haben  und 
weiter  mit  sich  bringen  werden.  Schon  ein  Vergleich  der  vorangeschickten 
Fragen,  die,  wie  ich  schon  sagte,  den  Plan  des  Buches  geben,  zeigt,  wie- 
viel Neues  die  sieben  Jahre,  die  zwischen  den  beiden  Ausgaben  liegen, 
angeregt  haben,  wieviel  Erwägungen  hinzugekommen  sind,  wie  manches 
zum  scheinbar  definitivem  Abschlufs,  manches  wieder  zum  Schwanken 
gebracht  worden  ist.  So  ist,  um  nur  ein  paar  Beispiele  zu  geben,  im 
Kapitel  über  die  Aussprache  neben  vielen  Einzelheiten  (Dauer,  tj  27)  und 
Erweiterungen  (Richtigkeit  der  Einzellaute,  §  23),  besonders  die  Erörte- 
rung, ob  'familiär  oder  akademisch',  ganz  umgearbeitet  und  zu  einer  'Ent- 
scheidung' (S.  28)  geführt  worden.  Die  Bedenken,  die  Verf.  schon  früher 
den  durch  Passy  hervorgerufenen  Übertreibungen  entgegensetzte,  sind 
(Koschwitz  wird  zitiert)  zu  einer  ausführlichen  Zurückweisung  des  extre- 
men Standpunktes  geworden,  wobei  der  verschiedenen  Stilarten,  der  all- 
gemeinen Fertigkeit,  der  Entwickelung  des  Schülers  in  gleichem  Mafse 
Rechnung  getragen  wird.  Noch  gröfsere  Erweiterung  hat  das  Kapitel 
über  die  'Sprechübungen'  in  dem  Zusatz  S.  45 — 50  und  dem  neuen  Ab- 
schnitt über  den  'Anschauungsunterricht'  (S.  50 — 56)  erfahren.  Ja,  der 
Besitz  der  fremden  Sprache,  die  Fertigkeit,  sich  ihrer  zu  bedienen,  ist 
und  bleibt  eins  der  Ziele,  die  uns  der  Verfasser  vorschreibt.  'Wenn  dieses 
Können  nicht  am  Wege  aufgerafft,  nicht  auf  zufällige  und  äufserliche  Art 
angeeignet  worden,  unter  einer  schulmäfsigen  Zucht  und  Überwachung 
und  in  planvollem  Stufengans  erworben  worden  ist,  dann  ist  es  auch  vom 
erzieherischen  Standpunkt  aus  etwas  recht  Schätzbares'  (S.  40);  und  'alles 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  24P 

in  allem  kann  ich  überhaupt  nicht  umhin,  einen  französischen  Unterricht, 
der  dem  Sprechen  der  fremden  Sprache  eine  solche  breite  Rolle  einräumt, 
für  den  vollkommneren  zu  erklären,  für  diejenige  Form,  welche  eigentlich 
verwirklicht  werden  müfste  —  wofern  es  die  persönlichen  Be- 
dingungen ermöglichen  und  der  nöti  ge  Tiefgang  des  Unter- 
richts gewahrt  wird'  (S.  47).  "Verf.  warnt  davor  —  möchten  wir  auch 
diese  seine  Stimme  hören  — ,  Meinungsverschiedenheiten  auf  diesem  Ge- 
biete gleich  auf  Böswilligkeit  und  Unfähigkeit  zurückzuführen.  Es  sei 
beiden  Lagern  zugerufen.  Wie  die  Sprechübungen,  unter  nötiger  Wahrung 
des  Tiefganges,  nicht  nur  den  Unterricht  begleiten,  sondern  ihn  durch- 
ziehen können,  wird  in  mustergültiger  Weise  an  dem  ganzen  Gange,  ins- 
besondere für  den  Anschauungsunterricht  mit  seinen  verschiedensten  Hilfs- 
mitteln gezeigt,  wobei  die  'Grenzen  für  Wert  und  Ziele'  nicht  übersehen 
worden  sind.  Dafs  überall  der  nötige  Tiefgang  zu  wahren  ist,  lehren  uns 
die  Kapitel  über  die  Grammatik  wie  über  die  Lektüre.  Auch  hier  finde 
ich  wohl  weitere  Ausführungen,  aber  keine  grundsätzlich  veränderte  Stel- 
lungnahme. Dafs  der  Grammatik  eine  andere  Rangstellung  als  vielfach 
bisher  angewiesen  wird,  verhindert  ebensowenig  die  Schätzung  ihres  Wertes 
und  ihrer  Wichtigkeit  für  den  bildenden  Unterricht,  wie  der  Umstand, 
dafs  viele  Vorschriften,  die  sich  von  Lehrbuch  zu  Lehrbuch  fortschleppten, 
ohne  in  der  Sprache  eine  Daseinsberechtigung  zu  finden,  jetzt  über  Bord  ge- 
worfen sind,  was  ja  nebenbei  auch  in  neueren  griechischen  und  lateinischen 
Grammatiken  geschehen  ist.  Dafs  die  induktive  Methode,  wenn  sie  wirk- 
lich ernst  betrieben  wird,  und  soweit  sie  bei  der  uns  zur  Verfügung  ste- 
henden Zeit  möglich  ist,  nicht  blofs  einen  schöneren  Weg'  darstellt,  son- 
dern auch  zu  erfreulicheren  Resultaten  als  der  alte  Gang,  von  der  'Regel' 
zur  Anwendung,  führt,  scheint  mir  keinem  Zweifel  zu  unterliegen.  Man 
nehme  nicht  immer,  wenn  das  Lob  der  'alten  grammatischen  Methode' 
gesungen  wird,  die  Leistungen  einzelner  trefflicher  Lehrer,  die  an  der 
Hand  jedes  Lehrbuches  den  Geist  der  Sprache  erkennen,  sagen  wir  be- 
scheidener, das  Wesen  einer  sprachlichen  Erscheinung  erkennen  lassen 
konnten.  Nehmen  wir  die  verbreitetsten  Lehrbücher,  Plötz  etwa  und 
Gesenius  in  der  älteren  Gestalt,  und  fragen  wir,  was  der  Durchschnitts- 
unterricht mit  diesem  Wirrwarr  von  fertig  gegebenen  'Regeln',  deren 
eigentlich  keine  einzige  sich  mit  der  doch  Leuten  wie  Plötz  sicher  ver- 
trauten Erscheinung  deckte,  für  eine  wirkliche  Geistesschulung  anzufangen 
wufste.  Ich  weifs  wohl,  dafs  der  grammatische  Teil  mancher  als  sehr 
'praktisch'  erkannter  neuer  Lehrbücher,  wenn  auch  nicht  schlechter  als 
die  alten  Arbeiten,  so  doch  sehr  fern  von  einem  Ideal  ist,  weifs  aber 
auch,  dafs  für  die  meisten  Fachlehrer,  mögen  sie  noch  so  entschie- 
dene 'Reformer'  sein,  mögen  sie  auch  der  Fertigkeit  einen  noch  so  gro- 
fsen  Wert  beilegen,  doch  Tobler  nicht  vergebens  gelehrt  und  Lücking 
nicht  umsonst  seine  'Schulgrammatik'  geschrieben  hat.  Mit  der  An- 
ordnung des  Stoffes  in  konzentrische  Kreise  bin  ich  voll  einverstanden, 
möchte  sie  z.  B.  auch  auf  die  Formenlehre  des  Verbs,  wo  der  An- 
schauungsunterricht zuerst  nur  eine  Erlernung  der  Präsensformen  aller 
gebräuchlichsten  Verben  erfordert,  übertragen  wissen,  was  meines  Er- 
achten» diesen  schwierigen  Gegenstand  bedeutend  erleichtern  würde.  Auch 
für  die  Art,  wie  der  Unterricht  vertieft,  wie  die  Ergebnisse  der  Wissen- 
schaft zur  Aufhellung  verwandt  werden  können,  sind  kostbare  Winke  ge- 
geben. Und  in  der  Erörterung  über  die  Notwendigkeit,  das  Mafs,  den 
Nutzen  der  grammatischen  Übungen  zeigt  sich  wie  überall  die  klare  Be- 
sonnenheit, die  das  einmal  klar  erkannte  Ziel  im  Auge  behält,  ohne  sich 
von  verführerischen  Phrasen  ('das  Übersetzen  ist  eine  Kunst,  die  die  Schule 
nichts  angeht')  täuschen  zu  lassen.  'Ein  wirklich  völliges  Nebeneinander- 
gehen der  Muttersprache  und  der  fremden  im  Bewußtsein  kann  demjenigen 
nicht  als  das  Wünschenswerte  erscheinen,  der  an  das  Bedürfnis  oines  ein- 
heitlichen} Bewufstseins,  eines  klarentund  geschlossenen  Vorsttllungslebens 


250  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

für  die  Schule  denkt'  (S.  69).  Die  als  'noch  offen'  hingestellte  Frage,  ob 
auch  die  Grammatik,  wenigstens  auf  der  Oberstufe,  in  der  fremden 
Sprache  zu  behandeln  sei,  möchte  ich  des  Schülers  wegen,  wie  die  'Lehr- 
plane', mit  einem  Nein  beantworten.  Das  Mafs  der  geistigen  Arbeit,  das 
meines  Erachtens  bei  einem  guten  grammatischen  Unterrichte  von  dem 
Aufnehmenden  verlangt  wird,  scheint  mir  jede  weitere  Erschwerung  durch 
das  fremde  Idiom  auszuschliefsen.  Natürlich  sind  die  neueren  Bestim- 
mungen für  französische  Schulen  in  bezug  auf  orthographische  und  gram- 
matische Eigentümlichkeiten  erwähnt  werden  und  wird  ihre  Berücksichti- 
gung auch  uns  auferlegt. 

Dem  Kapitel  über  die  schriftlichen  Arbeiten  ist  ein  besonderer  Ab- 
schnitt 'Briefe'  und  eine  kurze  Erörterung  über  den  Briefwechsel  zwischen 
Schülern  verschiedener  Nationen  hinzugefügt  worden.  Sorgfältiges  Ab- 
wägen, bevor  zu-  oder  abgesprochen  wird,  zeichnet  auch  diese  Erörte- 
rungen aus,  die  in  zweifelhaften  Dingen  der  Eigenart  der  Schüler  wie 
der  Lehrer  volle  Freiheit  zu  lassen  sich  bemühen. 

Und  dann  kommen  wir  zu  dem  schwierigsten  Kapitel  des  sprach- 
lichen Unterrichts,  der  Lektüre.  Noch  gründlicher  und  ausführlicher 
als  bisher  bemüht  sich  der  Verfasser,  sich  mit  den  verschiedensten  Grund- 
sätzen, nach  denen  zunächst  die  Wahl  der  Lektüre  getroffen  wird,  aus- 
einanderzusetzen. Er  erwägt  den  traditionellen  Standpunkt,  den  idea- 
listisch-moralischen, den  humanistischen,  wissenschaftlichen,  literarhisto- 
rischen, sprachlichen,  ethnologischen,  wie  in  der  alten  Auflage,  jedoch 
ausführlicher  und  mit  Hervorhebung  der  Tatsache,  dafs  die  letztgenannten 
sehr  erstarkt  sind  und  nun  vor  allem  im  Sinne  des  praktischen  Bedürf- 
nisses gelten  sollen.  'Solche  Rücksicht  mit  derjenigen  auf  bildende  Wir- 
kung (dies  nur  weniger  in  einem  abstrakten  Sinne  genommen  als  früher 
üblich)  zu  verbinden,  mufs  möglich  sein.'  Wie  wünschenswerter  Freiheit 
durch  die  Rücksicht  auf  Schule  und  Klasse,  auf  Lebensalter  und  Be- 
fähigung ebensosehr  wie  durch  allgemeine  im  Früheren  entwickelte  Ge- 
sichtspunkte Beschränkung  auferlegt  wird,  zeigen  nach  den  grundsätz- 
lichen Erörterungen  auch  die  Einzelausführungen  über  die  Stoff  kreise  und 
Einzelstoffe  (S.  94—104).  Dafs  man  hier  am  häufigsten  Einwendungen 
erheben  und  Zusätze  machen  möchte,  ergibt  sich  aus  der  Natur  der  Sache; 
jedoch  wird  man  auch  da  die  erstrebte  Objektivität  des  Urteils  anerkennen 
und  selbst  bei  seinen  Lieblingsautoren  sich  gerechten  Bedenken  nicht  ver- 
schliefsen  können.  Nur  eine  Abschätzung  scheint  mir  zu  hart  und  ein- 
seitig zu  sein,  die  über  die  poetische  Literatur  der  Franzosen :  'Die  Poesie 
der  Franzosen  ist  nicht  unsere  Poesie,  ihr  Feuer,  macht  uns  nicht  er- 
glühen, ihr  Pathos  bewegt  uns  nicht  im  Innersten.'  Ich  glaube,  hier  ist 
zu  ausschliefslich  die  bei  uns  in  Deutschland  bevorzugte  Schulpoesie  ins 
Auge  gefafst  worden,  die  epische  Stoffe  naturgemäfs  bevorzugt,  und  in 
der  das  Pathetische  einen  zu  grolsen  Platz  einnimmt.  Ich  glaube  schon 
bei  den  Romantikern,  in  den  Naturstimmungen  Lamartines,  den  kleinen 
Liedern  Mussets,  den  menschlich -einfachen  Empfindungsgedichten,  die 
auch  in  jeder  Sammlung  V.  Hugos  zu  finden  sind,  besonders  dann  aber 
bei  Sully  Prudhomme  und  den  neueren  Lyrikern,  die  allerdings  zum  Teil 
germanisches  Blut  in  den  Adern  haben,  dichterische  Erzeugnisse  zu  finden, 
die  sich  den  Perlen  jeder  anderen  Literatur  an  die  Seite  zu  stellen  vermögen. 

Bei  der  Behandlung  der  Lektüre  ist  jetzt  eine  grundsätzliche  Er- 
örterung der  'Frage  ob  Übersetzen  oder  Nichtübersetzen'  hinzugekommen: 
'die  Deutung,  Übersetzen  oder  Umsetzen?'  Nachdem  die  Bedingungen  des 
Verzichts  auf  das  Übersetzen  —  und  ihrer  sind  nicht  wenige,  und  sie  zu 
erfüllen,  ist  nicht  leicht  —  entwickelt  worden  sind,  wird  eine  Vermitte- 
lung  anzubahnen  versucht,  indem  die  beiden  Wege„  als  nacheinander,  dann 
nebeneinander  empfohlen  werden:  'doch  soll  die  Übung  an  und  mit  dem 
fremden  Text. schon  auf  dieser  (Unter-)Stufe  den  breiteren  Raum  ein- 
nehmen,  die  Übersetzung  immer  nur  als  Hilfe  empfunden  werden,  nicht 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  251 

als  Zweck  und  Ziel.'  Man  sieht  deutlich  den  fortschrittlichen  Standpunkt 
des  Verfassers ;  dem  Wunsche  aber,  dafs  das,  was  bei  grofser  Kunst  mög- 
lich ist,  in  Zukunft  einer  weit  grösseren  Zahl  von  Lehrern  als  jetzt  mög- 
lich werde,  tritt  doch  der  weise  Eat  zur  Seite  (108),  dafs  fürs  erste  die 
Mehrzahl  am  richtigsten  es  noch  nicht  wagen  möge.  Unrecht  wäre  es, 
wenn  'das  Lossagen  bei  unzulänglicher  Kraft  geschähe,  ein  Fliegenwollen 
ohne  rechte  Flügel  (109).' 

Wie  bei  dem  folgenden  Kapitel  über  den  'Wortschatz'  ein  Abschnitt 
'Erweiterung  der  Aufgabe'  hinzugekommen  ist,  der  ein  Inbewegungsetzen 
des  Stoffes  durch  allerlei  Gruppierungen  behandelt,  einen  Blick  auf  die 
Wortbildung,  Wortgeschichte  und  die  Bedeutungsentwickelung  wirft,  und 
von  ihrer  Verwendbarkeit  für  den  Unterricht  spricht,  so  haben  auch  die 
Erörterungen  über  die  Nebengebiete  (Synonymik,  Stilistik,  Verslehre,  Lite- 
raturgeschichte, Sprachgeschichte)  manche  Bereicherung  im  einzelnen  er- 
fahren, sind  auch  um  ein  ganzes  Kapitel  'Kulturgeschichte  und  Landes- 
kunde' vermehrt  worden. 

In  dem  dritten  Teil:  'Die  Organisation  des  Unterrichts'  ist  (S.  149) 
ein  Abschnitt  über  die  'Höheren  Mädchenschulen'  hinzugekommen,  der 
der  natürlichen  Wesensanlage  der  Mädchen  in  kurzen,  aber  treffenden  Be- 
merkungen gerecht  zu  werden  versucht;  ein  Anhang  (S.  158)  behandelt 
schliefslich  'Die  Person  des  Lehrers'.  Dafs  am  Ende  die  Fachliteratur  in 
ihren  wichtigsten  Erscheinungen,  nach  Gebieten  geordnet,  bis  auf  die 
Gegenwart  fortgeführt  worden  ist,  erwähnte  ich  bereits. 

Ich  habe  den  reichen  Inhalt  des  Buches  nicht  erschöpfen  können, 
brauche  es  auch  nicht,  denn  jeder  Fachmann  kennt  es.  Ich  hätte  die 
beiden  Auflagen  Zeile  für  Zeile  vergleichen  müssen,  um  festzustellen,  wie- 
viel im  einzelnen  hinzugekommen  ist.  Ich  habe  nur  die  Hauptsachen  er- 
wähnt, die,  die  bei  der  Lektüre  der  zweiten  Auflage  jedem  auffallen,  der 
die  Gedanken  der  ersten  sich  zu  eigen  gemacht  hat.  Ich  weifs  nicht,  ob  ich 
überall  die  Unterschiede  richtig  getroffen  habe,  denn  auch  so  habe  ich  nicht 
Seite  für  Seite  vergleichen  wollen,  sondern  mich  auf  das  verlassen,  was  das 
aus  dem  Buche  Erarbeitete  in  mir  geworden  war.  Auch  die  zweite  Auf- 
lage wird  in  jedes  Fachmannes  Hand  und  so  die  Nachprüfung  leicht  sein. 

Man  weifs  nicht,  was  man  an  dem  Buche  mehr  bewundern  soll,  die 
gewaltige  Arbeitsleistung  oder  die  Bescheidenheit,  mit  der  die  Vorrede  es 
in  die  Welt  schickt.  Möchten  wir  aus  beiden  lernen.  Ist  es  nötig,  bei 
jeder  Kleinigkeit  vom  Sachlichen  aufs  Persönliche  zu  gehen?  Da  wird, 
um  nur  ein  kürzliches  Beispiel  zu  geben,  an  der  einen  Stelle  mit  den  Ein- 
wendungen gegen  die  schon  wegen  ihrer  Seltenheit  harmlosen  Vorlesungen 
durch  nationale  Rezitatoren  gleich  von  den  'Stellungen  gesprochen,  welche 
neuerdings  anfangen,  wackelig  zu  werden'  {Zeitschrift  für  französischen 
und  englischen  Unterricht  IV,  3,  193).  Flugs  tönt  es  von  der  anderen 
Seite  zurück,  dafs  möglicherweise  der  Lehrer  'in  den  Augen  der  Schüler 
bei  einem  Vergleich  mit  dem  Rezitator  allzu  ungünstig  abschneiden  und 
seine  eigene  Stellung  womöglich  erschüttert  sehen'  könne  (Hartmann, 
Mitteilungen  der  deutschen  Zentralstelle  für  fremdsprachliche  Rezitationen, 
No.  19,  S.  10).  Man  vergleiche  einmal,  mit  welcher  vornehmen  Ruhe 
Münch  ganz  anders  tiefgehende  Meinungsverschiedenheit  zur  Sprache  zu 
bringen  weifs,  und  man  wird  endlich  einmal  aufhören,  was  den  Gründen 
an  Durchschlagskraft  fehlt,  durch   die  Kraft   der  Ausdrücke  zu  ersetzen. 

Die  zweite  Auflage  der  'Methodik  und  Didaktik'  Münchs  möge  uns 
allen  ein  täglich  gebrauchtes  Handbuch  werden. 

Berlin.  Theodor  Eng  wer. 

Arnold  Schröer,  Prof.  Dr.,  Die  Fortbildung  der  neusprachlichen 
Oberlehrer  und  das  Englische  und  Französische  Seminar  an 
der  Handels-Hochschule  in  Köln.     (Sonderabdruck  aus  der  Fest- 


252  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

schrift  zum  XI.  Deutschen  Neuphilologen  tage,  Pfingsten  1804,  in  Köln.) 
Köln  a.  R.,  Paul  Neubner,  1904. 

Auch  für  den  sich  dem  praktischen  Lehrberuf  an  der  Schule  zuwen- 
denden jungen  Mann  ist  die  Universität  nicht  das  Ende,  sondern  der 
Anfang  seiner  wissenschaftlichen  Arbeit,  sie  ißt  die  Einführung  in  das, 
was  den  Inhalt  seines  ganzen  Manneslebens  bildet. 

Aus  den  besonderen  Aufgaben,  die  dem  Lehrer  einer  lebenden  fremden 
Sprache  zufallen,  beantwortet  sich  die  Frage  nach  den  Bedingrungen  und 
der  Art  seiner  Fortbildung  folgendermafsen :  Sie  mufs  eine  Fortsetzung:; 
der  wissenschaftlichen  Sprachbeobachtung  sein,  wie  sie  auf  der  Universität 
angebahnt  worden  ist.  Dazu  ist  nötig  Gelegenheit  zur  Beobachtung,  d.  h. 
Gelegenheit,  geeignete  Ausländer  dauernd  beobachten  und  konsultieren  zu 
können.  Dazu  ist  aber  ferner  eine  reiche  Fachbibliothek  erforderlich,  die 
die  theoretische  Erkenntnis  jederzeit  zu  fördern  bereit  steht.  Das  Leben 
des  gereiften  Mannes  aber  ist  nicht  Rezeption,  sondern  Produktion.  Pro- 
duktiv kann  auch  derjenige  sein,  der  nie  eine  Zeile  zum  Druck  befördert; 
auch  der  ist  produktiv,  der  die  überkommene  Erkenntnis  durch  selbstän- 
diges Denken  weitergestaltet  und  sich  so  zu  einer  fortschreitend  wert- 
volleren Lehrerindividualität  entwickelt.  Wir  brauchen  keine  seichte  prak- 
tische Schulmeisterei  in  der  Schule  und  gelehrt  scheinende  Allüren  aufser- 
halb  der  Schule,  sondern  wissenschaftliche  Anregung  aus  der  Schule  und 
wissenschaftliche  Anregung  für  die  Schule. 

Die  trefflichen  Bemerkungen  des  Verfassers  werden  in  einer  Reihe 
von  Anmerkungen  nach  gewissen  Richtungen  hin  weiter  ausgeführt.  Nach 
einem  Blick  auf  die  historische  Entwickelung  des  Universitätsunterrichts 
in  unserem  Fache  wird  die  Bedeutung  des  wissenschaftlichen  Studiums 
für  die  Erkenntnis  der  lebenden  Sprache,  das  Verhältnis  von  Wissenschaft 
und  Praxis  beleuchtet  und  gezeigt,  wieviel  gerade  für  die  wandelbare  lebende 
Sprache  wissenschaftlich  für  den  zu  tun  bleibt,  der  beständig  Anregung 
dazu  durch  die  Bedürfnisse  seines  Unterrichts  erhält.  Sehr  treffend  scheinen 
mir  die  Bemerkungen  über  die  Grenzen  der  Autorität  des  Ausländers,  der 
auch  im  besten  Falle  eben  nur 'Beobachtungsobjekt'  sein  kann,  und  über  das 
Verhältnis  des  wissenschaftlichen  Vertreters  des  Faches  zu  seinen  Lektoren. 

Dafs  dieser  so  charakterisierten,  notwendigen  Weiterbildung  des  Leh- 
rers neue  Möglichkeiten  zu  den  bisherigen,  den  im  Amte  befindlichen 
Männern  nur  selten  erreichbaren,  geschaffen  werden,  sollten  alle  meines 
Ei  achtens  mit  Freuden  begrüfsen.  Und  wenn  die  Bedingungen  dafür, 
hervorragende  Fachgelehrte,  geeignete  fremde  Lektoren,  reiche  Bibliotheken, 
dank  der  Opferwillisrkeit  städtischer  Körperschaften  zusammenkommen,  so 
scheint  es  mir  natürlich  im  öffentlichen  Interesse  geradezu  geboten,  dafs 
diese,  wenn  auch  ursprünglich  vielleicht  zu  Sonderzwecken  vereinten 
Kräfte  nach  den  verschiedensten  Seiten  hin  fruchtbar  gemacht  werden. 
In  voller  Erkenntnis  dessen  hat  sowohl  Schröer  der  Handels-Hochschule 
in  Köln  wie  Morf  der  Sozial  -  Akademie  zu  Frankfurt  a.  M.  Kurse  anzu- 
gliedern sich  bestrebt,  die  Vereinigungspunkte  für  die  neusprachlichen 
Lehrer  nicht  nur  der  Stadt,  sondern  der  Provinz  geworden  sind.  Das 
philologische  Seminar  in  Köln,  das  sich  bei  Vorträgen  und  Diskussionen 
in  fremder  Sprache  auch  weiteren  Kreisen,  Mittelschullehrern  und  Lehre- 
rinnen öffnet,  will  in  wissenschaftlicher  Weise  der  Praxis  dienen,  ähnlich 
wie  jetzt  auch  anderen  gelehrten  Berufen  (den  Medizinern  z.  B.  die  Aka- 
demien für  praktische  Medizin)  Fortbildungsanstalten  nach  der  Universi- 
tätszeit geschaffen  werden.  Das  Frankfurter  Seminar  hat,  wie  ich  aus 
dem  'Bericht  des  Rektors  über  die  zwei  ersten  Studienjahre,  W.-S.  1900  02 
bis  S.-S.  1903'  (Jena,  Fischer,  1904)  ersehe,  eine  englische  Sektion  nur  für 
Lehrer,  dagegen  zwei  Abteilungen  in  der  romanischen  Sektion,  die  unter 
rler  Leitung  Morfs  stehen,  "eine"'für  Lehrer,  eine  'für  'Studierende  der 
neueren  Sprachen. '6  Der  von  der  Unterrichts  Verwaltung  genehmigte  Kursus 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  253 

für  Studierende,  der  ein  Sommer-  und  ein  Wintersemester  umfaist,  ist  im 
April  1903  ins  Leben  getreten.  Seither  ist  auch  am  englischen  Seminar 
der  Akademie  eine  Abteilung  für  Studierende  eingerichtet  worden,  und  es 
hat  sich  in  ähnlicher  Gliederung  auch  ein  germanisches  Seminar  zum  ro- 
manischen und  englischen  gefügt. 

Wir  können  den  jungen  Anstalten  auch  in  dieser  über  ihre  ursprüng- 
liche Bestimmung  hinausgehenden  gemeinnützigen  Betätigung  nur  von 
Herzen  Glück  wünschen ;  der  Ruf  ihrer  Leiter  bürgt  für  das  Gelingen  der 
Aufgabe,  die  sie  sich  gestellt  haben. 

Berlin.  Theodor  Eng  wer. 

Anialia  Cesano.     Hans  Sachs   ed  i  suoi  rapporti  con  la  Lettera- 
tura  Italiana.    Roma,  Ofücina  poligrafica  Italiana,  1904.    108  S.  gr.  8°. 

Es  freut  mich  immer,  wenn  Ausländer  sich  die  deutsche  Literatur 
zum  Arbeitsfelde  wählen,  vorausgesetzt  natürlich,  dafs  sie  sich  ihrer  Auf- 
gabe gewachsen  zeigen  und  entweder  die  Forschung  weiterführen  oder 
doch  eine  das  Thema  beherrschende  geistvolle  Zusammenfassung  der  bis- 
herigen Forschungsergebnisse  darbieten.  Die  vorliegende  Arbeit  ist  zwar 
löblich  und  anerkennenswert  in  der  Absicht,  aber  leider  in  der  Ausfüh- 
rung nach  beiden  Seiten  hin  wenig  glücklich. 

Schon  die  beigegebene  'Bibliografia'  läfst  das  erkennen.  Sie  ver- 
zeichnet verschiedene  brauchbare  Werke,  aber  daneben  auch  teils  recht 
veraltete,  teils  wertlose,  teils  durch  moderne  Leistungen  längst  überholte, 
so  z.  B.  0.  Haupt,  Leben  und  dichterische  Wirksamlceit  des  E.  Sachs,  18ö8; 
Lützelberger,  E.  Sachs,  1874;  R.  Genöe,  H.  Sacfis,  1888;  Westermeyer, 
H.  Sachs,  der  Vorkämpfer  der  neuen  Zeit,  1874,  usw.;  oder  Werke,  die  mit 
den  einschlägigen  Fragen  wenig  oder  nichts  zu  tun  haben,  so  z.  B.  Bla- 
sis  Della  vita  e  delle  opere  di  Pierre  delle  Vigne  (1861);  Goethes  Elegien; 
L.  Hirzel,  Qoethes  ital.  Reise;  Klein,  Geschichte  des  Dramas  u.  dgl.  mehr. 
Dagegen  fehlen  die  neueren  und  neuesten,  geradezu  unentbehrlichen  Schriften 
und  Ausgaben:  von  der  Ausgabe  der  Werke  des  H.  Sachs  in  der  Biblio- 
thek des  Literarischen  Vereins  sind  nur  die  ersten  von  A.  von  Keller  her- 
ausgegebenen 12  Bände  angeführt,  die  anderen  (Bd.  13 — 2h),  von  E.  Goetze 
besorgten,  mit  ihren  wichtigen  Nachträgen  zu  den  früheren  Bänden  fehlen, 
ebenso  E.  Goetzes  Ausgaben  der  Fastnachtspiele,  der  Fabeln  und  Schwanke 
(Bd.  1 — 5),  seine  Monographie  über  H.  Sachs  in  der  'Bayerischen  Biblio- 
t/iek'  usw.  Der  Name  des  Altmeisters  E.  Goetze  kommt  —  unglaublich! 
—  nirgends  in  dem  Buche  vor.  Man  vermifst  ferner  Ch.  Schweitzers 
Buch  über  H.  Sachs,  Dreschers  Abhandlung  H.  Saclis  und  Boccaccio 
(Festschrift  zur  Hans  Sachs-Feier,  hg.  von  Max  Koch),  des  Referenten 
Untersuchungen  über  Quellen  der  Fastnachtspiele,  Fabeln,  Märchen  und 
Schwanke  des  H.  Sachs  {Germania,  Bd.  66  u.  37,  Festschrift  E.  Sachs 
Forschungen,  hg.  von  A.  L.  Stiefel  1894,  Zsch.  f.  vgl.  Literaturgeschichte, 
Bd.  6,  8,  10,  Studien  %.  vgl.  Literaturgeschichte,  Bd.  II,  2  usw.),  worin  die  ita- 
lienischen Quellen  einen  breiten  Raum  einnehmen,  und  Goedekes  Grund- 
rifs,  von  anderen  Werken  oder  Abhandlungen,  sei  es  solchen,  die  zum 
H.Sachs-Jubiläum  1894,  sei  es  solchen,  die  später  erschienen,1  zu  schweigen. 

1  Zu  den  Abhandlungen,  die  noch  speziell  für  das  Thema  in  Betracht  kämen, 
wären  u.  a.  Mac  Mechan,  The  Relation  of  II.  Sachs  lo  the  Decameron  (Halif.  1889), 
und  W.  Abele,  Die  antiken  Quellen  des  II.  Sachs  (Cannstadter  Realschulprogramme 
1897,  1899),  zu  zählen,  die  indes  beide  nach  Form  und  Inhalt  wenig  empfehlens- 
werte Leistungen  sind,  jener  wegen  seines  pedantischen  Schematismus,  seiner  Seich- 
tigkeit  und  Unvollständigkeit,  dieser  durch  seine  schlechte  Anordnung,  seine  trockene 
geistlose  Behandlung,  die  sich  oft  mit  einer  öden  Aufzählung  begnügt,  und  dann 
sein  Heranziehen  von  Dichtungen,  die  mit  dem  Altertum  nichts  zu  tun  haben 
einerseits  und  seinen  Lücken  anderseits. 


254  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Unter  solchen  Umständen  ist  es  erkärlich,  dafs  die  Abhandlung  den 
wissenschaftlichen  Anforderungen  in  keiner  Weise  entspricht.  Cesano  kennt 
nur  einen  Bruchteil  der  in  Betracht  kommenden  Werke  des  Dichters  und 
kennt  nicht  die  über  die  Quellen  des  H.  Sachs  bereits  erschienenen  Ar- 
beiten und  was  über  seine  Schaffensweise,  über  sein  Verhalten  den  Quellen 
gegenüber  schon  feststeht.  Anstatt  auf  der  früheren  Forschung  umsichtig 
weiter  zu  bauen,  sucht  die  Abhandlung  mühsam  aufs  neue  das  Material 
zusammen,  wobei  viel  wertloses  Gestein  und  Schutt  aufgehäuft,  aber  ge- 
rade das  naheliegendste  beste  Material  vernachlässigt  wird. 

Die  Arbeit  zeugt  noch  von  genügender  Vertrautheit  mit  den  grofsen 
italienischen  Dichtern  der  Frührenaissance,  was  aber  über  den  Nürnberger 
Meistersinger  darin  gesagt  wird,  ist  nur  eine  auf  zum  Teil  flüchtiger  und 
unkritischer  Lektüre  der  angegebenen  Literatur  beruhende  Zusammen- 
stellung, in  der  Richtiges  und  Unrichtiges  untereinander  laufen.  Sicher- 
lich hat  Verfasser  auch  einen  Teil  der  besprochenen  Dichtungen  des  H. 
Sachs  gelesen,  dafür  sprechen  schon  die  zahlreichen  Zitate,  ob  aber  immer 
verstanden,  das  mufs  ich  bezweifeln. 

In  der  Anlage  der  Abhandlung  ging  Cesano  (im  1.  Kapitel)  von  dem 
richtigen  Gedanken  aus,  'Cenni  biografici',  d.  h.  Bemerkungen  über  den 
Lebensgang  des  H.  Sachs,  über  das  Milieu,  in  dem  seine  Dichtungen  ent- 
standen, sein  Verhalten  zur  Reformation,  zum  Meistergesang  usw.,  dem 
eigentlichen  Thema  voranzustellen.  Der  Plan  der  Arbeit  wäre  soweit  als 
gelungen  zu  bezeichnen ;  es  bleibt  aber  zu  bedauern,  dafs  Cesano  im  Haupt- 
teil der  Arbeit,  im  2.,  3.  und  4.  Kapitel,  so  verfährt,  als  ob  H.  Sachs  die 
italienischen  Autoren  ohne  Vermittelung  von  Übersetzungen  'studiert'  habe, 
und  erst  im  5.  Kapitel  mit  der  Frage  nachhinkt:  'Come  Hans  Sachs 
conobbe  le  opere  del  Boccaccio.'  Entschieden  hatte  diese  Frage  voran- 
zugehen, und  Verfasser  durfte  nicht  sowohl  die  Originale  als  vielmehr 
die  Übersetzungen  bei  der  Vergleichung  mit  dem  Nachahmer  zugrunde 
legen. 

Wenn  ich  jetzt  zu  Einzelheiten  übergehe,  so  will  ich  mich  bei  der 
Aufzählung  der  Unrichtigkeiten,  soweit  sie  die  Biographie  des  Dichters 
und  den  Meistergesang  betreffen,  nicht  aufhalten;  ich  will  auch  nur  neben- 
her bemerken,  dafs  die  deutschen  Zitate  vielfach  ganz  entstellt  wieder- 
gegeben sind,  was  nicht  immer  auf  Rechnung  des  Setzers  geschrieben 
werden  darf:1  meine  Bemerkungen  sollen  sich  nur  auf  das  eigentliche 
Thema,  auf  die  Beziehungen  des  H.  Sachs  zu  der  italienischen  Literatur 
beschränken.  Als  Quellen  des  H.  Sachs  sind  in  dem  italienischen  Buche 
die  Cento  novelle  antiche,  Petrarcas  De  rebus  memorandis,  De  remediis 
utriusque  fortunae,  I  trionß  und  Le  Epistole,  Boccaccios  De  claris  mulieri- 
bus,  De  casibus  virorum  illustrium,  De  Genealog.  Deorum,  und  Filocolo  be- 
zeichnet. Das  ist  einerseits  zu  viel,  anderseits  zu  wenig.  Es  sind  zu 
streichen  die  Cento  novelle  anticJie,  Petrarcas  Trionfi  und  Epistole  und 
Boccaccios  De  Oenealogia  Deorum,  welche  H.  Sachs  nicht  kannte.  Dafür 
wären  als  Vorlagen  des  Meisters  anzuführen:  Ph.  Beroaldus,2  Poggio3 
Bracciolini,  Enea  Silvio  Piccolominif  Polidoro  Virgilio,5  ferner  ist  es  sehr 
wahrscheinlich,  dafs  Sachs  noch   einige   italienische  Schwank-  und   No- 

1  So  z.  B.  gewifs  nicht  Silbentrennungen  wie  folgende :  Spru-chgedicht  (S.  13), 
nüt-zliches  (S.  27),  Ba-uer  (S.  77  bis),  sit-tliches  (ibid  ),  Schw-ank  (S.  100)  usw. 

2  Vgl.  meine  Abhandlung  Über  die  Quellen  der  H.  Sachsscken  Dramen  (Ger- 
mania 36,  S.  4  ff.). 

3  Dem  H.  Sachs  deutsch  vorgelegen  in  Steinhöwels  u.  Braut-Adelphus'  Esopus. 

4  Seine  Erzählung  von  Eurialus  und  Lucretia  bearbeitete  H.  Sachs  durch  Ver- 
mittelung des  N.  von  Wyle  in  einem  Meistergesang. 

5  Mehrfach  von  H.  Sachs  ist  seine  durch  M.  Tatius  Alpinus  1537  verdeutschte 
Schrift  De  verum  invenloribus  zu  Meisterliedern  benutzt  worden. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  255 

vellendichtungen,  so  z.  B.  die  Facette  des  Piovano  Arlotto,1  durch  die 
Vermittelung  seines  des  Italienischen  kundigen  Freundes  Niclas  Braun 
kennen  lernte.2 

Von  dem  ungeheuren  Einrlufs,  den  Boccaccio  durch  seine  drei  Werke 
auf  den  Meistersänger  ausübte,  hatte  Cesano  bei  weitem  nicht  die  richtige 
Vorstellung.  Auch  das  über  Petrarcas  Einwirkung  auf  H.  Sachs  Gesagte 
erschöpft  in  keiner  Weise  den  Gegenstand. 

Um  mein  Urteil  zu  belegen,  schreite  ich  sogleich  dazu,  einzelne  Stellen 
aus  der  Arbeit  anzuführen:  S.  10  sagt  Cesano,  dafs  nach  dem  Erlöschen 
der  Linie  der  Hohenstaufen  'la  letteratura  italiana  e  la  tedesca  rimangono 
estranee  l'una  all'altra  fino  a  H,  Sachs.'  [Aber  H.  Vintler,  Arigo,  Stein- 
höwel,  A.  v.  Eyb,  H.  Folz,  Seb.  Brant-Adelphus  u.a.?]  Ferner:  'H.  Sachs 
. . .  senza  aver  vissuto  in  Italia  . . .  sente  il  fascino  d'una  vita  piü  allegra, 
d'una  letteratura  piü  libera  di  quella  del  suo  paese  e  la  studia  e  innamo- 
ratosene  non  se  allontana  piü.'  Leere  Phrasen !  Die  italienischen  Autoren 
in  ihren  meist  sehr  holperigen  Übersetzungen  waren  für  H.  Sachs  stoff- 
liche Quellen  nicht  besser  und  nicht  schlechter  wie  seine  anderen.  — 
Falsch  ist,  dafs  dem  H.  Sachs  (S.  19)  'Plauto',  ferner  Ambrosio,  Isidoro 
'erano  famigliari'.  —  S.  22  heifst  es:  'Erano  gia  apparsi  (von  H.  Sachs), 
e  vero  dal  1517  al  1549,  due  o  tre  componimenti  di  questo  genere 
(Dramen)  etc.'  Das  ist  unrichtig.  Bis  1549  hatte  Sachs  bereits  18  Fast- 
nachtspiele und  20  Tragödien  bezw.  Komödien  geschrieben.  —  S.  29  lesen 
wir  von  H.  Sachs:  'attiravano  pure  la  sua  attenzione  i  primi  nostri 
scritti  in  volgare  . . .  e  lo  accendevano  d'entusiasmo  i  grandi  uma- 
nisti  italiani  del  secolo  XIV.  Cosi  conobbe  e  in  parte  rese  note  al 
suo  popolo  Le  novelle  antiche  . . .  Le  n.  antiche  lo  attraevano  per  la 
profonda  psicologia  e  per  la  morale  che  racchiudono  etc.'  Alle 
diese  Dinge,  von  denen  die  H.  Sachs-Forschung  nichts  weifs,  kann  Cesano 
nur  auf  übernatürlichem  Wege,  etwa  durch  ein  nächtliches  Gesicht  er- 
fahren haben.  —  Eigentümlich  ist  folgende  Motivierung  (S.  43) :  'H.  Sachs 
amrniro  le  opere  del  Petrarca,  ma  egli  non  pote  e  non  volle  fermarsi  a 
lungo  sul  grande  Aretino,  sia  forse  perche  dolente  di  non  poterne 
leggere  il  Canzoniere,  sia  perche  quanto  alle  idee  religiöse,  si  sentiva 
troppo  lontano  dal  poeta.'  Ich  halte  es  nicht  für  nötig,  hier  etwas  hinzu- 
zufügen. —  S.  45  zählt  Cesano  die  Spiele  'Wie  Oott  der  Herr  Adam  und 
Eva  ihre  Kinder  segnet  ed  anche  Die  ungleichen  Kinder  Eva'  (mufs  heifsen 
Eve)  unter  die  besten  Dramen,  'che  H.  S.  ha  composto  ispirandosi  all 
antico  testamento.'  Dafs  der  Dichter  sich  hier  nicht  aus  der  Bibel, 
sondern  aus  anderen  Quellen  seine  Inspiration  geholt  hat,  ist  längst  be- 
kannt (vgl.  Germania,  H.  S.  33 — 35).  —  'Frau  Warheit  will  niemandt  her- 
bergen  —  heifst  es  S.  45  weiter  —  fu  composta  su  di  un  capitolo  delle 
Bestemmie  e  cose  serie  del  Pauli.  Raccontono  il  Pauli  ed  H.  Sachs 
come  le  quattro  donzelle  —  Ignis  Aqua  Aer  e  Veritas  stabilissero  d'infor- 
marsi  ä  vicenda  delle  loro  sedi  etc.'  Hieran  ist  erstens  die  Übersetzung 
bestemmie  für  Schimpf  (und  Ernst)  —  also  lautet  bekanntlich  der  Titel 
von  Paulis  Schwankbuch  —  falsch  und  zeugt  von  ungenügender  Kenntnis 
der  deutschen  Sprache  des  16.  Jahrhunderts.  Cesano  hätte  scherxi  oder 
burle  schreiben  müssen.  Dann  ist  es  nicht  wahr,  dafs  in  Sachsens  Spiel 
die  'quattro  donzelle'  vorkommen,  Cesano  hat  offenbar  das  Stück  nicht 
gelesen.  —  S.  30  wird  Sachsens  Schwank  Der  kecker  mit  den  dreyen  selt- 
samen stuecken  auf  die  Cento  novelle  anticke  zurückgeführt,  in  der  er  sich 
übrigens  nur  in  der  Ausgabe  von  Giunti  1572  befindet.  Sachs  entnahm, 
wie  längst  bekannt,  die  vielverbreitete  Erzählung  Pauli  423.  —  S.  63 
steht:  's'ispirö  (H.  S.)  alle  novelle  antiche  che  erano  volte  in  tutte 

1  Vgl.  meine  H.  Sachs- Forschungen,  S.  78 — 83,  188 — 189;  Studien  z.  vergl. 
Lit.   Gesch.  II,  S.  161  —  165. 

2  Vgl.  Zeitschrift  f.  deutsche  Philologie,  Bd.  32,  S.   484. 


"256  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

le  linguc  e  del  Petrarca  lesse  i  libri  Rerum  memor.,  il  trattato  De  re- 
mediis  utriusque  fortunae  e  le  Lettere  (in  Latein).  Del  Boccaccio  conobbe 
le  opere  latine,  lette  probabilmente  nelle  traduzioni  tedescbe.'  Hierzu 
sei  bemerkt:  von  Übersetzungen  der  C.  n.  a.  ist  nicbts  bekannt.  Petrar- 
cas beide  ersten  Werke  las  Sachs  nur  in  den  deutschen  Übersetzungen 
von  Vigilius  (1541)  bezw.  Stahl-Spalatins  (15b2),  die  keinem  H. 
Sachs  -  Forscher  fremd  sind,  und  Boccaccios  lateinische  Werke  nicht  nur 
wahrscheinlich,  sondern  sicher  in  den  nicht  minder  bekannten  Über- 
setzungen von  Steinhöwel  und  H.  Ziegler.  Wenn  Cesano  (S.  64)  im 
Anschlufs  an  des  letzteren  Übersetzung  der  De  casibus  virorum  illustriimi 
(1545)  sagt:  'prima  di  lui  Jacopo  Micillo  (Micyllus)  aveva  fatto  il  me- 
desimo  lavoro  per  il  De  Oenealogia  Deorum,'  so  ist  zu  erinnern,  dafs  dieser 
Humanist  zwar  den  lateinischen  Text  der  Oenealogia  1532  'cum  annota- 
tionibus'  (Basilea  apud  J.  Hervacium),  aber  keine  Verdeutschung  veröffent- 
licht hat.  —  Unrichtig  ist  auch,  was  Cesano  S.  83  sagt:  'bisogna  considerare 
che  H.  Sachs,  dopo  la  Hroswitha,  tu  il  primo  scrittore  drammatico  etc.' 

Endlich  ist  noch  zu  erwähnen,  dafs  (Jesano  in  einer  sonst  rühmlichen 
Begeisterung  für  H.  Sachs  oft  in  der  Wertschätzung  seiner  Leistungen 
zu  weit  ging.  So  heifst  es  z.  B.  S.  2b :  'piü  vicina  alla  perfezione  sono  le 
commedie  ispirate  alle  novelle  del  Boccaccio.'  —  Ferner  S.  46:  'le  tra- 
gedie  di  Jocasta  e  di  Clitemnestra  possono  annoverarsi  fra  i  migliori 
drammi  del  poeta.'  —  S.  86 :  'La  Lisabetta  . . .  si  potrebbe  giudicare  un 
perfetto  lavoro  drammatico  se  avesse  uno  sviluppo  maggiore.'  —  S.  91 
bis  92 :  'Questo  meisterlied,  {Die  schererin  mit  der  nasen)  —  betreffs  dessen 
'il  poeta  si  e  fondato  senza  dubbio  sulla  novella  VII,  8  (des  Decamerone)' 
—  che  per  la  vivacitä  e  per  l'umorismo  potrebbe  dirsi  . . .  uno  degli 
scherzi  piu  perfetti  ed  allegri,  prova  piutosto  come  il  poeta  gia  nel   1538 

fosse  tanto  compenetrato  dello  spirito  boccaccesco  da  ritrarlo  in  modo 

meraviglioso,  pur.allontanandosi  dalle  concezioni  del  grande  novellista.' 
Das  sind  riesige  Übertreibungen,  zu  denen  Cesano  teils  das  leicht  zur  Ein- 
seitigkeit führende  Spezialstudium,  teils  die  mangelhafte  Kenntnis  des 
Deutschen,  teils  —  und  dies  zeigt  besonders  das  letzte  Zitat  —  die  ganz 
ungenügende  Bekanntschaft  mit  den  übrigen  Quellen  des  H.  Sachs  und 
mit  seiner  Schaffensweise  verführte.  Die  schererin  mit  der  nasen  geht,  wie 
bereits  Goedeke,  Dichtungen  des  R.  Saclis  I,  1U8  —  von  Cesano  noch 
eigens  zitiert  — ,  angab,  auf  Das  Buch  der  Beispiele  der  alten  Weisen 
(Bidpai)  und  nicht  auf  Boccaccio  zurück,  und  alle  Vorzüge,  die  darin  zu 
finden  sind,  gehören  so  ziemlich  dem  alten  indischen  Fabelbuch. 

Nicht  minder  wie  in  der  Beurteilung  der  Originalität  und  der  künstle- 
rischen Leistungen  des  Meistersingers  verläfst  Cesano  auch  betreffs  seiner 
Moralität  den  festen  Boden  der  Tatsachen.  So  lesen  wir  S.  43,  dafs 
H.  Sachs  unter  seinen  Boccaccios  De  claris  mulieribus  entlehnten  Ge- 
dichten 'non  ripete  le  avventure  della  sciocca  Paolina,  ne  quelle  della 
greca  Leena  etc.'  In  Wahrheit  hat  S.  von  beiden  Stoffen  je  einen  Meister- 
gesang (1537  bezw.  1544)  gedichtet.  S.  70  heilst  es:  'Egh  (H.  S.)  sceglie 
. . .  le  novelle  (Boccaccios)  esenti  da  immoralitä,  e  quando  tratta  argomenti 
che  alquanto  si  allantanano  dai  suoi  severi  principi  si  affretta  a  far  cono- 
scere  le  conseguenze  del  male.'  Leider  verdient  H.  Sachs  dieses  hohe  Lob 
nicht.  Nicht  nur  hat  er  einige  der  bedenklichsten  Novellen  des  Floren- 
tiners (wie  z.  B.  II,  7  und  V,  4),  sondern  auch  viele  der  widerlichsten 
Zoten  Poggios  und  anderer  in  Meisterlieder  verwandelt,   ohne  jede  Moral. 

München.  Arthur  Ludwig  Stiefel. 

Schädel,  Bernhard,  Mundartliches  aus  Mallorca.  Halle  a.  S.,  R.  Haupt, 
19U5.     43  S. 

jg  Diese  interessante  Mitteilung  über  die  lebenden  Mundarten  von  Mal- 
lorca, die  der  Verfasser  in  Erinnerung  an  gemeinsame  Arbeit  im  roma- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  257 

nischen  Seminar  zu  Zürich  mir  zu  widmen  den  freundlichen  Gedanken 
hatte,  setzt  sich  aus  zwei  Teilen  zusammen.  Die  ersten  29  Seiten  gehen 
mit  kurzen  Einleitungen,  die  über  die  Sprachverhältnisse  der  Insel  orien- 
tieren, sechs  volkstümliche  Stücke  in  phonetischer  Umschrift  (nach  Böh- 
mer):  zwei  prosaische  (Märchen)  von  Manacor  (aus  Jordi  des  Reco, 
Aplech  de  Bondayes  Mallorquines,  Ciutat  de  Mallorca  1896 — 1904)  und  vier 
gereimte  von  Söller  (aus  J.  Rullan,  Liter atura  populär  mallorquina, 
Söller,  1900).  Der  Rest  enthält  'Bemerkungen  zum  Mallorkinischen'.  Beide 
Teile  bieten  eine  Belehrung,  wie  sie  nur  der  zu  geben  vermag,  der  im 
lebendigen  Verkehr  mit  Land  und  Leuten  auf  Grund  eingehender  fach- 
männischer Kenntnisse  liebevoll  beobachtet  und  gesammelt  hat. 

Im  nördlichsten  und  im  südlichsten  Teile  des  katalanischen  Sprach- 
gebietes, im  Roussillon  und  in  Valencia,  ist  das  einheimische  Idiom, 
dort  vor  dem  Hochfranzösischen  und  hier  vor  dem  Kastilischen,  zum 
blofsen  Vulgärdialekt  herabgesunken.  Barcelona  aber  besafs  hinreichende 
geistige  Selbständigkeit,  um  der  Muttersprache  das  Interesse  der  Gebil- 
deten zu  erhalten.  Auf  Barcelonesischer  Basis  hat  sich,  wie  einst  die  alt- 
katalanische Schriftsprache,  so  auch  das  Literärkatalanisch  der  Renaixeiisa 
des  vorigen  Jahrhunderts  entwickelt.  Dieses  Literärkatalanische  ist  auch 
dem  gebildeten  Mallorkiner  geläufig:  es  ist  die  interne  Literatursprache 
der  Insel,  neben  der  das  Kastilische  die  Sprache  des  offiziellen  Verkehrs 
und  eines  auch  für  Spanien  berechneten  Schrifttums  ist.  Aufser  diesen 
beiden  Schriftsprachen  besteht  der  mallorkinische  Dialekt  als  Um- 
gangssprache auch  der  Gebildeten. 

Aber  auch  innerhalb  dieses  mallorkinischen  Idioms  sind  wachsende 
zentripetale  Kräfte  wirksam :  die  Hauptstadt  Palma  beherrscht  den  Ver- 
kehr, und  vor  der  Palmesaner  Sprechweise  schwindet  die  Sonderart  der 
Lokaldialekte  zusehends.  Der  ländliche  Gelegenheitsdichter  (gluxddo;  glu- 
sddö  V,  5  scheint  Druckfehler)  verstummt.  Wie  Schule  und  Kirche  sich 
zu  der  Entwickelung  der  Dinge  stellen,  sagt  uns  Schädel  leider  nicht. 

Zwei  dieser  Lokaldialekte  gibt  Schädel  in  seinen  Märchen  und  Ge- 
dichten lautlich  wieder :  den  der  Stadt  Manacor  und  den  des  abgelegenen 
Tales  Söller.  Jener  steht  dem  Palmesaner  Idiom  nahe;  die  Mundart  der 
Sollerichs  aber  ist  von  ausgeprägter  Eigenart  —  oder  sie  war  es  wenig- 
stens, bis  die  Poststrafse  das  einsame  Tal  für  Palma  erschlofs.  Diese 
Eigenart,  welche  die  alten  Leute  und  die  Bewohner  der  Huerta  noch  be- 
wahrt haben,  stellt  Schädel  dar.  Ein  Vergleich  seiner  Transkriptionen 
mit  der  traditionellen  Graphie  zeigt,  wie  wenig  wir  bisher  von  der  wirk- 
lichen Lautgestalt  des  Vulgärmallorkinischen  gewufst  haben. 

Ich  bedaure,  dafs  Schädel  die  Texte  nicht  mit  einer  Übersetzung  oder 
wenigstens  mit  einem  Glossar  der  schwierigeren  Wörter  versehen  hat.  Er 
schreibt  doch  auch  für  solche,  die  aus  dem  Katalanischen  kein  Haupt- 
studium gemacht  haben,  und  denen  einschlägige  Hilfsmittel  nicht  zur 
Verfügung  stehen.  Seine  inhaltsreiche,  so  viel  Neues  bietende  Studie  ist 
ein  Vorläufer  weiterer,  umfänglicherer  Arbeiten:1   das  Interesse  für  diese 

1  Schädel  ist  —  ich  hoffe  nicht  indiskret  zu  sein  —  mit  einer  Darstellung 
der  katalanischen  Mundarten  auf  breitester  Basis  beschäftigt.  Das  Unternehmen 
erfreut  sich  der  Mitarbeit  anderer,  auch  einheimischer  Sprachkundiger.  Wir  haben 
alle  Ursache,  diesen  neuen  Gaben  mundartlicher  Forschung  mit  Spannung  entgegen- 
zusehen: hoffentlich  wird  sich  unter  ihnen  auch  ein  Sprachatlas  befinden.  —  Bei 
diesem  Anlafs  sei  ein  Wort  über  das  Transkriptionssystem  gestattet.  Schädel  hat 
für  seine  Zwecke  Böhmers  Zeichen  nicht  nur  ergänzt  (was  ja  unanfechtbar  ist  — 
welchen  Lautwert  hat  o  S.  34?  — ),  sondern  sie  auch  teilweise  modifiziert.  Er  läfst 
für  palatales  l  das  Zeichen  ly  bestehen,  ersetzt  aber  das  t%  (für  palatales  k  bezw. 
pal.  t)  durch  k.  Solche  Modifikationen  sind  nicht  nur  deshalb  unzweckmäfsig, 
weil  sie  aus  dem  System  (Notierung  der  Palatalisierung  durch  -y,  -%)  herausfallen, 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    CXV.  17 


258  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

zu  wecken  und  überhaupt  die  romanische  Mundartenforschung  zu  fördern, 
ist  das  schöne  Ziel  seiner  Bemühungen.  Wer  aber  fördern  und  wirken 
will,  mufs  den  anderen  die  Nachfolge  möglichst  leicht  machen. 

In  seinen  'Bemerkungen'  gibt  Schädel  eine  Reihe  äufserst  interessanter 
sprachlicher  Beobachtungen,  mit  denen  er  auch  manche  überlieferte  Mei- 
nung richtigstellt.1  Der  Wandel  von  d  zu  e  bereitet  sich  in  Palma  vor 
und  geht  augenscheinlich  von  der  Kombination  tyß,  aus.2  Das  Mallork. 
kennt  ein  hochtoniges  0  aus  lat.  e  (drat).  Die  Sandhierscheinungen  der 
Konsonanten  sind  sehr  mannigfach;  insbesondere  bemerkenswert  ist  die 
Wirkung  von  .<? :  s  -f-  s  >  ts;  p  -f-  s  >  ts,  wonach  die  Artikelform  eis  von 
Schädel  sehr  wohl  auf  ipse  zurückgeführt  werden  darf  (S.  42).  Er  hat 
überhaupt  der  wechselnden  Lautgestalt  des  Artikels  eine  eingehende  und 
sehr  aufklärende  Darstellung  gewidmet:  ipse  ist  gemeinmallorkinisch;  nur 
Pollensa  scheint  von  alters  her  ille  verwendet  zu  haben;  wo  sich  sonst 
(neben  ipse)  ille  findet,  da  ist  es  als  vornehmere  Form  aus  dem  festländi- 
schen Katalanisch  eingeführt  worden.  —  Zweifelhaft  ist  mir,  ob  S.  35  die 
Filiation  der  Entsprechungen  des  latein.  ge,i  richtig  ist.  Fornalutx  hat 
nur  y  (yent,  cf.  altspan.  yente),  Söller  hat  dyent,  aber  nach  Vokalen  Zent; 
Palma  hat  dZent  und  nach  Vokalen  ebenfalls  Zerit.  Die  entscheidende 
Indikation  scheint  mir,  wie  Schädel  selbst,  darin  zu  liegen,  dafs  auch  die 
nach  Pausa  stehenden  Formen  in  Söller  und  in  Palma  den  Verschlufs- 
laut  zeigen  {dyent,  dZent):  danach  ist  der  Verschlufslaut  wohl  überhaupt, 
auch  in  Fornalutx,  die  ältere  Lautstufe.  Nach  Vokal  hat  sich  der 
Verschlufs  gelöst,  und  der  an  dessen  Stelle  tretende  Reibelaut  hat  sich  in 
Fornalutx  verallgemeinert;  in  Söller  und  Palma  hat  sich  seine  palatale 
Artikulation  gegen  die  Alveolen  zu  verschoben,  Z,  und  in  Palma  ist  von 
dieser  Verschiebung  auch  der  Verschlufslaut  selbst  (dy  >  dZ)  ergriffen  wor- 
den. Es  ist  dabei  nicht  aufser  acht  zu  lassen,  dafs  trotz  ihrer  Graphie  die 
dy,  dZ  nicht  mit  d  zusammengesetzte  Laute,  sondern  einheitliche 
palatale,  resp.  palatal-alveolare  (stimmhafte)  Explosivae  sind.  Dafs  ihre 
Reduktion  zu  homorganen  Reibelauten  im  Gemeinmallorkinischen  nur  nach 
Vokalen  eintritt,  kann  sehr  wohl,  wie  Schädel  meint,  ein  Fingerzeig  für 
die  Entwickelung  von  dy,  dZ  zu  y,  Z  in  anderen  romanischen  Idiomen  sein. 

Gewifs  ist  es  Schädel  gelungen,  davon  zu  überzeugen,  dafs  unser 
Wissen  von  den  katalanisch-mallorkinischen  Idiomen  viel  lückenhafter  ist, 
als  die  Ausgaben  entsprechender  Texte  uns  vermuten  liefsen.  Seine  Mit- 
teilungen haben  aber  auch  davon  überzeugt,  dafs  er  der  Mann  ist,  um 
diese  Lücke  unserer  Kenntnis  auszufüllen.  Die  romanistische  Forschung 
darf  auf  diesem  Wege  von  ihm  reiche  Förderung  erwarten.         H.  M. 

sondern  auch  weil  auf  diese  Weise  jeder  Forscher  sich  tatsächlich  eine  neue  Um- 
schrift schafft.  Es  empfiehlt  sich  aus  praktischen  Gründen,  bei  einer  der  bisherigen 
phonetischen  Graphien  zu  bleiben.  Gewifs  sind  ny,  ly,  dy,  1%  etc.  sehr  unglück- 
liche Zeichen,  aber  sie  haben  den  praktischen  Vorzug  ererbter  und  weiter  Ver- 
breitung. —  Übrigens  würde  ich  aus  ebeusolchen  praktischen  Erwägungen  zur 
umfänglichen  Darstellung  des  Katalanischen  das  System  Gillieron  wählen,  was 
auch  immer  gegen  einzelne  Zeichen  eingewendet  werden  mag.  Auch  der  Alias 
lingvislique  de  la  Suisse  romande  tut  dies.  Wir  würden  dann  fär  Sprachkarten,  die 
von  Guernesey  bis  nach  den  Balearen,  vom  Val  d'Anniviers  bis  nach  Bordeaux 
reichen,  eine  einheitliche  Graphie  haben! 

1  Das  palatale  k  (resp.  t),  von  dem  S.  35  die  Rede  ist,  ist  an-,  in-  und  aus- 
lautend ein  weitverbreiteter  Laut  romanischer,  speziell  auch  galloromanischer  Mund- 
arten, so  dafs  ich  die  Bemerkung  des  Verfassers  nicht  verstehe. 

a  Es  wäre  sehr  erwünscht,  über  den  Umfang  der  Erscheinung  Näheres  zu 
hören.  Verhält  sich  hier  betontes  ä  und  nebentoniges  o  gleich?  Cf.  Salvion ia 
Untersuchungen  zum  Lombardischen  (Sludi  di  fil.  romanza  VIII  1  ff ).    ' 


Verzeichnis 

der  vom  13.  Juni  bis  zum  1.  Oktober  1905  bei  der  Redaktion 
eingelaufenen  Druckschriften. 


The  American  Journal  of  philology.  XXVI,  2  [Review  :  Eoot's  Classi- 
cal  mythology  in  Shakespeare]. 

Zeitschrift  für  österreichische  Volkskunde.  XI,  3,  4  [M.  Haberlandt, 
Über  Raufwerkzeuge  der  lnnviertler  Bauernburschen.  —  J.  Blau,  Vorn 
Briseltabak  und  seiner  Bedeutung  im  Volksleben  der  Böhmerwaldgegend 
um  Neuern.  —  J.  Franko,  Eine  ethnologische  Expedition  in  das  Bojken- 
land.  —  Kleine  Mitteilungen  etc.]. 

Festschrift,  Adolf  Tobler  zum  siebzigsten  Geburtstage  dargebracht 
von  der  Berliner  Gesellschaft  für  das  Studium  der  neueren  Sprachen. 
Braunschweig,  G.  Westermann.     VI,  477  S. 

Meyer-Einteln,  Wilhelm,  Die  Schöpfung  der  Sprache.  Leipzig, 
Grunow,  1905.    XVI,  256  S. 

Gutro,  Emil,  Das  Doppelwesen  des  Denkens  und  der  Sprache.  Ber- 
lin u.  Neuyork,  Internationale  physio-psychische  Gesellschaft.   XV,  279  S. 

Dittrich,  Ottmar,  Die  Grenzen  der  Sprachwissenschaft.  Ein  pro- 
grammatischer Versuch  [S.-A.  aus  Neue  Jahrbücher  f.  d.  klassische  Alter- 
tum, Geschichte  und  deutsche  Literatur,  XV].  Leipzig  u.  Berlin,  Teubner, 
1905.     20  S. 

Breysig,  Kurt,  Die  Entstehung  des  Gottesgedankens  und  der  Heil- 
bringer.    Berlin,  Bondi,  1905.    XI,  202  S. 

Skeat,  W.  W.,  A  primer  of  classical  and  English  philology.  Oxford, 
Clarendon  Press,  1905.     VIII,  101  S.    2  sh. 

Horovitz,  Josef,  Spuren  griechischer  Mimen  im  Orient.  Mit  einem 
Anhang  über  das  ägyptische  Schattenspiel  von  Friedrich  Kern.  Berlin, 
Mayer  &  Müller,  1905.     104  S. 

Wolf,  Johannes,  Geschichte  der  Mensural-Notation  von  1250 — 1460. 
Nach  den  theoretischen  und  praktischen  Quellen  bearbeitet.  Teil  I:  Ge- 
schichtliche Darstellung.  X,  424  S.  M.  14.  Teil  II:  Musikalische  Schrift- 
proben des  13.  bis  15.  J  ahrnunderts.  VIII,  150  S.  M.  8.  Teil  III:  Über- 
tragungen.   VIII,  202  S.   M.  8.    Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel,  1904. 

Festschrift  zur  Feier  des  50jährigen  Bestehens  der  Liebig-Real- 
schule  zu  Frankfurt  a.  M.  am  18.  Juni  1905.  Gestiftet  von  Freunden 
der  Schule.  Leipzig  und  Frankfurt,  Kesselringsche  Hofbuchhdlg.,  1905. 
VI,  157  S.  [Darin:  F.  Bothe,  Zur  Geschichte  der  Anstalt.  S.  1—46.  — 
F.  Dörr,  Vom  Unterricht  in  den  neueren  Sprachen  seit  1890.   S.  63 — 78.] 


Literaturblatt  für  germanische  u.  romanische  Philologie.  XXVI,  6 — 9 
(Juni  —  September). 

Modern  language  notes.  XX,  6  [A.  S.  Cook,  Notes  on  Shelley.  — 
K.  Sills,  Another  word  on  Dante'«  Cato.  —  L.  H.  Holt,  Notes  on  Ben 
Jonson's  Volpone.  —  G.  L.  Swiggett,  Notes  on  the  Finnsbury  fragment. 
—  Reviews,  correspondance]. 

17* 


260  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Die  neueren  Sprachen  ...  herausgegeben  von  W.  Vietor.  XIII,  3 
[H.  Büttner,  Die  schriftlichen  Klassenarbeiten,  ein  Vorschlag  zu  ihrer 
Reform.  —  K.  Meyer,  Über  Shakespeares  Macbeth  (Schlufs).  —  R.  J. 
Lloyd,  Glides  between  con^onants  in  English  (V).  —  Besprechungen.  — 
Vermischtes]. 

Schweizerisches  Archiv  f.  Volkskunde,  hg.  v.  E.^Hoffmann-Krayer 
und  J.  Jeanjaquet.     IX,  1   [E.  A.  Stückelberg,  Über  Pergamentbilder. 

—  A.  Rossat,  Les  Paniers,  poeme  patois  (suite).  —  S.  Meyer,  Volkstüm- 
liches aus  dem  Frei-  und  Kelleramt.  —  Miszellen :  A.  Zindel-Kressig,  Die 
Knabenschaften  von  Sargans.  —  E.  Hoffmann-Krayer,  Zum  sog.  Hecker- 
lied. —  M.  K.  F.,  Ein  Auswandererlied.  —  J.  Jeanjaquet,  Formulettes 
enfantines„de  la  Suisse  romande  accompagnant  l'öcorcage  du  saule.  — 
A.  Ithen,  Über  Tänze  im  Kanton  Zug.  —  Bücheranzeigen.  —  Kl.  Chronik. 

—  Bibliographie]. 

Neuphilologische  Mitteilungen,  hg.  vom  Neuphilolog.  Verein  in  Hel- 
singfors,  1905,  N°.  3  [A.  Wallensköld,  La  simplification  de  l'orthographe 
francaise.  —  Besprechungen.  —  Die  schriftlichen  Maturitätsproben  im 
Frühjahr  190J.  —  Protokoll  des  Vereins.  —  Eingesandte  Literatur.  — 
Mitteilungen]. 

Modern  philology.  III,  1  [J.  L.  Lowes,  The  dry  sea  and  the  carre- 
nare.  —  J.  E.  Matzke,  Some  examples  of  French  as  spoken  by  English- 
men  in  Old  French  literature.  —  O.  Heller,  Ahasver  in  der  Kunstdich- 
tung. —  G.  F.  Reynolds,  Some  principles  of  Elizabethan  Staging,  part  IL 

—  H.  C.  Sills,  References  to  Dante  in  17th  Century  Engl,  literature.  — 
R.  Holbrook,  'Maitre  Patelin'  in  the  Gothic  editions,  by  P.  Levet  and 
G.  Beneaut.  —  G.  L.  Swiggett,  Schlegel's  fragment  'Die  Amazonen',  a  dis- 
cussion  of  its  authorship]. 

Modern  language  teaching.  I,  5  [R.  J.  Lloyd,  The  Standard  English 
of  the  20.  Century.  —  F.  C.  Johnson,  French  methods  of  teaching.  — 
W.  G.  Hartog,  The  teaching  of  French  composition.  —  R.  H.  Allpress, 
A  visit  to  a  reform  -  gymnasium.  —  F.  R.  Robert,  The  teachers'  guild 
holiday  course  at  Santander.  —  W.  0.  Brigstocke,  Modern  language  asso- 
ciation.  —  The  king  Alfred  school  society.  —  Review]. 

Wychgram,  J.,  Stephan  Waetzoldt  [S.-A.  aus  'Frauenbildung', 
IV.  Jahrgang].    Leipzig  u.  Berlin,  Teubner,  1905.     18  S. 

Vrba,  Dr.  K.  F.,  Relativ  obligates  Französisch  und  Englisch  am 
Gymnasium  [S.-A.  aus  Österreichische  Mittelschule  XIX.  Jahrg.,  3.  Heft]. 
Im  Selbstverlage  des  Verfassers.    22  S. 

Ford,  J.  D.  M.,  'To  bite  the  dust'  and  symbolical  lay  communion, 
1905  [S.-A.  aus  den  Publications  of  the  Mod.  Association  of  America  XX, 
197 — 230.  Eine  interessante,  wohldokumentierte  Untersuchung  1)  über  die 
Redensart,  die  der  Titel  gibt  (franz.:  mordre  la  poussiere;  deutsch:  die 
Erde  (ins  Qras)  beifsen;  span. :  morder  la  tierra  etc.),  und  die  wohl  aus 
dem  antiken  modere  terram  hervorgegangen  ist,  und  2)  über  die  Not- 
kommunion des  sterbenden  Kriegers:  span.  comulgar  de  la  tierra,  auch 
italienisch;  vgl.  deutsch:  ein  brosemen  von  der  erden  brechen;  altfranz. 
acomenier  de  l'herbe,  deren  Ursprung  (heidnische  Elemente)  unbestimmt 
gelassen  wird]. 

Nagl,  J.  W.,  und  Zeidler,  J.,  Deutsch  -  österreichische  Literatur- 
geschichte. 27.  Lieferung,  bez.  10.  Lieferung  des  Schlufsbandes.  Wien, 
Fromme.     S.  433—480.    M.  1. 

Hollander,  Lee  Milton,  Prefixal  S  in  Germanic  together  with  the 
etymologies  of  Fratze,  Schraube,  Guter  Dinge.  Diss.  Baltimore,  Fürst, 
1905.    34  S. 

.Weise,  Oskar,  Prof.  Dr.,  Ästhetik  der  deutschen  Sprache.  2.  verb. 
Auflage.    Leipzig  u.  Berlin,  Teubner,  1905.    VIII,  328  S. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  261 

Wülfing,  J.  Ernst,  Was  mancher  nicht  weifs.  Sprachliche  Plaude- 
reien.   Jena,  Hermann  Costenoble,  1905.    VIII,  192  S.     Geb.  M.  2,50.; 

Henschke,  Margarete,  Deutsche  Prosa.  Ausgewählte  Eeden  und 
Essays.  Zur  Lektüre  auf  der  obersten  Stufe  höherer  Lehranstalten  zu- 
sammengestellt. Mit  4  Abbild,  und  7  Tafeln.  2.  Aufl.  Leipzig  u.  Berlin, 
Th.  Hofmann,  1905.    XVI,  423  S.    Geb.  M.  3,50. 

Lessing,  G.  E.,  Laokoon  oder  über  die  Grenzen  der  Malerei  und 
Poesie.  Für  den  Schulgebrauch  hg.  von  Dr.  Martin  Manlik.  Mit  einer 
Abbildung.  1.  Auflage  (Freytags  Schulausgaben  und  Hilfsbücher  für  den 
deutschen  Unterricht).  Leipzig,  Freytag;  Wien,  Tempsky,  1904.  128  S. 
Geb.  M.  0,60. 

Goethe,  W.  v.,  Dichtung  und  Wahrheit.  In  Auswahl.  Mit  Einlei- 
tung und  Anmerkungen  versehen  von  Schulrat  Dr.  Leo  Smolle  (Graebers 
Schulausgaben  klassischer  Werke).  Leipzig,  Teubner.   XII,  83  S.    M.  0,50. 

Bäum  er,  Gertrud,  Dr.  phil.,  Goethes  Satyros.  Eine  Studie  zur  Ent- 
stehungsgeschichte.    Leipzig,  Teubner,  1905.     125  S. 

Schiller,  Friedrich  v.,  Maria  Stuart,  ein  Trauerspiel.  Für  den  Schul- 
gebrauch hg.  von  Edmund  Aelschke.  1.  Aufl.  (Freytags  Schulausgaben 
und  Hilfsbücher  für  den  deutschen  Unterricht).  Leipzig,  Freytag;  Wien, 
Tempsky,  1904.     171  S.     Geb.  M.  0,80. 

Schlegel,  Friedrich,  Fragmente  und  Ideen.  Hg.  von  Franz  Deibel. 
Mit  dem  Porträt  Schlegels  und  dem  Faksimile  einer  Briefseite  (Die  Frucht- 
schale. Eine  Sammlung,  III).   München  u.  Leipzig,  Piper.  XXVlII,  290  S. 

Spiefs,  Heinrich,  Dr.,  Direktor  am  Gymnasium  in  Bochum,  Die 
Lyrik  des  19.  Jahrhunderts.  Für  den  Schulgebrauch  herausgegeben  (Frey- 
tags Schulausgaben  und  Hilfsbücher  für  den  deutschen  Unterricht).  Leip- 
zig, Freytag;  Wien,  Tempsky,  1905.    232  S.    Geb.  M.  1,50. 

Graf,  Emma,  Dr.y  Eahel  Varnhagen  und  die  Bomantik  (Literarhisto- 
rische Forschungen,  hg.  von  J.  Schick  und  M.  Frh.  v.  Waldberg,  XXVIII). 
Berlin,  Felber,  1903.     106  S.    M.  2,20. 

Melchior,  Felix,  Heinrich  Heines  Verhältnis  zu  Lord  Byron  (Lite- 
rarhistorische Forschungen,  hg.  von  J.  Schick  und  M.  Frh.  v.  Waldberg, 
XXVII).     Berlin,  Felber,  1903.    X,  170  S.    M.  3,50. 

Platen,  August  Graf  von,  Tagebücher.  Im  Auszuge  hg.  von  Erich 
Petzet.  Mit  Porträt,  Abbildung  des  Grabmals  und  Faksimile  der  letzten 
beiden  Tagebuchseiten.  (Die  Fruchtschale.  Eine  Sammlung,  IL)  München 
u.  Leipzig,  Piper.    XX,  400  S. 

yj  Hebbel,  Friedrich,  Sämtliche  Werke.  Historisch -kritische  Ausgabe 
besorgt  von  .Richard  Maria  Werner.  Dritte  Abteilung.  Briefe,  2.  Band 
1839—1843:  Hamburg- Kopenhagen  -  Hamburg -Paris,  Nr.  92— 172.  Ber- 
lin, Behr,  1905.     VIII,  370  S.    M  3. 

Vierordt,  Heinrich,  Ausgewählte  Dichtungen.  Mit  einem  Vorwort 
von  Ludwig  Fulda.    Heidelberg,  Winter,  1906.   VIII,  152  S.   Kart.  M.  1. 

Lilien  fein,  Heinrich,  Heinrich  Vierordt,  das  Profil  eines  deutschen 
Dichters.  1.  und  2.  Auflage.  Heidelberg,  Winter,  1905.  IV,  70  S. 
Kart.  M.  1. 

Plawina,  Oswald,  Aus  Zeit  und  Leben,  Gedichte.  Tuntschendorf, 
Veith,  1905.    78  S.    M.  1. 

Menge,  Karl,  Dr.,  Dispositionen  und  Musterentwürfe  zu  deutschen 
Aufsätzen.  2.  verbesserte  Auflage  von  Prof.  Dr.  O.  Weise.  Leipzig  u. 
Berlin,  Teubner,  1904.    VIII,  127  S. 

Vietor,  Wilhelm,  Prof.,  Deutsches  Lesebuch  in  Lautschrift  (zugleich 
in  der  amtlichen  Schreibung).  Als  Hilfsbuch  zur  Erwerbung  einer  muster- 
gültigen Aussprache.  Erster  Teil:  Fibel  und  erstes  Lesebuch.  2.,  durch- 
gesehene Auflage.  Leipzig,  Teubner;  London,  Nutt;  Paris,  Klincksieck; 
Neuyork,  Lemcke  &  Büchner;  Amsterdam,  Sülpke;  Kopenhagen,  Ursin, 
1904.    XII,  158  S.  1 


262  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Methode  Toussaint-Langenscheidt.  Brieflicher  Sprach-  und  Sprech- 
unterricht f.  d.  Selbststudium  der  schwedischen  Sprache  von  E.  Jonas, 
E.  Tuneid,  C.  G.  MorSn.    Berlin,  Langenscheid t.    Brief  27—30  zu  M.  1. 


Englische  Studien.  XXXV,  2  [J.  Laidler,  A  history  of  pastoral  drama 
in  England  until  1700.  —  J.  S.  Starkey,  Henry  Reynolds,  'The  tale  of 
Narcissus'.  —  W.  J.  Lawrence,  A  forgotten  restauration  playhouse.  — 
Besprechungen.    Miszellen]. 

Beiblatt  zur  Anglia.    XVI,  6 — 9  (Juni  —  September). 

Scottish  historical  review.  II,  3  [A.  Lang,  The  household  of  Mary 
Queen  of  Scots  in  1573.  —  R.  C.  MacLeod,  Side  lights  from  the  Dun- 
vegan  charter  ehest.  —  Th.  Duncan,  The  Queen's  Maries.  —  G.  A.  Sin- 
clair, The  Scots  at  Solway  Moss.  —  Archibald  Black  Scott,  Nynia  in 
northern  Pictland.  —  J.  C.  Watt,  Dunnottar  and  its  barons.  —  W.  R. 
Scott,  Scottish  industrial  undertakings  before  the  union.  —  C.  S.  Terry, 
The  battle  of  Glenshiel.  —  E.  Dupont,  Le  Chäteau  de  Brix,  en  Norman  - 
die.  —  Review]. 

Bausteine,  Zeitschrift  für  neuenglische  Wortforschung,  unter  Mitwir- 
kung des  neuphilologischen  Vereins  in  Wien  hg.  von  Leon  Kellner  und 
Gustav  Krüger.  Berlin,  Langenscheidt,  1905.  I,  1,  83  S.  Jährlich 
6  Hefte,  M.  18  [L.  Kellner,  Suggest,  Suggestion,  suggestive.  —  H.  Richter, 
Chatterton's  Rowley- Sprache.  —  Kleine  Notizen,  Fragen  und  Antworten, 
Bücherschau,  Plauderecke,  Zitierschlüssel.     A.  Mussafia  f]- 

Beowulf  nebst  dem  Finnsburg-Bruchstück.  Mit  Einleitung,  Glossar 
und  Anmerkungen  herausgegeben  von  F.  Holthausen.  I.  Teil:  Texte 
und  Namensverzeichnis  (Alt-  und  mittelenglische  Texte,  hg.  von  L.  Mors- 
bach und  F.  Holthausen,  III).  Heidelberg,  C.  Winter;  Neuyork,  G.  E. 
Stechert,  1905.    VII,  112  S.    M.  2,20. 

Bibliothek  der  angelsächsischen  Prosa,  begründet  von  Christian  W.  M. 
Grein,  fortgesetzt  von  Richard  Paul  Wülker.  0.  Band.  Kleinere  angel- 
sächsische Denkmäler  I:  1.  Das  Lseceboc.  2.  Die  Lacnunga  mit  gram- 
matischer Einleitung.  3.  Der  Lorica-Hymnus  mit  der  angelsächsischen 
Glossierung  nebst  einer  Abhandlung  über  Text  und  Sprache  des  Denk- 
mals. 4.  Das  Lorica-Gebet  und  die  Lorica  -  Namen.  Herausgegeben  von 
Günther  Leonhardi.     Hamburg,  Grand,  1905.    242  S.    M.  10. 

Derocquigny,  Dr.  Jules,  A  contribution  to  the  study  of  the  French 
element  in  English.  A  thesis  submitted  to  the  faculty  of  letters,  Univer- 
sity  of  Lyons.    Lille,  Bigot,  1904.     176  S. 

Schoenwerth,  Rudolf,  Die  niederländischen  und  deutschen  Bearbei- 
tungen von  Thomas  Kyds  Spanish  Tragedy  (Literarhistorische  Forschungen, 
hg.  von  J.  Schick  und  M.  Frh.  v.  Waldberg,  XXVI).  Berlin,  Felber,  1903. 
CXXVIII,  227  S.    M.  8. 

Koeppel,  E.,  Studien  über  Shakespeares  Wirkung  auf  zeitgenössische 
Dramatiker  (Materialien  zur  Kunde  des  älteren  englischen  Dramas,  hg.  von 
W.  Bang,  IX).  Louvain,  Uystpruyst;  Leipzig,  Hanassowitz ;  London,  Nutt, 
1905.    XI,  103  S.    M.  5,60. 

Vershof  en,  Dr.  Wilhelm,  Charakterisierung  durch  Mithandelnde  in 
Shakespeares  Dramen  (Bonner  Beiträge,  XX).  Bonn,  Hanstein,  1905.  157  S. 

Shakespeares  ausgewählte  Dramen.  II :  The  merchant  of  Venice,  er- 
klärt von  H.  Fritsche,  2.  Aufl.  bearb.  von  L.  Proescholdt.  XXX, 
104  S.,  Anm.  61  S.  Geb.  M.  1.  —  VII:  Julius  Caesar,  erklärt  von  Alex- 
ander Schmidt,  neue  Ausgabe  von  Hermann  Conrad.  114  S.,  Anm. 
113  S.    Geb.  M.  1.    (Weidmannsche  Sammlung.)     Berlin  1905. 

Lees  Trauerspiel  Theodosius  or  the  force  of  love  von  Dr.  Fritz  Reaa 
(Literarhistorische  Forschungen,  hg.  von  J.  Schick  und  M.  Frh.  v.  Wald- 
berg, XXX).     Berlin  u.  Leipzig,  Felber,  1904.    219  S.     M.  4,50. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  263 

Shaftesbury,  Untersuchung  über  die  Tugend.    Ins  Deutsche  über- 
tragen und  mit  einer  Einleitung  versehen  von  Paul  Ziertmann,  Ober- 
lehrer (Philosophische  Bibliothek,  110).    Leipzig,  Dürr,  1905.    XV,  122  S. 
Derocquigny,  Dr.  Jules,  Charles  Lamb,  sa  vie  et  ses  ceuvres  (Tra- 
vaux   et   memoires    de   l'universite*    de   Lille.     Nouvelle  se'rie.    I:   Droit, 
Lettres.   Fascicule  3).    Lille,  au  siege  de  l'universit6,  1904.   415  S.    12  fr. 
Dalrymple,    Cochrane   Maxton,  Dr.,    Kipling's   Prosa    (Marburger 
Studien  zur  englischen  Philologie,  IX).    Marburg,  Elwert,   1905.     104  S. 
Collection  of  British  authors.    Tauchnitz  edition.    ä  M.  1,60. 
Vol.  3814:  Marie  Corelli,  Free  opinions. 
„      3815:   F.  F.  Moore,  The  white  causeway. 
„      3816 — 7:   M.  Pemberton,  Mid  the  sick  arrows. 
„      3818:  E.  W.  Hornung,  Stingaree. 
„      3819—20:  'Rita',  Queer  Lady  Judas. 
„      3821:   H.  G.  Wells,  A  modern  Utopia. 
„      3822:   Agnes  and  Egerton  Castle,  Rose  of  the  world. 
„      3823—4:   E.  Kobins  (C.  E.  Kaimond),  A  dark  lantern. 
„      3825:  Jerome  K.  Jerome,  Idle  ideas  in  1905. 
„      3826—7:  M.  E.  Braddon,  The  rose  of  life. 
„      3828:   A.  E.W.  Mason,  The  watchers. 
„      3829:   B.  M.  Croker,  The  old  cantonment  with  other  stories  of 

India  and  elsewhere. 
„      3830:   W.  D.  Howells,  Miss  Bellard's  Inspiration. 
„      3831:   Helen  Mathers,  The  ferryman. 
„      3832 — 3:   E.  F.  Benson,  The  image  in  the  sand. 
„      3834:   A.  Ch.  Swinburne,  Love's  cross-currents. 
„      3835:   Fiona  Macleod,  The  sunset  of  old  tales. 

3836:   Dorothea  Gerard,  The  improbable  idyl. 
„      3837:   Kobert  Louis  Stevenson,  Tales  and  fantasies. 
fl      3838:   Lady  Broome,  Colonial  memories.' 
„      3839—40:   Richard  Bagot,  The  passport.'gS 

Kruisinga,  M.  A.,  Ph.  D.,  A  grammar  of  the  dialect  of  West  Somer- 
set, descriptive  and  historical  (Bonner  Beiträge  zur  Anglistik  von  M.  Traut- 
mann, XVIII).    Bonn,  Hanstein,  1905.    VI,  182  S.    M.  6. 

Curme,  Prof.  G.  O.,  A  grammar  of  the  German  Language  designed 
for  a  thorough  and  practical  study  of  the  language  as  spoken  and  written 
to-day.  New  York,  The  Macmillan  Company;  London,  Macmillan,  1905. 
XX,  662  S.    M.  3,50. 

Dammholz,  R.,  Prof.  Dr.,  Englisches  Lehr-  und  Lesebuch.  Aus- 
gabe B.  IL  Teil,  Oberstufe.  Band  I:  Grammatik.  2.  Aufl.  Hannover 
u.  Berlin,  Carl  Meyer,  1904.    XIV,  255  S.    Geb.  M.  2,70. 

Dubislav,  Prof.  Dr.  G.,  und  Boek,  Prof.  Paul,  Methodischer  Lehr- 
gang der  englischen  Sprache  für  höhere  Lehranstalten  unter  besonderer 
Berücksichtigung  der  Mädchenschulen  in  zwei  Teilen.  Erster  Teil:  Lese- 
und  Elementarbuch.  Mit  einer  Karte  von  England,  einem  Plan  von  Lon- 
don und  einer  Tafel  der  englischen  Münzen.  Zweite  Auflage.  Berlin,  Weid- 
mannsche  Buchhdlg.,  1905.    XII,  203  S.    Geb.  M.  2,50. 

Görlich,  E.,  und  Hinrichs,  H.,  Kurzgefafstes  Lehr-  und  Übungs- 
buch der  englischen  Sprache  für  Realschulen,  Realgymnasien,  sowie  für 
Reformschulen  und  Gymnasien.  Paderborn,  Schöningh,  1905.  XII,  348  S. 
Mitcalfe,  Constance,  English  made  easy.  Eine  neue  Methode,  Eng- 
lisch lesen,  schreiben  und  sprechen  zu  lernen.  Besonders  geeignet  für 
Privat-  und  Pensionats-Unterricht.  Dresden,  Folze,  1905.  X,  145  S.  Geb. 
M.  2,50. 

Plate,  H.,  Lehrgang  der  englischen  Sprache.  IL  Mittelstufe.  Me- 
thodisches Lehr-  und  Übungsbuch  mit  beigefügter,  auf  das  Lesebuch 
Bezug  nehmender  Sprachlehre.    61.,  der  Neubearbeitung  8.,  Auflage,  durch- 


264  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

gesehen  von  Oberlehrer  Dr.  Karl  Münster.  Leipzig,  Dresden,  Berlin, 
L.  Ehlermann;  Friese  &  Lang,  Wien  I,  Brännerstrafse  3.  VIII,  368  S. 
Geb.  M.  2,90. 

Reichel,  Dr.  K.,  und  Blümel,  Dr.  Magnus,  Lehrgang  der  englischen 
Sprache.  Lese-  und  Übungsbuch.  Mit  einem  Plane  von  London  und 
einer  Karte  des  britischen  Weltreiches.  Breslau,  Trewendt  &  Granier, 
1905.    VIII,  254  S.    M.  5. 

Röttgers,  Prof.  Benno,  Englische  Schulgrammatik.  Bielefeld  und 
Leipzig,  Velhagen  &  Klasing,  1905.    XII,  280  S. 

Schw,icker,  A.,  Lehr-  und  Lesebuch  der  englischen  Sprache  nach 
der  direkten  Methode.  Mit  mehreren  Abbildungen  und  einem  Lieder- 
anhange.    14.  Auflage.    Hamburg,  Meifsner,  1905.   VIII,  312  S.    M.  1,20. 

Sevin,  Ludwig,  Elementarbuch  der  englischen  Sprache  nach  der 
analytischen  Methode  bearbeitet.  2.  Teil.  2.  Auflage.  Karlsruhe,  Biele- 
feld, 1905.    VIII,  228  S.    M.  2,80. 

Selections  from  English  poetry.  Auswahl  englischer  Dichtungen  von 
Dr.  Ph.  Aronstein.  Mit  14  Illustrationen  (Velhagen  &  Klasings  Samm- 
lung französischer  und  englischer  Schulausgaben.  English  authors  104). 
Bielefeld  u.  Leipzig,  Velhagen  &  Klasing,  1905.    XII,  316  S.    M.  2. 

Beer,  Taco  H.  de,  und  Irving,  El.  Jane,  The  literary  reader, 
a  handbook  for  the  higher  classes  in  schools  and  for  home  teaching. 
III.  The  nineteenth  Century.  Part  IL  4.  ed.  revised  by  Taco  H.  de  Beer. 
Halle,  Geseniu s,  1905.    XII,  520  S. 

Mason,  Ch.  M.,  The  counties  of  England,  ausgewählt  und  erklärt 
von  Dr.  Otto  Budke,  Prof.  am  Realgymnasium  in  Stralsund.  Mit  fünf 
Abbildungen  und  einer  Karte  von  England.  Berlin,  Weidmann,  1904. 
VIII,  190  S.    Geb.  M.  1,60. 

Fulda,  Ludwig,  Unter  vier  Augen,  Lustspiel  in  1  Aufzug.  Zum 
Übersetzen  aus  dem  Deutschen  in  das  Englische  bearbeitet  von  Dr.  Ph. 
Hangen  (Englische  Übungs-Bibliothek,  21).  London,  Nutt;  Dresden, 
Ehlermann;  Glasgow,  Bauermeister;  Neuyork,  Dyssen  &  Pfeiffer,  1905. 
VIII,  83  S.    Geb.  M.  0,80. 

Romania,  p.  p.  P.  Meyer  et  A.  Thomas.  N°  134  (avril  1905) 
[A.  Thomas,  Gloses  provencales  inödites,  tirdes  d'un  ms.  des  Derivationes 
d'Ugucio  de  Pise.  —  G.  Huet,  Sur  qqs  formes  de  la  legende  du  Chevalier 
au  cygne.  —  P.  Meyer,  Notice  du  ms.  305  de  Queen's  College,  Oxford 
(legendier  francais).  —  R.  Weeks,  Etudes  sur  Aliscans  (suite).  —  M&anges : 
P.  Meyer,  L'inscription  en  vers  de  l'epee  de  Gauvain.  —  G.  Raynaud, 
Une  nouvelle  version  du  fabliau  de  La  Nonnette.  —  A.  Thomas,  Ponthus 
de  La  Tour-Landri;  —  Norm,  caieu  'moule';  —  franc.  milouin;  —  prov. 
colonhet  et  colonhier  'fusain'.  —  A.  Dauzat,  Prov.  bodosca,  bedosea.  — 
C.  Nigra,  trekawda  (Hte-Savoie),  trekawde,  trakude  (Aoste)  etc.  —  Correc- 
tions:  A.  Mussafia,  Per  il  Tristano  di  Beroul  ed.  Muret.  —  Comptes  ren- 
dus.  —  Periodiques.  —  Chroniques]. 

Revue  des  langues  romanes.  XLVIII,  3  [P.  Barbier,  fils,  Le  mot 
bar  comme  nom  de  poisson  en  frangais  et  en  anglais.  —  A.  Roque-Ferrier, 
Jana  de  Mourmeiroun,  essai  de  restitution  d'un  chant  populaire  Mont- 
pellidrain.  —  F.  Castets,  I  Dodiei  Ganti,  compl^ments  ä  l'introduction.  — 
A.  Vidal,  Les  deliberations  du  conseil  communal  d'Albi  de  1372  ä  1388.  — 
Bibliographie]. 

Archivio  glottologico  italiano,  fondato  da  G.  J.  Ascoli,  continuato 
sotto  la  direzione  di  C.  Salvioni.  Torino,  Ermanno  Loescher,  1905. 
Vol.  XVI  n°  3,  Seite  395  —  658.  Lire  12,50  [C.  Salvioni,  Appunti  sull'an- 
tico  e.moderno  lucchese.  —  Cremon.  scutumaja  =  soprannome  (von  co- 
stume).  —  Lomb.  rierdt  =  pipistrello.  —  S.  Santangelo,  II  vocalismo  del 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  265 

dialetto  d'Aderno  (Catania).  —  C.  Salvioni,  bugliolo,  bugno.  —  Venez.  va- 
nexa  =  porca,  ajuola  (von  maneggia,  terra  maneggiata).  —  Friul.  puinte 
=  feccia  (*  ponita).  —  P.  E.  Guarnerio,  II  Sardo  e  il  Corso  in  una  nuova 
classificazione  delle  lingue  romanze.  G.  vertritt  die  Meinung,  dafs  das 
Korsische  mit  Unrecht  zum  Sardischen  gezogen  werde,  wie  dies  W.  Meyer- 
Lübke,  Einführung  S.  16,  tut;  das  Korsische  gravitiere  zum  festländischen 
Italienisch,  speziell  zum  Toskanischen.  —  C.  Salvioni,  boulanger,  weist  das 
Wort  auch  im  Lomb.  nach.  —  G.  Toppino,  II  dialetto  di  Castellinaldo 
(Piemontesisch).  —  C.  Salvioni,  Santhiä  (=  Santa  Agata).  —  Poesie  in 
dialetto  di  Cavergno  (Valmaggia).  —  Rassegna  bibliografica.  —  Indice  del 
volume,  ein  vortrefflicher  Index,  der  über  50  zwei-  bis  dreispaltige  Seiten 
füllt.  —  Aggiunte  e  correzioni]. 

Studj  romanzi,  editi  a  cura  di  E.  Monaci  (Societä  filologica  romana). 
Roma,  deposito  presso  Erm.  Loescher,  1904.  Heft  III,  155  S.  Lire  7 
[E.  Monaci,  Per  la  toponomastica  italiana.  —  G.  J.  Ascoli,  Ricordi  con- 
cernento  la  toponomastica  italiana.  —  E.  G.  Parodi,  La  data  della  com- 
posizione  e  le  teorie  politiche  de\V  Inferno  e  del  Purgatorio  di  Dante,  ein 
hochinteressanter  Aufsatz  zur  Entwicklungsgeschichte  des  Danteschen 
Ghibellinismu8;  Inferno  wäre  demnach  nicht  später  als  1306  abgeschlossen 
und  Purgatorio  zwischen  1308  und  1313  geschrieben.  —  S.  Santangelo,  II 
manoscritto  provenzale  U.  —  G.  Marchesi,  La  prima  traduzione  in  volgare 
italico  della  Farsaglia  di  Lucano  e  una  nuova  redazione  di  essa  in  ottava 
rima.  —  C.  Nigra,  Note  etimologiche  e  lessicali.  —  G.  J.  Ascoli,  Intorno 
ai  consinuatori  cörsi  del  lat.  ipsu;  der  Verf.  nimmt  willkommene  Ver- 
anlassung, von  der  Stellung  des  Korsischen  unter  den  roman.  Sprachen 
zu  reden,  und  hebt,  unter  Berufung  auf  seinen  berühmten  Aufsatz  im 
VIII.  Bande  des  Archivio  (S.  111),  Zusammenhänge  zwischen  Korsisch  und 
Sardinisch  hervor,  ohne  Guarnarios  Ansicht  abzulehnen.  —  G.  Crocioni, 
Lo  studio  sul  dialetto  marchigiano  di  A.  Neumann-Spallart.  —  G.  Bertoni, 
Un  nuovo  testo  volgare  del  sec.  XIII.  —  Un  nuovo  accenno  alla  rotta  di 
Roncisvalle.  —  Notizie]. 

Romanische  Forschungen,  Organ  für  romanische  Sprachen  und  Mittel- 
latein, hg.  von  K.  Vollmöller.  XVI,  3  [M.  Huber,  Visio  Monachi  de 
Eynsham,  zum  erstenmal  kritisch  herausgegeben.  —  P.  Marchot,  Etymo- 
logies.  —  L.  Jordan,  Peros  von  Neeles  gereimte  Inhaltsangabe  zu  einem 
Sammelkodex,  mit  Einleitung  und  Glossar  zum  erstenmal  herausgegeben. 
—  J.  Luzi,  Die  sutselvischen  Dialekte  (Lautlehre).  —  A.  Reiff,  Historische 
Formenlehre  des  Dialekts  von  Bournois-Besancon].  XVII.  Band  [C.  De- 
curtins,  Rätoromanische  Chrestomathie,  VI.  Band :  Oberengadinisch,  Unter- 
engadinisch:  Das  siebzehnte  Jahrhundert,  XVI,  t>56  S.].  XVIII.  Band 
[C.  Decurtins,  Rätoromanische  Chrestomathie,  VII.  Band:  Oberengadinisch, 
Unterengadinisch:  Das  achtzehnte  Jahrhundert,  VIII,  494  S.].  XIX,  l 
[G.  Wenderoth,  E.  Pasquiers  poetische  Theorien  und  seine  Tätigkeit  als 
Literarhistoriker,  vgl.  Archiv  CXII,  234.  —  R.  Reis,  Die  Sprache  im 
Libvre  du  hon  Jehan,  due  de  Bretagne  des  Guillaume  de  St-Andre*  (14.  Jahr- 
hundert). —  P.  C.  Juret,  Etüde  grammaticale  sur  le  latin  de  s.  Filastrius]. 
2  [A.  Sechehaye,  L'imparfait  du  subj.  et  ses  concurrents  dans  les  hypo- 
thltiques  normales  en  francais.  —  Fr.  Fizet,  Das  altfranzösische  Jeu- 
Parti.  —  E.  Fehse,  Sprichwort  und  Sentenz  bei  Eustache  Deschamps 
und  Dichtern  seiner  Zeit.  —  J.  Ulrich,  Drei  romanische  Fassungen  der 
beiden  Jakobsbrüder.  —  G.  Baist,  banse;  bouleau;  bride;  buiron;  eagot; 
caraffa;  conjogle;  corma;  guige;  hote,  hocque,  ho;  pieton;  royaume;  toenard; 
triege]. 

Socidte"  amicale  Gaston  Paris.  Bulletin  1905.  39  S.  —  La  biblio- 
theque  Gaston  Paris  donn^e  ä  l'Ecole  des  Hautes  Etüde»  par  la  Marquise 
Arconati  Visconti  en  memoire  de  son  pere  Alphonse  Peyrat  Paris,  Impr. 
Nationale,  1905.^8  S. 


JtiG  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Aus  romanischen  Sprachen  und  Literaturen.  Festschrift  Heinrich 
Morf  zur  Feier  seiner  25 jährigen  Lehrtätigkeit  von  seinen  Schülern  dar- 
gebracht.   Halle  a.  S.,  M.  Niemeyer,  1905.    427  S.    M.  12. 

Spingarn,  J.  E.,  La  critica  letteraria  nel  rinascimento,  saggio  sulle 
origini  dello  spirito  classico  nella  letteratura  moderna.  Traduzione  italiana 
del  Dr.  Ant.  Fusco,  con  correzioni  e  aggiunte  dell'autore  e  prefazione 
di  B.  Croce.  Bari,  Laterza  e  figli,  1905.  XII,  358  S.  Lire  4.  [Spingarns 
Buch,  das  bekanntlich  zuerst  1899  in  englischer  Sprache  erschienen  ist, 
ist  eine  gut  dokumentierte  Geschichte  der  Poetik  der  Eenaissance  (d.  h. 
in  der  Hauptsache  des  16.  Jahrhunderts)  und  behandelt  in  drei  Teilen 
erst  Italien,  dann  Frankreich  und  endlich  England.  Spanien  fehlt.  In 
der  Vorrede  nimmt  B.  Croce  von  neuem  Stellung  zu  Saintsburys 
History  of  eriticisme,  der  im  kürzlich  erschienenen  dritten  Bande  auf  seine 
und  Spingarns  Kritik  geantwortet  hat.  —  In  der  Darstellung  der  Ent- 
wickelungsgeschichte  der  poetischen  Theorien  Frankreichs  kann  ich  Spin- 
üarn  nicht  überall  folgen,  wofür  ich  auf  meine  Gesch.  der  neueren  franz. 
Literatur,  I,  verweise.  Spingarns  Darstellung  der  Einführung  der  Unites 
de  temps  et  de  Heu  im  17.  Jahrhundert  gibt  einfach  die  traditionellen  Irr- 
tümer wieder.] 

Ebeling,  G.,  Probleme  der  romanischen  Syntax.  Erster  Teil.  Halle 
a.  S.,  Niemeyer,  1905.  178  S.  [1)  non  ...  altro  che  ....  —  2)  Vom  Con- 
dicionalis  im  Rumänischen.  —  3)  il  a  du  venir  =  er  mufs  gekommen  sein. 

—  4)  Span,  ique  ojos  tan  Jiermosos!  =  Welch  schöne  Augen.  —  5)  tutto 
=  lauter;  cf.  zum  gemeinrom.  sono  tutti  pagani  das  unflektierte  tot  um 
gentes  sunt  der  Peregrinatio  ad  loca  sancta,  zitiert  in  Wölfflins  Archiv  IV, 
270.  —  6)  non  che  mit  folgendem  Infinitiv.  —  7)  dispiacere  non  mi  dis- 
piacete  =  mifsfallen  tut  Ihr  mir  nicht,  wozu  zu  bemerken,  dafs  nicht  nur 
im  Engadin  (S.  122),  sondern  auch  am  Rhein  das  Verbum  finitum  mit 
cha,  che  eingeführt  wird,  z.  B.  ira  ch'ei  maven  in  gron  tschancun  ('sie 
gingen  ein  gutes  Stück',  im  Volkslied  vom  Signur  Completi);  dafs  das 
Bergellische  neben  dir  ye  l  d%es  auch  par  dir  ye  l  dZes  kennt  (cf.  Gott. 
Nachrichten,  1886,  S.  90) ;  zuerst  ist  die  Erscheinung  überhaupt  wohl  von 
Gärtner,  Gredner  Mundart,  1879,  S.  75,  erwähnt  worden.  —  8)  non  la  sta 
cosi  —  das  ist  nicht  der  Fall.  —  9)  che  hai  paura  =  hast  Du  Furcht  ?  — 
10)  irons  tornoiier  moi  et  vos.  Es  ist  ein  sehr  gehaltreiches  Buch  mit 
einer  reichen  Fülle  vcn  Material  und  feinen  Beobachtungen,  das  sich 
Toblers  Beiträge  in  Darstellung  und  Druck  erfolgreich  zum  Muster  ge- 
nommen hat].  

Zeitschrift  für  französ.  Sprache  und  Literatur,  hg.  von  D.  Behrens. 
XXVIII,  2  u.  4,  der  Referate  und  Rezensionen  erstes  und  zweites  Heft. 

Revue  des  Etudes  Rabelaisiennes.  II,  1  [P.  Toldo,  Rabelais  et  Honore" 
de  Balzac.  —  J.  Barat,  L'influence  de  Tiraqueau  sur  R.  —  H.  Clouzot, 
Les  amities  de  R.  en  Orlöanais   et  la  lettre  au  bailli   du  bailli  des  baillis. 

—  Melanges.  —  Comptes  rendus.  —  Chronique.  —  Supplements :  Statuts, 
liste  des  membres.  —  Reimpression  de  l'Isle  sonnante,  introduction]. 

Bulletin  du  Glossaire  des  patois  de  la  Suisse  romande.  IV,  1  et  2 
[L.  Gauchat,  L'origine  du  nom  de  La  Giaux-de-Fonds ;  la  chaux  <  calmis, 
kelt.  Wort,   das  unbebautes  Land  bezeichnet;   de  fonds  bleibt  rätselhaft. 

—  J.  Surdez,  Pronostics  et  dictons  agricoles.  Patois  du  Clos  du  Doubs, 
Jura  bernois.  —  A.  Neveu,  Djua  de  Tsalande  (Weihnachtsspiele),  patois 
de  Leysin.  —  R.  Chassot,  Katiljon  la  chdrchyere  (Catillon  la  sorciere), 
patois  de  Villargiroud,  Fribourg.  —  E.  Muret,  Additions  aux  proverbes 
de  Lens.  —  Compte  rendu]. 

Gobineau,  Comte  A.  de,  Amadis,  poeme.  CEuvre  posthume.  Por- 
trait de  l'auteur  grave"  ä  l'eau-forte.  Paris,  Plön,  1887.  XLIV,  556  S.  — 
Les  religions  et  les  philosophies  dans  l'Asie  Centrale.    Troisieme  Edition. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  267 

Paris,  Leroux,  1900.    X,  543  S.  —  Trois  ans  en  Asie  (1855—58).    Nouv. 
Edition.    Paris,  Leroux,  1905.    VI,  500  S. 

Gobineau,  Graf,  Nachgelassene  Schriften,  hg.  von  Ludwig  Sche- 
mann. Dichterische  Werke :  I.  Alexandre  le  Mac^donien,  trage*die  en  cinq 
actes.  2.  Aufl.  Strafsburg,  Trübner,  1902.  IX,  101  S.  M.  2.  —  Alexan- 
der. Tragödie  in  fünf  Aufzügen.  Deutsch  von  Ludwig  Schemann.  2.  Auf- 
lage. Strafsburg,  Trübner,  1904.  VIII,  107  S.  —  Die  Renaissance.  Histo- 
rische Szenen.  Deutsch  von  Ludwig  Schemann.  Neue  durchges.  u.  verb. 
Auflage.  3.  und  4.  Tausend.  Strafsburg,  Trübner,  1904. _  M.  5.  —  Asia- 
tische Novellen.  Deutsch  von  Ludwig  Schemann.  Mit  einem  Lebensbild 
des  Autors.    Leipzig,  Reklam,  Univers. -Bibl.  N°  3103 — 4. 

Wahlund,  C,  Un  acte  in^dit  d'un  opera  de  Voltaire,  public-  d'apres 
deux  anciennes  copies  manuscrites  de  la  Bibl.  Koyale  de  Stockholm ;  avec 
des  facsimil^s.    Upsala,  Almqvist  &  Wiksells,  1905.    59  S. 

Weidmannsche  Sammlung  franz.  u.  engl.  Schriftsteller  mit  deutschem 
Kommentar.     Berlin,  Weidmann,  1905 : 

Le  Cid  von  P.  Corneille,  hg.  und  erklärt  von  Fr.  Strehlke.   Zweite 
völlig  umgearb.  Aufl.  von  Dr.  Fr.  Meder.     113  S.  und  25  S.  An- 
merkungen. 
Auswahl    aus  Victor   Hugo.     Erklärt    von    Dr.    O.  Weifsenfeis. 
V,  248  S. 

Cherbuliez,  V.,  Die  Kunst  und  die  Natur,  I.  Übersetzt  von 
H.  Weber.    Ascona,  C.  v.  Schmidtz,  1905.     125  S.    M.  2,35. 

Jordan,  L.,  Die  Sage  von  den  vier  Haimonskindern  [Münchener 
Habilitationsschrift].     Erlangen,  Junge,  1905.    X,  198  S. 

Bamann,  O.,  Die  burlesken  Elemente  in  Rabelais'  Werk  [Würz- 
burger Dissert.].    München,  Dr.  C.  Wolf  &  Sohn,  1904.    63  S. 

Knoblauch,  K.,  Das  Verhältnis  der  Chroniques  admirables  zu  den 
Chroniques  inestimables  und  zu  Rabelais  [Würzburger  Dissert.].  Jena, 
A.  Kämpfe,  1904.    76  S. 

Kammel,  Dr.  W.,  Die  Typen  der  Helden  und  Heldinnen  in  den 
Dramen  Victor  Hugos  [S.-A.  aus  dem  32.  Jahresber.  der  k.  k.  deutschen 
Staatsrealschule  in  Prag -Kleinseite].  Prag,  Statthalterei-Buchdruckerei, 
1905.    42  S. 

Rall,  Ed.,  A.  de  Musset,  ein  echter  Romantiker  [Würzburger  Dissert.]. 
Aschaffenburg,  Schippnersche  Druckerei,  1905.    VIII,  92  S. 

Pellissier,  G.,  Le  mouvement  litteraire  contemporain,  36me  Edition. 
Paris,  Plön,  1902.     VII,  302  S. 

Francois,  A.,  La  grammaire  du  Purisme  et  l'Academie  francaise 
au  XVIIIe  siecle.  Introduction  ä  l'ötude  des  Commentaires  grammaticaux 
d'auteurs  classiques.  Paris,  Soc.  nouv.  de  librairie  et  d'6dition,  1905.  XV, 
279  S.  Fr.  5.  [Dieses  Buch  behandelt  einen  sehr  wichtigen  Abschnitt 
aus  der  Geschichte  der  sprachlichen  Theorien  Frankreichs  und  stellt  ihn 
auf  Grund  eingehender  Erforschung  auch  des  handschriftlichen  Materials 
(Archiv  der  franz.  Akademie)  vortrefflich  dar.  Das  Archiv  wird  in  einer 
ausführlicheren  Besprechung  auf  diese  bedeutsame  Leistung  zurück- 
kommen.] 

Plattner,  Ph.,  Ausführliche  Grammatik  der  französischen  Sprache. 
Eine  Darstellung  des  modernen  französischen  Sprachgebrauchs  mit  Be- 
rücksichtigung der  Volkssprache.  III.  Teil:  Ergänzungen.  Erstes  Heft: 
Das  Nomen  und  der  Gebrauch  des  Artikels.  Karlsruhe,  J.  Bielefeld,  1905. 
231  S.     M.  3,60. 

Metzger,  Prof.  Fr.,  und  Ganzmann,  O.,  Lehrbuch  der  franzö- 
sischen Sprache  auf  Grundlage  der  Handlung  und  des  Erlebnisses.  Für 
lateinlose  und  Reform-Schulen.  Mit  Zeichnungen  von  Hellmut  Eichrodt. 
I.  Stufe.  2.  vollst,  umgearb.  Aufl.  Berlin,  Reuther  &  Reichard,  1905. 
X,  250^S.    Geb.  M.  2. 


268  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Mistral,  Fr.,  Mirfcio,  provenzalische  Dichtung.  Deutsch  von  August 
B ertlich.  Vierte  Auflage.  Mit  Mistrals  Bildnis.  Stuttgart  und  Berlin, 
Cotta,  1905.  XXXIV,  25!»  S.  [Mit  Freuden  begrüfst  man  den  Erfolg 
dieses  Meisterwerkes  deutscher  Übersetzungskunst,  dem  hier  nach  fünf 
Jahren  wieder  eine  neue  Auflage  zuteil  wird.  Die  Einleitung,  die  aus 
persönlicher  Kenntnis  der  Menschen  und  der  Dinge  des  Felibrige  heraus 
geschrieben  ist,  ist  etwas  erweitert  und  berichtet  auch  vom  halbhundert- 
jährigen Jubiläum  des  Feliberbundes  im  Mai  1904.] 

Lewent,  K.,  Das  altprovenzalische  Kreuzlied  [Berliner  Dissert.].  Er- 
langen, Junge,  1905.     128  S. 

Lef  evre,  Ed.,  L'anne'e  felibreenne  (2e  annee,  1904).  Deuxieme  Supple- 
ment du  Catalogue  feUibr£en  et  de  la  bibliographie  Mistralienne.  Mar- 
seille, Ruat,  1905.  54  S.  [Eine  sehr  willkommene  und  nützliche  Chronik 
und  Bibliographie  der  Feliber-Bewegung,  mit  der  Liebe  gemacht,  die  auch 
das  Kleine  (z.  ß.  die  Ansichtskarten)  nicht  vergifst.] 

Schädel,  B.,  Mundartliches  aus  Mallorca.  Halle,  R.  Haupt,  1905. 
43  S. 


Giornale  storico  della  lett.  italiana,  dir.  e  red.  da  F.  Novati  e 
R.  Renier.  Fase.  134 — 5  [U.  Cosmo,  Giuseppe  Baretti  e  Jose*  Francisco 
de  Isla.  —  Varietä:  V.  Pirazzoli,  Sopra  due  f rammen ti  poetici  dell'Ariosto. 
—  R.  Bergadani,  Nota  sulla  questione  delle  Filippiche.  —  Rassegna  biblio- 
grafica.  —  Bolletiuo  bibliografico.  —  AnnuDzi  analitici.  —  Pubblicazioni 
nuziali.  —  Communicazioni  ed  appunti.  —  Cronaca].  —  Supplemento  N°8: 
A.  Farinelli,  Appunti  su  Dante  in  Ispagna  nell'  Etä  Media.  —  F.  Cavicchi, 
Intorno  al  Tebaldeo.  —  Varietä:  F.  Pasini,  Un  plagio  a  danno  di  Vin- 
cenzo  Monti]. 

Bulletin  Italien.  V  (1905),  2  [Paget  Toynbee,  Dante  and  the  legend 
of  St.  John  the  Evangelist  {Farad  XXV,  100—2;  112—24).  —  P.  Duhem, 
Albert  de  Saxe  et  Leonard  de  Vinci,  IL  —  L.-G.  Pellissier,  Un  traite"  de 
g£ographie  politique  de  l'Italie  ä  la  fin  du  15e  siecle.  —  M.  Paoli,  Lenau 
et  Leopardi.  —  M61anges  et  documents :  L.  Auvray,  Inventaire  de  la  col- 
lection  Custodi,  VI.  —  Bibliographie]. 

Dante  Alighieri,  La  Divina  Commedia,  con  postille  e  cenni  intro- 
duttivi  del  prof.  Raff.  Fornaciari.  Edizione  minuscola  ad  uso  delle  let- 
ture  pubbliche  e  delle  scuole.  Milano,  Hoepli,  1904.  XXII,  577  S.  In  64°. 
Lire  3.  [Fornaciari  hat  seinem  Text  und  Kommentar  die  Ausgaben  T.  Ca- 
sini-*,  L.  G.  Passerini  und  G.  A.  Scartazzini4  zugrunde  gelegt  und  sich 
in  Kommentar  und  in  der  Einleitung  über  Dantes  Leben  und  den  Sinn 
seines  Gedichtes  der  gröfsten  Kürze  befleifsigt.  Seine  Ausgabe  soll  der 
Schullektüre  dienen  und  besonders  ein  Hilfsmittel  für  Hörer  von  Dante- 
Vorlesungen  sein.  Die  Kleinheit  des  Formats  (7  X  1-  cm)  und  das  ge- 
ringe Gewicht  des  leichten  Papiers  (75  g)  machen  das  Büchlein  facil- 
mente  tascabile.  Der  Druck  ist  aufserordentlich  scharf.  Diese  bequeme 
Ausgabe  erscheint  in  hohem  Mafse  preiswürdig.] 

Fucini,  Renato  (Neri  Tanfucio).  Le  veglie  di  Neri,  paesi  e  figure 
della  campagna  toscana.  Settima  edizione,  quarta  illustrata  da  artisti 
fiorentino.  Milano,  Hoepli,  1905.  251  S.  13  X  25  cm.  Lire  5,50.  [Die 
unvergleichlichen  Schilderungen  des  toskanischen  Landvolkes,  die  Fucini 
in  seinen  'Abenden  von  Neri'  (1882)  gegeben,  liegen  hier  in  einer  ent- 
zückend illustrierten  Ausgabe  vor.] 

Scartazzini,  A.  G.,  Enciclopedia  Dantesca,  continuato  dal  prof. 
A.  Fiammazzo.  Volume  III:  Vocabolario-concordanza  delle  opere  latine 
e  italiane  di  Dante  Alighieri,  preceduto  dalla  biografia  di  G.  A.  Scartaz- 
zini. Milano,  Hoepli,  19U5.  LXXII,  667  S.  Lire  8.  [Der  erste  Band 
dieser  umfangreichen  Enciclopedia  ist  1896  (S.  1 — 1169),  der  zweite  1899 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  269 

(S.  1170 — 2200)  erschienen.  Scartazzini  selbst  plante  einen  Supplenient- 
band,  der  allerlei  Lücken  ergänzen  und  Nachträge  bringen  würde.  Dar- 
über ist  der  Unermüdliche  1899  gestorben.  Es  war  ein  glücklicher  Gedanke 
des  Herausgebers,  an  die  beiden  ersten  Bände  zunächst  ein  vollständiges 
Repertorium  des  ganzen  bei  Dante  vorkommenden  Sprachmaterials,  eine 
sogenannte  Konkordanz,  zu  fügen,  ehe  in  einem  vierten  Bande  der  ver- 
sprochene Nachtrag  erscheint.  Eine  solche  Konkordanz,  die  alle  Werke 
Dantes,  auch  die  lateinischen  und  apokryphen,  umfafst,  ist  ein  wirkliches 
Bedürfnis.  Für  De  vulgari  eloquentia  ist  der  kritische  Text  der  Societä 
dantesca  (Rajna),  für  alle  übrigen  Werke  die  Ausgabe  Moore  {Oxforder 
Dante,  1894),  für  einzelne  Apokrypha  Fraticelli  zugrunde  gelegt.  Die 
Ausführung  dieser  mühevollen  Arbeit  scheint  sehr  gewissenhaft  zu  sein. 
Leider  schreibt  Fiammazzo  einen  gezierten  Stil,  der  der  Klarheit  seiner 
Einleitung  erheblichen  Eintrag  tut.] 

Passerini,  G.  L.,  e  Mazzi,  C,  Un  decennio  di  bibliografia  Dan- 
tesca (1891—1900).  Milano,  Hoepli,  1905.  VII,  668  S.  Lire  12.  [Passe- 
rini und  Mazzi  arbeiten  an  einer  alle  Zeiten  und  Länder  umfassenden 
Dante-Bibliographie.  Möge  es  ihnen  gelingen,  ein  solches  Riesenunter- 
nehmen zu  glücklichem  Ende  zu  führen !  Welch  wertvolles  Arbeitsinstru- 
ment ihre  Bibliographie  sein  wird,  das  zeigt  dieses  Spezimen,  das  ein 
Jahrzehnt  der  Dante-Forschung  inventarisiert:  die  fruchtbarste  und  wohl 
kontroversenreichste  Periode,  welche  diese  Forschung  kennt.  Dieser  Band 
bietet  eine  musterhafte  Arbeit.  An  die  Aufführung  der  Edixioni  und 
Traduxioni  Dantescher  Werke  (226  Nummern)  schliefst  sich  das  nach  den 
Verfassernamen  geordnete  Verzeichnis  der  Seritti  intorno  a  Dante,  N°  227 
bis  4285,  wozu  noch  hundert  Nummern  Nachträge  kommen.  Die  einzelnen 
Ausgaben  und  Monographien  sind  mit  Verweisen  auf  die  bedeutenderen 
Rezensionen  versehen  —  wo  am  ehesten  noch  kleine  Lücken  zu  ergänzen 
wären.  Nicht  selten  orientiert  eine  kurze  Bemerkung  über  den  Inhalt 
oder  Charakter  der  angeführten  Schrift.  Drei  Indices  ermöglichen  die 
volle  Ausbeutung  des  Buches :  ein  Personen-  und  ein  Sachregister  sowie 
eine  Liste  der  Textstellen  aus  Dantes  Werken,  mit  denen  die  Forschung 
dieses  Jahrzehnts  sich  befafst  hat.] 

Porena,  M.,  Delle  manifestazioni  plastiche  del  sentimento  nei  per- 
sonaggi  della  Divina  Commedia.  Lavoro  premiato  con  premio  di  primo 
grado  nella  Gara  Dantesca  fra  i  professori  di  scuole  secondarie  dell'anno 
1900.  Con  due  appendice.  Milano,  Hoepli,  1902.  XI,  190  S.  Lire  4. 
[Feine  Bemerkungen  eines  künstlerisch  empfindenden  Menschen  über  die 
Plastik  der  Danteschen  Figuren.  Unter  den  Personen  des  Purgatorio 
fällt  insbesondere  Matelda  durch  ihre  plastische  Gestaltung  auf.  Dem 
Rätsel  ihrer  symbolischen  Bedeutung  widmet  Porena  einen  der  beiden 
appendici  (p.  133 — 165):  er  erkennt  in  ihr  die  die  irdische  Glückseligkeit 
bildende  Vereinigung  von  tätigem  (Lia)  und  beschaulichem  (Rachele) 
Leben.] 

Sanvisenti,  B.,  I  primi  influssi  di  Dante,  del  Petrarca  e  del  Boc- 
caccio sulla  letteratura  spagnuola,  con  appendici  di  documenti  inediti. 
Milano,  Hoepli,  1902.  XVI,  463  S.  Lire  7,50.  [Dieses  Buch  hat  das 
unbestreitbare  Verdienst,  zum  erstenmal  im  Zusammenhang  darzustellen, 
in  welchem  Mafse  die  Werke  der  drei  grofsen  Florentiner  die  Literatur 
Spaniens  beeinflufst  haben.  Dafs  Sanvisentis  Information  noch  recht 
lückenhaft  ist  und  oft  genug  an  der  Oberfläche  sich  bewegt,  haben  seither 
Farinellis  Studien  gezeigt.  Es  ist  nicht  das  kleinste  Verdienst  dieses 
Buches,  dafs  es  augenscheinlich  den  Anstofs  dazu  gab,  dafs  Farinelli  mit 
den  Resultaten  seiner  gründlichen  Forschungen  hervorgetreten  ist:  La  for- 
tuna  del  Petrarca  in  Ispagna,  cf.  Archiv  CX1V,  269;  II  Corbaccio  nella 
Spagna  medievale  in  der  Festgabe  für  Ad.  Mussafia  (1905);  Boccaccio  in 
Ispagna  hier  CXIV,  397  ff.  und  nun  auch:] 


270  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Farinelli,  A.,  Appunti  su  Dante  in  Ispagna  nell  etä  Media  [S.-A. 
aus  Qiorn.  storico  della  lett.  üaliana,  Supplem.  n°  8].  Torino,  Loescher, 
1905.  105  S.  [Dante  heifst  hier:  die  Commedia,  denn  seine  Opere  minori 
waren  im  Spanien  des  15.  Jahrhunderts  wenn  nicht  völlig  unbekannt, 
so  doch  literarisch  wirkiingslos,  wie  Farinelli  zeigt,  der  mit  der  sicheren 
Gelehrsamkeit,  die  man  längst  an  ihm  kennt,  den  Spuren  des  divino 
poema  bei  den  Katalanen  und  den  Kastiliern  nachgeht,  viel  Neues  auf- 
weisend, manches  Alte  berichtigend.  (Dafs  der  allegorische  'dezir'  des 
Villasandino  {Cancionero  de  Baena  n°  34,  anno  1407)  auf  Dantes  Canzone 
Tre  donne  beruhe,  hat  mich  freilich  nicht  überzeugt.)  Auch  den  Portu- 
giesen, die  von  Santillana  und  Juan  de  Mena  lernen,  widmet  er  einige 
Seiten.  Ob  die  Katalanen  auch  als  'dantistas'  die  Brücke  zwischen  Italien 
und  Spanien  geschlagen  haben,  mufs  ungewifs  bleiben.  Aber  hervorragend 
ist  ihr  Anteil  auf  alle  Fälle,  und  die  Ver>  Übersetzung  d.es  Katalanen  Febrer 
ist  der  flüchtigen  Prosawiedergabe  Enrique's  de  Villena  überlegen.  Ob- 
schon  das  15.  Jahrhundert  in  der  Fülle  seiner  allegorischen  Dichtung  eine 
günstige  Prädisposition  zur  Erfassung  der  Commedia  besafs,  so  ist  doch 
die  Nachahmung  rein  äufserlich  geblieben,  beim  ersten,  Imperial,  wie  dann 
auch  bei  den  besten,  Santillana  und  Mena,  die  für  manche  poetce  minores 
die  einzige  —  mittelbare  —  Quelle  einiger  Dante- Kenntnisse  gebildet 
haben.  Es  fehlte  in  Spanien  wie  in  Frankreich  der  grofse  Künstler. 
Dafür  lockte  den  Nachempfindenden  die  leichtere  Verständlichkeit  des 
Roman  de  la  Rose  oder  die  elegante,  einförmige  Glätte  des  Maestro  Alen 
Gharrotier,  muy  claro  poeta  modemo.  Wo  sie  das  Feld  beherrschen,  da 
ist  der  Weg  zum  wahren  Dante  versperrt  —  da  dient  Dante  nur  dazu, 
den  landläufigen  Allegorien  einige  Ornamente  zu  liefern.  Wie  diese  Orna- 
mentik im  einzelnen  beschaffen  ist,  das  illustriert  mit  immer  neuen  Bei- 
spielen und  zeigt  in  immer  neuer  Beleuchtung  diese  schöne  Arbeit  Fari- 
nellis.J 

Novati,  Fr.,  II  Petrarca  ed  i  Visconti.  Nuove  ricerche  su  documenti 
inediti.  76  S.  mit  einer  Tafel  [S.-A.  aus  F.  Petrarca  e  la  Lombardid\. 
Milano,  Tipografia  Cogliati,  1904.  [Novati  beleuchtet  auf  Grund  von  fünf 
unedierten  und  einem  bisher  kaum  beachteten  Dokument  Petrarcas  Be- 
ziehungen zu  den  Visconti,  d.  h.  im  wesentlichen  des  Dichters  Aufenthalt 
zu  Mailand  (1353—61).  Neues  Licht  fällt  auf  den  persönlichen  Freundes- 
kreis Petrarcas:  in  dem  Erlebnis  eines  Freundes  sieht  Novati  das  ent- 
scheidende Motiv,  das  Petrarca  bewog,  das  gefährliche  Mailand  zu  ver- 
lassen.] 

Subak,  G.,  Noterelle  sarde.  27  S.  [S.-A.  aus  dem  Archeografo  triestino 
serie  III,  vol.  II].  Trieste,  Stabilimento  G.  Caprin,  1905.  [Subak  gibt 
hier  im  wesentlichen  Ergänzungen  zu  seinen  Bricciche  sarde,  Triest  1903, 
und  behandelt:  1)  tuta  2)  osca  3)  matessi  4)  igüe,  igussu,  iguddäe  5)  La 
terza  persona  del  plurale  nei  verbi  6)  nuraghe  7)  dae  =  lä  dove  8)  alicunu 
9)  Spigolature  dall  'Altlogudoresisches'  del  Meyer-Lübke  10)  dittus,  ogiu, 
buthegaiu  11)  inoghe  12)  Approposito  delle  nuova  edizione  della  Garta  de 
Logu.] 

Foerster,W.,  Sulla  questione  dell'autenticitä  dei  codici  di  Arborea. 
Esame  paleografico.  Con  una  zincografia  nel  testo  e  due  tavole  in  foto- 
tipia.  32  S.  [S.-A.  aus  d.  Memorie  della  R.  Accademia  delle  Scienxe  di 
Torino,  serie  II,  vol.  55].  Torino,  Clausen,  1905.  [In  der  Masse  der  ge- 
fälschten 'Urkunden  von  Arborea'  hat  Förster  zwei  echte  Stücke  des 
15.  Jahrhunderts  gefunden:  eine  Hafenordnung  von  Castelsardo  (logudo- 
resisch)  und  ein  unediertes  tatein. -katalanisches  Notariatsprotokoll.  Zu 
dieser  interessanten  Publikation  vgl.  Zs.  f.  rom.  Phil.  XXIX,  250  ff.] 

Methode  Toussaint-Langenscheidt.  Brieflicher  Sprach-  und 
Sprechunterricht  für  das  Selbststudium  der  italienischen  Sprache  von 
Dr.  H.  Sabersky,  unter  Mitwirkung  von  Prof.  G.  Sacerdote.    Berlin, 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  271 

Langenscheidt.  Brief  27 — 30  zu  M.  1.  —  Taschenwörterbuch  der  ita- 
lienischen und  deutschen  Sprache.  Mit  Angabe  der  Aussprache  nach  dem 
phonetischen  System  der  Meth.  Toussaint-Langenscheidt,  zusammengestellt 
von  ü.  Sacerdote.  Teil  I:  Italienisch  -  Deutsch.  Berlin  -  Schöneberg, 
Langenscheidt,  1905.    XXXVI,  470  S.    Geb.  M.  2. 


Bulletin  hispanique.  VII,  2  [H.  de  la  Ville  de  Mirmont,  Ciceron  et 
les  Espagnols.  —  J.  Saro'ihandy,  Remarques  sur  la  conjugaison  catalane, 
eine  Übersicht,  die  ursprünglich  für  die  zweite  Auflage  des  Gröberschen 
Grundrisses  bestimmt  war.  —  C.  Michaelis  de  Vasconcellos,  Algumas  pa- 
lavras  a  respecto  de  pücaros  de  Portugal,  eine  sehr  interessante  Ergänzung 
von  Morels  Artikel  über  span.  comer  barro  (Tonerde  essen)  in  den  Me- 
langen Wahlund  1896:  pücaro,  biicaro  (<  poculum)  bezeichnet  das  poröse 
Tongefäfs,  das,  aromatisch  zubereitet,  zur  Parfümierung  der  Zimmer 
diente  —  besonders  seit  der  Entdeckung  Amerikas  — ,  und  dann  auch  die 
aromatische  Tonpastille,  welche  die  spanischen  und  portugiesischen  Schönen 
im  17.  Jahrhundert  leidenschaftlich  naschten.  —  E.  Menmee,  D.  Juan 
Valera.  —  Varidtäs:  A.  Morel-Fatio,  D.  Nuno  de  Mendoca.  —  Bibliogra- 
phie. —  Sommaire  des  Revues  consacr^es  aux  pays  de  langues  castillane, 
catalane  ou  portugaise.  —  ChroniqueJ. 

Revista  de  archivos,  bibliotecas  y  museos.  Numero  extraordinario  en 
comemoraciön  del  Centenario  del  Quijote.  Mayo  1905  [M.  Menendez  y 
Pelayo,  Cultura  literaria  de  M.  de  Cervantes  y  elaboraciön  del  Quijote, 
Festrede,  gehalten  in  der  Aula  der  Madrider  Universität.  —  Infantin  Dona 
Paz  de  Borbön,  Torneo  en  el  Palatinado  en  lt>13:  aus  Anlafs  der  Hoch- 
zeit des  Kurfürsten  Friedrich  V.  mit  Isabella  Stuart  wurde  bei  den  Hof- 
festlichkeit  im  Heidelberger  Schlofs  auch  ein  Turnier  abgehalten,  zu  wel- 
chem D.  Quijote  de  la  Mancha,  caballero  de  la  triste  figura  alle  benach- 
barten Ritter  einlud.  —  P.  Torres  Lanzas  publiziert  zum  erstenmal  voll- 
ständig den  Text  jener  Eingabe,  mit  welcher  Cervantes  1590  um  ein  Amt 
in  Westindien  bittet.  —  A.  M.  de  Barcia,  Exposition  conmemorativa  de 
la  publicaeiön  del  Quijote.  —  Em.  Cotarelo,  Bibliografia  de  los  principales 
escritos  publicados  con  ocasiön  del  tercer  centenario  del  Quijote]. 

R.  Menendez  Pidal,  Sobre  Aluacaxi  y  la  elegia  ärabe  de  Valencia 
[S.-A.  aus  dem  Homenaje  d  D.  Francisco  Codera  en  su  jubilaciön  del  pro- 
fesorado,  S.  393 — 409].  Zaragoza  1904.  [Die  spanische  Königschronik  ent- 
hält Transkription  und  Übersetzung  einer  arabischen  Elegie,  welche  die 
Not  der  vom  Cid  belagerten  Stadt  Valencia  beklagt,  und  deren  Dichter 
Aluacaxi  sich  im  Sinne  einer  Übergabe  der  Stadt  ausspricht.  Menendez 
Pidal  restituiert  mit  Hilfe  des  Arabisten  J.  Ribera  den  Urtext  in  ara- 
bischer Graphie,  begleitet  ihn  mit  phonetischen  Bemerkungen  und  erweist 
die  Bedeutung  der  Elegie  gegenüber  den  Zweifeln  Dozys.] 

Morel-Fatio,  A.,  Un  taux  autographe  de  Cervantes.  Paris,  Librairie 
Henri  Leclerc,  1905.  15  S.  [Das  Musee  Dobree  zu  Nantes  bewahrt  einen 
kurzen  Brief  des  Cervantes  auf,  dessen  Unechtheit  Morel  paläographisch 
und  sprachlich  erweist.] 

Valera,  Juan,  Discurso  que  por  encargo  de  la  R.  Academia  espanola 
escribiö  Exemo.  Sr.  D.  Juan  Valera  para  conmemorar  el  tercer  centenario 
de  la  pubücaci6n  del  Quijote.  Madrid  1905.  37  S.  [Die  Rede  ist  leider 
ein  Fragment  geblieben.  Der  Tod  hat  Valera  verstummen  lassen,  nach- 
dem er  kaum  begonnen,  von  den  allgemeinen  Betrachtungen  zum  speziellen 
Teil  überzugehen.] 

Farinelli,  A.,  Cervantes.  Zur  300jährigen  Feier  des  Don  Quijote. 
Festrede,  gehalten  in  Zürich  am  6.  März  1905  im  Auftrage  des  Lesezirkais 
Hottingen  [S.-A.  aus  der  Beilage  zur  Allgem.  Zeitung  N°  113 — 1151.  Mün- 
chen 1905.    39  S.    [Eine  sehr  schöne  Gedenkrede,  deren  Verf.  mit  vollen 


272  Verzeichnis  der  eingelaufenen  DruckHchriften. 

Händen  aus  dem  reichen  Arsenal  der  vergleichenden  Literaturgeschichte 
schöpft.] 

Cirot,  G.,  Mariana  historien.  Bordeaux,  F6ret  et  Fils,  1905.  XIV, 
481  S.    Fr.  15. 

Hanssen,  Fr.,  Sobre  el  metro  del  poema  de  Fernän  Gonzalez.  San- 
tiago de  Chile,  Imprenta  Cervantes,  1904.  29  S.  [Cf.  Archiv  CXIV, 
248 — 50;  Hanssen  vertritt  die  Meinung,  dafs  der  Verf.  des  Gedichts  wie 
auch  z.  B.  Lopez  de  Ayala  aus  nationaler  Gewöhnung  die  aus  Frankreich 
importierte  ciuxderna  via  ä  silabas  cuntadas  mit  einheimischen  Romanzen- 
versen durchsetzt  habe.]  

Felix  Jose"  de  Augusta,  Fray,  Misionero  Apostölico  Capuchino 
de  la  provincia  de  Baviera,  Gramätica  Araucana.  Valdivia,  J.  Lampert, 
1903  (B.  Herder,  Freiburg  i.  B.).    XVI,  408  S.    M.  5. 


Maerkel,  Prof.  Dr.  Paul,   Der   Kulturwert   des    Russischen.     Pro- 

framm  des  Askanischen  Gymnasiums  zu  Berlin.   Berlin,  Weidmann,  19u5. 
'rogr.  55.    30  S.    M.  1. 

Kawraysky,  Dr.  Th.  v.,  Deutsch-russische  Handelskorrespondenz 
(Göschens  Kaufmännische  Bibliothek,  6).  Leipzig,  Göschen ;  St.  Petersburg, 
Wolff,  1905.    IX,  250  S.    Geb.  M.  3. 


Zur  Entstehung  des  Märchens. 

(Fortsetzung.)' 


IV.     Das   indische   Märchen. 

In  keinem  anderen  Lande  ist  der  Reichtum  au  Märchen  so 
unübersehbar  wie  in  Indien.  Und  auch  in  keinem  anderen  Lande 
hat  das  Märchen  eine  dem  indischen  vergleichliche  Geschichte 
und  Bedeutung.  Schon  vor  den  Zeiten  des  Rigveda,  mindestens 
im  dritten  Jahrtausend  vor  Christus,  sind  Märchen  für  Indien 
bezeugt,  und  wir  finden  ihre  Spuren  in  allen  folgenden  Jahr- 
hunderten. Der  Buddhismus  hat  um  diese  Märchen  das  Gewand 
seiner  Lehre  gehängt,  in  den  ersten  Jahrhunderten  unserer  Zeit- 
rechnung entstanden  dann  die  ersten  Märchensammlungen,  die 
spätere  Zeiten  beständig  bereicherten  und  erweiterten.  Um  das 
12.  Jahrhundert  vollendet  der  bedeutendste  unter  den  uns  be- 
kannten indischen  Märchendichtern,  Somadeva,  seinen  Kathäsa- 
ritsägara  (Ozean  des  Stromes  der  Erzählungen),  nicht  viel  später 
wurden  die  anderen  Märchensammlungen  abgeschlossen:  der 
Siddhapati  (entsprechend  den  'sieben  weisen  Meistern'),  die  Cuka- 
saptati  (70  Erzählungen  des  Papageien),  die  Smhäsanadvatrirncati 
(32  Erzählungen  des  Thrones),  die  Vetaläpancavitncati  (25  Er- 
zählungen des  Geistes),  das  Pantschatantra  ('Fünfbuch')  und  der 
Hitopadeca  ('Die  nützliche  Anweisung').1  Diese  Sammlungen  leben, 
in  die  neuindischen  Dialekte  übertragen,  als  Schul-  und  Unter- 
haltungsbücher noch  heute,  und  aufser  diesen  durch  die  Tradition 
geheiligten  Märchen  leben  noch  viele  andere,  unendlich  mehr, 
als  wir  nach  den  vorhandenen  Aufzeichnungen  und  Sammlungen 
ahnen  können.2 


. 1  Vgl.  auch  von  der  Leyen,  Das  indische  Märchen,  Preufs.  Jahrbücher 
99,  62  f.  (1900). 

2  Natürlich  enthalten  nicht  alle  diese  Sammlungen  Geschichten,  die 
nur  in  ihnen  und  sonst  nirgend  erscheinen.  Die  buddhistischen  Jfitaka's 
z.  B.  kehren  (meist  freilich  verändert)  im  Pantschatantra,  Somadeva  etc. 
wieder,  die  Cukasaptati  und  der  Siddhapati  haben  eine  Reihe  Geschichten 
gemeinsam  (Bolte,  Zeitsehr.  des  Vereins  f.  Volkskunde,  1905,  229),  zwischen 
Cukasaptati  und  Pantschatantra  gibt  es  viele  Berührungen  usw.  Sogar 
innerhalb  eines  Werkes,  innerhalb  des  Kathäsaritsägara  von  Somadeva 
(übers,  von  Tawney,  Bibliotheca  Indica,  Calcutta  1881 — 87)  z.  B.,  wird 
dieselbe  Geschichte  zwei-  und  dreifach  erzählt.  Ich  nenne  folgende  Mär- 
chen  der   auch   darin    aufgenommenen    Vetälapaücavimcati    (XII,  75  f.): 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    CXV.  18 


274  Zur  Entstehung  des  Märchens. 

Einer  sqlchen  Kontinuität  und  einer  solchen  ehrwürdigen 
literarischen  Überlieferung  können  sich,  um  das  zu  wiederholen, 
auf  der  ganzen  Welt  nur  die  indischen  Märchen  rühmen.  In 
anderen  Ländern,  Arabien  etwa  ausgenommen,  wird  das  Märchen 
erzählt,  aber  selten  aufgezeichnet,  es  gehört  nicht  zur  Literatur, 
dem  Inder  galt  das  Märchen  als  Kunstpoesie,  dem  er  alle  Fein- 
heiten und  Künstlichkeiten  verschwenderisch  schenkte,  durch  die 
er  jene  auszeichnete.  Auch  die  tiefste  Philosophie  und  Lebens- 
weisheit hat  man  seit  den  Tagen  des  Buddhismus  dem  Märchen 
fortdauernd  anvertraut,  so  dafs  wir  heute  die  Märchen  oft  weniger 
um  ihrer  selbst  als  um  der  wundervollen  überall  in  sie  einge- 
streuten Sprüche  willen  bewundern.  Unseren  deutschen  Ro- 
mantikern schwebte,  nachdem  sie  den  Roman  als  ein  für  ihre 
Universalität  zu  enges  Gefäfs  verworfen,  das  Märchen  als  ihre 
Kunst  vor:  darin  fügten  sich  die  Motive  leicht  und  ohne  Zwang, 
anmutig  und  schillernd,  aneinander  wie  Perlen  an  eine  Schnur, 
Lieder  unterbrechen  verlockend  und  sehnsüchtig  die  Erzählung, 
weisheitschwere  Sprüche,  Gleichnisse  und  Symbole  führten  in  die 
letzten  Tiefen  und  zeigten  dem  ahnenden  Blick  den  Urgrund 
alles  Seins  und  aller  Kunst,  das  Kindlichste  und  Harmloseste 
stand  heiter  und  lieblich  neben  dem  gereiftesten  Ernst  und  den 
letzten  Erkenntnissen  der  Philosophie  und  Weisheit.  Das  Mär- 
chen umschlofs  als  reichste,  vielfältigste  und  himmlischste  Kunst 
das  ganze  Leben,  während  der  Dichter  ohne  jeden  Zwang,  in 
künstlerischer  Willkür  die  buntesten  Einfälle  aneinander  zu  reihen 
schien.  Die  Romantik  hat  ihr  Ideal  fast  niemals,  hier  und  da 
nur  in  den  Märchen  des  Novalis,  erreicht,  ihre  Kunst  war  der 
Fülle  und  dem  Reichtum  der  Märchenmotive  nicht  gewachsen, 
sie  wurden  von  den  Märchen  beherrscht,  aber  sie  herrschten  nicht 
über  das  Märchen,  und  sie  gerieten  auch  zu  gern  in  leere  Spiele- 
reien. Die  Inder  haben,  in  ihrer  Art,  erreicht,  was  die  Roman- 
tiker erreichen  wollten:  ihr  Märchen  hat  die  tiefste  Weisheit  auf- 
genommen und  zugleich  das  übermütigste  Leben  und  die  selt- 
samsten Wunder,  alles  nicht  nebeneinander,  sondern  eins  wirkt 
immer  sonderbar  und  überraschend  auf  und  gegen  das  andere, 
und  das  Märchen  hängt  unlösbar  eng  mit  Wundern  und  mit 
Leben  zusammen.  Auch  ist  gerade  der  kunstvolle  Aufbau,  die 
sichere  Herrschaft  über  die  Motive,  die  erstaunliche  Gabe,  alle 
nur  möglichen  Wirkungen  aus  ihnen  herauszuholen,  beim  indischen 
Märchen  bewundernswert.     Wollte  jemand  heute  im  Ernst  jeden 

Rahmen  =  VII,  38  (Tawney  I,  349) ;  1  =  XII,  171  (Tawney  II,  157)  und 
=  I,  4  (Nr.  I  +  XV,  Tawney  I,  44);  3b  =  XVIII,  124  (Tawney  II,  617); 
4  =  IX,  53  (Tawney  I,  519);  6  und  12  =  V,  25.  26  (Tawney  I,  194  f.); 
vgl.  auch  XVIII,  120  (Tawney  II,  569  f.),  14  =  XVI,  112  (Tawney  II, 
493);  16  =  IV,  22  (Tawney  I,  174);  17  =  III,  15  (Tawney  I,  104),  vgl. 
auch  VT,  33  (Tawney  I,  294). 


Zur  Entstehung  des  Märchens.  275 

Einflufs  des  indischen  Märchens  auf  das  anderer  Völker  ab- 
leugnen, das  müfste  er  zugeben:  für  kein  anderes  Land  —  auch  für 
Arabien  nicht  Tausendundeine  Nacht  —  bedeutete  das  Märchen 
das  alles,  was  es  für  Indien  bedeutet,  und  als  Abbild  der  indischen 
Seele  behält  das  indische  Märchen  immer  einen  unvergleichbaren 
Wert  für  die  Erkenntnis  der  ganzen  menschlichen  Kultur. 

Wir  mufsten  ja  während  unserer  Betrachtungen  wiederholt 
auf  das  indische  Märchen  andeutend  hinweisen.  Diese  Hinweise 
nehmen  wir,  wie  schon  gesagt,  wieder  auf  und  erweitern  sie  zu 
einem  Vergleich  des  indischen  Märchens  und  der  indischen  Mär- 
chenkunst mit  den  Märchenmotiven  und  Märchen  der  anderen 
Völker.  Dabei  bitte  ich  schon  im  voraus,  zu  entschuldigen,  wenn 
ich  schon  Bemerktes  wiederhole  und  etwas  schulmeisterlich  breit 
auftrete;  aber  ohne  das  könnte  ich  die  komplizierten  Entwicke- 
lungen  nicht  erklären. 

I.  Rahmenerzählungen.  Unter  den  Sagenmotiven,  die  ein- 
mal schreckhafte  Träume  waren,  hatten  wir  (Archiv  CXIII,  257) 
auch  das  mannigfach  variierende  Motiv  genannt:  einem  Menschen 
wird  eine  Frage  oder  ein  Rätsel  vorgelegt,  und  wenn  er  die  Ant- 
wort darauf  nicht  findet,  so  wird  er  getötet.  Dies  Motiv  er- 
weitert sich  —  ganz  analog  einem  ähnlichen,  von  dem  Unge- 
heuer, das  jährlich  ein  Menschenopfer  verlangt,  bis  ein  Held 
kommt  und  es  besiegt  —  oft  dahin,  dafs  der  Fragende,  ein  böser 
Geist,  eine  Sphinx  oder  eine  grausame  Prinzessin,  einen  nach 
dem  anderen,  der  keine  Antwort  weifs,  wirklich  tötet,  bis  der 
Held  kommt,  der  sich  nicht  durch  den  Untergang  aller  früheren 
schrecken  läfst,  die  Frage  richtig  löst  und  den  Geist  dadurch 
vernichtet.  Aus  dem  einen  Rätsel  sind  dann  auch  —  man  denke 
an  die  Turandot-Fassungen  unseres  Motivs '  —  mehrere  Rätsel 
geworden,  und  der  Prinzessin,  die  selbst  so  grausame  Rätsel 
stellte,  wurde  von  dem  glücklichen  Sieger  auch  ein  Rätsel  auf- 
gegeben, damit  sie  selbst  einmal  die  Qualen  derer  empfinde,  die 
sich  umsonst  um  eine  Lösung  mühten. 

In  Indien  gab  es  nun  dies  Märchen:2  Ein  Bettler  schenkt 
einem  König  eine  Frucht  mit  Juwelen,  er  verlangt  dafür,  dafs 
dieser  ihm  einen  Leichnam  hole,  in  dem  ein  zauberkräftiger  Geist, 
ein  sogenannter  Vetala,  sich  aufhalte.  Der  König  holt  den  Leich- 
nam, erfährt  aber  von  dem  innewohnenden  Geist,  der  an  der 
Furchtlosigkeit  dieses  Herrschers  seine  Freude  hat,  dafs  der  Bett- 
ler ihn  vernichten  wolle,  er  tötet  darum  diesen  und  wird  selbst 
der  Zauberkräfte  mächtig,  die  der  Geist  verleihen  kann. 


1  Zu  Turandot:   Liebrecht,  Zur  Volkskunde  153;   Chauvin,  Bibliografie 
des  Ouvrages  . . .  Arabes  V,  191  f. 

2  Somadeya  VII,  :'.S  (Tawney  I,  349). 

18* 


276  Zur  Entstehung  des  Märchen». 

Als  Zusatzmotiv  wurde  nun  zu  diesem  Märchen  das  Motiv 
erfunden :  der  König  kann  den  Geist  nur  an  seinen  Platz  bringen, 
wenn  er  schweigt.  Aber  der  Geist  erzählt  dem  König  Geschich- 
ten, und  diese  enden  alle  so  drastisch  und  unerwartet,  dafs  dem 
König  gegen  seinen  Willen  immer  Ausrufe  des  Entsetzens,  Er- 
staunens oder  der  Bewunderung  entfahren.  Bei  jedem  dieser 
Ausrufe  verschwindet  der  Geist,  der  König  läuft  hinter  ihm  her 
und  holt  ihn  wieder  ein,  und  das  wiederholt  sich  vierundzwanzig- 
mal,  bis  der  König  schweigt  und  seinen  wirklich  sehr  mühselig 
verdienten  Lohn  empfängt.  * 

So  waren  aus  einem  Märchen  fünfundzwanzig  Märchen  ge- 
worden und  das  alte  Grundmärchen  doch  erhalten  geblieben,  als 
eines  mit  vielen  Einschachtelungen,  mannigfaltiger  und  span- 
nender. Diese  Spannung  hat  man  noch  erhöht,  indem  man  nicht 
seltsame  Pointen,  sondern  Fragen  an  das  Ende  der  Geschichten 
setzte:  der  Geist  stellt  sie  dem  König,  um  dessen  Ansicht  über 
die  Personen,  Ereignisse  und  Probleme  der  mitgeteilten  Ge- 
schichten zu  hören.  Dabei  bedroht  er  den  König  —  und  damit 
sind  wir  wieder  bei  dem  alten  Alptraummotiv  angelangt  —  mit 
dem  Tode,  wenn  er  diese  Fragen,  die  er  absichtlich  dumm  und 
unwissend  stellt,  nicht  richtig  beantwortet.  Der  König  gibt  die 
verlangten  Antworten,  immer  fein  und  geistreich,  aber  sowie  er 
zu  Ende  ist,  verschwindet  der  Geist,  bis  er  endlich  selbst  dieses 
Hin-  und  Herlaufens  müde  wird  und  dem  König  eine  Frage  stellt, 
die  dieser  trotz  allen  Nachdenkens  nicht  richtig  lösen  kann.2  Er 
schweigt  daher,  erreicht  sein  Ziel,  tötet  den  falschen  Bettler  und 
wird  dann  mit  so  viel  Ruhm  und  Anerkennung  überhäuft,  dafs 
uns  sogar  seine  Mühe  gering  scheint.  —  Das  ist  der  Rahmen 
der  indischen  Vetälapancavimcati.  Die  alte  einfache  und  grau- 
same Alternative  in  unserem  Motiv  haben  also  die  Inder  in  ein 
sehr  künstliches  Dilemma  umgewandelt:  wenn  der  König  schweigt, 
ward  er  getötet,  wenn  er  redet,  bringt  er  sich  um  den  Lohn  sei- 
ner Kühnheit,  um  den  Geist.  Er  entschliefst  sich,  da  er  dem 
Bettler  sein  Versprechen  halten  will,  zum  Reden,  und  das  wieder- 
holt sich  vierundzwanzigmal,  bis  sich  der  Geist  des  Königs  er- 
barmt. 

Die  Erweiterungen  des  alten  Fragemotivs  in  den  aufser- 
indischen  Fassungen  wie  in  der  Sage  von  Ödipus,  der  Turandot 
bestrebten  sich,  den  Helden  recht  hervorzuheben,  weil  er  vor 
einem  Wagnis   nicht  zurückschreckte,   bei   dem   seine  Vorgänger 


1  So  in  der  mongolischen  Fassung  der  Vetälapancavimcati,  vgl.  von 
der  Leyen,  Indische,  Märchen  122/25;  Preufs.  Jahrbücher  99  (1900),  S.  65; 
Jülg,  Die  Märchen  des  Siddhi-Kür,  Leipzig  1866. 

2  Vater  und  Sohn  heiraten  Mutter  und  Tochter,  aber  der  Vater  die 
Tochter  und  der  Sohn  die  Mutter,  beider  Paare  Kinder  heiraten  sich 
wieder,  wie  sind  nun  alle  miteinander  verwandt? 


Zur  Entstehung  des  Märchens.  277 

alle  den  Tod  fanden.  Nur  die  Turandot-Dichtung,  d.  h.  eine 
orientalische  Dichtung,  steigerte  auch  die  Bedeutung  des  Motivs, 
indem  sie  die  Rätsel  vervielfältigte  und  an  Sieger  und  Besiegte 
verteilte.  Im  Indischen  tritt  der  Held  zurück,  den  Inder  ver- 
lockt das  Motiv  selbst,  er  versucht,  es  zu  dehnen,  zu  ver- 
vielfältigen, zu  verkünsteln  und  schliefslich  zu  mildern.  Dies  ver- 
künstelte Motiv  bringt  er  in  eine  seiner  alten  Geschichten  hinein, 
und  er  weifs  die  Spannung  immer  aufrecht  zu  erhalten,  indem 
der  König  jedesmal  eine  neue  Gelegenheit  findet,  seinen  Scharf- 
sinn und  seinen  überlegenen  Geist  zu  zeigen. 

Es  wird  also  im  Indischen  zweierlei  erreicht:  eine  alte  Ge- 
schichte künstlich  verlängert  und  ein  auch  anderen  Völkern  be- 
kanntes Motiv  in  ein  höchst  abwechselungsreiches  Frage-  und 
Antwortspiel  verwandelt.  Dabei  zeigt  sich  eine  Vorliebe  für  das 
Massenhafte  und  ein  Geschick  in  der  Variation,  das  andere  Völ- 
ker nicht  von  weitem  erreichen. 

Die  Vetälapancavimcati  kam  nun  als  Ganzes  nicht  nach 
Europa.  Unser  erstes  Beispiel  gibt  also  nur  eine  Probe  von  der 
indischen  Erzählungskunst,  wie  sie  sich  bei  einem  einheimischen 
und  einem  internationalen  Motiv  bewährte.  Ganz  ergebnislos  für 
die  Frage  nach  dem  Einflufs  der  indischen  Märchen  auf  Europa 
ist  aber  auch  dies  Beispiel  nicht:  wir  dürfen  im  Anschlufs  daran 
behaupten,  dafs  die  Technik  der  Rahmenerzählung,  die  uns  hier 
zum  erstenmal  begegnet,  und  die  auch  abendländische  Märchen- 
sammlungen kennen,   in  Indien  erfunden  und  ausgebildet  wurde. 

Ich  will  diese  Behauptung  durch  einige  Beispiele    beweisen. 

Throne,  an  denen  die  Kunst  ganzer  Völker  ihr  Bestes  ver- 
schwendete, Throne,  die  Macht  und  Herrlichkeit  ihrer  Besitzer 
zur  sinnenfälligsten  Geltung  brachten,  schildern  uns  Dichtung 
und  Phantasie  der  Völker  gern,  vor  allem  die  des  Orients.  Zu 
diesen  Thronen  führen  goldene  Stufen  empor,  der  Thronsessel 
funkelt  von  Juwelen,  Edelsteinen  und  den  erlesensten  Kostbar- 
keiten, seltsame  und  ungeheuerliche  Tiere  halten  daran  Wacht: 
und  es  wird  sogar  erzählt,  dafs  diese  Tiere  wie  wirkliche  Tiere 
ihre  Stimme  erschallen  liefsen,  und  dafs  sie  vermittels  eines 
künstlichen  Mechanismus  den  König  auf  den  Thronsessel  hoben, 
wenn  er  den  Thron  bestieg. 

Derart  etwa  wird  in  spätjüdischer  Dichtung  der  Thron  des 
Salomo  geschildert.1  Von  ihm  wurde  aufserdem  gefabelt,  dafs 
die  sämtlichen  Tiere  —  ein  wildes  und  ein  zahmes  standen  sich 
jeweils  gegenüber  —  ein  mifstönendes  Geschrei  erhoben,  sobald 
jemand  vor  dem  Thron  eine  Lüge  aussprach,  und  dafs  Nebu- 
kadnezar  den  Thron  besteigen  wollte,  die  Tiere  des  Thrones  aber 

1  Vgl.  Paulus  Cassel,  Wissenschaftliche  Berichte  der  Erfurter  AJcademie 
I  (1853),  56—133. 


278  Zur  Entstehung  de*  Märchens. 

machten  ihm  diese  Besteigung  unmöglich.  Erst  Kyrus  war  des 
Thrones  wieder  würdig. 

Diesem  letzten  Motiv  ist  die  folgende  indische  Geschichte 
bei  Somadeva  ähnlich:1  Ein  König  kommt  in  eine  menschenöde, 
wunderbare  Stadt,  er  erblickt  dort  einen  edelsteinprangenden 
Thron  und  will  sich  daraufsetzen:  ein  Geist  verbietet  es  ihm, 
dieses  Thrones  seien  nur  Unsterbliche  würdig.  Aber  als  der 
König  sich  zu  erkennen  gibt  als  Boten  des  berühmten  Vikramä- 
ditya,  darf  er  den  Thron  besteigen,  und  die  Geister  dienen  ihm. 

Dies  Märchen  wurde  zu  einem  Rahmenmärchen  ausgebildet: 
der  Thron,  hiefs  es,  war  nach  dem  Tode  seines  berühmten  ersten 
Besitzers  vergraben,  und  wer  über  dem  Throngrabe  lebte,  dem 
teilten  sich  besondere  Gaben  mit,  sei  es  ungewöhnliche  Klugheit,  - 
sei  es  ungewöhnliche  Freigebigkeit.3  Durch  diese  Gaben  wurde  ein 
kluger  König  aufmerksam,  er  liefs  an  der  Stelle  nachgraben  und 
fand  einen  prachtvollen  Thron,  rechts  und  links  umgaben  ihn  im 
Halbrund  je  sechzehn  Figuren.  Als  er  sich  nun  auf  den  Thron 
niederlassen  will,  erhob  sich  eine  der  Figuren  und  hielt  ihn  zurück ; 
du  darfst  nicht  auf  den  Thron,  sagt  sie,  es  sei  denn,  du  wärest 
gerecht  und  klug  wie  jener  König,  dem  er  gehörte.  Und  sie  er- 
zählt ihm  eine  Geschichte  von  der  Weisheit  jenes  Herrschers. 
Wie  die  erste,  so  die  folgenden:  bis  der  König  alle  zweiund- 
dreifsig  Geschichten  hörte  und  nun,  da  er  die  gesamte  Weisheit 
jenes  Thronbesitzers  in  sich  aufnahm,  auch  auf  dessen  Thron 
sitzen  darf. 

Hier  hat  sich  also  eine  Geschichte  zu  zweiunddreifsig  ver- 
vielfacht, die  Klugheit  des  ersten  Thronbesitzers  wird  aufserdem 


1  XVIII,  124  (Tawney  II,  (514  f.). 

2  So  bei  Jülg,  Mongol.  Märchen,  Innsbruck  1860,  197  f.,  und  ursprüng- 
lich auch  in  der  persischen,  einer  indischen  Rezension  entstammenden 
Fassung,  Senguehassen  Battisi  (deren  Held  Bekermadjiet),  S.  45  f.  Diese 
persische  Fassung,  mir  nur  aus  der  sehr  seltenen  Übersetzung  Lescalliers 
(Le  trone  enchante,  traduit  du  persan,  New  York,  imprimerie  de  Desnoues, 
1817)  bekannt,  hat  für  den  Märchenforscher  vielerlei  Interesse.  Einmal  durch 
merkwürdige  Motive  (Toter  Vogel  wird,  wie  er  ergriffen  werden  soll,  lebendig 
und  entfliegt  immer  seinem  Verfolger;  Traummotiv?  —  König  regiert  nur 
für  einen  Tag  und  wird  nachts  von  einem  bösen  Geist  aufgefressen,  ebenso 
alle  seine  Nachfolger,  vgl.  Frazer,  Golden  Boagh,  Einleitung),  dann  durch  ihre 
merkwürdige  Mittelstellung  zwischen  der  mongolischen  und  der  späteren 
indischen,  von  Albrecht  Weber  herausgegebenen  Form  der  Throngeschichte, 
drittens  durch  ihre  Beziehungen  zum  persischen  und  türkischen  Papageien- 
buch, viertens  durch  ihre  Ähnlichkeiten  mit  der  indischen  Vetälapanca- 
vimcati,  von  der  sie  offenbar  eine  Reihe  Märchen  übernahm:  der  Inhalt 
beider  Sammlungen,  insofern  sie  von  den  Taten  und  Abenteuern  eines 
klugen  und  tapferen  Königs  erzählen,  berührt  sich  ohnehin  vielfach,  frei- 
lich kommt  der  König  vom  verzauberten  Thron  dem  Ideal  des  buddhisti- 
schen Herrschers  näher. 

3  So  im  späteren  Indischen,  vgl.  Albrecht  Weber,  Indische  Studien  XV 
(1878),  217  f. 


Zur  Entstehung  des  Märchens.  279 

nicht  einfach  behauptet,  sondern  sie  lebt  in  einer  Fülle  von  Ge- 
schichten immer  von  neuem  auf,  der  König  wird  so  lange  zurück- 
gehalten, bis  er  die  ganze  Weisheit  des  Thrones  hört,  und  dabei 
ist  das  Motiv  von  höchst  eigentümlicher  Wirkung,  dals  diese 
toten  Bildsäulen  Leben  erhalten,  aber  nur,  damit  sie  das  Ver- 
mächtnis des  früheren  Herrschers  der  Nachwelt  überliefern  kön- 
nen, dann  sinken  sie  wieder  in  die  alte  Leblosigkeit  zurück.  Die 
Inder  haben  hier  ein  altes  Motiv  nicht  allein  kompliziert,  ver- 
vielfacht, seinen  Schlufs  hinausgeschoben,  wie  in  der  Vetäla- 
pancavimcati  auch,  sie  haben  es  äufserlich  ins  Märchenhafte  und 
zugleich  innerlich  ins  Lebenstiefe  gesteigert:  und  das  ist  auch 
eine  Kunst,  deren  nur  sie  fähig  waren. 

Auch  die  Cukasaptati x  entstand  aus  einem  einfachen  Mär- 
chen: Ein  Kaufmann  verreist  und  läfst  seine  Frau  unter  dem 
Schutz  eines  Papagei enpaares  zurück.  Kaum  ist  er  aus  dem 
Kause,  so  will  die  Frau  das  Ehebrechen  anfangen,  der  jüngere 
Papagei  warnt  sie,  trotz  Abraten  des  älteren,  und  wird  von  der 
erbosten  Herrin  sofort  umgebracht,  der  ältere  Vogel  schweigt, 
erzählt  aber  dem  zurückkehrenden  Kaufmann  alles,  was  er  mit 
ansah,  und  fliegt  davon. 2  Solche  Anekdoten  von  Frauen,  die 
unter  dem  Schutze  kluger  Vögel  zurückgelassen  werden,  wenn 
der  Mann  verreist,  waren  keine  indische  Spezialität,  die  alten 
Griechen  kannten  und  verbreiteten  ähnliches  auch.3  In  den 
Cukasaptati  wird  der  unbequeme  Warner,  eine  Krähe,  gleichfalls 
umgebracht;  nun  aber  kommt  die  Erweiterung:  der  Papagei 
schweigt  nicht,  er  fordert  die  Frau  sogar  auf,  zu  gehen  und 
ihre  Jugend  zu  geniefsen,  nur,  fährt  er  fort,  wenn  du  ertappt 
wirst,  sei  so  klug  wie  . . .,  und  nun  erzählt  er  eine  Geschichte, 
meist  vom  Ehebruch.  Im  spannendsten  Moment,  wenn  wir  glau- 
ben, nun  wird  die  Schuldige  ertappt,  und  wenn  wir  gar  keine 
Lösung  mehr  sehen,  hält  er  ein  und  erzählt  nicht  weiter,  bevor 
ihm  die  Frau  versprochen,  sie  werde  heute  nicht  gehen.  Das 
wiederholt  sich  siebzigmal,  bis  der  Kaufmann  wiederkommt,  seine 
Frau  ist  ihm  nun  treu  geblieben,  der  Papagei  wird  belohnt,  und 
das  Märchen  endet  in  eitel  Glück  und  Frieden. 


1  Tiextus)  s{implicior),  übersetzt  von  E.  Schmidt,  Kiel  1894;  T(extus) 
o(r?iatior),  übers,  von  demselben,  Stuttgart  1899. 

2  Vgl.  Jätaka,  übers,  von  Cowell,  Nr.  98  und  145.  —  Die  Geschichte 
ist  auch  dahin  erweitert,  dafs  nur  e  i  n  Papagei  existiert,  der  schweigt, 
dem  zurückkehrenden  Manne  aber  das  Betragen  der  Frau  erzählt,  und 
diese  täuscht  nun,  indem  sie  den  Käfig  verdunkelt  und  Lärm  macht,  dem 
Vogel  ein  Gewitter  vor.  Als  er  am  folgenden  Morgen  dem  Kaufmann  von 
diesem  Gewitter  erzählt,  hält  dieser  ihn  für  einen  elenden  Lügner  und 
glaubt  der  Frau.  Dies  Märchen  kam  durch  den  Siddhapati  nach  Europa. 
Vgl.  Chauvin,  Bibliographie  Arabe  VIII,  36  f. 

3  Vgl.  Marx,  Griechische  Märchen  von  dankbaren  Tieren  und  Verwandtet 
S.  54  Anm.  2.   77. 


280  Zur  Entstehung  des  Märchens. 

Bei  dieser  Erweiterung  konzentriert  sich  die  Spannung  auf 
den  erzählenden  Papagei,  und  es  ist  einfach  erstaunlich,  wie  der 
Papagei  seine  Geschichten  in  Szene  setzt,  und  wie  er  sie  immer 
gerade  so  abbricht,  dafs  ein  Ausweg  unmöglich  scheint  und  wir 
uns  doch  immer  besinnen,  wie  er  wohl  sein  möchte.  Freilich 
wiederholt  sich  die  gleiche  Pointe  in  der  Cukasaptati  zu  oft, 
wir  werden  ihrer  überdrüssig,  und  das  Raffinement  hebt  sich 
durch  sich  selbst  auf.  Das  ist  auch  eine  Eigentümlichkeit,  eine 
der  Kehrseiten  der  indischen  Erzählungskunst. 

Die  Rahmenerzählung  der  Cukasaptati  drang  über  die  in- 
dischen Grenzen  hinaus  zu  den  Persern  und  zu  den  Türken, ' 
kam  also  an  die  Schwelle  des  Abendlandes. 

Die  Rahmenerzählung  des  Siddhapati  ist  in  Indien  verloren, 
läfst  sich  aber  aus  den  aufserindischen  Fassungen  herstellen  und 
kam  nach  dem  Abendlande.  In  ihr  (d.  h.  in  dem  Teile,  der  uns 
hier  interessiert)  sind  zwei  Geschichten  verbunden  und  dann  er- 
weitert. Einmal  eine  der  vom  Weib  des  Potiphar  sehr  ähnliche: 
die  Frau  eines  Königs  will  dessen  Sohn  verführen,  er  sträubt  sich, 
sie  verklagt  ihn  beim  König,  er  habe  ihr  nachgestellt;  der  König 
glaubt  ihr  und  will  ihn  zum  Tode  verurteilen.  Zweitens  die 
durch  eine  Doppelgeschichte,  eine  von  einem  schlechten  Mann 
und  eine  von  einer  schlechten  Frau  gerade  in  Indien  oft  aus- 
getragene Streitfrage:  wer  ist  schlechter,  die  Männer  oder  die 
Frauen?2  Beide  Fabeln  sind  im  Siddhapati  derart  ineinander 
geschoben:  der  zum  Tode  verurteilte  Prinz  muf's  sieben  Tage 
schweigen  infolge  eines  bestimmten  Gelübdes  und  kann  sich  nicht 
verteidigen.  Daher  gibt  der  König  den  Befehl  zur  Hinrichtung, 
aber  in  diesem  Augenblicke  tritt  ein  Minister  vor  und  gebietet 
Einhalt:  der  König  möge  der  Frau  nicht  glauben,  die  Frauen 
seien  heimtückisch  und  schlecht;  zum  Beweis  erzählt  er  eine 
Geschichte.  Der  König,  überzeugt,  zieht  den.  Hinrichtungsbefehl 
zurück.  Da  erhebt  sich  die  Frau,  um  eine  Geschichte  von  der 
Niedertracht  der  Männer  vorzutragen,  mit  dem  Erfolge,  dafs  der 
König  den  Hinrichtungsbefehl  wiederholt.  Ein  zweiter  Minister 
erwidert  mit  einer  Geschichte  von  der  Niedrigkeit  der  Frauen, 
und  so  geht  es  weiter,  bis  die  sieben  Tage  mit  Geschichte  und 
Gegengeschichte  ausgefüllt  sind,  der  Prinz  sprechen  darf  und  die 
gerechte  Strafe  über  die  schuldige  Frau  kommt. 

Man  erkennt  leicht  die  gleiche  Technik  wie  in  den  früheren 
Fällen:  wie  in  der  Vetälapancavimcati  entsteht  die  Rahmen- 
geschichte aus  zwei  Fabeln:  die  Geschichten  werden  immer  in 
dem  Augenblicke  vorgetragen,  in  dem  es  sich  um  Tod  oder  Leben 


1  Tuti  Nameh,  übers,  von  Iken,  Stuttgart  182 1 ;  Tuti  Nameh,  das  Papa- 
geienbuch, übers,  von  Georg  Rosen,  Leipzig  1858. 

2  Vgl.  z.  B.  Vetälapancavimcati  Nr.  3. 


Zur  Entstehung  des  Märchens.  281 

handelt,  und  sie  können  immer  neue  Aufmerksamkeit  verlangen, 
da  es  sich  um  eine  unlösbare  Frage  handelt,  deren  Lösung  doch 
immer  von  neuem  versucht  wird. 

Dieser  Siddhapati  blieb  uns  in  vielen  abendländischen  und 
morgenländischen  Rezensionen  erhalten,  er  wanderte  durch  die 
ganze  mittelalterliche  Welt  und  hinterliefs  in  ihrer  Literatur  über- 
all tiefe  Spuren,  denn  er  war  eins  der  verbreitetsten  und  gelesen- 
sten  Märchenbücher.1 

Auch  die  Rahmenerzählungen  des  Pantschatantra  —  es  sind 
in  den  ersten  vier  Büchern  einfache,  in  der  buddhistischen  Lite- 
ratur erhaltene  Fabeln,  durch  eine  Fülle  von  Geschichten  aus- 
einandergerissen, die  immer  wieder  eine  in  die  andere  geschoben 
werden*2  —  kamen  von  Indien  nach  anderen  asiatischen  Ländern 
und  nach  Europa,  wo  man  sie  übersetzte,  umarbeitete  und  er- 
weiterte. 3 

Da  nun  die  vorgeführten  Beispiele  zeigen,  dafs  in  Indien 
die  Technik  der  Rahmenerzählung  besonders  produktiv  ist,  dafs 
sie  dort  fein  ausgebildet  und  virtuos  beherrscht  wurde,  da  zwei 
dieser  indischen  Rahmenerzählungen  aufserdem  nach  Europa 
kamen  und  die  Vorliebe  für  Einschachtelungen  eine  orientalische 
ist,  darf  man  die  Inder  getrost  die  Erfinder  der  Rahmenerzäh- 
lungen nennen.  Wenn  abendländische  Erzähler,  etwa  Boccaccio 
und  seine  Nachahmer,  ihre  Geschichten  in  einen  Rahmen  ein- 
ordnen, so  folgen  sie  bewufst  oder  unbewufst  dem  indischen 
Vorbilde. 

Wir  konnten  auch  die  seltsame  Vollendung  der  indischen 
Erzählungskunst  in  verschiedenen  Fällen  verfolgen.  Und  wir  be- 
obachteten, dafs  diese  Erzählungskunst  von  Geschichten  und  Mo- 
tiven ausgeht,  die  gar  nichts  Besonderes  oder  Bemerkenswertes 
haben,   die  auch  andere  Völker  erfanden    oder  erfinden  konnten. 

Das  ist  eben  der  Schlüssel  für  die  Beantwortung  der  Frage 


1  Bibliographie  jetzt  bei  Chauvin  Bd.  VIII  (1904)  Syntipas,  bes.  33  f. 

2  Buch  I  =  Jätaka  349;  Buch  II  =  Jätaka  306;  Buch  III  =  Jätaka 
270;  Buch  IV  =  Jätaka  208  (vgl.  57.  224.  342). 

3  Die  Rahmenerzählung  von  Tausendundeiner  Nacht  ist  wohl  auch  in 
Indien  entstanden.  Jedenfalls  begegnet  ihr  Hauptmotiv  schon  frühzeitig 
in  der  indischen  Literatur,  und  die  Auffassung  der  Frauen,  die  daraus 
spricht,  ist  durchaus  buddhistisch.  Der  Inhalt  ist  im  Indischen  etwa  der: 
Zwei  Männer,  empört  über  die  Untreue  ihrer  Frauen,  ziehen  in  die  Welt 
und  sehen  abends  einen  Drachen,  der  aus  seinem  Innern  eine  Frau  heraus- 
holt, er  ergötzt  sich  mit  ihr  und  schläft  dann  ein.  Sie  bemerkt  die  Frem- 
den, die  sich  versteckt  hatten,  verlockt  sie  zum  Beischlaf  und  zeigt  ihnen 
an  Ringen,  die  sie  besitzt,  dafs  sie  den  Drachen,  der  bei  ihr,  die  er  in 
sich  aufbewahrte,  jede  Untreue  ausgeschlossen  wähnte,  schon  hundertmal 
betrog.  Jätaka  4:56;  Somadeva  X,  63  (Tawney  II,  79),  X,  64  (Tawney 
II,  9:-5;  dort  seltsam  mit  der  Geschichte  vom  Meisterdieb  verbunden); 
Chauvin  V,  190.  VIII,  59.  —  Man  vergleiche  auch  Ariost,  Rasender  Roland, 
28.  Gesang. 


282  Zur  Entstehung  des  MärchenB. 

nach  dem  Einflui's  der  indischen  Märchen :  diese  Märchen  haben 
genau  die  gleiche  Herkunft  wie  die  der  anderen  Völker  auch, 
nirgends  aber  sind  diese  Motive  mit  solchem  Geschick  erfafst, 
nirgends  alle  nur  möglichen  Wirkungen  so  erkannt,  nirgends  sind 
sie  so  märchenhaft  gesteigert  und  vervielfältigt  wie  in  Indien. 
Dadurch  wurden  diese  Märchen  zu  so  einzigartigen  Gebilden, 
deren  Zauber  sich  die  ganze  Welt  nicht  entziehen  konnte. 

Aber  es  bedarf  noch  mancher  Beispiele,  bis  diese  Behaup- 
tung einleuchtend  und  überzeugend  bewiesen  ist. 

II.  Zauber-  und  Verblendungsmärchen.  Ich  führe 
nun  einige  Märchen  mit  Zauberei,  Spiegelung  und  ähnlichen  Mo- 
tiven vor:  die  ersten  zeigen,  dafs  die  Inder  aus  allgemeinen  und 
auch  sonst  verwerteten  Motiven  Märchen  schufen,  die  uns  als 
etwas  ganz  Neues  überraschen,  die  späteren,  dafs  gerade  die  in 
Indien  emporgehobenen  Märchen  nach  Europa  wanderten. 

Wir  greifen  zuerst  wieder  auf  Bekanntes  zurück.  Viele  Völker 
kennen,  wie  wir  erfahren,  das  Motiv  vom  Zauberschlaf  (vgl.  oben 
Archiv  CXIII,  253):  die  Inder  erzählen  es  märchenhafter,  zauber- 
schöner und  zugleich  tiefer  als  alle  anderen:  nur  der  Leib  eines 
Mädchens  weilt  auf  dieser  Erde,  ihre  Seele  schläft  in  einem 
fremden,  goldenen  Wunderland,  und  sie  darf  nur  dem  gehören, 
der  in  dies  Wunderland  eindringt.  —  Und:  die  goldene  Pracht 
des  Paradieses  stellen  auch  die  Märchen  anderer  Völker  weh- 
mütig und  resigniert  der  dürftigen  Armut  dieser  Erde  gegenüber 
—  in  keinem  Märchen  aber  erscheint  der  Gegensatz  so  unmittel- 
bar, so  demütigend  und  so  hoffnungslos  wie  im  indischen:  nach 
langer  Wanderung,  nach  kaum  überwindlicher  Mühsal  erkämpft 
sich  der  Märchenheld  den  Eingang  zum  Paradies,  und  in  einem 
Augenblick  wird  er  vom  Himmel  auf  die  Erde  herabgeschleudert. ' 

Schon  primitive  Völker  und  die  alten  Kulturvölker  erst  recht 
hatten,  wie  wir  bemerkten,  an  Zauberstückchen  ihre  Freude:  ein 
Zauberer  täuscht  etwa  einem  Mädchen  einen  reiisenden  Strom 
vor,  sie  hebt  die  Röcke  ganz  in  die  Höhe  und  sieht  unter  dem 
Gelächter  der  Anwesenden  zu  ihrer  Beschämung,  dafs  sie  einen 
kleinen  Bach,  der  ihr  kaum  die  Füfse  netzte,  für  den  ungeheuren 
Strom  gehalten.2 

Die  jüdische  Sage  erzählt  ein  sehr  ähnliches  Motiv,  aber 
nicht  als  Zauberstück,  sondern  als  Sinnestäuschung:  König  Salomo 
hat  in  seinem  Palast  einen  kristallenen  Fufsboden;  als  die  Köni- 
gin von  Saba  kommt  und  diesen  sieht,  hebt  sie  die  Röcke  hoch 

1  Vgl.  von  der  Leven,  Indische  Märchen  187  f. ;  Benfey,  Pantschatantra 
I,   L52. 

2  Vgl.  oben  Archiv  CXIII,  266,  wo  auch  über  die  Herkuuft  des  .Mo- 
tivs, ausserdem  Voretzsch,  Epische  Studien  264;  [Liebrecht,  Zur  Volks- 
feinde 115. 


Zur  Entstehung  des  Märchens.  283 

in  die  Höhe,  in  der  Meinung,  es  sei  Wasser,  und  zeigt  dabei 
ihre  Beine.  Salomo  hatte  die  Herrscherin  absichtlich  getäuscht, 
um  zu  erfahren,  ob  sie  dämonischer  Abkunft  sei  und  tierische 
Beine  habe.1 

Im  Indischen  erscheint  das  gleiche  Motiv  mehrfach  variiert. 
Die  Cukasaptati  (textus  simplicior  60)  berichtet  vom  klugen  Hari- 
datta,  dem  ein  anderer  Fürst  seine  Prunkhalle  zeigte;  als  er  die 
von  mannigfachen  Edelsteinen  funkelnde  Halle  erblickte,  konnte 
er  nicht  unterscheiden,  ob  sie  aus  Wasser  oder  fester  Masse  be- 
stehe, da  warf  er  eine  Betelnufs  hin,  erkannte,  dafs  es  kein 
Wasser  war,  und  ging  heim. 

Im  Indischen  und  Jüdischen  ist  die  Sinnestäuschung  das 
Hauptmotiv,  die  Königin  von  Saba  unterliegt  ihr,  der  kluge  in- 
dische Minister  beugt  ihr  vor. 

Auch  nach  der  entgegengesetzten  Richtung  haben  die  Inder 
das  gleiche  Motiv  gesteigert.  Im  Mahäbhärata  hat  der  König 
Judhishthira  einen  kristallenen,  mit  lotosgleichen  Edelsteinen  be- 
deckten Estrich,  den  hält  Durjodhana  für  einen  Wasserteich  und 
zieht  seine  Kleider  in  die  Höhe,  nachher  hält  er  einen  wirklichen 
Teich  für  einen  künstlichen  und  fällt  hinein. 

Die  Inder  verdoppeln  hier  die  Sinnestäuschung  und  erhöhen 
dadurch  ihre  Komik.  Denn  der  Getäuschte,  der  zum  Schlufs 
wirklich  ins  Wasser  fällt,  gerade  darum,  weil  er  die  erste  Be- 
schämung vermeiden  will,  wirkt  viel  komischer  als  der,  der  nur 
einmal  begreiflicherweise  einen  Kristallboden  für  Wasser  gehalten 
hat.  Dieser  Kristallboden  scheint  im  Indischen  einem  Teich  da- 
durch noch  ähnlicher,  dafs  ihn  Edelsteine  bedecken,  die  den 
Lotosblumen  im  Teiche  gleichen. 

Da  nun  nur  im  Indischen  und  Jüdischen  der  Kristallboden 
und  die  Sinnestäuschung  statt  der  Verzauberung  begegnen,  liegt 
die  Annahme  nahe,  dafs  die  jüdischen  und  indischen  Versionen 
unmittelbar  zusammenhängen.  Wer  der  Gebende  war,  ob  Juden 
oder  Inder,  läfst  sich  kaum  feststellen.  Jedenfalls  haben  die 
Inder  dies  Spiegelungsmotiv  vielfältiger  zur  Geltung  gebracht, 
sie  haben  es  auch  zu  einer  Reihe  anderer,  lustiger  und  tief- 
sinniger Geschichten  ausgesponnen.2 

1  Wilhelm  Hertz,  Rätsel  der  Königin  von  Saba  (Gesammelte  Abhand- 
lungen S.  421  f.  427  Anm.  2). 

2  Ich  erwähne  hier  die  folgenden :  Cukasaptati,  textus  omatior  50 : 
Eine  Stiefmutter  mifshandelt  ihren  Stiefsohn.  Dieser,  um  sich  zu  rächen, 
sagt  dem  Vater:  ich  habe  einen  zweiten  Vater.  Der  glaubt  der  Verleum- 
dung und  mifshandelt  nun  die  Frau;  sie  ahnt  die  Hache  ihres  Stiefsohnes 
und  verspricht  ihm  feierlich  die  beste  Behandlung,  wenn  er  den  Vater 
versöhne;  da  zeigt  der  Sohn  dem  Vater  dessen  Bild  im  Spiegel:  das  ist 
mein  zweiter  Vater,  sagt  er.  Und  nun  leben  alle  drei  im  Frieden.  —  Zu 
vergleichen  wäre  damit  die  Geschichte  Cukasaptati.  t.  s.  28,  t.  o.  37  (s.  Lieb- 
recht, Zair  Volkskunde  135 ;  Chauvin  VIII,  98) :  Eine  Frau  geuiefst  ihren  Lieb- 


284  Zur  Entstehung  des  Märchens. 

Uns  allen  ist  ein  Spiegelungsmotiv  ans  einer  wunderhübschen 
griechischen  Fabel  bekannt:  ein  Hund  trägt  ein  Stück  Fleisch  im 
Maul,  sieht,  wie  sich  dasselbe  Fleisch  im  Wasser  spiegelt,  hält 
es  für  ein  anderes,  gröfseres,  und  schnappt  danach,  wobei  ihm 
sein  Fleisch  fortfällt,  so  dafs  er  nun  gar  nichts  hat. ' 

Die  Inder  erzählen  eine  ganz  ähnliche  Fabel  so:  ein  Schakal- 
weibchen mit  einem  Stück  Fleisch  im  Maul  kommt  an  einen 
Flufs,  an  dessen  Ufer  ein  grofser  Fisch  liegt.  Es  legt  das  Fleisch 
fort  und  schnappt  nach  dem  Fisch:  aber  ein  Geier  stürzt  sich 
aus  der  Luft  herab  und  entführt  das  Fleisch,  und  der  Fisch 
taucht  in  das  Wasser  zurück. 

Dem  Inder  war  das  eine  Tier  der  griechischen  Fabel  nicht 
genug,  er  verdreifachte  die  Tierzahl  und  führte  Schakal,  Fisch 
und  Geier  in  die  Fabel  ein:  ein  Tier  des  Landes,  eins  der  Luft 
und  eins  des  Wassers.  Das  indische  Schicksal  bestraft  den  gie- 
rigen Schakal  mit  ausgesuchter  Bosheit:  gerade  die  geringeren 
Tiere,  Geier  und  Fisch,  überlisten  ihn  und  er  ist  doppelt  be- 
trogen, durch  zwei  Ereignisse,  die  er  gar  nicht  erwartet,  und  die 
blitzschnell  gleichzeitig  kommen.  Aber  dies  Raffinement  gehört 
nicht  in  eine  Geschichte,  die  gerade  durch  ihre  Einfachheit  so 
eindringlich  wirkt,  und  durch  dies  Raffinement  verschwand  gerade 
das  Wesentliche  an  ihr,  dafs  der  Hund  ein  wirkliches  Fleisch 
um  eines  gespiegelten  willen  fallen  läfst.  Im  Griechischen  straft 
sich  vor  allem  die  Dummheit,  im  Indischen  die  Gier  des  Tieres: 
es  ist  hier  keineswegs  aus  Zufall  ein  Weibchen.  Und  im  In- 
dischen wird  die  Fabel  noch  weiter  gebildet:  die  tierische  Gier 
wird   mit   der   noch   gröfseren    und   verblendeteren   menschlichen 


haber  unter  einem  Baum,  als  ihr  Mann  sie  ertappt,  lügt  sie,  der  Baum  sei 
verhext,  wer  unter  ihm  liege,  erscheine  doppelt,  und  zwar  habe  er  als  Mann 
immer  eine  Frau  und  als  Frau  einen  Mann  neben  sich  liegen.  Sie  steigt 
zur  Probe  sofort  auf  den  Baum  und  entrüstet  sich  über  den  Mann,  der  in 
den  Armen  einer  anderen  liege:  er  glaubt  ihr  und  ist  versöhnt.  —  Und 
nun  eine  ernsthafte  Geschichte  buddhistischer  Färbung  (Somadeva  XII,  72 ; 
Tawney  II,  182):  Ein  Papagei  klagt  seinem  gestorbenen  Weibchen  nach. 
Buddha,  auch  als  Papagei,  mahnt  ihn,  die  nutzlose  Klage  zu  lassen:  das 
Weibchen  sei  als  anderer  Papagei  wiedergeboren  und  habe  ihn  längst  ver- 
gessen. Er  führt  den  törichten  Vogel  ans  Wasser  und  zeigt  ihm  sein 
Spiegelbild:  das  ist  deine  Frau.  Der  Papagei,  entzückt,  holt  ihr  die 
schönste  Frucht  und  läfst  sie  ins  Wasser  fallen,  tieftraurig  sagt  er  dem 
Buddha:  sie  nahm  sie  nicht.  Ja,  antwortet  er,  du  bist  ihr  eben  gleich- 
gültig. Und  dann  nimmt  er  den  Vogel  mit  sich  und  schaut,  zärtlich  sich 
an  ihn  schmiegend,  mit  ihm  in  ein  anderes  Wasser,  und  nun  überzeugt  sich 
der  Witwer  wirklich,  dafs  sie  ihn  vergessen,  bei  einem  anderen  Trost  ge- 
funden, und  ist  geheilt.  —  Ursprünglich  war  das  gewifs  eine  lustige  Fabel, 
die  die  Dummheit  des  Papageien  verspottete,  durch  den  Buddhismus 
wurde  ein  wunderlich  weiser  Betrug  daraus,  und  die  Anschauung  klingt 
deutlich  hindurch:  die  ganze  Welt  ist  solche  trügerische  Spiegelung. 

>  Pantschatantra  IV,  8;  Jätaka  374;  Benfey  I,  79.  179.  348;  Schiefner 
Ralston,  Tibetan  tales  229. 


Zur  Entstehung  des  Märchens.  285 

verglichen.  Das  ist  ein  echt  buddhistischer  Gedanke.  Eine  Frau 
—  erzählt  das  Pantschatantra  —  stahl  ihrem  Mann  das  Vermögen 
und  ging  mit  einem  Schelm  auf  und  davon.  Sie  kamen  an  einen 
Flufs:  da  sagte  der  Schelm,  er  wolle  erst  das  Geld  und  dann  sie 
hinübertragen,  und  damit  sie  noch  leichter  würde,  solle  sie  ihm 
auch  ihre  Kleider  geben.  Sie  tat  es,  und  er  ging  davon,  so  dafs 
sie  ohne  Geld,  ohne  Kleider  und  ohne  Manu  sitzen  blieb.  In 
diesem  Zustande  sah  sie  das  Schakalweibchen,  das  sich  um  sein 
Fleisch  brachte,  und  glaubte<  das  Tier  verhöhnen  zu  müssen,  das 
aber  den  Hohn  treffender  zurückgab:  ihre,  der  Menschin,  Tor- 
heit sei  noch  viel  gröfser. 

Wir  haben  hier  ein  Beispiel,  dafs  eine  wunderhübsche,  wirk- 
same kleine  Geschichte  durch  die  indische  Erzählungskunst  ent- 
stellt, in  ihrem  Wesen  unkenntlich  gemacht  und  in  etwas  ganz 
anderes  verwandelt  wird:  eben  weil  die  Inder  von  ihrem  Raffine- 
ment und  die  Buddhisten  von  ihrer  Weltanschauung  nicht  lassen 
können,  bringen  sie  beides  in  Fabeln,  die  das  gar  nicht  vertragen. 
Die  Entstellung  zeigt  somit,  unwiderleglicher  noch  als  die  Steige- 
rungen und  Vertiefungen  von  Motiven,  die  wir  kennen  lernten, 
wie  eng  indisches  Raffinement,  indische  Erzählungskunst  und 
indische  Weltanschauung  zusammenhängen. 

Benfey  behauptete  nun,  dafs  die  meisten  indischen  Tierfabeln 
aus  Griechenland  stammten,  während  die  Märchen,  mit  der  Ge- 
schichte von  den  Ohren  des  Midas  als  einziger  Ausnahme,  von 
Indien  aus  durch  die  übrige  Welt  gewandert  seien.  Diese  Schei- 
dung läfst  sich  nicht  aufrechterhalten.  Auf  die  indischen  Fabeln 
kann  ich  hier  nicht  eingehen:  mir  scheint,  dafs  sie  selbständiger 
sind,  als  Benfey  zugab,  die  Untersuchungen  anderer  müssen 
zeigen,  was  an  ihnen  original  war  und  was  stark  genug  zum 
Einflufs  auf  andere  Völker.  Die  indischen  Märchen  aber  sind 
von  denen  anderer  Völker  nicht  so  unabhängig,  wie  Benfey 
meinte,  manche  griechische  Geschichte,  wohl  auch  jüdische  und 
ägyptische,  drangen  in  sie  ein  —  wir  werden  noch  manches  derart 
zu  betrachten  haben  —  und  wurden  weiterentwickelt;  entwickelt 
freilich  durch  eine  Erzählungskunst,  die  aufserhalb  Indiens  nicht 
ihresgleichen  hat.  — ■ 

Ich  komme  nun  noch  einmal  zu  den  Visionen.  Dem  durch 
Haschisch  Berauschten  erscheint  'ein  kleiner  Stein  als  gewaltiger 
Felsblock,  ein  schmales  Rinnsal  als  breiter  Strom'  (vgl.  oben  Archiv 
CXHI,  266).  In  einem  indischen  Märchen  ist  von  einem  Prinzen 
erzählt,  den  ein  Geist  (Räkschasa)  verfolgt.  Als  dieser  ihn  packen 
will,  wirft  er  etwas  Erde  hinter  sich,  es  entsteht  ein  Berg.  Der 
Räkschasa  übersteigt  ihn  und  kommt  dem  Prinzen  wieder  nahe: 
er  wirft  etwas  Wasser  hinter  sich,  es  entsteht  ein  Strom,  der 
Räkschasa  durchschwimmt  ihn;  er  wirft  Dornen  hinter  sich,  es 
entsteht   ein  Wald,   der  Räkschasa   will   ihn   durchschreiten,  da 


286  Zur  Entstehung  des  Märchens. 

wirft  er  Feuer  hinein,  und  vor  dem  gewaltigen  Brande  kehrt 
der  Kiese  um.1 

Diese  Episode  des  indischen  Märchens  hat  die  Eigentümlich- 
keiten der  indischen  Erzählungskunst:  das  gleiche  Motiv,  vierfach 
variiert  und  vierfach  gesteigert,  und  es  bleibt  nicht  ein  Erzäh- 
lungsmotiv, es  greift  rettend  und  helfend  in  die  Handlung  ein: 
im  Moment,  in  dem  wir  den  Verfolgten  verloren  glauben,  wirft 
er  Erde,  Wasser,  Dornen  und  Feuer  hinter  sich,  und  zu  unserer 
staunenden  Überraschung  vergröTsern  sich  und  wachsen  diese  un- 
scheinbaren Dinge  ins  unendliche,  bis  auch  der  Geist  mit  über- 
irdischen Kräften  vor  ihnen  umkehrt. 

Die  gleiche  Verfolgungsgeschichte  —  natürlich  variieren  die 
zurückgeworfenen  Gegenstände  —  erscheint  auch  als  Episode  in 
vielen  aufseriudischen  Märchen;  freilich  nirgends  so  klar  und  an- 
schaulich erzählt  wie  im  indischen  selbst.  Da  nun  die  Entwicke- 
lung  dieser  Episode  aus  dem  einfachen  Motiv  durchaus  der  Ent- 
wicklung entspricht,  die  wir  bei  den  auf  Indien  beschränkten  Mär- 
chen beobachteten,  haben  wir  hier  ein  sehr  augenfälliges  Beispiel 
von  dem  Einflufs  und  der  Wirksamkeit  eines  indischen  Märchens. 2 

Der  Zauberer  ist,  wie  ich  vielleicht  schon  zu  oft  betonte, 
bei  allen  Völkern  charakterisiert  durch  seine  unbegrenzte  Ver- 
wandelungsfähigkeit.  Er  kann  jede  Gestalt  annehmen,  die  er  an- 
nehmen will,  er  kann  etwa  als  Vogel  und  Fliege,  als  Fuchs  und 
als  Stier,  als  Gerstenkorn  und  als  Ring,  auch  als  Mensch,3  er 
kann  zu  ungeheurer  Gröfse  anschwellen  und  zu  unbemerkbarer 
Winzigkeit  zusammenschrumpfen.  Aus  diesem  Glauben  haben 
sich  märchenhafte  Geschichten  früh  entwickelt.  Von  Zeus  er- 
zählten die  Griechen,  er  habe  eine  Zauberin  Metis,  die  verschie- 
dene Gestalten  annehmen  konnte,  verschluckt,  als  sie  in  eine 
Fliege  sich  verwandelte.4  Dieser  Geschichte  steht  sehr  nahe  die 
uns  durch  den  gestiefelten  Kater  bekannte:  der  gestiefelte  Kater 
bittet  einen  mächtigen  Zauberer,  er  solle  sich  doch  in  eine  Maus 
verwandeln,  der  Zauberer  erfüllt  die  Bitte,  der  Kater  stürzt  auf 
die  Maus  zu  und  verschluckt  sie.3 


1  Somadeva  VII,  39;  vgl.  Hertel,  Bunte  Geschichten  101  ff. 

2  Vgl.  Eeinhold  Köhler  I,  173.  175;  Cosquin  Nr.  32;  Benfey,  Göttinger 
Gelehrte  Anzeige»,   1862,  1220  f. 

3  Man  vergleiche  die  Geschichten,  in  denen  ein  Zauberer  die  Gestalt 
eines  anderen,  der  verreist  ist,  annimmt,  bis  er  schliefslich  entlarvt  wird. 
Die  abwechselungsreichste  und  überraschendste  dieser  Geschichten  entstand 
auch  in  Indien  und  hat  sich  von  dort  aus  verbreitet;  siehe  oben  Archiv 
CXI V,  1  Anm.  4 ;  dazu  Lescallier,  Trotte  enchante  130  f. ;  Chauvin  VIII,  157. 

4  Vgl.  Andrew  Lang,  Myth,  Ritual  and  Religion  1,  314.  Bei  Saxo 
Grammaticus  kann  die  Zauberin  Harthgrepa  alle  Gestalten  annehmen 
(I,  21  ed.  Holder  S.  37). 

5  Vgl.  Reinhold  Köhler:  zu  Laura  Gonzenbach  Nr.  65  (Zs.  des  Vereins 
für  Volkskunde  6,  165);  Kieme  Schriften  I,  28.  371.  416.  558;   Archiv  für 


Zur  Entstehung  des  Märchens.  287 

Die  Inder  kannten  solche  Geschichten  auch,  und  am  hüb- 
schesten ist  eine  dieser  Art  und  indischer  Herkunft  in  Tausend- 
undeiner Nacht  erzählt:  Ein  Fischer  fand  einen  in  einer  Flasche 
verschlossenen  Geist  und  befreite  ihn  aus  seiner  Haft.  Da  ver- 
wandelte sich  der  Geist  sofort  in  ein  fürchterliches  Ungeheuer 
und  rief  dem  Befreier  zu,  er  müsse  ihn  nun  morden.  Doch  jener 
antwortete,  er  glaube  nicht,  dafs  dies  Ungeheuer,  was  der  Geist 
nun  sei,  vorher  in  der  kleinen  Flasche  habe  Platz  finden  können, 
und  bat  ihn,  er  möge  doch  wieder  zurückkriechen:  der  Geist, 
stolz  auf  seine  Kunst,  erfüllte  die  Bitte,  der  Fischer  verschlofs 
sofort  die  Flasche  und  warf  den  Geist  ins  Meer  zurück.1 

Dies  indische  Märchen  unterscheidet  sich  von  den  euro- 
päischen, insofern  wir  bei  ihm  erleben,  wie  der  Geist  zuerst  ohn- 
mächtig ist,  dann  überwältigend  und  toddrohend  anschwillt  und 
zum  Schlufs  infolge  seiner  törichten  Eitelkeit  sich  wieder  in  seine 
frühere  Ohnmacht  zurückbringt.  Aufserdem  triumphiert  im  In- 
dischen ein  Mensch,  kein  Tier  mit  übernatürlichen  Kräften  und 
kein  Gott,  über  den  Geist. 

Die  Geschichte  in  Indien  ist  also  sinnenfälliger,  im  Aufbau 
symmetrischer,  wir  sehen  den  jähen  Übergang  von  Ohnmacht 
zur  Übermacht  und  zur  Ohnmacht  zurück,  und  die  Geschichte 
ist  im  Inhalt  freier,  im  menschlichen  Sinne  reicher  als  die  euro- 
päischen Parallelen.  Darum  hat  sie  sich  auch  in  der  ganzen 
Welt  durchgesetzt  und  lebt  bei  vielen  Völkern,  auch  bei  den 
Deutschen,  als  Volksmärchen.  Sie  gelaugte  namentlich  durch 
die  Vermittelung  der  Araber  nach  dem  Abendlande.  — 

Zauberer  liebten  es,  ihre  Künste  im  Wettkampfe  zu  erproben 
und  zu  vergleichen,  davon  erzählten  die  Völker  gern,  denn  solche 
Wettkämpfe  enthielten  gleich  mehrere  Zauberstücke  und  -geschien- 
ten auf  einmal.  Aus  dem  alten  Ägypten  sind  uns  Geschichten  von 
Zauberwettkämpfen  erhalten,  und  an  den  mit  diesen  verwandten 
Rätselwettkämpfen  hatten  die  Dichter  der  Edda  die  gleiche  Freude 
wie  die  des  Orients.'2  Es  wurden  auch  Verwandlungswettkämpfe 
erzählt:  alte  Mythen,  aus  dem  Veda  und  der  Edda,  melden  als 
kühne  Tat  eines  Gottes,  dafs  er,  in  einen  Vogel  verwandelt, 
einen  Trank  raubte,  und  dafs  der  Besitzer  des  Trankes,  auch  als 
Vogel,  ihn  verfolgte.3 

Die  Inder  haben  ein  Märchen,  darin  verfolgen  sich  zwei 
Zauberer   und  messen  sich  gleichzeitig  in  einem  Verwandlungs- 


slaw.  Philologie  VII,  314;  Cosquin  I,  xxxii;  ders.,  Les  contes  populaires  et 
leur  origine,  1895,  S.  23;  Wünsche,  Sagenkreis  vom  geprellten  Teufel,  1905,  97. 

1  Vgl.  oben  Archiv   CXIII,  267  und  die  dort  angegebene  Literatur. 
Dazu  Chauvin  VI,  25  Anna.  3. 

2  Vgl.  von  der  Leyen,  Märchen  in  Edda  51;   ß.  Köhler  III,  365  f. 

3  Kuhn,  Herabkunft  des  Feuers2  138;   von  der  Leyen,  Germanist.  Ab- 
handlungen für  Paul  147  f.;  Usener,  Götternamen  (1895)  204  Anm.  1. 


288  Zur  Entstehung  des  Märchens. 

wettkampf,  aber  in  einem  Kampf  auf  Leben  und  Tod.  Beide 
verfolgen  sich  zuerst  als  Vögel,  der  Verfolgte  wird  zum  Ring 
an  der  Hand  einer  Königstochter,  der  Verfolger,  in  einen  Mann 
verwandelt,  kauft  ihn  der  Königstochter  ab,  der  Ring  verwandelt 
sich  in  Gerstenkörner,  der  Mann  in  einen  Hahn,  der  die  Gersten- 
körner auffrifst,  das  letzte  Gerstenkorn  in  einen  Fuchs,  der  den 
Hahn  totbeifst.  Schlag  auf  Schlag  folgen  sich  die  Verwand- 
lungen, so  dafs  wir  kaum  Atem  holen  können;  eine  Verwand- 
lung ist  überraschender  als  die  andere,  und  immer  bleiben  der 
Verfolgende  und  der  Verfolgte  zugleich  in  fortwährend  wechseln- 
der Lebensgefahr,  wir  wissen  bis  zum  Schlufs  nicht,  wer  Sieger 
bleibt,  und  endlich  siegt  gerade  der  Verfolgte,  von  dem  wir 
dachten,  dafs  er  doch  unterliegen  würde. 

Kein  anderes  Volk  hat  einen  Verwandlungskampf  so  auf- 
regend, mit  dieser  Fülle  von  Überraschungen  und  in  diesem 
überstürzenden  Tempo  erzählt  wie  die  Inder.  Wir  erkennen  — 
und  damit  beweist  sich,  dafs  dies  Märchen  nur  in  Indien  ent- 
standen sein  kann  —  auch  sofort  die  Eigentümlichkeiten  ihrer 
Erzählungskunst:  Vervielfältigung  eines  alten  Motivs,  dies  Motiv, 
der  Verwandlungsvvettkampf,  wird  gesteigert  zu  einem  Kampf 
auf  Leben  und  Tod,  und  die  Spannung  bleibt  während  des 
ganzen  Märchens  die  gleiche.  Dies  Märchen  ist  nun  wieder  sieg- 
reich durch  die  ganze  Welt  gezogen,  in  Einzelheiten  abweichend, 
im  grofsen  und  ganzen  das  gleiche,  kehrt  es  fast  bei  allen  euro- 
päischen Völkern  wieder,  von  der  Türkei  bis  zur  Bretagne  und 
bis  zum  hohen  Norwegen.1 

Die  echt  indischen  Eigentümlichkeiten  des  Märchens  werden 
recht  anschaulich,  wenn  man  es  mit  einem  anderen  verwandten 
Inhalts  vergleicht,  das  sich  auch  weit  verbreitet  hat,  mit  dem 
Märchen  vom  Riesen  ohne  Seele.  Dessen  Seele  ist  meist  'ein- 
geschachtelt' —  in  einem  Ei,  dies  in  einem  Vogel,  der  in  einem 
Widder.  Der  Held,  der  den  Riesen  besiegen  soll,  hat  dies  Ge- 
heimnis erfahren,  und  mit  Hilfe  dankbarer  Tiere  bemächtigt  er 
sich  der  Seele:  ein  Hund  besiegt  ihm  den  Widder,  ein  Habicht 
die  auffliegende  Ente,  ein  Fisch  holt  das  aus  dieser  herabfallende 
Ei  aus  dem  Wasser;  er  zerdrückt  es  und  tötet  dadurch  den 
Riesen.  Das  Märchen  entsprang,  wie  schon  dargelegt  wurde  (oben 
Archiv  CXV,  8  Anm.  2),  aus  uralten  Vorstellungen  von  der  Seele, 
diese  Vorstellungen  wurden  ineinander  geschachtelt.  Die  Vor- 
gänge entwickeln  sich  hier  nun  langsam,  einer  nach  dem  anderen, 
man  möchte  fast  sagen  programmäfsig,  wir  sind  gar  nicht  im 
Zweifel,  dafs  der  Held  die  Seele  des  Riesen  endlich  packt,  und 
von   dessen  Qual  und  Angst   hören    wir   gar  nichts    oder    wenig, 


1  Clouston,  Populär  Tales  and  Fietions  1,413;  Benfey  I,  410;  R.  Köhler 
I,  138. 


Zur  Entstehung  des  Märchens.  289 

je  nach  der  wechselnden  Begabung  der  Erzähler;  denn  weit  von 
dem  Riesen  wird  seine  Seele  gefangen  und  vernichtet,  er  selbst 
ist  eigentlich  gar  nicht  dabei.  Die  ganze  Lebendigkeit,  die  atem- 
lose Spannung  und  die  überschnelle  Steigerung1  des  indischen 
Märchens  fehlt  hier.2 


1  Ein  ähnliches  überstürzend  rasches  Tempo  hat  die  indische  Ge- 
schichte von  den  Honigtropfen  im  Siddhapati,  vgl.  Chauvin  VIII,  41  f.: 
Tropfen  von  Honig,  den  ein  Jäger  gefunden,  fallen  bei  einem  Bäcker  auf 
die  Erde,  Mücken  setzen  sich  auf  den  Honig,  die  Katze  des  Bäckers  stürzt 
sich  auf  die  Mücken,  der  Hund  des  Jägers  auf  die  Katze,  tötet  sie,  der 
Bäcker  tötet  den  Hund,  der  Jäger  entzweit  sich  mit  dem  Bäcker,  die 
Dörfer  der  beiden  bekriegen  sich. 

2  Dies  Märchen  begegnet  auch  in  modernen  indischen  Sammlungen, 
und  diese  erhöhen  die  Spannung  sofort:  die  Seele  ist  etwa  in  einem  Vogel, 
dem  langsam  Federn,  Flügel,  Füfse  ausgerissen  werden,  bis  er  stirbt,  und 
der  Riese  verliert  zu  gleicher  Zeit  unter  gröfsten  Qualen  eins  seiner  Glieder 
nach  dem  anderen  (Frazer2  III,  353  f.).  Von  diesen  modernen  indischen 
Märchen  möchte  ich  bemerken,  dafs  sich  ja  manchmal  wertvolles  und 
seltenes  Erzählungsgut  unter  ihnen  verbirgt  —  ich  erinnere  etwa  an 
Landes,  Cordes  et  Legendes  Anamites,  Paris  et  Saigon  1884 — 86,  und  an 
Minayeff  (Minaef),  Indnskia  Skaslci  y  Legendy,  Petersburg  1877  — ,  sehr 
viele  aber  —  man  lese  nur  die  Sammlungen  von  Frere  Old  Deccan  Days, 
London  1868,  und  Steel  and  Temple,  Wide-aivake  stories,  Bombay  1884  — 
enthalten  Märchen  europäischer  Herkunft,  die  durch  Missionare  und  Euro- 
päer nach  Indien  getragen  sind.  Ihr  ganzer  Stil,  ihre  Breite,  der  kind- 
liche Ton  der  Erzählung  ist  von  den  alten  indischen  Märchen  grund- 
verschieden. Wenn  also  frühere  Forscher  —  ich  nenne  etwa  Reinhold 
Spiller,  Programm  der  1  hur  gauischen  Kantonschule  1892/93,  dazu  Vogt, 
Dornröschen-Thalia  (Germanist.  Abhandlungen  XII,  195)  —  bei  europäischen 
Märchen,  die  nicht  in  alten  indischen  Sammlungen  erschienen,  dem  Mär- 
chen von  Dornröschen  und  Schneewittchen  etwa,  aus  solchen  modernen 
indischen  Märchenbüchern  Parallelen  aufbrachten,  diese  ohne  weiteres  für 
die  ältesten  Formen  der  Märchen  erklärten  und  aus  ihnen  die  europäischen 
herleiteten,  so  war  dies  sehr  verkehrt:  die  indischen  Formen  sind  hier  die 
abgeleiteten,  die  europäischen  die  ursprünglichen.  —  Der  ausgezeichnetste 
Kenner  des  modernen  indischen  Märchens,  der  darin  zugleich  höchst  inter- 
essante Varianten  zu  alten  indischen  Geschichten  entdeckte,  und  dem 
Sammlungen  zugänglich  wurden,  die  aufser  ihm,  soviel  ich  weils,  nie- 
mandem zugänglich  sind,  ist  Emanuel  Cosquin.  Man  vergleiche  auch 
dessen  Angaben  über  Märchensammlungen  aus  Asien  und  Afrika  in  Les 
contes  populaires  et  leur  origine,  Paris  1895,  15  und  15  Anm.  1. 

München.  Friedrich  von  der  Leyen. 

(Portsetzung  folgt.) 


ArchiT  f.  n.  Sprachen.    CXV.  19 


Wielands  'Metamorphose'  in  seiner  eigenen  Beurteilung. 


Eine  Metamorphose  nennt  Wieland  selbst  mit  kühner  Er- 
weiterung des  Begriffes  die  geistige  Wandlung,  die  ihn  zum 
Dichter  des  'Don  Sylvio'  und  der  'Comischen  Erzählungen'  ge- 
macht hat,1  und  deutet  damit  an,  wie  grofs  auch  in  seinen 
Augen  die  Veränderung  ist,  die  mit  ihm  vorgegangen :  er  ist  ge- 
wissermafsen  eine  andere  Person  geworden.  'Non  surrt  qualis  eram' 
ruft  er  mit  Horaz  aus,2  und  wiederholt  klingen  briefliche  Schilde- 
rungen des  Gegensatzes  zwischen  einst  und  jetzt  in  ein  'Voilä 
bien  du  changement !'  aus.3  Es  ist  ihm  wohl  bewufst,  dafs  auch 
seine  Leser  denselben  Eindruck  haben  müssen.  Selbst  sein  da- 
maliger Intimus  Zimmermann  gesteht  in  einem  Schreiben  an 
Tscharner i :  'son  Systeme  present  est  le  rebours  de  son  Systeme  passe.' 

Auch  die  Vorwürfe  und  Anfeindungen,  die  ein  so  tiefgehen- 
der Wechsel  der  ganzen  Lebensanschauung  zu  erregen  pflegt, 
kommen  Wieland  nicht  unerwartet,  und  im  Hinblick  auf  sie  wird 
es  ihm  schwer,  Farbe  zu  bekennen.  Wenn  Zimmermann  in  seinem 
Buche  'Von  der  Erfahrung  in  der  Arzneykunst'  (I,  211)  schreibt: 
'Einem  Arzte  . . .  soll  es  ebenso  wenig  schwer  fallen,  der  Welt  zu 
gestehen,  dafs  er  im  Irrthum  war,  als  es  izt  einem  Wieland  schwer 
fiele,  zu  gestehen,  dafs  er  den  Horaz  dem  Plato,  den  Chaulieu 
dem  Young  .  . .  vorzieht/  so  steht  das  in  direktem  Widerspruch 
zu  dem,  was  ihm  der  Freund  selbst  kurz  zuvor  geklagt  hatte: 
'Je  ne  sens,  que  trop,  combien  il  est  difficile  et  presque  impossible  de 
rentrer  de  bonne  grace  dans  ce  bas-monde,  apres  avoir  debute  par  des 
voyages  dans  l'autre.'^  Der  'Don  Sylvio'  geht  ohne  den  Namen 
des  Verfassers  in  die  Welt,  und  Gefsner  und  Zimmermann  gegen- 
über begründet  Wieland  diese  Vorsicht  mit  dem  drohenden  Spotte 
des  Publikums.6  Zimmermann  mufs  sich  wegen  seiner  öffent- 
lichen Anspielung  den  Vorwurf  der  'Waschhaftigkeit'  gefallen 
lassen.    'Sie  haben  nicht  bedacht,  dafs  der  Schaden,  den  Sie  mir 


1  Ausgeiu.  Briefe  II,  195.       2  Ebenda  194.      3  Ebenda  I  270,  II  195. 

4  Briefe  von  Zimmermann,  Wieland  und  Haller  an  Iseharner,   1881, 
S.  52;  vgl.  a.  Ausw.  denkw.  Briefe  W.s  I  31. 

5  Ausgew.  Br.  II  195  f.      6  Ebenda  223,  Ausw.  denkw.  Br.  I  5. 


Wielands  'Metamorphose'  in  seiner  eigenen  Beurteilung.  291 

durch  eine  solche  Etourderie  zuziehen  können,  gröfser  ist  als  der 
nützliche  Gebrauch,  den  Sie  etwa  in  Ihrem  Buche  von  dergleichen 
Factis  machen  können'  fügt  Wieland  etwas  gereizt  hinzu.1  Er 
straft  den  'Schwatzer',  indem  er  ihm  den  'Endymion'  vorenthält, 
um  weitere  Indiskretionen  zu  vermeiden.  Nichtsdestoweniger 
lesen  wir  in  einem  kurz  darauf  geschriebenen  Briefe  an  Gefsner: 
'Ich  hasse  alle  Gleisnerey,  und  sobald  ich  anders  denke  als  ehe- 
mals, so  scheue  ich  mich  auch  nicht,  es  zu  sagen/2 

Zwar  klagt  Wieland  bald  nach  Erscheinen  des  'Don  Silvio', 
man  solle  doch  endlich  aufhören,  ihn  auf  Grund  seiner  litera- 
rischen Vergangenheit  mit  besonderem  Mafsstabe  zu  messen,3 
aber  alle  Angriffe  hindern  ihn  nicht,  die  'Cornischen  Erzählungen' 
ans  Licht  treten  zu  lassen,  auch  nicht  das  Bewufstsein,  Ol  damit 
ins  Feuer  zu  giefsen.4  Die  Kritik  äufsert  sich  seiner  Erwartung 
gemäfs  anerkennend,  aber  doch  befremdet  und  nicht  frei  von 
Sticheleien.  Eine  rühmliche  Ausnahme  macht  Abbt,  der  in  der 
Allgemeinen  deutschen  Bibliothek  (I,  2,  227)  die  Erklärung  der  Me- 
tamorphose der  Nachwelt  überläfst  und  schlicht  und  vornehm 
sich  begnügt,  'schön  zu  finden,  was  schön  ist,  es  mag  herkommen 
von  wem  es  will.' 

Die  geteilte  Aufnahme,  die  'Musarion'  findet,  veranlafst  Wie- 
land schliefslich  doch  noch  zu  einem  öffentlichen  Bekenntnis, 
das  er  in  Form  eines  Schreibens  an  Weifse  der  zweiten  Auflage 
voranschickt.  Er  anerkennt  die  Philosophie  der  Grazien,  die  am 
Schlüsse  der  Dichtung  so  genial  erklärt  wird,  als  seine  eigenste 
Lebensauffassung  und  betont,  wie  begreiflich  ihm  selbst  die  Ent- 
rüstung der  'modernen  Sophisten  und  Hierophanten'  sei.  Diese 
verächtliche  Bezeichnung  wird  in  der  Hamburgischen  neuen  Zei- 
tung von  Gerstenberg  zurückgewiesen,  dem  der  Tadel  der  Ma- 
jorität durchaus  berechtigt  erscheint.3  Noch  in  den  siebziger 
Jahren  des  Jahrhunderts  hält  der  Widerspruch  an,  zumal  von 
Seiten  der  Theologen.  Aber  auch  da  noch  zeigt  Wieland  sich 
frei  von  Einseitigkeit,  wie  ein  Brief  an  F.  H.  Jacobi6  beweist: 
'Ich  verdenke  es  diesen  Herrn  nicht,  dafs  sie  so  urteilen;  es  war 
eine  Zeit,  da  ich  ebenso  dachte  wie  Sie.'  Stets  tröstet  er  sich 
damit,  dafs  die  'Vernünftigen',  die  'Weisen'7  verstehen  werden, 
dafs  sein  Abfall  von  den  Idealen  der  Jugend  erfolgt  ist,  'sans 
que  ce  qui  constitue  le  vrai  merite  d'un  homme  de  bien  en  ait  souffert 
la  moindre  alter ation,'*  und  dafs  nur  den  'schwachen  und  guten 
Seelen',  den  'petites  ä?nes'9  —  sei  ihre  Zahl  auch  noch  so  grofs  — 

1  Ausgew.  Br.  II  226.  2  Ausw.  denkw.  Br.  I  10.  3  Ausgew.  Br. 
II  244.      4   Ebenda  249  f. 

:'  Literatur  denk  male  des  18.  u.  19.  Jahrh.  128,  S.  236. 
ü  Neue  Br.   W.s,  hrsg.  v.  Hassencamp,  1894,  S.  262. 
7  Ausgew.  Br.  I  365,  366.      8  Ebenda  II  195. 
9  Ebenda  25U  u.  196. 

19* 


292  Wielandß  'Metamorphose'  in  seiner  eigenen  Beurteilung. 

der  Zusammenhang  dunkel  bleiben  mufs,  der  den  Dienst  der 
Grazien   mit  der  platonischen  Schwärmerei  von   einst  verbindet. 

Denn  dafs  ein  solcher  Zusammenhang  besteht,  würde  nach 
Wielands  Überzeugung J  eine  chronologische  Darstellung  der  Ent- 
stehungsgeschichte seiner  Werke  unwiderleglich  dartun.  Eine 
kurze  Skizzierung  dieser  Entwicklung  in  Heinses  Briefen ä  be- 
ruht vielleicht  auf  eigenen  Aufserungen  Wielands,  mit  dem  Heinse 
damals  in  Erfurt  verkehrte.  —  Zur  Bekräftigung  seiner  Ansicht 
weist  Wieland  darauf  hin,  welch  starke  Kontraste  in  Piatos 
Werken  zutage  träten,  ohne  dafs  man  ihm  je  einen  Vorwurf 
daraus  gemacht  habe. 

Damit  stimmt  es  überein,  wenn  der  Dichter  daran  festhält, 
dafs  der  Prozefs  in  seinem  Innern  ein  allmählicher  gewesen  sei, 
so  plötzlich  und  unvermittelt  er  auch  dem  Publikum  habe  vor- 
kommen müssen.  'Natürlich  und  gradatim'  ist  es  damit  zuge- 
gangen, wie  er  später  an  Leonh.  Meister  schreibt,3  oder,  nach 
einer  Schilderung  aus  dem  Ende  der  fünfziger  Jahre,  'par  des 
degres  presque  imperceptibles.' 4  Andeutungen,  die  eine  genauere 
Festlegung  der  Übergangszeit  zu  ermöglichen  scheinen,  begegnen 
in  den  Briefen  des  öfteren,  aber  sie  harmonieren  leider  recht 
wenig.  Während  es  im  März  1758  einmal  helfst:  'Je  eommence 
de  plus  en  plus  ä  me  familiariser  avee  les  gens  de  ce  bas-monde,' 5 
wird  im  April  des  gleichen  Jahres  diese  Rückkehr  zum  Irdischen 
bereits  als  beendet  dargestellt.6  Vier  Jahre  später  liegt  sie  weit 
zurück.7  1764  soll  der  'Abfall  von  der  platonischen  Partei'  'vor 
einigen  Jahren'  erfolgt  sein,8  während  eine  andere,  ziemlich 
gleichzeitige  Stelle  um  volle  acht  Jahre  zurückweist.9  Ein  Brief 
an  Gefsner  von  1766 10  führt  wieder  an  die  Wende  der  Jahre 
1757  und  1758.  Diese  Datierung  der  entscheidenden  Wendung 
ist  also  die  wahrscheinlichste.  Freilich,  wenn  Wieland  den  'Cyrus' 
und  'Araspes  und  Panthea'  die  ersten  Früchte  der  Wiederher- 
stellung seiner  Seele  nennt,11  so  fügt  er  mit  Recht  hinzu:  'In- 
dessen konnte  es  nicht  anders  seyn,  als  dafs  damahls  alles  noch 
sehr  idealisch  in  meinem  Kopfe  war';  denn  das  erste  Werk,  in 
dem  er  sich  wirklich  völlig  losgerissen  hat  von  den  Traditionen 
der  Jugend,  ist  doch  ohne  Zweifel  erst  der  'Don  Sylvio'. 

Der  Übergang  erstreckt  sich  also  auf  mehrere  Jahre,  und 
demgemäfs  blickt  der  Priester  der  Grazien  bereits  in  manchem 
seraphischen  Hymnus  durch,  ebenso  wie  später  die  Glut  der 
einstigen  Schwärmerei  noch  ab  und  zu  leise  aufflackert.  —  Schon 
1757  pariert  Uz  die  Angriffe  unseres  Dichters  gewandt  durch 
den   Hinweis   darauf,   dafs  'der  heilige  Wieland   selbst  zuweilen 

1  Ebenda  368.  2  Werke  (Inselverlag)  9,  34  f.  3  Ausgew.  Br.  III 
385.  4  Ebenda  I  270.  5  Ebenda  I  259.  u  Ebenda  I  270.  7  Ebenda 
I  194.  8  Ausw.  denkw.  Br.  I  9.  9  Ebenda  10.  w  Ebenda  47.  u  Ausgew. 
Br.  III  385. 


Wielands  'Metamorphose'  in  seiner  eigenen  Beurteilung.  293 

schalkhaft  schildere'  und  fuhrt  ein  schlagendes  Beispiel  aus  den 
'Briefen  von  Verstorbenen'  an,1    und  die  Kritik  greift  das  begierig 
auf.2     Wieland  selbst   nimmt   an,   dafs   schärfer  sehende  Geister 
lauge  voraus  wissen  mufsten,  welchen  Weg  er  einmal  gehen  würde. 
'Pour  vous  et  vos  semblables  vous  avez  sans  doute  devine  et  prevu  tont 
cela  de  longue  main,    et  vous  en  serez  aussi  peu  surpris  que  moi' 
schreibt  er    1762  an  Zimmermann3  und   ein   andermal'4   malt   er 
sich  die  Freude  aus,  die  'die  Utze,  die  Lessinge  und  die  Nicolai' 
bei  der  Lektüre   des  'Parisurteils'  über  die  Erfüllung  ihrer  Pro- 
phezeiungen haben  würden.     Rückschauend    auf  seine  früheren 
Jünglingsjahre    spricht  er  einmal   von   dem   'Kampf   der   sinn- 
lichen Liebe  mit  dem  überspanntesten  Piatonismus'.3     Wie  weit 
zurück  er  die  Grundlagen   seiner  späteren  Denkart  verlegt,  geht 
auch  aus  solchen  Aufserungen  hervor,  in  denen  von  einer  'Rück- 
kehr' zu  seinem  ursprünglichen  Wesen  die  Rede  ist.    Wir  haben 
schon  von  einer  'Wiederherstellung  seiner  Seele  in  ihre  natürliche 
Lage'  gehört.6     Ganz  ähnlich    drückt   ein  Brief  an  Zimmermann 
es  aus  mit  den  Worten   'ce  retablissement  dans  ma  forme  naturelle' 
und  'je  me  trouve  tout  naturellement  au  point  d'oü  je  suis  parti  il  y 
a  dix  ans.'7     Scharf  weist  aber  Wieland  stets  den  naheliegenden 
Verdacht   zurück,   dafs   seine  religiös- sittliche  Begeisterung   nur 
Heuchelei  gewesen   sei.     Interessant  in   dieser  Hinsicht  ist    die 
Gegenüberstellung  des  jungen  und  des  gereiften  Wieland  in  Mo- 
sers Schrift  'Über  die  deutsche  Sprache  und  Literatur'  1781  (Werke 
9,  149).    Er  findet  etwas  Unwahres  in  den  Erstlingswerken.    Die 
Sprache  scheint  ihm  mehr  Empfindung  zum  Ausdruck  zu  bringen, 
als  wirklich  in  dem  Dichter  wohnt,  während   sie  später   für   die 
Fülle  der  wahren  Empfindung  zu  eng  ist.  —  Wie  ein  Schleier 
fällt,  nach  Wielands   eigenen  Worten,8  der   Pietismus   von   ihm 
ab;   seine  wahre,   ursprüngliche   Gestalt  kommt  zum  Vor- 
schein.   'Die  Natur  tritt  wieder  in  ihr  Recht  ein'  urteilt  Gersten- 
berg, und  ein  anderer  Kritiker  findet,  dafs  der  Dichter  erst  jetzt 
in  seinem  eigentlichen  Elemente  sei. 

Dem  allmählichen  Auftauchen  der  wahren  Physiognomie 
folgt  ein  wenn  auch  nicht  ebenso  langsames,  so  doch  auch  länger 
zu  verfolgendes  Verschwinden  der  letzten  unechten  Züge.  Diese 
Zeit  hat  Goethe  wohl  im  Auge,  wenn  er  in  'Dichtung  und  Wahr- 
heit' sagt:  'Er  warf  sich  auf  die  Seite  des  Wirklichen  und  gefiel 
sich  und  andern  im  Widerstreit  beider  Welten,'9  und  in  dem- 


1  In  dem  'Schreiben  des  Verf.  d.  Lyr.  Gedichte  an  einen  Freund'. 

-  Biblioth.  d.  schätzen  Wissenschaft.  I  2,  425.  3  Ausgew.  Br.  II  19t>. 
*  Ebenda  249  f.       5  Böttiger,  <IÄt.  Zustände'  I  218. 

,;  Vgl.  auch  W.s  Briefe  an  Sophie  v.  La  Roche,  hrsg.  v.  Hörn  1820, 
S.  58  ('gueri'),  und  Teutscher  Merkur  1774,  I  312. 

7  Ausgew.  Br.  II  195,  194.  8  Ebenda  I  365.  9.  Werke  (Weimarer 
Ausg.)  27,  90. 


294  Wielands  'Metamorphose'  in  seiner  eigenen  Beurteilung. 

selben  Sinne  schreibt  Heinse  1771  an  Glenn:1  *Die  Ideen  vom 
geprüften  Abraham,  den  Briefen  der  Verstorbenen  und  der  Hymne 
auf  die  Erlösung  liegen  noch  immer  natürlicher  Weise  zugrunde 
in  dem  Kopfe  des  göttlichsten  Mannes/  Auch  Gerstenberg  glaubt 
zeitweilige  Rückfälle  in  die  'Enthusiastereien'  der  Jugend  bei 
Wieland  bemerkt  zu  haben  (a.  a.  O.  390).  Mehr  scherzhaft  ge- 
meint ist  dagegen  Wielands  Geständnis:  'feprouve  que  je  nie  suis 
flatte  trop  tot  d'etre  gueri-  de  Venthousiasme'  in  einem  undatierten 
Briefe,  der  vermutlich  ins  Jahr  1765  gehört.-  Immerhin  haben 
wir  selbst  aus  seinen  alten  Tagen  Beispiele  von  merkwürdigen 
übertriebenen  Gefühlsausbrüchen,  die  an  die  Exaltation  des  Jüng- 
lings gemahnen.3  —  In  diesem  Zusammenhang  sei  schliefslich 
noch  erwähnt,  dafs  Wieland  bei  jeder  Gelegenheit  hervorhebt, 
seine  Auffassung  der  Moral  habe  sich  durchaus  nicht  wesentlich 
geändert/  eine  Selbsttäuschung,  die  ebenfalls  zu  den  letzten 
Spuren  des  inneren  Kampfes  gerechnet  werden  mufs. 

Piatonismus  ist  das  Schlagwort,  mit  dem  Wieland  am  lieb- 
sten den  Zustand  seiner  Seele  in  den  Jünglingsjahren  bezeichnet 
(bes.  Äusgeiv.  Br.  I  261  f.,  II  241,  242,  Böttiger  a.  a.  O.,  I  174). 
Plato  beherrscht  ihn  in  dieser  Zeit  ganz.  'Je  ne  vais  plus  instruire 
les  jeunes  filles  dans  les  mysteres  de  la  philosophie  de  Piaton'  heifst 
es  in  einem  Briefe  aus  der  Übergangsperiode5  und  wieder:  'Piaton 
a  fait  place  ä  Horace.,&  Bald  nennt  er  sich  'revenu  des  reveries  de 
Platon,"7  bald  redet  er  von  einem  Verlassen  der  'platonischen 
Parthey'  oder  von  der  'platonischen  Schwärmerey'  von  einst.8 
Im  'Anti-Cato'  (Teutscher  Merkur  1773,  III  110  f.)  wird  die  Ent- 
wickelung  eines  Menschen  wiedergegeben,  dessen  Jugend  'im  Arm 
der  Weisheit  und  der  Tugend  in  edleren  Übungen  verfliefst/ 
Auch  hier,  wo  offenbar  eine  Selbstschilderung  vorliegt,  ist  Plato 
der  Lehrer  des  jungen  Weisen.  In  Gerstenbergs  mehrfach  zi- 
tierter Analyse  der  dichterischen  Persönlichkeit  Wielands  (a.  a. 
O.  389)  wird  ebenfalls  betont,  dafs  die  'ansteckende  schwärme- 
rische Beredsamkeit'  Piatos  ihm  verhängnisvoll  geworden  sei.  — 
Aber  nicht  nur  sein  Denken,  auch  sein  Fühlen  steht  Jahre  hin- 
durch unter  der  Einwirkung  des  Griechen.  Er  gibt  selbst  zu, 
ein  typisches  Beispiel  eines  platonischen  Liebhabers  gewesen  zu 
sein.9 

Neben  Plato  hat  der  junge  Wieland  natürlich  noch  andere 
Vorbilder  und  Führer.  Am  besten  unterrichtet  darüber  die  schon 
erwähnte  Stelle  des  'Anti-Cato'.     Einen  Sokrates,  einen  Epiktet, 


1  Werke  (Inselverl.)  9,  34.      2  Br.  an  Sophie  La  Boche  58. 

3  Böttiger  a.  a.  O.  I  197 ;    Ausw.  denkw.  Br.  II  109,  vgl.  a.  106  oben. 

4  Z.  B.  Ausiv.  denkw.  Br.  1  7.     Ausgew.  Br.  II  224,  241  u.  262  f. 

ä  Ebenda  I  270.  u  Ebenda  II  194  f.  7  Ebenda  II  224.  8  Ausw. 
denkw.  Br.  I  9,  vgl.  auch  Ausgeiv.  Br.  II  262,  III  385.  9  Ausw.  denkw. 
Br.  I  198. 


Wielands  'Metamorphose'  in  seiner  eigenen  Beurteilung.  295 

Plutarch  und  Xenophon  verehrt  er  als  die  Weisesten  der  Weisen, 
Phocion,  Tirnoleon,  Diotima  sind  seine  sittlichen  Ideale.  Von 
Zeitgenossen  und  Vertretern  der  näheren  Vergangenheit  ist  in 
erster  Linie  der  Mentor  Bodmer  zu  nennen;  bezeichnet  sich  doch 
Wieland  selbst  als  Bödmeten ! 1  Auch  als  Anhänger  Youngs 
bekennt  er  sich  häufig,  und  er  preist  gern  die  Dichtungen  der 
Elizabeth  Rowe.  Shaftesbury  darf  hier  ebenfalls  nicht  fehlen.  — 
Bald  aber  hören  wir  andere  Namen  erklingen.  Young  macht 
Chaulien  Platz,  und  der  einst  geschmähte  Uz  kommt  zu  Ehren.2 
'Je  pense  sur  le  Christianisme  comme  Montesquieu  sur  son  lit  de  mort; 
sur  la  fausse  sagesse  des  esprits  sectaires  et  les  fausses  vertus  des  fri- 
pons  comme  Luden:  sur  la  morale  speculative  comme  Helvetius,  sur 
la  metaphysique  —  rien  du  tout;  eile  n'est  pour  moi  qu'un  objet  de 
plaisanterie.'  So  lautet  ein  Bekenntnis  aus  dem  Jahre  1764.3 
Bemerkenswert  ist,  dafs  auch  Gerstenberg  (a.  a.  O.  S.  389)  von 
einem  Übergang   'von  Plato  zum  Buffon  oder  Helvetius'  spricht. 

Am  liebsten  bezeichnet  Wieland  diesen  Übergang  als  ein 
'Herabsteigen'  aus  höheren  Regionen  in  die  irdische  Wirklichkeit.4 
Denselben  Ausdruck  adoptiert  dann  Zimmermann  in  einem  Briefe 
an  Nicolai  (bei  Bodemann,  'Zimmermann'  S.  293).  Die  Flüge  in 
ätherische  Räume  erscheinen  dem  reifer  gewordenen  Dichter  als 
Verirrungen  und  Abenteuer,  die  er  durch  seine  Jugend  und  durch 
Mangel  an  Erfahrung  erklärt.3  Er  nennt  sie  'puerile  Extra- 
vaganzen' und  'moralische  Don  Quixotterien',  und  mit  den  Worten 
'Man  kann  nicht  immer  ein  Knabe  seyn'  emanzipiert  er  sich  von 
dem  Zwange  einer  ungesunden  Moral.6  Das  Vorleben  der  mensch- 
lichen Seele,  die  seraphischeu  Wesen  und  vieles  andere  sind  ihm 
Chimären  geworden.7  Nicht  von  ihm,  sondern  von  einem  acht- 
zehnjährigen Schwärmer,  von  einem  'jungen  Gelbschnabel'  sei  Uz 
beleidigt  worden,  heifst  es  in  Briefen  an  Riedel,8  und  diese  Aufse- 
rung  zeigt  von  neuem,  warum  Wieland  bei  anderer  Gelegenheit 
nach  dem  Worte  'Metamorphose'  griff. 

Seine  Jugend  werke  verwirft  der  umgewandelte  Dichter 
ebenso  rücksichtslos  wie  seine  Jugend  i  d  e  a  1  e.  Er  nennt  sich 
selbst  einen  'strengen  Vater  gegen  seine  ersten  Kinder'.9  Bod- 
mer und  Schinz  gegenüber  ist  er  freilich  sorglich  bemüht,  jeden 
Verdacht,  als  ob  er  sich  dieser  Erstlinge  schäme,  zu  entkräften.10 
Ein   solcher  Verdacht  —   der  völlig  berechtigt  war,   wie  andere 


1  Ausgeiv.  Br.  I  365.      2:Ebenda  II  250.     Ausw.  denkw.  Br.  I  9. 

3  Ausgew.  Br.  II  241. 

4  Ausgew,  Br.  I  368  (vgl.  315  u.  'Cyrus'  S.  VI),  II  195,  250,  III  385, 
auch  I  '270,  II  227,  I  259,  II  195,  leutscher  Merkur  1773,  III  111. 

5  Ausgeiv.  Br.  I  261,  315,  366,  'Idris'  6  f. 

6  Ausw.  denkw.  Br.  I  9  u.  10,  Ausgew.  Br.  Li.  244.    7  Ebenda  II  241. 
*  Ausw.  denkw.  Br.  I  196,  211.      9  Ausgew   Br.  I  368,  vgl.  auch  III 

315.      10  Ebenda  II  92. 


29(J  Wielands  'Metamorphose'  in  seiner  eigenen  Beurteilung. 

Aufserungen  Wielands  beweisen  *  —  war  besonders  durch  die 
Vorrede  zum  'Cyrus'  geweckt  worden.  Scbinz  soll  sich  nun  sein 
Urteil  nicht  nach  dieser  'eilfertigen'  Vorrede  bilden,  sondern  die 
Diskurse  zu  der  Sammlung  der  'Poetischen  Schriften'  abwarten. 
Wie  wenig  diese  geeignet  waren,  Schinzens  Vermutung  zu  wider- 
legen, mögen  Wielands  eigene  Worte  in  der  Einleitung  zum 
'Idris'  (S.  6  f.)  zeigen:  'Dafs  ich  dieser  Gefahr  (nämlich  der 
Selbstüberschätzung)  glücklich  entgangen  sey,  beweisen  die  Ur- 
theile,  die  ich  selbst  über  meine  jugendlichen  Poesien  in  der 
neuen  Auflage,  so  im  Jahr  1762  zu  Zürich  davon  gemacht  wurde, 
gefällt  habe,  und,  wie  ich  hoffe,  meine  neuern  Versuche/  —  Die 
Verdammung  der  Jugendschriften  wechselt  ab  mit  der  schon  er- 
wähnten Betonung  des  historischen  Zusammenhanges  der  ge- 
samten Produktion. 

Wieland  gibt  uns  auch  über  die  Hauptfaktoren  selbst  Aus- 
kunft, die  nach  seiner  Ansicht  zusammengewirkt  haben,  um  einen 
neuen  Menschen  aus  ihm  zu  machen.  'Ce  qui  a  le  plus  contribue,' 
schreibt  er  1762  an  Zimmermann,  'ä  operer  ou  plütot  [sie!]  ä  achever 
entierement  cette  Metamorphose  . . .  c'etoit  principalement  la  suite  de 
desastres,  de  peines,  et  de  miseres  qui  m'a  poursuivi  depuis  mon  re- 
tour dans  ma  patrie."1  Derselbe  Sinn  liegt  in  den  Worten:  J'ai 
appris  par  une  longue  experience  de  privations,  de  peines,  de  soucis  et 
de  chagrins  ce  que  vaut  le  plaisir.' 3  Freilich,  diese  trüben  Erfah- 
rungen fallen  bereits  in  die  Biberacher  Zeit  und  haben,  wie  Wie- 
land selbst  zum  Ausdruck  bringt,  das  Werk  nur  zu  Ende  ge- 
bracht. Die  Übersiedelung  nach  dem  durch  Konfessionsstreitig- 
keiten bewegten  Biberach  und  die  Übernahme  eines  öffentlichen 
Amtes  hatten  selbst  schon  in  der  gleichen  Richtung  gewirkt. 
Weist  doch  der  Dichter  eigens  darauf  hin,  dafs  sich  die  Hirn- 
gespinste seiner  Jugend  in  seiner  'süfsen  angenehmen  Einsamkeit' 
(in  der  Schweiz)  besonders  üppig  hätten  entwickeln  können.4 
'J'ai  ete  oblige  ou  de  re former  mon  Platonisme,  ou  d 'aller  vivre  dans 
quelque  desert  du  Tyrol/  meint  er  ein  andermal.3  Die  Gesellschaft, 
in  die  er  eigentlich  erst  in  Biberach  eintritt,  zieht  ihn  von  seinen 
Schwärmereien  ab  und  macht  ihn  zu  einem  'angenehmen  Gesell- 
schafter'.6 Seine  Absonderung  von  der  Welt  hatte  ihn  auch  in 
völliger  Unkenntnis  des  Lebens  gelassen.7  So  wird  denn  auch 
der  jugendliche  Träumer  im  'Anti-Cato'  als  gänzlich  unerfahren 
geschildert.8  Wie  aus  einem  Briefe  an  Leonhard  Meister  von 
1787  hervorgeht,  sind  es  besonders  Graf  Stadion  und  La  Roche 
gewesen,  die  als  Weltmänner  'unendlich  viel  zur  Erweiterung 
und  Berichtigung    der  Welt-   und    Menschenkenntnis'    Wielands 

1  Ausw.  denkw.  Br.  I  9  u.  178,  vgl.  auch  Gerstenbergs  'Rezensionen', 
S.  139.  2  Ausgew.  Br.  II  195.  3  Ebenda  223,  vgl.  250.  4  Ebenda  195. 
5  Ebenda  241.  6  Ausw.  denkw.  Br.  I  200,  vergl.  allerdings  ebenda  37. 
7  Ebenda  47.      8  leuischer  Merkur  1773,  III  111,  112. 


Wielands  'Metamorphose'  in  seiner  eigenen  Beurteilung.  297 

und  dadurch  zu  der  'Revolution  in  seiner  Seele'  beigetragen 
haben.1  —  Noch  ein  anderes  Moment  darf  nicht  übersehen 
werden:  der  Einflufs  der  Frauen.  'Durch  das,  was  man  Erfah- 
rung nennt,  durch  Begegnisse  an  Welt  und  Weibern'  wurden 
ihm  die  ätherischen  Regionen  verleidet,  lesen  wir  in  'Dichtung 
und  Wahrheit'.2  Zwar  hatte  das  weibliche  Geschlecht  auch  vor- 
her schon  eine  wichtige  Rolle  in  Wielands  Entwickelung  gespielt, 
aber  damals  hatte  sich  diese  Einwirkung  nach  einer  ganz  anderen 
Richtung  geltend  gemacht,  nämlich  gerade  nach  der  Seite  der 
Weltflucht  und  Phantasterei.3 

Wenn  auch  ein  Autor  nicht  immer  ein  einwandsfreier  Be- 
urteiler seiner  selbst  sein  kann,  so  sollten  doch  seine  Selbst- 
beobachtungen stets  die  Grundlage  der  literarhistorischen  For- 
schung bilden;  denn  gar  vieles  muls  er  besser  wissen,  als  es  der 
scharfsinnigste  Kritiker  und  Psycholog  zu  erkennen  imstande  ist. 


1  Ausgew.  Br.  III  386.    2  Werke  (Weimarer  Ausg.)  27,  90.    3  Ausgeiv. 
Br.  I  287,  Ausw.  denkte.  Br.  1  198,  Br.  an  Sophie  La  Roche  332. 

Bonn.  Julius  Steinberger. 


Die  Burghsche  Cato -Paraphrase. 


Abgesehen  von  den  Hauptwerken  Langlands,  Richard  Rolles, 
Chancers  und  Gowers  hat  kein  anderes  mittelenglisches  Werk 
eine  solche  Verbreitung  gefunden  wie  des  Magister  Benedict 
Burgh  Bearbeitung  der  Disticha  Catonis.  Mag  daher  die  dichte- 
rische Bedeutung  dieser  nüchternen,  langatmigen  und  unbehol- 
fenen Reimerei  noch  so  gering  sein,  die  englische  Literatur-  und 
Sprachgeschichte  wird  nicht  umhin  können,  auch  diesem  Werke 
ihre  Aufmerksamkeit  zuzuwenden  als  dem  typischsten  Repräsen- 
tanten des  literarischen  und  sprachlichen  Niveaus  des  15.  Jahr- 
hunderts. Aus  diesem  Grunde  will  ich  den  Fachgenossen  den 
kritischen  Text  dieses  Denkmales,  den  ich  seit  über  neun  Jahren 
im  Pulte  ruhen  habe,  nicht  länger  vorenthalten,  zumal  ich  die 
wichtigsten  damit  verknüpften  literarischen  Fragen  bereits  1898 
in  meinem  Aufsatze  'Über  Benedict  Burghs  Leben  und  Werke' 
(Archiv  Bd.  CI,  S.  29 — 64)  besprochen  habe.  Auf  diese  Arbeit 
mufs  ich  den  Leser  vorläufig  für  alle  Einzelheiten  verweisen.  Es 
sei  hier  daraus  nur  wiederholt,  dafs  die  vorliegende  Cato -Para- 
phrase in  sieben  zeiligen  Chaucer-Strophen  wahrscheinlich  zwischen 
1433  und  1440  für  seinen  damaligen  Schüler  William  Bourchier, 
ältesten  Sohn  des  ersten  Grafen  Essex,  von  Magister  Benedict 
Burgh  verfafst  ist,  der,  um  1413  geboren,  seit  1433  als  magister 
grammaticae  (?)  in  Oxford  Sprachunterricht  erteilte,  dann  durch 
die  Familie  Bourchier  nacheinander  die  Pfarrpfründen  von  Mal- 
don (?  ca.  1438-40),  Sandon  (6.  Juli  1440  bis  24.  Sept.  1444) 
und  Sible  Hedingham  (19.  Okt.  1450  bis  1476)  —  sämtlich  in 
Essex  —  erhielt  und  schliefslich  als  Archidiakon  von  Colchester 
(10.  Febr.  1466  bis  1483),  nachdem  ihm  auch  noch  eine  könig- 
liche Präbende  zu  Bridgnorth  (11.  April  1470),  ein  Kanonikat 
an  St.  PauFs  zu  London  (23.  Febr.  1472)  sowie  eine  reiche  Stifts- 
stelle an  St.  Stephan  in  Westminster  (8.  Juni  1476)  übertragen 
waren,  am  13.  Juli  1483  gestorben  ist. 

Die  uns  beschäftigende  Cato -Version  ist,  soweit  mir  be- 
kannt, ganz  oder  fragmentarisch  in  folgenden  25  Handschriften 
und  4  alten  Drucken  auf  uns  gekommen:1 

1  Sämtliche  Handschriften,  P  und  Q  ausgenommen,  sowie  der  erste 
!  »ruck  Caxtons  und  der  Coplands  liegen  mir  in  Abschriften  oder  Kol- 
lationen vor,  au>  denen  ich  gern  Interessenten  über  etwaige  Varianten 
Mitteilungen  machen  werde.  In  meiner  Gesamtausgabe  der  mittelenglischen 
Cato -Versionen  werdeich  natürlich  den  ganzen  Variantenapparat  bringen. 


Die  Burghsche  Cato-Paraphrase.  299 

a)  Handschriften:1 

London,  Brit.  Mus.,  Ms.  Harleian  116,  fol.  98a—  124a 
„        „       „  „        172,  fol.  52»-71* 

„        „       „  „        271,fol.26a-44'> 

„        „       „  „      2251,*  fol.  169a- 178» 

„        „       „  „      4733,  fol.  3a- 30a 

„        „       „  „      7333,  fol.  25a  -  30a 

„  „         „       „  Arundel  168,  fol.  7  a  —  14a 

„  „        „       „Additional34193,fol.204a— 223a 

London,  im  Besitz  des  Herrn  Alfred  H.  Huth,  Huth  Ms. 

Nr.  7,  fol.  113a— 134a 
Oxford,  Bodleian  Library,   Ms.  Rawlinson  C.  48,    fol. 

84a— lllb 
„  „  „  „     Rawlinson  F.  32,3  fol. 

3a  —  29b 
„  „  ..  „    Rawlinson  F.  35,4  fol. 

la_  17b 

Cambridge,  University  Library,  Ms.  Ee.  IV.  31,  fol. 

7a— 24a 
Ms.  Ff.  IV.   9,  fol. 
86b— 106a 
Ms.  Hh.  IV.  12,  fol. 
la  — 31a 
Cambridge,  Magdalen  College,  Pepys  Ms.  2006, 5  pag. 

211—224 
Cambridge,  Jesus   College,   Ms.  56   (früher  Q.  r.  8), 

fol.  78  b  —  92  b 
Manchester,  Chetham  Library,  Ms.  8009,  fol.  49 a  —  75 a 
York,  Hs.  des  Rev.  Canon  J.  Raine  (jetzt  im  Besitz 

seiner  Witwe),  fol.  la—  34 b 
Durham,  Bishop  Cosin's  Library,  Ms.  V.  2.  14, 6  fol. 

69a  —  92a 
Glasgow,  Hunterian  Museum,  Ms.  U.  IV.  17  (früher 
Q.  4.  58),  fol.  la  —  25 b 

1  Einzelne  versprengte  Strophen  werden  sich  vermutlich  auch  sonst 
noch  in  Handschriften  vorfinden.  So  steht  z.  B.  Str.  CXI  im  Add.  Ms. 
29  729  auf  fol.  288 b  (von  Stowes  Hand). 

2  Hd  bietet  den  Cato  nur  bis  V.  613,  da  die  folgenden  Lagen,  nach 
Ausweis  der  alten  Paginierung  fol.  184 — 208,  verloren  gegangen  sind. 

3  Eine  sorgfältige  Abschrift  von  F  verdanke  ich  der  unvergleichlichen 
Opferfreudigkeit  von  Prof.  A.  Napier. 

4  Da  in  R  die  erste  Lage  fehlt,  beginnt  die  Handschrift  erst  mit 
V.  427  des  Cato. 

5  Pm  enthält  nur  die  Verse  1—367. 

G  Eine  sehr  genaue  Kollation  von  L)  hat  mir  in  liebenswürdigster  Weise 
Rev.  Canon  W.  Greenwell  hergestellt. 


1) 

Ha 

2) 

Hb 

3) 

Hc 

4) 

Hd 

5) 

He 

6) 

Hf 

7) 

A 

8) 

Ad 

9) 

Ht 

10) 

C 

11) 

F 

12) 

R 

13) 

E 

14) 

Fe 

15) 

H 

16) 

Pm 

17)  Q 

18) 

M 

19) 

Y 

20) 

D 

21) 

G 

800  Die  Burghschc  Cato-Paraphrase. 

22)  P     =  Peniarth    (Merioneth,   Wales),    im    Besitz    des    Herrn 

W.  E.  Wynne,  Peniarth  Ms.  38 

23)  Db  =  Dublin,  Trinity  College,  Ms.  E.  I.  29,  fol.  2a— llb 

24)  Fb   =  Cambridge,   University  Library,   Ms.   Ff.   I.   6,1    fol. 

181a— 185b 

25)  Pc    =  London,  Brit.  Mus.,  Regius  18.  D.  2,2  fol.  207 a  — 209 a. 

b)  Drucke: 

26)  Cx   =  Druck  von  William  Caxton,  erste  Ausgabe, 3  4°,  ohne 

Jahr  und  Ort; 

27)  Cx2  =       „         „  „  n         zweite  Ausgabe,4  4°,  ohne 

Jahr  und  Ort; 

28)  Cx3  =       „         „  „  „         dritte    Ausgabe, s    Folio, 

ohne  Jahr  und  Ort; 

29)  Cp  =       „         „      William  Copland,6  London  1557,  in  klein 

Quart. 

1  Fb  enthält  nur  40  herausgerissene  Strophen  unseres  Cato  und  zwar 
in  folgender  Anordnung :  Strophe  39,  30,  18,  17,  13,  20,  21,  34,  38,  37,  42, 
40,  53,  56,  57,  59,  79,  78,  80,  81,  77,  76,  83,  85,  166,  162,  164,  22,  25,  27, 
31,  32,  91,  93,  94,  96,  100,  101,  102,  104. 

2  Pc  enthält  nur  folgende  23  Strophen:  73,  76,  77,  11,  14,  17,  19,  23, 
38,  56,  m,  70,  8o,  57,  61,  62,  44,  28,  74,  25,  79,  20,  21  (gedruckt  in  Anti- 
quarian  Repository  IV  182—187  und  von  E.  Flügel  in  Anglia  XIV  471—497 ; 
vgl.  Zupitza,  Archiv  XC  296  f.),  mit  denen  laut  Angabe  der  Handschrift 
der  kunstsinnige  fünfte  Graf  Percy  (1478—1527)  die  Wände  eines  Ge- 
maches auf  seinem,  1650  durch  die  Puritaner  zerstörten  Schlosse  Wressle 
am  Humber  hatte  schmücken  lassen.  Vgl.  auch  E.  Barrington  de  Fon- 
blanque,  Annais  of  the  House  of  Percy,  London  1887,  Vol.  I   S.  328. 

3  Cx  ist  mit  Type  2,  also  vor  dem  2.  Februar  1479,  gedruckt.  Das 
einzige  erhaltene  Exemplar  befindet  sich  auf  der  Universitätsbibliothek  zu 
Cambridge  (Signatur:  AB.  8.  48.  2).  Vgl.  W.  Blades,  7 he  Biography  and 
Typoqraphy  of  W.  Caxton  (London  1861—63),  Vol.  II  S.  52—54  und  Plate 
XXXIII. 

4  Ebenfalls  mit  Type  2  gedruckt.  Einziges  Exemplar  im  Besitz  des 
Herzogs  von  Devonshire  zu  Chatsworth  in  Derbyshire.    Blades  II  85. 

5  Vor  1481  gedruckt.  Die  drei  bekannten  Exemplare  befinden  sich 
im  Besitz  des  St.  John's  College  zu  Oxford,  des  Earl  Spencer  zu  Althorp 
in  Northamptonshire  und  des  Herrn  Maurice  Johnson  zu  Spalding  in 
Lincolnshire.     Blades  II  80—82  und  Plate  XXIX. 

6  Der  Titel  des  Coplandschen  Druckes  lautet:  The  Godly  aduertisement 
or  good  counsell  of  the  famous  orator  Isocrates,  intitled  Parcenesis  to  De- 
monicus:  icherto  is  annexed  Cato  in  olde  Englysh  meter  .ANNO  DO. 
M.D.LVII.  Mense  Decemb.,  das  Kolophon :  Imprinted  at  London  in  Flete- 
streate,  at  the  signe  of  the  Rose  Garland,  hy  William  Coplande.  Finished 
the  ßrst  day  of  January.  Anno  M.D.LVHJ.  Das  einzige  mir  bekannte  voll- 
ständige Exemplar  befindet  sich  auf  der  Bodleiana  zu  Oxford  (Signatur: 
J.  18.  Art.  Seid.).  Das  Exemplar  des  Britischen  Museums  (Sign.:  Greu- 
ville  7792)  ist  unvollständig  und  enthält  nur  den  Cato.  Für  den  Nach- 
weis eventueller  weiterer  Exemplare  wäre  ich  sehr  dankbar.  Das  Buch 
wurde  zwischen  19.  Juli  1557  und  19.  Juli  1558  in  das  Register  der  Lon- 
doner Buchhändlergilde  eingetragen,  wo  wir  im  Reg.  A  fol.  24 a  (=  Abefs 


Die  Burghsche  Cato-Paraphrase. 


301 


Die  Handschriften  fallen  fast  sämtlich  noch  in  das  15.  Jahr- 
hundert; nur  Ht  ist  frühestens  um  1500,  Pc  erst  unter  Hein- 
rich VIII.  (1509-47)  geschrieben.  Wenn  man  auf  den  freilich 
trügerischen  Eindruck  der  Altertümlichkeit  der  Schriftzeichen  etwas 
zu  geben  wagt,  so  könnte  man  C  und  F  vielleicht  noch  in  das 
Jahrzehnt  vor  1450  verlegen,  Q  H  Hb  Fb  E  wenig  später,  auch 
Ha  Db  Hd  He  Hf  Pm  R  D  Y  G  M  wohl  noch  in  das  dritte 
Viertel  des  15.  Jahrhunderts. 

Die  Handschriften  und  Drucke  lassen  sich,  wie  ich  später 
eingehend  zeigen   werden,  zu   folgendem   Stammbaum   anordnen, 


v 


<-? 


VfX  I 

*       f\ 
\  \ 


in  welchem  freilich  die  Nebenbeziehungen,1  die  zwischen  meh- 
reren Handschriften  und  Gruppen  bestehen,  nicht  angedeutet 
werden  konnten.  Hb  bietet  einen  stark  überarbeiteten  Text 
und  ist  zweimal  nach  irgendeiner  Handschrift  der  /?- Gruppe 
durchkorrigiert  worden.  Ht  und  Cx  enthalten  einen  Mischtext, 
insofern  als  sie  in  den  Versen  51 — 232  (d.  i.  Anfang  des  Cato 
Maior)  nicht  dem  im  Schema  angedeuteten  Verhältnis  folgen, 
sondern  mit  der  Gruppe  a,  speziell  d  oder  noch  richtiger  der 
Vorlage  von  Hb  zusammengehen:   dies  erklärt  sich   am  einfach- 


Transcript  I  79)  lesen:  To  William  Coplande  to  prynte  this  hohe  Galled  the 
Isocrates  Paranensis  [!]  or  admonysion  to  Demonicus  and  for  his  lycense 
he  geveth  to  the  Iwuse  . . .  [keine  Summe  angegeben ;  dafs  dies  Buch  aber 
niemals  gedruckt  sei,  wie  H.  R.  Tedder  im  Dictionary  of  Nat.  Bioyr.  XII 
174  annimmt,  ist  unrichtig].  Die  Sprache  Burghs  ist  in  dem  Copland- 
schen  Drucke  leicht  modernisiert. 

1  Ich  bemerke  aber  ausdrücklich,  dafs  ich  für  die  Annahme  solcher 
Nebenbeziehungen  stärkere  Beweise  verlange  als  John  Koch  in  seinem 
Aufsatz  über  'Das  Handschriftenverhältnis  in  Chaucers  Parlement  of  foules' 
{Archiv  CXI  64  ff.,  299  ff.,  CXII  46  ff.)-  Wer  den  mittelalterlichen  Schrei- 
bern so  wenig  Selbständigkeit  uud  Nachdenken  zutraut  wie  John  Koch, 
wird  wohl  überall  zu  dem  Resultate  gelangen,  dafs  nahezu  sämtliche 
Handschriften  irgendwie  miteinander  verwandt  sind. 


302  Die  Burghsche  Cato-Paraphrase. 

sten  bei  der  Annahme,  dafs  ihre  Vorlage  x  m  den  genannten 
Versen  nach  einer  zu  $  gehörigen  Handschrift,  durchkorrigiert 
war.  A  hat  starke  Beziehungen  zu  cp.  Fb  gehört,  soweit  die 
wenigen  Strophen  ein  Urteil  zulassen,  in  eine  Gruppe  mit  R. 
Die  Handschrift  Pm  gehört  sicher  zur  Gruppe  ß,  doch  hat  sie 
so  viele  selbständige  Lesarten,  dafs  ich  auf  Grund  des  frag- 
mentarischen Inhaltes  ihr  einen  näheren  Platz  nur  versuchsweise 
anzuweisen  wage.  Die  Anordnung  von  Q  ist  nur  eine  vorläu- 
fige. P  habe  ich  noch  nicht  gesehen,  also  auch  noch  nicht  be- 
rücksichtigen können. 

Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dafs  der  Originalwort- 
laut am  besten  repräsentiert  wird  durch  die  Gruppe  «  und  inner- 
halb dieser  wieder  durch  die  Gruppe  <9\  Die  vier  dazugehörigen 
Handschriften  C  F  H  Q  bieten  indes  sämtlich  einen  so  guten 
Text,  dafs  es  schwer  ist,  zu  entscheiden,  welcher  von  ihnen  der 
Vorzug  zu  geben  ist.  Ich  habe  die  Handschrift  C  zur  Grund- 
lage meines  Textes  gewählt,  weil  sie  vermutlich  die  älteste  ist 
und  auch  wohl  die  geringste  Fehlerzahl  aufweist.  Dabei  habe 
ich  die  Textgestalt  so  konservativ  wie  möglich  gehalten,  so  dafs 
der  unten  folgende  Text  im  wesentlichen  eine  Reproduktion  von 
C  ist,  mit  stillschweigender  Einführung  moderner  Interpunktion, 
Auflösung  der  Abkürzungen  mit  Kursivdruck,  Regelung  der  gro- 
fsen  Anfangsbuchstaben  und  Fortlassung  der  Cäsurpunkte.  Nur 
wo  ein  Vergleich  der  übrigen  Handschriften  lehrt,  dafs  C  nicht 
den  Originalwortlaut  bietet,  habe  ich  diesen  auf  Grund  des  ge- 
samten Variantenmaterials  wiederherzustellen  gesucht.  In  allen 
solchen  Fällen  habe  ich  die  Lesart  von  C  sowie  die  Varianten 
der  übrigen  Handschriften  vollständig  am  Fufse  der  Seite  ver- 
zeichnet und  im  Text  selbst  durch  ein  vorgesetztes  Sternchen 
auf  den  Variantenapparat  verwiesen.  Es  sind  dies  im  ganzen 
236  Fälle:  eine  gewifs  kleine  Zahl  bei  1134  Versen  (nach  Abzug 
des  in  C  fehlenden  Parvus  Cato),  wenn  wir  die  notwendige  Un- 
sicherheit handschriftlicher  Überlieferung,  zumal  beim  Durchgang 
durch  mindestens  drei  Abschriften,  in  Betracht  ziehen;  aber  doch 
eine  hohe  Zahl,  wenn  wir  bedenken,  welch  selten  günstigen  Fall 
wir  vor  uns  haben,  wo  die  handschriftliche  Überlieferung  kaum 
zehn  Jahre  nach  der  Entstehung  des  Originales  einsetzt!  Wenn 
schon  nach  zehn  Jahren  bei  der  vierten  Abschrift  in  wenigstens 
jedem  fünfteD  Verse  sich  ein  Fehler  eingeschlichen  hat,  wessen 
sollen  wir  uns  da  bei  Handschriften  versehen,  die  eine  hundert- 
jährige Überlieferung  durchlaufen  haben?!  Diese  Erfahrung 
mahnt  gewifs  zur  Vorsicht  und  Skepsis  und  ist  ein  Warnungs- 
zeichen für  eine  Wissenschaft,  die  so  viel  mit  späten  Kopien 
und  obendrein  meist  nur  einer  Handschrift  zu  arbeiten  hat. 

Die  dem  eigentlichen  Cato  vorausgehenden  Breves  sententiae 
oder,   wie   sie   im   Mittelalter   heifsen,   der  Parvus   Cato   fehlt  in 


Die  Burghsche  Cato-ParaphraBe.  303 

der  Gruppe  a.  Die  Handschrift  H  bringt  ihn  zwar  am  Ende 
des  Ganzen;  jedoch  ist  ihr  Text  des  Kleinen  Cato  augenschein- 
lich so  nahe  mit  der  Gruppe  y.  verwandt,  dafs  wir  mit  Bestimmt- 
heit annehmen  dürfen,  dafs  H  ihren  Parvus  Cato  erst  nachträg- 
lich aus  y.  oder  einer  mit  dieser  verwandten  Handschrift  hinzu- 
gefügt hat.  Es  mufs  daher  die  Frage  aufgeworfen  werden,  ob 
die  Übersetzung  des  Parvus  Cato  überhaupt  von  Burgh  her- 
rührt. In  der  Holperigkeit  des  Verses,  Nüchternheit  des  Aus- 
drucks und  Ode  des  Inhalts  steht  der  Parvus  Cato  sicher  noch 
eine  Stufe  tiefer  als  der  Burghsche  Hauptteil,  so  dafs  man  ge- 
neigt wäre,  eine  andere  Hand  darin  zu  sehen.  Indes  könnte  man 
diesen  Unterschied  doch  wohl  daraus  erklären,  dafs  die  Breves 
sententiae,  von  denen  7 — 10  jedesmal  zu  einer  Strophe  zusammen- 
gestellt werden  mufsten,  durch  ihre  Vielheit  und  Knappheit  dem 
ungewandten  Übersetzer  noch  gröfsere  Schwierigkeiten  bereiteten 
als  die  Distichen,  so  dafs  ich  nicht  mit  Sicherheit  den  'Kleinen 
Cato'  unserem  Burgh  abzusprechen  wage.  In  meinem  unten  fol- 
genden Texte  habe  ich  daher  den  Parvus  Cato  trotz  der  Un- 
sicherheit über  seine  Echtheit  mitabgedruckt  und  zwar  auf  Grund 
der  Handschrift  H. 

Das  lateinische  Original,  das  in  den  Handschriften  meist 
jeder  Strophe  vorausgeschickt  ist,  habe  ich  nicht  mitabgedruckt. 
Doch  ist  am  linken  Seitenrande  jedesmal  auf  das  entsprechende 
lateinische  Distichon  verwiesen  und  zwar  nach  der  Zählung  der 
Cato-Ausgabe  bei  Baehrens,  Poetae  latini  minores,  Leipzig  1881, 
Vol.  HI  214—235. 

I.  Hh.  IV.  12,  fol.  29v 

Whan  I  aduertyse  in  my  remembrance 
And  see,  how  feele  folk  erre  greuously 
3    In  the  way  of  vertuose  gouernance, 
I  haf  supposyd  in  my  seif,  that  I 
Aught  to  support  and  consell  prudently 
6    Them  to  be  füll  gloriose  in  lyuynge 

And  how  they  shall  hem  seif  to  honowr  brynge. 

II. 

Therfore,  my  *leef  childe,  I  shall  teche  the, 
9  Herkyn  me  well,  the  maner  and  the  gyse 

How  thyn  soule  inward  shall  acqueynted  be 
With  thewys  good  and  vertue  in  all  wyse. 
12  Rede  and  conceyue;  for  he  is  to  dispise, 

That  redyth  aye  and  *wot  not,  what  is  ment. 
Suche  redyng  is  not  elles  but  wynd  dispent. 

III.  II.  fol.  30r 

15    Pray  thy  God  and  prayse  hym  with  all  thyn  hert. 
Fader  and  moder  haf  in  reuerence; 


8  leef  f.  HHfE      13  not  wot  HHf,  noot  l 


30  1  Die  Burghsche  Cato-Paraphrase. 

Love  tbeni  well.     And  be  thow  neuer  to  smert 
18  To  here  niennys  courcsell;  but  kepe  the  tbens, 

Till  thow  be  clepyd.     Be  clene  w/tAout  offence. 

Salue  gladly.    To  hym,  that  is  more  digne 
21    Than  art  thy-self,  thow  sbalt  thy  place  resigne. 

IV. 
Drede  tby  mahter.    Thy  *thynges  loke  thow  kepe. 
Take  hede  to  thy  household.    Loue  aye  thy  wyfe. 
24    Plesaunt  wordys  out  of  thy  mouthe  shall  erepe. 
Be  nat  irouse.    Kepe  thy  behest  as  lyfe. 
Be  tempred  with  wyne  and  not  to  excessiue. 
27    Thy  wyues  word  niake  non  auctorite 

In  folye.     Ölepe  no  more  than  nedyth  the. 

V.  H,  fol.  30T 

In  goodly  bokys  whilome  shalt  thow  rede; 
30  And  that  thow  redyst,  in  thyn  *mynd  it  shytt. 

Styre  no  wyght  to  wrath.    Lye  not,  I  the  rede, 
Do  well  to  good,  and  *that  *wül  eft  be  quytt. 
33  Be  not  wikkyd,  ne  to  the  wykkyd  knytt. 

Stond  in  the  place  of  pletyng  excersise. 

Deme  the  ryght.     Be  counseld  of  the  wyse. 

VI. 
36    Play  with  a  toppe;  the  dyse  loke  thow  eschewe. 
Despise  not  women;  kepe  them  thy  behest. 
Skorne  neuer  wreche;  for  than  thow  shalt  it  rewe. 
39  Couette  no  maraiys  *good.     Spek  few  at  fest. 

Loke  [*]  thy  vengeance  be  *alway  with  the  lest. 
Who  *hath  done  the  good,  *haf  in  remembrance. 
42    Love  euery  wyght,  and  thys  shall  the  avaunce. 

VII.    Lenvoye.  H,  fol. 3lr 

Behold,  iny  maister,  thys  lityll  tretyse, 
What  it  is  füll  of  wytt  and  sapience, 
45     Enforceth  30W  the  mater  to  complise. 

Thynk  it  is  *translate  at  30wr  reuerence. 
Enrolle  it  therfor  in  jowr  aduertence. 
48    *Desyre  *to  know,  what  thys  Catouw  ment. 

Whan  3e  it  rede,  lat  not  jowr  hert  be  thens. 
Doth  as  thys  saith  with  all  jowr  hoole  entent. 
Explicit  liber  parui  Catonis 

I.  1  VIII.  Kawl.  C.  48,  fol.  84r 

51     For  why  that  God  is  inwardli  the  witte 

Off  man  and  yeueth  hym  vndirstondyng, 
*As  ditees  seith,  therfore  shalt  thou  vnshitte 
54  Thyn  *herte  to  thyn  souereyn  lord  and  kyng. 

Pryncipalli  *a-boue  alle  othir  thyng, 
Yeuyng  hym  laude,  honour  and  reuerence, 
57    Whiche  hathe  endued  the  with  excellence. 


22  thyng  H  Ha  Hc  x  30  mynd]  hert  HHfE  32  that  will]  thow  shalt  H 
39  goodes  H  40  loke  aye  H  [  ay  H  Hf  41  Who  so  ha}  HHfE  \  haf  it  H  v  Hd 
46  traiulatyd  HvAu  48  Desyreth  HrHfFc  ||  to]  for  H,  for  to  Av  53  .4*] 
And  r      54  hert  C      55  a  bauen  C  He 


Die  Burghsche  Cato- Paraphrase.  305 

1. 2  IX. 

A-wake,  my  childe,  and  love  no  *slogardye; 
In  muche  sleep  look  thou  neuer  delite, 
60    Yiff  thou  purpose  [_*]  to  worship  for  to  stye. 

Long  sleep  and  slouthe  to  vices  men  excite; 
It  makith  dulle,  it  makith  vnparfite; 
63    It  fostreth  vp  the  filthes  of  the  flessch; 
It  palith  eek  and  wastith  bloodis  fressch. 

1.3  X. 

Trist  weel  also:  the  first  of  vertuys  alle 
66  Is  to  be  stille  and  keep  thi  tonge  in  mewe. 

Off  tunge  vnteied  *  muche  härme  may  falle. 
And,  leve  me  weel,  this  is  as  gospell  trewe: 
69  Who  can  delaviauwce  of  woord  eschewe 

And  reste  with  resoura,  this  is  verray  text, 

To  God  a-bove  that  man  is  aldir-next. 

I.  4  XI.  fol.  84* 

72    Auyse  the  weel,  that  thou  neuer  trauerse 

Thi  owne  sentence;  for  theroff  risethe  shame. 
Sey  nat  oon  and  eft  the  contrary  reherse. 
75  Such  repugnaunce  wille  make  thy  worship  lame, 

Wher  stedefastnesse  wil  cause  the  good  fame. 
For  he  shal  neuer  accorde  with  man  on  lyue, 
78    That  with  hymsilfe  will  ay  repugne  and  stryve 

i.  5  XII. 

Yiff  thou  aduertise  and  behold  a-boute 
The  liffe  of  men  and  ther  maners  also, 
81    Both  of  thi  silf  and  othir  the  withoute, 

In  myddilerthe  thou  shalt  *nat  fynden,  who 
That  in  summe  parti  ne  is  to  vertu  */b. 
84    Blame  no  man  therfore,  iff  thou  do  a-riht; 
Sith  on  erth  lakles  lyueth  ther  no  wiht. 

I.  6  XIII. 

Yiff  thou  suppose  thynges  shall  noye  and  greeue, 
87  Thouh  thei  be  der  and  of  riht  grete  apprise, 

Such  as  suffreth  nat  thi  profette  acheeue, 
Yiff  thou  list  be  reuled  as  the  wise, 
90  Absteyne  the  from  suich  thynges  in  all  wise; 

For  it  is  more  wisdom  in  sothfastnesse 
To  pioferr  profette  than  such  richesse. 

I.  7  XIV.  fol.  85^ 

93    It  is  a  good  lessourc  for  the  nones 

A  *w*ht  now  to  be  tempred  with  corastauwce 
And  to  be  glad  and  mery  eft-soones, 
96  Nat  alwey  sad  ne  liht  of  contenaunce. 

A  mannys  cheer  may  hym  fui  oft  avauwce; 
For  att  eche  tyme,  as  the  thyng  requyrith, 
99    So  the  wiseman  viseageth  and  cheenth. 


58  slogardrye  CvHd     60  the  to  r  a,  ye  to  Q     67   mvch  C     82  nat  FAy>]  f.  d. 
übr.      83  fo]  so  r  E,  fro  v     94  toht  C 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    CXV.  20 


806  Die  Burghsche  Cato-Paraphraae. 

1. 8  XV. 

Yiff  nat  credence  alwey  to  thy  wiffe, 
That  for  hir  ire  and  hir  vnpacience 
102    With  sharper  tonge  than  is  swerd  or  knyffe 

Pleynyth  on  thi  *seruauwt,  thouh  non  offence 
Thou  fynd  in  hym ;  leer  weel  this  sentence. 
105    The  wiffe  \ville  hate  and  cause  for  to  smerte 
Oftyn  hyrn,  that  hir  housbonde  loueth  in  herte. 

i.  9  XVI. 

And  iff  thou  *  warne  a  wiht  of  his  surfette, 
108  Althouh  he  gruchche  with  frownyng  contenauwce 

And  in  his  language  manace  the  atid  thrette, 
Yit  f orber  nat  for  *al  such  displesauwce 
m  To  teche  hym  amende  his  gouernauwce. 

As  thou  began,  correcte  that  is  a-mysse; 
For  that  is  ay  a  freendli  teche  i-wisse. 

i.  io  XVII.  fol.  85T 

114    Ageyns  the  wordy  folk  ay  füll  of  wynde 

Stryue  nat  atte  all;  it  may  the  nat  profite. 
Such  iayissh  folk  been  in  conceitis  blynde. 
117  The  witles  word  auaileth  nat  a  myte. 

In  woordis  feie  is  wisdom  oft  füll  Ute. 
For  to  euery  wiht  is  youen  speche; 
120    And  yit  the  wise  füll  ofte  been  to  seeche. 

I.  n  XVIII. 

Love  othir  men  and  haue  *hem  so  cheer, 

That  to  thy  silfe  thy  love  may  moste  extende. 
123    Looke  that  no  persone  be  to  the  mor  deer 

Than  thyn  estat;  for  than  shaltt  thou  offende 
And  hurte  thy  silfe  and  othir  folk  amende. 
126    But  ay  cherissh  othir  and  love  hem  soo, 
That  to  thi  silffe  thou  be  nat  fouwden  foo. 

I.  12  XIX. 

Rumours  newe,  that  flyen  as  the  wynde, 
129  Eschew,  my  child,  with  al  thi  dilligence. 

Be  neuer  besy  newe  *  tiefendes  *for  to  fynde; 
Such  nouelte  causeth  *ofte  offence. 
132  It  is  no  witt,  it  is  no  sapience, 

It  hurtith  nat  a  man  to  be  in  pes; 

But  it  dothe  härme  to  putt  his  tonge  in  pres. 

I.  13  XX.  fol.  86r 

135    Make  no  promys  of  othir  mennys  heste. 

Remembre  weel,  that  promys  is  *v»sure; 
And  but  thou  keep  it,  thi  name  thou  sleste. 
138  To  serue  thi  beheste  do  thou  thy  eure. 

Trist  nat  the  woord  of  euery  creature. 
Sum  maranys  feithe  is  esy  for  to  breke; 
141    For  many  folke  thynke  nat  as  thei  speke. 


103    servauntis    d  v       107  werne  C       110   al  maner  C  Hc       121   hem]    men  C 
130  Ulkendes  C   l  for  f.   C  Q  ß      131  often  &      136  vsure  C 


Die  Burghsche  Cato-Paraphrase.  307 

i.  14  XXI. 

With  woordis  fair  whan  fauel  fedith  the, 
Be  thou  nat  blent  for  his  fals  *flaterie. 
144    Latt  thyn  owne  reson  alway  thy  iuge  be. 

And,  in  effecte,  *ii  thyn  estate  be  hybe, 
Thouh  fauell  with  his  craft  wil  blynd  thyn  ye, 
147    In  al  thy  *ly/e  thou  neuer  geue  credence 
More  *of  thi  silfe  than  to  thy  conscience. 

I.  15  XXII. 

Whan  thou  seest  a-nothir  mawnys  desert, 
150  As  for  his  good  deedis  comendable, 

In  euery  place,  preuy  and  aperte, 

Such  a  wiht  with  thi  good  woord  enable. 
153  And  thouh  thou  haue  be  riht  *ovailable, 

Yit  of  thi  good  deede  make  thou  no  bobbauwce, 
And  than  othir  inen  shall  thy  name  enhauwce. 

I.  1(3  XXIII.  fol.  86-r 

156    And  thou  lyve  longe  an  olde  ma»  shall  thou  bee. 
Age  wille  approche  maugre  alle  that  sey  nay. 
Than  perceyue,  behold  a-boute  and  see, 
159  How  agid  *folk  been  tretid  euery  day; 

And  so  to  purveye  for  thy  silfe  assay. 
Into  stoupyng  age  whan  thou  art  crepte, 
162    Thyng  may  the  helpe,  that  in  youthe  was  kepte. 

1. 17  XXIV. 

Charge  nat,  al-thouh  sume  mene  speke  softe, 
Ne  chauwge  no  cheer;  for  oft  it  is  weel  bett 
165    In  secrete  wise  to  speke  than  crye  on  lofte. 

A  man  shuld  see  alwey,  wher  he  wer  sette, 
And  aftir  that  so  schuld  he  speke  or  lette. 
168    But  to  the  suspect  of  härme  it  seemeth 
Men  speke  of  hym;  he  noon  othir  demyth. 

i.  18  XXV. 

Whan  fortune  hathe  youe  the  felicite 
171  And  sette  the  on  hihe,  than  war  the  of  a  falle; 

Than  sueth  oft  ful  sharp  aduersite. 
Fals  fortune  turnethe  as  a  balle; 
174  In  hir  trost  haue  thou  no  sykirnesse  att  all. 

Her  perilous  play  turneth  whilom  to  grame; 
The  eend  is  woo,  of  that  began  with  game. 

1. 19  XXVI.  fol.  87' 

177    Our  bretil  liff  is  beer  *so  ful  of  doute, 

That  in  verray  surete  *no  wiht  may  stond. 
So  sodenly  creepe  the  soulis  oute 
180  AI  a-boute  this  world  in  euery  lond 

Off  yong  and  old;  for  euery  wiht  is  bonde 
To  dethe.    Therfor  sett  nat  thyn  affiauwce 
183    In  deth  of  hym,  *that  may  survyue  perchaurace. 


143  flatiri  t  145  if]  of  C  Hb  147  lyve  CM  148  of]  to  C  153  variable 
CH  Fe  159  folkis  C,  folkys  Hb  173  hinter  as  ein  doth  übergeschrieben  (v.  sp.  H.), 
wie  RRfi  lesen      177  so  f.   a     178  no]  ne  C      183  that]  the  C  HiV  4,   he  P 

20* 


308  Die  Burghsche  Cato-ParaphraBe. 

i.  20  XXVII. 

A  litil  yift  youen  with  good  entent 
Off  thi  frend,  that  lith  in  pouerte, 
186    With  riht  good  cheer  such  yifte  take  and  hent, 
Supposyng  ay,  that  as  good  wille  hath  he 
And  inore  than  many  inen,  that  richer  be. 
189    *Peise  nat  the  yifte  ne  pondre  nat  the  pris. 
The  entent  is  good,  and  *that  may  the  suffice. 

i.  21  XXVIII. 

Sith  nature,  that  is  the  firste  norice. 
192  Hath  brouht  the  hidr  all  nakid  and  *al  bare, 

Thouh  thou  neuer  can  richesse  acconiplice 
But  thou  arte  hold  alway  in  pouertis  snare, 
195  Yit,  no  force,  make  neuer  to  muche  care, 

Take  pacientli  pouerte  for  the  beste. 
Richesse  is  nat  of  nature,  but  of  *co«queste. 

i.  22  XXIX.  fol.  87T 

198    Thouh  deth  be  fyne  of  euery  creature, 

And  no  wiht  on  lyue  shall  from  *it  escape, 
Yit  dreede  nat  deth  with  ouer  besy  eure. 
201  To  lyve  in  erthe  than  is  but  a  iape, 

Iff  thou  shalt  aftir  dethe  so  alway  gape. 
Thynk  weel  to  deye,  but  modifie  thi  thouht, 
204    Or  *ell«  to  lyue  auaileth  the  riht  nouht. 

i.  23  XXX. 

For  thi  desert  if  no  freende  thanke  the, 

I  meen,  whan  thou  haste  don  thi  force  and  peyne 
207    To  othir  folk  ful  freendli  for  to  bee, 

Iff  thei  can  nat  to  the  grauwtmercy  seyne, 
Withdrawe  thyn  hand  and  so  thi  silfe  restreyne. 
210    Blame  nat  *thy  God  for  theer  vnfreendlynesse, 
But  for  such  men  do  aftirwarde  the  lesse. 

I.  24  XXXI. 

Sith  no  richer  man  ne  liveth  any-wher, 
213  Yiff  he  *consume  his  *good*s  alle  and  waste, 

But  that  pouert  shall  greue  hym  sore  and  dere, 
Therfor,  my  child,  such  goodis  as  thou  haste, 
216  Latt  nat  to  soone  out  of  thyn  handis  be  *ra/te. 

*  Last  *  tha£  thi  good  hereaf tir  wille  the  f aill, 

Hold,  that  thou  haste;  it  may  the  eft  availl. 

i.  25  XXXII.  fol.  88' 

219     Behote  noma»  a  thyng  to  leene  hym  twise 
And  faile  hym;  that  is  but  a  vilanye. 
Yiff  thou  may  leende,  do  it  in  ffreendly  wise. 
.222  Such  cheuysance  wil  freendlynesse  bewrie. 

Off  thi  good  deed  clamour  nat  ne  crye. 
Be  nat  to  wyndy  nor  of  *wordes  breeme, 
225    Yif  a  good  mann  the  list  appeer  and  seeme. 


189  Preise  S'HbCpxHcGDFc  Ad  190  that  f.  C  Fb  192  a/a  f.  C  M  v 
197  coquest  C  199  it\  him  C  Hb  M  Hc  x  f  204  eil  C  210  thyn  C,  f.  A  213 
cosume  C  1  good  aAdFb  216  raste  C  217  Last  C,  lese  Hc,  sonst  lest  ||  than 
CMvJTbfc  £  x      224  woorde  & 


Die  Burghsche  Cato-Paraphrase.  309 

i.  26  XXXIII. 

And  yiff  thou  fynde  the  *sone  of  dowbilnesse, 
The  fals  dissimulour  if  thou  espie 
228    With  peyntid  woord  and  hert  ful  of  falsnesse, 
Thou  maist  in  no  wise  better  bleer  his  ye 
Than  serue  hym  with  his  owne  trecherie. 
231    For  *woord*s  fair  aDd  freendlynesse  no  part 

Yeue  thou  the  same  and  so  aart  *begyle  with  aart 

I.  27  XXXIV. 

Preeve  nat  a  man  bi  *  ouer-peyntid  speche. 
234  Undir  fair  woordis  ys  ofte  couerid  gyle. 

The  *  woord  is  gay,  but  frenship  is  to  seeche. 
And  as  men  sey,  such  craft  is  in  this  ile: 
237  Summe  thynken  härm,  whan  thei  hir  tonges  file. 

The  whistlyng  fouler  maketh  mery  song, 

And  yit  briddis  begilethe  he  a-mong. 

I.  28  XXXV.  fol.  88* 

240    Whan  that  God  hathe  youen  the  children  feie 
And  no  richesse,  than  do  thou  in  this  wise: 
Teche  thy  children  with  *craft«'s  for  to  dele, 
243  That  with  their  aart  thei  may  hemsilf  cheuyse. 

Yiff  thou  do  thus,  thou  werkist  as  the  wise. 
Craft  is  ful  good,  and  craft  is  lucratyffe; 
246    By  craft  thei  may  deffende  the  nedy  liffe. 

I.  29  XXXVI. 

Haue  this  conceit;  for  it  is  often  *seen, 
Thynges  deer  shall  ofte  abate  of  prise, 
249    And  thynges,  that  of  litil  valewe  been, 

In  tyme  comyng  may  to  grete  derthe  a-rise. 
Remembre  this  and  it  *weel  aduertise. 
252    Thus  shalt  thou  beste  the  name  of  chynchery  fleme. 
And  othir  men  shall  the  no  negard  deeme. 

i.  30  XXXVII. 

A-vyse  the  weel,  latte  resou«  be  thy  guyde, 
255  Whan  othir  folk  thou  art  a-boute  to  blame, 

That  suche  defaute  in  the  be  nat  aspied; 

For  if  ther  be,  than  *shal£  thou  haue  the  shame. 
258  A  manys  honour  such  thynges  will  reclame. 

It  is  ful  foule,  whan  that  a  man  will  teche, 
Iff  that  */?is  deede  a-yens  his  *  woord«  preche. 

I.  31  XXXVIII.  fol.  89' 

261    Loke  thi  desir  be  grouwdid  in  a  riht 
And  that  it  neuer  trauers  honeste; 
For  as  oft-tymes,  as  any  wiht 
264  Desirith  more  than  riht  or  equite, 

Than  may  his  request  repellid  be. 
And  it  is  clepid  nycete  and  grete  folye 
267    To  asken  oft  thatt  me»  will  ay  denye. 


226  sones  a  (sownes  Hb)  231  woord  C  232  begyle]  begyhd  Av  x  Fe  Ad, 
gylyd  C  H  233  ouer  fair  p.  C  235  world  «  Fb  242  craft  r,  tome  crafte  Hb 
247  seyn  C  Hb  Cp  D  251  wille  CAd,  wolle  Hb  M  Hf,  foll  Fe  257  shall  C  860 
ftt's1]  u  CDbFcAd  |j  woord  CM      261  a  ist  fortradiert  in  C 


310  Die  Burghßche  Cato-Paraphrase. 

i.  32  XXXIX. 

Chauwge  nat  thi  freende,  that  thow  knowest  of  old, 
For  any  newe  in  trost,  that  thou  shalt  fynde 
270    Bettir  than  he;  but  in  thyn  handis  hold 

Hym,  that  hathe  to  the  ffreendly  been  and  kynde. 
Such  eschauwges  been  ful  *often  blynde. 
273    Thou  weenest  *to  knowe  *and  yit  knowist  nat  a  deel. 
To  know  a  freend  it  is  a  casuel. 

i.  33  XL. 

Sith  manys  liff  is  fülle  of  miserie, 
276  Whilom  in  mirthe  and  aftir  in  myscheef, 

Now  in  the  vale,  now  in  the  mont  on  hihe; 
Now  man  is  poore  and  eft  richesse  releffe; 
279  The  shynyng  morwe  hath  ofte  a  stormy  eve  — 

To  *  this  policie  take  heed  and  entend : 

Look  thou  haue  lucre  in  thi  labours  eende. 

I.  34  XLI.  fol.  S9T 

282    Thouh  thou  may  venquyssh  and  haue  the  victory 
Off  thi  freend  and  felawe,  yit  forbere. 
Reffreyn  thi  silfe;  be  nat  hawteyn  ne  to  hihe. 
285  Irous  hauwtes  ful  oft  men  do  dere, 

Wher  esy  softnesse  *freend*s  inay  conquere. 
For  bi  good  deedis,  sett  in  lowlynesse, 
288    Men  be  to-gidre  *lnytt  in  freendlynesse. 

I.  35  XLII. 

The  lymytour,  that  visiteth  the  wyues, 

Is  wise  i-nouh.     Of  hyrn  a  man  may  leer 
291    To  *yiuen  *girdiles,  pynnes  and  knyues. 

This  craft  is  good;  *thus  dothe  the  celi  freere: 
Yiueth  thynges  smale  for  thynges,  that  been  deer. 
294    Iff  thou  receyue,  gif  ay  *sumwhat  ageyn; 

And  that  wille  *norissh  *freendes  deer  certeyn. 

i.  36  XLIII. 

Toil  nat  ne  stryre  with  hym,  that  is  thi  freende. 
297  Bewar  of  that:  make  nat  thi  freend  thi  foo. 

A  toilous  man  may  frenship  breke  and  sheende. 
Thes  baratours,  that  beth  mysreulid  soo, 
300  Intrike  *hemsilfe  and  *wrappe  hem  in  much  wo. 

For  ire  of  kynde  engendrith  nat  but  hate, 
Wher-as  accorde  *nor«sheth  loue  algate. 

I.  37  XLIV.  fol.  90r 

303    Whan  thi  seruant  thou  takist  in  diffaute, 
Thouh  he  cannat  his  necligence  excuse, 
Yit  in  thyn  ire  make  nat  to  fers  assaute, 
,   306  But  with  thi  maletalent  a  while  take  trewse; 

Thow  shalt  fynde  ese,  this  feet  if  thou  vse: 
Reule  thi  passiou«  euer  bi  such  mesure, 
309    That  thou  save  hem,  that  be  vndir  thi  eure. 


272  oft  C  273  to  f.  t  ||  and]  at  C  280  this]  hü  CFb  286  freend  a  (a  freend  H) 
288  hnyt]  sett  fr,  brought  Hb  291  yiue  girdils  C  292  this  C  Hb  M  He  Ad,  soo  FbCp 
294  summe  thyng  &  295  norsshe  rY  |  freend  C,  thi  frend  FH  300  kymsilfe  C, 
themsilft  Q  H  Hb  Cp  |   wappe  C      302  norshetk  C,  norshit  F 


Die  Burghsche  Cato-Paraphrase.  311 

I.  38  XLV. 

'Suffraunce  dothe  ese',  was  seid  füll  yore  a-goo. 
Suffre  thou  and  haue  al  thyn  entent. 
312    Thouh  thou  niay  ouercome,  yit  do  nat  soo. 

Conquere  thoruh  suffraunce  and  be  pacient, 
But  to  foul  cruelte  neuer  consent; 
315    For  it  is  clepid  in  vertu  excellence 
A  wiht  to  lyue  in  humble  pacience. 

I.  39  XLVI. 

Be  nat  to  scant,  be  nat  to  prodigal. 
318  Conserue  thy  thyng  goten  with  labour. 

It  is  f ul  faire  [*]  to  be  said  liberal, 

But  eschew  waste  and  be  no  surfetour. 
321  Consume  nat  al  thy  tresour  in  an  hour. 

Whan  of  tbi  labour  riseth  noon  availle, 

Nedy  pouerte  niust  the  ful  soone  assaiile. 

I.  40  XLVII.  fol.  90v 

324    Be  nat  like  Sceuola1;  for  he  wold  ete 

With  euery  man  and  at  his  feest  hym  feede. 
But  neuer  wiht  myht  tasten  of  his  mete; 
327  Noman  to  hym,  but  he  to  all  men  yeede. 

Be  fre  of  mete,  but  look  that  largesse  leede 
The  no  ferther  then  thou  may  weel  atteyne. 
330    Be  thyn  owne  freend,  thus  seith  Catouw  certeyn. 

XLVIII.   Lenvoye. 
Take  heed,  sire,  how  holsumly  this  clerk 
Entretith  men  -with  vertuous  doctrine, 
333    His  firste  part  of  this  compendious  werk, 

In  worschip  how  thei  shal  ful  cleerly  shyne, 
Gydyng  to  renoun  streiht  as  any  lyne; 
336     Whos  preceptis  obseruen  if  ye  list 

And  to  his  good  cownsel  yowr  herte  *enclyne, 
Riht  on  your  welthe  füll  weel  *it  shal  be  wist. 

XLIX. 

339    The  vertues  foure,  that  men  shoold  foorth  conveie 
Loo  in  this  liff,  as  bridill  dothe  a  beest, 
That  man  nat  erre  heer  in  this  pereilous  weye, 
342  Stablisshyng  hym,  as  dothe  a  stedfast  reest, 

As  sikir  guydes,  that  been  worthiest 
Mannys  lyuyng  to  sette  in  gouernaunce, 
345  This  sage  Catoun  ful  wisely  doth  regest. 

*Preentith  his  sawes  in  yowr  remembraunce. 
Expfocit  *pars  prima. 

II,  praef.  1—2  L. 

Iff  thou  list,  my  child,  setten  thyn  deute 
348  Off  erthe  for  to  knowe  the  tilthe  and  the  cultur, 


319  for  (o  tQ  324  seuola  Hd  %,  zeuola  uÄFcAd,  zevola  Pm,  zeuela  D,  yeuola  xv 
337   ecline  C     338  shal  it  CHv     346  preetith  C  |  pars  prima  H  a]  f.  C  u.  a. 

1  Wohl  jener  'P.  Seaeuola',  welcher  nach  Macrobius,  Saturnal.  III,  13,  11  (ed. 
Eyssenhardt),  an  dem  Schlemmerhankett  dos  Pontifex  Maximus  Q.  Metollus  Pius 
teilnahm,  welches  Macrobius  ausdrücklich  als  ein  Beispiel  von  luxuria  anführt. 


812  Die  Burghsche  Cato-Paraphrase. 

And  iff  thou  wilt  be  of  knowlech  perfit 

Whi  su?»nie  is  arable  and  summe  is  pasture, 
361  And  whi  summe  is  spreynt  with  floury  pictur, 

I  conseil  the  to  musen  for  a  while 
In  the  laureat  poete  greete  Virgile. 

II,  praef.  3—4  LI.  fol.  91r 

854    And  forthermor,  my  chyld,  if  that  thou  list 
The  vertues  of  herbes  for  to  discrive,  — 
It  may  nowher  in  erthe  bettir  be  wist, 
357  Which  be  corcsumyng  and  which  be  nutritive, 

Which  hote,  which  cold,  which  confortatyve,  — 
Than  reede  Macere  in  his  old  ditee, 
360    Which  tellith  hem  in  propre  qualite. 

H,  praef.  4—5  LH. 

And  iff  thou  haue  desirous  fressh  corage 
To  heer  of  noble  Eomayns  worthynesse, 
363    How  that  thei  venquesshed  them  of  Cartage 
And  many  othir  thoruh  manly  prowesse, 
Than  reede  Lucan;  fful  weel  can  he  expresse, 
866    Who  bar  hym  best  in  toura  and  eek  in  feeld, 
And  who  dide  merueillis  vndir  Martis  sheeld. 

II,  praef.  6—7  LIII. 

But  he,  that  list  of  louers  for  to  reede 
369  And  in  that  wise  hymsiluen  so  tauaunce, 

As  in  that  craft  Naso  can  teche  hym  speede. 

Summe  louyth  song,  sume  harpe,  lute  and  dauwce, 
372    Summe  othir  dyvers  thynges  of  plesauwce; 

Summe  louyth  couertly  and  list  nat  been  espied; 

Summe  will  be  knowe;  and  *thws  writith  Ouyde. 

II,  praef.  8—9  LI V.  fol.  91" 

376    But  yit,  my  leeff  child,  iff  in  auentur 

Thyn  hert  be  youe  to  nomaner  of  such  thyng, 
Or  iff  it  be  nat  al  to  thyn  plesure, 
378  That  Virgil,  Macer,  Lucan  and  Naso  bryng, 

Yit  that  thou  may  be  wise  in  thy  lyuyng, 
Iff  the  list  to  yeue  me  audience, 
381    I  shal  shewe  the  doctryne  of  sapience. 

II,  praef.  10  LV. 

Therfore,  my  chyld,  cum  vnto  me  and  leer, 
*And  I  shal  the  shew  the  verray  *tresur 
384    Off  sapience,  if  that  the  list  to  heer, 

And  how  thou  shalt  in  good  estate  endur 
And  leede  thi  lyff  aftir  Goddis  plesure. 
387    Therfore  come  neer  and  leer  bi  thys  reedyng 
To  be  a  man  vertuous  in  lyuyng. 

n.  l  LVI. 

Ther  is  no  wiht  [*],  that  ferther  may  reporte, 
890  Off  thi  good  deedis,  than  the  strauwger  may. 


374  thit  CHb     383  And  f.  C  |  tresour  #xYFcy>     389  wiht  on  lyvt  C 


Die  Burghsche  Cato-Paraphraee.  313 

Make  hym  good  cheer  and  shew  hym  thy  disport, 
And  he  shall  vttir  the,  this  ie  no  nay; 
393  For  *the  vnknowe  sumtyme  to  do  assay. 

Freendis  inowe  to  have  *is  bettir  thyng 
Than  is  freendles  a  man  to  been  a  kyng. 

n.  2  LVII.  fol.  92' 

396    Off  Goddis  misterie  and  his  werkyng 

Make  neuer,  my  child,  to  *ferre  inquirance. 
It  is  foli  to  muse  vpon  such  thyng. 
399  Dispute  neuer  thi  Goddis  purueiaunce. 

All  thyng  must  be  vndir  his  gouernaunce. 
Sith  thou  art  man  clad  in  mortalite, 
402    Dispute  thou  thynges  such  as  mortal  be. 

iL  3  LVIII. 

The  dreede  of  deth  that  is  inordinat,  — 
I  meene,  to  dreed  it  ay  and  neuer  cees. 
405    Bewar  of  that,  I  conceil  the  algate; 

For  this  is  as  trewe  as  gospel  *douteles. 
Who  dreed  it  so,  is  alway  merthelesse. 
408     Whan  dreede  of  dethe  a  man  so  *  aggreggithe, 
It  wastithe  liff  and  his  tyme  abreggithe. 

n.  4  LIX. 

For  *  thyng,  that  is  to  the  vncerteyne. 
411  Whan  thou  art  wrothe,  look  neuer  bat  nou  stryve; 

Thi  passions  esili  withdrawe  and  refreyn. 
For  ther  is  no  persone  in  erth  on  lyye, 
414  But  that  vnresouwles  he  is  als  blyue 

As  besy  wrathe  *  ha^A  *  kyndled  hym  on  f yre. 
And  than  can  he  nat  deeme  the  *tro«the  for  ire. 

II.  5  LX.  fol.  92T 

417    As  tyme  requerith,  so  make  thyn  expence. 
Mesure  thyn  hand  aftir  thyn  proprite 
Off  thynge,  of  tyme,  and  aftir  the  presence. 
420  See  that  thou  spende  nomor  than  nedith  the. 

And  that  to  spende  loke  that  thyn  herte  be  fre. 
A  man  shold  do  cost  and  make  his  spendyng 
423    Considryng  tyme  and  rewardyng  the  thyng. 

II.  6  LXI. 

To  much  is  nouht  of  any  maner  thyng. 
The  meen  is  good  and  moste  comendable. 
426    That  man  stant  surest  heer  in  his  lyuyng, 
With  meen  estat  that  halt  hym  ereable. 
Plente  and  pouerte  be  nat  suffrable. 
429    For  than  is  the  ship  in  the  see  moste  sur, 

*What  tyme  [*]  the  flode  excedithe  nat  mesur. 

n.  7  LXII. 

Iff  thou  knowe  ouht,  that  may  turne  vnto  shame, 
432  Keep  it  secre;  for  nothywg  it  *bewrye. 


393  the]  he  t,   a  man  Hb     394  is]  his  CDb  A     397  tofore  r     406  doutle*  />,»  l> 
408  aggruggith  C  H  Hb  Cp  A  /     410  tlu/ng  f.  &  (that  F)     415  hath]  had  t,  hadde  Pb 
hynled  CDb,  kenlid  M     416  trothe  C     430  Whan  CCp   ||  tyme  that  rRDbl,  f.  Cp  Pc 
432  bewreye  CjHaAzGHcDFc 


814  Die  Burghsche  Cato-Paraphrase. 

Be  nat  to  besy  such  thynges  to  pro-clame 
And  publissli,  as  thou  Knowest  pryuye. 
135  Make  nat  all  men  [*]  on  it  to  gaur  "and  crye, 

Lest  rao  deprave,  whan  thow  thi  woord  hast  sowe, 
That  was  before  to  othir  folke  vnknowe. 

11.  S  LXIII.  fol.  93r 

438    Iff  thou  espie  and  see  a  *surfetour, 

A  theeff,  a  shrew  of  much  mysgouernaunce, 
Trist  weel  summe  tyme  that  ther  snal  come  an  hour, 
441  Whan  for  liis  deede  he  shal  suffre  penauwce. 

Cursed  deede  askith  wrech  and  vengauwce. 
Thouh  wikkydnesse  for  tyme  be  kept  secre, 
444    Yitt  att  the  laste  will  it  discurid  be. 

ii.  9  LXIV. 

Thouh  that  summe  tyme  natur  hathe  been  vnkinde 
And  youe  a  man  to  be  of  smal  stature, 
447    Yit,  my  child,  remembre  and  haue  in  mynde 
That  thou  neuer  dispise  that  creature. 
For  God  may  sendde  hym  fortune  and  good  vre, 
450    Als  oft  thei  be  with  good  cou^seil  allied, 

To  whom  that  nature  hathe  grete  *stren5'th  denyed. 

ii.  10  LXV. 

Whan  the  happithe  trauers  or  [*]  haue  a-do 

463  With  oon  thou  knowist  nat  egal  to  thi  myht, 

Thyn  vttrest  powere  shewe  nat  *  such  vnto, 

Lest  that  eft-soone  he  haue  the  in  such  pliht. 
456  For  it  is  seen  in  turment  and  in  */iht: 

Fortune  chauwgethe  ofte  withynne  an  hour, 
And  he  is  sconfet,  that  erst  was  victowr. 

II.  11  LXVI.  fol.  93v 

459    Off  brondis  smale  be  maad  thes  fires  grete. 

Withdrawe  *the  brond,  the  fier  shal  eek  discrees. 
A-gein  the  knowe,  *tha£  herr,  loke  thou  nat  bete 
462  With  woordis  feie;  *for  woord  dietrobleth  pes. 

The  man  is  wise,  that  can  of  *  woord«  cees. 
For  this  is  sothe  as  God  *jaf  the  thi  liffe: 
465    Off  woordis  small  is  bred  ful  muche  striffe. 

ii  12  *LXVII. 

*Deele  nat  withe  sorcerye  ne  with  surquedrie. 
In  Goddis  hand  is  all  thi  sort  and  fate. 
468    Be  nat  a-boute  to  calkle  thy  distanye, 
Iff  thou  be  *myserous  or  ffortunate. 
Lat  God  allone;  in  hym  is  all  thy  state. 
471     And  that  hym  list  of  the  for  to  purpose, 
Withoute  the  can  he  fulweel  dispose. 


435  out  on  ii  .'/Hb  |]  and]  or  C,  f.  P  438  suffetour  C  451  slrenth  CAd# 
452  or  to  Gv  454  such]  a  man  a  (ßat  man  Hb)  456  tiht  C  460  thi  C  Hb 
461  that]  tha  Olli  h<rr  (',  herre  Hb,  erre  F,  ar  H,  here  Fe,  heir  RHa,  eyr  AXr, 
ayr  Db  Cp,  ayere  M,  eyre  D,  hyer  oi  (highere  Ad),  man  x  462  woord  for  C  463 
looord  r  464  yeue  r  Hb  E,  yeutth  H  Str.  LXVII  mit  LXXXH  vertauscht  in  a 
466  Deyle  r,  dwel  Db     469  yrout  C  S 


Die  Burghsche  Cato-Paraphrase.  315 

n.  13  LXVIII. 

Bewar  of  envye  with  hir  techches  feil. 
474  Withynne  thyn  herte  looke  that  she  nat  reste. 

For  it  is  oon  of  the  *peym's  of  helle. 

Whan  she  soionrneth  in  a  inawnys  breste, 
477  Than  *bre/mithe  Fenix  withynne  his  owne  neste. 

And  thouh  she  may  non  othir  man  *myscheez*e, 
*Yit  Ethna  cesith  nat  hirsilfe  to  greue. 

II.  14  LXIX.  f..l.  94r 

480    Enforce  thyn  herte  with  manlj  sufferauwce, 

Thouh  wrong  iugement  a-yens  the  proceede. 
Be  nat  abassbt  in  woord  ne  couwtenaunce; 
483  For  the  processour  inay  reule  and  leede 

The  lawe;  but  trost  me  weel  wrt/zouten  dreede, 
Long  to  reioisshen  acheueth  he  nate, 
486     Which  bi  menys  vntrewe  his  goodis  gate. 

ii.  15  LXX. 

Wraththe  of  olde,  that  shuld  be  oute  of  mynde, 
Be  nat  aboute  to  make  it  eft  on  lyue, 
4S9    But  the  ercvious  hathe  that  tech  of  kynde. 

Such  malice,  my  childe,  look  thou  nat  revive; 
For  such  ire  of  old  makithe  a  new  stryve. 
492    And  who  that  remembrithe  old  enmyte, 
A  wikkid  man  forsothe,  my  childe,  is  he. 

n.  16  LXXI. 

Thi  silfe  also  looke  that  thou  nat  preise 
495  Ne  dispreise,  but  lette  othir  men  allone. 

Alway  aftir  prudence  thi  *woord?s  peise. 

For  thyn  avaurat  honour  shalt  thou  gete  none, 
But  haue  a  mokke  as  faste  as  thou  arte  gone. 
A  man  to  preise  hymsilfe,  as  seithe  the  scoole, 
Or  dispreise  moche  is  token  of  a  foole. 

n.  17  LXXII.  fol.  94^ 

501     Whan  it  is  tyme  of  coste  and  grete  expence, 
Bewar  of  waste,  and  spend  as  bi  mesure. 
Who  that  to  keepe  and  spende  no  difference 
504    Makith,  his  goodis  may  nat  longe  endure. 
The  olde  sawe  seithe:  Mesur  is  tresure. 
For  in  short  tyme  the  good  may  *  stippe  a-waye, 
507    That  was  goten  in  many  a  sondry  day. 

n.  is  LXXIIL 

It  is  *no  wisdam  alway  to  be  sage. 

But  sumtyme  to  seeme  nyce  and  feyn  folye, 
510    Who  that  hathe  this  fet,  shal  fynde  avauwtage. 
What  tyme  and  thyng  requerithe,  that  espie; 
And  than  dissimule,  that  is  good  policie. 
513    Summe  tyme  to  be  vnwise  in  apparence 

Among  the  wise  *is  clepid  ful  hih  prudence. 


475  pei/ns  C      47  7   bredilke  rt      478  mischeef  C,  /m/schewe  F      479   And  yit  C 
496  woord  &E     506  shippt  C     508  nat  &     514  his  L' Ad 


316  Die  Burgheche  Cato-Paraphrase. 

ir.  10  LXXIV. 

The  filthy  flessh,  in  rneuyng  bestiall, 
516  That  fihtithe  ay  a-yens  the  soule  withynne 

Bi  force  of  hir  entisment  sensuall, 

Eschewe,  my  chyld,  and  keepe  the  from  hir  gynne. 
619  That  and  grace  been  sette  ful  ferr  atwynne. 

And  fle  of  auerice  the  wikkid  fame: 
Thes  too  it  be,  that  causen  euyl  name. 

II.  20  LXXV.  fol.  95' 

522    Beleve  nat  in  every  wihtis  sawe; 

For  sume  reporte  thynges  al  othir  wise 
Than  it  was  don  or  any  man  it  sawe. 
525  And  sume  have  it  of  custum  and  of  guyse 

To  feed  folk  withe  flatrie  and  with  lise. 
Yif  litil  trost  therfor  to  suche  spekyng; 
528    For  many  folk  spekith  many  a  thyng. 

H.  21  LXXVI. 

Yff  thou  surfete  in  drynk  for-yete  nat  that. 
Avyse  the  eft,  thou  come  nat  in  that  snare. 
531    Withdrawe  thyn  hand;  feede  nat  thy  throte  so  fatte; 
Drynk,  that  suffisith  the,  and  *ell&s  spare. 
To  mueh  drynk  makethe  men  of  wit  ful  bare. 
534    And  yit  the  wyne  therof  is  nat  to  blame, 
But  the  drynkere  makithe  hymsilfe  lame. 

n.  22  LXXVII. 

To  thi  trosty  freend,  that  is  ay  secre, 
537  Shew  thi  coimseil;  to  hym  thyn  herte  *bewry. 

A  trosty  freend  is  [*]  ehest  of  pryuyte; 
But'it  is  hard  such  *freendes  to  espie. 
540  Trye  oute  oon  a-mong  a  companye. 

And  of  thy  body  betake  thou  the  eure 

To  suche  a  leche  as  is  trosty  and  sure. 

II.  23  LXXVI1I.  fol.  95' 

543    Withynne  thy  silfe  a-greve  the  nat  to  sore, 
Thouh  thyng  amys  sume  tyme  the  betide ; 
Dismay  the  nat  in  besy  wise  therfore. 
546  Thyn  auenture  thou  muste  ueedis  a-bide; 

Fortune  may  nat  alwey  be  on  thy  side; 
With  harmes  to  greve  in  a-waite  lith  she 
549    To  reven  men  welthe  and  prosperite. 

ii.  24  LXXIX. 

In  thi  silffe  compasse  a-boute  before 

Thyng  to  perceyue,  that  aftir  schall  befalle. 
552     It  noieth  nat  nor  greueth  half  so  sore, 

That  is  forseyn,  as  othir  thynges  shall. 
Sodeyn  chauweis  disesithe  moste  of  all. 
555    It  hurtithe  lesse,  and  is  in  better  pliht, 
Wheroff  beffore  a  man  can  haue  insight. 


532  eil  CCx,  eh  F  Hf,  elks  übr.  537  bewreye  CHbGHfDFc  538  the  ehest 
rRHd^,  the  cheef  Fb,  a  eh.  D  539  freend  C  («-Schleife  vom  Korr.  1  ange- 
fügt) Fb,    a/rend  FHEA      556  aman  C 


fol.  %>■ 


Die  Burghsche  Cato-Paraphrase.  317 

n.  25  LXXX. 

Whan  dyuers  thynges  trauers  thyn  entent, 
558  And  thow  art  wrappid  in  aduersite, 

War  for  wanhope  thou  be  nat  lost  and  shent. 
Latt  nat  dispeir  thy  witte  bereuen  tbe. 
561  A-bide  tbe  tyme,  tbat  sbe  sball  better  be. 

Hope  is  she,  *that  shal  make  tbe  a  sethe; 
Hope  leuetb  nat  a  man,  tbouh  man  leue  tbe  brethe. 

n-  26  LXXXI. 

564    Wban  men  profre,  it  is  tyme  to  receyve. 
Take  thynges,  whil  thei  be  in  seson. 
Tbei  profre  now,  tbat  eft  will  yiftis  weyue. 
567  Plente  nowe  will  aftirward  be  gesoura. 

Take  in  tyme;  for  so  comaundithe  resoun. 
Tbe  ballid  bed,  wbilom  füll  of  heris, 
570    Now  is  bare  withoute  rasour  or  sheris. 

n.  27  LXXXII. 

Prouyde  tby  silfe  and  haue  delyueraurcce, 
Be  likly  coniectur  what  may  be-tide. 
573    Aduertise,  my  cbilde,  in  tbi  remembraurcce 
Affore  and  aftir,  aboute  iu  euery  side. 
Folio  w  God,  and  lat  bym  be  thi  guyde, 
576    Tbat  batbe  al  tbyng  in  bis  gouerment, 

Futur  and  passid  and  tbat,  that  is  present. 

n.  28  LXXXIII. 

It  is  a  tecche  of  a  deuouryng  bouwde 
579  To  receyue  superflue  and  don  excesse, 

Til  bis  receit  a-geyn  from  bym  rebounde. 
Contente  thy  nature  and  flee  gredynesse. 
582  Foule  lustis  ay  keepe  vndir  and  represse. 

Feed  nat  tbi  *lust  with  all,  that  she  wil  craue, 
Yff  that  in  helthe  thou  lust  thi  body  save. 

n.  29  LXXXIV. 

585    Whan  a  multitude  hathe  youen  a  decre 

Or  concludith  ouht  a-yens  thyn  entent, 
Trauers  nat  yit  a-yens  the  comonte; 
588  For  iff  thou  do,  thou  shalt  lihtly  be  shent. 

Dispise  nat  alone  the  peples  iugement. 
In  auewture  thou  plese  of  hem  nat  oon, 
591     Whil  thou  wilt  impugne  hem  euerychon. 

ii-  so  LXXXV. 

Take  good  heed  vnto  thyn  owne  estate' 
To  reule  thy  body  weel  with  good  diete. 
594    But  look  with  tyme  thou  be  nat  at  debate, 

Thouh  thoruh  thyn  owne  *mjsreule  and  surffete 
Seeknesse  or  sorwe  hathe  *  youen  the  an  hete. 
597    The  tyme  is  good,  and  no  dismale  ther  is, 
But  men  it  make,  for  that  thei  do  amys. 


fol.  96v 


562  that  f.  C  R  |  asetk  A  He,  seethe  Hc,  feith  Hf  583  lustes  C  595  mysse 
x  R  Fb  (in  C  rewle  vom  Korr.  2  ergänzt)  596  youe  x  Hc,  yeue  R  Db  He  Hd,  yeuen 
HHaE,  gyven  D,  gytvt  M,  yau  Fe,  jel  Ad,  f.  Y 


318  Die  Burghsche  Cato-Paraphrase. 

H.  31.  LXXXVI. 

Dreede  no  dremys,  *so  seithe  Deutronomy, 
600  *ThouA  thei  be  causid  of  complecciourc, 

Or  ellis  of  any  nyced  fantasie, 
Or  *of  a  superflue  repleciouw. 
603  For  dremys  be  but  fals  illusiouw. 

Whan  men  be  wakyng,  thei  desire  or  thynke; 
Vpon  that  thyng  thei  dreme,  whan  thei  wynke. 

LXXXVII.    Lenvoye.  foi.  97"- 

G06    Musithe  a  while,  what  all  thes  maters  meen. 
A-bidith,  sire,  and  go  no  ferther  yitt. 
To  reden  hem,  *aua,üeth  not  a  been, 
609  But  iff  a  man  the  kernel  wil  *vnkm'tt. 

Therfore  your  mynde  and  al  your  hert  *  vnshitt 
And  *loke  whatt  lith  vndir  the  boistous  rynde. 
612  And  1  dar  say,  of  wisdom  and  of  witt 

Plente  and  foisouw  therin  shall  ye  fynde. 

LXXXVIII. 

Reffressheth  you  with  this  holsom  diete, 
615         That  fostreth  vertue  and  keepith  on  lyue. 
To  your  persone  me  thynkith  it  ful  meete 
For  to  receyue  such  a  nutrytive, 
618  Which  your  astate  shal  ay  preserue  on  lyue 

In  grete  honour  and  keepe  yow  fro  noysaurece, 
Oute  of  dauwger  and  vices  infectyve, 
621    Yiff  ye  will  werche  aftir  this  ordynauwce. 

LXXXIX. 

And  in  especiall  looke,  that  your  deede 
May  bere  trewe  *wittenesse  and  testifie 
624    The  mateer,  that  ye  beholde  and  reede. 

Looke  with  your  herte  as  weel  as  with  your  eye. 
Than,  dar  I  say,  sumwhat  shall  ye  espye, 
627    That  to  this  werk  shall  meven  *your  corage. 

Wherfor  jour  hert,  your  eye  and  all  applye, 
Your  silf  to  reule  aftir  thes  ditees  sage. 
Explicit  secunda  pars. 

in,  praef.  1—2  XC.  foi.  97v 

630    Behold,  what  wiht  that  listith  for  to  reede 

In  this  my  ditee,  somwhat  shall  *he  fynde, 
Wherwith  his  soule  he  may  fostre  and  feede 
633  With  thewes  good  and  it  from  vices  vnbynde. 

Come  neer,  my  child,  therfore  and  haue  in  mynde 
Suche  doctryne  to  beer  a-wey  and  leer, 
636    *As  to  thy  liff  shall  be  füll  leef  and  deer. 

in.  l  XCI. 

The  soule  resemblith  a  new  pleyn  table, 
In  which  as  yit  apperith  no  picture, 
639    The  filisophre  seithe  withouten  fable. 


599  so  f.  C  600  thou  C  602  of  f.  C  608  valetk  C  (davor  o-  vom  Korr.  2), 
vayleth  Hb  v  %,  wailithe  Ad  609  vnknett  C  %  610  vnshelt  C%  611  loldth  r  623 
wttenesy  C  627  your  in  C  eingefügt  von  Korr.  2  631  ye  G  Ö  M  636  as]  and  r  S, 
as  thou  Hf 


Die  Burghsche  Cato-Paraphrase.  319 

So  is  the  soule  but  a  dedly  figure, 
Til  the  tyme  ehe  be  recleymed  with  the  Iure 
642    Off  doctryne  and  so  gete  hir  a  good  babite 
To  bene  expert  in  connyng  and  *parfite. 

m,  praef.  3—4  XCII. 

Inprente  my  techyng  in  thy  soule  stedfaste; 
645  And  ful  profitable  thou  shalt  it  fynde. 

Forsake  it  nat  ne  from  thyne  hert  it  caste; 

For  iff  that  thou  exclude  oute  of  thy  mynde 
648  This  lessou»,  thow  art  füll  bareyn  and  blynde 

Fro  vertu.    And  therof  a-wite  nat  me, 

Sith  *the  deffaute,  my  sone,  is  than  in  the. 

in.  2  XCIII.  fol.  98r 

651    Iff  thou  lyve  iustly  keepyng  the  vpriht, 

Neuer  declynyng  for  meed  ne  *for  fauour, 
Than  stondist  thou  in  a  ful  holsum  pliht, 
654  *ThouÄ  men  maligne  with  *woordes  of  *rygoure 

Yff  thou  live  thus  thi  good  Uff  is  thi  tour. 
We  may  nat  lette  the  peple  to  gawre  *  and  crye. 
657    But  do  we  weel;  if  thei  sey  mys,  thei  lye. 

in.  3  XCIV. 

Iff  thou  be  clepid  the  sothe  to  testyfye, 
Ay  sauyng  thy  worship  and  honeste, 
660    Thi  freendis  trespace  be  *nat  a-bout  to  wrie, 

Wher  as  no  shame  may  growe  therof  to  the. 
This  requiritb  ay  freendlynesse  parde. 
663    In  wele  and  woo  the  trewe  *be«yvolence 
Bi-twix  folke  is  frensship  in  existence. 

m.4  XCV. 

Make  besy  wacche;  and  keep  thi  soule  algate, 
666  Behold  a-boute,  aspie  the  couert  treyne, 

Whan  that  fals  fauell  knockethe  atte  gate, 

He  menythe  guyle,  *thow  outeward  fair  he  feyn. 
669  He  can  enoynte  softly  thyn  erys  tweyn 

*Wifli  oile  of  plesauwce  in  ful  grete  foysouw; 

But  vndir  that  keepe  the  from  his  poisouw. 

ni.  5  XCVL  fol.  98v 

672    Slouth,  slogardy  and  dul  idylnesse, 

Lacches,  tbat  causeth  to  be  necligent, 
Eschew,  my  child,  with  all  thi  bisynesse; 
675  For  ydill  soule  makith  tbe  body  shent. 

Ther  is  on  erthe  no  gretter  argument 
For  to  conclude  the  body  vnapte 
678    Than  that  the  soule  in  idilnesse  be  wrapte. 

in.  6  XCVII. 

Who  that  lacketh  reste,  may  nat  longe  endure; 
Therfor  a-mong  take  thyne  ese  and  disporte. 


643  />ro/ite  C  mit  Abkürzungsschleife  für  ro  649  a  wyjt  Hb,  atwyte  II  K, 
attwyteF,  awaytHc,  wyte  ACp«  (loyt/.E)  v  £,  awyte  o  He  650  thi  CHb  652  for 
f.  rRFbYCpy  654  thou  C  \  woorde  rß  ||  rygourye  C  656  or  CHb  ||  gaule  R, 
gawle  Fb,  gnare  M,  gare  Cp,  grare?  Ha  660  nat  f.  T^FbDbMA  663  bevyoknce  C, 
by  vyolence  Hb     668  thow  C  Hb      670  which  C 


320  Die  Burghsche  Cato-Paraphrase. 

681     Delite  the  neuer  in  besynesse  and  eure, 

But  that  whilom  thou  maist  also  resorte 
To  play,  recreactouw  and  conforte. 

684    Thou  shalt  the  bettir  labour  at  *the  longe, 

Whan  thou  haste  merthe  thi  bisynesse  a-monge. 

ni.  7  XCVIII. 

It  is  füll  hard  to  plese  iche  a  wiht. 
687  Dispreise  nomarays  deedis  nor  hem  lakke, 

Ne  *woordes  nother.    For  even  so  riht 

As  thou  deprauyst  hym,  byhynde  thy  bakke 
690  ßiht  so  wol  rnen  niake  the  a  *moÄ&e  and  a  knakke. 

The  contrarye  thouh  [*]  men  had  it  sworne, 

The  skorner  shal  be  guerdoned  ay  with  scorne. 

ni.  8  XCIX.  foi.  ioo  r ' 

693    Whan  thi  laste  sort,  that  sorn  men  clepyn  fate, 
Is  good  and  plesaurate  aftir  thyn  entente,  — 
Thus  meen  I,  loo,  whan  thou  arte  fortunate,  — 
696  Receyue  the  good,  that  God  hathe  the  sent. 

Suffre  it  nat  rechelessely  to  be  spente. 
For  than  of  wastour  thou  shalt  haue  *the  name, 
699    For  grete  ryot  will  causen  feble  fame. 

ni.  9  C. 

Into  grete  age  what  tyme  that  thou  art  krepte 
And  thou  hast  richesse  and  grete  habundaunce, 
702    Be  liberall  of  good,  that  thou  haste  kepte. 
Thynk  thou  hast  inowh  and  suffisauwee. 
Latt  nat  thi  good  of  the  haue  *gouernauwce; 
705    But  *gouern  it  and  parte  it  with  thy  freende. 

Whan  thou  goste  hens,  it  may  nat  with  the  weende. 

in.  10  CI. 

Grace  is  youen  to  men  in  sondry  wise: 
708  Sum  haue  wisdom,  and  som  haue  elloquence. 

Thes  pore  folk  somtyme  thei  ben  füll  wise. 
A  seruaunt  may  be  of  grete  sapience, 
711  Thauh  he  be  had  in  litel  reuerence. 

Beward  *Ais  wit,  if  it  be  worth  the  while. 
Vertue  is  hid  vndir  an  habite  vile. 

iii.  n  CIL  foi.  ioov 

714    This  woorldis  welthe,  ebbynge  and  flowyng  ay 
At  no  certeyn,  as  is  wantourc  Aprile, 
Thouh  thou  haue  *lost,  thou  shalt  nat  the  dismay. 
717  *Be  content  with  that  thou  hast  for  the  while. 

Sume  man  ther  is,  that  hathe  nouthir  cros  *ne  pile 
Now  in  this  world,  and  yit  good  auentur 
720    Is  hym  ful  nyh.    No  man  can  know  his  vre. 

in.  12  CHI. 

Wedde  nat  a  wiffe  for  hir  inheritaunce ; 

For  ehe  wol  caste  it  *ful  oft  in  thy  berde. 


684  <Äe  f.  tR  6SSwoord&R  690  mowe  CHbEGDFc,  moppe  CpHeHd  601 
thouh  that  C  K  698  the  f.  C  704  goueraunce  C  705  goueren  C  712  w  C  716  lust  C, 
bat  RFbHaAx^g     717  Been  C     718  nor  tM,  »er  A,  nethyr  H     722  toel  C,  f.  llb/3 

1  Fol.  99   ist  bei  der  Paginier ung  übersprungen. 


Die  Burghsche  Cato-Paraphrase.  321 

723    And  *if  she  be  noysaunt,  ful  of  greuaunce, 
Conetreyne  hir  nat  to  biden  in  tbi  yerde. 
Off  chastyment  it  is  a  curside  yerde 

726    To  keepen  oon,  that  wol  the  ay  atwyte. 
He  is  att  ese,  tbat  of  such  on  is  quyte. 

in.  13  CIV. 

Off  othir  men  thow  shalt  thy  myrour  make. 
729  Conforme  tbe  to  that  moste  men  appreve. 

What  thou  shalt  do  and  *what  thou  shalt  forsake, 
A  bettir  fette  maist  thou  nat  *contreve 
732  Than  to  othir  *mennys  deede  releeve. 

In  al,  that  perteynethe  to  thy  techyng, 
Make  othir  men  a  rewle  for  thy  lyvyng. 

III.  u  CV.  fol.  101r 

735    Attempte  no  thyng,  that  sourmouwtith  thy  myht 

Ne  that  to  ffynyssh  thow  *  mauste  nat  *acche»e; 
For  than  thou  stondist  foule  in  thyne  owne  liht. 
738  Ouer  his  power  what  man  leste  to  meeve, 

With  shame  his  werke  moste  nedis  take  leve. 
It  is  foly  a  man  such  thynges  to  begynne, 
741     Which  to  perfourme  his  wittis  be  *to  thynne. 

III.  15  CVI. 

Law  presumeth,  that  what  *man  kepith  stille 
The  cryme  of  oon,  that  hath  don  grete  offence, 
744    And  discurith  it  nat,  he  is  *als  ille, 

As  is  the  crywinous  for  his  silence. 
Wherfore,  my  sone,  bryng  it  in  audience, 
747    That  thou  perceyuest  nat  weel  don  is, 

Leste  for  silence  men  deeme  of  the  a-mys. 

in.  16  CVIL 

Whan  that  the  lawe  is  streit  and  rigerous, 
750  En trete  the  iuge  to  *shewm  the  fauour, 

Enclynyng  hym  for  to  be  gracious. 

*An  egal  iuge  may  the  *parcaase  socour, 
753  And  yit  the  lawe  shal  be  his  gouernoure, 

Which  he  suethe  somtyme  to  modyfie, 
In  the  caas  he  may  a  poynt  espye. 

III.  17  CVIII.  fol.  101^ 

756    What  peyn  [*]  thou  suffrest  for  thi  deserte, 
Receyue  it  weel  with  gre  in  paciens. 
And  thouh  thi  trespace  be  *preuye  and  couerte, 
759  Yitt,  whan  thou  feelist  in  thyn  aduertence, 

That  thou  arte  blemsshed  in  thi  conscience, 
Withynne  thy  silfe  than  make  arbitremewt, 
762    Deemyng  thy-silfe  in  thyn  owne  jugement. 

723  if  f.  CHbD  730  what  f.  C  Hf  731  contryve  CHbMHcD,  conslryue  Fe 
732  mannys  C  Fe,  mens  A  Ad  73C  murte  C  ||  acchewe  C,  exchewe  IIc,  atteyne  a 
741  to]  ful  rHb  742  man  f.  C,  a  man  R  v  744  ah  R,  also  Ad,  all  C  A  Y  Fe, 
than  x,  «*  übr.  750  shew  C  752  And  rRAHfHc,  For  an  (o  |  parcause  C,  par- 
chas  Y,  case  v  {cause  %)  756  that  thou  die  Fe  Ad  758  pruuye  C,  pryue  v,  preue  M, 
pryvary  Hb 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    CXV.  21 


822  Die  Burghsche  Cato-Parapbrase. 

III.  18  .   CIX. 

Mispende  no  tyme  for  slouthe  or  for  lacchesse, 
But  whiloni  reed  in  bookis  olde  and  wise. 
765    Reed  and  reporte  with  grete  attentyfnesse. 
Be  reedyng  to  connyng  men  may  arrise. 
Than  reed,  my  sone,  and  connyng  accomplise. 
768    Thes  poetes  writen  thynges  of  grete  meruayle 
And  of  snialle  credence  oftyn,  thys  is  no  faile. 

in.  19  CX. 

A-mong  freendis  sittyng  at  the  feest 
771  Be  curteis  and  demure  of  thy  language. 

Who  spekith  moste,  may  nat  offende  leste. 

Off  flessh  and  boon  nature  hathe  made  a  cage 
774  The  tonge  to  keepe,  that  she  be  nat  outrage. 

*Than  if  thou  wolt  ben  losed  of  *norture, 
Refreyne  thyn  tonge  with  al  thy  besy  eure. 

m.  20  CXI.  fol.  102' 

777    Some  wommen  weepyne  of  pur  femynyte, 

Whan  othir  wise  thei  kan  nat  her  entente 
*Acchepe;  but  yit  beware  of  nyce  pite 
'780  Thi  manly  resouw,  that  it  be  nat  blent. 

For  suche  wepyng  thyne  hert  auhte  nat  relente. 
Some  wommen  of  kynde  be  euer-moor  weepyng 
<    783    And  vndir  that  kan  thei  bothe  prikke  and  stynge. 

m.  2i  CXII. 

That  thou  haste  goten,  to  thin  owne  worship  vse. 
What  auailethe  richesse  withoute  honoure? 
786    To  spare  good  and  worship  to  refuse 

The  nygard  chynche  with  peyne  and  with  labour 
Is  besy.     But  I  reede  the  nat  devour 
J789    Withouten  resoura  thy  good  excessiffly; 

For  than  muste  thou  begge  of  othir  *haste'ly. 

m.  22  CXIIL 

Enprente,  my  childe,  ay  sadly  in  thy  mynde, 
792  That  thou  be  nat  of  *deth  to  *sore  adradde, 

That  shal  the  from  wrecchidnesse  vnbynde, 
Wher-in  thi  liff  longe  thou  hast  ladde, 
795  Til  of  thy  *  corps  thy  soule  hathe  ben  ful  sadde. 

For  riht  as  dethe  is  eend  of  ferfulnesse, 
So  is  she  eende  of  al  thy  wrecehydnesse. 

in.  23  CXIV.  foi.  io2r 

798    *Thi  wifis  woord  suffre  and  take  in  gree, 
Whan  it  availeth;  for  betide  it  may 
Ful  ofte,  that  *of  riht  grete  prudence  is  she 
801  And  muste  ben  a-lowed,  this  is  no  nay. 

Suffre  hir  than  and  hir  coneeit  assay. 
For  it  is  hard,  whan  thou  can  nat  be  stille, 
804    Ne  hir  to  suffre  thou  kanst  haue  no  wille. 


775  Thauh  C  |  nature  C  HbaCp#,  nurture  R  X  D  Ad  779  acchew  C  M  Ha 
HcFc,  eschewe  Db,  askuse  Hf  790  hastly  CR,  hastyly  F H  Hb  Ha Hc  (-«7»),  hastely 
xDaCpAD,  hastyfly  G  He  792  cUd  C  |  tofore  C  795  corpus  C,  cors  y  798 
this  C     800  riht  of  C 


Die  Burghsche  Cato-Paraphrase.  323 

in.  24  CXV. 

Goodis,  that  be  youen  the  of  nature, 
Comethe  eek  of  thy  progenytours. 
807    Therfore,  my  child,  with  al  thi  force  and  eure 
Love  hem  weel  and  cherissh  at  all  hours. 
Thei  fostred  the  and  kept  in  youthe  shours. 
810    Thi  moodir,  my  child,  in  especiall, 
Iff  thou  do  wele,  neuer  offende  at  all. 

CXVI.    Lenvoye. 
Resorte,  resorte  and  hidirward  releve. 
813  My  maister,  now  her  is  *an  holsom  ayr. 

For  your  availe  vnto  this  place  retreve, 
Wher-as  of  moralite  floures  fayre 
816  And  ewete  ful  plesauwtly,  lo,  dothe  repeir. 

Gadrith  therof  and  makithe  yow  a  gay 

And  restethe  yow  heer  riht  in  this  *herbe»'re. 
819    Behold  and  see,  what  thyng  is  to  your  pay. 

CXVII.  fol.  103' 

Whane  ye  haue  gadrid  floures  *to  your  liste, 
Tastethe  hem;  for  thei  ben  preseruatiffe. 
822    Holdithe  hem  fast  and  berethe  in  your  *ftste. 
For  the  pestilence  ayers  infectyffe 
I  conseil  yow,  and  *  ««parte  my  liff, 
825    That  ye  shall  leede  your  liff  in  sikirnesse 
Thoruh  vertue  of  this  conseruatiffe 
And  eeke  atteyne  to  muche  worthynesse. 

CXVIII. 
828    Thus  meve  I  you  vndir  protecc«ouw 

Off  your  good  grace,  what  tyme  ye  reede 
Or  haue  in  this  mateer  inspecciou», 
831  As  it  biddith,  that  ye  wol  don  in  deede. 

And  than  I  dar  afferme  [*]  withouten  dreede, 
Ye  shall  *acche#e  and  be  ful  vertuous. 
834        Heer  shal  ye  fynde,  that  you  may  guyde  and  leede 
Streiht  to  good  fame  and  bryng  yow  til  hir  hous. 
Explicit  tertia  pars. 


813  rnholsom  C  818  herbere  C  M  v  £  (erbayre  Ad)  820  to  f.  C,  vnto  P,  at  Hb 
822  feste  C,  feystys  D  824  enp&rte  C,  ivqxirte  F,  in  part  E,  jupard  H,  jubarte  M, 
jubard  a,  juberd  A,  jeopard  Hb  Cp  D  Fe,  gewparde  Fe,  gibarde  v,  iebardeHt,  ieparde  Cx 
832  afferme  it  r     833  acchewe  C,  eschewe  a,   eschue  v 

Würzburg.  Max   Förster. 

(Schlufs  folgt.) 


21" 


Zur  englischen  Wortgeschichte. 


l.  Carfaoc. 

Gar  fax,  Carfox  'a  place  where  four  roads  or  streets  meet; 
name  of  a  place  formed  by  the  intersection  of  two  principal  streets 
in  various  towns,  as  at  Oxford  and  Exeter'  wird  vom  N.  E.  D.  ohne 
Zweifel  richtig  auf  afrz.  *carreforcs  (carrefors)  =  lat.  quadrifurcus 
'four-forked'  zurückgeführt.  Die  lautliche  Entwickelung  des  eng- 
lischen Wortes  ist  nicht  ganz  klar.  Das  N.  E.  D.  bemerkt:  'The 
total  absence  of  the  r  in  English  is  . . .  notable,  especially  as  fork 
was  a  well-known  word  from  OE.  times.'  Grofse  Schwierigkeit  kann 
jedoch  der  Schwund  des  zweiten  r  nicht  machen:  wir  haben  hier 
offenbar  einen  Fall  von  totaler  Dissimilation.  Umgekehrt 
mag  das  a  <  o  der  zweiten  Silbe  auf  Angleichung  an  den  Vokal  der 
ersten  Silbe  beruhen,  wenn  es  nicht  eher  aus  Mundarten  stammt,  die 
o  lautgesetzlich  zu  ä  wandeln  (ox  >  aks,  top  >  tap  im  Süden  und 
angrenzenden  Mittelland). 

Für  totale  Dissimilation  mögen  hier  den  Sammlungen  von 
Jespersen,  E.  St.  XXIII  461,  und  Hempl,  Loss  of  r  in  English 
through  dissimilation,  in:  Dialect  Notes  (published  by  the  American 
Dialect  Society)  I  279  ff,  noch  einige  Beispiele  zugefügt  werden. 

Fevere  =  February,  Cely  Papers  1483  (S.  140—142),  1487 
(S.  169  f.).  Diese  für  die  ältere  Zeit  vom  N.  E.  D.  nicht  belegte 
Form  mit  Dissimilation  ist  heute  noch  dialektisch:  E.  D.  D.  II  319 
verzeichnet  Febiwerry  und  N.  E.  D.  schott.  febewar.  Henslowe  schreibt 
in  seinem  Tagebuch  1591—1609  febery  (S.  33). 

libary  für  library  kann  man  gelegentlich  hören;  L.  Murray, 
English  Spelling-Book  (York  1804)  stellt  es  unter  die  vulgär  errors 
(Kap.  13). 

Afrz.  orfreis  (aurifrisium)  erscheint  im  15.  Jahrh.  als  orpheis, 
offreis,  vgl.  N.  E.  D.  unter  orphrey  'gold  embroidery'. 

pimrose  für  primrose,  vgl.  Wright,  Orammar  of  Windhill,  §262; 
F.  E.  Taylor,  Folkspeech  of  South  Lancashire,  Manchester  1901; 
Darlington,  Folkspeech  of  South  Cheshire,  S.  20. 

Für  quarter  verzeichnet  N.  E.  D.  qwatteer  14.  Jahrh.,  für  quar- 
terage quaterage  15.  Jahrh. 

Shrewsbury  (Seiropesberie)  heifst  in  der  örtlichen  Auesprache 
sroazbri  und  soazbri. 


Zur  englischen  Wortgeschichte.  325 

iransom  'Querbalken'  (vgl.  traunsum,  transum,  transounes  in 
Records  of  a  London  City  Church  1426—27,  S.  65  f.,  1487 — 88, 
S.  137;  E.  E.  T.  &,  Original  Series  No.  125)  erklärt  Skeat  als  <a 
corruption  of  lat.  transtrum',  vgl.  jetzt  auch  seine  Notes  on  English 
Etymology,  S.  304.  Das  Etymon  ist  allem  Anschein  nach  richtig, 
nur  ist  das  englische  Wort  keine  corruption,  sondern  lautgerechte 
Entwickelung.  Zunächst  ist  transtrum  zu  transt(o)m  (r  —  r  zu  r  —  0, 
totale  Dissimilation)  und  dann  ist  stm  ganz  regelrecht  zu  sm  ge- 
worden wie  in  Christmas. 

Wenn  in  altengl.  cwearten  aus  civeartern  'Gefängnis',  beren  aus 
berern  'Scheune',  sceapheorden  aus  -ern  'Schafstall'  ein  r  geschwunden 
ist,  so  ist  daran  wohl  nicht  allein  die  'schwachtonige  Stellung'  schuld 
(Pogatscher,  Litbl.  XXII,  160);  es  ist  wohl  kein  Zufall,  dafs  in  der 
vorhergehenden  Silbe  schon  ein  r  stand. 

I  ist  infolge  totaler  Dissimilation  geschwunden  in  mundartlichem 
eelak  für  lilac  (Ellis,  On  Early  English  Pronunciation  V  443,  714) 
und  chiblain  für  chil-blain  'Frostbeule'  (a.  a.  O.  237).  Vgl.  deutsch- 
mundartliches Hache  =  lilachen,  Z.  f.  hd.  Maa.  I  27.  Der  Schwund 
des  k  in  spetacle(s)  =  spectacles  (E.  D.  D.,  Bartlett,  Americanisms, 
S.  40,  vgl.  deutsch- mundartliches  Spitäkl  =  Spektakel)  wird  wohl 
auch  auf  totaler  Dissimilation  beruhen. 

2.  foreign. 

foreign  hat  in  heutigen  Mundarten  die  Entsprechung  des  u  an 
Stelle  von  o:  Wright,  E.  D.  D.,  belegt  furren  für  Dorset,  furrin  für 
Nord-Yorkshire  und  östliche  Mundarten;  auch  West  -  Somerset  hat 
die  Entsprechung  des  u  und  ebenso  Oldham  in  Lancashire  (nach 
einer  Mitteilung  von  Herrn  Lektor  K.  G.  Schilling).  Die  Behaup- 
tung von  E.  Kruisinga,  Grammar  of  the  Dialect  of  West  Somerset, 
Bonn  1905,  §  230,  der  vorausgehende  Labial  habe  den  Übergang 
von  o  >  u  verschuldet,  bedarf  keiner  Widerlegung,  ebensowenig  wie 
andere  'sporadische'  Lautwandlungen  ähnlicher  Art,  mit  denen  er 
operiert. 

Der  t<-Laut  in  foreign  war  früh-neuenglisch  auch  in  der  Schrift- 
sprache üblich:  darauf  deutet  die  Schreibung  furraine,  17.  Jahrh. 
(K  E.  D.). 

Englisches  furain  geht  auf  altfrz.  fourain  (fouran,  fourin,  vgl. 
Godefroy)  zurück.  Und  diese  altfrz.  Form  stellt  die  lautgesetzliche, 
volkstümliche  Entwickelung  aus  lat.  foräneus  dar:  'vortoniges  freies 
g  vor  oralen  Konsonanten  wird  über  o  zu  u\  vgl.  cgrona  >  curone, 
mgrire  >  murir  (Schwan-Behrens,  Altfranzösische  Grammatik 6,  §  91). 
Dagegen  ist  frz.  forain  Lehnwort,  und  darauf  geht  engl,  foreign  mit 
o  zurück. 

3.  leachf  letch. 

Ne.  leach,  leech,  letch  mit  der  jetzt  veralteten  Bedeutung  'to 
water,  wet',  mit  der  noch  bewahrten  'to  cause  (a  liquid)  to  percolate 


826  Zur  englischen  Weltgeschichte. 

through  some  material',  'to  subjeet  to  the  actiou  of  per  colating  water' 
wird  von  Bradley,  N.  E.  D.,  aus  ae.  leccan  'wässern'  abgeleitet.  Da- 
mit ist  deutsches  lecken  'netzen,  begiefsen'  (nach  Ausweis  z.  B.  der 
hessischen  Mundart  mit  Umlauts-e)  identisch;  vgl.  D.  Wb.  VI  481. 
Die  gemeinsame  germanische  Grundform  ist  *lakjan,  über  dessen 
Etymologie  man  N.  E.  D.,  Kluge,  Etym.  Wtb.,6  S.  241  (leck),  und 
J.  Franck,  Etymologisch  Woordenboek  der  Nederlandsche  Taal,  S.  559, 
vergleiche. 

Zur  Lautform  der  englischen  Wörter  bemerkt  Bradley:  'The 
form  letch  is  normal;  the  form  leach  is  phonologically  obscure.' 
Schröer  (in  der  Neubearbeitung  von  Griebs  Wtbch.)  verweist  auf  leak 
aus  altnord.  leka.  Die  Nebenform  leach  könnte  wohl  wirklich  eine 
Kontamination  aus  lautgesetzlichem  letch  -\~  leak  (Igk  Smith  1568, 
S.  43)  sein,  vgl.  N.  E.  D.  leak,  5. 

Das  Substantiv  leach,  letch,  das  in  verschiedenen  technischen 
Verwendungen  gebraucht  wird  (N.  E.  D.),  ist  aus  dem  Verbum  ab- 
geleitet. 

4.  Dial.  misk  'mist'. 

Wright,  E.  D.  D.  IV  129,  verzeichnet  für  die  Mundarten  von 
Devon  und  Somerset  misk  'a  mist,  fog'.  Kruisinga,  Grammar  of 
the  Dialect  of  West  Somerset  (Bonner  Beiträge  zur  Anglistik  XVIII), 
meint  S.  178  (zu  §  371):  'mgsk  is  probably  connected  with  mumj 
(—  schmutzig). 

In  Wirklichkeit  ist  misk  aus  mist  entstanden.  Die  Entwicke- 
lung  ist  folgen dermafsen  verlaufen.  Zunächst  wurde  mist  (besonders 
vor  folgendem  konsonantisch  anlautenden  Wort)  zu  mis,  eine  Form, 
die  auch  für  West-Somerset  bezeugt  wird  (vergl.  fact  >  fak,  cast  > 
kas  usw.).  Weiterhin  ist  eine  schöne  Beobachtung  Elworthys  aus 
dem  Dialekt  von  West-Somerset  zu  beachten,  die  freilich  von  Krui- 
singa in  seiner  Grammatik  ganz  übergangen  worden  ist:  'We  hardly 
ever  sound  k  after  s,  except  when  followed  by  a  vowel,  and  not 
always  then  —  as  vlaas  "flask",  maas  "mask'"  (vergl.  An  Outline  of 
the  Grammar  of  the  Dialect  of  West  Somerset,  E.  D.  S.  1877,  S.  53). 
k  nach  s  ist  vor  konsonantisch  anlautenden  Wörtern  geschwunden, 
vor  vokalisch  anlautenden  geblieben:  flask  zu  vlaas  -\-  Kons.  (vgl. 
asked,  askt  >  ast),  vlaask  -\-  Vok.  Da  neben  vlaas  auch  vlaask,  neben 
maas  auch  maask  steht,  ist  zu  mis  ein  misk  neugebildet  worden. 

mist 
mis  -\-  Kons,     mist  -j-  Vok. 


misk  -\-  Vok.     mis  -{-  Kons. 
(flask  -4-  Vok.    flas  -\-  Kons.) 


Zur  englischen  Wortgeschichte.  327 

5.  rash  'Rasch'. 
Der  Tuchname  engl,  rash,  dtsch.  Rasch  wird  allgemein  auf 
frz.  ras  zurückgeführt,  über  dessen  Herkunft  man  Körting,  Latein.- 
rom.  Wtb.2,  No.  6682,  Franck,  Etymologisch  Woordenboek  der  Neder- 
landsche  Taal,  S.  773,  vergleiche.  Auffällig  ist  die  Vertretung  des 
frz.  s  durch  s  im  Englischen  und  Deutschen. 

Zur  Lautform  des  englischen  Wortes  bemerkt  Craigie,  N.  E.  D. 
VIII  1 57 :  'the  origin  of  the  -sh  . . .  is  not  clear.'  Und  wenn  Heyne 
im  D.  Wtb.  VIII  125  sagt,  Rasch  sei  'mit  einer  Verbreiterung  des 
Auslauts'  aus  (ar)ras  entstanden,  so  ist  damit  nichts  erklärt. 

Es  liegt  sehr  nahe,  anzunehmen,  dafs  der  französische  (in  Arras 
gewebte?)  Stoff  durch  niederländische  Vermittelung  nach 
Deutschland  und  England  gekommen  ist.  Nun  entspricht  z.  B.  einem 
niederländischen  vis  (geschrieben  visch)  im  Englischen  und  im  Deut- 
schen die  Form  fis  (fish,  Fisch).  Englischem  und  deutschem  -s  steht 
niederländisches  -s  gegenüber:  altes  -sk  ist  in  mndl.  Zeit  lautgesetz- 
lich zu  -s  geworden;  vergl.  J.  Franck,  Mndl.  Grammatik,  §  110,  2, 
und  W.  van  Helten,  Mndl.  Spraakkunst,  S.  195.  Nach  dem  Muster 
von  fis  :  fis  u.  dgl.  wurde  ndl.  ras  zu  ras  (rash,  Rasch)  umgebildet. 
Es  liegt  hier  also  'analogische  Lautsubstitution'  vor,  wie  man  sie  oft 
beobachten  kann  bei  Entlehnungen  aus  einer  Sprache  in  die  andere, 
aus  einer  Mundart  in  die  andere,  bei  den  Wechselbeziehungen  zwi- 
schen Schriftsprache  und  Mundart.  Vgl.  z.  B.  Zs.  f.  frz.  Spr.  XXII 
61  ff.,  Archiv  CVII  414. 

Rasch  ist  auch  in  das  Skandinavische  übernommen  worden  und 
zwar  in  der  Form  rask.  sk  für  s  ist  Lautsubstitution.  Skandina- 
vische Grammatiker  früherer  Zeit  setzen  engl,  sh  dem  skandinav.  sk 
gleich. 

Ob  esthnisches  rask  'wollenes  Fufstuch  der  Weiber'  (F.  Wiede- 
mann,  Esthnisch  -  deutsches  Wörterbtcch,  S.  928)  mit  unserem  rasch 
identisch  ist,  kann  ich  nicht  beurteilen.  Zu  ital.  rascia,  das  Florio 
als  rash  erklärt,  vgl.  Körting,  Lat.-rom.  Wtb.,  No.  6671. 

Auf  einen  ähnlichen  Fall  von  analogischer  Lautsubstitution  sei 
noch  hingewiesen. 

Me.  pertriche  (ne.  partridge,  afrz.  pertris)  erscheint  im  älteren 
Schottisch  und  in  heutigen  Mundarten  Nordenglands  und  Schott- 
lands als  pertriJc,  partrik,  vgl.  E.  D.  D.  und  Jamieson,  Etymologi- 
cal  Dictionary  of  the  Scottish  Language,  New  Edition,  III  445,  450. 
Für  diese  Form  mit  k  gibt  es  nicht  etwa  eine  unmittelbare  altfranz. 
Quelle,    pertrik  mufs  aus  pertriche  entstanden  sein. 

Einem  südhumbrischen  ts  (ch)  entspricht  im  Nordhumbrischen  k; 
deshalb  wurde  in  pertrich  bei  der  Übernahme  in  das  Nordhumbrische 
ts  durch  k  ersetzt. 

Ist  so  auch  feek  für  fetch  zu  erklären,  das  für  Cleveland  in 
Yorkshire  (vgl.  E.  D.  S.,  Original  Glossaries  HI,  S.  2)  bezeugt  wird  ? 


S28  Zur  englischen  Wortgeschichte. 

Auf  Entlehnung  aus  dem  Südhumbrischen  deutet  auch  fes  in  Schott- 
land :  ts  ist  durch  s  ersetzt  worden ;  das  ist  Lautsubstitution,  und 
zwar  lautmechanische,  nicht  analogische. 

6.  Dial.  wist  'unlucky'. 
Das  E.  D.  D.  VI  517  belegt  wist  neben  wisht  'unlucky'  und 
stellt  es  sehr  einleuchtend  zu  wish  'verwünschen'.  Unaufgeklärt 
bleibt  dagegen  die  Lautform:  st  neben  sht.  Das  Wort  ist  den  Gut- 
turallaute, S.  19  f.,  gesammelten  Beispielen  von  s  für  sh  anzureihen. 
In  ae.  wysct(e)  wurde  die  ungeläufige  Lautgruppe  skt  durch  st  ersetzt 
(vergl.  Cosijn,  Beitr.  VIII  571,  und  Sievers  3,  §  405,  Anm.  8);  vergl. 
asked,  askt  >  äst,  ahd.  wunseta  >  wunsta  (Notker). 

Giefsen.  W.   Hörn. 


Zur  letzten  Londoner  Theaterseason. 


London  ist  auch  theatralisch  das  Zentrum  Englands:  es  er- 
hält und  sichert  die  Tradition,  es  schafft  und  gebietet  über  die 
Mode.  Englisches  Theaterwesen  kann  in  der  'town'  erschöpfend 
studiert  werden  —  freilich  nicht  in  kurzer  Zeit,  wegen  der  Über- 
fülle des  Materials,  aber  für  lange  Zeit  hinaus,  weil  der  Lon- 
doner nirgends  konservativer  ist  als  in  seinem  Theater.  Nach 
sechs  Jahren  war  es  mir  unlängst  vergönnt,  Londons  stage-land 
wieder  abzustreifen,  ich  habe  nichts  Neues  gesehen,  nur  anderes 
als  ehedem.  Die  Beobachtungen  von  damals  und  jetzt  zeigen 
mir  dasselbe  Bild,  führen  mich  zum  selben  Urteil  in  den  Grund- 
zügen. In  Einzelheiten  bin  ich  freilich  auf  Neuheiten  gestofsen. 
Bezeichnend  aber  ist,  dafs  dies  Neuartige  nicht  etwa  dem  Gan- 
zen Richtung  gibt,  sondern  blofs  nebenher  läuft.  Es  sind  Re- 
formen, die  nicht  durchgreifen,  Schöpfungen,  die  nicht  ein- 
schlagen. Beiden  fehlt  es  an  Perspektive  in  die  Zukunft,  sie 
bleiben  im  Moment  ärmlich  isoliert.  Doch  sind  sie  nicht  minder 
wertvoll.  Sie  werden  das  vom  symptomatischen  Standpunkt, 
indem  sie  Mängel  zeigen,  die  sie  beheben  wollen.  Und  sie 
zeigen  überall  hin:  auf  die  theatralische  Organisation  wie  dra- 
matische Produktion,  auf  die  schauspielerische  und  szenische 
Konvention. 

Dafs  es  mit  dem  modernen  englischen  Theater  schlecht  be- 
stellt ist,  verhehlen  sich  auch  die  Engländer  nicht.  Nur  wollen 
sie  den  Hauptgrund  prinzipiell  nicht  zugeben.  Er  liegt  in  der 
Organisation.  Es  gibt  nur  Privattheater;  die  müssen  aber  zu 
Geschäftstheatern  werden  und  'en-suite'  spielen.  Auf  jeder 
Bühne  wird  nur  ein  Stück  gespielt,  ohne  Abwechselung,  so  lange 
es  eben  zieht,  d.  h.  verdient.  Bricht  es  jung  zusammen  nach 
ein  paar  Dutzend  Aufführungen,  oder  erlahmt  es  nach  etlichen 
hundert  Vorstellungen  an  Altersschwäche,  so  wird  es  durch  ein 
anderes  ersetzt,  das  sich  wiederum  auszuleben  hat.  Dieses 
System  besitzt  einen  Vorteil:  jedes  Stück  wird  bestens  vor- 
bereitet, aber  zwei  Nachteile:  für  das  Drama  und  für  die  Dar- 
stellung. Autor  wie  Direktor  unterwerfen  sich  dem  Geschmack, 
besser  Ungeschmack  des  Publikums  beim  Ausarbeiten  oder  Aus- 
wählen des  Stückes.  Die  Schauspieler  werden  zu  einseitigen 
Routiniers,   die   talentlosen   zu  selbstsicheren  Handwerkern,   die 


380  Zur  letzten  Londoner  Theaterseason. 

talentvollen  zu  selbstgefälligen  Virtuosen.  Sie  bleiben  unter  der 
Kunst  zurück  oder  gehen  über  die  Kunst  hinaus,  denn  sie 
schaffen  nicht  erfrischt  von  den  stets  wechselnden  Forderungen 
des  Repertoires  aus  persönlicher  Stimmung  heraus,  sondern  ar- 
beiten gewohnheitsstarr  in  endlos  gleichem  Betriebe. 

Dieses  En-suite  -  System  steht  fest,  trotz  schüchterner  Re- 
formversuche nach  einem  Repertoire  -  Theater  hin.  Antriebe 
hierzu  kommen  von  verschiedenen  Seiten.  Sogar  vom  inner- 
circle  des  Metier.  Da  ist  Tree,  der  hervorragende  Schauspieler 
und  Direktor  von  'His  Majesty's  Theatre'.  Zwei  Seelen  wohnen 
in  seiner  Brust:  als  konkurrierender  Bühnenleiter  mufs  er  Ge- 
schäftsmann sein  und  soll  das  jeweilig  führende  Stück  en-suite 
spielen;  als  Künstler  möchte  er  ein  Repertoire  schaffen.  So  ge- 
langt er  zu  dem  Kompromifs,  dafs  er  die  Suite  ab  und  zu  mit  ver- 
schiedentlichen  Shakespeare-Dramen  unterbricht.  Dafs  er  darin 
Paraderollen  findet,  begreift  sich.  Das  Experiment  gelang.  Shake- 
speare und  Tree  sind  eben  zwei  Namen,  die  im  theatralischen 
London  ziehen.  An  solchen  'literarischen  Abenden',  wie  man 
bei  uns  sagen  würde,  ist  das  weitläufige  Haus  voll  von  society, 
middle-class  und  mass.  In  Logen  und  stalls  prangt  Eleganz, 
das  pit   zeigt  Intelligenz,   die  gallery  steuert  Temperament   bei. 

Ein  anderer  Versuch  war  zwar  auch  geglückt,  aber  so  zahm 
angelegt,  dafs  er  sich  von  vornherein  als  Episode  gab.  Ve- 
drenne,  der  Impresario,  und  Barker,  der  Schauspieler,  hatten 
sich  zusammengetan,  um  einen  modernen  Dramatiker,  Bernhard 
Shaw,  zu  lanzieren.  Als  Haus  wurde  das  niedliche  Royal  Court 
Theatre  gewählt  (im  fernen  Südwesten,  um  an  Miete  zu  sparen), 
als  Zeit  der  Nachmittag  (um  die  Mitwirkung  von  Schauspielern 
verschiedener  Bühnen  des  Westens  zu  ermöglichen).  Die  Stücke 
waren  'Kaviar  fürs  Volk',  das  natürlich  auch  ausblieb.  Dafür 
erschienen  die  Theater  -  Gourmets  der  oberen  und  mittleren 
Schichten.  Nach  den  Vorstellungen  gaVs  vor  dem  Hause  ein 
kleines  Gedränge  von  carriages  und  auto's  zwischen  behäbigen 
'busses',  worauf  jene  ladies  und  gentlemen,  die  das  auch  noch 
sind,  nach  dem  Westen  heimfuhren.  So  kam  das  Court  Theatre 
zu  einem  Repertoire,  wenn  auch  nur  von  matinees  —  unter 
dem  Zeichen  einer  literarischen  Mode. 

Der  dritte  Versuch  scheint  mir  mifslungen  zu  sein.  Er  war 
ja  auch  rein  literarisch  und  ganz  prinzipiell  geartet,  wie  schon 
der  Titel  des  Unternehmens  verkündigte:  The  Mermaid  Reper- 
tory  Theatre.  Also  gespielt  wurde  historisches  Drama  und  zwar 
im  Great  Queen  Street  Theatre.  Dieses  liegt  bedenklich  ver- 
winkelt im  W.  C,  wo  der  erlahmende  Westen  schon  sehr  von 
der  Schäbigkeit  des  erstarkenden  Zentrums  abfärbt.  Der  pom- 
pöse Titel  der  Strafse  soll  wohl  für  ihre  Enge,  ihren  Schmutz, 
ihre  Unbedeutendheit  entschädigen.     In   sie  hinein^pafst  auch 


Zur  letzten  Londoner  Theaterseason.  331 

das  armselige  Haus  mit  seinem  unbequemen  Saal.  Die  Schau- 
spieler sind  —  mit  wenigen  Ausnahmen  —  zu  jung  oder  zu  alt, 
die  da  glauben,  schon  oder  noch  spielen  zu  können.  Das  Pu- 
blikum ist  dünn  gesät  und  in  seiner  äufseren  Erscheinung  von 
der  internationalen  Halbschäbigkeit  der  Intellektuellen,  nicht 
dekorativ,  doch  voll  ehrlicher  Begeisterung,  die  von  kritischem 
Feingefühl  gemeistert  wird,  kurzum  geistige  Auslese,  keine  Herde, 
sondern  eine  Gemeinde  unter  dem  Banner  des  gebildeten  Ge- 
schmacks. Das  war  auch  nötig,  denn  das  Repertoire  basierte 
auf  Ben  Jonson,  Beaumont  und  Fletcher,  Vanbrugh.  Die  Stücke 
wechselten  von  "Woche  zu  Woche,  so  dafs  die  Reform  hier  im 
mechanischen  Abkürzen  des  En-suite-Systems  bestand. 

Das  waren  die  organisatorischen  Neuerungen:  Halbheiten 
und  Schwachheiten.  Ja  vielleicht  darf  nur  Trees  Versuch  als 
zweckbewufster  Vorgang  gelten,  vielleicht  ist  das  Repertoiresystem 
in  den  beiden  anderen  Fällen  blofs  eine  theatralische  Begleit- 
erscheinung wesentlich  literarischer  Experimente.  Sieht  man  von 
Shakespeare  ab,  so  war  die  'Literatur'  auf  der  Londoner  Bühne 
blofs  durch  die  Shaw-Matinees  und  das  Mermaid  Repertory  ver- 
treten, mithin  unscheinbar,  zufallsmäfsig,  wirkungslos.  Es  herrscht 
eben  ausschliefslich  mehr  oder  minder  geschickte  Theatralik, 
Marktware  des  Tages.  Auch  das  ist  ein  durchgehendes  Cha- 
rakteristikum des  Londoner  Repertoires  (wenn  man  darunter  die 
Gesamtheit  der  aufgeführten  Stücke  versteht),  dafs  es  durchaus 
modern  ist.  Modern  freilich  nicht  im  stilistischen  Sinne,  son- 
dern ganz  äufserlich,  es  werden  meist  nur  funkelnagelneue  Stücke 
aufgeführt.  Dieser  Mangel  an  historischer  Tiefe  fällt  dem  Deut- 
schen und  Franzosen  auf.  Das  nationale  Repertoire  des  Wiener 
Burgtheaters  geht  doch  fast  150,  das  der  Comedie  francaise 
weit  über  200  Jahre  zurück  —  ebenso  weit  wie  das  lebensfähige 
deutsche  oder  französische  Drama  selbst.  In  London  vertritt  einzig 
Shakespeare  das  'historische'  Drama.  Warum?  Wohl  aus  zwei 
Gründen.  Dem  englischen  Drama  fehlte  es  seit  Shakespeare  an 
den  beiden  Eigenschaften,  die  es  vor  der  Vergefslichkeit  des  Tages 
hätten  retten  können :  an  kulturellem  Gehalt  und  an  originärer 
Form.  Jedes  lebensfähige  Drama  mufs  seine  Zeit  spiegeln, 
Kulturwerk  sein  und  mufs  als  Kunstwerk  dauernden  Formreiz 
besitzen.  Es  hat  zugleich  Interesse  und  Gefallen  im  Publikum 
zu  erwecken.  Besitzt  das  Drama  blofs  seinen  interessanten  Ge- 
halt oder  blofs  seine  reizende  Form,  so  wirkt  es  entweder  auf 
eine  historisch  oder  auf  eine  ästhetisch  interessierte  Gemeinde; 
für  das  naive  Publikum,  die  unbewufst  anspruchsvollere  Masse, 
stirbt  es  jedoch  ab.  Nur  während  der  Renaissance  war  das 
englische  Theater  Zeitspiegel  für  das  Volk.  Später  verkümmerte 
es  im  Dienste  von  Klassen  und  Cliquen.  Es  unterhielt  während 
der  Restauration  Hof  und  Adel,  es  erbaute  in  der  Folge  braves 


882  Zur  letzten  Londoner  Theaterseaeon. 

Bürgertum,  war  bald  frivol,  bald  ehrbar,  wurde  amüsant  oder 
sentimental.  Oder  es  lebte  noch  ausländischen  Moden  zu  Ge- 
fallen kosmopolitischer  Ästheten,  oder  es  gab  sich  als  Sprach- 
rohr von  Parteiproblemen  und  Gesellschaftsstimmungen.  Nie 
mehr  aber  gewann  es  die  kraftspendende  Bodenständigkeit  in 
Ganz-England,  nie  mehr  die  Bedeutung  für  die  gesamte  Nation. 
Und  so  starb  es  von  Periode  zu  Periode  ab,  denn  diese  Pe- 
rioden waren  keine  inneren  Entwickelungsphasen,  wo  die  spätere 
zur  Erbin  der  früheren  wird,  sondern  isolierte  Abschnitte  von 
blofs  chronologischer  Folge.  Darum  versteht  der  Engländer 
das  Gestern  nicht  im  Heute  wie  der  Deutsche  oder  Franzose, 
darum  ist  sein  heutiges  Theater  auch  nur  von  heute. 

Freilich  Shakespeare  lebt.  Er  hat  eben  die  humane  Philo- 
sophie, der  für  das  Verständnis  keine  Ort-  und  Zeitgrenzen  gesetzt 
sind,  und  er  hat  eine  organische  Form  von  unverwelklichem  Reiz, 
weil  sie  den  umschlossenen  Kern  symbolisiert.  Überdies  bietet  er 
seinen  Landsleuten  ein  Engländertum,  das  sie  als  ihre  innerste 
Eigenart  unmittelbar  anempfinden,  immer  noch  trotz  mehrhundert- 
jährigen Kulturwandels.  Respekt  und  Intimität  bilden  die  Grund- 
lage von  Sh.s  dauernder  Geltung  in  London.  Das  hat  freilich 
nicht  gehindert,  dafs  mit  seinen  Werken  sehr  frei  umgesprungen 
wird.  Sh.  auf  der  heutigen  Londoner  Bühne  —  das  ist  weniger 
für  ihn  als  für  sie  charakteristisch.  Direktor,  Dramaturg,  Re- 
gisseur, Darsteller  und  Publikum  gewinnen  von  Sh.  aus  Phy- 
siognomie. Besonders  auffallend  ist  die  Verschiedenheit  der 
Aufführungen  unter  sich,  nicht  etwa  nach  dem  Grade,  sondern 
nach  der  Art  der  Kunstleistung.  Man  könnte  letztlich  sagen: 
nach  ihrem  Zweck.  Da  gibt  es  einen  Sh.-Direktor  par  excel- 
lence.  Es  ist  der  nun  auch  nicht  mehr  junge  Benson.  Er  reist 
auf  Sh.  im  ganzen  Königreich  herum,  da  er  ja  in  London  nicht 
immer  nur  Sh.  spielen  kann.  Und  in  der  town  richtet  er  sich 
mit  seiner  Truppe  meist  in  peripherischen  Häusern  ein,  denn 
er  spielt  nicht  für  die  Mondänen  des  Westens  und  nicht  mo- 
dern, sondern  für  die  brave  middle-class  in  der  Tradition  der 
Halbvergangenheit.  Mittelgute  Ausgeglichenheit  ist  die  Signatur 
seiner  Truppe. 

Ist  Benson  mit  der  Muse  Sh.s  solid  verheiratet,  so  kommt 
Tree  mit  ihr  über  einen  scharmanten  Flirt  nicht  hinaus.  Sh. 
soll  seinem  Theater  den  Anstrich  einer  literarischen  Repertoire- 
bühne geben  im  Westen  und  für  den  Westen.  Da  wird  denn 
auch  modern  gespielt  nach  dem  Geschmack  der  eleganten  Welt, 
d.  h.  von  guten  Schauspielern  in  blendender  Inszenierung.  Schön- 
heit ist  die  Parole. 

Nach  anderen  Zielen  streben  andere  Direktoren.  'Inter- 
essant' ist  die  Losung  von  Asche  und  Poel.  Jener  raffiniert  Sh. 
mit   hypermodernen    Milieukünsten    für    kulturhistorische   Fein- 


Zur  letzten  Londoner  Theaterseason.  883 

sclimecker,  dieser  vereinfacht  Sh.  auf  seiner  archaistisch  -elisa- 
bethinischen  Bühne  für  die  literarhistorische  Orthodoxie. 

Endlich  die  Star- Vorstellungen!  Da  wird  der  Dichter  vom 
Schauspieler  erdrückt.  Das  Drama  ist  zum  Vorwand  geworden, 
und  man  kann  Sh.  nur  mehr  als  Bomben-Rollen-Schreiber  stu- 
dieren und  auch  als  solchen  —  bewundern. 

Mit  dem  verschiedenen  Zweck  ändert  sich  die  Art  der  Auf- 
führungen, vor  allem  hinsichtlich  des  Textes.  Um  das  persön- 
lich auszudrücken,  müfste  man  sagen:  der  Dramaturg  spielt  die 
mannigfachsten  Rollen;  er  ist  streng  konservativ  und  opfert 
keine  Zeile,  oder  er  schont  das  Original  nach  Möglichkeit  pietät- 
voll, oder  er  operiert  brutal  mit  seinem  Blaustift.  Zwei  Fak- 
toren diktieren  ihm  sein  Vorgehen,  die  Bühne  und  der  Schau- 
spieler. Nur  auf  der  altlondoner  Bühne  kann  der  Text,  d.  h. 
hier  das  szenische  Gefüge,  unverändert  erhalten  bleiben,  und  so 
ist  auch  blofs  der  archaisierende  Poel  völlig  texttreu.  Unsere 
moderne  Bühne  (und  für  London  besteht  sie  seit  dem  Ausgang 
des  17.  Jahrhunderts)  kann  mehr  und  weniger  als  die  alte:  sie 
ist  für  das  szenische  Einzelbild  ausdrucksfälliger,  aber  gegen- 
über der  Szenengruppierung  viel  ungelenker.  Auf  ihr  mufs  die 
Sh.sche  Szenenfülle  zusammengedrängt  werden.  Unter  diesem 
Zwang  steht  jeder  moderne  Dramaturg.  Aber  nur  die  litera- 
rischen bleiben  da  stehen,  wo  der  Zwang  aufhört,  die  meisten 
schreiten  unbekümmert  weiter  vor.  Sie  streichen  an  Szenen,  oft 
ganze  Szenen,  werfen  mehrere,  zeitlich  und  örtlich  getrennte 
Szenen  in  eine  einzige  zusammen,  nur  um  Theaterarbeit  zu 
sparen.  Sinn  und  Stil  der  Dichtung  werden  so  der  Bequemlich- 
keit der  Aufführung  geopfert.  Oder  sie  tun  dasselbe,  um  ihren 
Star  glänzen  zu  lassen:  dann  werden  die  'Szenen  ohne  Star' 
zusammengestrichen  oder  überhaupt  getilgt;  die  'Szenen  mit 
Star'  womöglich  mit  seinem  Abgang  abgebrochen,  um  seinen 
Rolleneffekt  nicht  abflauen  zu  lassen.  Um  solche  Handwerks- 
sünden des  Dramaturgen  zu  beleuchten,  will  ich  auf  etliche 
Hamlet-  und  Romeo -Aufführungen  —  es  waren  ihrer  sechs  — 
zurückgreifen.  Den  brutalsten  Eingriff  bedeutet  die  Streichung 
ganzer  Szenen.  In  Hamlet  entfällt  meist  II  1  und  IV  1,  2,  3,  4,  6. 
Im  zweiten  Akt  wird  also  auf  eine  Charakterisierungsszene  ver- 
zichtet, und  der  vierte  Akt  wird  von  Hamlet  purifiziert,  es  gibt 
hier  eben  keine  Glanzstellen  für  den  Star;  dafür  wird  dieser 
Akt  zum  'Ophelienakt'  par  excellence.  Einmal  entfiel  sogar 
III  3  (des  Königs  Gebet)  —  Gott  weifs  warum.  Auch  aus  Romeo 
werden  gewöhnlich  6  Szenen  ausgeschieden:  II  1,  III  2,  4,  IV 
2,  4,  V  2,  womit  auf  bessere  Motivierung  der  Fabel  oder  auf 
Stimmungskontraste  verzichtet  wird.  Banal  ist  es,  wenn  zwei 
(ursprünglich  oder  zufolge  von  Streichungen)  aufeinander  folgende 
Szenen,   die  am  selben  Ort   spielen   oder  etwa  spielen  könnten, 


834  Zur  letzten  Londoner  Theaterseason. 

in  eine  einzige  zusammengezogen  werden.  So  Hamlet  III  1  und 
2,  IV  5  und  7  oder  Romeo  I  1  und  2,  II  3  und  4,  IV  3  und 
5.  Ist  eine  solclie  Operation  vom  Standpunkt  des  Ortes  eben 
noch  möglich,  so  wird  sie  unsinnig  in  bezug  auf  die  Zeit  — 
selbstverständlich  auf  die  ideale  Zeit.  Der  Dichter  braucht  Pau- 
sen, die  er  durch  Lokalwandel  markiert  oder  durch  Zwischen- 
szenen füllt.  Solche  Pausen  tilgen  heifst  die  Stimmungsskala 
einer  Szenengruppe  völlig  verkennen.  Raffiniert  sind  die  Ab- 
striche am  Szenenende.  So  schliefst  in  Hamlet  III  2  die  Schau- 
spielszene mit  des  Königs  Flucht  und  Hamlets  Triumph  in  for- 
tissimo  und  die  letzte  Szene  mit  Hamlets  Tod.  Gleicherweise 
in  Romeo  III  1  mit  Romeos  Flucht  von  der  Leiche  Tybalts  und 
die  letzte  Szene  mit  Juliens  Tod.  Überschaut  man  diese  'drama- 
turgischen' Eingriffe,  so  stehen  sie  immer  im  Dienste  derber 
Wirkungen.  Nur  das  Grobstoffliche  der  Fabel  wird  gewahrt, 
aber  feinere  Motivierung  wird  geopfert;  Rolleneffekte  werden 
gesucht  auf  Kosten  eindringlicherer  Charakterisierung. 

Ist  der  Dramaturg  für  die  Materie  des  Stückes  verantwort- 
lich, so  der  Regisseur  für  den  Stil.  Er  hat  vor  allem  zu  in- 
szenieren. Das  geschieht  dermalen  für  Shakespeare  in  verschieden- 
artigster Weise.  Dreierlei  Tendenzen  spürt  man  aus  dem  Chaos 
heraus:  die  Inszenierung  ist  altmodisch,  neumodisch  oder  über- 
modern. Der  brave  Benson  repräsentiert  die  altmodische  im 
Sinne  einer  ausgebleichten  Tradition:  die  Dekorationen  sind 
mäfsig,  die  Kostüme  reich,  die  Komparserie  bleibt  ledern,  die 
Solisten  formen  sich  zu  hübschen  Gruppenbildern;  das  Ganze 
wirkt  typisch  flau.  Neumodisch  wird  bei  Tree  inszeniert:  De- 
korationen und  Kostüme  sind  prächtig,  die  Statisten  famos  dres- 
siert, die  Solisten  ausgezeichnete  Mimiker;  dazu  kommen  zwei 
Stimnmngsbehelfe  für  die  Bühne,  die  virtuos  behandelt  und 
reichlichst  verwendet  werden,  Licht  und  Musik.  Kurzum,  alles 
strebt  nach  faszinierender  Schönheit  im  Opernstil.  Tree  melo- 
dramatisiert  Shakespeare  (das  Wort  im  kontinentalen  Sinne  ver- 
standen). Er  spielt  ja  auch  für  den  verweichlichten  Westen. 
In  anderer  Art  sucht  Asche  auf  sein  blasiertes  Publikum  zu 
wirken  —  als  scharfer  Charakteristiker.  Er  betreibt  Milieu- 
künste als  Kulturhistoriker,  er  sucht  Zeitstimmung  zu  geben. 
Sein  Hamlet  spielt  in  einem  barbarischen  Dänemark  der  Urfabel, 
seine  Zähmung  der  Widerspenstigen  in  einem  echten  Renaissance- 
Italien.  Ist  dieses  überflüssig,  so  wird  jenes  falsch.  An  Hamlet 
ist  jeder  Zoll  englische  Renaissance,  und  dafs  der  uralte  Stoff 
dem  genialen  Künstler  auch  dazu  tauglich  wurde,  beweist  nur, 
welch  inferiore  Rolle  der  Materie  im  Kunstwerk  zugewiesen  ist. 
Wenn  Asche  den  Stoff  über  den  Geist  setzt,  so  treibt  er  geist- 
lose Meiningerei.  Zu  diesen  reinen  Typen  der  Inszenierung 
treten  auch  Zwittererscheinungen.    Nur  mit  einem  stillen  Lächeln 


'Zur  letzten  Londoner  Theaterseason.  335 

konnte  ich  die  Ungleichmäfsigkeit  in  der  Ausstattung  der  Einzel- 
szenen feststellen,  als  ich  den  Kaufmann  von  Venedig  im  Drury 
Lane  Theatre  gesehen.  Der  alte  Irving  spielte  den  Shylock.  Die 
Inszenierung  war   schäbig,   ausgenommen   die  Shylockszenen! 

Mit  der  Inszenierung  ist  nun  erst  die  eine  Hälfte  der  Arbeit 
des  stilschaffenden  Regisseurs  geleistet,  die  Arbeit  für  den  Rah- 
men. Er  hat  auch  für  das  Bild  zu  arbeiten,  für  den  Stil  der 
Schauspieler.  Dieses  lebende  Material  ist  seinem  Bildner  nicht 
absolut  gefügig,  das  Ergebnis  ist  hier  wesentlich  ein  Kompromifs 
zwischen  Regietendenz  und  Schauspielertradition,  und  in  der 
Praxis  erweist  sich  letztere  wohl  meist  sogar  als  das  stärkere 
Element.  Darum  möchte  ich  den  Stil  der  Darstellung  lieber 
unter  dem  Titel  'Shakespeare  und  seine  heutigen  Londoner 
Schauspieler'  behandeln. 

Der  Schauspieler  ist  —  ob  er  nun  will  oder  nicht,  ob  er 
es  bescheiden  eingesteht  oder  hochmütig  leugnet  —  schliefslich 
doch  nur  der  Diener  des  grofsen  Dichters.  So  folgt  er  auch 
stilistisch  den  Weisungen  seines  Herrn.  Der  Stil  des  Shake- 
speareschen  Dramas  ist  nun  nicht  einheitlich,  es  herrscht  Stil- 
mischung. Historisch  besehen  war  dies  aufgespeichertes  Erbgut 
—  vom  klassischen  und  vom  volkstümlichen  Drama  her.  Der 
grofse  Erbe  Shakespeare  konnte  damit  zweierlei  anfangen,  ent- 
weder die  Stilelemente  untereinander  ausgleichen  oder  gegen- 
einander ausspielen.  Als  universaler  Geist  entschied  er  sich  für 
letzteres.  Er  hat  die  Absicht  auf  die  Mannigfaltigkeit  im  Aus- 
druck, er  strebt  nach  der  Kontrastwirkung  seiner  Stilmittel.  In 
seinen  Dramen  wechseln  plastische  Deklamation,  lyrische  Emo- 
tion, knappes  Referat,  preziöse  Gewundenheit,  derber  Jargon 
und  kerniger  Dialekt.  Idealismus  und  Realismus  und  alle 
zwischenlagernden  Schattierungen  sind  vertreten.  Unter  dem 
Gesetz  des  Gegensatzes  verschärfen  sich  die  einzelnen  Spielarten. 
Der  Schauspieler  wird  vom  Dichter  mitgerissen.  Er  wird  Spe- 
zialist, wenn  die  Figuren,  die  er  seinem  Rollenfach  zufolge  zu 
spielen  hat,  stileinseitig  sind,  wie  die  komischen,  oder  er  wird 
stilistisch  vielgestaltig,  wenn  er  ein  ernstes  Fach  vertritt,  denn 
hier  wechselt  der  Stil  innerhalb  der  Rolle  nach  der  Situation. 
Immer  aber  hat  sein  Spiel  scharfe  Prägung.  Ist  er  Künstler, 
so  geht  er  bis  an  die  Grenze  des  Erlaubten,  ist  er  Handwerker, 
so  führt  ihn  die  Übertreibung  darüber  hinaus.  Sein  Pathos 
wird  hohl,  seine  Rührung  breiig,  seine  Causerie  geschwätzig, 
sein  Bericht  trocken.  Für  die  Gesamtwirkung  bedeutet  solche 
Stilmischung  Farbenpracht  im  guten,  Buntscheckigkeit  im  üblen. 
Stets  ist  das  der  Ausdruck  von  Kraft,  sei  es  gezügelter  oder 
ungebändigter.  So  wird  Shakespeare  heute  von  seinen  englischen 
Schauspielern  gespielt,  und  das  ist  wohl  alte  Tradition.  Nuancen 
hat  der  jeweilige  Zeitgeschmack   in  den  verschiedenen  Perioden 


836  Zur  letzten  Londoner  Theaterseason. 

wohl  geschaffen  und  wieder  getilgt,  die  Grundzüge  sind  aber  ge- 
lt lieben  —  sie  stimmen  eben  zur  Dichtung. 

Dieser  autochthone  Shakespeare-Stil  fallt  uns  Deutschen  auf 
und  wird  uns  in  seinen  Vorzügen  und  Nachteilen  noch  klarer, 
wenn  wir  mit  den  Londoner  unsere  deutschen  Shakespeare- Auf- 
führungen vergleichen.  Diese  streben  nach  einer  beiläufigen 
Ausgleichung  der  stilistischen  Gegensätze,  suchen  nach  einer  Art 
von  Einheitstil.  Das  schädigt  die  koloristische  Mannigfaltigkeit, 
stumpft  die  Einzeltöne  etwas  ab,  läfst  das  Detail  zurücktreten. 
Aber  es  bringt  auch  Vorteile:  die  Charakteristik  von  Figur  wie 
Situation  verliert  an  Schärfe,  gewinnt  aber  an  Feinheit. 

Der  Engländer  mufs  infolge  seiner  Stilschablonen  mehr 
typisieren,  während  der  Deutsche  mehr  individualisieren  kann, 
denn  er  ist  stilistisch  freier.  So  wirkt  jener  stärker,  dieser  tiefer. 
In  London  beruht  der  mächtige  Eindruck  der  Vorstellung  auf 
der  grellwechselnden  Leuchtkraft  der  Einzelheiten,  bei  uns  auf 
der  einheitlichen  Abtönung  des  Ganzen. 

Woher  der  Unterschied?  Der  Engländer  spielt  seinen  Shake- 
speare in  theatralischer  Tradition  vor  dem  ganzen  Volk.  Mit 
seiner  Bodenständigkeit  ist  er  urwüchsiger,  vor  seinem  gemischten 
Publikum  mufs  er  für  dessen  gröberen  Bruchteil  auch  greller 
wirken.  Auf  der  deutschen  Bühne  ist  Shakespeare  fremdes 
Lehngut,  nicht  eine  volkstümliche,  sondern  literarische  Erschei- 
nung und  wird  für  die  Gebildeten  gespielt.  Hier  wird  aus  ihm 
mehr  das  Form-Feine  und  Geistig-Tiefe  herausgeholt. 

Fragt  man  nach  dem  Wert  der  schauspielerischen  Einzel- 
leistungen, so  ergibt  sich  für  die  verschiedenen  Rollengruppen 
die  Antwort  von  selbst.  Ausgezeichnet  werden  die  'Figuren  aus 
dem  Volke'  —  meist  die  Repräsentanten  der  vielgestaltigen 
Komik  —  gespielt.  Sie  sind  ja  bodenständig,  haben  Bühnen- 
tradition und  bieten  Gelegenheit  zu  hartliniger  Charakterisierung 
in  derb  realistischer  Manier.  Weniger  gut  sind  die  geistig  und 
sozial  hochstehenden  Figuren.  Nur  die  wenigen  wirklich  grofsen 
Schauspieler  halten  sich  von  Deklamation  und  Geziertheit  fern, 
bleiben  in  der  Schönheit  noch  wahr.  Fast  immer  schlecht  sind 
die  mittleren  Figuren:  statt  diskreter  Charakteristik  herrscht 
hier  stumpfe  Handwerkschablone. 

Die  interessanteste  Shakespeare- Aufführung  dieser  season 
mufs  ganz  gesondert  behandelt  werden,  denn  sie  stand  nach 
Zweck  und  Mittel  und  auch  bezüglich  des  Publikums  völlig 
isoliert  im  Londoner  Gesamtrepertoire.  Der  Theaterzettel  spricht 
deutlich  genug:  'At  the  request  of  the  London  Shakespeare 
League.  Romeo  and  Juliet  given  by  the  Elizabethan  stage  So- 
ciety at  the  Royalty  Theatre,  London.  Under  the  direction  of 
Mr.  Win.  Poel.  Last  produetion  of  the  society.  God  save  the 
king/  Es  handelt  sich  also  um  ein  theatergeschichtliches  Experi- 


Zur  letzten  Londoner  Theaterseason.  337 

rnent:  auf  der  alten  Bühne  in  der  alten  Weise  sollte  ein  Shake- 
spearewerk dargestellt  werden.  Berufene  hatten  das  Unter- 
nehmen unter  ihren  geistigen  Schutz  gestellt,  einem  Auserwählten 
unter  den  Kennern  des  elisabethinischen  Theaters  war  die  Lei- 
tung zugefallen.  Der  äufsere  Erfolg  —  um  das  vorwegzu- 
nehmen —  war  schwach,  nur  eine  winzige  Gemeinde  von  Inter- 
essierten war  dem  autoritären  Rufe  nach  dem  kleinen  Theater- 
chen gefolgt,  der  Saal  blieb  halb  leer.  Es  war  die  letzte  Ver- 
anstaltung dieser  Art,  das  grofse  Publikum  hat  die  Gesellschaft 
völlig  im  Stich  gelassen.  Der  Durchschnitts  -  Engländer  schaut 
eben  in  die  Zukunft,  nicht  in  die  Vergangenheit. 

Die  Aufführung  als  solche  war  in  jeder  Beziehung  lehrreich. 
Vor  allem  in  bezug  auf  die  Bühne.  Freilich,  die  richtige  alte 
Bühne  war  das  nicht,  denn  sie  war  im  Bühnenraum  des  mo- 
dernen Theaters  untergebracht.  Das  heifst,  sie  war  im  Gegen- 
satz zur  alten  vom  Publikum  distanziert,  und  das  bedeutet,  das 
Spiel  konnte  für  das  Publikum  nicht  die  einstige  Intimität  ge- 
winnen, als  die  Bühne  mit  ihrer  vorderen  Hälfte  mitten  in  die 
Zuschauermenge  hingerückt  war.  Hiervon  abgesehen,  konnte 
sie  allerdings  technisch  die  alte  Bühne  darstellen.  Über  deren 
Gestaltung  gehen  die  Meinungen  der  Forscher  bekanntlich  ziem- 
lich weit  auseinander.  Wohl  darum,  weil  für  die  alte  Zeit  mit 
mehreren,  wenn  auch  in  den  Grundzügen  verwandten  Bühnen- 
typen gerechnet  werden  mufs.  Die  Rekonstruktion  von  Poel 
kann  also  nicht  den  Anspruch  erheben,  die  altenglische  Bühne 
darzustellen,  darf  aber  getrost  als  Verkörperung  einer  der  mög- 
lichen gelten.  Sie  besteht  aus  einer  Vorderbühne  und  Hinter- 
bühne, dazwischen  der  Vorhang.  Dazu  kommt  die  Oberbühne: 
sie  liegt  über  dem  rückwärtigen  Teil  der  Hinterbühne  und  hat 
ihren  eigenen  Vorhang,  wird  also  durch  den  zugezogenen  Haupt- 
vorhang (zwischen  Vorder-  und  Hinterbühne)  gedeckt.  Endlich 
befindet  sich  an  der  Rückwand  der  Hinterbühne  —  wieder 
durch  einen  Vorhang  isolierbar  —  die  kleine,  hinterste  Bühne. 
Somit  ergeben  sich  zwei  Hauptbühnenfelder,  die  Vorder-  und 
Hinterbühne,  und  zwei  Nebenfelder,  die  Oberbühne  und  die  hin- 
terste Bühne.  Dieser  kompliziert  scheinende  Apparat  arbeitet 
sehr  einfach.  Die  Schauspieler  treten  von  rechts  und  links  zu 
Seiten  der  schmäleren  Hinterbühne  nach  der  breiten  Vorder- 
bühne vor,  sie  gelangen  hierher  auch  von  der  Hinterbühne  aus; 
diese  selbst  ist  zugänglich  durch  die  drei  Türen  in  ihrer  Rück- 
wand. Ober-  und  hinterste  Bühne  werden  direkt  aus  dem  un- 
sichtbaren Hinterraum  betreten.  Die  Oberbühne  ermöglicht  aus 
perspektivischen  Gründen  blofs  ein  Vordergrundspiel  (in  un- 
serem Fall  einzig  die  Balkonszene).  Dekorationen  fehlen  gänz- 
lich, die  Wände  sind  mit  Teppichen  behangen.  Requisiten  sind 
spärlich   vertreten :    Bett  —   Sessel  —  Altar  —  Tischchen   mit 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    CXV.  22 


838  Zur  letzten  Londoner  Theaterseason. 

dem  Kräuterkörbchen  für  den  Mönch  —  Bahre  für  die  schein- 
tote Julia.  Die  Beleuchtung  ist  stationär,  die  Nacht  wird  durch 
Fackelträger  angedeutet;  nur  mitunter  flammt  'bengalisches 
Licht'  auf.  Der  szenische  Apparat  ist  also  ungemein  ärmlich, 
aber  sehr  gelenkig  für  die  Abfolge  der  Szenen.  Jede  Hinter- 
bülmenszene  kann  in  ihrem  Verlaufe  die  Vorderbühne  in  An- 
spruch nehmen  und  dann  auf  dieser  allein  weiterspielen,  indem 
der  Hauptvorhang  zusammenschlägt.  So  können  mehrere  (an- 
fängliche )  Hinterbühnenszenen  unmittelbar  aufeinander  folgen. 
Die  Requisiten  werden  —  wenn  nötig  —  von  Dienern  vor  den 
Augen  der  Zuschauer  auf  die  Vorderbühne  getragen  und  von 
da  wieder  abgeräumt.  Es  herrscht  also  grofse  Freiheit  auf 
Kosten  der  Illusion  und  in  notwendiger  Folge  weitestreichende 
Bühnenkonvention. 

Wie  wird  nun  auf  dieser  Bühne  inszeniert?  Da  die  Szene 
konventionell  ist,  kann  es  nicht  auffallen,  dafs  auch  die  mise- 
en-scene  gleiches  Gepräge  trägt.  'Andeutung  statt  Ausführung' 
wird  auch  hier  zur  Devise.  Vor  allem  ist  die  Bühne  klein.  So 
reicht  sie  zu  für  figurenarme  Szenen,  für  monologische,  für 
Zwei-  und  Dreigespräche.  Ensembleszenen  sind  aber  in  reali- 
stischer Art  nicht  darstellbar.  Die  Bühne  geht  ferner  mehr  in 
die  Breite  als  in  die  Tiefe.  Das  hat  zur  Folge,  dafs  die  Fi- 
guren mehr  in  Stellung  als  in  Bewegung  vorgebracht  werden. 
Die  Gruppierung  vollzieht  sich  typisch:  in  der  Mitte  die  Haupt- 
figuren, an  den  Flügeln  die  Nebenfiguren.  Oft  versteift  sich 
dies  bis  zu  starren  'lebenden  Bildern',  wie  in  antiken  Tempel- 
giebeln. Oder  es  wird  eine  Massenszene  pantomimisch  ange- 
deutet, z.  B.  die  Bankettszene  am  Schlufs  des  ersten  Aktes  durch 
eine  Reihe  von  Dienern,  die  mit  Töpfen  und  Schüsseln  um  die 
Bühne  einzeln  herumhuschen.  Im  ganzen  macht  solche  unbe- 
holfene Konvention  einen  kindlichen  Eindruck  auf  uns,  die  wir 
auf  diese  Konvention  nicht  geeicht  sind.  Zu  gleicher  Zeit  wird 
einem  erst  klar,  wieviel  vom  statuesken  Klassizismus  noch  in 
der  romantischen  Tragödie  steckt,  was  unsere  heutige,  reali- 
stische Inszenierung  verdeckt. 

Auffällig  war  diese  Vorstellung  auch  in  bezug  auf  die  Ko- 
stüme. Sie  waren  in  alter  Zeit  bekanntlich  prunkvoll.  Damit 
sollte  wohl  das  Bühnenbild  farbig  belebt  werden,  das  unter  der 
Einförmigkeit  der  Dekoration  hieran  argen  Mangel  litt.  Poel 
ging  hyperhistorisch  zu  Werke:  er  opferte  der  historischen 
Kostümtreue  die  Schönheit,  verfolgte  das  Charakteristische  bis 
ins  Häfsliche  hinein,  wurde  Kulturhistoriker,  statt  Theaterhisto- 
riker zu  werden. 

Die  stärkste  Wirkung  versprach  ich  mir  vom  ununterbroche- 
nen Spiel,  also  von  den  Stimmungskontrasten  zwischen  den 
Einzelszenen,    die  in  geschlossene   Gruppierung  rücken.     Meine 


Zur  letzten  Londoner  Theaterseason.  339 

Erwartung  wurde  enttäuscht.  Im  wesentlichen  stellte  sich  hei 
mir  Ermüdung  ein,  und  ich  war  für  eine  unhistorische  Zehn- 
minutenpause hinter  Akt  III,  Szene  1  aufrichtig  dankbar.  Ent- 
weder sind  wir  Modernen  zu  schwach  geworden  für  die  kon- 
staute Aufnahme  von  immer  neuen  Bühneneindrücken,  oder  es 
waren  diese  Schauspieler  zu  schwach,  um  durch  die  Stärke  der 
Eindrücke  auf  die  Dauer  zu  fesseln.  Schauspielerisch  war  die 
Vorstellung  allerdings  ziemlich  minderwertig,  wenn  man  die  Dar- 
steller des  Romeo  und  besonders  der  Julia  ausnimmt.  Das 
Heldenpaar  wirkte  zwar  nicht  durch  feine  oder  starke  Kunst, 
sondern  durch  die  persönliche  Note  ihrer  Darsteller.  Es  waren 
so  junge  Leute,  dafs  auch  die  Jugend  ihrer  Figuren  glaubhaft 
wurde,  und  dies  Stück  ist  ja  die  Tragödie  der  Jugend. 

Im  ganzen  erwies  das  Experiment,  dafs  die  alte  Bühne  voll- 
auf nur  als  Deklamationsbühne  funktioniert,  dafs  sie  als  Aktions- 
bühne mit  konventionellen  Notbehelfen  wirtschaftet,  die  auf  uns 
keine  Wirkung  ausüben  können.  Die  Vorstellung  war  lehrreich 
vom  historischen  Standpunkt  aus,  aber  nicht  lebendig  im  Sinne 
des  Theaters.  Hierzu  fehlte  freilich  schon  die  erste  Bedingung: 
die  volle  Künstlerschaft  der  Spieler. 

Scheidet  man  Shakespeare  aus  dem  Londoner  Gesamtreper- 
toire aus,  weil  er  sein  Publikum  in  allen  Schichten  der  Bevölke- 
rung findet,  so  gliedert  sich  alles  übrige  im  Hinblick  auf  das 
Publikum  in  zwei  ziemlich  streng  gesonderte  Gruppen.  Sehr 
schwach  vertreten  ist  das  literarische,  sehr  stark  das  modische 
Repertoire.  Kunstfreude  und  Unterhaltungssucht  sind  eben  in 
London  sehr  ungleich  verteilt. 

Das  literarische  Repertoire. 
Shakespeare  gehört  nicht  zum  literarischen  Repertoire  Lon- 
dons, er  bedeutet  da  mehr  als  ein  Stück  Literatur.  Der  Eng- 
länder wertet  ihn  nicht  einseitig  ästhetisch,  sein  Kult  ist  ihm 
Herzenssache.  Hingegen  wirbt  das  literarische  Repertoire  um 
das  Interesse  der  Kunstverständigen.  Dünn  sind  diese  gesät, 
ärmlich  ist  also  jenes  vertreten,  ganz  besonders  hinsichtlich  des 
älteren  Dramas.  Das  Mermaid  Repertory  Theatre  wollte  solches 
vorführen.  Der  Gedanke  war  verdienstlich,  die  Tat  aber  schwäch- 
lich. Leider  mufste  das  so  werden,  und  zwar  schon  aus  einem 
äufseren  Grunde.  Das  ältere  Drama  braucht  ausgezeichnete 
Schauspieler.  Weil  sein  szenischer  Apparat  unbeholfen  war  und 
oft  versagte,  mufste  der  Dichter  mit  seinem  Text,  der  Schau- 
spieler mit  seiner  Person  einspringen,  um  das  Milieu  zu  ver- 
deutlichen und  zur  notwendigen  Wirkung  zu  bringen.  Dieses 
trat  an  den  Zuschauer  oft  nur  auf  einem  Umweg  heran,  über 
den  Eindruck  auf  die  Spielfiguren.  Die  Szene  als  Bild  konnte 
keine  Stimmung  geben,  vermochte  blofs  andeutungsweise  zu  in- 

22* 


340  Zur  letzten  Londoner  Theaterseason. 

formieren.  Der  Schauspieler  war  mithin  dem  Dramatiker  nicht 
blofs  das  wichtigste,  sondern  fast  das  einzige  Mittel  zur  Ver- 
lebendigung seines  Werkes.  Das  Drama  stand  und  fiel  mit  der 
Darstellung.  Gleiches  galt  auch  jetzt  für  das  Mermaid  Reper- 
tory  Theatre.  Es  verwendete  zwar  die  moderne  Bühne,  aber 
zulolge  Geldmangels  in  primitivster  Art,  und  aus  dem  gleichen 
Grunde  standen  ihm  meist  nur  ungenügende  Schauspieler  zu 
Gebote.  Daran  scheiterte  das  Unternehmen  im  künstlerischen 
Sinne. 

Trotzdem  blieben  die  Vorstellungen  wertvoll.  Sie  waren  ja 
nicht  schlecht,  nur  schwach,  und  deshalb  in  der  Wirkung  auf 
das  feinsinnige  Publikum  nur  dem  Grade  nach  geringer,  als  sie 
es  hätten  sein  können.  So  durfte  man  die  Wirksamkeit  der 
alten  Stücke  auch  hiernach  einschätzen.  Sie  ist  —  wie  bei 
jedem  Kunstwerk  —  eine  zweifache:  zeitlos  und  zeitlich-gebun- 
den. Was  heute  noch  wirkt,  wirkt  immer;  was  heute  versagt, 
hat  auf  die  Zeitgenossen  des  Dichters  gewirkt.  Es  handelt  sich 
hier  eben  um  Meisterwerke  ihrer  Art. 

Ich  habe  zwei  Komödien  aus  der  Renaissance-  und  eine 
aus  der  Restaurationszeit  gesehen. 

Ben  Jonsons  'Silent  Wo  man'  ist  im  Kern  eine  Charakter- 
komödie, im  Stil  ist  sie  possenhaft.  Das  mindert  nicht  den 
Wert  der  Hauptfigur,  sie  bleibt  wahr  auch  in  dieser  grellen  Be- 
leuchtung, die  Übertreibung  wirkt  noch  lebendig,  weil  der  Dichter 
von  Lebensechtheit  ausgeht.  Der  Stil  wandelt  ja  nicht  den  Stoff. 
Der  Grundstock  des  Stückes  ist  nun  vielfach  umrankt  von  mon- 
dänem Beiwerk.  Ben  Jonson  gefällt  sich  in  aktueller  Gesell- 
schaftssatire, er  hechelt  das  Gigerltum  seines  London  ausgiebig 
durch.  Viel  Platz  wird  hierfür  aufgebracht  und  eine  Fülle  von 
falschem  Geist  für  die  Geistreichelnden.  Der  Dichter  fand  sicht- 
lich sein  Behagen  daran  und  sein  Publikum  mächtigen  Spafs. 
Doch  vor  uns  brennt  hier  blofs  nasses  Feuerwerk  ab,  das  elend 
erlischt,  bevor  es  noch  richtig  aufflammt.  Nur  Kultur  hat 
die  Innerlichkeit,  so  dafs  ihr  Verständnis  den  Tag  überdauert, 
nicht  aber  Mode.  Unbarmherzige  Striche  könnten  uns  das  Stück 
aus  einer  literarischen  Kuriosität  in  eine  lebendige  Komödie 
wandeln.  Mir  als  Literarhistoriker  war  die  Darbietung  des  Ori- 
ginals selbstverständlich  interessanter,  doch  verblichene  Literatur 
zu  demonstrieren,  ist  nicht  Sache  einer  lebendigen  Bühne.  Das 
Publikum  will  geniefsen,  nicht  lernen,  und  es  hat  ein  Recht  auf 
solche  künstlerische  Naivität.  Theater  und  Museum  sind  zweierlei 
nach  Zweck  und  Nutzungsart. 

Mit  Sorge  ging  ich  zum  zweiten  Stück,  zu  Beaumont-Flet- 
chers  'The  Knight  with  the  burning  pestle\  Das  Drama 
gibt  sich  ja  durchaus  'historisclr'  als  Parodie  von  damaligen 
Theaterverhältnissen  auf  der  Bühne  und  im  Saal.    Dennoch  war 


Zur  letzten  Londoner  Theaterseason.  341 

die  "Wirkung  auf  das  heutige  Publikum  stark  und  andauernd. 
Dafs  ein  Lehrbub  den  Ritter  spielt  und  als  zweiter  Don  Qui- 
chote  auf  Abenteuer  ausgeht,  und  dies  auf  einer  Bühne,  um 
welche  'Zuschauer*  sitzen,  die  in  täppischer  Art  von  Szene  zu 
Szene  ihre  drolligen  Forderungen  an  Stück  und  Spiel  geltend 
machen  —  das  alles  als  lebendigen  Vorgang  zu  empfinden  von 
der  realisierenden  Bühne  herab,  ist  wohl  die  stärkste  Zumutung, 
die  einem  modernen  Publikum  im  Theatersaal  gestellt  werden 
kann.  Was  erklärt  den  Erfolg?  Wohl  nur  der  Umstand,  dafs 
das  Thema,  das  da  abgehandelt  und  so  sonderlich  illustriert 
wird,  uns  alle  zu  innerst  trifft:  Phantasie  wuchert  zu  Phan- 
tasterei auf.  Das  Grundmotiv  ist  echt  menschlich  und  erringt 
sich  darum  in  jeder  Einkleidung  Verständnis  und  Mitgefühl. 
An  die  begründete  Tollheit  dieser  Haupthandlung  schliefst  sich 
eine  Nebenhandlung  an  voll  grundloser  Narretei.  Aber  auch 
die  wirkt,  weil  in  der  Verbindung.  Lachen  steckt  an  —  das 
wufste  der  schlaue  Rechner  Ben  Jonson.  Gegen  den  Schlufs 
hin  zerfasert  sich  ihm  freilich  das  lose  Gewebe  der  Handlungen 
völlig.  Die  Maikönig-Szene  versagt,  müfste  also  für  uns  ge- 
strichen werden.  Um  so  stärker  würde  dann  das  eigentliche 
Ende,  das  groteske  'Sterben  des  Helden*,  einschlagen  und  ab- 
schliefsen. 

Schlief  slich  erhaschte  ich  noch  Vanbrughs  'Confederacy*. 
Es  ist  eine  feine  Arbeit  nach  besten  Formmustern:  die  antike, 
elisabethmische  und  französische  Komödie  haben  Modell  ge- 
standen. Der  Inhalt  ist  Eigenart  im  Sinne  von  zeitgenössisch 
und  bodenständig.  Das  merkt  man  an  den  Figuren:  nach  Cha- 
rakter allzeit  gültige  Typen,  nach  Maximen  und  Manieren  aber 
Vanbrughsches  London.  Der  Dichter  tut  so,  als  triebe  er  Ge- 
sellschaftssatire, und  zwar  müssen  die  Bürgerlichen  herhalten. 
Doch  seine  Entrüstung  weicht  gar  bald  einem  zynischen  Be- 
hagen. So  können  an  den  Figuren  die  Schwächen  zu  Lastern 
werden  und  diese  für  die  lustigsten  Situationen  ausgebeutet 
werden.  Witzige  Frechheit  ist  die  Note.  Die  vielgestaltige 
Handlung  klarzuhalten,  gelang  der  Kunst  des  Dichters;  seine 
feingeprägten  Figuren  völlig  zu  vermenschlichen,  mifslang  den 
schwächeren  Schauspielern.  Vielleicht  ist  überhaupt  zu  viel 
Kunst  im  ganzen  Stück  und  wurde  dadurch  die  Wirkung  ge- 
schmälert. Obwohl  das  Werk  moderner,  wurde  es  vom  Publikum 
fremder  empfunden,  wie  die  kühle  Aufnahme  bezeugte.  Oder 
hat  der  heutige  Engländer  für  Frivolität,  soweit  sie  sich  in  Geist 
und  Grazie  drapiert,  nicht  viel  übrig? 

Das  war  die  'alte  Literatur'  auf  der  Londoner  Bühne  — 
für  den  Literaturhistoriker  ein  seltener  und  anregender  Genufs, 
für  das  grofse  Publikum  ein  exotisches  Experiment.  Es  war 
eben   archaistisches  Theater.    Der  geniale   Dramaturg   hat  ge- 


342  Zur  letzten  Londoner  Theaterseason. 

fehlt,  der  den  historischen  Ballast  hätte  über  Bord  werfen  sollen. 
Ich  war  Egoist  genug,  um  meinem  Schicksal  zu  danken,  dafs 
dieser  Dramaturg  gefehlt  hat,  aber  das  Mermaid  Repertory 
Theatre  hat  schlechte  Geschäfte  gemacht. 

Besser  ist  es  der  'neuen  Literatur'  ergangen  mit 

Bernard  Shaw. 

Es  wurden  vier  Stücke  von  diesem  sonderlichen  Modernen 
aufgeführt.  Weil  viel  mehr  zur  Wahl  standen,  mufs  die  Aus- 
wahl interessieren.  Dabei  kommt  der  Theaterdirektor  nicht  in 
Betracht,  denn  Shaws  Dramen  sind  alle  gleich  leicht  oder  schwer 
aufführbar,  und  auch  nicht  der  Schauspieler,  denn  begehrens- 
werte Rollen  finden  sich  in  jedem  seiner  Dramen.  Also  ent- 
schied die  Rücksicht  auf  das  Publikum.  Was  hat  man  diesem, 
wie  der  Erfolg  zeigte,  mit  Recht  zugetraut?  'You  never  can 
teil',  'Candida',  'Man  and  Superman'  und  'John  Bulls  other  is- 
land'. 

Sieht  man  diese  Stücke  auf  ihren  Stofikreis  hin  an,  so  sind 
sie  zeitgenössisch  und  heimisch,  spielen  in  der  englisch-irischen 
Gegenwart  des  Publikums.  Enger  gefafst,  geben  sich  die  ersten 
drei  als  Familienstücke,  nur  das  letzte  weitet  seine  Sphäre  zu 
einem  sozialpolitischen  Drama.  Familieninteresse  schlägt  mithin 
vor,  das  ist  echt  englisch  im  Geschmack  des  Publikums.  Was 
ist  aber  hier  die  persönliche  Note  des  Dichters?  Shaw  verweilt 
stofflich  im  Bezirk  der  Familie,  aber  geistig  greift  er  weit  über 
sie  hinaus.  Seine  Probleme  erwachsen  nicht  aus  der  Familie, 
sie  spielen  nur  in  der  Familie.  Die  treibenden  Motive  liegen 
nicht  latent  im  Familienleben,  sondern  werden  hineingetragen 
von  der  Eigenart  der  Figuren.  Es  sind  nicht  typische,  sondern 
individuelle  Familienkatastrophen.  Das  verleiht  dem  alten  Genre 
den  Reiz  der  Neuheit.  Diese  Familienstücke  sind  Ehedramen 
im  eigentlichsten  Sinne.  In  'Man  and  Superman'  zeigt  Shaw, 
wie  die  Ehe  wird,  in  'Candida',  wie  sie  ist,  in  'You  never  can 
teil',  was  aus  ihr  wird.  Aber  nicht  etwa  typisch.  Im  ersten 
Stück  wird  der  siegreiche  Kampf  des  Weibes  um  den  wider- 
strebenden Mann  geschildert.  Der  Mann  wird  geheiratet.  Sein 
Intellekt  sträubt  sich  dagegen,  es  hilft  ihm  nichts,  der  Instinkt 
des  Weibes  erweist  sich  als  zäher  und  folgerichtiger,  somit  als 
stärker  und  siegreich.  Dieses  zutiefst  menschliche  Problem, 
das  sich  auf  allen  Lebensgebieten  einstellt,  wird  hier  speziell 
am  Fall  der  Eheschließung  exemplifiziert.  Das  Hauptthema 
wird  noch  gewissermafsen  glossiert  durch  eine  Nebenhandlung, 
wieder  vom  siegreichen  Weibe:  die  geheim  vermählte  Frau  er- 
obert sich  den  *  widerspenstigen  Schwiegervater.  Im  zweiten 
Stück  'Candida'  dreht  sich  die  Fabel  um  den  boy  als  Lieb- 
haber der  modernen  Frau  des  unmodernen  Mannes.     Boy  und 


Zur  letzten  Londoner  Theaterseason.  843 

man  stehen  typisch  gegenüber  als  Unreife  und  Reife,  individuell 
als  Genie  und  Talent.  Es  spielt  Geist  gegen  Geist,  und  die 
Folge  wäre  verworrenes  Unglück,  träte  nicht  die  in  ihrem  In- 
stinkt selbstsichere  Frau  lösend  und  läuternd  dazwischen.  Das 
Ganze  ein  halber  Ehebruch  —  meinen  die  Banalen,  aber  der 
Dichter  schildert  wieder  den  Kampf  von  Intellekt  und  Instinkt  — 
hier  in  der  Ehe,  zufälliger-  aber  nicht  notwendigerweise.  Über  das 
dritte  Stück  'You  never  can  teil'  ist  schwer  zu  sprechen,  denn 
es  ist  geistig  genommen  ein  Fragment.  Nur  die  erste  Hälfte 
ist  real  gestaltet,  in  der  zweiten  ironisiert  der  Autor  sich  und 
sein  Werk.  Dort  zeigt  er  eine  zerbrochene  Ehe,  die  sich  nicht 
einrenken  kann.  Es  ist  nichts  Besonderes  vorgefallen  —  meint 
die  Welt,  nur  passen  die  Leute,  Gatten  und  Kinder  nicht  zu- 
einander. Als  ob  es  ein  bedeutenderes  Problem  für  das  Zu- 
sammenleben und  -wirken  gäbe  als  die '  Harmonisierung  wider- 
strebender Individualitäten.  Ein  allgemeines  Thema  hier  in 
spezieller  Durchführung,  und  zwar  an  einer  Ehe.  Das  sind 
Shaws  'Familienstücke'  der  letzten  season. 

Eigenartig  nimmt  sich  daneben  das  soziale  Drama  'John 
Bulls  other  island'  aus.  Die  irische  Frage  als  Komödie  drama- 
tisiert oder,  deutlicher  gesprochen,  der  Kampf  von  Irländer- 
und  Engländertum.  Ob  das,  was  der  Autor  seinem  Publikum 
sagt,  richtig  ist,  bleibe  dahingestellt.  Hier  handelt  es  sich  nur 
darum,  wie  dem  Autor  das  soziale  Problem  erscheint.  Die 
Fabel  des  Stückes  ist  einfach.  Ein  Engländer  kommt  nach  Ir- 
land und  erobert  sich  den  Kreis,  in  den  er  tritt:  er  gewinnt 
die  Braut  des  irischen  Freundes  zur  Frau  und  die  Stimmen  der 
Nachbarn  für  das  Parlamentsmandat.  Wieso?  Irland  ist  im 
Niedergang,  es  phantasiert  an  seinen  Traditionen,  es  träumt. 
Soweit  es  lebt,  lebt  es  seinen  Instinkten,  aber  die  sind  krank- 
haft geworden.  Da  kommt  der  Engländer,  die  Verkörperung 
von  praktischem  Verstand,  ebenso  klar  wie  banal,  ganz  Energie, 
ohne  jede  Phantasie,  modern  nach  der  Formel:  von  heute  und 
für  heute.  Und  der  Intellekt  siegt  über  den  Instinkt,  freilich 
nur  über  den  kranken  und  letzlich  zum  inneren  Ruin  der  iri- 
schen Nation.  So  kehrt  auch  hier  das  alte  Motiv  wieder,  nur 
dafs  es  der  Dichter  am  weiteren  Stoff  darstellt  und  —  im  Schein- 
sieg des  Gegenteils  beleuchtet. 

Gemeinsam  ist  allen  diesen  Dramen  noch  mehr  als  das 
durchgehende  Motiv.  Es  ist  ihre  Modernität  im  eigentlichen 
Sinne.  Überall  stehen  die  neuen  Menschen  im  Kampf  mit  den 
alten.  Diese  repräsentieren  die  Alltagskultur,  die  anerzogene 
Konvention,  die  Herdenmenschen;  in  den  anderen  pulsiert  das 
Leben  kräftiger,  sie  sind  Individualisten,  Originale  oder  Quer- 
köpfe, je  nach  ihrer  geistigen  Reife,  immer  Suchende,  selten 
Findende.    Dazu  fehlt  es  ihrem  Schöpfer  an  Klarheit  und  sieges- 


341  Zur  letzten  Londoner  Theaterseason. 

sicherem  Optimismus.  Aber  auch  schon  die  Ansätze  zu  solch 
kultureller  Modernität  verleihen  dem  Drama  Shaws  etwas  von 
der  inneren  Frische  wahrer  Kunst.  Er  bleibt  weit  hinter  Ibsens 
geschlossener  Weltauffassung  und  ungebrochenem  Wahrheitstrieb 
zurück,  aber  er  hat  wenigstens  die  Tendenz  nach  höherer  so- 
zialer Moral,  und  mit  Ibsen  teilt  er  die  Erkenntnis  von  der 
Gemütskraft  und  Phantasiegewalt  im  Menschen. 

Und  der  Künstler  Shaw?  Wie  nach  seiner  geistigen  Phy- 
siognomie zu  erwarten,  besteht  seine  Kunst  in  einer  Mischung 
von  blendenden  Vorzügen  und  verdriefslichen  Unzulänglichkeiten. 
Dieser  Wirrwarr  ist  mit  zwei  Sätzen  zu  lösen:  Shaw  ist  grofs 
im  Kleinen  und  klein  im  Grofsen.  Er  brilliert  im  Detail.  Dazu 
gehört  vor  allem  seine  Meisterschaft  in  der  Porträtierung.  Er 
hat  das  scharfe  Auge,  das  an  der  Einzelfigur  alles  Individuelle 
sieht,  innerlich  und  äufserlich,  er  hat  auch  die  sichere  Hand, 
mit  der  er  die  erschauten  Figuren  klar  zeichnet.  Ebenso  wird 
er  der  Einzelsituation  völlig  Herr,  er  arbeitet  sie  immer  pla- 
stisch heraus,  der  jeweilige  Vorgang  lebt  auf  der  Bühne.  Gewifs 
nicht  zum  wenigsten  wegen  des  ausgezeichneten  Dialogs.  Die 
Figuren  sprechen  natürlich  und  persönlich  aus  sich  heraus,  hin- 
sichtlich der  Szene  aber  kernig  und  in  wirksamer  Gliederung. 
Darum  illustriert  der  Dialog  durch  Wortwahl  und  Sprechart 
die  Person  und  Situation.  Das  sind  die  Elemente  der  drama- 
tischen Kunst,  die  Shaw  absolut  beherrscht.  In  der  grofszügigen 
Komposition  jedoch  versagt  er.  Es  fehlt  ihm  an  Einfachheit 
und  Einheit.  Wohl  aus  zwei  Ursachen.  Sein  beweglicher  Geist 
drängt  ihm  Problem  auf  Problem  auf.  So  kann  keines  völlig 
ausreifen.  Die  Überfülle  führt  zur  Verkümmerung.  Gleiches 
gilt  für  die  Gemütsseite.  Die  Grundstimmung  hält  ihm  nicht 
an.  So  verliert  er  die  Naivität  des  Schaffens  während  der  Ar- 
beit, gewinnt  ein  neues  Verhältnis  zu  seinem  Werk:  er  stellt 
sich  darüber,  er  ironisiert  und  spielt  den  Kunst-Kronos,  der 
seine  eigenen  Kinder  verschlingt.  'You  never  can  teil'  ist  das 
deutlichste  Beispiel.  In  den  ersten  zwei  Akten  feines  Lustspiel, 
wird  das  Stück  mit  der  zweiten  Hälfte  zur  Farce.  Derartige 
Entgleisungen  fehlen  auch  sonst  nicht,  nur  'Candida'  ist  stilrein. 

Dafs  Shaw  von  der  Bühne  aus  wirkt,  begreift  sich  ebenso- 
sehr, wie  dafs  er  nicht  durchgreift.  Die  Masse  verlangt  mit 
Recht  vom  Kunstwerk  Klarheit  im  Inhalt  und  Reinheit  im  Aus- 
druck. Sie  läfst  sich  alles  bieten,  aber  im  Einzelfall  auch  nur 
eines.  Ihr  gesunder  Sinn  revoltiert  gegen  die  oberste  Stil- 
losigkeit  von  Shaw,  der  als  Künstler  zwischen  Naivität  und 
Ironie  nicht  nur  hin  und  her  pendelt,  sondern  auch  in  raffi- 
nierter Absichtlichkeit  die  Grenzen  zwischen  beiden  gar  oft  ver- 
schwimmen läfst.  Sein  Publikum  ist  klein,  aber  trotz  der  Minder- 
zahl in  Gruppen  gespalten.    Die  einen,  die  Literarischen,  werden 


Zur  letzten  Londoner  Theaterseason.  345 

von  seinem  brüchigen  Wesen  gefesselt,  sie  interessieren  sich  für 
den  ganzen  Mann  wegen  seiner  Halbheiten;  die  anderen,  die 
Theatralischen,  lassen  sich  von  den  entzückenden  Details  seiner 
Bühnenkunst  faszinieren ;  die  dritten  erfreuen  sich  als  Soziologen 
an  dem  witzigen  Satiriker  der  Gesellschaft.  Alle  nehmen  ihn 
ernst,  niemand  für  voll;  immer  ist  er  interessant,  nie  imposant. 
Shaw  niufs,  um  auch  nur  verstanden  zu  werden,  sehr  gut 
aufgeführt  werden.  Das  geschah  durchaus  im  Court  -  Theatre. 
Dieses  Lob  beschränkt  sich  naturgemäfs  auf  die  schauspielerische 
Leistung.  Für  die  Inszenierung  bietet  das  'moderne  Konver- 
sationsstück' wenig  Gelegenheit,  die  Szenenstimmung  machen 
hier  die  Schauspieler.  Sie  waren  vortrefflich  —  wie  immer  in 
London,  wenn  sie  das  Drama  zu  feiner  Charakterisierung  zwingt, 
sie  weder  zu  hohlem  Pathos,  noch  zu  derber  Chargierung  ver- 
leitet. Hier  mufsten  sie  fein  arbeiten,  denn  Shaws  Figuren  sind 
Individuen,  oder,  wenn  er  sich  mit  Typen  begnügt,  sind  sie  dis- 
kret. Sein  erster  Interpret  von  der  Bühne  herab  ist  Barker. 
Er  hat  Geist  und  Gemüt.  So  kann  er  seine  Gestalten  scharf 
profilieren  und  verinnerlichen.  Sie  haben  Tiefe  wie  bedeutende 
Menschen  im  Leben,  sie  geben  sich  in  voller  Klarheit  in  der 
jeweiligen  Situation,  aber  man  fühlt  immer,  dafs  in  ihnen  noch 
weit  mehr  steckt,  als  sie  zeigen.  Dieser  unsichtbare  Überschufs 
bringt  sie  unserem  Mitgefühl  um  so  vieles  näher.  Barker  er- 
zielt das  mit  seinen  Figuren.  Es  ist  aber  nicht  die  bewufste 
Kunstleistung  des  Schauspielers,  sondern  eine  ungewollte  Zu- 
gabe, der  Ausflufs  seiner  starken  Persönlichkeit  als  Mensch;  es 
wirkt  innerlich  so  reizvoll,  wie  etwa  äufsere  Vorzüge  äufserlich 
scharmieren,  Schönheit  der  Gestalt  oder  Wohllaut  der  Stimme. 
Dieser  individuelle  Zauber  des  Künstlers,  der  im  Moment  von 
Mensch  zu  Mensch  wirkt,  tritt  in  den  Dienst  der  Kunst,  weil 
ein  solcher  Künstler  sein  Publikum  sofort  in  Stimmung  ver- 
setzen kann. 

Das  modische  Repertoire. 

Das  modische  Publikum  sucht  im  Theater  ganz  dieselben 
Stimmungen  wie  das  literarische,  will  sie  alle  durchkosten  vom 
düsteren  Ernst  bis  zur  tollen  Lustigkeit.  Der  Unterschied  liegt 
im  Mittel.  Die  einen  verlangen  Kunst  und  mit  ihr  seelische 
Wahrheit,  den  anderen  genügt  der  gleifsende  Schein  der  Kün- 
stelei. Statt  geistiger  und  gemütlicher  Anregung  wollen  sie 
Nervenkitzel;  nicht  Erhebung,  sondern  Zerstreuung  ist  ihr  Ver- 
langen. Lassen  sich  die  Literarischen  willig  nach  allen  Zonen 
und  Zeiten  fremdesten  Menschenlebens  entrücken,  weil  sie  fein- 
sinnig sich  darin  immer  selber  wiederfinden/  so  kleben  die  Mo- 
dischen bei' ihrem  Stumpfsinn  auch  geistige  an  ihrer  Scholle. 
Nur  Zerrbilder  des  eigenen  Selbst  dulden  sie   auf  ihrer  Bühne. 


S46  Zur  letzten  Londoner  Theaterseaaon. 

Deshalb  ist  das  modische  Repertoire  im  Stoff  bodenständig  und 
modern,  es  zeigt  'Lebensbilder'  vom  Tage  und  aus  der  Nachbar- 
schaft. Besieht  man  sich  dieses  Stoffgebiet  auf  seine  wichtigsten 
Provinzen,  so  sind  es  drei:  Familie,  Kaste  und  Gesellschaft. 
Dafs  die  Schicksale  der  engsten  Lebensgemeinschaft  das  weiteste 
Interesse  erzielen,  begreift  sich:  ist  doch  ein  jeder  der  Familie 
für  Vergangenheit,  Gegenwart  oder  Zukunft  verbunden.  Dafs 
Lebenskonflikte,  soweit  sie  durch  Kastenunterschiede  entstehen, 
auf  Verständnis  stofsen,  fällt  für  England  nicht  auf:  ist  ja  das 
politisch  freieste  Volk  sozial  das  konservativste.  Dafs  endlich 
die  'upper  ten'  für  ihr  eigenes  Salon-  und  Hintertreppengetriebe 
Neugier  aufbringen,  liegt  auf  der  Hand.  Eigenartig  verteilen 
sich  diese  Stoffgruppen  innerhalb  der  Stimmungskala  der  Stücke. 
Das  Familienthema  wird  nicht  schwer  genommen.  Ehebruch  ist 
französisch,  Versündigung  von  Eltern  an  Kindern  oder  von  Kin- 
dern an  Eltern  ist  deutsch.  Die  englische  Familie  ist  'respect- 
able',  an  ihr  haften  nur  läfsliche  Sünden,  und  die  liefern  kein 
Trauerspiel,  kaum  ein  Schauspiel,  aber  süfse  Lustspiele.  Anders 
steht  es  um  die  Kaste.  Da  versteht  der  Engländer  keinen  Spafs, 
die  Konflikte  werden  ernsthaft.  Sie  führen  zwar  nicht  zu  tra- 
gischen Katastrophen  —  tragisch  und  modisch  schliefst  sich  ja 
aus  — ,  aber  sie  streifen  ans  Unglück,  vor  dem  im  letzten 
Augenblick  gebremst  wird.  So  entstehen  aufregende  Schau- 
spiele. Die  Gesellschaft  hingegen  ist  ein  variantenreiches  Thema. 
Sie  wird  ernst  und  heiter  behandelt  und  liefert  realistische  Schau- 
und  Lustspiele,  wenn  sie  illustriert  wird;  sie  wird  auch  kriti- 
siert und  liefert  satirische  Possen  oder  parodistische  Farcen 
unter  Preisgabe  der  realistischen  Darstellung. 

Hiermit  ist  das  modische  Repertoire  noch  nicht  erschöpft. 
Den  oberen  Endpunkt  der  Stimmungsskala  vertritt  die  unmodische 
Tragödie.  Auch  für  sie  wird  Ersatz  gefunden  und  zwar  im 
düsteren  exotischen  Schauspiel.  Exotismus  liegt  hier  nicht  im 
Milieu,  auch  diese  Stücke  spielen  'unter  uns',  sondern  in  Figur 
und  Motiv,  die  pathologisch  oder  kriminell  gestaltet  werden. 

'John  Chilcote,  M.  P/  gehört  mit  seinem  nervösen  Helden 
zur  pathologischen  Serie.  Die  Fabel  ist  sensationell  im  Sinne 
eines  Kolportageromans:  der  kranke  Held  aus  der  vornehmen 
Welt  hat  einen  gesunden  Doppelgänger  unter  den  armen  Advo- 
katen Londons  und  läfst  ihn  ab  und  zu  seinen  Platz  einnehmen 
in  Gesellschaft  und  in  seinem  Heim;  nicht  einmal  die  eigene 
Frau  erkennt  den  Rollentausch;  das  gibt  kritische  Situationen, 
bis  schliefslich  der  Kranke  stirbt  und  der  Gesunde  definitiv  an 
dessen  Platz  tritt.  Dieses  kitzlige  Thema  schreit  nach  der 
Farce.  Doch  Katharine  Cecil  Thurston  hat  einen  dickleibigen, 
ernsthaftigen  Roman  daraus  gemacht,  und  der  wurde  zum  Er- 
folg des  Jahres.    E.  Temple  Thurston  hat  den  Roman  dramati- 


Zur  letzten  Londoner  Theaterseason.  347 

siert,  und  George  Alexander,  der  eleganteste  Schauspieler,  spielt 
im  noblen  St.  Jamses'  Theatre  die  Bombendoppelrolle.  Bald  ist 
er  gesund,  bald  krank,  immer  ernsthaft,  sei  es  sentimental  oder 
tragisch.  Dafs  er  zusamt  dem  Stück  nicht  ausgelacht  oder  aus- 
gezischt wird,  scheint  unbegreiflich.  Aber  es  wird  so  gut  ge-, 
spielt,  und  das  Stück  ist  in  den  Einzelszenen  so  gut  gemacht, 
dafs  man,  wenn  schon  nicht  in  künstlerische  Illusion,  doch  in 
eine  nervöse  Erregung  kommt,  in  der  man  sich  alles  gefallen 
läfst.  Zum  Schlufs  schämt  man  sich  seiner  Eindrucksfähigkeit, 
nimmt  sich  aber  die  brutale  Erfahrung  mit  nach  Hause,  dafs 
man  im  Theater  so  sehr  dem  Moment  ausgeliefert  ist,  dafs  das 
schlechteste  Ganze,  sofern  es  sich  aus  guten  Teilen  zusammen- 
setzt, mit  diesen  zu  wirken  vermag. 

Kriminalistisch  ist  die  Fabel  von  C.  M.  G.  Mclellans  'L  e  a  h 
Kleschna'  gestaltet.  Die  Heldin  ist  unfreiwillige  Verbrecherin, 
vom  Vater  für  sein  Metier,  den  Einbruchsdiebstahl,  abgerichtet. 
Sie  wird  vom  Helden,  den  sie  eben  bestehlen  will,  gerettet:  erst 
weckt  er  mit  seiner  Grofsmut  ihren  schlummernden  moralischen 
Instinkt,  dann  erhebt  er  sie  durch  seine  Liebe  zu  reinem  Men- 
schentum, endlich  legitimiert  er  die  Büfserin  durch  die  Heirat 
vor  der  Welt.  Die  Fabel  ist  spannend,  die  Gegensätze  im  Mi- 
lieu sind  interessant  —  schmutzige  Diebeshöhle  im  plebejischen, 
mondäne  Villa  im  aristokratischen  Paris,  idyllische  Landeinsam- 
keit voller  Tugend.  Dazu  gesellt  sich  aber  leider  die  'moralische' 
Entwickelung.  Diese  Legierung  des  Kriminaldramas  mit  dem 
Charakterproblem  bringt  das  Stück  zu  Falle.  Die  Fabel  wendet 
sich  an  unsere  Phantasie,  und  die  läfst  sich  für  den  Moment 
allerlei  vortäuschen.  Doch  die  Psychologie  weckt  unsere  Kritik, 
und  vor  der  hält  sie  nicht  stand.  Der  Geist  mufs  in  der  Kunst 
echt  sein  oder  alles  ist  verloren. 

Wer  —  um  höflich  zu  sprechen  —  naiv  genug  ist,  solche 
Stücke  ernst  zu  nehmen,  der  lernt  hier  das  'Gruseln',  und  das 
ist  ja  das  Surrogat  für  die  tragische  Stimmung  bei  den  Armen 
im  Geiste.  Das  sind  aber  für  London  die  Reichen  im  Lande. 
Nicht  das  Volk,  sondern  die  Gesellschaft  füllt  dem  Direktor  die 
Kassen  und  setzt  ihn  instand,  die  schlechtesten  Stücke  rüit 
den  besten  Schauspielern  in  schönster  Inszenierung  herauszu- 
bringen. 

Um  eine  Note  leichter  in  Stimmung  sind  die  Kastenstücke 
und  im  Wesen  um  vieles  weniger  unwahr.  Die  Fabel  wird  eben 
hier  nicht  um  ein  aprioristisch  ausgeklügeltes  Problem  herum 
'geschaffen',  sondern  es  liegen  reale  Lebensverhältnisse  zugrunde, 
worin  der  jeweilige  Konflikt  latent  vorhanden  ist.  Das  Was  ist 
realistisch  gegeben,  der  'Dichter'  hat  nur  das  Wie  herauszu- 
arbeiten. Schlimmstenfalls  kann  er  den  guten  Stoff  durch  Ba- 
nalität oder  Raffinement  schädigen. 


348  Zur  letzten  Londoner  Theaterseason. 

Hier!  1  er  gehört  das  Schauspiel  'B  r  o  t  h  e  r  0  f  f  i  c  e  r  s'  von 
Leo  Trevor,  Es  ist  ein  Militärstück:  der  Held,  ein  tapferer 
Unteroffizier,  der  eben  Offizier  geworden  ist,  aber  nicht  'gentle- 
man'  werden  kann,  ein  kreuzbraver  Plebejer,  der  sich  in  die 
'Gesellschaft'  nicht  hineinzufinden  vermag.  Also  eine  prächtige 
Lustspielfigur.  Das  hat  auch  ihr  Dichter  und  noch  mehr  ihr 
Darsteller  bestens  verwertet.  Aber  der  Dichter  wollte  mit  ihr 
'höher  hinaus',  stellte  sie  in  ernste  Herzens-  und  Ehrenkonflikte 
hinein.  An  sich  müfste  das  nicht  unwahr  wirken,  aber  für  diese 
Figur  in  ihrer  genremäfsig  komischen  Ausführung  wirkt  es  stil- 
los. Zudem  verkörpert  die  ernste  Fabel  ältestes  Theater,  wir 
würden  sagen:  Kotzebue.  So  wirkt  der  falsche  Ernst  auf  der 
Basis  echter  Lustigkeit  doppelt  schlecht.  Wertvoll  am  Stück 
ist  sein  englisches  Milieu  —  wahr  und  lebendig,  doch  das  nützt 
dem  Ganzen  nichts,  denn  gute  Nebensachen  können  die  schlechte 
Hauptsache  nicht  bessern. 

Ein  anderes  Stück  derselben  Gattung  war  modernst  fran- 
zösisches Lehngut:  Mirbeaus  'Les  affaires  sont  les  affaires'  unter 
dem  Titel  'Bussiness  is  bussiness'.  Dieser  Titel  war  so  ziem- 
lich das  einzig  gute,  weil  treue  an  der  Übertragung,  denn  sie  war 
weniger  Übersetzung  als  Überarbeitung.  Mirbeau  hat  ein  Kasten- 
stück geschrieben,  durchaus  französisch,  doch  so  tief,  dafs  genug 
allgemein  Menschliches  übrigbleibt,  wenn  man  das  Französische 
abstreift.  Das  Stück  konnte  also  in  fremden  Kulturboden  ver- 
pflanzt werden.  Sydney  Grundy  hat  das  für  England  versucht, 
doch  erfolglos,  weil  er  nur  äufserlich  anglisiert  und  innerlich 
verdorben  hat.  Die  Figuren  des  Originals  scheiden  sich  in  zwei 
Gruppen,  in  die  ordinären  und  vornehmen.  Bei  Mirbeau  sind 
jene  scharf,  diese  zart  gezeichnet;  bei  Grundy  steht  derb  gegen 
flach.  Wenn  die  ordinären  im  Original  stellenweise,  das  heifst 
an  richtiger  Stelle,  auch  komisch  erscheinen,  so  ist  das  ein  or- 
ganischer Beisatz  zur  Charakteristik.  Grundy  übertreibt  das 
komische  Element,  er  sucht  es  zu  äufserlicher  Theaterwirkung, 
er  bringt  es  auf  Kosten  der  Charakteristik.  Die  Individuen  des 
Franzosen  werden  beim  Engländer  zu  Typen,  zum  Teil  sogar  zu 
Popanzen.  Die  Gruppe  der  Vornehmen  —  sei  das  die  äufsere 
soziale  oder  innere  seeliscbe  Vornehmheit  —  werden  in  der 
Kopie  ebenfalls  typisiert  und  verblassen  zu  blutleeren  Schemen. 
Das  war  die  Arbeit  des  englischen  Nachdichters.  Man  möchte 
sagen:  des  Nachrichters,  denn  er  hat  das  Stück  umgebracht. 
Die  Schauspieler  taten  das  ihrige,  um  diesen  Wandel  von  Men- 
schen zu  Puppen  noch  zu  verstärken.  Freilich  Tree  war  eine 
glänzende  Ausnahme,  er  schuf  aus  der  Hauptrolle  ein  schau- 
spielerisches Kabinettstück.  Sein  Izard  war  Typus  und  Indi- 
viduum zugleich,  denn  er  war  —  was  er  sein  sollte  —  typisch  im 
Dämonischen  als  die  Verkörperung  seiner  Leidenschaft,  der  macht- 


Zur  letzten  Londoner  Theaterseason.  349 

suchenden  Geldgier,  individuell  als  reichgewordener  Plebejer  mit 
einer  Fülle  charakteristischer  Details  voller  Komik,  die  aber 
nur  ein  ängstliches  Lächeln  auslöste.  So  blieb  vom  ganzen 
Stück  als  Gutes  nur  die  eine  Hauptrolle,  alles  übrige  ging  in 
Theaterei  unter.  Die  mittleren  Schauspieler  erwiesen  —  für 
London  so  bezeichnend  — ,  dafs  sie  blofs  die  unwahren  Extreme 
darstellerisch  beherrschen :  sie  idealisieren  in  den  blauen  Himmel 
hinauf  oder  chargieren  in  den  Strafsenschmutz  hinab.  Einzig 
der  grofse  Schauspieler  findet  seine  Rettung  im  Genre,  das  er 
mit  grandiosen  Zügen  zu  vertiefen  weifs. 

Die  Gattung  des  Schauspiels  war  stofflich  noch  durch  das 
Gesellschaftsstück  vertreten.  Erwähnenswert  scheint  mir  nur 
'Her  own  way'  von  Clyde  Fitch.  Import  aus  Amerika,  zu- 
gleich mit  der  amerikanischen  Truppe.  Die  Heldin,  vermögend 
zu  Beginn,  verliert  im  Verlauf  des  Stückes  ihr  Geld  durch  ihren 
leichtsinnig  spekulierenden  Bruder;  sie  liebt  einen  sympathischen 
Offizier  und  wird  geliebt  von  einem  unsympathischen  Börseaner. 
Dieser  intrigiert  jenen  aus  dem  Hause  hinaus  bis  nach  Kuba 
hinüber  in  den  Krieg.  Der  Offizier  fällt,  der  Börseaner  siegt 
—  fast,  denn  die  Schwester  soll  sich  für  den  falliten  Bruder 
opfern.  Da  kommt  der  Held  doch  lebendig  zurück.  Es  war 
eine  falsche  Todmeldung.  Der  Held  heiratet  die  arme  Heldin. 
Alles  in  Ordnung.  So  am  Schlufs  des  Stückes.  Am  Schlufs 
der  Vorstellung  aber  war  Unordnung  in  meinem  Kopf  und  Her- 
zen. Ich  wufste  nämlich  nicht,  ob  mich  das  Stück  mehr  durch 
seine  Banalität  oder  durch  seine  Brutalität  beleidigt  hatte,  und 
ob  ich  Mitleid  oder  Scham  für  die  prächtige  Darstellerin  der 
Heldin  fühlen  sollte. 

Interessiert  hat  mich,  zu  sehen,  was  sich  ein  amerikanisches 
(und  leider  auch  englisches)  Publikum  bieten  läfst  im  Hinblick 
auf  das  französische.  Der  Vergleich  zwischen  Mirbeau  und  Fitch 
drängt  sich  auf.  Hier  und  dort  dreht  sich  alles  um  Geld.  Bei 
Mirbeau  ist  es  aber  Symbol,  bei  Fitch  Fetisch.  Dort  wird  es 
zum  Prüfstein  für  die  einzelnen  Menschen,  schafft  Vorgänge, 
worin  sich  das  Geistige  der  Figuren  spiegelt;  hier  ist  es  der 
Wertmesser  der  Menschheit:  negativ  für  Held  und  Heldin,  po- 
sitiv für  alle  anderen.  Ich  fragte  mich  nach  dem  amerikanischen 
Stück:  ist  das  alles  nur  schlechtes  Theater  oder  auch  gutes 
Kulturbild  ? 

Wenn  die  Mondänen  ernst  werden,  werden  sie  lächerlich. 
Besser  verstehen  sie  sich  auf  das  Lachen  im  Theater.  Weniger 
unerfreulich  als  ihr  Schauspiel  ist  ihre  Komödie,  ja  mitunter 
wird  sie  sogar  erfreulich.  Allerdings  sind  ihr  enge  Grenzen  ge- 
steckt: stofflich  mit  Familie  und  Gesellschaft,  stimmungsmäfsig 
mit  den  Varianten  ungetrübter  Heiterkeit.  Das  grimmige  Lachen 
der   satirischen   Komödie   mit  tiefernster  Resonanz   fehlt.     Gat- 


85Q  Zur  letzten  Londoner  Theaterseason. 

tungsmäfsig  ist  das  Lustspiel,  die  Posse  und  die  Farce  vertreten, 
mithin  das  realistische  Lebensbild,  dessen  gesteigerte  Über- 
treibung und  ein  groteskes  Puppenspiel.  Das  liebenswürdige 
Familienleben  mit  seinen  kleinen  Unarten  —  wie  es  der  Eng- 
länder schaut  —  pafst  natürlich  nur  für  das  Lustspiel.  Davon 
habe  ich  zwei  herzige  Dinger  gesehen. 

'Alice,  sit-by-the-fire,  a  page  from  a  daughters 
diary'  von  J.  M.  Barrie  war  echt  englisch.  Eltern  in  Indien, 
Kinder  zur  Erziehung  in  London,  beide  einander  entfremdet. 
Die  Mutter  altmodisch  sentimental,  das  Mädel  von  altkluger 
Reserve  und  Roman-verlesen.  Der  Vater  starrer  Militär,  der 
Bub  gefühlsscheuer  Trotzkopf.  Die  Alten  voll  Vertrauen,  die 
Jungen  voll  Skepsis  an  sich  und  der  Welt,  wie  die  Halbfertigen 
überall  und  besonders  in  England,  v/o  man  vorzeitig  gentleman 
oder  lady  posiert.  Kurz,  ein  köstliches  Quartett  aus  der  Hyper- 
kultur  von  heute.  Zu  Beginn  des  Stückes  erwarten  die  Jungen 
die  Alten.  Die  Herzlichkeit  des  Wiedersehens  geht  in  die  Brüche, 
und  dann  kommen  die  komischsten  Verkennungen,  und  immer 
gröfser  wird  die  Distanz  zwischen  den  Nahgerückten.  Doch  am 
Ende  finden  sie  sich  wieder  zusammen,  weil  sie  alle  —  im  Kern 
ihres  Wesens  gesund  —  zur  klaren  Natürlichkeit  gesunden  müssen. 
Also  endlich  ein  gutes  Stück  —  ein  Lustspiel  voll  Lebenswahr- 
heit trotz  dem  originellen  Thema,  eine  Komödie  von  Bedeut- 
samkeit, weil  sein  lustiger  Oberbau  auf  ernstem  Grunde  steht, 
ein  Drama  mit  innerer  Entwicklung.  Dem  Inhalt  entspricht 
die  Form:  die  Darstellung  leicht,  mehr  andeutend  als  ausfüh- 
rend, die  Fabel  konzentriert  auf  die  natürliche  Dauer  eines 
Tages,  die  Situationen  flott  hingeworfen,  die  Figuren  intim  ge- 
zeichnet, der  Dialog  durchaus  individuelle  Causerie,  das  Ganze 
fast  ohne  Bühnenkonvention  und  Theaterei.  So  wirkt  dieses 
Stück  lustig  auf  die  Oberflächlichen,  bedeutsam  auf  die  Scharf- 
sichtigen, zart  auf  die  Feinfühligen.  Und  diese  Wirkung  wurde 
reizend  verstärkt  durch  die  Aufführung,  besonders  in  den  weib- 
lichen Hauptrollen  der  Mutter  und  Tochter,  von  Ellen  Terris 
als  schon  'komische  Alte'  und  Irene  Vanbrugh  als  noch  'naive 
Jugendliche'  feinster  Prägung.  Ob  das  Stück  den  Weg  zu  uns 
finden  wird? 

Das  andere  Familien -Lustspiel  war  französischer  Import. 
Pierre  Wolffs  'Le  secret  de  Polichinelle'  wurde  zu  'Everybody's 
secret'  unter  den  Händen  von  R.  Marshall  und  L.  N.  Parker. 
Dabei  wurde  selbstverständlich  das  moralische  Niveau  gehoben. 
Während  der  Übersiedelung  des  jungen  Paares  von  Paris  nach 
London  wurde  das  Verhältnis  zu  einer  geheimen  Ehe.  Das  ent- 
zieht zwar  dem  ernsten  Problem  den  Boden,  indem  der  Gegen- 
satz zwischen  legitimer  und  illegitimer  Moral  verwischt  wird, 
aber    es  trifft  nicht   den   Kernpunkt   des   dramatischen   Motivs, 


Zur  letzten  Londoner  Theaterseason.  351 

wie  nämlich  das  Enkelkind  die  Grofseltern  mit  den  Eltern  ver- 
söhnt, die  Familie  leimt.  Das  Stück  ist  eine  reizende  Spielerei, 
verlangt  also  bestes  Spiel.  Das  fand  es  im  Heymarket-Theatre 
und  würde  es  in  jedem  guten  Londoner  Theater  gefunden  haben. 
Modernes  Genre  von  feiner  Charakteristik  ist  ja  das  Gebiet,  wo 
der  englische  Schauspieler  sich  auszeichnet. 

Im  Verfolg  der  Untersuchung  käme  nun  jene  Komödie  in 
Betracht,  die  dem  Stoff  nach  Gesellschaftstück,  der  Art  nach 
Lustspiel  wäre.  Diese  Spezies  gedeiht  nicht  recht.  Figuren 
und  Situationen  sind  hier  greller  als  im  Familien-Lustspiel,  und 
das  verführt  zu  Übertreibungen.  Als  Lustspiel  angelegt,  ent- 
gleist so  ein  Stück  gar  oft  nach  der  Posse  hinüber.  Die  be- 
liebteste Art  ist  die  Posse  selber.  Am  äufsersten  Flügel  steht 
dann  die  Farce. 

Lustspiel  ist  noch  Pineros  'Gab inet  Minister'  mit  seiner 
harmlosen  Gesellschaftssatire.  Freilich  die  Satire  ist  die  Neben- 
sache und  die  Lustigkeit  die  Hauptsache.  Das  mindert  den 
Wert  des  Stückes  vom  Standpunkt  des  Problems.  Und  weil  die 
Lustigkeit  besonders  auf  dem  Gebiet  der  Charakteristik  mitunter 
auf  Kosten  der  Natur  mit  Hilfe  der  Karikatur  bestritten  wird, 
so  verliert  das  Stück  seine  Stilreinheit.  Es  biegt  oft  nach  der 
Posse  hin  ab.  Solche  Stücke  sind  schwer  zu  spielen.  Die  Dar- 
steller, die  mit  ihrer  Wirkung  auf  den  Moment  gestellt  sind, 
greifen  gern  zu  den  drastischeren  Ausdrucksmitteln.  Steht  eine 
Figur  zwischen  Lustspiel-  und  Possenstil,  so  entscheiden  sie  sich 
meist  für  die  gröbere,  aber  eindrücklichere  Karikatur  gegen 
das  feinere  und  stillere  Genre.  So  war  es  auch  diesmal:  es 
wurde  durchweg  vorzüglich  gespielt  von  den  einzelnen,  aber 
es  gab  ein  stilloses  Ensemble  durch  Stilmischung.  Die  einen 
lebten  als  herzgewinnende  Personen,  die  anderen  wirkten  als 
zwerchfellerschütternde  Figuren. 

Schlankweg  Gesellschaftssatire  betreibt  'Mr.  Hopkinson' 
von  R.  C.  Curton.  Freilich  fällt  diese  tatsächlich  doch  nur  als 
Nebenfrucht  ab,  denn  im  wesentlichen  wirkt  diese  Posse  durch 
die  Komik  ihrer  Hauptfigur,  des  reich  gewordenen  Plebejers 
unter  den  Aristokraten.  James  Welch  spielt  ihn  genial.  Er  ist 
der  richtige  Possenspieler.  Unerschöpflich  in  den  lustigen  De- 
tails seiner  Figur,  ist  er  unwiderstehlicher  Komiker;  weil  er  nur 
charakterisierende  Züge  hierbei  verwertet,  wird  er  zum  richtigen 
Schauspieler,  d.  h.  Menschendarsteller;  dafs  er  diese  Vielheit  in 
eine  organische  Einheit  zusammenfliefsen  läfst,  in  Einfachheit 
verlebendigt,  das  stempelt  ihn  zum  wahrhaften  Künstler,  der 
grofszügig  schafft.  Freilich  übertreibt  er,  aber  er  geht  dabei  vom 
Leben  aus  und  erhält  so  seiner  Figur  ein  gut  Stück  Wahrheit 
in  ihrer  Verzerrung.  Diese  Posse  ist  ein  'Schauspielerstück', 
das  erst  durch  die  Darstellung   Leben  gewinnt  wie  ein  Opern- 


352  Zur  letzten  Londoner  Theater eeason. 

libretto  durch  die  Musik.  Von  der  Bühne  herab  vermag  sie 
zu  illusionieren,  wenn  auch  die  Vorgänge  jenseit  der  Wahr- 
scheinlichkeit und  die  Gestalten  unter  der  Wirklichkeit  liegen. 
Freilich  diese  Wirkung  der  Posse,  dafs  wir  uns  an  sie  verlieren, 
ist  auf  die  Zeit  des  Spiels  beschränkt.  Man  lebt  ein  Lustspiel 
in  der  Erinnerung  nach,  aber  man  denkt  an  eine  Posse  zurück. 
Ganz  anders  wirkt  die  Farce.  Das  ist  ein  Puppenspiel,  das 
wir  uns  kaltherzig  vorspielen  lassen.  Figuren  und  Situationen 
sind  unmöglich,  aber  sie  sind  bedeutsam.  Unser  Verstand  spinnt 
die  Fäden  von  diesen  Verzerrungen  des  Lebens  zur  Wirklich- 
keit zurück.  Wir  geniefsen  rein  kritisch.  Es  ist  ein  Spiel  des 
Geistes  ohne  Widerhall  im  Gemüt.  Die  Farce  kann  sehr  lustig 
und  geistreich  sein,  wenn  sie  Witz  hat,  ist  aber  bar  jeden  Hu- 
mors, weil  sich  in  ihr  nichts  an  unser  Mitgefühl  wendet.  Ein 
famoses  Exemplar  dieser  Gattung  war  R.  H.  Davis  'Dictator'. 
Amerikanischer  Import  in  Stück  und  Truppe,  dessen  star  W.  Col- 
lier ein  Meister  seines  Genres  ist,  d.  h.  er  hat  als  Sprecher  und 
Mimiker  eine  so  präzise  Technik,  dafs  man  deren  unpersönliche 
Sicherheit  nur  mehr  mit  dem  Wort  maschinell  bezeichnen  kann, 
ihn  selber  für  eine  ideale  Puppe  erklären  mufs.  Das  Stück  hat 
einen  Schimmer  von  aristophanischer  Ambition  mit  seiner  po- 
litisch-sozialen Satire :  die  zentralamerikanischen  Republiken  mit 
ihren  Revolutiönchen  werden  verhöhnt,  die  Spanier  verspottet 
von  ihren  starkrassigen  Nachbarn  im  sächsischen  Norden. 

Vom  literarischen  Standpunkt  aus  ist  das  modische  Reper- 
toire nicht  sonderlich  fesselnd.  Es  zeigt  im  ganzen  die  inter- 
nationalen Züge  des  Zerstreuungs- Theaters.  Wenn  ab  und  zu 
ein  Stück  literarischen  Wert  besitzt,  so  hat  es  den  sozusagen 
hinterrücks  der  Gattung  gewonnen.  Doch  nach  der  kulturellen 
Seite  hin  wirft  es  seine  Streiflichter.  Besonders  autfällig  und 
bedeutsam  ist  die  Behandlung  des  Lehngutes.  Die  Engländer 
importieren  wie  die  Deutschen,  nur  dafs  diese  übersetzen,  jene 
bearbeiten,  dafs  diese  bei  ihrem  Bildungstrieb  das  fremde  Ori- 
ginal rein  halten  und  als  solches  schätzen,  jene  ihrem  Ge- 
schmack angleichen.  Hierbei  kommt  —  ästhetisch  gewertet  — 
freilich  meist  schlechteres  heraus,  aber  in  dieser  Praxis  spiegelt 
sich  die  stärkere  Rasse.  Als  zähe  Rasse  geben  sich  die  Fran- 
zosen. Sie  importieren  prinzipiell  nicht.  Das  verengt  ihnen 
den  Inhalt  ihres  Theaters,  aber  bewahrt  die  Reinheit  der  Form. 

Noch  mufs  auf  ein  künstlerisches  Verdienst  des  modischen 
Repertoires  verwiesen  werden.  Es  betrifft  die  Darstellung.  Das 
hohe  Drama  hat  in  England  die  Schauspielkunst  stilistisch  nie 
gefördert.  Das  grofse  romantische  Drama  wird  von  Stilmischung 
beherrscht  mit  der  Absicht  auf  Stilgegensatz.  Der  Schauspieler, 
der  alles  gern  unterstreicht,  was  der  Dichter  andeutet,  weil  er 
sich  im  Moment   zur   Geltung   bringen   mufs,   verschärft  diesen 


Zur  letzten  Londoner  Theaterseason.  353 

Gegensatz  und  übertreibt  stilistisch.  Das  klassizistische  Drama 
übertreibt  als  Kopie  selber  und  mit  ihm  sein  Schauspieler.  Dis- 
krete Aufgaben  bietet  dem  Schauspieler  nur  das  'Konversations- 
stück*, um  einen  möglichst  weiten  Terminus  anzuwenden.  Hier 
kann  sich  der  Künstler  als  feiner  Charakteristiker  betätigen,  im 
guten  Stück  mit  demselben,  im  schlechten  über  dasselbe  hin- 
aus. Das  ist  nun  auch  das  Gebiet,  wo  englische  Schauspielkunst 
diesen  Ehrennamen  verdient. 

Eine  Studie  über  das  Londoner  Gesamtrepertoire  darf  nicht 
als  abgeschlossen  gelten,  nachdem  man  Shakespeare,  die  paar 
ganz  alten  oder  ganz  neuen  literarischen  Dramen  und  die  vielen 
nach  Stoff  und  Art  modischen  Theaterstücke  hat  Revue  pas- 
sieren lassen.  Es  wäre  noch  über  das  Schauspiel  der  unteren 
Volksschichten,  über  das  'Melodrama'  und  über  das  'Historien- 
stück', das  Melodrama  der  oberen  Klassen,  sowie  über  die  all- 
seits beliebte  Operette  zu  sprechen.  Mir  erschienen  aber  diese 
Gattungen  seit  meinem  letzten  Bericht  (Band  CIV,  Heft  1/2, 
pag.  162  ff.)  durchaus  unverändert,  und  ich  hätte  dem  damals 
Gesagten  nichts  beizufügen.  Überhaupt  sollten  und  konnten  im 
obigen  nur  etliche  auffällige  Erscheinungen  betrachtet,  mehr 
geschildert  als  beurteilt  werden.  Zur  Kritik  fehlt  mir  das  Ge- 
samtmaterial, ich  habe  ja  doch  nur  24  Theater  besucht  und 
blofs  46  Stücke  gesehen,  und  noch  mehr  die  kulturelle  An- 
empfindung,  die  man  als  Tourist  nicht  gewinnen  kann.  Als 
Fremder  ist  man  zwar  vor  Über-  wie  Unterschätzungen  nicht 
gefeit;  aber  als  Fremder  hat  man  auch  einen  Vorteil:  die 
Scharfsichtigkeit  des  Neulings,  der  nichts  als  selbstverständlich 
hinnimmt  und  darum  vielleicht  manches  sieht,  was  der  Hei- 
mische übersieht.  Das  kann  vielleicht  mit  seiner  notgedrungenen 
Einseitigkeit  versöhnen. 

Innsbruck.  R.  Fischer. 


Archiv  f.  n.  Sprachen.     CXV.  23 


Studien  zur  fränkischen  Sagengeschichte. 


II.  Clothars  Sachsenkrieg  auf  den  Arnulfing  Ansigisel 

tibertragen. 

Die  Sachsenkriege  der  merowingischen  und  kärlingischen  Könige 
sind  zu  ihrer  Zeit  das  Thema  der  fränkischen  Nationaldichtung  ge- 
wesen, bis  sie  im  8.  Jahrhundert  von  den  Kämpfen  gegen  die 
Sarazenen  erst  in  Südfrankreich  und  noch  später  in  Spanien 
abgelöst  wurden.  Nicht  nur,  dafs  wir  mit  Hilfe  von  Sagenresten 
und  Chroniken  eine  ganze  Reihe  von  Sagen  und  Liedern  in  ihren 
Grundzügen  wiederherstellen  können,  die  unabhängig  voneinander 
einzelne  heldenhafte  Züge  aus  den  Kriegen  gegen  Sachsen  oder  Thü- 
ringer verherrlichten,  es  gibt  auch  eine  weitere  Reihe  von  Anspie- 
lungen, die  uns  den  Einblick  in  eine  zyklisch  geschlossene  Gruppe  von 
Sachsenliedern  gewährt,  von  denen  jedesmal  das  spätere  ein  früheres 
voraussetzt,  und  die  im  ganzen  genommen  nach  dem  ersten  Konflikt 
das  Motiv  der  Blutrache  weiterspinnen,  genau  wie  in  den  Lothringern. 

Einen  Einblick  in  diese  zweite,  zyklische  Phase  der  alten 
Sachsendichtung  gibt  uns  der  Prolog  des  in  später  Redaktion  er- 
haltenen Sachsenkrieges  Karls  des  Grofsen  gegen  Wittukind: 
'Wenn  man  die  Geschichte  der  Sachsen  folgerichtig  hören  will,'  hebt 
der  Dichter  an,  'so  mufs  das  Lied  mit  den  Altvorderen  beginnen.'1 

Einer  der  ältesten  Merowinger  hat  nun  die  Unvorsichtigkeit  ge- 
habt, dem  Sachsen  Brunamont  seine  Tochter  Aaliz  oder  Helois  zu 
geben,  die  der  Heide  zur  Frau  begehrt.  Besser  hätte  er  getan,  sie 
mit  einem  Stock  zu  töten,  denn  ihre  Erben  haben  den  Franken  ge- 
waltig zu  schaffen  gemacht.  Nacheinander  traten  die  Sachsen  Broier, 
Justamont,  Guiteclin  auf  und  verlangten  das  Erbe  ihrer  Urahne,  die 
fränkische  Krone,  zugleich  Blutrache  fordernd  für  ihre  getöteten  Väter. 

Broier  oder  Brehier  ist  derselbe,  dessen  epischer  Name  viel- 
leicht von  einem  Thüringerfürsten  Bertharius  hergeleitet  werden  kann, 
dessen  Urbild  aber  der  ähnlich  benannte  Sachse  Bertoaldus  ist, 
den  nach  Liber  Historiae  (Kap.  41)  der  Franke  Clothar  an  der 
Weser  erschlug.  Eine  Tat,  die  vielleicht  die  volkstümlichste  der 
Sachsenkriege  war,  da  wir  sie  im  12.,  13.  Jahrhundert  auch  von 
Ogier  dem  Dänen  erzählen  hören.   Und  als  dritter  im  Bunde  tritt 

1  Tirade  III.     Qu*  de  l'estoire  as  Saunet  vuet  oir  par  raison, 
Des  anciens  derrier[e]  doit  movoir  la  chanqon. 


Studien  zur  fränkischen  Sagengeschichte.  355 

nun  hier  im  Sachsenliede  ein  gewisser  Ans  eis  auf,  der  gleichfalls 
den  Ruhm  beansprucht,  der  Brehiertöter  gewesen  zu  sein.1 

Seine  Tat  wird  in  folgender,  echt  kärlingische  Erfindung  ver- 
ratender Weise  erzählt: 

Nach  der  Unglückshochzeit  der  Aaliz  mit  Brunamont  wehrten 
sich  die  fränkischen  Könige  mannhaft,  einer  nach  dem  anderen.  Bis 
der  letzte  ohne  Erbe  verstarb.  So  wählten  die  Franken  als  Anwalt 
ihrer  Sache  Gottfried  von  Paris  und  nach  ihm  Garin  den  Pikarden. 
(Andere  Hss.:  Girard  le  Pontier.  Später  wird  er  genannt:  Garins 
de  Baviere,  de  Lancele,  de  Sansuerre.)  Das  war  Anse'is'  Vater,  der  den 
Knaben  mit  der  Hirtentochter  zeugte,  den  Knaben,  der  einst  dem 
Heiden  Brehier  an  der  Maas  das  Frankenland  streitig  machen  sollte. 

Damals  hatten  Sachsen  und  Franken  beschlossen,  die  Zwistig- 
keiten  durch  einen  Zweikampf  zur  endlichen  Entscheidung  zu  bringen. 
Es  war  der  Tag,  an  welchem  sie  Ansei's  zum  Ritter  schlugen.  Darauf 
setzte  man  beide  Helden  auf  ein  Eiland  der  Maas  über,  dort  wurde 
Brehier  besiegt.  Wütend  zogen  die  Sachsen  ab,  aber  sie  brachen 
ihre  Eide,  die  Treulosen,  und  liefsen  nicht  davon,  die  Franken  zu 
beunruhigen. 

Ansei's  aber  krönten  die  Franken  in  St-Denis  zu  ihrem  König. 
Gerecht  war  er  und  edel  und  diente  Gott.  Sein  Sohn  war  Pipin, 
der  wackere  Held,  der  den  Sachsen  Justamont  erschlug.  Wittukind 
wollte  ihn  dann  an  Karl  rächen,  —  so  übernahmen  die  Söhne  nach 
ihren  Vätern  die  Geschäfte,  einer  nach  dem  anderen.1 

Nach  dieser  ziemlich  trockenen  aber  übersichtlichen  Analyse 
bringt  die  Tirade  XCVII  eine  weniger  übersichtliche,  mit  ihrer  ver- 
worrenen Genealogie  ergötzliche  Anspielung,  die  jedoch  die  Romantik 
der  Sage  etwas  stärker  hervortreten  läfst: 

Tot  war  Karl  der  Kahle,  der  das  Reich  sich  erobert  hatte,  tot 
Karl  Martell  der  Arglistige,  kein  Erbe  blieb  der  Krone,  nicht  fünften 
Grades,  nicht  sechsten.    Zehen  Jahre  liefsen  sie  drum  Gottfried  von 

Paris   das   Land   und   krönten   dann   Garin   von   zum    König. 

Seine  Frau  war  schön  und  weise,  doch  ohne  Leibesfrucht.  Garin 
aber  besafs  eine  Hirtin,  die  ein  gar  freundliches  Antlitz  hatte;  von 
niedriger  Geburt  zwar,  aber  edlen  Herzens.  Darum  wurde  auch 
ihr  Geschlecht  späterhin  zu  einem  freien  erhoben.  Um  ihrer  Schön- 
heit willen  wurde  Garin  ihr  zugetan  und  war  eine  Nacht  lang  ihr 
Trauter.  In  dieser  Nacht  wurde  der  starke  König  Anse'is  gezeugt, 
der  Brehier  töten  sollte,  Ansei's'  Sohn  aber  war  Pipin,  Pipins  Sohn 
Karl  der  Grofse.  

Wenn  man  diese  beiden  Anspielungen  miteinander  vergleicht, 
so  mufs  man   wohl   zu  der  Überzeugung  kommen :   sie  rühren  nicht 


1  Rohn ström   hat   diese  Erzählung   erwähnt    in   seiner  Dissertation: 
Etüde  sur  Jehan  Bodel.     Upsala  1900,  S.  138. 

23* 


856  Studien  zur  fränkischen  Sagengeschichte. 

von  derselben  Hand  her.  Wenn  auch  die  Grundzüge  der  Dichtung 
durch  beide  in  gleicher  Weise  festgelegt  werden,  so  ist  doch  ein  ge- 
waltiger Unterschied  in  der  Auffassung  zu  erkennen.  In  der  einen 
werden  Dinge  berichtet,  die  in  der  anderen  ausgelassen  sind,  im 
Wortlaut  sind  sie  durchaus  unabhängig  voneinander,  die  erste  läfst 
die  Romantik  der  Sage  kaum  zu  Wort  kommen,  die  zweite  widmet 
ihr  zwar  das  Hauptinteresse,  sucht  aber  das  ihr  darin  mit  der  gesell- 
schaftlichen Konvention  unvereinbare  auf  ihre  Weise  zu  interpretieren: 

Ein  niedrig  Ding,  —  aber  das  Herz  war  edel, 
Ihr  Geschlecht  wurde  drum  von  Abgaben  befreit. 

In  der  ersten  ist  Anse'is'  Mutter  Hirten tochter,  fllle  au  vachier, 
in  der  zweiten  hörige  Kuhmagd  seines  Vaters. 

In  der  ersten  ist  Gottfried  von  Paris  nicht  nur  zeitweilig  Statt- 
halter. 'Nach  ihm'  erst  wählen  sie  Garin  zum  König.  In  der  zwei- 
ten ist  Gottfried  Statthalter  auf  zehn  Jahre.  Die  phantastische 
Unterbringung  von  Karl  dem  Kahlen  und  Karl  Martell  der  zweiten 
Anspielung  kommt  hinzu.  — 

Unabhängig  von  Verknüpfungen  mit  früherer  und  späterer  Ge- 
schichte genommen,  sind  wir  im  Gebiet  echt  fränkischer,1  speziell 
kärlingischer  Sage:  Anse'is  ist  Bastard  des  im  Ehebett  kinderlosen 
Königs  von  einer  Hirtentochter.  Er  dient  in  untergeordneter  Stellung 
im  Heere  und  wird  in  nicht  näher  bezeichneter  Weise  zum  Retter 
auserkoren :  wie  Ansei's  zum  Sohne  einer  Kuhmagd,  macht  die  spätere 
Sage  Hugo  Capet  zum  Metzger.  Aussetzen  des  Neugeborenen  (Bueve 
v.  Hanstone,  Doon  v.  Mainz,  Wolfdietrich),  einsame  Walderziehung 
mit  Verspottung  des  naiven  Helden  bei  Eintritt  in  die  Welt  ver- 
bunden [Siegfried,  Parzival,  dem  alten  Frankreich  war  hierfür  Aiol 
das  Muster),  Verbannung  des  Jünglings  gehören  ebenfalls  hierher. 
Besonders  häufig  findet  das  'Martyrium  junger  Heldenschaft'  in 
Küche  oder  auch  im  Garten  statt.  Es  ist  hierin  der  Hang  märchen- 
bildender Zentren  zu  sehen,  den  Helden  aus  dem  Dunkel  oder  aus 
der  eigenen  niederen  Sphäre  als  Erlöser  erscheinen  zu  lassen,  eine 
Anzahl  typischer  Züge  immer  wiederholend,  was  die  Theorie  hervor- 
gerufen hat,  alle  diese  Heldenjugenden  seien  von  einem  Märchen- 
typus abzuleiten. 

Zu  diesen  internationalen  Zügen  unserer  Anspielung  auf  Anse'is 
kommt  seine  Bastardschaft,  die  zwar  aus  gleichen  volkstüm- 
lichen Anschauungen  entspringt,  aber  speziell  der  älteren  kärling- 
schen  Sage  angehört.    Dir  Ursprung  liegt  in   der  bestrittenen   Ehe 

1  Aus  früher  Merowingerzeit  erinnert  man  sich  der  romantischen  Lieben 
Chariberts:  die  erste  zu  einer  Wollmacherstochter,  die  ihm  die  Gattin  aus 
dem  Kopf  bringen  wollte,  indem  sie  dem  flatterhaften  Ehemann  den  Woll- 
macher bei  der  verachteten  Handarbeit  vorführte.  Die  zweite,  wie  hier,  zu 
einer  Hirtentochter.  (Gregor  IV,  26)  'Habuit  et  aliam  puellam  opüionis, 
id  est  pastoris  ovium,  filiam  nomine  Theudogildem,  de  qua  et  filium  fertur 
habiMssc.' 


Studien  zur  fränkischen  Sagengeschichte.  357 

Pipins  deß  Mittleren  mit  der  Nebengattin  Alphaid,  aus  welcher  Karl 
Martell  entsprofs,  der  gegen  die  Söhne  aus  Pipins  erster,  rechtmäfsi- 
ger  Ehe  mit  Plektrud  den  Platz  behauptete.  Diese  an  romantißchen 
Elementen  reiche  Grundlage  hat  sich  die  Sage  natürlich  zunutze 
gemacht,  und  wir  haben  ihr  bereits  ein  Kapitel  unserer  Studien  ge- 
widmet. In  gröfserem  Umfang  ist  dieselbe  in  einer  Übertragung  auf 
Karl  den  Grofsen  erhalten,  der  der  Sage  dadurch  ebenfalls  zum 
Bastard  wurde.  Als  älteste  Form  dieser  Tradition  bezeichnete  Gaston 
Paris  seinerzeit  diejenige  der  von  ihm  benannten  Chronique  Sain- 
tongeoise  (Histoire  Poetique  S.  224). l  Eine  Alte  schiebt  Pipin  ihre 
Tochter  statt  der  Prinzessin  aus  Ungarland,  Bertha,  unter.  (Das  ist 
wohl  aus  der  Sage  von  der  untergeschobenen  Braut.)  Die  echte 
Bertha  soll  im  Walde  ermordet  werden,  flüchtet  aber  zu  einem 
Kuhhirten  Pipins  (Li  vachiers  Pepin).  Später  wird  Pipin  über 
die  falsche  Bertha  aufgeklärt,  findet  durch  Zufall  die  richtige  bei 
seinem  hörigen  Hirten  und  zeugt,  noch  ohne  sie  zu  kennen,  in  der 
Nacht  des  Wiedersehens  Karl  den  Grofsen.  Lassen  wir  an  dieser 
Stelle  der  Chronik  das  Wort:  'Der  König  sah  Bertha;  und  von  dem 
Augenblick  ab  konnte  er  die  Augen  nicht  von  ihr  wenden  und  frug 
die  Frau  des  Hirten  und  den  Hirten  selber,  wer  6ie  sei,  und  der 
erzählte,  wie  er  sie  gefunden  habe.  Und  der  König  bat  ihn,  sie  ihm 
die  Nacht  in  sein  Lager  zu  geben;  der  Hirte  sagte  zu  und  machte 
ihnen  ihr  Bett  auf  einem  Karren,  der  vor  der  Türe  stand  und  mit 
Farnkräutern  beladen  war  . . .' 

Und  nicht  anders  das  franko -italische  Gedicht  von  Berta  de 
li  gran  Pie:  Eine  innere  Regung  läfst  in  Pipin  eine  heftige  Neigung 
zu  der  Hirtentochter  entstehen.  Der  Hirt  weigert  sie  ihm,  aber  sie 
ist  bereit,  ihm  den  Willen  zu  tun,  weifs  sie  doch,  dafs  sie  seine  recht- 
mäfsige  Gattin  ist,  wenn  auch  in  ihrem  Lager  eine  andere  weilt. 
Zum  Hohn  deckte  ihnen  nun  der  empörte  Hirt  das  Lager  auf  einem 
Karren  —  aber  dieses  wohl  ursprüngliche  Motiv  hat  auch  die  Dich- 
tung nicht  rein  bewahrt:  der  König  befiehlt  hier,  das  Lager  in 
der  beschriebenen  Weise  zurechtzumachen,  wegen  der  grofsen  Hitze. 
(V.  1130.) 

Iste  fuit  in  carro  natus  bemerkt  eine  Chronik  von  Karl  dem 
Grofsen,  und  der  Prosaroman  von  Berthe  as  grans  pies  führt  gar  von 
char  den  Namen  Charles  her,  während  der  flämische  Lekenspiegel 
Bertha  zu  einem  Dienstwyf  erniedrigt  {Eist.  Poet.  S.  227). 

Da  die  Sage  von  Bertha  als  die  unmittelbare  Nachahmung 
der  historischen  von  Alphaid  ihrerseits  als  älter  anzusehen  ist  als 
unsere  Anse'issage,  so  sehen  wir  in  ihr  das  Vorbild  der  entsprechen- 
den Züge  im  Anseis:  wie  sich  Pipin  zur  vermeintlichen  Findlings- 
tochter seines  Kuhhirten  herabläfst,  so  läfst  sie  Garin,  Anseis'  Vater, 
die  Nacht  bei  seiner  fille  au  vachier  zubringen.    Das  'Wie'  ist  uns 

1  cd.  F.  W.  Bourdillon,  London  1897. 


858  Studien  zur  fränkischen  Sagengeschichte. 

in  der  knappen  Anspielung  des  Sachsenliedes  nicht  überliefert.  Aber 
es  ist  wohl,  bei  der  augenscheinlichen  Abhängigkeit  von  der  Bertha- 
sage,  kaum  ein  Zweifel,  dafs  auch  hier  der  Hirt  dem  König  das 
Lager  in  der  poetisch-symbolischen  Weise  unter  freiem  Himmel  be- 
reitete, wie  Berthas  Pflegevater  dem  Pipin.  So  gibt  sich  der  erste 
Teil  der  Enfances  Anse'is  als  ein  Schöfsling  der  Berthasage,  aus  der 
Form  entsprossen,  welche  sie  in  der  Chronique  Saintongeoise  und 
der  franko-italienischen  Dichtung  besitzt,  und  die  Gaston  Paris,  wohl 
nicht  mit  Unrecht,  für  die  primitivste  hielt. 

Der  zweite  Teil  der  Enfances,  die  Entscheidung  des  Sachsen - 
krieges  durch  einen  Zweikampf,  die  Besiegung  und  Tötung  Brehiers, 
bieten  der  Quellenforschung  kein  schwierigeres  Problem.  Die  Sage 
ist  uns  in  Verbindung  mit  historischen  Vorgängen  bereits  im  7.  Jahr- 
hundert durch  das  Liber  Historiae  berichtet;  freilich  nicht  von  einem 
Anse'is,  sondern  von  dem  Merowinger  Clothar  II.  (anno  622). 
Dagobert  steht  an  der  Weser  den  Sachsen  gegenüber.  Im  Kampfe 
wird  ihm  eine  Locke  abgeschlagen,  und  er  sieht,  dafs  er  der  Gegner 
allein  nicht  Herr  werden  kann.  Da  sendet  er  durch  einen  Boten  die 
Locke  dem  Vater  Clothar  'zum  Zeichen  der  Not'.  Gewaltige  Freude 
herrscht  im  Frankenlager,  als  Clothar  naht.  Der  Sachse  Bertoaldus 
fragt  über  den  Strom  hinüber,  warum  diese  Freudenausbrüche?  Man 
antwortet:  Clothar  sei  da.  Ungläubig  ruft  er:  'Clothar  ist  ja  längst 
gestorben!'  Da  nimmt  Clothar  den  Helm  ab  und  zeigt  sein  langes, 
graues  Königshaar.  Wütend  beschimpft  ihn  Bertoaldus,  Clothar  aber 
setzt  mit  dem  Pferde  über  die  Weser,  besiegt  und  tötet  den  Sachsen 
im  Zweikampf  und  schlägt  die  Heiden  in  die  Flucht. 

Von  Historikern  wie  Sagenforschern  ist  längst  erkannt,  dafs 
dieser  Bericht  eines  realen  Hintergrundes  entbehrt:  Weder  Gregor 
noch  der  sog.  Fredegar  wissen  von  einem  solchen  Erlebnis  Clothars  H. 

Anders  freilich  bei  Clothar  I. :  Er  ist  es  gewesen,  der  im  Jahre 
531  dem  Bruder  Theodorich  beistehen  mufste,  die  wortbrüchigen  Thü- 
ringer zu  züchtigen.  Da  nun  die  Sage  zwischen  erstem  und  zweitem 
des  Namens  nie  unterscheidet,  ist  wohl  die  Übertragung  des  Liber 
Historiae  von  Clothar  I.  auf  den  zweiten  lediglich  ein  Irrtum. 

Historisch  ist  nun,  dafs  Clothar  I.  nach  Besiegung  der  Thü- 
ringer: Radegundis  (die  spätere  Heilige),1  eine  Tochter  des  bereits 
aus  dem  Wege  geräumten  Fürsten  Bertharius,  als  Kriegsbeute 
mitnahm  und  ehelichte.  Und  so  ist  wohl  möglich,  dafs  dieser  ver- 
ewigte Schwiegervater  wiedererweckt  und  zum  Riesen  Bertoaldus 
wurde.     Warum  freilich  der  Name  geändert  ist,   wäre  nicht  leicht 

1  Nicht  vergessen  soll  werden,  dafs  Kurth  (S.  355  des  gen.  Werkes) 
der  Ansicht  ist,  dafs  sich  in  der  Geschichte  der  Burgunderin  Chrotochildis 
und  ihrer  Brüder  die  Schicksale  der  jüngeren  Radeguudis  und  der  Thü- 
ringerfürsten  widerspiegeln.  Die  chronologische  Umdrehung  scheint  die 
geistreiche  Deutung  unmöglich  zu  machen. 


Studien  zur  fränkischen  Sagen  geschieh  te.  359 

zu  sagen.  Suchier  hat  (Zeitschr.  f.  rom.  Phil.  XVIII,  S.  190)  auf 
einen  rebellischen  Hausmeier  Namens  Bertoaldus  aufmerksam  ge- 
macht, von  dem  Fredegar  (IV,  28)  berichtet:  er  wurde  durch  Leute 
Clothars  IL  getötet,  nachdem  er  den  Führer  vergeblich  zum  Zwei- 
kampf herausgefordert.  Wir  hätten  also  in  Bertoaldus  zwar  den 
Thüringerfürsten  Bertharius  zu  sehen,  allerdings  durch  Vermischung 
mit  einem  rebellischen  Hausmeier  umgetauft. 

Aber  das  Liber  Historiae  trägt  vielleicht  ausschliefslich  die  Schuld 
dieser  Neubenennung:  denn  die  Tat,  die  wir  von  Anse'is  hörten, 
stimmt  zu  der  von  Clothar  I.  berichteten  nicht  nur  in  der  Grundlage: 
Kooperation,  Besiegung  im  Zweikampf,  sondern  das  bisher  wahr- 
scheinliche Urbild  von  Bertoaldus:  Bertharius  ergibt  laut- 
gesetzlich Brehier.  Das  hat  schon  Suchier  bemerkt  (a.  a.  0., 
vgl.  auch  Voretzsch,  Epische  Studien  I,  S.  229),  und  es  ist  schwer 
an  dieser  Tatsache  vorüberzukommen.  Da  nun  im  12.  Jahrhundert 
der  typische  Sachsenkämpe  noch  Brehier  —  Braier,  Broier  hiefs, 
wie  der  historische  Vater  von  Clothars  Kriegsgefangenem  Bertha- 
rius, so  scheint  umgekehrt  der  Name  Bertoaldus  im  Liber  Historiae 
lediglich  auf  Kosten  dieser  Version  gesetzt  werden  zu  müssen  und 
zwar  als  eine  lokal  beschränkte  Übertragung  oder  ein  Irrtum. 

Denn  solche  Übertragungen  finden  wir  ja  auch  hier:  von  einem 
Anse'is  wird  das  erzählt,  was  Clothar  getan  hat,  und  zur  selben  Zeit 
wird  dieselbe  Tat,  die  Brehiertötung,  in  einer  anderen  Gegend  von 
Ogier  erzählt.  Alberich  von  Trois  Fontaines  schliefslich  mufs 
die  Sage  auch  noch  von  ihrem  Urbild  gekannt  haben,  denn  er  spricht 
von  Ogier,  der  im  Heldengedicht  Lotharius  Superbus  genannt  würde. 

Nun,  diese  Dinge  sind  oft  genug  besprochen  worden.  Über 
jeden  einzelnen  Punkt  sind  Zweifel  geäufsert  worden,  wir  werden  uns 
nicht  hier  zu  erneuter  Polemik  bequemen.  Alle  bisherigen  Gegner 
von  Voretzschs  Ausführung,  dafs  Ogiers  Schlufstat  einem  Sachsen- 
krieg nachgeahmt  sei  —  auch  Settegast,  der  in  diesem  Kapitel  ledig- 
lich Hunnensage  sehen  wollte  und  Brehier  aus  einem  Zabergan  her- 
holte — ,  werden  einsehen,  dafs  die  nun  nachgewiesene  Anse'isversion, 
die  organisch  zu  den  Sachsenkriegen  gehört,  Voretzschs 
Ansicht  unantastbar  macht. 


Auch  der  zweite  Teil  der  Geschichte  von  unserem  Anse'is  zeigt 
sich  als  eine  Nachahmung  von  Clothars  Sachsenkrieg.  Wie  dort, 
tritt  ein  unerwarteter  Retter  auf  (Kooperation),  —  wie  dort  findet  die 
Entscheidung  an  einem  Flusse  statt,  diesmal  an  der  Maas,  —  wie 
dort  besiegt  der  im  Mittelpunkt  stehende  Held  den  Sachsenkönig  im 
Zweikampf,  der  hier  Brehier,  dort  Bertoaldus  heilst. 

Sind  wir  also  über  die  beiden  Sagenmotive  der  Enfances  rei 
Anse'is  vollkommen  im  klaren,  so  überrascht  nur  eins.  Warum  ist 
diese  Tat,  die  wir  von  Clothar  I.  auf  Clothar  IL  übertragen  sehen, 


360  Studien  zur  fränkischen  Sagengeechichte. 

die  wir  von  dem  auch  sonst  sagenberühmten  Ogier  erzählen  hören 
—  warum  ist  sie  hier  von  einem  ganz  unbekannten  Helden  erzählt? 
Gaston  Paris  hielt  die  Persönlichkeit  wohl  für  eine  Fiktion  Jean 
Bodels,  des  Redaktors  der  Saisnes  (Hist.  Poet.  S.  22 1)1:  'Cet  Anse'is, 
fils  de  Garin  le  Poyer  ou  le  Picard  et  d'une  fille  de  vacher,  deliira  la 
France  du  Saxon  Broier,  qui  pretendait  la  posseder  du  chef  de  son 
äieul  Floovant.  Les  Francais  reconnaissants  couronnerent  Anse'is,  qui 
fut  lepere  de  Pepin.  Teile  est  la  singuliere  genealogie  de  Charlemagne 
d' apres  Bodel;  on  y  reconnait  des  Souvenirs  confus  des  changements 
de  dynastie  qui  eurent  Heu  en  France  ä  deux  reprises  . . .' 

In  der  Tat,  vergebens  suchen  wir  im  Epos  nach  einem  Ansei's,  der 
als  ein  Vorbild  unseres  Helden  gelten  könnte,  der  uns  den  'epischen 
Namen'  zu  unserer  Anspielung  lieferte:  Anse'is  fis  Girbert  aus 
den  Lothringern,  Anse'is  einer  der  zwölf  Pers  im  ältesten  Karlsepos 
passen  beide  nicht,  Anse'is  de  Carthage  ist  Neffe  Karls  des  Grofsen 
und  nicht  Vorfahr  und  wohl  erst  spät  überhaupt  zu  einem  solchen 
geworden. 

Die  Rolle  unseres  Anse'is  als  König,  als  Vater  Pipins,  als 
Vorfahr  Karls  desGrofsen  ist  zu  bestimmt  gefafst,  um  mit  irgend- 
einer Person  identifiziert  werden  zu  können,  die  nicht  historisch  an 
dieser  Stelle  steht.  Und  wenn  es  eine  solche  nicht  gibt,  so  hört  die 
Erfindung  der  Poeten  oder  Diaskeuasten  nicht  mit  Jeoffroi  de  Paris 
und  Garin  le  Pohier  auf,  wo  sie  ersichtlich  ist,  sondern  schliefst 
Anse'is  noch  mit  ein,  wie  Gaston  Paris  vermutete. 

Eines  anderen  belehren  uns  die  Genealogien  der  Arnulfinge. 
Da  finden  wir  zu  unserer  Überraschung,  dafs  die  Angaben  des  Ge- 
dichtes nach  unten  hin  richtig  sind:  Ansigisus,  Ansigisilus 
(>  Anse'is)  ist  eine  historische  Person.  Er  ist  der  älteste  Sohn  des 
heiligen  Arnulf,  Erzbischofs  von  Metz,  des  Stammvaters  der  Kärlinge. 
Er  ist  der  Vater  Pipins  II.,  der  hier  als  Vater  Karls  des  Grofsen  gilt. 
—  Aber  erst  Pipin  III.  ist  ja  Vater  Karls  des  Grofsen?  —  Wenn 
wir  noch  ein  Zeugnis  dafür  brauchten,  dafs  unsere  Sage  und  ihre 
Chronologie  volkstümlich  von  geschriebener  Chronik  unbeeinflufst 
ist,  so  besitzen  wir  es  an  dieser  Genealogie: 

Arnulf 

I 
Ansigisil 

I 
Pipin  H. 

I 
Karl  [Martell] 

Pipin  III. 

I 
Karl  [der  Grofse]. 


1  [Vgl-  aber  seine  Legendi  de  Pepin  le  Bref  in  den  Melanges  J.  Havet, 
1895,  605  f.] 


Studien  zur  fränkischen  Sagengeschichte.  361 

Das  ist  eine  Filiationstabelle,  welche  nur  die  Chronik  ausein- 
ander halten  kann:  zwei  Pipin,  die  beide  Vater  eines  Karl  sind, 
konnte  die  Sage  nicht  auseinander  halten,  verschmolz  die  Paare  und 
kannte  dann  nur  einen  Pipin,  nur  einen  Karl.  Wie  in  Nord- 
frankreich alle  Taten  Karl  Martells  auf  Karl  den  Grofsen  übertragen, 
Pipin  IL  und  III.  zusammengeworfen  wurden,  das  haben  wir  hier 
bereits  gestreift  und  ist  so  oft  und  so  gründlich  behandelt  worden, 
dafs  wir  uns  mit  dem  Hinweis  auf  Pio  Rajnas  Carlo  Magno  e  Carlo 
Martello  aus  seinen  Origini  delV  Epopea  Francese  begnügen  können. 

Wenn  Jean  Bodel  oder  einer  seiner  Kollegen  an  unseren  An- 
spielungen etwas  erfunden  hat,  so  ist  es  die  Unterbringung  von  Karl 
Martell  vor  Anseis.  Denn  durch  den  eben  geschilderten  Verein- 
fachungsmodus der  Sage  wurde  ja  Karl  Martell  herausgedrängt,  der 
'gebildete'  Interpolator  aber,  bestrebt,  seine  teuer  erworbenen  Ge- 
schichtskenntnisse an  den  Mann  zu  bringen,  auf  der  anderen  Seite 
nicht  imstande,  das  Fleckchen  wiederzufinden,  wo  er  historisch  hin- 
gehörte, machte  ihn  und  Karl  den  Kahlen  gar  noch  dazu  —  pro 
pudor!  —  zum  Ahnen  seiner  Ahnen. 

Also  Ansei's  ist  keine  Fiktion  Jean  Bodels,  die  Genealogie  von 
ihm  bis  zu  Karl  dem  Grofsen  keine  Reminiszenz  aus  Chroniken  — 
echte,  lebendige  Sage  ist  es,  die  wir  angetroffen  haben,  mit  ihrem 
angestammten  Schmucke  und  ihren  ureigenen  Irrungen. 

Wenn  er  auch  an  der  Echtheit  unserer  Sage  zweifelt,  so  scheint 
Pio  Rajna  die  Tatsache  an  sich,  dafs  unser  Ansei's  der  Arnulfing 
Ansigisel  ist,  erkannt  zu  haben.  Aber  aus  mir  unerfindlichen  Grün- 
den spielt  er  in  seinem  Hauptwerk  auf  diese  Beziehung  nur  an, 
ohne  sie  näher  darzulegen  (S.  246  op.  cit.):  (E  a  piü  forte  ragione  (als 
die  Übertragung  der  Enfances  Pepin)  rimetto  ad  altro  luogo  il  parlare 
del  padre  di  questo  nostro  Pipino,  Ansegisilo  o  Anschiso,  eroe  anch'  esso 
di  canti,  vivo  ancora  nella  tradizione  poetica  del  secolo  XII,  ma  al 
quäle  l'onore  di  figurare  nelV  epopea  potrebbe  essere  stato  procaeciato 
postumente  dalla  gloria  del  figlio  e  degli  altri  discendenti. 

Wenn  dem  so  wäre,  wenn  die  Sage  Ansegisus  erst  dann  zum 
Objekt  gewählt  hätte,  als  seine  Enkel  und  Urenkel  die  grofsten  der 
Franken  geworden  waren,  woher  dann  die  Kenntnis  seines  Namens? 
Epische  Väter  sind  freilich  jünger  als  ihre  Söhne,  diese  Erkenntnis 
ist  ja  schon  zum  Gemeinplatz  geworden.  Aber  dann  tragen  sie 
auch  keine  historischen  Namen!  'Aus  einer  Chronik  sei  der 
Name  übernommen  worden!'  —  Ich  schreibe  diese  Entgegnung  nicht 
als  einen  Einwand  Rajnas  hin,  der  eine  solche,  seinem  eigenen  System 
gegensätzliche  nicht  erheben  würde.  Ich  schreibe  sie  nur,  um  daran 
zu  erinnern,  dafs  sie  schon  widerlegt  ist,  ad  absurdum  geführt  durch 
die  rein  sagenhafte  Genealogie,  welche  Ansei's  in  unserer  Anspielung 
mit  Karl  dem  GrofBen  verbindet. 

Da  nun  der  erste  Teil  der  Enfances  rei  Anseis  Motive  aus  der 
Jugendsage  der  beiden  Karl  verwendet,  so  ist  die  Form  der  Sage 


362  Studien  zur  fränkischen  Sagengeschichte. 

freilich  jünger  als  diese  Tradition;  und  da  sie  zudem  als  zweites 
Element  die  berühmte  Tat  Clothars  auf  ihn  überträgt,  so  gibt  sie 
vorab  nichts  von  organisch  zu  Ansei's  gehörendem  Sagengut  wieder. 
Es  ist  nur  der  'epische  Name'  und  seine  Stellung,  die  echt  sind.  Ein 
epischer  Name  Anseis  in  dieser  Stellung  aber  setzt  verlorene,  orga- 
nisch zu  seinen  Taten  gehörende  Dichtungen  über  ihn  voraus. 

Die  Persönlichkeit  des  Ansigisus  war  den  Arnulfingen  besonders 
teuer  aus  einem  Grunde,  den  man  nicht  belachen  soll.  Denn  ein 
solches  Aufschauen  zu  einer  älteren  Kultur,  ein  solches  Bestreben, 
mit  der  höheren  Kultur  sich  äufserlich  zu  verbinden,  zeigt  die  Er- 
kenntnis ihrer  Superiorität  und  ist  die  Quelle  innerer  Assimilation: 
die  Ähnlichkeit  des  Namens  Ansigisus  mit  Anchises,  dem  alten 
Trojanervater,  von  dem  die  Römer  sich  herleiteten,  begründete  eine 
phantastische  Ableitung  von  den  Trojanern.  Überall  in  den  Taten 
der  Bischöfe  von  Metz  (Pertz  II,  S.  264),  dem  Epitaphium  der  Rothaid, 
Pipins  Tochter  (ebda.  S.  265),  stofsen  wir  auf  sie: 

Aber  Anchises,  ihr  wackerer  Ahnherr,  führt  seinen  Namen 
Von  dem  greisen  Vater  des  ältesten  Römers  her.1 

Noch  Alberich  von  Trois-Fontaines  nennt  ihn:  Ansigisus 
qui  et  Anchises  (ad  644,  685).  Mousket  nennt  ihn  Angis  (21  512), 
ohne  von  einer  Sage  über  ihn  etwas  zu  wissen. 

Es  hätte  wirklich  etwas  Bestechendes,  in  der  Übertragung  der 
Tat  von  einem  Merowing  auf  einen  Arnulfing,  von  Clothar  auf 
Anseis,  eine  familienpolitische  Tat  des  jüngeren  Geschlechtes  zu  sehen, 
aber  wieder  steht  uns  die  echt  volkstümliche  Art  der  Enfances  Anseis 
entgegen:  denn  eine  solche  tendenziöse  Dichtung  würde  sich  enger 
an  die  Chronik  und  Chronologie  gehalten  haben,  würde  ihn  nicht 
zum  Bastard  gemacht  haben,  sondern  ihn  nach  Anschises  etwa  Angis 
und  nicht  lautgesetzlich  nach  Ansigisus:  Anseis  genannt  haben. 

Nein!  Eine  tendenziöse  Dichtung  sind  diese  Enfances  nicht, 
und  die  Tat,  die  von  dem  reifen  Manne  berichtet  wurde,  die  Rolle, 
die  König  oder  Held  Anseis  historisch  und  episch  gespielt,  sie  mufs 
bestanden  haben,  um  Enfances- Dichtung  und  epischen  Namen 
entstehen  lassen  und  überliefern  zu  können.  Und  sie  hat  auch  be- 
standen, wenn  es  auch  wiederum  nur  Chroniken  sind,  die  ein  Echo 
von  den  ihm  gewidmeten  Sagen  widerhallen.  Anseis  hat  in  dem 
schon  öfters  besprochenen,  epische  Spuren  deutlich  verratenden  Thü- 
ringerkriege von  641  historisch  eine  Rolle  gehabt.  Zwar  nennt  ihn 
Frede  gar  (Buch  IV,  Kap.  87)  in  diesem  Kriege  Adalgyselus 
(Algiselus),  doch  läfst  Dahn  keinen  Zweifel  an  der  Identität  beider 
Persönlichkeiten.  Ja,  er  nennt  ihn  im  Laufe  seiner  Urgeschichte  der 
germanischen  und  romanischen  Völker  mehrfach  Adalgisil,  im  Re- 
gister allerdings    nur  unter  Ansigisel  (S.   645,   6).     Es  'begegnet 


Ast  abavus  Anschise  potens,  qui  dacit  ab  üb) 
Trojano  Anchüa  longo  posi  tempore  nomen. 


Studien  zur  fränkischen  Sagen  geschiente.  363 

Adalgisil  auch  nach  Pipins  Tode  nicht  wieder  als  major  domus,  viel- 
mehr tritt  Pipins  Sohn  Grimoald  alsbald  in  dieses  Amt.  Einen 
Bruch  mit  Arnulfs  Sohn  hat  man  aber  um  deswillen  nicht  anzuneh- 
men: Adalgisil  erscheint  640  als  Heerführer  in  Sigiberts  Feldzug 
gegen  die  Thüringer  neben  Grimoald.' 

Der  gesprächige  Fredegar  berichtet  aber  (IV,  77):  Radulf us  der 
Thüringerherzog  war  im  Kampf  gegen  die  Wenden  Sieger  geblieben, 
und  im  Hochmut  darüber  versuchte  er  mehrmals  dem  Herzog  Adal- 
gyselus  nachzustellen  und  wandte  sich  nach  und  nach  auch  gegen 
Dagoberts  Sohn  Sigybertus.  Wer  den  Streit  sucht,  der  hat  Kampf 
im  Sinn  ...  (IV,  87).  Im  achten  Regierungsjahre  des  Sigybert  (641) 
brach  er  los.  Sigybert  berief  stracks  den  Heerbann,  setzte  über  den 
Rhein,  jagte  des  Thüringers  Genossen  Fara  in  die  Flucht  und  drang 
ins  Thüringerland  ein.  Ein  Schwur  einte  die  Herzöge,  Radulf  nicht 
länger  leben  zu  lassen;  aber  es  kam  anders!  Radulf  baute  sich 
nämlich  ein  festes  Kastell  an  der  Unstrut  und  liefs  sich  ruhig  vom 
Gegner  umzingeln.  Sigybert  war  jung  und  ungeduldig;  und  obgleich 
die  Herzöge  Adalgisil  und  Grimoald  ihn  ohne  Unterlafs  bewachten, 
befahl  er  ohne  Beratung  den  Angriff.  Radulfus  aber  hatte  ein  ge- 
heimes Einverständnis  mit  gewissen  fränkischen  Herzögen,  fiel  aus 
und  brachte  den  Franken  eine  empfindliche  Niederlage  bei.  Viele 
Tausende  von  ihnen  sollen  getötet  worden  sein.  Sigybertus  aber,  nach- 
dem Radulf  sich  wieder  in  seine  Burg  zurückgezogen,  safs  auf  dem 
Boden  und  weinte  bittere  Tränen  über  die  Verlorenen.  Die  Mainzer 
sollen  es  gewesen  sein,   die  in  diesem  Kampfe  sich  treulos  erwiesen. 

Kurth  ist  in  seiner  Histoire  Poetique  des  Merovingiens  S.  466 
den  sagenhaften  Zügen  dieser  Darstellung  gerecht  geworden.  Frede- 
gars  Darstellung  macht  den  Eindruck,  als  ob  die  Fülle  der  ihm  ge- 
fallenden Züge  ihn  überwältigte  und  er  dadurch  vollkommen  aus 
dem  Zusammenhang  geraten  wäre.  Er  berichtet  (wir  haben  die  Dar- 
stellung zu  ordnen  versucht)  von  dem  planlosen  Angriff,  dann  erst 
von  der  Überwachung  des  königlichen  Prinzen  durch  Adalgisel  und 
Grimoald.  Er  schliefst  seine  Schilderung  ab,  dann  erinnert  er  sich 
der  Untreue  der  Mainzer  und  bringt  diese  Bemerkung  als  Schlufs 
der  Kämpfe  vor  den  Verhandlungen,  mit  denen  Sigybert  den  ge- 
fährdeten Rückzug  erkaufen  mufste.  Die  Untreue  der  Mainzer  bringt 
er  mit  einer  nicht  oft  von  ihm  geübten  Vorsicht:  Die  Mainzer  'sollen' 
sich  in  diesem  Gefecht  untreu  erwiesen  haben  und  tatsächlich  sind 
in  der  späteren  epischen  Tradition  die  Mainzer  typische  Verräter:  der 
Dichter  des  Doon  de  Maience  mufs  mehrfach  im  Laufe  des  Gedichtes 
hervorheben,  dafs  sein  Held  nicht  jener  Doon  von  Mainz  sei,  der 
gegen  Karl  den  Grofsen  zu  Felde  gezogen,  und  der  Bueve  de  Han- 
stone aus  dem  Lande  gejagt.  Jenes  'Mainz'  sei  eine  andere  Stadt 
jenseit  des  Meeres.  Die  weitgehendste  Verwendung  als  Typus  hat 
dann  das  Haus  Maganxa,  die  Verrätersippe,  in  den  Reali  di  Francia 
gefunden,  jener  italienischen  Kompilation  aus  dem  Volksepos. 


364  Studien  zur  fränkischen  Sagen  geschieh  te. 

Wenn  nun  die  Mainzer  später  als  Verräter  gelten,  so  mufs  wohl 
einmal  in  der  Geschichte  ein  Anlafs  zu  solcher  Anschauung  statt- 
gefunden haben.  Und  warum  sollte  es  nicht  dieser  sein.  Nur  Frede- 
gars  Ausdrucksweise  könnte  darauf  deuten,  dafs  er  damals  schon 
typisch  war  und  deshalb  innerhalb  des  Ganzen  Fredegars  Argwohn 
erweckte.  Wenn  diese  Untreue  nicht  mit  Sicherheit  als  bereits  sagen- 
hafter Zug  nachzuweisen  ist,  so  sind  es  die  folgenden  sicherlich:  der 
Eid  der  Herzöge,  den  Thüringer  unter  keinen  Umständen  zu  schonen, 
der  junge  unerfahrene  König,  der  weinend  über  Niederlage  und  Ver- 
luste auf  dem  Boden  sitzt  wie  ein  Kind.  Das  stammt  nicht  aus 
trockener  Chronikenüberlieferung,  das  gehört  zum  feinen  und  zier- 
lichen Schmuckwerk,  mit  dem  der  Volksmund  die  Sage  zu  bekleiden 
pflegt.  Aber  die  Sage  von  Sigyberts  Tollkühnheit  und  Niederlage 
hat  ihren  eigenen  Beigeschmack :  die  Herzöge,  die  geschworen  haben, 
Radulf  keinen  Pardon  zu  gewähren,  stehen  ja  am  Ende  beschämt 
und  eidbrüchig  da,  und  auch  der  Übergang  von  jugendlichem  Wage- 
sinn zu  kindischstem  Ausdruck  der  Verzweiflung  zeigt  eine  ungünstige 
Gesinnung  der  Erzählenden  gegen  den  König.  Sehr  einfach,  denkt 
man,  die  Austrasier,  aus  deren  Mitte  die  Arnulfinge  hervorgingen, 
erniedrigten  das  absterbende  Königshaus  und  erhöhten  das  künftige. 
Jedoch  ist  von  einer  Erhöhung  von  Arnulfs  Sohn,  den  die  Metzer 
Annalen  den  erlauchtesten  Fürsten  nennen  sollten,  wenig  zu  spüren ; 
nichts  berechtigt  uns,  anzunehmen,  dafs  er  den  Eid  der  Herzöge 
nicht  mitgeleistet  hat,  und  nur  die  Überwachung  des  Königs  mit 
Grimoald  vor  dem  Unglückskampf  zeigt  seine  Überlegenheit  —  aller- 
dings mifslingt  ja  auch  sie! 

Soll  ich  daran  erinnern,  dafs  auch  andere  Sagen  sich  bei  Frede- 
gar vollkommen  umgestaltet  und  zwar  volkstümlich  umgestaltet 
zeigen,  dafs  Teile  der  Chronik  burgundischen  Ursprungs  sind, 
dafs  nur  kurze  Zeit  darauf  Burgund  in  der  poetischen  Darstellung 
seiner  Kriege  gegen  Nordfrankreich  sein  Heldenepos  erhielt,  dem- 
entsprechend auch  in  der  burgundischen  Chronik  bereits  vielerlei 
tendenziös  gefärbt  erscheint,  was  die  Franken  anbetrifft  ?  So  werden 
wir  wohl  kaum  fehlgehen,  in  der  Art  der  Darstellung  von  Sigyberts 
Feldzug  burgundische  Auffassung  zu  vermuten.  Burgundische  Dich- 
tung wohl.  Den  Kern  des  Berichtes  mögen  sie  von  Austrasiern  er- 
halten haben,  entwickelten  ihn  dann  in  ihrer  Art  weiter  und  ver- 
schärften das  für  die  Franken  Skandalöse.  Grund  genug,  denke  ich, 
dem  Bericht  Fredegars  zu  mifstrauen  und  ihn  aus  den  Geschichts- 
büchern verschwinden  zu  lassen,  etwa  bis  auf  den  Kern  —  eine 
fränkische  Niederlage  an  der  Unstrut. 

Ich  denke  mir  die  Entstehung  der  Sage  folgendermafsen:  die 
Niederlage  Sigyberts  an  der  Unstrut  wurde  von  den  Austrasiern  in 
einer  Weise  dargestellt,  welche  den  Merowingerprinzen  demütigte  und 
Ansigisel,  dessen  Rat  vorher  zurückgestofsen  wurde,  als  den  schliefs- 
lichen  Retter  und  Rächer  auftreten  liefs,  genau  nach  dem  Muster 


Studien  zur  fränki  sehen  Sagen  geschieh te.  365 

des  Liedes  von  Dagobert  und  Clothar  IL,  in  welchem  der 
junge  König  eine  Niederlage  erlitt,  der  ältere  Fürst  die 
Scharte  auswetzte.  Dort  erlegte  Clothar  den  Sachsen  Bertoal- 
dus  —  im  Sachsenlied  tötet  Ans  eis  Brehier,  dessen  Identität  mit 
Bertoaldus  wir  schon  öfters  betont.  Also  hier  finden  wir  beide 
Sagen  tatsächlich  vermengt.  Die  burgundische  Sage  entlehnte 
nur  den  satirischen  ersten  Teil,  der  ihr  behagte,  und  in  dem  sie  die 
Schande  der  Austrasier  sah.  Sie  schlofs  mit  der  Niederlage  der 
Franken,  ohne  Ansei's  eingreifen  zu  lassen.  So  geht  es  aber,  wenn 
man  das  eigene  Haus  beschmutzt. 

Die  Austrasier  verloren  umgekehrt  mit  Abnehmen  des  Wider- 
willens gegen  die  schwachen,  kindischen  Epigonen  der  absterbenden 
Rasse  das  Interesse  an  dem  Sigybert  niederdrückenden  Anfang,  der 
trotz  allem  eine  fränkische  Niederlage  bedeutete,  und  behielten  nur 
den,  Ansei's  erhebenden  zweiten  Teil,  dem  sie  eine  Vorgeschichte  im 
Stile  der  Bastardschaft  Karl  Martells,  vulgo  Karls  des  Grofsen  vor- 
aussetzten. Dies  scheint  mir  die  wahrscheinlichste  Vermutung  zu  sein, 
welche  besonders  dadurch  sich  empfiehlt,  dafs  sie  die  beiden  bisher 
genannten  Anspielungen  auf  Ansei's  auf  eine  Dichtung  zurückführt, 
die  das  Schema  einer  älteren  Sachsendichtung,  der  Sage  von  Clothar 
und  Dagobert,  getreu  kopiert.  Wie  aber  die  Merowingersage  mit  wenigen 
überkommenen  Themen  zu  wuchern  pflegt  und  diese  immer  wieder 
erneuert,  haben  wir  ja  bereits  öfters  betont,  wobei  die  Kooperation 
eines  jungen  und  alten,  tüchtigen  und  weniger  tüchtigen  Heerführers 
auch  bereits  als  immer  wiederkehrend  erkannt  wurde. 

Wir  können  also  für  die  Figur  des  Ansei's  die  aufgeworfenen 
Fragen  im  wesentlichen  als  gelöst  betrachten.  Was  nun  die  seinerzeit 
so  sagenberühmte  Brehiertötung  anbetrifft,  so  hat  ja  die  von  uns 
beigebrachte  Version  mancherlei  Zweifel  getilgt,  aber  sie  hat  auch 
neue  Probleme  mit  sich  gebracht:  welcher  Natur  ist  die  Verwandt- 
schaft der  Versionen  ? 

Nun  brüstet  sich  im  Ogier  Brehier  vor  dem  Kampfe  (9874):  'Ich 
will  einmal  Karls  Heer  einen  Besuch  abstatten;  als  treulosen  Ver- 
räter will  ich  ihn  vor  der  Welt  hinstellen:  Braimont  tötete  er  in 
mörderischem  Verrat,  sein  Vater  Pipin  brachte  Justamont  um. 
Bei  Mahomet,  ich  werde  sie  rächen!'  Und  Pipin  schimpft  er  einen 
schlechten,  stinkigen  Zwerg  (9946). 

Erinnern  wir  uns  nun,  was  wir  zu  Anfang  sagten:  die  Erwäh- 
nung des  Ansei's  im  Sachsenliede  gewährt  uns  den  Einblick  in  eine 
zyklische  Sachsendichtung.  Durch  das  Prinzip  der  Blutrache  wurden 
eine  Anzahl  Dichtungen  miteinander  verknüpft,  die  alle  einen  fränki- 
schen Führer  als  Sieger  über  den  Sachsenkönig  darstellten :  als  ersten 
den  Floovent,  dann  Clothar-Anseis,  wie  dieser  schlug  nach  Mainet 
(Rotnania  IV,  S.  319)  Pipin  dem  Justamont  im  Zweikampf  den  Kopf 
ab,  ebenso  Karl  der  Grofse  dem  Wittekind  im  erhaltenen  Saclisenlied. 


866  Studien  zur  fränkischen  Sagen  geschiente. 

Nachahmungen  dieser  etwas  stereotypen  Schlüsse  finden  wir  noch  im 
Zweikampf:  Karl  der  Grofse-Braimant  (vgl.  Brunamont 
Mainet);  Karl  derGrofse-Baligant  (Roland).  Und  da  der  Ogier 
innerhalb  seiner  Brehiertötung  sich  mit  den  angeführten  Worten 
auf  die  zyklische  Sachsendichtung  beruft,  in  dieser  aber  die  Tat  nach 
Ausweis  des  Sachsenliedes  von  Ansei's  erzählt  wurde,  so  ist  es  wahr- 
scheinlich, dafs  dieselbe  von  Ansei's  auf  Ogier  direkt  übertragen  wurde 
und  nicht,  wie  ich  bisher  mit  Voretzsch  annahm,  von  Lothar  auf  Ogier. 

Des  Alberich  Anspielung  behält  freilich  ihren  vollen  Wert,  der 
Lotiiarius  Superbus  des  noch  von  ihm  gekannten  Heldenliedes  ist 
auf  keine  Weise  auszuschalten. 

Und  so  haben  wir  die  interessante  Sachlage,  dafs  man  im  1 3.  Jahr- 
hundert die  Brehiertötung  zu  gleicher  Zeit  von  drei  verschiedenen 
Personen  singen  hören  konnte:  von  Clothar  in  ursprünglicher  Ver- 
sion (Zeugnis  Alb  er  ich,  der  ihn  darum  Ogier  gleichsetzt),  von 
Ansei's  innerhalb  einer  zyklischen  Nachdichtung,  von  Ogier  in 
einer  Nachgeschichte,  die  auch  Motive  der  Belisarsage  aufzuweisen  hat. 

Wahrscheinlich  waren  diese  Sagen  geographisch  geschieden:  Clo- 
thar mag  in  Alberichs  Heimat,  in  der  Champagne  (Wattenbach: 
Geschichtsquellen,  5.  Aufl.,  S.  422)  besungen  worden  sein,  Ogier  um 
Meaux,  wo  sich  nachweisbar  eine  Legende  über  ihn  gebildet  hat. 

Ans  eis  aber  gehört  dem  Osten  an.  Sein  Vater  war  Erzbischof 
von  Metz,  er  selber  in  Austrasien  Hausmeier  und  Herzog.  In  öst- 
lichen Kriegen  Heerführer.  So  nehme  man  es  als  Beleg  dafür,  dafs 
die  Heimat  seiner  Sage  Lothringen  gewesen  ist,  dafs  wir  an  Stelle 
der  Unstrut  ältester  Sage,  der  Rune  der  Karlssage  (=  die  Ruhr  '), 
hier  die  Maas  als  Schauplatz  seiner  Taten  finden. 

Dort  safsen  auch  diejenigen,  die  von  ihm  sangen,  und  die  den 
Sohn  des  heiligen  Arnulf  trotz  der  stärker  leuchtenden,  alle  schwäche- 
ren absorbierenden  Gestirne  Karl  Martells,  Karls  des  Grofsen,  der 
Ludwige  über  fünf  Jahrhunderte  nicht  vergafsen. 

Anhang. 

Der  Text  der  Anspielung  auf  das  Anseislied. 

Saisnes  T.  IV,  1.  Francois  se  deffandirent  com  nobile  guerrier. 
Li  uns  rois  apres  l'autre  panse  de  l'anforcier, 
Tant  qu'en  France  morut  li  rois  sanz  heritier. 
Ne  sorent  la  corone  cui  doner  ne  bailiier; 
6   De  Jofroi  de  Paris  firent  lor  justisier 

1  Rune  —  Rhein  ist  ein  Irrtum  Gaston  Paris'  (Hist.  Poet.  S.  289), 
der  kritiklos  genug  weitergetragen  worden  ist.  Seit  dem  Aufsatz  von  Jos. 
Hansen  in  Forschungen  zur  Deutschen  Geschickte,  188G,  S.  119 — 121,  ist 
wohl  nicht  mehr  daran  zu  zweifeln,  dafs  die  Ruhr  gemeint  ist :  Rura  >  Rtire 
ergab  durch  Dissimilation  Rune.  —  Jüngere  Literatur  zu  diesem  Funkte 
siehe  Rohnström  op.  cit.  S.  175  ff.  Hiernach  findet  sich  der  Name 
Rune  in  anderen  Texten  in  Spanien.  Deswegen  für  das  Saciisenlied  die 
Etymologie  Rune  —  Rura  abzulehnen,  scheint  übertrieben. 


Studien  zur  fränkischen  Sagengeschichte.  367 

Por  maintenir  la  guerre  et  por  ax  anforcier. 
Apres  celui  eslurent  dant  Garin  le  Pohyer;' 
Ne  sorent  la  corone  allors  miax  amploier, 
Quar  molt  estoit  prodöm,  si  soct  bien  guerroier; 

10   Mes  ainz  n'ot  fil  ne  fille  de  sa  franche  moillier. 
Cil  concut  Anseys  an  la  fille  au  vachier, 
Qui  puis  derraisna  France  cors  ä  cors  ä  Brehier2 
Au  parlement  sor  Muese,  oü  ot  maint  haut  princier, 
Francois  et  Sesne3  furent  ajornö  por  plaidier, 

15   Por  la  destroite  guerre  finer  et  apaier. 

Dont  firent  la  bataüle  sor  ■  ||  •  homes  jugier 
Et  d'anibes  parz  trez  bien  jurer  et  fiancier 
Que  ne  feront  jamais  guerre  recommencier ; 
Mes  eil  en  ait  l'onor  cui  Dex  vodra  aidier. 

20   Cel  jor  firent  Francois  d'Anseys  Chevalier, 
Qar  ancores  servoit  au  role4  d'escuier; 
Bien  li  sistrent  les  armes,  si  s'an  sot  bien  aidier. 
Brehier  refirent  Saisne  molt  bien  aparoillier, 
Puis  les  firent  andeus  outre  •[•  autre5  nagier; 

26   Se's  ont  andeus  laissiez  as  armes  aeointier. 
Anseys  le  conquist  ä  l'esp^e  d'aeier: 
Li  Saisne  s'an  tornerent,  n'i  ot  que  correcier; 
Mes  toz  lor  sairemanz  fauserent  de  legier, 
Qar  onques  ne  laisserent  nos  Frans  a  laidangier. 

30   Anseys  coronerent  ä  Saint-Denis  mostier; 
Leax  fu  et  prodom,  Deu  ama  et  ot  chier. 
Cil  fu  peres  Pepin  le  vassal  droiturier, 
Qui  puis  refist  ä  Saisnes  maint  mortel  anconbrier 
Et  ocist  Justamont,  voirement  sanz  cuidier. 

35   Guiteclins  le  cuida  puis  vers  Karion  vangier; 
Li  fil  apres  les  peres  repristrent  le  mestier. 

Diese  Anspielung  ist  in  veränderter  Gestalt  wiederholt  auf  S.  1 6  5 
desselben  I.  Bandes: 

Tirade  XCVII,  2.  'Morz  fu  Karies  ü  Chaus  qi  l'ampire  ot  conqis  ; 
Apres  Karies  Martiax  qi  tant  fu  mal  pansis; 
Ne  remest  oirs  en  France  ne  an  qint  ne  an  sis; 
•X-  ans  laisserent  France  ä  Joifroi  de  Paris. 
5    Qant  Garins  de  Baviere6  fu  do  roiaume  esüs, 

Farne  avoit  bele  et  sage;  mais  ainz  n'an  fu  oirs  vis; 
Cil  ot  une  vachiere  qi  molt  ot  cler  le  vis: 
Basse  chose  ert  assez ;  mes  li  cuens  (1 :  cuers  =  R)  fu  gentis. 
Puis  fu  li  suens  lignages  de  chevage7  franchis. 
10    Por  la  biautö  de  li  fu  Garins  ses  amis: 
O  li  jut  une  nuit,  si  an  fist  ses  delis; 
De  lui  fu  angenrez  li  forz  rois  Ansöys, 
Qui  puis  ocist  Brehier,8  dont  ancor  nos  est  pis.9 
DAnsdys  fu  Pepins,  qi  proz  fu  e  gentis; 
15   Et  de  Pepin  fu  Karies,  qi  nos  a  anva'is.' 

1  K:  Girart  le  Pontier.  —  2  so  A;  L:  Broier;  R:  cors  ä  cors  bataillier.  — 
3  L:  Oü  France  et  Saisne  ...  —  4  A:  en  robe.  —  5  A,  R:  isle.  —  6  R:  G.  de 
Lancele,  A:  G.  de  Sausuerre.  —  7  L:  chevax;  A,  R:  servage;  T:  chevage  (vgl. 
Siepel,  Kritische  Beiträge  zu  Jean  Bodels  Epos,  Diss.,  Greifswald  1899,  Nr.  106).  — 
8  L:  Broier.  —  9  Ein  Sachse  ist  der  Erzählende. 

München.  Leo  Jordan. 


Note  sul  Boccaccio  in  Ispagna  nell'Etä  Media. 

(Fortsetzung.) 


II  De  claris  Mulieribus  ed  il  De  Casibus,  benche  diversi 
nell' accozzamento  del  materiale  erudito,  mostrano  un  aspetto 
medesimo  dell'animo  del  Boccaccio;  si  completano  a  vicenda. 
E  un  ricreare  e  sollazzare  la  mente,  rienipiendola  di  fatti  egregi 
e  memorandi ;  un  fortificare  lo  spirito  fiacco  con  riflessioni  rnorali 
ed  una  filosofia  sensatissima  e  cristianissirna,  ma  tutta  a  fior  di 
pelle.  Si  infilzano  esempi,  e  si  ragiona:  Badate  alle  antiche  storie 
che  son  specchio  della  vita;  incamminatevi  alla  virtü  e  fuggite 
il  peccato.  Chi,  fuor  d'Italia,  conosceva  il  De  Casibus  del 
'famoso  filosofo  y  grand  poeta'  Boccaccio,1  ignorava  difficilmente 


1  Cosi  chiamavalo  un  lettor  assiduo  del  De  Casibtis,  Fern  an  Mexia, 
nel  Idbro  yntitulado  nobiliario  perfetamente  copylado  y  ordenado  (Sevilla 
1492,  cap.  I),  che  potei  consultare  quando  era  giä  a  stampa  il  capitolo 
precedente.  Quivi  il  Boccaccio  che,  in  materia  di  nobiltä  e  di  virtü,  pen- 
sava  come  Dante,  e  tratto  a  convalidare  il  pensier  retrogrado  di  una  no- 
biltä basata  sulla  purezza  del  sangue  e  la  discendenza,  e  dovrebbe  prestar 
armi  per  combattere  il  'famoso  doctor'  Bartolo.  (cap.  I)  'En  favor  de 
nuestro  proposito  el  vocagio  presta  o  nos  enbia  tres  flechas  agudas  y 
fuertes  para  mortalmente  ferir  al  dicho  doctor,  escudo  de  aquella  tabla 
tergera  de  su  escudo,  escripto  en  sus  tendales,  como  fueron  sacadas  de 
aquella  epistola  con  la  quäl  fue  presentado  el  libro  suyo  caydes  de  prin- 
cipes  .  La  quäl  esta  situada  en  el  comengo  de  dicho  libro  .  Las  letras 
dizen  asi  .  Maginardo  onbre  de  onrrado  linaje  desta  gibdad  de  florecia,  el 
quäl  es  cavallero  armado  y  el  titulo  de  su  linaje  antiguo  y  muy  famoso 
es  en  esta  gibdad  y  de  buenas  costunbres  mucho  doctado  .  Por  gierto  si 
este  famoso  filosofo  y  grand  poeta  no  sintiera  como  la  antiguedad  y  claridad 
del  linaje  no  era  la  perfegion  de  la  nobleza,  no  se  metiera  ä  dar  loores 
de  nobleza  de  antiguedad  del  dicho  maginardo.  . . .  Y  luego  lango  la  se- 
gunda,  sacada  del  goldre  del  dicho  libro  .  cap.  VII  .  cuyas  letras  material- 
mente  dizen  asi  .  Vi  al  Rrey  minus  que  ante  todas  las  cosas  en  su  nasci- 
mieto  fue  muy  claro  asi  como  aquel  que  era  engendrado  de  aquel  grand 
Rrey  de  creta  llamado  astrio  y  de  europa  fija  del  Rey  agenor;  esto  dixo 
el  gran  poeta  por  que  asterio  vestia  de  la  mas  alta  sangre  y  antigua  y 
noble  del  mundo.  ...  La  tercera  es  aquella  la  quäl  sacada  del  dicho  goldre 
puso  en  sus  tendales  aquellas  letras  que  se  leen  en  el  cap.  XIII  en  el 
comiengo  que  dizen  ansi:  De  un  linaje  muy  claro  muy  alta  y  linpia  sangre 
fue  priamo  .  Aqui  es  de  notar  que  alta  sangre  no  quiere  otra  cosa  dezir: 
salvo  antiguo  . . .  e  esto  quiso  dezir  el  dicho  poeta.'  Di  Dante  non  ragiona 
il  Mexia  nel  Nobiliario  (&  cosi  sciolto  un  dubbio  espresso  nelle  note  mie 
su  Dante  in  Ispagna,  p.  19  dell'estr.);  cita  perö  i  Trionfi  del  Petrarca 
(Lib.  I  cap.  LXXIIII),  ricorda  la  Vision  deleytable  di  Alfonso  de  la  Torre 
(Lib.  II  cap.  XX),  e  piü  volte  le  glosse  del  Villena  aXYEneide  tradotta. 


Note  sul  Boccaccio  in  Ispagna  nell'Etä  Media.  869 

il  De  claris  Mulieribus;  aweniva  talvolta  che  i  due  trattati  si 
inettessero  in  im  fascio  e  si  confondessero.  Alla  versione  fran- 
cese  del  De  claris  Mulieribus,  venuta  in  luce  nel  1493,  il  Verard 
mandava  innanzi  l'avvertimento :  'La  fin  et  inteütion  du  dit  auteur 
est  monstrer  l'instabilite  et  variacion  de  fortune,  laquelle  sou- 
ventesfois,  apres  plusieurs  grandes  prosperites,  renverse  l'estat 
des  humains  et  parfond  de  miserable  infelicite,  et  du  contraire, 
apres  plusieui's  adversites,  eile  restitue  les  mortels  vivans  en 
plus  grande  prosperite  que  devant.'1 

L'arte,  giä  dal  Boccaccio  aft'ogata  entro  le  spire  delf  eru- 
dizione  e  della  morale,  immiserivasi  necessariamente  nelle  tra- 
slazioni  ed  imitazioni  successive.  II  trattato  sulle  chiare  donne 
giungeva  provvidenziale  a'  dotti,  nel  fervore  delle  discussioni 
sulle  donne,  in  tanto  affannarsi  per  sgombrare  da'  rovi  e  dalle 
spine  la  via  che  conduce  al  cielo.  Dovunque  s'apron  cammini, 
penetra  la  donna.  Hai  le  tentazioni  di  Sant'Antonio,  accanto 
alla  visione  estatica  di  Maria  Vergine;  il  diavolo  che  tira  in  giü 
gravoso  la  carne,  e  l'angelo  che  porta  salute,  e  solleva  lo  spirito 
all'  eterna  beatitudine.  Attorno  alla  donna  giran  tutti  gh  or- 
digni  maggiori  e  minori  della  letteratura.  Alla  donna  s'erigon 
tempi  e  si  preparano  inferni.  I  femministi  lottano  co'  misogini. 
Hai  trattati  sui  pregi  e  le  virtü  delle  chiare  donne;  hai  invet- 
tive  mordenti  e  furenti  contro  il  sesso  debole  e  perverso,  ed  un 
coro  di  garrule  voci  che,  dalle  chiese  e  dai  chiostri,  impreca  alle 
figlie  di  Eva,  e  inneggia  a  Maria,  sola  fra  le  donne  purissima. 
II  Boccaccio,  natura  bonaria,  soHto  a  non  macerare  le  carni 
con  digiuni  e  privazioni,  tardi  pentito  e  ravveduto,  messo,  suo 
inalgrado,  a  salmodiare  co'  mistici  e  gli  asceti,  perdonava  alle 
donne  tante  fiacchezze  per  un  amoroso  sorriso;  non  covava  per 
esse  odio  profondo.  Espertissimo  della  natura  loro,  delicata,  lasci- 
vetta  e  labile,  tenera  e  caparbia,  angelica  e  diavolesca  ad  un  tempo, 
quand'ebbe  rivolta  la  mente  a'pensier  gravi,  beato  ancora  di 
poter  scorrazzare  a  piacere  nel  mondo  apertogli  da'  dottori  an- 
tichi,  e  di  riempir  le  carte  di  nomi  illustri,  mette  insieme,  attin- 
gendo  alle  mitologiche  favole,  alle  leggende  ed  alla  storia,  in- 
contentabile  nel  dare  l'ultimo  assetto  al  lavoro  suo,  i  suoi  bravi 
esempi  di  chiare  donne.  Lo  sfogo  de'  suoi  risentimenti,  le  amare 
invettive  contro  le  vedove  e  le  donne  in  genere,  affidava  al 
Corbaccio,  spolverizzato  qua  e  la  di  mistica  doratura.  Aveva 
scritto  pe'  paladini  delle  donne  e  per  i  loro  denigratori,  e  pro- 
nunciato  il  suo:  scegliete. 

Vi  furono  Spagnuoli  pronti  a  scegliere  l'apologia,  che,  abil- 
mente,  sotto  il  cumulo  di  lodi,  copre  il  biasimo  alla  frale  natura 


1  H.  Hauvette,  De  Laurentio  de  Primofato,  Paris  1903,  p.  106. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    CXV.  24 


t<70  Note  aul  Boccaccio  in  Ispagna  nell'Etä  Media. 

fernminile, '  tenuta  dal  Chaucer,  tra  i  Britanni,  in  gran  pregio, 
e  fönte  alla  Legend  of  good  Women;  vi  furono  altri  che,  a 
ehius'oechi,  accettaron  la  satira.  Ma,  in  generale,  per  certo  spi- 
rito  galante  e  cavalleresco  ch'era  ne'  piü  dotti,  nella  patria  del 
Don  Quijote,  ingentiliti  dalla  coltura  umanistica,  in  tempi  in  cui 
le  favole  e  le  ambagi  di  re  Arturo,  gli  amori  di  Tristano  e  d'Isotta 
scaldavan  la  fantasia  e  molcevano  i  cuori,  e  correvan  le  prime 
storie  di  Amadigi,  preferirono  i  piü  schierarsi  col  De  claris 
Mulieribus  a  sostenitori  del  valor  fernminile,  che  imprecare  alla 
malvagitä  della  donna  col  Corbaccio.2 

Le  imitazioni  del  trattato  latino  precedettero  verosimilmente 
la  traduzione  castigliana,  compiuta  sotto  il  regno  di  Juan  II,  da 
un  anonimo,  che  qua  e  lä  corresse  il  Boccaccio,  e  ne  completö 
le  storie  abbozzate,  giovandosi  di  'algunos  famosos  y  mas  ciertos 
autores'  (f.  VII).  Apparve  l'opera  stampata  col  titolo:  De  las 
taugeres  illustres  en  romance,  nel  1494,  un  anno  prima  delle 
Caydas. 3    I  'varones  ilustres'  di  Castiglia,    quaü  ce  li  descrive 


1  Come  anche  nel  De  Genealogiis  Deorum  il  Boccaccio  amasse  svelare 
le  fralezze  femminili,  mostra  lo  Schöningh,  Die  Göttergenealogien  des 
Boccaccio,  Posen  1900,  p.  39  sg. 

2  Grandi  vantaggi  morali  prometteva  d'altronde  il  Boccaccio  ai  lettori 
del  suo  trattato.  Vedi  la  conclusione  della  versione  castigliana  del  IÄbro  . . . 
de  las  illustres  mugeres,  ch'io  citerö  piü  innanzi  (f.  L)  'Ca  los  hombres 
sonolientos  y  de  poco  leyendo  muchas  hazanas  y  empresas  espantosas  y 
de  tan  sobrados  esfuercos  de  mugeres:  sentiran  grave  aguijon  para  que 
no  sean  de  menos  que  ellas.  E  las  duenas  honradas  hallaran  grandes 
enxemplos  y  muy  peregrinos  para  confirmacion  de  su  virtud.' 

3  Pensava  un  tempo  attribuirla  ad  Alonso  de  Cartagena,  traduttore  del- 
l'ultima  parte  del  De  Casibus,  al  quäle  comunemente  si  aggiudica  un  trattato 
sulle  donne  illustri,  irreperibile,  ma  e  congettura  cotesta  priva  affatto  di 
fondamento.  Non  avrä  certo  ignorato  l'insigne  e  dottissimo  vescovo  l'apo- 
logia  boccaccesca,  ma  negli  scritti  e  trattati  suoi  tralascia  di  farne  ricordo. 
Nelle  chiose  alla  versione  del  De  Providentia  di  Seneca,  ricorda  il  detto 
di  Salomone:  'la  muger  es  mas  amarga  que  la  muerte',  per  subito  aggiun- 
gere,  non  doversi  muovere  ingiuria  alla  donna,  'ca  no  vino  medea  a  buscar 
a  iasö,  mas  iasö  fue  a  buscar  a  medea'  (Vedi  la  stampa  citata  dei  Cinco 
libros  de  Seneca).  —  L'edizione  di  Zaragoza  del  1494 :  Johan  bocacio  de  cer- 
taldo  poeta  flo  retin  d' las  ciaras  excelletes  y  mas  fa  mosas  y  senaladas 
damas:  adrecado  a  la  muy  illustre  senora  dona  Andrea  de  acchiarolis 
condesa  de  alta  villa,  e  di  estrema  raritä,  ed  io  non  potei  vederla.  (La  re- 
gistrano:  il  Gallardo,  Ens.  II,  97;  A.  Hortis,  Stud.  s.  oper.  lat.  p.  897; 
P.  B.  Fernändez  in  La  Ciudad  de  Dios,  1902,  marzo;  C.  Haebler,  Bibliogr. 
iber.  del  siglo  XV.  La  Haya,  Leipzig  1904,  p.  24.)  Ai  piü  e  solo  acces- 
sibile  l'edizione  di  Sevilla,  1528:  Libro  de  Jua  Bocacio  que  tracta  de  las 
illustres  mugeres,  tolta  rapidamente  in  esame  da  L.  Torretta  in  Giorn. 
stör.  d.  letter.  ital.  XL,  44  sg. :  'primeggia  sulle  altre  per  fedeltä,  poiche 
segue  passo  passo  il  testo  latino  e  lo  rende  con  scrupolosa  precisione', 
meno  assai  svisa  e  travolge  il  senso  dell' originale  che  non  facciano  il 
tedesco  Steinhöwel  e  l'italiano  Betussi,  'talvolta  al  capitolo  del  Boccaccio, 
riprodotto  interamente,  viene  aggiunto  un  nuovo  brauo  contenente  ora 
semplici  considerazioni  morali,  come  nei  capitoli  di  Tisbe,  di  Niobe,  delle 


Note  sul  Boccaccio  in  Ispagna  nell'Etä  Media.  371 

Hernando  del  Pulgar,  e  prima  di  lui  il  D'Ayala,  amavan  le  donne, 
benche  austeri  e  gravi  fossero;  erano  'inclinados  ä  mujeres'; 
unicamente  di  sogni  puri  e  platonici  non  si  pascevano.  Attomo 
alle  dame  di  corte  gironzano  gli  spasimanti  cavalieri,  e  profon- 
dono  lodi  e  incenso.  A  paladino  dell'ouor  femniiniiio  giä  s'era 
eretto  Enrique  de  Villena,  chiudendo  l'allegorico  trattato  Los 
trabajos  de  Hercules.  La  urica  provenzaleggia  e  petrarcheggia ; 
si  crea  i  suoi  idoli  d'amore,  e  gioie,  e  tormenti.  Cresce  il  prestigio 
della  bellezza;  con  baldanza  si  affissano  gli  occhi  nel  bei  corpo 
di  donna,  e  non  e  da  stupire,  se  Don  Alvai'o  de  Luna,  incline  alle 
lettere  e  alle  donne,  come  i  piü  grand'  uomini  del  tempo,  in 
pieno  fervore  di  umanistici  studi,  capitatigli  tra'  mani,  negli  ozi 
concessigli  dagli  intricati  negozi  di  stato,  il  De  claris  Mulieri- 
bus  del  Boccaccio,  tentasse  emularlo  con  un  trattato  analogo: 
il  Libro  de  las  virtuosas  et  ciaras  mugeres,  frutto  di  laboriosa 
e  paziente  compilazione,  di  accurato  spoglio  degli  scrittori  an- 
tichi,  allora  piü  in  voga,  di  Valerio  particolarmente,  ponderato 
in  ogni  parte,  scritto  con  senno  e  chiarezza,  in  una  prosa  ni- 
tida e  fluida,  la  miglior  prosa  del  tempo.  Sfila  innanzi  a  noi 
il  gran  corteo  delle  donne  illustri.  Porzia,  Claudia,  Virginia, 
Veturia,  Lucrezia,  Sulpizia,  Ipermestra,  Argia,  Artemisia,  Marzia, 
Penelope,  Cammilla,  moltissime  altre,  che  troviamo  pur  raggruppate 
attorno  alla  Cite  des  dames  di  Christine  de  Pisan  (suggerite  dal- 
l'esempio  del  Boccaccio),  trionfanti  nel  Champion  des  dames  di 
Martin  Le  Franc,  nella  Clarissimarum  feminarum  laudatio  di 
Albert  von  Eyb, J  ci  insegnano  la  fermezza  muliebre  nel  fuggir 
le  insidie,  l'ozio,  le  mille  tentazioni;  celebrano  il  fior  delle  virtü 
nella  donna:  la  castitä,  incarnata  in  Sulpicia,  dura  ad  ogni 
assalto,  'amando  con  muy  grande  amor  solamente  a  su  marido, 


mogli  dei  Meni,  ora  qualche  ulteriore  notizia  intorno  alla  protagonista, 
come  in  quelli  di  Leena  e  di  Ippone,  notizie  che  egli  attinge  per  lo  piü 
ai  fonti  stessi  di  cui  si  e  servito  il  Boccaccio.'  Ancor  si  dovrebbero  studiare 
i  manoscritti  sparsi  di  questa  versione,  e  determinare  con  esattezza  le 
lacune  e  le  interpolazioni  nel  testo  castigliano,  non  tutte  dovute  certa- 
mente  all'arbitrio  dello  stampatore. 

1  L.  Torretta  discorre  con  cognizioni  scarse,  nel  citato  articolo,  della 
fortuna  del  De  claris  Mulieribus,  fuori  d'Italia.  Di  Christine  de  Pisan 
non  fa  parola;  ignora  il  dotto  studio  di  K.  Drescher  sulla  traduzione  dello 
Steinhöwel,  ristampata  con  ogni  cura  nella  Bibl.  d.  litter.  Vereins  Stuttgarts 
Vol.  CCV,  Tübingen  1895.  Lo  Steinhöwel  informa  in  una  nota  com' egli 
liberamente  traducesse:  p.  XXX:  'Ich  gedenck  ouch,  daz  ich  nit  entrinnen 
müg  mit  myner  arbeit,  die  ich  in  guoter  main  uncz  an  dise  fabel  gebracht 
hab,  in  ringem,  verstentlichem  tusch,  on  behaltne  Ordnung  der  wort 
gegen  wort,  ouch  nit  gelyche  sinn  gegen  sinnen,  sonder  offt  mit  zuoge- 
letten  worten  nach  mynem  bedunken  darzuo  dienenden,  oder  abgebrochen, 
ouch  nit  on  ursach  beschenhen.'  Sulla  Glariss.  fem.  laudatio  ved.  M.  Herr- 
mann, Alb.  v.  Eyb  und  die  Frühzeit  des  deutschten  Humanismus,  Berlin 
1892,  pp.  287  sgg.,  dove  perö  a  torto  si  tace  il  Boccaccio  tra  le  fonti. 

24* 


372  Note  sul  Boccaccio  in  Ispagna  nell'Etä  Media. 

porque  esta  es  la  entera  castidad'.  Don  Alvaro  che  al  corteo 
delle  donne  insigni  aggiunge  le  Ebree  e  le  Cristiane,  celebrate  dalle 
Saute  Scritture,  e  dal  Boccaccio  trascurate  di  proposito,  perche 
'descritte  in  piü  di  un  volume  da  raolti  santi  uomini,  nelle  sacre 
lettere  dottissimi  e  non  poco  onorati',  moralizza,  emette  sen- 
tenze,  s'inchina  ai  sapienti;  da  rialzo  a' detti  suoi  con  un  'segun 
dicen  algunos  Doctores,  especialmente  Juan  Boccacio  en  el  su 
libro  de  las  nobles  y  ciaras  Mujeres'.  AI  dottor  Boccaccio  pa- 
recchio  toglie  per  completare  le  narrazioni  degli  antichi;  toglie 
da  Valerio  in  special  modo,  il  gran  compilatore,  da  cui,  in 
Ispagna,  ognun  compila;  ne  si  limita  ai  particolari,  agli  aned- 
doti,  ma  trascrive  vite  intere  di  donne,  quando  opportuno  gli 
sembra.  * 

In  veritä,  maggior  gratitudine  meritava  il  saggio  precur- 
sore  che  gli  fu  provvido  d'aiuto  e  di  consiglio,  e  gli  suggeri 
persino  il  titolo  all'  opera :  'ciaras  mugeres'.  Gli  esce  detto,  a 
gran  stento,  che  delle  chiare  donne:  'Joan  Boccacio  algunas  cosas 
trata',  ed  ha  il  coraggio  di  appropriarsi  anche  il  proemio  del 
trattato  latino  boccaccesco.  Meravigliasi  ancor  lui,  'non  poco', 
'de  tantos  prudentes,  e  santos  Autores,  que  de  los  fechos  e  vir- 
tudes  de  los  claros  varones  hayan  fecho  extendida  e  complida 
memoria',  nessuna  particolare  descrizione  lasciando  de'  virtuosi, 
egregi  fatti  delle  donne;  ancor  lui  menziona  il  Petrarca,  'del 
quäl  mas  es  de  maravillar,  porque  vido  el  olvido  de  los  otros 
e  fue  mas  cercano  a  los  nuestros  tiempos.'2 

II  libro,  cosi  composto,  vergato  da  mano  possente  e  temuta, 
fece  fortuna.  Dovettero  rubarselo,  a  vicenda,  donne  e  donzelle, 
le  quali,  con  compiacimento  iüfinito,  vi  avranno  visto  come  un 
riverbero  delle  loro  reali  od  immaginarie  virtü,  buono  per  stuzzi- 
care  la  vanitä  femminile.  'Por  haber  compuesto  tan  noble  libro 
en  honrra  d'ellas,'  cioe  delle  'ciaras  mujeres  del  nuestro  tiempo', 
Juan  de  Mena,  l'Omero  di  Spagna,  ringraziava  in  un  Prohemio 
il  'muy  virtuoso,  e  muy  magnifico'  contestabile.  Offriva  poi 
l'autore  delle  Trecientas  in  un  suo  svago  in  rima,  accolto  da' 
'Canzioneros',  col  titolo:  Claro  Escuro3,  un  elogio  di  virtuose 
donne,  e  celebrava  Argia,  Lucrezia,  Ipermestra,  Penelope,  Arte- 


1  Una  delle  poche  cose  commendevoli  nel  libro  di  B.  Sanviaenti, 
/  primi  influssi  di  Dante,  del  Petrarca  e  del  Boccaccio  . . .,  Milano  1902,  e  il 
diligente  ed  utile  confronto  (non  privo  perö  di  gonfiezze  e  di  fronzoli) 
fra  il  De  claris  Mulieribus  del  Boccaccio  e  il  Libro  de  las  virtuosas  y  ciaras 
mugeres  di  Alvaro  de  Luna  (pp.  289  sgg.),  stampato  quest' ultimo  per 
cura  de'  Bibliof.  Espan.,  Madrid  1891. 

2  II  Petrarca  aveva  pagato,  d'altronde,  il  suo  tributo  d'encomio  alle 
femmine  egregie,  in  un'epistola  ad  Anna,  sposa  all' imperatore  Carlo  V, 
e  steso  un  suo  bravo  elenco  di  nomi  di  illustri  donne,  da  Minerva  fino 
alla  contessa  Matilde.  Epist.  fam.  ed.  Fracass.  Lib.  XXI  Cap.  VIII  (III,  70). 

3  Cancion.  general  I,  117. 


Note  sul  Boccaccio  in  Ispagna  nell'Etä  Media.  373 

misa  ed  altre  illustri. 1  La  'buena  Hypermestra',  la  'casta  Lucre- 
cia',  Artemisia,  Penelope,  Argia  palesano  la  virtü  loro  nel  primo 
ordine  delle  sfere  rotanti  del  poema  niaggiore.  (Nel  2°  ordine  di 
Mercurio  str.  XC  appare  'Eriphyle'.)  La  Coronacion  incensa 
pure  le  insigni  e  elette  del  'Image  feminino'.  'Por  no  espantar 
a  las  donas',  aggiunge  il  poeta,  *ni  robarles  sus  Coronas  |  sus 
inartyrios  no  assigno.' 

I  trattati,  le  biografie  muliebri,  le  dispute  sull' eccellenza, 
la  nobiltä  delle  donne  pullulano  in  quel  secolo,  cosi  fertile  di 
dotte  scritture;  muovono  gli  intelletti  e  i  cuori  de'  letterati 
piü  eloquenti;  occupano  gli  uomini  di  mondo,  non  meno  degli 
uomini  di  chiesa,  che  di  tutti  i  secreti  possedevan  le  chiavi. 
Fioccan  cavilli,  e  sottili  e  lambiccate  distinzioni,  e  paradossi; 
si  ponderano  vizi  e  virtü,  sulla  bilancia  offerta  dal  Boccaccio; 
si  ribattono  le  accuse  de'  misogini  sfrontati,  con  spirito  parti- 
giano  acceso,  acciecato.  La  tranquilla  meditazione,  che  sola 
concede  di  penetrare  negli  abissi  del  cuore,  ed  illumina  sulla 
psiche  complessa  dell'  aninial  muliebre,  non  e  di  nessuno  di  que' 
paladini  zelanti  che,  nelle  terre  del  Cervantes,  celebravan  le 
Dulcince  alla  stregua  delle  donne  antiche,  e  vedevano  un'anima 
ed  una  vita  esemplare  in  un  uome  illustre  che  la  leggenda  e  il 
mito  tramandavano.  E  in  pochi  temperanza  di  giudizio.  Im- 
pegnatasi  la  lotta,  conveniva  rivelarsi:  o  risolutamente  femministi, 
o  risolutamente  antifemministi.  Forti  delle  erudite  memorie  an- 
tiche, salivasi  in  cattedra  e  predicavasi  alle  turbe.  S'insegnavan 
buone  costumanze;  s'indicavan  quelle  vie  che  conducevan  dritte 
alla  salute,  guidati  dal  femminino  eterno,  o  senza  scorta  di  donna 
alcuna,  liberi  da'  demoni  tentatori.  E  se  il  Boccaccio,  nel 
De  claris  Mulieribus,  sdegnava  disserrar  le  chiavi  di  Paradiso, 
ora,  per  la  salute  delle  genti  ispane,  il  Paradiso  si  dischiude,  e 
all'alto  si  scorge,  trionfante,  esultante,  il  coro  delle  Vergini  e 
delle  Martiri.  Le  fiammelle  delle  luci  sante  si  comunicano 
agli  uomini.  Alla  beata  speme  ci  solleva  la  Vergine.  'Ved  el 
gran  bien  que  tenemos  |  Por  una  Virgen  doncella',  griderä  Juan 
del  Encina  agli  stolti  'que  dicen  mal  de  mugeres',  'E  pues  fue 
muger,  por  ella  |  Todas  las  otras  honremos.' 

Partecipavano  alacremente  Catalani  e  Valenziani  alle  di- 
spute sui  pregi  e  le  magagne  delle  donne,  prima  che  si  com- 
piessero  trattati  e  trionfi  in  Castiglia.  Nel  settentrione  di  Spagna 
erano  piü  stretti  i  vincoli  che  univano  alla  letteratura  di  Fran- 
cia,   piü  naturale  il  riverbero  delle   diatribe   e  glorificazioni  al 


1  L'opera  di  Alvaro  de  Luna  figurava  tra  i  libri  della  regina  Isabella 
cattolica.  V.  Memor.  d.  I.  R.  Acad.  d.  I.  Eist.  VI,  464;  'puede  creerse',  con- 
gettura  il  Clemenciu,  'que  perteneci6_ä  su  autor  el  condestable  D.  Alvaro 
de  Luna'. 


374  Note  sul  Boccaccio  in  Ispagna  nell'Etä  Media. 

bei  sesso,  ispirate  in  gran  parte  all'  universale  Roman  de  la 
Rose.  II  vescovo  Francisco  Eximeniz  aveva  composto  lassü,  in 
fin  del  '300,  con  intendimento  ascetico  spiccato,  e,  con  tutta 
probabilitä,  indipendentemente  dall'  opera  encomiastica  latina,  o 
satirica  in  volgare,  del  Boccaccio,  il  Libre  de  les  dones,x  libro 
fortunatissinio,  divulgato  e  letto  per  piü  di  un  secolo  ('todo  de 
mugeres'  conie  avvertiron  poi  i  Castigliani  traducendolo),  in  cui, 
saggiamente,  col  sostegno  delle  sacre  scritture,  si  esponeva  il 
bene  ed  il  male,  'bondades  et  vicios',  e  tempravasi  il  biasimo 
alle  rie  femmine,  che,  spudorate  e  baldanzose,  correvano  per  le 
vie  di  Valencia,  patria  del  vescovo,  colle  lodi  alle  virtuose,  di 
cui,  piü  nelle  dotte  carte  che  nella  vita,  allor  vissuta,  era  me- 
moria. Alle  carte  latine  e  volgari,  che  Bernat  Metge  assiduamente 
leggeva,  a'  tempi  dell'  Eximeniz,  e  attinta,  in  parte,  la  scienza  e 
l'esperienza  muliebre  sfoggiata  nel  Somni.  II  valente  secretario 
de*  prenci  di  Catalogna  ha  un  bei  trincerarsi  dietro  i  grandi  e 
venerati  uomini  antichi  del  Lazio  e  della  Grecia,  e  farsi  forte 
dell'  autoritä  di  Aristotile  e  di  Piatone,  di  Omero  e  di  Virgilio, 
dissimulando  la  dottrina  che  agli  ingegni  d'Italia  attinge,  tacendo 
con  ostinazion  vera  e  in  ogni  scritto  il  nome  del  Certaldese; 
irresistibilmente  e  pur  condotto  a'  trattati  de'  sommi  italiani  che 
saccheggia.  E  saputo  come  la  grandinata  d'ingiurie  che  l'indo- 
vino  Tiresia  riversa  sul  capo  del  'maleyt  linatge  femeni',  tutta 
sia  tolta  al  Corbaccio.  II  panegirico  che  segue  alla  diatriba, 2 
l'obbligatoria  glorificazione  de'  femminili  'actes  virtuosos  e  de  gran 
valor',  e  suggerita  dal  De  claris  Mulieribus  boccaccesco.  Ben 
e  vero  che,  al  corteggio  delle  chiare  donne  antiche  s'aggiunge,  nel 
Somni,  l'esigua  schiera  di  donne  virtuose,  ch'eran  decoro  e  luce 
nel  reame  di  Aragona:   Pedraltes,   Eleonora,  Sibilla,  Violante  e 


1  Vedi  le  mie  note  sulla  fortuna  del  Corbaccio:  Non  so  chi  prima 
fantasticasse  di  uno  studio  fatto  dall' Eximeniz  delle  opere  del  Boccaccio. 
A.  Hortis,  ispiratosi  ad  A.  de  los  Bios  (Hist.  VI,  265)  scrive  (Sind.  s.  op. 
lat.  d.  Bocc.  p.  593) :  'Per  far  l'elogio  (delle  donne),  e  difenderle  dalle  accuse 
del  Boccaccio,  Francesco  Ximenez,  cedendo  alle  preghiere  della  contessa  di 
Prades,  dettö  il  Libre  de  las  Donas'.  Ultimamente  l'amico  mio  J.  Fitz- 
maurice-Kelly, nella  sua  pregevole  Historta  de  la  liter.  espan.  (trad.  Bo- 
nilla,  Madrid  1901,  p.  156)  sosteneva  essere  il  Carro  de  las  Donas,  non  altro 
che  'version  catalana  del  tratado  De  claris  mulieribus  de  Boccaccio';  ne 
coglieva  nel  segno  Menöndez  y  Pelayo  rettificando,  nel  prologo  alla  tra- 
duzione  (p.  XXVIII) :  'Boccaccio  esta  utilizado  como  otros  muchos  autores.' 
La  recentissima  traduzione  francese  della  bell' opera  dell' ispanista  iuglese 
(Paris  1904)  tralascia,  toccando  dell' Eximeniz,  l'accenno  al  Boccaccio. 

2  'Son  aco  paraules  de  home  ab  sana  pensa?'  cosi  s'ode  linfacciare 
Tiresia,  prima  di  lanciare  le  contumelie  carpite  al  Boccaccio  (Somni  Lib. 
III,  p.  112),  'son  a§o  paraules  convinents  a  la  tua  edat?  son  aco  paraules 
de  home  qui  am  seien tia  e  hage  legit  tant  com  tu?  Lexa  semblauts  coses 
a  homens  otiosos,  vans  e  illiterats,  car  lo  teu  enginy  nos  deu  distribuir 


Note  sul  Boccaccio  in  Ispagna  nell'Etä  Media.  375 

Maria;  si  ricordano  le  donne  insigni  del  Vecchio  Testamento; 
s'esalta  la  pazienza  e  l'amore  di  Griselda;  ma  dalle  storie  compi- 
late  dal  Boccaccio  si  traggono  tutte  le  aride  enumerazioni,  gli 
esempi  storici  e  leggendari  dell'aurea  antichitä,  e  il  Somni,  che 
non  trascura  le  Aniazzoni  conquistatrici,  si  fregia  di  nomi  illustri, 
vantati  dal  Certaldese:  'Semiramis',  'Orithya',  'Tamiris',  'Cenobia', 
'Ysis',  'Saffo',  'Pobra'  (Proba),  'Hipsicratea',  'Portia',  'Julia', 
'Artemisia',  'Eniilia',  'Sulpitia',  'Didone',  'Lucretia',  'Hippo', 
'Cloelia',  'Cornelia'. 

Alla  satira  de'  costumi  delle  donne  s'oppone,  'per  semblant 
forma',  quella  de'  costumi  maschili,  satira  grossolana  e  sempli- 
ciotta  alquanto,  in  cui  non  e  nulla  dell'ironia  fine  e  dell'umore 
bonario  del  Boccaccio,  il  quäle,  pur  vantando  le  virtü  femminili, 
frustando  gli  uomini,  che  non  rimanevano  addietro  alle  donne 
nelle  foggie  artificiate  e  impudiche,  nel  restringersi  follemente  la 
persona,  nello  specchiarsi,  nell'azzimarsi  ecc,  ripeteva  esser 
l'uomo  il  piü  nobile  animale  che  tra'  mortali  fosse  creato  da 
Dio,  piü  perfetto  quindi,  piü  fermo  e  costante  della  donna.  II 
panegirista  delle  donne  nel  Somni  chiama  gli  uomini  bestie 
senza  piü:  'La  rnaior  part  d  ells  es  bestia  de  prat,  e  cascu  cuyda 
esser  altre  Salamo  en  saviesa,  et  altre  Tulli  en  eloquentia.' ' 

Tutte  le  glorificazioni  muliebri,  sorte  in  terra  di  Spagna, 
nel  '400,  si  oppongono  deliberatamente  alle  accuse  vituperevoli 
de'  maldicenti.  'Rusticus  est  vere,  qui  turpia  de  muliere  |  dicit, 
nam  vere  sumus  omnes  de  muliere',  ammoniva  il  Facetus  (II,  12). 
Gli  avvocati  difensori,  ispirati  talvolta  alle  arringhe  de'  difensori 
di  Francia  e  d'Italia,  assestano  colpi  agli  accusatori  spietati, 
e  tessono,  con  lusso  di  erudite  citazioni,  il  loro  panegirico.  Da 
im  lato  addentano  il  Boccaccio,  per  le  invettive  acerbe  contro 
le  vedove,  le  pulzelle  e  le  maritate,  dall'altro  attingono  alla 
dottrina  del  grand'uomo,  profusa  nel  De  claris  Mulieribus,  le 
prove  piü  acconcie  per  la  difesa.  E  se  il  Boccaccio  dedicava 
il  suo  trattato  a  Madonna  Andrea  degli  Acciaiuoli,  sorella  del 
gran   siniscalco  Nicola,    'elegante   nel  conversare,   generosa  nel- 


1  Nel  1420  Mossen  Bernat  Blanes  compiva  il  suo  Libre  dels  Feyts 
d  armes  de  Catalunya,  e  quivi,  piü  e  piü  volte,  accenna  ad  una  sua  'libreria', 
fornita  di  cronache  e  d'opere  storiche  d'ogni  genere  (ediz.  della  Bibl.  catal. 
dell'Aguilö,  Barcelona  1880,  pp.  41;  122;  167;  328).  Ma  che  vi  figurasse 
un  trattato  del  Boccaccio  non  dice  il  Blanes.  Era  natura  opposta  affatto 
al  Metge,  ghiottissimo  di  memorie  del  tempo  antico,  e  condannava  le  'fa- 
vole'  che  solevano  contaminare  la  storia  veridica;  spregiava  gli  scrittori 
che  cercavano  il  plauso  del  volgo  'ab  Iure  mentides  e  fingiments'.  (p.  37) 
'Verität  sia  dita  com  sen  deu  a  historia,  quen  ha  desser  verge  e  molt 
pura  . . .  car  deurien  esser  molt  greument  punits  tots  aquells  qui  ab  bado- 
meries  e  faules  que  hi  volen  mesclar  rompen  la  sua  enterea.'  I  cronisti 
maggiori  di  Catalogna,  il  Muntancr  e  il  Desclot  sdegnarono,  ch'io  sappin, 
torre  consiglio  alle  prose  ed  ai  versi  dei  grandi  treceutisti  fiorentini. 


376  Note  sul  Boccaccio  in  Ispagna  nell'Etä  Media. 

l'animo,  forte  nell'ingegno,  specchio  clei  buoni  costumi  e  d'esimia 
onestä',  s'egli  chiudeva  l'opera  poderosa  col  panegirico  alla  regina 
Giovanna,  illustrissima  donna,  per  origine,  per  potenza  e  costumi ; 
i  valentuomini  di  Castiglia  incensano,  di  comune  accordo,  il  fior 
delle  regine,  Donna  Maria,  sposa  al  re  Juan  II,  la  piü  virtuosa 
delle  mogli,  la  'mas  digna  y  mas  noble',  'la  muy  ensenada  et 
perfecta';  tessono  ghirlande  sul  suo  capo;  iuneggiano  al  bei  sesso 
nel  suo  nome;  ed  e  probabile  cbe  la  regina  stessa  sollecitasse,  per 
se  e  le  gentildonne  del  suo  seguito:  Dona  Leonor  de  Castilla, 
Dona  Elvira  Portocarrero,  Dona  Beatrix  de  Avellaneda,  Dona 
Mencia  Tellez  de  Toledo,  e  trionfi,  e  tempi,  e  santuari  di  illustri 
donne,  perche  si  desse  piena  sconfitta  agli  iniqui  maldicenti,  vce- 
gados  por  ygnorancia'. 1 

Credo  che,  prima  alquanto  di  Alvaro  de  Lima,  dessero 
mano  alle  loro  difese,  e  componessero  i  loro  trattati,  forse  ad 
im  tempo,  Rodriguez  del  Padrön  e  Mossen  Diego  de  Valera,  e 
si  impartisse  da  entrambi  la  nota  lezioncina  morale  all'autore 
del  Corbaccio,  ricordata  nelle  storie  letterarie  piü  in  voga. 2 
Con  argomenti  filosofici  e  sottigliezze  di  ragionamenti,  'por  nu- 
mero  de  razones  e  non  de  mugeres  famosas,  como  algunos, 
errando  en  sus  fablas  proceden',  Rodriguez  del  Padrön  vuol 
mettere  in  luce  la  gloria  delle  donne  oscurata,  mostrare  la 
preeminenza  loro  sugli  uomini. 3  AI  labirinto  de'  vizi  oppone 
un  trionfo  di  virtü.  L'eccellenza,  la  perfezione  fisica  e  morale 
della  donna,  dimostra  colle  'naturales  razones',  giä  in  parte 
allegate  nel  Somni  del  Metge,  noto  probabilmente  al  Padrön4 
e  non  sdegnate  ancora  da  Diego  de  San  Pedro,  nella  Carcel 
de  amor,  dall'Agrippa,  nella  De  nobilitate  et  praecellentia  feminei 
sexus  declamatio  (1529),  dedicata  a  Margherita  d'Austria.5    E  il 

1  'ledo  y  gozoso  desechara  la  murmuracion  y  assechancas  de  los 
tristes  maldizientes :  y  aun  puestos  por  tierra  los  maliciosos  |  levara  muy 
adelante  y  pregonara  niucho  mas  el  esclarecido  nombre  vuestro',  cosi  la 
dedica  alla  regina  Giovanna,  nella  traduzione  castigliana  del  trattato  boc- 
caccesco.  E  1  anonima  Defensione  delle  donne  (Bologna  1876,  p.  8):  'Vo- 
lendo  io  pigliarmi  la  faticosa  impresa  della  protezione  delle  donne  contra' 
loro  maledici  calunniatori  . . .  e  dovendo  scancellare  li  obbrobrii  che  falsa- 
mente  gli  sono  imposti,  e  predicare  le  loro  laudi  e  virtudi'. 

2  Debbo  io  qui  rimandare  alle  note  critiche,  bibliograficbe  e  illustra- 
tive sul  Corbaccio  in  Ispagna,  che  ristampero  piti  tardi,  ampliate  e  corrette. 

3  Un  anonimo  esponeva,  ben  prima  di  lui,  cinque  cause  per  le  quali 
'niulier  prefertur  viro'.    Vedi  P.  Meyer  in  Roman.  VI,  300. 

4  Vedi  anche  A.  Rubiö  y  Lluch,  El  Renacimiento  cldsico  en  la  litera- 
tura  catalana,  Barcelona  1889,  p.  81.  Che  Rodriguez  del  Padrön  cono- 
scesse  anche  il  Reggimento  di  donna  di  Francesco  da  Barberino  non  mi 
pare  probabile. 

s  Fu  poi  tradotta  in  franceee:  De  la  Noblesse  et  Preexellence  du  sexe 
feminin,  Paris  1578.  Tra  le  Premieres  CEuvres  poetiques  di  Marie  de 
Roniieu  (1581)  trovi  un  Discours  que  l'excellence  des  femmes  surpasse  celle 
de  l'homme. 


Note  sul  Boccaccio  in  Ispagna  nell'Etä  Media.  377 

Trionfo,  cosi  eretto,  ha  liete  accoglienze  in  Francia,  la  patria 
del  Champion  des  dames,  e  d'altre  strenue  e  gloriose  difese 
dell'onor  femminino:  L'Avocat  des  dames,  il  Miroir  des  dames 
ä  Vhonneur  des  femmes,  il  Chevalier  aux  Dames,  il  Jardin  de 
plaisance,  il  Miroir  des  Dames  et  des  Demoiselles,1  il  Tri- 
omphe  ou  le  parement  des  dames,2  La  Nef  des  dames  vertueuses, 
Les  louenges,  fleurs  et  deffensoir  des  dames, 3  Le  Palais  des 
nobles  dames  (Jean  du  Pre),  La  louenge  de  mariage  et  Recueil 
des  histoires  des  bonnes  vertueuses  et  illustres  femmes  (P.  de 
Lesnaudiere),  La  louange  du  muliebi  e  et  feminin  sexe  (H.  Cour- 
teault),  Le  grant  Triumphe  et  honneur  des  dames  de  Paris  et 
de  tout  le  royaume  de  France  (1531),  Le  Fort  inexpugnable  de 
Vhonneur  du  sexe  feminin  (Francois  de  Billon)4  ecc. 5 


1  Poemetto  recentemente  pubblicato  da\V.  Söderhjelm  nelle  Neuphilolog. 
Mittcil.,  hsg.  v.  neuphilolog.  Verein  in  Helsingfors,  1904,  pp.  73  sgg. 

-  Non  seinbra  che  Olivier  de  la  Marche  abbia  cavato  dottrina  dal  De 
Mulieribus  claris  del  Boccaccio.  Vedi  l'edizione  del  Triumphe  des  Dames 
curata  da  J.  Kalbfleisch,  Rostock  1901,  che  poteva  ricordare  la  traduzione, 
fatta  in  fine  del  seicento  (Triumpho  das  mulheres),  di  Da  Juana  Josefa  de 
Meneses,  contessa  di  Ericeira,  cit.  da  M.  Serrano  y  Sanz,  Apuntes  para 
una  biblioteca  de  Escritoras  espanolas,  Madrid  1905,  II,  59. 

3  Offron  notizia  di  questi  trattati  apologetici  di  Symphorien  Champier: 
l'Allut,  Etüde  biographique  et  bibliogr.  sur  S.  C,  Lyon  1859,  pp.  133  sgg. 
e  R.  Maulde  La  Claviere,  Les  femmes  de  la  Renaissance,  Paris  1898.  Comincia 
La  nef  (es.  d.  Nazion.  di  Parigi  Res.  Ye  856)  co'versi:  'La  nef  des  dames 
vertueuse  Ou  toute  vertu  est  enclose  Les  gestes  et  le  vasselaige  Des  dames 
cy  abbat  la  raige  De  eil  qui  les  dames  aecuse  Des  dames  par  auleune  ruse 
Des  mesdisans  mord  le  larjgaige'.  Ma  il  Champier  aveva  pur  scritto  un  suo 
acre,  mordace  e  violentissimo  'Corbaccio' :  La  Malice  des  femmes.  ('Cy  com- 
mence  ung  petit  livre  intitule  la  malice  des  femmes  lequel  a  este  recueilly 
de  matheolus  et  aultres  qui  ont  prins  plaisir  a  en  mesdire  par  affection 
desordonnee  lequel  est  cy  couche  non  pour  mesdire :  mais  par  doctrine 
pour  eviter  aux  inconvenients  que  peuvent  arriver  par  femmes.  Par  quoy 
sil  y  a  auleuns  mots  qui  soient  desplaisants  et  mordants  soient,  attribues 
au  bigame  Matheolus.')  GH  editori  dell'  opere  di  Guillaume  Alexis  (A.  Piaget, 
E.  Picot  in  Soc.  d.  anc.  textes,  Paris  1896,  Le  debat  de  l'omme  et  de  la 
femme  I,  125),  ricordano  un  Dialogue  apologetique  excusant  ou  defendatit  le 
devot  sexe  femenin,  introduict  par  deux  personnaiges :  l'un  a  nom  Bouche 
Maldisant,  Vautre  Femme  deffendant.    Nouvellem.  impr.  ä  Paris  1516. 

4  Alla  letteratura  indicata  nelle  note  sul  Corbaccio,  s'aggiunga,  per  la 
Francia:  A.  Campaux,  La  Querelle  des  femmes  au  XV  siede,  Paris  1865; 
A.  Mennung,  Jean-Francois  Sarasin's  Leben  u.  Werke,  Halle  1904,  II,  122  sgg. ; 
A.  Lefranc,  Le  Hers  livre  de  Pantagruel  et  la  querelle  des  femmes  in  Rev. 
d.  etudes  rabelaisiennes,  II,  78  sgg. 

5  E  saputo  quanta  stima  avesse  il  Brantöme  per  il  'beau  livre'  del 
Boccaccio  sulle  chiare  donne.  Nelle  Vies  des  dames  illustres  de  France 
(ediz.  di  Leyde  1665,  pp.  368  sgg.)  offre  un  panegirico  esaltatissimo  della 
regina  Giovanna  di  Napoli,  e,  ricordato  'ce  qu'eu  dit  Boccace  en  son  livre 
des  Dames',  soggiunge  sembrarodi  encomio  non  sufficente.  Nessuno  avrebbo 
saputo  dire  di  questa  gran  donna  piü  degnamentc  e  compiutamentr  <lel 
Boccaccio,  'il  l'eut  sceu  mieux  faire  qu'homme  du  monde  pour  le  grand 
ajavoir  qui  estoit  en  luy.' 


378  Note  sul  Boccaccio  in  Ispagna  nell'Etä  Media. 

'Per  una  che  biasmar  cantando  ardisco,  |  lodarne  cento  in- 
contro  m'offerisco,'  diceva  l'Ariosto,  sottil  conoscitore  della  fem- 
niinil  natura,  piü  di  diavolo  che  di  angelo.  Mossen  Diego  de 
Valera  risparmia  il  biasimo  nel  suo  Tratado,  e  prodiga  incenso 
e  lodi.  Fa  specie  ch'egli,  cosi  pronto  a  citare  le  Caydas,  non 
menzioni  che  una  sol  volta,  e  di  sfuggita,  il  Libro  de  las  Mugeres 
ilustres,  nel  quäle  il  Boccaccio  'la  vida  de  muchas  castas  e  vir- 
gines  con  soberano  loor  descriviö',  libro  che  leggeva  e  spogliava 
clandestinamente,  nelF  originale  latino,  e  fors'anche  nella  tradu- 
zione  castigliana.  Öftre  il  Valera  un  seguito  di  storie  di  ciliare, 
antiche  donne,  e  consiglia  poi  a  coloro  che  amassero  completarle, 
o  saperle  'por  extenso',  di  leggere  (p.  158)  'Tito  Livio  en  la  primera 
e  segunda  Decada,  e  ä  Valerio  Maximo  en  el  su  Compendio,  e 
a  Ovidio  en  el  su  Metamorfoseos,  e  ä  Lucano,  e  ä  la  Biblia,  e 
ally  lo  fallarän  estendidamente.'  Immaginavasi  il  Valera,  com- 
pilatore  esperto  di  trattati  di  scienza  e  di  morale,  che  nessuno 
pensasse  a  rintracciare  questi  suoi  esenipi  di  castitä,  e  fedeltä, 
e  verginitä  muliebri  anche,  nell'  esemplar  libro  del  Boccaccio, 
a  cui  rinfacciava  le  corbaccesche  'fealdades'?  Era  anche  in 
Ispagna  un  profonder  gli  inchini  ai  magni  uomini  di  Ellade  e 
di  Roma,  ed  un  tacer  prudente  e  ostinato  de'  men  saggi  gran- 
d'uomini  d'altri  tempi,  men  gloriosi,  eppur  larghi  coni'essi  di 
consigli  e  d'ammaestramenti.  Pareva  stuonassero  le  voci  de' 
nioderni  nel  coro  augusto  degli  antichi.  Mossen  Diego  de  Valera, 
a  cui  sovente  cadon  di  bocca  i  nomi  di  Socrate,  di  Seneca,  di 
Piatone,  toglie,  e  vero,  da  Valerio  Massimo  esempi  di  vite  di 
virtuose  donne;  accoglie  nel  coro  sacro  le  bibliche  Ester  e  le 
Debore,  ma  fa  pure  all'uopo  i  suoi  bravi  strappi  alle  vite  nar- 
rate,  'con  soberano  loor',  dal  Boccaccio;  registra  le  virtü  e  i 
fatti  egregi  di  'Claudia  vestal'  (p.  149:  'el  nombre  de  su  padre 
no  me  rremiembro  averlo  leydo'),  rimembrando  e  compendiando 
la  storia  di  Claudia  dal  De  claris  Midier ibus,  che  pur  gli  sugge- 
risce  le  virtü  di  'Mynerba  por  otros  llamada  Palas'  ('por  esta 
fue  fallado  el  arteficio  de  la  lana  e  ella  buscö  arte  para  la  lim- 
piar,  —  esta  el  usso  de  las  carretas  fallö'), 1  di  'Clodia  romana', 
di  'Erifola  Sebila'  (p.  150:  'aver  seydo  su  nascinaiento  en  Babi- 
lonia  notoria  cosa  es  asaz  dias  ante  de  la  total  destroycion  tro- 
yana'), 2   di  'Lucrecia'  ('la  quäl  fue  onrra   de  la  generacion   ro- 


1  '. . .  dizeu  el  artificio  de  la  lana,  nunca  ante  della  conocido,  aver 
sido  por  ella  inventado.  . . .  Quieren  otrosi  algunos  aver  ella  inventado  el 
uro  de  los  carros  de  quatro  rruedas'  (Libro  de  J.  B.  . . .  de  las  illustres 
Mugeres,  Sevilla  1528,  cap.  VI,  f.  XI). 

2  Leggo  nell'ispida  traduzione  del  Betussi,  Libro  delle  donne  illustri, 
che  ora  ho  tra  mani  (ediz.  di  Venezia  1558,  f.  25),  di  Erithrea,  ovvero 
Eriphila:   'questa  essere  stata  la  pia  celebrata  dicono,  et  essere  nata  in 


Note  sul  Boccaccio  in  Ispagna  nell'Eta  Media.  379 

mana'),  che,  ferita  a  morte,  esclainava:  'la  que  tomar  quisiere 
enxemplo  de  la  culpa  no  dexe  el  enxemplo  de  la  pena') '  di 
'Penelope',  di  'Porcia',  'Julia',  'Antonia',  'Tamaris',  'Artemisia*, 
'Argia',  'Suplicia',  'Ipolita  griega',  'Hippon'  (p.  154  'de  quales 
padres  aya  traydo  su  nascimiento,  los  antiguos  ystoriadores, 
quier  por  peresa  ö  por  malicia  de  la  fortuna  no  lo  dexaron 
a  nos').2 

Grandissima  stima  aveva  Mossen  Diego  de  Valera  del  'reve- 
rendo  doctor'  Alonso  de  Cartagena  di  cui  elogia  un  trattato,  che 
non  e  il  Libro  de  las  mageres  ilustres,  scritto,  si  e  detto  e  si 
e  tradizionalmente  ripetuto,  dal  dotto  vescovo,  dietro  l'esempio 
del  Boccaccio,  e  per  desiderio  espresso  della  regina  Maria.  Non 
era  aucor  composta  l'apologia,  smarrita  ormai,  quando  il  Valera 
scriveva  la  sua  'Difesa'?  E  fantastica  e  gratuita  affermazione 
quella  che  Andres  Delgadillo  esprimeva,  in  un  suo  inedito  e 
ignoto  Libro  de  las  Mugeres,  ayer  egli  tolto  al  Cartagena  i 
suoi  esempi  di  virtü  muliebri?  E  follia  voler  veder  chiaro  in 
tanta  oscuritä. 

I  trattati  boccacceschi  eran  pur  consultati  dal  gran  Tostado, 
Alonso  de  Madrigal,  arca  di  dottrina,  'maestro  en  santa  theo- 
logia',  capace,  volendo,  dicevasi,  di  cavarsi  dal  capo  suo  la 
Bibbia  intera,  se  mai  fosse  dalla  terra  scomparsa,  scrittor  fe- 
condo,  autore  anche  di  un  Breviloquio  de  amor,  e  di  un  tratta- 
tello  De  como  al  omne  es  necesario  amar.  Leggendo  il  Boc- 
caccio, e  il  Libro  de  las  ciaras  y  vbtuosas  mugeres  del  padron 
suo  colendissimo  Don  Alvaro  de  Luna,  Fra  Martin  Alonso  de 
Cördova,  che  gia  conosciamo  come  ammiratore  del  De  Casibus, 
mette  insieme  un  suo  Vergel  de  nobles  doncellas,  che  dedica 
ad  Elisabetta,  sorella  dell'infante  Enrico  IV,3  e  risolutamente 
vi  combatte  'la  non  sabia   nin  onesta  osadia   de  los  que  contra 


Babilonia  molto  prima  che  fosse  la  guerra  Troiana'.  E  nella  versione  casti- 
gliana  (cap.  XIX,  f.  XXI):  'esta  dizen  ...  que  su  nacimieto  fue  en  babi- 
lonia poco  ante  de  la  guerra  de  troya'. 

1  'illustre  esempio  della  pudicitia  Komana'  (trad.  Bet.  f.  55)  —  's'io 
m'assolvo  del  peccato  non  mi  libero  dalla  pena'.  'Yo  desta  manera  me 
absuelvo  del  pecado  |  mas  no  me  libro  de  la  pena'  (trad.  cast.  f.  XLIII). 
'Yo  so  quita  de  la  culpa;  mas  non  de  la  pena'  (Olosas  d  los  Prov.  del 
Santillana,  Obras,  79).  Anche  le  Caydas  (Lib.  III,  cap.  II,  f.  XXXVI) 
offrivano  al  Valera  il  racconto  della  tragica  fine  di  Lucrezia:  'de  la 
culpa  y  pecado  yo  me  quiero  absolver  |  mas  de  la  pena  no  me  quiero 
escusar'. 

2  'dapoi  che  per  la  malignitä  del  tempo,  et  la  sua  patria,  e  i  suoi 
parenti  e  gli  altri  suoi  nobili  atti  et  opre  si  sono  estinte'  (trad.  Bet.  f.  54). 
'Mas  pues  que  por  malicia  de  la  antiguedad  |  el  linaje  |  la  patria  y  las  otras 
hazanas  suyas  nos  han  sido  quitadas'  (trad.  cast.  f.  XLVlII). 

3  Stampato,  se  io  non  erro,  solo  nel  1542:  Jardin  de  las  nobles  don- 
cellas —  A  loor  y  gloria  de  nuestro  Senor  y  de  su  bendita  madre.  (Ved. 
A.  de  los  Rios,  Eist.  VI,  266.) 


380  Note  sul  Boccaccio  in  Ispagna  nell'Etä  Media. 

la  generaeion  de  las  mugeres  avian  querido  dezir  e  escribir, 
queriendo  amenguar  sus  ciaras  virtudes'.  * 

Sülle  carte  del  trattato  apologetico  del  Boccaccio  piü  volte 
ebbe  a  chinare  pensoso  il  capo  il  Marchese  di  Santillana.  Le 
virtü  di  Porzia,  figlia  di  Catone,  l'eroismo  tragico  di  Lucrezia 
si  commendano  nelle  note  ai  Froverbios,  dove  esplicitamente  si 
rimanda  alle  lodi  che  della  'fortaleca  de  las  mujeres'  si  fecero 
nel  Libro  de  las  duenas,  o  De  Praeclaris  mulieribus.  Qual 
giudizio  facesse  il  marchese  del  Libro  de  las  virtuosas  et  ciaras 
mugeres  dell'abborrito  rivale  Alvaro  de  Luna,  non  sappiamo,  ma 
l'opera  del  Boccaccio,  ch'ei  possedeva  tradotta,  non  poltriva  ne' 
suoi  scaffali,  e  sicuramente  era  consultata  co'  Trionfi  petrarcheschi 
e  le  Caydas,  quando,  ad  accrescer  la  gloria  dell' onnipossente 
Fortuna,  che  volge  e  rivolge  le  umane  cose,  da  lui  descritta 
nella  Comedieta  de  Ponqa,  occorrevagli  un  coro  cospicuo  di 
donne  insigni.  II  Boccaccio  gli  suggeriva  i  nomi  di  Antonia,  Rea 
'muger  de  Tarquino',  Marzia,  Lucrezia,  Paolina,  Hipsicrata,  Curia, 
Porzia,  Cornelia,  Triaria,  Faustina,  Jocasta,  Argia,  Amaltea,  'la 
muy   farnosa  Sibilla  Erithea',   Hippo,  Veturia,  Proba,  Megulia.  - 

Dovette  pur  leggere  il  trattato  boccaccesco,  o  consultarlo 
almeno,  il  'Condestavel'  Don  Pedro  de  Portugal,  ligio  assai  al 
'feminil  linage',  al  quäle,  diceva,  'yo  tanto  soy  teuudo  e  loar  devo'. 
Nella  Sdtira  de  felice  e  infelice  vida,  piü  volte  accenna  alle 
virtü  magnaninie  dell'inclite  donne;  rammenta  'Lucretia',  'Ypo', 
'que  en  las  marinas  ondas  fallö  causa  de  loable  muerte  e  perpetual 
iama',  'Vecturia',  'cuyas  mujeriles  preces  fueron  mas  poderosas 
que  la  muy  poderosa  caballeria  romana',  'Pantasilea',  e  'Sulpicia', 
e  'Dido'.3  Dovevasi  comprendere  il  Boccaccio  tra  gli  'actores' 
ed  encomiatori  delle  miglior  donne,  a'  quali  vagamente  rimanda 
Pedro  de  Escavias  in  alcune  sue  misere  Coplas  d  una  dama, 
dove  e  gran  sfoggio  di  gran  nomi,  non  tutti  vantati  perö,  e  ram- 
mentati  nel  De  daris  Mulieribus. 4 

Le  difese  delle  donne  nelle  provincie  di  Catalogna  e  di 
Valencia  erano  men  calorose  che  in  Castiglia;  ma  qui  pure,  per 
gran  tempo,  offre  consiglio  e  storica  materia  il  trattato  del  Boc- 


1  Non  so  dire,  se  di  lui  sieno  le  Alabanxas  d  laVirginidad,  attribuite 
pure  ad  Alonso  de  Horozco,  vissuto  un  secol  piu  tardi,  e  da  Nicol.  Ant. 
(Bibl.  Vet.  II,  306  e  665)  registrate  fra  le  opere  del  frate  agostiniano. 

2  A  questo  non  pensano  punto  gli  studiosi,  buoni,  o  cattivi,  dell'ope- 
retta  del  Santillana,  che  unicamente  pescan  nomi  ne'  Trionfi  del  Petrarca 
e  nella  Commedia  di  Dante. 

3  Opusculos  literarios  de  los  siglos  XIV  d  XVI  (Soc.  d.  Bib.  Esp.), 
Madrid  1892;  pp.  74;  76;  81.  —  Vero  e  che  il  Contestabile  leggeva  con 
profitto  l'apologia  di  Alvaro  de  Luna,  e  dal  De  Casibus,  piii  che  dal  De 
Midieribits  daris,  conosceva  i  'tristes  infortunios'  delle  donne  insigni. 

4  Un  Cancionero  del  siglo  XV,  con  varias  poesias  ineditas  ed.  F.  de 
Uhagon  in  Rev.  de  Arch.,  Bibl.  y  Mus.,  1900,  p.  519  sg. 


Note  sul  Boccaccio  in  Ispagna  nell'Etä  Media.  381 

caccio,  nell' originale  latino  e  nella  traduzione  castigliana;  qui 
pure  certamente  era  noto  e  diffuso  il  libro  analogo  di  Don  Alvaro 
de  Luna. x  A  magnificare  le  virtü  di  certe  monachelle  di  Vall- 
donzella,  ritrosette,  suppongo,  alle  tenere  sue  proposte  d'amore, 
il  notaio  Antoni  Vallmanya2  mette  insieme,  nel  raaggio  del  1448, 
una  serie  di  'coblas  unissonanz'  alle  devote  vergini,  che  solle va, 
sull'ali  del  canto,  all'altezza  delle  Sofonisbe,  delle  Medee,  Meduse, 
Veturie,  Tisbi,  Lavinie,  Eritee,  Deanire,  e  perche  non  aprissero 
le  inonache  tant'  occbi  a  nomi  si  spettacolosi,  ed  a  paragoni  si  poco 
cristiani,  il  poeta  puntella  il  verso  con  una  prosa  illustrativa, 
dove  rimanda  ai  libri  che  gli  soniministraron  tanta  scienza: 
YEneide  di  Virgilio,  1' Inferno  di  Dante,  i  Trionfi  del  Petrarca, 
un  libro  sulle  fatiche  d'Ercole,  probabilniente  la  compilazione 
del  Villena,  la  Storia  troiana  di  Guido  delle  Colonne,  e  sopra- 
tutto  il  gran  libro  delle  clares  dones  de  Johan  Bochassi.3 
Quest' ultimo  era  al  Vallmanya  indubbiamente  ancor  presente, 
quando  di  nomi  illustri  cosparge  altre  rime  encomiastiche  ('obra 
de  grat  e  iugrat'),  alle  dilette  sue  'signore  monache',  e  ricorda 
Tisbe,  Didone,  'Issifle'  ed  altre  donne  chiarissime. 4 


1  Sono  completaniente  al  buio  sulla  natura  e  le  vicissitudini  di  un 
libro  sulle  chiare  donne:  De  las  donas  mes  famosas  en  las  historias,  tra- 
scritto,  non  so  in  quäl  epoca,  da  Francisco  Barata  y  Montana;  canonico 
di  Barcellona,  priore,  per  molt'  anni,  della  real  casa  di  Monserrate  a  Roma, 
e  rimando  a  quanto  Torres  Amat  osserva  in  proposito  nelle  Memorias, 
pp.  85  sg. :  'Tenia  copia  de  esta  obra  ya  rara,  mi  companero  D.  Pedro 
Jose"  Avellä,  arcediano  y  canönigo  de  la  iglesia  de  Barcelona,  pero  se  le 
habia  extraviado  y  no  pudo  ensenarrnela.  . . .  No  puedo  pues  decir  si  el 
manuscrito  de  Barata  es  obra  original  6  copia  de  Alvaro  de  Luna.' 

2  I  notai  catalani  di  quell' epoca  erano  particolarmente  invasi  da  furor 
poetico.     fei  pensi  a  Berenguer  Cardona,  Johan  Moreno,  Johan  Verdanxa. 

3  Torres  Amat,  Memor.  p.  640  sgg. ;  Milä  y  Fontanals,  Obras  III,  198 ; 
fean visen ti,  /  primi  influssi  p.  3G0  sg. ;  384. 

t*  4  Torres  Amat,  Memor.  637  sg. ;  639  sg.  Se  a  Jaume  Roig  fosse  noto 
il  De  claris  Mulieribus  del  Boccaccio  non  saprei  affermare.  All'autore 
del  Libre  de  les  dones  occorrevano,  piü  degli  encomi,  le  rustiche  invettive. 
Chiude  perö  la  gran  sequeia  di  versetti,  inneggiando  alla  Vergine,  sola  a 
sorreggerci  in  questa  valle  di  lacrime,  ed  ha  un  vago  accenno  alle  donne 
virtuose  e  famose  (p.  182  dell'ediz.  citata  nelle  note  al  Corbaeeio):  'Si  mes 
t  impliques  |  he"  fort  repliques  |  de  virtuoses  |  dones  famoses  |  he"  venerades 
qui  son  estades  |  vergens,  fadrines,  |  mouges,  beguines,  |  poques  casades, 
canonizades  |  per  papa  santes  |  Sybilles  tantes  ecc'  —  Un  po'  della  scieuza 
muliebrc,  rivelata  dal  Boccaccio,  nell'opere  latine  e  volgari,  passo  sicura- 
meute  a  Mossen  Johanot  Martorell,  che  mostra  conoscere  il  Decameron,  il 
Filostrato,  la  Fiammetta,  il  De  Gasibus,  e  sfoggia,  nel  Tirant  lo  Blanch, 
sentenze,  a  diritta  ed  a  rovescio,  moralizzando  col  'grau  philosof  Aristotil', 
con  Salomone,  Cicerone,  Seneca,  Virgilio,  Ovidio,  Tito  Livio,  Catone, 
Boezio,  i  Santi  Padri.  Nel  cap.  CCLXXXXIV  (ed.  Bibl.  catal.,  Barcelona 
1879,  III,  310  sgg.)  re  Scandiano  fa  un  predicozzo  morale  a  Tirant  sui 
'casos  sinistres  de  fortuna  qui  algunes  vegades  han  acostumat  de  venir 
als  ergullosos,  e  per  lur  superbia  son  mesos  baix',  e,  ineniore  delle  letture 
dei  fatti  egregi   di  'nioltes  virtuoses  senyores   qui  en  lo  mon  son  Stades', 


382  Note  sul  Boccaccio  in  Ispagna  nell'Etä  Media. 

Nuove  rime  e  nuove  prose  si  sciorinarono  all'apparire  del- 
l'innocente  maldecir  del  Torrella,  ch'ebbe  fama  immeritata,  in- 
audita.  DaU'inferno,  dove  certamente,  con  Matteolo,  scontava  i 
i'alli  suoi,  i  vituperi  lanciati  alle  valorose  clonne,  Jean  de  Meun 
pareva  venuto  su  in  sembianze  novelle.  Occorreva  turar  la  bocca 
sacrilega  allo  scellerato  maldicente.  *  Gran  tempo  si  pugnö  a 
parole,  ed  alla  rissa,  incruenta,  parteciparono  i  versificatori  a  frotte. 
'Conviene  que  se  castigue,  |  quien  contra  damas  arguye  |  ...  De 
las  notables  y  netas  |  muy  mas  ciaras  que  vedrio  |  maldezir  es 
desvario',  esclama  Gomez  Manrique,  opponendo  ad  ogni  strofa 
accusatrice  del  Torrella  la  sua,  di  fiacca  difesa.  Mossen  Pere 
Torrella,  vistosi  scatenate  sul  capo  le  Furie,  ministre  della 
giustizia  di  Dio  e  della  Vendetta  delle  donne,  scrive  una  sua 
placida  ritrattazione,  im  Razonamiento  en  deffension  de  las 
donas,  por  satisfaccion  de  unas  coplas  que  de  la  condicion  de 
aquellas  conpuso,*  dove  non  credo  sia  traccia  del  trattato  apolo- 
getico  del  Boccaccio.  Qualche  suggerimento  dal  Certaldese  avrä 
avuto  invece  Diego  de  San  Pedro,  innestando  nella  sentimentale  e 
lacrimosa  storia  d'amore,  che  ha  gia  anticipato  sapor  di  Werther, 
la  Carcel  de  amor;  'veynte  razones',  certificanti  gli  obblighi  che 
gli  uomini  contraggono  per  necessita  colle  donne,  e  ponendo  in 
bocca  a  Leriano,   mosso   a  difendere  il   bei  sesso   contro  Teseo 


esalta  la  dorma  del  suo  cuore,  comparandola  a  'Uricia',  'Semiramis',  'Sino- 
bia',  'Pantasilea',  'Tamilla',  'Minerva',  'Ysipo',  'Porcia',  'Julia',  Artemisa', 
'Adriana',  'Fedra',  'Sipill'. 

1  Le  note  sul  Gorbaecio  in  Ispagna  riassumono,  con  brevitä  forse  so- 
verchia,  la  storia  edificante  del  martirio  inflitto  al  Torrella.  Dimenticava 
qui  di  citare,  tra  le  punizioni  invocate  ai  maldicenti,  quelle  che  Christine 
de  Pisan  augurava  nell 'Epistre  au  dieu  d'Amour  {(Euvres  ed.  E.  Roy  in 
Soc.  d.  ane.  textes  II,  25): 

Pour  ce  conclus  en  diffiuicion 

Que  des  mauvais  soit  fait  punicion, 

Qui  les  blasment,  diffament  et  aecusent, 

Et  qui  de  faulz  desloiaulz  semblaus  useut 

Pour  decepvoir  elles;   si  soiont  fuit 

De  nostrt-  Court,   chacie,   bani,  destruit, 

Et  eutrediz  et  escomuienie, 

Et  tous  noz  bieus  si  leur  soient  ny6, 

C'est  bien  raison  qu'on  les  escomeuie, 

Et  commandons  de  fait    —     —      —     — 


que  tous  ceulz  maubaillis 
Et  villennez  soient  tres  laidement, 
lnjuriez,  punis  bonteusement, 
Pris  et  liez,  et  justice  en  soit  faitte, 
Sanz  plus  souffrir  nulle  injure  si  faitte, 
Ne  plus  ne  soit  souffert  teile  laidure. 


2  E  registrata,  tra  le  Obres  de  Mossen  Pere  Torroella,  dal  Morel-F'atio, 
Gatal.  d.  manusc.  esp.  IV,  623,  fol.  98—105,  p.  239. 


Note  sul  Boccaccio  in  Ispagtia  nell'Etä  Media.  383 

'y  todos  los  que  dizen  mal  de  mujeres',  esempi  memorandi  di 
virtü  femminili.  S'invoca  quivi  dal  cielo  giusto  castigo  a'  vitu- 
peratori  malvagi,  e  giusto,  treniendo  castigo  si  ha  il  Torrella  nella 
disputa  su  chi  da  piü  occasione  di  peccare:  l'uouio  alla  donna, 
o  la  donna  all'uomo,  che  riempie  la  storia  di  Grisel  y  Mira- 
bella (ribattezzata  Aurelio  y  Isabela),  storia  languida,  eppure 
divulgatissima,  in  cui  occorron  esempi  di  bontä  e  castitä  muliebre, 
in  opposizione  alle  'perversas  obras'  degli  uomini.  S'augurava 
Juan  del  Encina  piovessero  le  benedizioni  sul  capo  di  chi  ser- 
viva  le  donne,  'y  ensalzare  su  Corona'  {Contra  los  que  dizen 
mal  de  mugeres),  e  al  protagonista  di  una  sua  egloga,  il  dispe- 
rato  Fileno,  buon  conoscitore  del  Corbaccio,  pria  che,  dispe- 
rato,  per  crudel  disdegno,  si  ferisca  a  morte,  fa  che  innanzi  gli 
si  schierino  nomi  asciutti  di  donne  antiche,  chiare  e  virtuose: 
Marzia,  Lucrezia,  Penelope,  Didone,  Claudia,  Veturia,  Porzia  e 
piü  altre,  che  all'orecchio  dell'  innamorato  pastore  ben  strani 
dovevan  suonare. ' 

Non  e  nella  natura  muliebre  la  costanza  e  la  fermezza  del- 
l'uomo,  pensava,  col  Boccaccio,  il  petrarchista  Don  Pedro  Manuel 
de  Urrea.  Or  se  la  donna,  per  voler  del  cielo,  realmente  rivela 
coteste  rare  virtü,  chi  non  vorrä  lodarla?  'Pues  como  dize  Juan 
Bocacio  en  el  libro  que  compuso  de  claris  mulieribus,  las  tales 
cosas  en  los  hombres  serian  muy  alabadas,  iquanto  mäs  lo 
deven  ser  en  las  mugeres,  ä  quien  la  naturaleza  negö  las  fuercas 
varoniles?'2  E  parecchie  di  tali  fenici,  degne  del  massimo  en- 
comio,  e  dal  Boccaccio  esaltate,  volle  egli  pure  rammentare. 

Biasimi  e  lodi,  le  estreme  ingiurie,  i  maggiori  encomi  si  alter- 
nano,  si  conibinano,  si  intrecciano,  si  combattono  in  altri  componi- 
menti,  clell'estremo  '400  e  del  '500,  che  e  qui  follia  voler  descri- 
vere,  od  analizzare.  'Malas  hembras'  e  'buenas  mugeres',  s'oppon- 
gono,  come  'lodo'  all''oro',  in  24  coplas  di  Fray  Iriigo  de  Men- 
doza.  Un  Tractado  e  respuesta  a  gierta  jpregunta,  e  de  algunas 
reynas  e  grandes  seiioras  que  non  fueron  buenas  mugeres,  et 
de  otras  que  fueron  muy  buenas,  tiniendo  honesta,  casta  e 
vyrtuosa  JvidaJ  et  de  cosas  famosas  que  por  sus  maridos 
fizieron,  scrive,  intorno  al  1484,  il  compilatore  del  consultatissimo 
Vahrio  de  las  hystorias,  Diego  Rodriguez  de  Almella,  canonico 
di  Cartagena,  'arcipreste  de  val  de  santivaiies',  cappellano  della 
regina  Isabella  de  Castiglia,  e  a  Diego  de  Caravajal,  'corregidor' 
della  cittä    di   Murcia  lo   dedica. 3     Crebbe   via   via   la   discen- 


1  Rammentai  l'egloga  dell' Encina  ed  altri  versi  e  prose,  in  pro  e  contro 
le  donne,  nelle  note  sul  Corbaccio. 

2  Prologo  a  Do"a  Cathalina  de  Yxar  y  de  Urrea,  riprodotto  nel  Can- 
cionero  pubbl.  dalla  Deputac.  prov.  di  Zaragoza,  1878,  p.  4. 

3  Le  note  mie  sul  Corbaccio  ricordano  la  copia  inanoscritta  conservata 
al  British  Museum,  della  quäle  un  breve  estratto  mi  f  u  favorito  dall'  amico 


384  Note  buI  Boccaccio  in  Tspagna  nell'Etä  Media. 

deuza  dcl  De  claris  Mulieribus  boccaccesco,  determinata  in  gran 
parte  dalla  maggiore  o  minore  violenza  con  cui  le  donne  erano 
aggredite,  prolifica  anche  per  il  riversarsi  che  facevano,  sulle 
vicine  terre  d'Italia,  altri  trattati  sul  valor  femminile,  come  l'ano- 
nima  Defensione  delle  donne, ]  il  De  plurimis,  claris,  selec- 
tisque  mulieribus  di  Filippo  Foresti  da  Bergamo2  ed  altri  libri 
analoghi,  posteriori,  del  '500:  Della  Eccellenza  et  Dignitä  delle 
Donne  (Roma  1525)  di  Flavio  Galeazzo  Capeila,  le  Difese  delle 
donne  (Firenze  1552)  del  Pistoiese  Domenico  Bruni,  YApologia 
pro  Mulieribus  (manoscr.)  di  Pompeo  Colonna,  La  bella  e 
dotta  difesa  delle  donne  in  verso  e  in  prosa  di  Messer  Lnigi 
Dardano  (Venezia  1554),  curiosa  anche  per  le  reminiscenze 
dantesche  che  vi  si  innestano,  da  nessuno  ancora  avvertite, 
diretta,  pur  essa,  contro  la  'malvagitä  d'alcuni  uomini,  i  quali 
senza  alcuno  rispetto  dicono  male  del  nobile  sesso  femminile', 
e  'merce  dei  loro  strani  et  disordinati  appetiti,  vorrebbono  non 
solo  oscurare  il  nome  delle  valorose  donne,  ma  del  tutto  spe- 
gnerne  il  seme'. 3  S'ebbero,  in  Ispagna:  un  trattato  De  las 
ilustres  mugeres  di  F.  Juan  Maldonado, 4  un  libro  di  Fran- 
cisco de  Sosa  De  las  ilustres  Mugeres  que  en  el  mundo  ha 
havido  ('recopilado  de  varios  autores'),  or  perduto,5  le  Trecientas 


Fitzmaurice  -  Kelly.  Non  citano  questo  trattato  Nicol.  Ant.  in  Bibl.  Vet. 
II,  325,  A.  de  los  Bios,  Hist.  VII,  306  sgg.  e  quei  pochi  ch'ebbero  a  scri- 
vere  sull'autore  del  Valerio. 

1  E  a  stampa,  per  cura  dello  Zanibrini,  in  Scelta  di  curios.  letter.  V,  148. 
Offre  analogie  singolarissime  col  'Trattato'  di  Diego  de  Valera  che  talvolta 
sembrerebbe  tradurre,  ed  e,  pur  essa,  diretta  contro  le  'calunniose  accu- 
sazioni  di  perfidi  maldicenti'.  II  Boccaccio  e  qui  taciuto,  e  il  biasimo 
maggiore  si  riversa  sull'autore  delVArs  Amandi  fatale.  Trovi  invece  un 
rimprovero  al  Boccaccio  nel  breve  trattato  di  L.  Domenicbi,  La  nobiltä 
delle  donne,  Venezia  1546,  p.  46:  'Et  in  somma  tutti  coloro,  che  le  biasi- 
mano,  come  Giovanni  Boccaccio  e  simili,  non  debböno  essere  ascoltati: 

Serche  ciö  hanno  fatto  per  odio,  e  per  lo  non  havere  elleno  voluto  a  loro 
ishonesti  desiderij  acconsentire'. 

2  Consultato  piü  volte  dall'Acosta  nel  suo  Tratado  en  loor  de  las  mu- 
geres, Venezia  1592,  p.  92  sg.  Figurava  nell' inventario  de' libri  di  Isabella 
d'Este  (Giorn.  stör.  d.  letter.  ital.  XLII,  75),  ed  e  riassunto  nel  De  memora- 
bilibus  et  claris  mulieribus,  aliquot  diversorum  scriptorum  opera,  Paris 
1521  (Vedi  Memoires  de  litter.  de  Sallengre,  La  Haye  1775,  I,  165)  che 
non  veggo  citato  da  quanti  ebbero  recentemente  a  scrivere  sui  trattati  in 
onor  delle  donne. 

3  Ne  trae  profitto  l'Acosta  nel  Tratado  ecc.  p.  10,  che  vi  trova  'buenas 
racones  y  verdaderas  historias'.  L'Acosta  ricorda  pure,  a  p.  107,  l'apologia 
di  Symphorien  Champier. 

4  Lo  rammenta  il  Cardoso  in  Agiologio  Lusitano.  Vedi  Nicol.  Ant. 
Bibl.  Nov.  II,  730.  Non  e  apologetico  il  Dialogo  de  mugeres  entre  dos 
sabios  del  Castillejo. 

5  Vedi  Nicol.  Ant.  Bibl.  Nov.  I,  479  e  la  diligentissima,  preziosa  opera 
di  M.  Serrano  y  Sanz,  Apuntes  para  una  biblioteea  de  las  escritoras  espano- 
las  desde  el  ano  1401  al  1833,  Vol.  I,  Madrid  1903,  p.  X. 


Note  sul  Boccaccio  in  Ispagna  nell'Etä  Media.  385 

del  Triumpho  de  virtudes  en  defensa  de  illustres  mugeres, 
tuttora  inedite  (composte  intorno  al  1582),  del  curato  Luis  Hur- 
tado,  rimaneggiatore  del  Palmeirim  de  Inglaterra,  una  Varia 
historia  de  sanctas  e  illustres  mugeres  en  todo  gener o  de  vir- 
tudes del  'bachiller'  Juan  Perez  de  Moya,  noto  poligrafo, !  il 
Ginaecepaenos,  o  Dialogo  en  laude  de  las  mugeres  di  Juan  de 
Espinosa, 2  il  Tratado  en  loor  de  las  mugeres,  y  de  la  Onesti- 
dad,  castidad,  constancia,  silencio  y  justicia  dellas  di  Cristoval 
de  Acosta,  dedicato  all'mfanta  Donna  Caterina  d'Austria,  apo- 
logia  diretta,  come  il  prologo  avverte,  'a  un  mordaz  murmura- 
dor  de  las  mugeres  en  respuesta  de  una  carta  que  me  escrivio', 
e  dipendente  ancora  dalla  dottrina  del  sapientissimo  Boccaccio. 3 
Nel  1609,  stampavasi  a  Venezia  l'opera  del  Valenziano  Pedro  Paolo 
de  Ribera:  Le  glorie  immortali  de}  trionfi  et  heroiche  imprese 
d'ottocento  quarantacinque  donne  illustri  antiche  e  moderne. 


Conoscere  le  virtü  delle  donne  valorose  poteva  sembrare 
agli  uomini  gravi  del  Medio  Evo  tutt'una  cosa  come  un  pro- 
cacciarsi  i  suffragi  del  cielo  all'ambita  spirituale  salute.  E  grato 
a  Dio  chi  e  grato  alle  donne,  cosi  pensava  anche  Vespasiano 
da  ßisticci  in  un  suo  Libro  della  lode  e  commendazione  delle 
donneJ  C'era  adunque  un  posticino  per  il  Boccaccio  tra  i  Padri 
Santi,  gli  Evangelisti,  le  autoritä  della  Bibbia,  che  medicavano 
le  ferite  del  cuore,  e,  col  balsamo  delle  sacre  scritture,  tenevan 
lungi  le  perturbazioni  e  le  passioni  struggenti.  Naturalmente, 
a  non  offuscare  la  gloria  del  Boccaccio,  occorreva  ignorare  la 
diatriba  contro  le  rie  feminine,  o  far  piena  astrazione  di  essa. 
L'ignorava,   con  tutta  probabilitä,   Donna  Teresa  de  Cartagena, 


1  Nicol.  Ant.  Bibl.  Nov.  I,  757  cita  un'edizione  dell'opera  del  Moya 
di  Madrid  1583.  M.  D.  Berrueta,  in  alcuni  appunti,  neila  Rev.  d.  Arch., 
Bibl.  y  Mus.,  1899,  p.  467  ne  registra  un'edizione  di  Madrid  del  1538;  sarä, 
suppongo,  errore  di  stampa.  —  Ad  un  trattato  sulle  chiare  donne  (Theatro 
de  mujeres  illustres)  di  Damian  Froes  Perim,  e  ad  un  altro  di  Francisco 
de  (xuzmän,  allude  Serrano  y  Sanz  nell'opera  sua,  Vol.  I,  p.  X;  Vol.  II, 
pgg.  6;   8ö;  162. 

2  Stampato  a  Milano  nel  1580,  e  ristampato  dallo  Sbarbi  nel  II  tomo 
del  suo  Refranero  espanol.  E.  Motta  in  una  notiziuola:  i"  libri  di  un 
castellano  spagnuolo  del  1594,  in  Briciole  bibliogr.,  Como  1893,  p.  42,  ricorda 
il  Micracanthos  delP Espinosa,  edito  dopo  la  raorte  dell'autore,  aspesedel 
Re  di  Spagna.  II  re  accordava  alla  vedova  dell' Espinosa,  ai  2  novembre 
1601,  150  scudi  per  sussidiarne  la  stampa  (Dall'Arcn.  di  stato  di  Milano). 
II  Micracanthos  e  registrato  dal  Gallardo,  Ens.  II,  955. 

3  p.  20;  p.  95;  p.  107;  p.  113  ecc.  A  p.  126  si  rammenta  la  Caida 
de  los  principes.  SulT Acosta  Affricano  vedi  D.  Garcia  Peres,  Catdlogo 
raxonado  biogrdßco  y  bibliogräf.  de  los  antares  portugueses  que  escribieron 
en  castellano,  Madrid  1890,  pp.  12  sgg. 

4  Vedi  E.  Bertana,  L'Ariosto  e  le  donne,  in  Miscellanea  di  studi  critici 
edita  in  onore  di  Arturo  Graf,  Bergamo  1903,  pp.  161  sgg. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    CXV.  25 


38C  Note  sul  Boccaccio  in  Tspagna  nell'Etä  Media. 

religiosa  di  non  si  sa  bene  quäl  ordine,  amica  di  Gomez  Man- 
rique,  rstimatore  grande  della  dottrina  boccaccesca.  Era  donna 
tutta  accesa  d'amor  divino,  sempre  intenta  a  dissipare  cla  niebla 
de  tristeza  temporal  humana',  a  tener  lungi  l"espeso  torvellino 
de  angustiosas  pasiones',  fuggendo  la  selva,  od  'isola'  del  peccato, 
'que  se  Uama  oprobium  hominum',  T'exillyo  e  tenebroso  destierro', 
coll'opere  di  pietä  e  gli  scritti  ascetici.  Ad  illuminarsi  fra  le 
tenebre  metteva  anch'essa  i  suoi  fari,  o,  com'ella  s'esprimeva: 
popolava  i  deserti  di  'arboledas  de  buenos  consejos  y  espiri- 
tuales  consolaciones'.  Compilava  ancb'essa  dalle  dotte  carte,  pur 
deploraudo  il  proprio,  'flaco  mugeril  entendimiento'.  Anch'essa 
toglieva  consiglio  da'  trattati  morali  del  Boccaccio.  Aveva  scritto, 
per  compiacere  Donna  Juana  de  Mendoza,  moglie  di  Gomez 
Manrique,  una  sua  Admiracion  de  las  obras  de  Dios,  dove 
pur  discute  della  preeminenza  vantata  dagli  uomini  sulle  donne, 
e  provvedeva  all"entendimiento  flaco  mugeril,  puesto  entre  tan- 
tos  e  tan  peligrosos  lasos'.  Da  Elche  mandava  a  Donna  Leonor 
de  Ayala  il  Vencimiento  del  mundo.  Raccoglieva,  come  prima 
di  lei  aveva  fatto  Fernän  Perez  de  Guzmän,  varie  Sentencias 
de  philosophos  e  sabios,  ed  affidava  lo  sfogo  maggiore  del- 
l'anima  ad  un  trattato  ascetico  morale,  YArboleda  de  los  en- 
fermos,  composto  'seyendo  apasyonada  de  graves  dolencias', 
'a  loor  de  Dios  e  espiritual  consolacion  suya  e  de  todos  aquellos 
que  enfermedades  padescen'.  Coi  confortatori  e  salmisti  e  dot- 
tori  della  Chiesa,  non  ti  meravigli  di  trovar  citato,  nell'opere 
sue,  quäle  venerancla  autoritä,  Giovanni  Boccaccio.1  Avvenivale 
cosi,  merce  le  assidue  letture  di  libri  'los  quales  de  arboledas 
saludables  tienen  en  sy  maravillosos  enxertos',  i  conforti  pro- 
cacciatisi,  ed  i  'santos  consejos',  di  convertire  'en  compaiiia  e 
familiaridat  de  buenas  costunbres',  'la  soledat  penosa  de  las  con- 
versacjones  del  siglo'. 

Alle  donne  in  pena,  contristate  e  gementi,  travagliate  da 
iniqua  fortuna,  poteva,  per  un  Capriccio  della  fantas;a  de'  poeti, 
apparire  il  Boccaccio,  disceso  dal  cielo  in  terra,  a  terger  le 
lagrime,  ad  accogliere  e  reprimere  i  sospiri,  a  mitigare  i  dolori 
e  gli  affanni  crudi.  Chi  piü  del  Boccaccio  esperto  delle  miserie 
e  delle  sciagure  di  quaggiü,  piü  atto  quindi  a  porger  sollievo  e 
conforto  quando  il  cuore  e  in  preda  a  cupa  disperazione  ?  Se  lo  fa 
risorgere  il  Santillana  nella  Comedieta,  a  ristoro  dell'anima  delle 
regine  di  'gran  sangue  e  magnificencia',  lettrici  del  De  Casibus, 


1  Neil' Admiracion  de  las  obras  de  Dios.  Vedi  A.  de  los  Rios,  Eist. 
VII,  178,  dove  perö  assai  superficialmente  si  discorre  dell' Arboleda,  dal- 
l'insigne  storico  forse  non  mai  letta,  come  ben  dimostra  Serrano  y  Sanz, 
nel  notevole  articolo  dedicato  a  Donna  Teresa  de  Cartagena  (opera  citata 
eulle  scritrici  di  Spagna  I,  218  sgg.).  Vedi  gli  estratti  dell'opere,  mano- 
scritte  all'  Escorial,  offerti  dal  Serrano. 


Note  sul  Boccaccio  in  Ispagna  nell'Etä  Media.  387 

niolestate  pur  esse  dalla  'regina,  ch'infra  li  mortali  |  rege  et 
iudica',  la  possente  Fortuna.  Gemiti  e  pianti  inducono  il  Boc- 
caccio a  partir  tosto  'dal  loco  ove  e  lo  dilecto  |  eterno,  la  gloria 
e  somma  potencia';  e,  impietosito,  il  grand'uomo  favella;  offre 
al  'piacere'  delle  afflitte:  'prose,  rime  e  versi'.  II  Santillana 
medesimo  stupisce  di  questa  risurrezione:  'de  como  ya  vive  soy 
maravellado';  scorge  nel  redivivo  poeta  un  non  so  che  del  vene- 
rando  aspetto  del  Catone  dantesco.  II  Boccaccio  appare  'cortes', 
'en  häbito  honesto,  mas  bien  arreado';  ha  cinta  la  fronte  di 
'verde  lauro'. x  Non  per  confortare  le  donne  afflitte,  ma  per 
farsi  protettore  dell'  onor  loro,  calpestato  da'  malvagi,  il  Boc- 
caccio risorgeva,  e  prestavasi  ad  una  vivace  difesa  nel  Proces 
d'honneur  feminin  di  Martin  Le  Franc,  preposto  di  Lausanne, 
autore  di  quel  Champion  des  dayties,  che  gli  Spagnuoli  leggevano, 
al  pari  del  Tresor  e  della  Cite  des  dames  di  Christine  de  Pisan. 
II   catalano  Francesch  Farrer,    invece,    in    un    Conort,    ch'ebbe 

I  In  questa  iminaginata  risurrezione  del  Boccaccio  (Comedieta  de  Ponea; 
Obras  100  sgg.),  il  marchese  sovvenivasi  evidentemente  dell'apparizione  del 
Petrarca  nel  De  Casibus  (Lib.  VIII,  cap.  I,  f.  CI  delle  Caydas  cast.):  'E  yo 
fablando  comigo  assi  como  hombre  vencido  del  todo  alce  mi  cabe§a  su- 
friendorne  sobre  niis  codos,  y  abaxandola  otra  vez  pusola  sobre  el  cabecal 
con  rnucho  cansancio:  y  ahe  que  me  parescio  no  se  de  parte  venia  un 
hombre  muy  fermoso  de  rostro  y  onrrado  acatamiento  muy  plazible  y  gra- 
cioso:  en  la  cabeca  una  Corona  de  ramos  de  laurel  .  y  el  vulto  de  su 
onorable  cuerpo  cubierto  de  una  vestidura  real:  al  quäl  como  yo  catasse 
no  me  fallo  alguna  cosa  .  y  yo  abri  mis  ojos  apartando  de  mi  todo  sueno 
y  pereza  con  mayor  diligencia  lo  torne  a  mirar  por  ver  quien  era  .  y  estando 
asi  entre  mi  pensando  conosci  que  era  francisco  petrarca  mi  senor  y  amigo 
y  maestro :  el  quäl  siempre  me  castigo  y  amonesto  y  enseno  todas  buenas 
costumbres  y  obras  de  sciencia  y  doctrina  muy  virtuosa.' 

II  Boccaccio  della  Comedieta  riappare,  a  sua  volta,  in  sembianze  di 
pellegrino  confortatore  e  di  veglio  antico,  degno  della  maggior  riverenza, 
pur  di  verde  alloro  coronato,  nella  Tragedia  de  la  insigne  Reyna  Isabel  del 
'Condestavel'  Don  Pedro  de  Portugal  (Hörnen,  d  Men.  y  Pel.  I,  700): 

En  esto  estando  ahe  vos  do  vino 
un  ombre  antigo  de  grand  estatura, 
que  bien  resemblava  de  honor  muy  digno 
segund  denotava  la  su  catadura. 

—     —     me  fizo  su  grand  fermosura 
dubdar  sy  humano  era  o  divino, 


Esplendida  ropa  e  rica  cobria, 
bordada  de  ojos  que  fueron  obrados 
por  la  gran  Minerva  con  tal  maestria, 
que  jamas  despiertos  serian  fallados. 
En  la  diestra  mano  tres  pomos  tenia, 
por  donde  tres  tiempos  eran  demostrados; 
muy  passo  a  passo  sus  passos  movia, 
segund  fazer  suelen  los  bien  ensenados 
de  laureo  verde  guirlanda  traya. 

25" 


888  Note  sul  Boccaccio  iu  Ispagna  nell'Eta  Media. 

qualche  diffusione,  ridona  vita  al  Boccaccio,  perche  sostenga  il 
motteggiare  sulle  fralezze  ed  astuzie  muliebri,  e  scongiuri  im 
castigo  solenne,  arringando  con  successo,  col  collega  Serveri  de 
Gerona. '  Torna  a  rivivere  ed  a  prodigar  dottrina  'misser  Joan 
Bocaci  de  Certaldo',  'honra  toscana',  di  'graciosa  cara',  solerte 
raccoglitore  di  favole  antiche,  nelle  esposizioni  morali  ed  alle- 
goriche  che  Francesch  Alegre  aggiunge  ad  una  sua  versione 
delle  Metamorfosi  di  Ovidio,  e  si  presta  a  dirigere  i  discorsi 
ed  i  ragionamenti  di  una  schiera  di  dotti,  fatti  discendere  dal 
cielo,  dalla  beatissima  Vergine,  in  soccorso  del  debole  intel- 
letto  dell'espositore. 2  Quando  il  Santillana  venne  a  morte,  e 
si  die  la  stura  alle  lagrime  e  a'  panegirici,  un  secretario  di 
tauto  'ylustre  y  maravilloso  senoi-,5  Diego  de  Burgos  erige,  in 
forma  di  visione  dantesca,  un  tempio  al  defunto;  chiama  a  rac- 
colta  i  grandi  uomini  antichi  e  i  grandi  moderni,  perche  s'in- 
chinino  al  suo  signore,  spirito  fulgente  di  gloria  e  di  luce,  e  sol- 
levato  su  tutti.  I  tre  maggiori  Fiorentini:  Dante,  Petrarca  ed  il 
Boccaccio  profondono  lodi  strabilianti  anch'essi,  e  il  Boccaccio, 
memore  dei  casi  di  alta  virtü  narrati,  pronuncia  in  pochi  versi 
il  suo  panegirico:  'Por  nueva  manera,  polida,  graciosa,  |  com- 
puso  el  Marques  qualquier  su  tractado:  |  maestro  del  metro, 
senor  de  la  prosa,  |  de  altas  virtudes  varon  coronado';  non  e 
perö  si  folle  e  si  audace  da  confessare,  come  qui  Dante,  doci- 
lissima  guida  del  secretario,  faceva,  goder  egli  fama,  sol  perche 
il  Marchese  degnö  leggere  le  opere  sue. 3 

1  Ho  tolto  in  esame  il  Conort  nelle  note  sul  Corbaccio. 

2  II  Llibre  de  les  transformacions  del  poeta  Ovidi  ci  occuperä  piü  in- 
nanzi. 

3  Vedi  le  note  mie  su  Dante  ed  il  Petrarca  in  Ispagna.  Come  VAmorosa 
Visione  del  Boccaccio  soccorresse  l'immaginazione  di  Diego  de  Burgos  dirö 
in  seguito. 

Gmunden.  Arturo  Farinelli. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Kleinere   Mitteilungen. 


Ags.  rihthamscyld:  echtes  Hoftor. 

Aethelberht  von  Kent  bestimmt  im  32.  Gesetz:  gif  man  riht- 
hamscyld purhstind,  mid  weorde  forgelde.  Da  ags.  Schreiber  die 
Komponenten  eines  Kompositum  zu  trennen  pflegen,  läfst  sich  die 
erste  Silbe  als  besonderes  Adjektiv  —  so  hier  nach  Bosworth-Toller 
—  überall  da  fassen,  wo  sie  nicht  laut  Genus,  Numerus  und  Kasus 
des  letzten  Gliedes  eine  Flexionsendung  haben,  oder  das  Adjektiv 
schwach  lauten  müfste.  Dieser  Zweifel  braucht  jedoch  die  Bedeutung 
nicht  zu  beeinflussen. 

Unter  den  Erklärern  wollte  1640  de  Laet1  riht  streichen,  weil 
es  im  Codex  mit  blasserer  Tinte  geschrieben  sei;  er  liefs  für  das 
Wort  in  der  Übersetzung  eine  Lücke.  Er  oder  Hickes  wollte  ham- 
scyld  als  'Lederschild'  verstehen  oder  durch  handscyld  'Schild'  emen- 
dieren.  Einen  Rückschritt  tat  hier  wie  öfters  Wilkins,2  indem  er 
scyld  als  instr.  auffafste  und  als  abl.  lancea,  sodann  riht  ham  als 
dextrum  femur  mifsverstand,  mit  Berufung  auf  die  Stellung  des  Ge- 
setzes vor  den  Gliederbufsen.  R.  Schmid  verwarf  dies  1832  3  still- 
schweigend, indem  er  das  Wort  unübersetzt  liefs.  R.  Price4  (f  1833) 
wagte  keine  Übersetzung  und  schwankte  in  der  Erklärung  zwischen 
'Hautschutz,  d.  i.  ein  Kleidungsstück'  und  der  Emendation  [on  un-J 
riht  ham  fodde]  scyld:  'unrechtmäfsig  Kleid  oder  Schild'.  Thorpe5 
wiederholte  dies  zwar,  verwarf  es  aber  mit  Recht:  nur  [?]  hama  be- 
deute ags.  'Kleid'.  Er  selbst  erklärte:  'rechtes  Schulterblatt';  ham 
nämlich  sei  identisch  mit  got.  ams  (lies  amsa)  —  was  J.  Grimm6 
dann  ablehnte  —  und  shield  dialekt.  Englisch  für  'Blattknochen' 
(hierzu  vgl.  Halliwell,  Diction.  of  archaic).  Schmid  in  zweiter  Aus- 
gabe (1858)7  nahm  mit  Recht  keine  dieser  Erklärungen  an;  er  ver- 
zeichnete, aber  nur  zweifelnd,  als  vielleicht  mit  hamscyld  zusammen- 
hängend, hama:  uterus;  cildhama :  matrix  (Gebärmutter). 

Inzwischen  hatte  H.  Leo,  den  Schmid  ohne  Beifall  nur  zitiert, 
1842  8  den  richtigen  Weg  durch  einen  Vergleich  mit  dem  friesischen 
Brokmerbrief  gewiesen  und  den  Sinn  der  Stelle  getroffen  mit  'tuiela 
septi,  der  rechte  Schutz  des  Gehöftes,  vielleicht  das  Tor.'  Es  heifst  dort : 
AI  tha  deda,  ther  skiath  oppa  houwe  inna  hemme  and  binna  skelde. 


1  Bei  Hickes  Dissert.  epist.  p.  90,  in  hing.  vet.  thes.  II,  1703.  a  Leges 
Anglo-Sax.  (1721)  p.  4.  3  Gesetze  der  Agsa.  S.  3.  4  Anglo-Saxon  laws 
p.  4  (nur  bis  p.  92  gedruckt,  nicht  veröffentlicht).  5  Anc.  latus,  fol.  1840, 
p.  5.  c  Kleine  Sehr.  V  318.  7  S.  6.  6Ut>.  8  Rectittidines  sing,  person. 
3.  33,  im  Angelsäehs.  Glossar  (1877)  fehlt  hamscyld. 


390  Kleinere  Mitteilungen. 

Herr  Prof.  Th.  Siebs,  den  ich  um  den  genauen  Sinn  dieser  Stelle 
fragte,  hatte  die  dankenswerte  Freundlichkeit,  folgende  Antwort  zu 
erteilen  und  deren  Abdruck  zu  erlauben: 

Afrs.  hem  entspricht  einem  ags.  hemm  und  ist  ein  gerrn. 

Stamm  *hamjo-;  ob  Mask.  oder  Neutr.  läfst  sich  nicht  sagen.  Die 
Wurzel  ist  jene  weitverzweigte,  die  auch  in  unserem  'hemmen'  ent- 
halten ist,  und  zweifellos  bedeutet  afrs.  hem  (man  vgl.  auch  ostfrs.- 
plattd.  ham  'eingefriedigtes  Land',  westfrs.  die  'Hemmen'  u.  a.  m.) 
'Einfriedigung,  Abgrenzung*. 

Ganz  unerklärt  ist  meines  Wissens  bisher  afrs.  slielde;  aber  auch 
dieses  ist  mir  nicht  zweifelhaft.  Es  hat  weder  mit  'Schuld'  noch  mit 
'Schild' '  etwas  zu  tun,  sondern  ist  eine  der  in  den  germ.  Sprachen 
ja  reichlich  auftretenden  Nominalbildungen  auf  -idö-,  und  zwar  zu 
dem  sehr  gebräuchlichen  friesischen  skül  'Schutz,  Deckung,  Versteck'; 
man  vgl.  afrs.  fugelskül  'Vogelherd',  wangeroog.  sxid  'Deckung,  ge- 
schützter Platz  für  Schiffe,  Windschutz',  syltersch  skijl  'Schutz,  Ver- 
steck' in  meinem  Wörterb.  zu  den  'Sylter  Lustspielen',  ostfrs.-plattd. 
schul,  ndl.  schuylen  'sich  verstecken'  u.  a.  m.  Afrs.  skelde  (ags.  müfste 
es  *scyld  lauten)  aus  *skülictd-  ist  also  'Beschützung,  Deckung'.  Also: 
'alle  die  Taten,  die  geschehen  auf  dem  "Hofe"  binnen  Einfriedigung 
und  schützender  Deckung,  dreifach  zu  büfsen  etc.' 

Da  die  einzige  Hs.  Aethelberhts  dem  12.  Jahrh.  angehört,  und 
ags.  Schreiber  weder  die  Vokale  a  und  y  verschiedener  Herkunft, 
noch  auslautend  m  von  mm  unterscheiden,  so  mag  fraglich  bleiben, 
ob  hamm  (eingefriedigtes  Stück  Land,  Wohnstatt)  oder  häm  (Heim), 
ob  scield  (Schild),  wie  alle  einschliefslich  Leo  meinen,  oder  ein  sonst 
fehlendes  *scyld  (Deckung)  in  jenem  Kompositum  steckt.  Gebildet 
ist  es  wie  ceasterhlid  'Stadttor'. 

Sicher  aber  ist  ein  durchstechbarer,  wohl  vorzugsweise  aus  Holz 
gefertigter  Teil  des  Hofeingangs  gemeint,  dessen  Verletzung  vom 
Rechte  jener  Friesen  wie  auch  anderer  Germanen  mit  einer  Bufse 
belegt  ward,  die  gesondert  neben  der  Ahndung  der  übrigen  Missetat 
stand.  Dabei  bedeutet  riht:  'ordentlich,  wirklich,  eigentlich,  echt' 
und  festigt  das  ihm  folgende  Wort  zum  Rechtsbegriff.  Die  Gesetzes- 
sprache braucht  so2:  rihtcew,  -andaga,  -dorn,  -fcesten,  -fcestendceg , 
-fcestentid,  -gesamhiwan,  -gifu,  -hamsocn,  -handdceda,  -hlafordhyldo, 
-lagu,  -lif,  -regol,  -scir,  -scriftscir,  -wer,  -wif.  Die  Tür  war  unter  den 
Teilen  des  Hauses  ausgezeichnet3  und  galt  als  heilig;4  wer  bei  den 
Friesen 3  Tür  und  Tor  einstöfst,  mufs  den  Schaden  —  wie  hier  mid 
weorde  —  ersetzen;  das  'Hausstofsen'  gilt  als  feindliche  Heraus- 
forderung; ein  Durchbohren  der  Haustür  durch  Pfeil  oder  Speer 
kennen  andere  Volksrechte  der  Germanen.6 

Auch  die  Anordnung  Aethelberhts  findet  dort  Beispiele.    Dafs 


1  Gegen  Richthof en  Altfries.  Wb.  1022  und  Leo  a.  a.  0.  [F.  L.]. 

2  Meine  Gesetze  der  Agsa.,  II,  1  (Wörterbuch),  S.  178.  3  Grimm,  Rechts- 
altertümer 175  (I  2414j.  4"  Wilda,  Strafrecht  905.  5  His,  Strafr.  d,  Friesen 
354.  357.      6  Wilda,   953  ff.;   Brunner,  Dt.  Rechtsg.  II  651  ff. 


Kleinere  Mitteilungen.  391 

gewaltsame  Heimsuchung  den  Realinjurien  vorangeht,  ist  natürlich. 
Wenn  sie  hier  hinter  dem  Beschlafen  des  Weibes  eines  Freien  steht, 
so  erscheint  sie  auch  bei  Franken  und  Juten  neben  Frauenraub.1 
Berlin.  F.  Liebermann. 

Zum  90.  angelsächsischen  Rätsel. 
In  Band  CXI  dieser  Zeitschrift,  Seite  59  ff.,  behandelt  Edmund 
Erlemann  das  90.  angelsächsische  Rätsel  und  gibt  als  dessen  Lösung 
'Cynewulf."2    Er  sagt  dort: 

'Ich  löse  auf      |  "  e  **  "     *.  •   Lupus-wulf  5 — 8,  ab  agno-ewu 

4 — 6,  tenetur  (gleichsam  im  Maule);  darum  mirum  videtur  mihi  ... 
Obeurrit  agnus:  dem  die  einzelnen  Buchstaben  verfolgenden  Auge 
des  Dichters  scheinen  die  drei:  e,  w,  u  =  4 — 6,  dem  Wolf,  wulf 
■=.  5 — 8,  entgegenzulaufen.  Et  capit  viscera  lupi:  ähnlich  wie  vorher 
tenetur,  und  nimmt  die  Eingeweide,  d.  i.  das  Innerste  des  -wulf,  näm- 
lich die  beiden  Buchstaben  w  und  u.  Das  anknüpfende  dum  starem 
et  mirarem  zeigt  deutlich,  dafs  die  Scharade  weitergeht  . . . ' 

Die  Lösung  dieser  zwei  ersten  Zeilen  leuchtet  ohne  weiteres  ein. 
Anders  verhält  es  sich  mit  den  beiden  letzten  Zeilen.  Hierfür  wufste 
Erlemann  keine  befriedigende  Erklärung  zu  geben,  und  auch  die 
Lösung,  die  Dr.  Joseph  Götzen  ebendaselbst  vorschlägt  (Seite  63), 
klingt  ziemlich  unwahrscheinlich.  Ich  glaube,  dafs  sich  auch  die 
zwei  letzten  Verse  folgendermafsen  in  befriedigender  Weise  werden 
erklären  lassen. 

Mit  Edmund  Erlemann  und  Götzen  fasse  ich  lupi  als  Genetiv 
und  duo  als  Neutrum  auf,  und  zwar  letzteres  mit  hinweisender  Be- 
deutung; unter  duo  lupi  sind  also  die  zwei  Buchstaben  des  Wortes 
ewu  (von  dem  zuletzt  die  Rede  war)  verstanden,  die  gleichzeitig  auch 
zu  wulf  gehören,  =  wu.  Der  noch  übrigbleibende  dritte  Buchstabe 
ist  e.  Es  bleiben  also  um  stehen  (stantes),  verdrängen  aber  das  e 
(tribulantes).  So  erhalten  wir  das  aus  sieben  Buchstaben  bestehende 
Wort  'Cynwulf  (cum  septem  oculis  videbant).  Unter  quatuorpedes  sind 
die  vier  letzten  Buchstaben  dieses  Wortes,  also  wulf,  zu  verstehen. 

So  ist  das  Ganze  gewissermafsen  als  eine  Art  Verwandlungs- 
rätsel anzusehen,  indem  in  dieser  scherzhaften  Weise  der  Name 
'Cynewulf  in  'Cynwulf  umgestaltet  werden  soll.  Dabei  erinnere 
man  sich  daran,  dafs  beide  Formen  je  zweimal  in  den  sicher  Cyne- 
wulfschen  Werken  vorkommen :  Cynewulf  in  der  Juliana  und  der 
Elene,  Cynwulf  in  den  Fata  apostolorum  und  der  Himmelfahrtsstelle. 

Wenn  man  wegen  der  Formen  stantes  und  tribulantes  Bedenken 
haben  sollte,  duo  als  Neutrum  aufzufassen,  so  denke  man  nur  daran 
in  welch  freier  Weise  im  Mittelalter  die  lateinische  Sprache  gehand- 

1  Wilda,  953.  242. 

2  Der  Wortlaut  des  lateinisch  abgefafsten  Rätsels  lautet  bekanntlich: 
Mirum  videtur  mihi:  lupus  ab  agno  tenetur ;  obeurrit  agnus  et  capit  riscera 
lupi.  Dum  starem  et  mirarem,  vidi  gloriam  magnam:  duo  lupi  stantes  et 
tertium  tribulfantes]  Uli  pedes  habebant,  cum  septem  oculis  videbant. 


392  Kleinere  Mitteilungen. 

habt  wurde.  Dafs  auch  unser  Dichter  nicht  klassisches  Latein  schreibt, 
das  zeigt  ja  6chon  zur  Genüge  die  Form  mirarern. 

Was,  abgesehen  von  der  inneren  Wahrscheinlichkeit,  für  die 
Richtigkeit  dieser  Lösung  spricht,  ist  ferner  der  Umstand,  dafs  gleich- 
zeitig Herr  Professor  Dr.  Vietor  zu  derselben  Lösung  der  beiden 
letzten  Zeilen  des  Rätsels  kam. 

Marburg.  Fritz  Erlemann. 

Ein  altenglisches  Prosa-Bätsel. 

Bekanntlich  sind  die  altenglischen  Rätsel  der  Exeter-Handschrift 
rein  literarische  Kunstdichtungen,  die  in  Anlehnung  an  die  lateinische 
gelehrte  Rätseldichtung  eines  Symphosius,  Aldhelm,  Eusebius  und 
Tatwine  geschrieben  sind.  Es  ist  uns  aber  ein  bisher  unbeachteter 
Rest  der  volkstümlichen  Rätseldichtung  der  Angelsachsen  erhalten: 
ich  meine  das  altenglische  Prosa  -  Rätsel,  welches  auf  Blatt  16b  der 
bekannten  glossierten  Psalterhandschrift  Vitellius  E  18  (nach  Wan- 
ley im  Jahre  1031  geschrieben)  steht  und  bereits  1705  von  Wanley 
in  seinem  Kataloge  S.  223  gedruckt  worden  ist.  Da  ich  dies  Rätsel 
nicht  zu  lösen  vermag,  habe  ich  bereits  vor  einigen  Jahren  in  dem 
Fragekasten  der  Zeitschrift  Literature  eine  neuenglische  Übersetzung 
mitgeteilt  und  zur  Lösung  aufgefordert.  Da  diese  Anfrage  aber  er- 
folglos geblieben  ist,  möchte  ich  mit  den  Lesern  des  Archivs  einen 
neuen  Versuch  wagen.  Ich  teile  daher  das  Rätsel  hier  im  Urtext  nach 
einer  Kollation,  die  mir  Kollege  Varnhagen  freundlichst  besorgt  hat, 
mit  und  füge  zur  Sicherheit  eine  wörtliche  deutsche  Übersetzung  bei. 

Nys  pks  *  frfgfn  2  syllkc  pknc  to  raedfnnf.3 

Du  pe  fserst  on  pone4  weg,  gret  du  minne  broctor,  minre  mo- 
dor  ceor[]] 5  .  pone  acende  min  agen  wif  .  and  ic  wses  mines  bro- 
dor  dohtor  .  and  ic  eom 6  mines  fseder  modor  geworden  .  and  mine 
bearn  syndon  geworden  mines"  fseder  modor. 

Wenn  du  d[ies]en  Weg  gehst,  grüfse  du  meinen  Bruder,  mei- 
ner Mutter  [Ehe-]Mann,  den  mein  eigen  Weib  gebar  (oder,  wenn 
pone  =  ponne,  'dann  gebar  mein  Weib'?).  Und  ich  war  meines 
Bruders  Tochter.  Und  ich  bin  meines  Vaters  Mutter  geworden; 
und  meine  Kinder  sind  meines  Vaters  Mutter  geworden. 

Höchst  wahrscheinlich  gehört  das  Rätsel  in  die  Gattung  der 
Verwandtschaftsrätsel,  die  wohl  nur  als  uneigentliche  Volksrätsel 
anzusehen  sind  (s.  R.  Petsch,  Beiträge  zur  Kenntnis  des  Volksrätsels, 
Berlin   1889,  S.   13  f.,  und  Neue  Philol.  Rundschau  VIII   171  f.). 


1  Nys  pk  ist  ganz  undeutlich.  2  Ae.  fregen  'Frage'  fehlt  in  unseren 
Wörterbüchern;  vgl.  Vf.  Engl.  Stud.  XXXVI  2.  3  In  Vexierschrift  für: 
Nys  pis  fregen  sydic  pine  to  rcedenne.  Vgl.  A.  Meister,  Die  Anfänge  der 
modernen  diplomatischen  Geheimschrift,  Paderborn  1902,  S.  5  ff.  Bei  Wanley 
steht  dieser  Satz  fälschlich  hinter  dem  Rätsel  (Varnhagen).  4  Wanley 
fälschlich:  done.  5  /  ist  am  Zeilenrande  infolge  des  Brandes  abgebröckelt 
(Varnhagen).  ''  ic  eom  'sehr  undeutlich,  weil  verbrannt  und  überklebt' 
(Varnhagen).      7  mi  'am  Zeilenende  und  undeutlich'  (Varnhagen). 


Kleinere  Mitteilungen.  393 

Man  möchte  auch  geneigt  sein,  die  obigen  schwierigen  Verwandt- 
schaftsverhältnisse mit  Lots  Familie  in  Verbindung  zu  bringen,  wo- 
für es  gerade  im  Englischen  nicht  an  Beispielen  fehlt  (s.  Petsch 
a.  a.  O.);  indes  will  mir  dies  im  einzelnen  nicht  gelingen. 

Wer  kann  uns  also  das  Rätsel  lösen! 

Wurzburg.  Max  Förster. 

Das  Englisch  des  städtischen  Rechts  im  15.  Jahrhundert 

findet  wertvolle  Belege  in  Borough  customs  ed.  for  the  Seiden  soc.  by 
AI.  Bateso n  (I,  London  1904),  grofsenteils  aus  unveröffentlichten 
Archivalien  von  mehr  als  hundert  Orten,  auch  der  von  Engländern 
kolonisierten  Nachbarländer.  Vor  1400  lauten  die  Stücke  zwar  alle 
lateinisch  oder  französisch,  atmen  aber  ebenfalls  rein  englischen 
Geist  und  bergen  viele  seltene  englische  Formeln  und  Termini,  so 
das  nordische  kyrrseta  (in  Frieden  sitzen),  die  Alliteration  deske  hui 
et  hom  (d.  i.  hill  and  höhn,  aus  Exeter  um  1280,  in  einem  Para- 
graphen über  die  Verfolgung  schädigenden  Viehes  zu  dessen  Eigen- 
tümer), ferner  den  Reim  nameles  fremdes,  der  die  Ungültigkeit  der 
Parteirede  mit  Irrtum  in  den  Namen  der  Zeugen  oder  Gewährsleute 
bestimmt,  die  Formel  veche  (feich)  and  have  p.  250.  Auf  den  Kampf 
der  Sprachen  wirft  es  Licht,  dafs  viele  Städte  noch  im  15.  Jahrh. 
ihr  Recht  französisch  aufzeichnen  und,  laut  einiger  Zitate,  in  ihrem 
Gericht  französisch  verhandeln  lassen,  dafs  eine  französische  Über- 
setzung des  14.  Jahrh.  von  zwei  lateinischen  Büchern  im  15.  Jahrh. 
ins  Englische  übertragen  ward.  Die  Hrsgbin.  bewahrt  die  Orthogra- 
phie des  Englischen  genau;  vgl.  xall  für  shall  p.  310. 

Berlin.  F.   Liebermann. 

Ein  neuentdecktes  Manuskript  Thomas  Chattertons. 

Die  Chatterton-Reliquien  der  Bristoler  Wills  Art  Gallery  sind 
durch  die  Grofsmut  eines  Gönners,  Sir  George  White,  um  ein  wert- 
volles Manuskript  vermehrt  worden.  Kein  Biograph  Chattertons  hat  es 
bisher  beachtet,  auch  Dix  nicht,  trotzdem  es  die  Aufschrift  trägt:  Auto- 
graph of  Thomas  Chatterton,  presented  by  John  Dix  to  Dr.  Mackenxie. 

Das  vier  eng  geschriebene  Seiten  umfassende  Prosafragment 
scheint  der  in  modernem  Englisch  geschriebene  Entwurf  zu  einer 
später  nicht  ausgearbeiteten  oder  verloren  gegangenen  Rowley-Schrift 
zu  sein.  Die  Anfänge  zu  einer  altertümlichen  Schreibart  sind  bereits 
gemacht,  und  die  Erwähnung  Racines,  Shakespeares  und  Drydens 
bildet  dazu  einen  sonderbaren  Widerspruch. 

Der  Anfang  sieht  einer  Apostrophe  an  Canynge  gleich. 

Die  äufsere  Fassung  —  Personifikation  der  Natur,  die  den 
Dichter  auffordert,  ihr  in  ihren  Palast  zu  folgen,  und  die  ihm  dort 
die  Werke  der  berühmtesten  Maler  zeigt  —  läfst  die  Vorbilder, 
Chaucer  und  Lydgate,  leicht  erkennen. 

Charakteristisch  für  den  jungen  literarischen  Bahnbrecher  ist  die 
Beobachtung,    die   er  sich   in    der  Bildergalerie  der  Natur   zunutze 


394  Kleitiere  Mitteilungen. 

macht:  dafs  die  grofsen  Meister  die  Dinge  genau  so  malten,  wie  sie 
ihnen  in  der  Natur  erschienen,  dafs  sie  aber  in  kluger  Auswahl  nur 
solche  natürliche  Vorgänge  darstellten,  die  an  sich  schön  waren. 

Wir  lassen  den  Text  hier  nach  einem  Abdruck  in  The  Bristol 
Mercury  vom  26.  Juni  1905  folgen. 

THE  GALLERY  AND  SCHOOL   OF  NATURE. 
A  VISION. 

A  few  Nights  ago  as  I  was  sitting  in  my  Closet,  &  had  not  Im- 
mediately  fixed  on  any  book  to  Read,  it  came  into  my  mind  that  I  was 
to  prepare  a  discourse  for  your  Entertainment  this  Night.  I  might  have 
lost  some  time  choosing  a  Subject  to  write  upon  if  I  had  not  considered 
that  there  still  remained  many  important  things  to  be  said  on  the  argu- 
ment  which  had  furnished  matter  for  the  two  discourses  which  you  had 
before  heard  with  a  most  encouraging  Candour. 

Being  therefore  determined  to  Iay  before  you  some  further  observations 
on  the  subject  of  TAST,  I  began  to  collect  &  dispose  such  thoughts  as 
seemed  proper  to  be  added  to  what  I  had  already  written.  But  finding 
it  difficult  to  Range  every  thing  in  order  to  my  content,  my  mind  began 
to  be  weary  after  a  little  application,  &  I  feil  insensibly  into  a  Sound 
Sleep;  But  Phancy,  which  had  begun  to  work  before,  finding  her  seif 
now  at  Liberty  to  draw  what  scenes  she  pleased,  set  her  seif  to  paint 
insensible  Figures  some  what  like  the  seheme  that  Reason  had  laid  out 
and  in  some  measure  pursued.     My  Dream  was  to  this  Purpose. 

ME  THOUGHT  I  was  sitting  on  the  Bank  of  a  large  River  yt  ran 
through  a  Piain  across  which  there  was  an  open  prospect  to  a  hilly  coun- 
trey  that  was  well  wooded  &  inclosed  with  agreable  variety.  My  eyes 
were  fixt  on  the  Stream  which  flowed  with  Majestick  Silence,  &  presently 
brought  to  my  mind  the  famous  lines  in  Cooper's  hill.  Oh,  might  I 
flow  etc.  And  I  should  have  thought  my  seif  somewhere  on  the  Bank 
of  the  Tbames  if  the  inexpressible  Brightness  of  the  Air,  &  the  sight  of 
many  Trees  yt  are  not  of  our  English  growth  had  not  convinced  me  I 
was  removed  into  some  happier  Climate.  The  remembrance  of  those  verses 
soon  turn'd  v  thoughts  to  the 

GLORIOUS  IMMORTALITY 
which  those  great  men  secured  to  themselves  who  had  excelled  in  Poetry, 
History  &  Eloquence.  And  do  I  then  sit  here,  thought  I,  in  dishonest 
Idleness  when  yet  I  pretend  to  a  passion  for  Immortality?  as  soon  shall 
this  large  &  deep  Stream  run  out,  &  leave  the  hollow  Channel  to  become 
Pasture  for  the  beasts  which  now  it  waters,  as  that  man  leave  behind 
bim  an  honourable  name  who  wasts  the  bright  days  of  health,  &  vigour 
in  unactive  sloth.  With  this  thought  I  sprung  up,  &  turning  about  be- 
held  at  some  distance  from  me  a  beautiful  Woman:  She  was  cloth'd  with 
a  garment  of  changeable  Silk  that  most  enclined  to  Green,  a  Scarf  of 
light  blue  flowing  behind  her,  gave  a  becoming  shade  to  her  complexion 
&  was  sometimes  swell'd  sometimes  pesled  by  the  Sporting  Winds;  her 
Hair  was  plaited  with  nice  art  &  formed  into  a  knot  to  which  her  scarf 
was  fastened  by  a  Diamant  Buckle.  My  eyes  were  fixed  upon  her,  &  it 
was  at  once  with  a  sense  of  pleasure  &  of  awe  that  I  perceived  her  Coming 
towards  me.  When  she  was  come  near  I  saw  the  freest  &  most  perfect 
Features,  &  finest  Complexion  that  ever  was  Imagined  by  a  Lover  or  a  Poet. 

The  Sight  was  enough  to  have  inspired  an  irresistable  Passion  if  there 
had  not  appeared  in  her  Face  an  air  of  Authority  &  a  sort  of  Maternal 
Tenderne8s  that  commanded  Reverence  and  Duty.  When  she  was  ad- 
vanced  within  a  few  Paces  of  me,  she  becken'd  me  with  such  a  gracious 
Look  as  gave  me  Courage  to  approach  her.  I  could  not  forbear  falling 
down  on  my  knees  at  the  sight  of  so  great  Beauty  &  Majesty;  &  I  ob- 
served  with  wonder  (what  Lovers  often  say  in  Figure  of  their  Mistresses) 


Kleinere  Mitteilungen.  395 

that  various  beautiful  Flowers  Sprung  up  under  her  feet  as  she  rais'd 
them  of  the  ground,  and  mark'd  with  gay  distinction  the  path  she  trod. 
She  bid  me  rise,  with  a  turn  of  her  eyes  upwards  censur'd  my  adoration, 
&  then  spoke  to  this  purpose.  Youth,  said  she,  let  it  not  surprize  thee 
to  understand  that  I  know  the  thoughts  weh  have  just  now  passed  in  thy 
mind;  I  applaud  thy  Thirst  after  Glory,  &  am  willing  to  encourage  & 
assist  thee  in  the  pursuit  of  it;  I  acknowledged  my  Obligation  by  a  low 
bow,  &  followed  her  aecording  to  her  command.  I  soon  perceiv'd  we 
were  going  towards  a  noble  Palace  built  in  the  midst  of  an  Island  that 
was  made  by  the  River  from  the  Banks  of  which  I  came.  As  I  walked 
behind  her  I  was  amazed  at  the  new  Brightness  weh  ye  grass,  the  Trees, 
the  Flowers  put  on  as  my  fair  Guide  passed  by.  This  prepared  me  to 
believe  wt  she  presently  told  me  that  she  was  NATURE  her  seif.  The 
Palace,  she  added,  which  thou  seest  is  mine;  there  I  will  show  thee  such 
things  as  shall  raise  &  strengthen  the  noble  Passion  thou  hast  con- 
ceived,  &  there  also  thou  shalt  meet  with  such  help  as  shall  enable  thee 
to  deserve  the  Immortality  to  which  thou  aspirest.  We  had  now  passed 
through  a  small  Growe,  &  were  come  to  a  fine  Bridge  of  Stone  that  joyn'd 
the  Island  to  the  Piain :  The  Bridge  ended  just  against  the  middle  of  a 
stately  place  inclosed  by  a  Portico  of  a  fourfold  order  of  Marble  Pillars. 

When  we  had  entered,  I  had  a  good  view  of  the  Large  and  Noble 
Palace  which  before  I  had  seen  at  a  distance:  It  was  built  of  white 
Marble,  a  double  order  of  Pilasters  ran  round  the  Fabrick  &  a  Balustrade, 
adorn'd  alternately  with  Statues  &  arms,  satisfyed  the  most  curious  eye. 
As  I  enter'd  with  my  Guide  into  the  Palace  she  told  me  she  would  first 
conduet  me  into  3  galleries,  in  which  were  preserved  the  works  of  the 
most  famous  Painters  that  had  ever  appeared  in  the  world;  and  that  the 
subjeet  of  those  pieces  were,  for  the  most  part,  some  Particulars  of  her 
History,  but  that  tho'  she  was  generally  the  prineipal  figure  in  them,  yet 
they  were  so  contrived  as  to  represent  all  the  Arguments  which  have 
employed  the  Pens  of  the  most  famous  Poets,  Historians,  &  Orators. 

We  then  ascended  a  great  stair  case  charged  with  a  brazen  Balus- 
trade, which  landed  us  just  at  the  entrance  of  the  largest  &  finest  of  the 
Galleries,  in  which  were  contained  the  best  and  most  perfect  Pieces  that 
had  ever  been  drawn  by  Mortal  Hands.  It  stood  almost,  open  on  one 
side  to  the  South,  so  that  the  Paintings  which  stood  on  the  opposite  side 
between  coupled  Ion  ick  Pilasters  of  porphyry  were  seen  to  good  Advantage. 

THE  GALLERY 
(tho'  very  long)  was  filled  from  one  end  to  the  other.  The  Pictures  were 
disposed  aecording  to  the  order  of  time  in  which  the  Several  Masters 
lived,  &  under  every  one  the  name  of  the  painter  was  written  in  letters 
of  Gold,  with  that  of  his  Country  &  the  year  of  the  World  when  he 
flourished.  The  finest  pieces  in  this  Gallery  were  drawn  by  Moses,  David, 
Solomon,  Isaiah,  Luke,  &  Paul. 

When  we  had  passed  through  this  we  enter'd  into  another  Gallery 
of  much  greater  length,  but  inferiour  both  in  breadth  &  height;  this 
was  all  of  white  Marble  without  any  other  mixture,  &  contained  the 
works  of  the  Greek  and  Roman  Artist«.  Homer's  Pieces  held  the  fir*t 
rank,  &  were  indeed  admirably  fine,  tho'  as  my  Guide  told  me  he  drew 
all  by  the  pure  force  of  memory,  never  stirring  out  of  his  working  Room 
to  consult  the  Originale  he  was  Painting.  The  finest  after  his  were  drawn 
by  Plato,  Xenophon,  Sophocles,  Herodotus,  Demosthenes,  Lucretius,  Te- 
rence,  Cicero,  Virgil,  Horace. 

An  open  Portico  which  answered  in  length  to  the  first  Gallery  Joyn'd 
this  to  the  third,  which  in  bigness  &  all  Ornaments  exactly  answered  this. 
Here  were  preserved  the  works  of  modern  Painters.  Among  many  others 
I  remember  more  Particularly  the  names  of  Petrarch,  Tasso,  Vega,  Cer- 
vantes, Malherbe,  Corneille,  Fontaine,  Racine,  Boileau,  Fletcher,  Chaucer, 
Spencer,  Milton,  Shakespear,  Cowley,  Dryden,  &c.   I  beheld  these  master- 


396  Kleinere  Mitteilungen. 

pieces  of  Art  with  Infinite  Satisfaction,  &  told  my  Guide,  I  could  gladly 
spend  all  may  days  in  Studying  them.  Tho'  I  gave  but  a  transient  view 
to  most  of  tbem,  yet  I  made  some  observations  which  I  thought  might 
be  of  eervice  to  me  in  my  future  labours.  One  Observation  I  made  was, 
that  tbose  great  Masters  especially  tbose  of  Antiquity,  appear'd  plainly 
to  have  made  it  their  business  to  paint  tbings  just  as  they  are  in  Nature; 
&  it  was  to  their  success  in  tbis  I  imputed  the  very  great  Satisfaction 
whicb  they  gave  me.  I  observed  fartber  that  they  discovered  great  judg- 
ment  in  cboosing  euch  scenes  of  Nature,  &  such  events  as  were  in  them- 
selves  very  beautiful,  &  did  very  much  interest  the  Spectator.  The  bright- 
ness  of  their  colours  surprized  me,  but  what  no  less  pleas'd  me  was  that 
they  so  well  understood  the  clear-obscure,  &  so  happily  avoided  the  fault 
of  making  everv  Figure  equally  briejht  &  conspicuous,  which 

MODERN  ^PAINTERS 
are  so  eternally  guilty  of. 

Having  spent  as  much  time  in  those  Galleries  as  my  Fair  Conductor 
thought  fit  to  allow  me,  I  followed  her  to  the  entrance  of  the  Palace 
which  open'd  to  the  Garden,  Sz  after  passing  a  long  Terras  came  to  the 
Schools,  which  stood  at  the  end  of  it.  This  building  was  cast  into  an 
exact  square  which  surrounded  a  large  Court,  in  the  midst  whereof  was 
a  brazen  fountain  adorned  with  the  Statues  of  Apollo  &  the  Muses.  The 
4  sides  were  appropriated  to  the  4  parts  of  the  world;  &  each  side  was 
laid  out  into  distinct  apartments,  which  were  assign'd  to  the  several  polite 
Nations  in  each  of  those  Parts.  The  side  that  faced  the  North  belonged 
to  the  Europeans;  the  Africans  lodged  to  the  South;  the  Asiaticks  to  the 
East;  &  the  Americans  to  the  West.  We  made  our  entrance  on  the  West 
side,  &  my  Guide  told  me  she  design'd  to  make  a  short  tour  round  the 
3  last  mentioned  sides,  but  that  we  should  make  some  stay  in  the  fourth. 
I  observed  that  all  the  Artists  on  the  West  side  were  Europeans  except 
some  few  Natives  who  had  been  at  first  taught  by  them,  followed  their 
manner;  the  far  greater  Number  were  Spainards.  The  South  side  was 
likewise  very  thinly  inhabited;  towards  the  Eastern  end  of  it  I  saw  a 
large  Apartment  which  I  guessed  belonged  to  the  Egyptians,  in  which  by 
the  bags  of  colours,  boxes  of  Pencils,  rolls  of  canvas,  &  all  sorts  of 
Mathematical  Instruments,  I  concluded  there  had  formerly  lived  some 
famous  Masters.  A  poor  Greek  yt  saw  me  make  a  little  stop  to  observe 
those  things,  came  up  to  me  &  told  me  that  had  once  been  the  most 
flourishing  apartment  in  the  whole  College. 

The  Lodgings  on  the  Eastern  side  were  better  filled,  particularly  the 
Apartments  of  the  Arabians  &  Persians.  By  the  transient  sight  I  had 
of  some  of  their  Pieces,  I  observed  that  their  Colours  were 
VERY  BRIGHT  AND  FINELY  LAID; 
but  they  seem'd  mightily  to  delight  in  emblematical  or  rather  Hierogly- 
phical  works ;  &  what  was  also  very  shocking  they  seemed  to  have  no 
notion  of  unitv  of  design  nor  of  Perspective;  yet  I  thought  I  could  have 
staid  among  them  with  great  pleasure.  I  signifyed  by  mind  to  my  Guide, 
but  she  bad  me  come  away,  for,  said  she,  you'll  infallibly  spoil  your  Tast 
if  you  spend  any  time  there. 

So  we  came  on  the  Northern  side,  which  was  prodigiously  füll  of 
Workmen.  I  found  I  was  to  pass  the  whole  length  of  the  Building  be- 
fore  I  came  to  my  own  countrymen,  whose  Apartmt  was  at  the  West 
end.  The  first  Apartment,  which  belonged  to  the  Muscovites,  was  just 
now  filled  up  with  great  Magnificence,  &  I  met  with  some  persons  among 
them  who  seem'd  born  for  great  things.  The  Greeian  apartmt  was  con- 
siderable  for  nothing  but  the  appearance  that  formerly  it  had  been  well 
filled.  An  old  fellow  like  a  Monk  would  needs  have  shown  me  a  Cata- 
Iogue  of  about  7000  Pieces  that  bad  been  wrought  there,  &  some  very 
few  of  which  I  had  seen  in  the  second  Gallery. 

I  had   better  satysfaction  among  the  Italians,  Spainards,  &  French; 


Kleinere  Mitteilungen.  397 

these  latter  came  nearest  to  the  noble  Sirnplicity  of  the  Antients.  At 
length  I  entered  the  English  apartment;  here  I  staid  longest,  &  made 
many  remarks  that  I  thought  would  be  of  Service  to  nie  in  my  future 
studies  and  Labours.  'Twould  be  too  long  to  give  the  Characters  of  all 
the  Painters  I  saw  there.  I  particularly  distinguished  one  venerable  old 
man  who  had  drawn  some  History  Pieces,  which  I  understood  were  to 
be  hung  up  in  the  Gallery  of  Modems.  One  of  his  Pictures  which  re- 
presented  a  plague  was  unspeakably  fine.  I  also  observed  two  lllustrious 
Youths  who  wrought  together;  they  seem'd  to  work  with  a  confidence  of 
Immortality.  My  dear  Guide  look'd  with  particular  pleasure  upon  some 
of  her  own  sex  who  were  likewise  in  pursuit  of  glory.  I  made  several 
observations  on  the  different  manner  of  Working  that  was  peculiar  to 
every  one  of  them.  Some  I  saw  excelled  in  Portraits,  some  in  represent- 
ing  the  Passions:  Love  and  ambition  employed  the  hands  of  most;  but 
there  were  some  who  laboured  to  express  anger,  Envy,  Pride,  Bashfulness, 
&  the  like.  Some  young  fellows  who  seem'd  to  have  a  great  .... 
Wien.  Helene  Richter. 

Zu  Archiv  CXII,  190  ff.  (Anzeige). 

In  der  Beurteilung  von  Dr.  Hoogvliet's  'Lingua'  (CXII,  S.  190  ff.) 
ist  S.  192  am  Anfang  des  vorletzten  Absatzes  (Zeile  21  v.  unten) 
anstatt  'Satzbindewörter'  zu  lesen  'Satzteilwörter'.  Etwas  höher  lese 
man  lieber  folgenderweise :  '...  gehe  ich  zu  der  Besprechung  des  spe- 
ziellen sprachlichen  Teiles,  mit  Beschränkung  auf  einen  besonders 
hervortretenden  Abschnitt  desselben :  die  Einteilung  der  Wörter,  über.' 

Haag.  A.  J.  Barnouw. 

Zu  Archiv  CXIV,  474  (Bibliogr.). 
Im  Titel  von  Professor  Curmes  Gernian  Grammar  soll  es  nicht 
'poetical',  sondern  'practical  study  of  the  language'  heifsen. 

Elex  oder  Illex? 
Das  elex,  das  ich  mit  eingehender  Begründung  in  der  Akademie- 
schrift 'Zur  Kenntnis  des  Altlogudoresisclien'  und  kürzer  im  Orundr. 
f.  rom.  Phil.  I2  464  als  Grundlage  für  ital.  ehe,  frz.  yeuse  aufgestellt 
habe,  sucht  Niedermann  oben  Bd.  CXIV  S.  456  !  vom  Standpunkte 
des  Lateinischen  und  der  Überlieferung  zu  widerlegen  und  ersetzt 
es  wieder  durch  illex.  Er  hat  dabei  die  Betrachtung  etwas  verschoben 
und  dadurch  die  ganze  Frage  in  falsche  Beleuchtung  gebracht. 
Meine  Gedankenfolge  ist  die:  wie  lautet  die  romanische  Grundform  ? 
Hat  sie  in  der  Überlieferung  Stützen?  Wie  verhält  sie  sich  zu  der 
schriftlateinischen  Form?  Ich  will  nun  wieder  so  vorgehen  und  zu- 
nächst den  Entscheid  zwischen  illex  und  elex  fällen.   Ich  könnte  mich 


1  'Seit  Schuchardt  Vok.  Vulg.  Lat.  II  77  operieren  die  Romanisten 
fortwährend  mit  einem  altlateinischen  eilex'  heifst  es  S.  456.  Soweit  mir 
die  Akten  bekannt  sind,  ist  Schuchardts  Ansatz  eilex  von  allen,  auch  von 
mir,  übersehen  worden,  bis  ihn  Seh.  selber  Zs.  f.  rom.  Phil.  XXVII  106 
wieder  in  Erinnerung  gebracht  hat.  Alle  folgenden  haben  entweder  ilex 
oder  wohl  elex  angesetzt,  also  sich  für  i  ausgesprochen  oder  die  Frage 
unentschieden  gelassen,  D'Ovidio  hat  Orundr.  f.  rom.  Phil.  I '  507  Elex 
direkt  als  unwahrscheinlich  abgelehnt.  Erst  in  der  angeführten  Akademie- 
schrift  habe  ich  elex  gesichert  und  zu  erklären  versucht. 


898  Kleinere  Mitteilungen. 

dafür  einfach  auf  die  genannte  Abhandlung  berufen,  will  aber  zur 
Bequemlichkeit  des  Lesers  das  Wichtigste  hier  anführen.  Lat.  pollice 
gibt  ital.  pollice,  lat.  pulice  dagegen  pulce,  folglich  kann  ehe  nicht 
auf  ellice  beruhen;  im  Neapolitanischen  bleibt  11,  im  Sizilianischen 
und  Sardischen  wird  es  zu  dd,  wir  haben  aber  neap.  elece,  siz.  ilici, 
log.  elige.  Nur  im  Provenzalischen  kann  euse  auch  auf  illice  zurück- 
gehen, es  mufs  es  aber  nicht.  Somit  haben  wir  eine  Form,  die  über 
die  Quantität  des  /  keine  Auskunft  gibt,  mehrere,  die  nur  auf  l  zu- 
rückweisen, und  da  die  lateinisch  überlieferte  auch  l,  nicht  //  hat, 
spricht  alles  gegen,  nichts  für  illex.  Mit  Bezug  auf  den  Vokal  ist 
das  Sardische  entscheidend,  da  lat.  i  hier  durch  i,  lat.  e  durch  e  ver- 
treten wird:  ein  lat.  *ilex  müfste  also  sard.  ilige,  ein  *elex  dagegen 
elige  lauten,  und  da  die  letztere  Form  nun  tatsächlich  da  ist  und  ehe, 
euse,  yeuse  nicht  widersprechen,  so  erweist  sich  elex  als  die  allein 
allen  romanischen  Reflexen  entsprechende  Grundlage,  während  bei 
*ilex  der  sardische  Vertreter  nicht  unterzubringen  ist  und  *  illex  nur 
für  das  Provenzalische  pafst.  Ich  denke,  unter  solchen  Umständen 
wird  illex,  das  leider  auch  in  Brugmanns  Grundriß  der  vergl.  Gram- 
matik I2  801  Aufnahme  gefunden  hat,  endgültig  verschwinden  müssen. 

Ist  aber  elex  gesichert,  so  sucht  man  naturgemäfs  nach  älteren 
Belegen.  Ich  gebe  nun  zu,  dafs  die  Glosse,  die  ich  angeführt  habe, 
nicht  streng  beweisend  ist.  Der  Zusammenhang  spricht  sogar  eher 
für  tlt'y.i],  der  Ausgang  -is  dagegen  legt  Hex  näher.  Die  Stelle  aus 
Gregor  von  Tours  ist  es  dagegen  unbedingt,  da  in  den  Handschriften 
e  für  %  nur  eintritt  bei  se  für  si  'wenn5,  was  eine  gesprochene  Form 
ist  (it.,  afrz.  se),  und  beim  Austausch  zwischen  e-  und  i- Verben. 
Das  elignis  bei  Schuchardt  habe  ich  absichtlich  nicht  wiederholt,  da 
es  verschiedene  Deutungen  zuläfst.  Dafs  auch  die  Stelle  aus  Marius 
Victorinus  nicht  ganz  sicher  ist,  ist  klar,  doch  gilt  gegen  Nieder- 
manns Änderung  von  silicem  in  sicilem  dasselbe,  was  er  gegen  sili- 
cem  einwendet:  das  i  von  sicilis  ist  kurz  (rum.  seacere  usw.,  vgl.  Ein- 
führung in  die  rom.  Sprachw.  112). 

Will  man  nun  nicht  nur  elex  konstatieren,  sondern  auch  sein 
Verhältnis  zu  Hex  womöglich  angeben,  so  wird  man  die  von  mir  ver- 
suchte Erklärung,  die  ja  sachlich  nicht  uneben  ist,  mindestens  geben 
dürfen.  Erwiesen  oder  widerlegt  würde  sie,  sobald  sich  in  denjenigen 
Schwestersprachen,  die  i  und  ei  scheiden,  Verwandte  finden.  Leider 
fehlen  sie  bis  jetzt.  Freilich  führt  ja  Hesych  l'\a'£  als  lateinisch  und 
mazedonisch  an,  aber  wir  wissen  nicht,  wie  alt  die  Glosse  ist,  ob  also 
nicht  das  mazedonische  Wort  aus  dem  Lateinischen  entlehnt  ist,  be- 
weist ja  doch  alb.  ilk',  dafs  lat.  Hex  bei  den  Balkanrömern  üblich 
war;  wir  wissen  nicht,  ob  in  der  Zeit,  der  die  Glosse  angehört,  im 
Mazedonischen  nicht  ei  zu  i  geworden  war;  wenn  der  Akut  statt  des 
Zirkumflex  auf  Kürze  des  /  schliefsen  läfst,  so  könnte  man  unter  der 
Voraussetzung,  dafs  Yka't-  alt  sei,  dieses  mit  Hex  am  besten  mit  der 
Annahme  eines  alten  Ablautes  eil  :  ih  verbinden,  also  darin  sogar 
die  gesuchte  aufseritalische  Stütze  von  eilex  sehen.   Aber  ich  will  gar 


Kleinere  Mitteilungen.  399 

nicht  lla'6,  für  meine  Zwecke  verwenden,  ich  will  nur  zeigen,  dafs  die 
Form  vorläufig  nicht  verwertet  werden  kann.  Nun  sagt  Niedermann 
freilich,  eine  Wurzelform  eil  könne  es  nie  gegeben  haben.  Warum 
nicht?  Die  Gruppe  eil  ist  doch  nicht  etwa  unindogermanisch,  und 
selbst  wenn  sie  es  wäre,  wer  bürgt  uns  denn  dafür,  dafs  eilex  ein 
indogermanisches,  nicht  etwa  ein  etruskisches  Wort  sei?  Solange  es 
so  vollständig  isoliert  steht,  können  wir  darüber  gar  nichts  aussagen. 
Oder  weist  Niedermann  eilex  etwa  darum  ab,  weil  eine  Wurzel  eil 
fehlt?  Aber  haben  wir  denn  Wurzeln  für  Erle,  Föhre,  Eiche,  Buche, 
da  ja  doch  den  Zusammenhang  des  vorletzten  Baumnamens  mit 
skr.  ej  'schütteln',  des  letzten  mit  qxiytiv  heute  niemand  mehr  ernst 
nehmen  wird. 

Schliefslich  mag,  da  Suchier  in  der  neuen  Auflage  des  Orundr. 
836  an  yeuse  =  'helicem  im  Sinne  von  ilicem'  festhält,  auch  das  noch 
einmal  gesagt  werden,  dafs  nach  Mistral  npr.  euse  'Efeu'  von  euse 

%       I       ß 

'Steineiche'  verschieden  ist.    Man  müfste  danach  annehmen  •    *   g  =  e, 

2 
wenn  man  Suchiers  Auffassung  beipflichten  wollte. 

Wien.  W.  Meyer-Lübke. 

Notes  sur  la  prononciation  francaise  du  nom  de  Shakespeare. 

Si  le  nom  de  Goethe  a  du  pendant  longtemps  s'accommoder 
chez  nous  de  prononciations  heterogenes  dont  la  versification  et  la 
tvpographie  nous  ont  transmis  le  temoignage,1  le  nom  de  Shake- 
speare ne  pouvait  guere  etre  plus  heureux.  II  y  avait  meme  lä  une 
accumulation  de  difficultes  phonetiques  capables  de  derouter  l'inge- 
niosite  de  ceux  qui  n'imaginaient  point  que  voyelles,  diphtongues  et 
consonnes  pussent  avoir  ailleurs  une  autre  valeur  qu'en  francais.2 
Et,  ici  encore,  il  est  permis  d'inferer,  de  quelques  indices  typogra- 
phiques  et  metriques,   certaines  habitudes  de  prononciation  courante. 

Les  premieres  mentions  faites,  en  francais,  du  nom  de  Shake- 
speare ne  s'ecartaient  pas  de  l'orthographe  courante:  c'etaient  des 
copies  et  des  reports  d'apres  des  originaux  anglais,  et  ni  le  biblio- 
thecaire  royal  Nicolas  Clement,  ni  le  redacteur  de  l'Inventaire  ...  des 
Uwes  ...  de  Fouquet  n'auraient  eu  de  raisons  de  s'ecarter  de  la  gra- 
phie  qu'ils  avaient  sous  les  yeux.  Ni  Baillet  ni  Boyer,  de  leur  cote, 
ne  fönt  infraction  ä  l'usage  anglais  moyen.3  A  plus  forte  raison  des 
traductions  de  Panglais  ne  fournissent-elles   aucun  temoignage:    le 

1  Cf.  mes  Notes  sur  la  prononciation  francaise  du  nom  de  Goethe 
(Euphorion  IX,  2—3,  1902). 

2  La  conclusion  d'un  article  de  M.  Gaston  Deschamps  sur  la  röfonne 
de  l'orthographe  temoigne  assez  de  la  perainite"  de  cette  tendance.  Dans 
le  Temps  du  5  fövrier  1905,  apres  avoir  cito  l'opinion  d'un  correspondaot 
qui  demande  que  les  Anglais  mettent  leur  langue  ecrite  d'accord  avec  leur 
langue  parlöe,  M.  Deschamps  reprend  la  parole :  'Je  pense,  en  ettet,  qu'on 
pourrait  attendre  que  les  Anglais  aient  ecrit:  Chekspire,  lord  Saulcebeurre,  etc.' 

3  D'apres  Jusserand,  Shakespeare  en  France  sous  l'ancien  reyime, 
Paris,  1898. 


400  Kleinere  Mitteilungen. 

poete  anglais  est  mentionne  une  fois  dans  les  (Euvres  melees  du  Che- 
valier Temple,1  plusieurs  fois  dans  le  Mentor  moderne2  et  dans  le 
Spectateur  on  le  Socrate  moderne,*  sans  qu'on  puisse  discerner  quels 
phonemes  des  lecteurs  francais  devaient  s'imaginer  sous  la  forme 
SMkespear,  la  plus  communement  employee  dans  ces  ouvrages. 

II  est  probable  que  ce  nom,  qui,  a  partir  du  premier  quart  du 
XVIII0  siecle,  sera  souvent  lance  dans  les  controverses  litteraires, 
offrait  aux  Francais  deux  difficultes  principales,  et  que  des  lecteurs 
laisses  a  leurs  seules  lumieres  ötaient  tentes:  1°  de  prononcer  le  Sh 
initial  comme  un  simple  S;  2°  de  dissocier  en  e  -\  a  la  diphtongue 
finale.  Quant  ä  Ye  de  la  deuxieme  syllabe,  il  ne  devait  offrir  aucune 
difficult6,  et  ne  manquait  pas,  sans  doute,  de  recevoir  sa  part  d'ac- 
cent  et  de  prononciation  dans  le  mot!  Si  etrange  que  paraisse  la 
graphie  Shakees  Fear,  qui  figure  au  Journal  des  Savants  de  1710, 4 
il  est  possible  qu'elle  ne  fasse  que  rendre  un  compte  excessif  de  cette 
valeur  attribuee  ä  Ye  de  la  syllabe  mediane. 

De  ces  trois  facons  d'errer  —  que  vraisemblablement  ne  combat- 
taient  pas  avec  un  succes  süffisant  les  prononciations  plus  conformes 
de  Frangais  qui  avaient  ete  en  Angleterre,  un  Voltaire,  un  abbe 
Prevost  —  il  est  facile  de  suivre  la  trace  persistante.5  L'habitude 
erronee  6tait-elle  dejä  prise,  on  menacait-elle  seulement,  quand  furent 
imprimees  —  en  1725  —  les  heitres  sur  les  Anglais  et  les  Francais? 
Muralt  se  contentait-il  de  reproduire  l'ortographe  qu'il  avait  employee 
jadis,  en  manuscrit,  pour  ecrire  ce  nom  de  Shakespeare  d'une  facon 
plus  conformer  ä  la  prononciation  qu'il  entendait  dans  la  bouche  des 
Anglais?  En  tout  cas,  il  ecrit  SeJiakspear,6  de  me'me  qu'il  ecrit 
Schadvel;  et,  de  la  part  d'un  homme  qui  ecrit  plusieurs  fois  Houmour 
et  qui  donne  d'ailleurs  une  liste  d'errata  fort  soigneuse,  il  y  a  certes 
la  autre  chose  qu'une  faute  d'impression. 

J'en  dirai  autant  de  la  persistance  de  la  graphie  Shakespear 
dans  les  heitres  de  l'abbe  Leblanc7  (concurremment  avec  Shakespear 
sans  accent).  Comme  on  la  rencontre  aussi  sous  la  plume  d'un  autre 
auteur  qui  connaissait  l'Angleterre  pour  y  avoir  sejourne,8  il  est  per- 
mis  d'y  voir  une  invite  ä,  mettre  sur  cet  e  une  intonation  qui  rap- 
proche  la  diphtongue  ea  de  la  prononciation  eare  anglaise.     En  re- 

1  Utrecht,  1693. 

2  Je  n'ai  eu  entre  les  mains  que  la  deuxieme  Edition,  La  Haye,  1724. 

3  Amsterdam,  17'2'J. 

4  Citee  par  Jusseraud,  ouv.  cite,  p.  147. 

5  Je  ne  serais  pas  eloigne"  d'attribuer  le  cas  bien  connu  de  Bodmer, 
öcrivant  Saspar  et  Sasper  en  1740,  Saksper  en  1741,  ä  l'influence  de  quel- 
qu'une  de  ces  graphies  erronees.  Pour  l'e'lision  du  k,  voir  l'exemple  cito 
plus  loin  de  Saurin.  11  importe  de  noter  que  dans  le  Pour  et  le  Contre 
de  Tabbe*  Prevost  et  dans  le  Journal  etranger,  oü  le  nom  de  Shakespeare 
est  souvent  cite\  il  ne  präsente  aucune  de  ces  aoomalies  d'^criture;  la 
graphie  Shakespear  pr£domine  dans  l'un  et  l'autre. 

ü  (Geneve)   1725,  p.  57. 

7  Notamment  pages  80,  83,  84  du  tome  II. 

8  Grosley  dans  son  Londres  (Lausanne,  1"<  70),  cito  par  Jusserand,  p.  249. 


Kleinere  Mitteilungen.  401 

van  che,  le  Shakespefiar  du  Präsident  Henault,1  le  Shakespeart  de 
V  Observateur  frangais  ä  Londres  2  temoignent  d'une  adhesion  de  l'au- 
teur  (ou  du  typographe,  tout  au  moins)  ä  la  prononciation  commune: 
Yh  de  l'un  en  separant  les  deux  voyelles  de  la  diphtongue,  le  t  final 
de  l'autre  en  faisant  de  la  syllabe  art  l'analogue  de  mots  comme 
part,  art  etc.,  invitent  le  lecteur  ä  prononcer  pe  -\-  ar. 3 

Chose  curieuse,  l'erreur  phonetique  qui  faisait  du  Sh  initial 
l'equivalent  d'un  simple  S  (peut-etre  suivi  d'une  vague  aspiration?) 
semble  avoir  ete  plus  tenace  que  celle  qui  dissociait  ainsi  les  deux 
lettres  de  la  syllabe  diphtonguee.    On  trouve  en  effet  tres  longtemps : 

'...  a  la  fa9on  de  Sakespear,  le  Corneille  des  Anglais' ;4 

'Nous  invitons  les  admirateurs  du  theätre  anglais  ä  lire  les  ar- 
ticles  Sakespeare  . . . ' 3 

'Quelques  pensees  de  Sakespeare'6 
quand  dejä  une  graphie  phonetique  demontre  que  la  prononciation 
correcte  de  la  diphtongue  n'est  plus  ignoree: 

Rien,  sans  l'habit  anglais,  ne  pouvoit  röussir. 
Au-dessus  de  Corneille,  il  mettait  Sakespir.1 

ou  encore:     Emule  genereux  du  fameux  Sakespir, 

Tu  voulais,  imitant  cet  auteur  admirable, 

A  ses  rares  talens  nous  forcer  d'applaudir  . . . 8 

II  va  sans  dire  que  les  auteurs  bien  renseignes  ne  se  contentaient 
pas  toujours  des  moyens  que  nous  avons  vus  (Seh  ou  pear)  pour  indi- 
quer  tant  bien  que  mal  ä  leurs  lecteurs  quelle  etait  la  prononciation 
usitee  chez  les  compatriotes  du  poete.  Si  une  Elegie  sur  la  mort  de 
Ducis  renferme  encore  ce  vers: 

Schakespear,  tu  devais  naitre  et  mourir  deux  fois9 
il  y  avait  longtemps  cependant  que  Saurin  avait  insere"  dans  son 
Anglomane  la  replique  suivante  (oü  la  suppression  du  k  serait  sin- 
gulare, si  Damis  n'etait  un  Anglais  par  occasion  et  subterfuge): 

Er  aste.    Celui  de  vos  auteurs  qu'avant  tout  autre  j'aime, 

C'est  Shakesp^ar. 
Damis.  Nous  pronon§ons,  öhespir. 

Er  aste.     Chespir  soit:  mais  en  tout  j'admire  sa  maniere. 10 

1  Dans  la  Preface  (non  paginee)  de  Francois  II. 

2  Cito  par  Jusserand,  p.  2J5,  note  2. 

3  Notons  que,  par  une  touchante  conformit6,  le  nom  du  Rot  Lear 
£tait  soumis  ä  la  meme  prononciation  que  celui  de  son  auteur. 

4  Mercure  de  France,  oct.  1747,  p.  115.  C'est  l'ordinaire  facon  dont 
ce  p^riodique  £crit  le  nom  du  poete  anglais:  cf.  ses  comptes-rendus  de  La 
Place  en  1746.    UAnnee  litteraire  6crit  göuöralement  Shakespear. 

5  Journal  des  Debats,  26  janvier  1804.     Vari6t6s. 

6  Bulletin  de  Lyon,  20  thermidor  an  XII,  p.  3ö8. 

7  Boissy,  la  Frivolite,  com£die  en  un  acte  du  vers.  Paris,  1753, 
scene  IV,  p.  28. 

8  Müe  de  Gaudin.  A.  M.  Ducis,  sur  sa  tragödie  du  Roi  Lear.  Al- 
manach  des  Muses,  1784,  p.  13. 

y  Par  Mme  Victoire  Babois.     Almanach  des  Muses,  1819,  p.  39. 
L;     *  Saurin,  V Anglomane,  ou  V  Orpheline  leguee,  Edition  en  un  acte,  Paris, 
1772,  scene  XTT. 

Archiy  f.  n.  Sprachen.    CXV.  26 


402  Kleinere  Mitteilungen. 

Vers  le  m£me  temps,  V Armee  lüteraire  (1769,  VI,  p.  10)  remarque 
au  sujet  de  ce  nom:  'II  s'ecrit  Shakespear  et  se  prononce  Cheespir.' 
Au  comraencement  du  XIX e  siecle,  Stendhal  ecrivant  ä  sa  soeur  a 
soin  de  faire  suivre  le  nora  du  poete  de  cette  parenthese:  'prononce 
Che'quspire',1  et  AI.  Duval,  publiant  en  brochure  son  Shakespeare 
amoureux  ou  la  Piece  ä  l'etude,  ne  neglige  pas  de  mettre  en  note, 
comme  un  renvoi  encore  necessaire:  'On  prononce  Chekspire'2  Pre- 
caution  d'autant  plus  utile  que  c'etait  la  premiere  fois  -  sous  les 
traits  de  Talma  —  que  l'auteur  d'Hamlet  devenait  un  personnage  de 
th6ätre.  Notons  que  c'est  precisement  vers  cette  epoque  que  Seve- 
linges,  publiant  une  nouvelle  traduction  de  Werther,  ecrit  en  note  ä 
la  premiere  page  de  sa  Preface':  'On  prononce  Gueüte.  II  serait  ä 
souhaiter  que  toutes  les  fois  que  l'on  imprime  le  nom  d'un  etranger 
celebre,  on  donnät  en  meme  temps  la  maniere  de  le  prononcer. 
Faute  de  les  avoir,  on  peut,  dans  l'occasion,  se  trouver  expose  ä  ne 
pas  comprendre,  ou  ä  n'6tre  pas  compris.' 3  Souci  bien  legitime ! 
Sans  doute  l'extraordinaire  remuement  de  Immigration  et  des  guerres 
de  la  Revolution  et  de  PEmpire  a-t-il  produit  dejä,  pour  ces  deux 
'etrangers  celebres',  ce  resultat  de  mettre  quelques  hommes  de  lettres 
et  journalistes  en  mesure  de  garantir  ä  des  compatriotes  ignorants 
une  prononciation  plus  orthodoxe.  Et  desormais,  si  les  poetes  häsi- 
tent  encore  entre  deux  ou  trois  ecritures  du  nom  de  Shakespeare, 
ils  ne  sont  plus  tentes  de  lui  ajouter  une  syllabe  inutile  dans  la  pro- 
nonciation : 

Mais  eile  avait  Shakspear  pour  elargir  son  rögne . . . 

(A.  Dumas,   Christime,   acte  I,  sc.  2.) 

C'est  ainsi  qu'ä  Straffort  l'Angleterre  idolätre 
Couronnait  dans  Shakspear  le  pere  du  thöätre  . . . 

(Cas.  Delavigne,   Discours  en  l'honneur  de  Corneille, 
.4/wi.  des  Muses,   1830,  p.   260.) 

II  va  sans  dire  qu'ensuite,  pour  Musset,   pour  Banville,  Shakespeare 
fournit  une  rime  feminine,  quelle  qu'en  soit  Porthographe : 

L'autre,  comme  Kacine  et  le  divin  Shakspeare, 
Monte  sur  le  th^ätre,  une  lampe  ä  la  main  . . . 

(Müsset,  la  Coupe  et  les  Levres,  Dedicace.) 

Toute  cre*ation  ä  laquelle  on  aspire, 
Tout  reve,  toute  chose,  ömanent  de  Shakspere  .  . . 
(Banville,   Cariatides,  la    Voie  lactee.) 


1  Lettres  intimes,  p.  29:  lettre  du  10  pluviöse  an  XI. 

2  Paris,  an  XII,  p.  2.  L'annöe  pr6c6dente,  dans  le  prologue  de  son 
Ouillaume  le  Conqueratit,  Duval  avait  fait  figurer  le  nom  de  Shakespeare, 
räduit  ä  deux  syllabes  sous  cette  forme:  Ou  Shak'spear  ou  Schiller  vous 
servit  de  modele. 

3  C.  L.  SeVelinges,  Werther,  traduit  de  l'allemand  sur  une  nouvelle 
Edition.     Paris,  an  XII,  1804,  p.  VIII,  note  1. 

Lyon.  Fernand   Baldensperger. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 


Andreas  Heusler,  Lied  und  Epos  in  germanischer  Sagendichtung. 
Dortmund,  Fr.  Wilh.  Ruhfus,  1905.    52  S. 

Eine  inhaltsvollere  Schrift  ist  auf  dem  Gebiet  der  Heldensage  seit 
lange  kaum  erschienen  als  dies  schmale  Heftchen.  Wohl  kündigt  H.  als 
seine  Absicht  nur  an,  W.  P.  Kers  'gedankenreiches  Buch'  Epic  and  Bo- 
mance  (London  1897)  nach  seinem  wesentlichen  Inhalt  zur  allgemeineren 
Kenntnis  zu  bringen;  und  schon  das  wäre  verdienstvoll,  denn  das  wich- 
tige Werk  des  Engländers  (dessen  Bekanntschaft  ich  auch  nur  Heuslers 
persönlichem  Hinweis  danke)  scheint  bei  uns  kaum  beachtet  zu  sein. 
Tatsächlich  aber  führt  H.  nicht  nur  Kers  Gedanken  —  unter  gelegentlich 
auch  bessernder  Kritik  —  vor,  sondern  gibt  selbständig  eine  knappe  Dar- 
stellung neuer  Theorien  zur  Naturgeschichte  des  Epos. 

In  dem  einen  Hauptpunkt  zwar  könnte  seine  Polemik  gegen  die 
herrschende  Theorie  überflüssig  scheinen.  Gibt  es  wirklich  noch  Forscher, 
die  sich  ein  Epos  durch  blofse  'Summierung'  von  Einzelliedern  entstanden 
denken?  Lachmann  und  auch  noch  Müllenhoff  durften  glauben, 
nach  Ausscheiden  der  'Interpolationen'  die  'echten  Lieder'  unmittelbar  zu 
erhalten ;  so  einfach  aber  stellen  sich  doch  wohl  auch  ihre  Nachfolger  die 
Sache  nicht  mehr  vor. 

Aber  es  ist  vollkommen  richtig,  dafs  der  stilistische  Unterschied, 
der  zwischen  'Lied'  und  'Epos'  besteht,  den  deutschen  Forschern  keines- 
wegs klar  genug  zum  Bewufstsein  kommt,  und  dals  ihre  Kritik  dem  Unter- 
schied des  Tempos  (S.  22),  der  zwischen  dem  knappen  Lied  und  dem 
breiten  Epos  waltet,  daher  nicht  gerecht  wird.  In  der  Herausarbeitung 
dieses  Unterschiedes  liegt  das  gröfste  Verdienst  von  H.s  Werkchen.  Wenn 
man  sieht,  wie  Wilamowitz'  geniale  neueste  Geschichte  der  hellenischen 
Literatur  diese  eigentlich  nur  als  Stilgeschichte  behandelt,  oder  wenn  man 
neuere  (und  auch  ältere)  französische  Monographien  zur  Literaturgeschichte 
vergleicht,  erkennt  man  nicht  ohne  Beschämung,  wie  weit  wir  trotz  Sche- 
rer und  seinen  ersten  Schülern  hier  zurückgeblieben  sind. 

Aus  dieser  stilgeschichtlichen  Erkenntnis  zieht  H.  nun  aber  weiter- 
gehende Schlüsse.  Er  leugnet  jene  Zwischenstufe  zwischen  Lied  und 
Epos,  die  wir  als  zyklisches  Lied  oder  Kettengedicht  zu  bezeichnen  pflegen. 
Er  glaubt  an  einen  plötzlichen,  radikalen  Umschwung  der  Darstellungs- 
weise (vgl.  bes.  S.  32),  der  um  das  Skelett  des  fertigen  Liedes  die  'Mast- 
kur der  epischen  Breite'  (S.  51)  wuchern  liefs. 

Hier  nun  kann  ich  ihm  nicht  folgen.  Das  reine  'Ereignislied'  der 
Edda  (vgl.  S.  13  f.)  scheint  mir  allerdings  durch  die  eddische  Philologie 
selbst  (H.  Z.  ö2,  402)  verbürgt,  und  Jönssons  Widerspruch  {Oldnordisk 
Lit.  Eist.  I,  117  f.)  hat  mich  nicht  überzeugt.  Das  karikierende  Selbst- 
bekenntnis des  Dichters  aber,  das  H.  (S.  27)  als  unentbehrliche  Voraus- 
setzung der  'Sammeltheorie'  auffafst,  kann  man  von  einem  Rhapsoden 
nicht  verlangen,  der,  statt  die  Werbungsfahrt  aus  der  'ganzen  Geschichte 

26* 


404  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

von  Siegfried,  Kriemhild  und  Brunhild'  herauszugreifen,  die  uralte  Tra- 
dition einfach  fortsetzte,  für  die  die  Erzählung  von  Autharis  Brautfahrt 
zeugt.  Die  Eddalieder  wie  Reg.  und  Fäf.  scheinen  mir  auch  nur  als 
Glieder  einer  Kette  verständlich.  Allerdings  lehnt  H.  ihr  Zeugnis  ab, 
weil  sie  schwer  zu  beurteilen  seien ;  sündigt  er  aber  da  nicht,  wie  nach 
seinem  eigenen  treffenden  Urteil  sonst  die  Germanisten,  die  (S.  52)  ihren 
Reichtum  nicht  zu  nützen  wissen? 

H.s  Hauptargument  gegen  Lieder  e|  vnolrjipetos  ist  (S.  18),  dafs  jedes 
Eiuzellied  bis  zum  Schluß  gehe,  den  Ausgangspunkt  der  Fabel  mit  ent- 
halte. Allerdings  gibt  er  selbst  Ausnahmen  zu,  die  aber  motiviert  seien. 
Zunächst  nun  sehe  ich  gerade  in  der  üblichen  Bezugnahme  auf  den  Schlufs 
den  Beweis  der  vnoArjy/is:  an  diesem  bekanntesten,  festen  Teil  werden  die 
Lieder  verankert,  so  dafs  ihre  Zusammengehörigkeit  markiert  war.  Dann 
aber  ist  die  Art  dieser  Bezugnahme  doch  zu  verschieden,  um  gerade  auf 
sie  weitere  Folgerungen  zu  bauen.  Oft  ist  es  nur  ein  abbrechender  Ak- 
kord, wie  die  Berichte  vom  späteren  Schicksal  des  Helden  in  den  älteren 
englischen  Romanen,  so  etwa  in  der  Prosa  von  H.  Hj.  II ;  ein  andermal 
nur  ein  lyrisches  Echo,  wie  in  Vkv.  Und  darf  man  die  Götterlieder  von 
ausgesprochener  Einzelhandlung  wie  Skirn.  ganz  von  den  Heldenliedern 
absondern  ? 

Zur  Stütze  seiner  Theorie  gibt  H.  aufser  kurzen  —  nur  zu  kurzen  — 
Besprechungen  des  Beowulf  (S.  36),  des  Waltharius  usw.  ein  englisches 
und  ein  dänisches  Analogon  (Robin  Hood  S.  ob"  f.,  Mask  Stig  S.  41  f.). 
Über  diese  selbst  habe  ich  kein  Urteil;  die  Beweiskraft  der  Analogien  aber 
schlage  ich  nicht  allzu  hoch  an :  nicht,  weil  ich  mit  N  ö  1  d  e  k  e  jedem 
Volksepos  eine  völlig  isolierte  Entwickelung  zuschreiben  möchte,  sondern 
weil  nach  H.s  eigener  Auffassung  hier  schon  die  'Lieder'  in  die  Epoche 
epischer  Breite  fallen.  Übrigens  sind  H.s  Vergleiche  seiner  Ergebnisse 
mit  den  Voraussetzungen  der  Sammeltheorie  (S.  40,  45)  sehr  lehrreich  — 
nur  dafs  er  eben  auch  hier  diese  Theorie  mechanischer  nimmt  als  wohl 
ihre  meisten  Anhänger. 

Dafs  zwischen  den  'Liedern'  und  den  'Epen',  die  beide  H.  vortrefflich 
charakterisiert,  eine  Zwischenstufe  bestand,  in  der  die  einfachen  'Ereignis- 
lieder' sich  dem  epischen  Stil  annäherten  und  gleichzeitig  (wie  die  breiter 
entwickelte  Novelle  oder  das  voller  gestaltete  Märchen  überall)  dem  Zyklus 
zustrebten  —  dies  scheint  mir  der  Verf.  nicht  widerlegt  zu  haben,  und 
dies  scheint  mir  nach  wie  vor  schon  durch  die  Edda  allein  ausreichend 
bewiesen.  Aber  auch  wenn  hierin  die  ältere  Theorie  bestehen  sollte,  gibt 
Heuslers  Stilkritik  ihr  ein  ganz  neues  Ansehen. 

Berlin.  Richard  M.  Meyer. 

Ludwig  Geiger,  Goethes  Leben  und  Werke.  Einzeldruck  aus: 
'Goethes  sämtliche  Werke.  Vollständige  Ausgabe  in  44  Bänden.  Mit 
Einleitung  von  L.  Geiger.  Mit  zwei  Bildnissen,  Faksimile  und  Re- 
gisterband'.   Leipzig,  Max  Hesses  Verlag. 

'Keine  Biographie  im  gewöhnlichen  Sinne'  hat  sich  der  Verfasser  zur 
Aufgabe  gesetzt,  'keine  blofs  eingehende  Darstellung  der  Lebensereignisse 
Goethes,  sondern  eine  Einführung  in  das  Verständnis  seiner  Werke  und 
seines  Wesens.'  Dem  'grofsen  Publikum',  für  das  die  Arbeit  ausschliefs- 
lich  bestimmt  ist,  nur  eine  intime  Kenntnis  seiner  Liebschaften  und  Privat- 
verhältnisse übermitteln,  wie  es  so  häufig  geschehe,  heifse  den  Zweck  ver- 
fehlen. Viel  wichtiger  als  diese  Einzelheiten,  wenn  sie  gleich  nicht  über- 
gangen werden  dürften,  sei  die  Belehrung  über  des  Meisters  Stellung  zur 
Politik  und  Religion;  über  seine  Bedeutung  als  Lyriker,  Dramatiker  und 
Epiker;  eine  Darlegung  seiner  Kunstlehren,  seiner  Anschauungen  von  Ge- 
schichtlichem   und  Geschichte;   eine  Übersicht  seiner  eigenen   geschieht- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  405 

liehen  Arbeiten ;  endlich  noch  eine  Würdigung  der  Art,  wie  er  seine  Briefe 
schrieb  und  seine  Tagebücher  redigierte. 

Von  alledem  wird  denn  auch  kurz  und  bündig,  wie  es  der  knapp  zu- 
bemessene Raum  verlangte,  in  neun  Abschnitten  auf  200  Seiten  gehandelt : 
vollständig  und  gediegen  und  gemeinverständlich  genug,  vielleicht  aber 
doch  ein  wenig  allzu  literarhistorisch,  mit  allzu  heroischem  Verzicht  auf  per- 
sönliche Ansicht  und  persönliche  Darstellung.  Wir  wollen  das  grofse 
Publikum  immer  noch  zu  gründlich,  zu  fachwissenschaftlich  'bilden',  und 
erziehen  ihm  so,  gegen  unseren  Willen,  ein  verstandesmäfsiges  Verhalten 
zur  Kunst  an,  statt  zu  wecken,  zu  entwickeln,  was  an  aufnehmenden 
künstlerischen  Fähigkeiten  untätig  und  verschüchtert  in  ihm  liegt.  Wo 
es  gilt,  Liebe  zur  Kunst  und  wahres  Verständnis  in  weiteren  und  weite- 
sten Kreisen  zu  fördern,  sollten  wir  uns,  meineich,  inniger  und  bewufster 
an  Alfred  Lichtwark  und  die  Seinen  anschliefsen,  sollten  diesen  eifrigen 
und  erfolgreichen  Nachbarn  die  rechte  Volkserziehung  ablernen,  die  ja 
nach  Wesen  und  Art  dieselbe  sein  mufs  auf  allen  Kunstgebieten. 

Freiburg  i.  B.  R.  Woerner. 

Max  Batt,  The  treatment  of  nature  in  German  literature  from 
Günther  to  the  appearance  of  Goethes  Werther.    (Diss.  Chicago.) 

'The  treatment  of  nature'  ist  ein  Lieblingsgegenstand  amerikanischer 
Literaturforschung  geworden.  Aber  mag  die  Aufgabe  ursprünglich  nur 
deshalb  so  allgemein  bezeichnet  worden  sein,  weil  ein  geläufiges  Wort  für 
Natur gefühl  mangelte:  Tatsache  ist,  dafs  man  sie  nun  auch  so  allge- 
mein behandelt.  Unter  Sammelworten  wie:  Himmelserscheinungen,  Jahres- 
zeiten, Gebirge,  Gewässer  usw.  wird  eine  Anzahl  von  Stellen  aufgereiht, 
in  denen  der  Dichter  irgendwie  auf  das  in  der  Überschrift  Angegebene 
Bezug  nimmt,  ohne  dafs  von  vornherein  und  grundsätzlich  unterschieden 
würde  zwischen  dem,  was  er  neu  aus  eigener  Anschauung  und  Empfindung 
schöpft,  und  dem,  was  er  aus  der  Überlieferung  wiederholt.  Diesem  sta- 
tistisch-topographischen Verfahren  soll  sein  Nutzen  nicht  aberkannt  werden 
—  besonders  nicht  nach  der  kulturgeschichtlichen  Seite  hin.  Allein  es 
haftet,  scheint  mir,  in  bedauerlicher  Weise  solchen  Versuchen  der  Cha- 
rakter des  Halbgetanen,  der  blofsen  Vorarbeit  an,  wo  sich  doch  —  mit 
einer  weniger  äufserlichen  Behandlungsart  —  sogleich  Befriedigenderes  ge- 
winnen, ja  in  vielen  Fällen  Endgültiges  und  Abschliefsendes  erreichen  liefse. 

Was  ich  hiermit  über  die  Methode  zu  bedenken  gebe,  bedeute  keines- 
wegs eine  Herabwürdigung  der  vorliegenden,  in  ihren  Schranken  sehr 
tüchtigen  Dissertation !  Auf  Grund  ausgebreiteter  und  sorgfältiger  Studien 
bietet  sie  mancherlei  neue  Beobachtungen,  besonders  in  den  Abschnitten 
Letters  und  Travels.  Auch  die  Schlufsbetrachtung  zeugt  von  anerkennens- 
werter Beherrschung  des  gesamten  Gebietes. 

Freiburg  i.  B.  R.  Woerner. 

R.  Petsch,  Vorträge  über  Goethes  'Faust'.  Gehalten  im  Ferienkurs 
für  Lehrer  1902.  (Würzburger  Hochschulvorträge  B.  I.)  Würzburg, 
Ballhorn  u.  Cramer  Nachf.,  1903.     198  S. 

Der  Verfasser  ist  der  schwierigen  Aufgabe,  ein  gemeinverständliches 
Modell  unserer  gröfsten  Dichtung  aufzubauen,  für  den  ersten  Teil  besser 
als  für  den  zweiten  gerecht  geworden.  Hier  begegnen  nicht  blofs  selt- 
same Hypothesen  (Homunkiüus  von  Mephisto  erschaffen!  S.  112),  die  als 
sichere  Tatsachen  vorgetragen  werden,  und  allzu  feine  Ausdeutungen  (über 
den  Famulus  Wagner  S.  139,  vgl.  aber  S.  119;  über  das  innere  Licht 
S.  190  u.  ö.),  sondern  vor  allem  geht  hier  über  zu  ausführlicher  Deutung 
von  Kleinigkeiten  (Ein zehnter pretation  des  Mummenschanzes  u.  dgl.)   die 


406  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

übersichtliche  Führung  verloren.  Verzeihlich  finden  wir  es  freilich,  dals 
P.  hier  Schwierigkeiten  leichter  Hand  eliminiert;  denn  vielleicht  haben 
die,  die  die  Frage  der  Wette  nicht  so  einfach  abzutun  vermögen,  nicht 
'dicke.Ohren'  (S.  192),  sondern  eher  zu  feine.  Die  Erklärung  des  ersten 
Teils  ist  dagegen  im  allgemeinen  recht  glücklich.  Wohl  begegnen  auch 
hier  Gesuchtheiten  (zum  'Gesetz'  S.  62)  und  kleine  Lapsus,  wie  dafs  La- 
vater  der  Jesuiten-Riecher  sein  soll  (S.  102;  ebenso  z.  B.  zum  zweiten  Teil: 
Goethe  habe  zwischen  Neptunisten  und  Vulkanisten  eine  Mittelstellung 
eingenommen,  S.  15U),  und  anfechtbare  Deutungen,  wie  über  den  Zweck 
der  Osternachtszene  (S.  48) ;  aber  dafür  entschädigen  glückliche  Zitate 
und  Verwendungen  ('Ihr  Beifall  selbst  macht  meinem  Herzen  bang' 
S.  30;}  über- die  Historie  S.  46)  und  vor  allem  eine  herzenswarme  und 
doch  verständig-klare  Auseinandersetzung. 

Berlin.  Richard  M.  Meyer. 

N.  Lenau,   Pofcte   lyrique.     Par   L.  Reynaud.     Paris,  Societe*  nou- 
velle  de  Librairie  et  (TEdition,  1905.    XVII,  461  S. 

Das  Ziel  seines  Buches  formuliert  der  Verfasser  in  der  Vorrede  so: 
'Nous  nous  sommes  propose*  ici,  en  substance,  de  soumettre  l'organisation 
morale  et  la  produetion  lyrique  du  poete  ä  une  analyse  aussi  exaete  et 
aussi  complete  que  possible,  pour  essayer  de  döterminer  les  rapports  pro- 
fonds  qui  les  unissent.'  Er  glaubt  aber  seine  Aufgabe  noch  weiter  fassen 
zu  müssen.  Aus  der  Analyse  von  Leben  und  Kunst  dieses  einen  Dich- 
ters, der  ihm  einen  bestimmten  Typus  zu  vertreten  scheint,  soll  etwas  für 
die  Wertmafsstäbe  der  Ästhetik  überhaupt  gewonnen  werden  (S.  IX).  Er 
glaubt  hier  eine  Art  Schulfall  zu  haben  für  das  seiner  Meinung  nach 
höchster  Künstlergröfse  Verderbliche  einer  Organisation,  in  der  Sinnen- 
und  Gefühlsleben  ein  völliges  Übergewicht  über  die  logischen  Fähigkeiten 
und  den  bewufsten  Willen  erlangt  haben.  Der  mangelnden  Kraft,  sich 
durch  eine  selbständige  feste  Weltanschauung  über  das  Chaos  seiner  Emp- 
findungen und  Impulse  denkend  zu  erheben,  der  unsicheren  inkonsequenten 
Lebensführung  müsse  der  Gehalt  der  Kunst  entsprechen,  vor  allem  aber 
auch  Mängel  der  artistischen  Form.  'Le  poete  a  suecombe'  lä  mßme  oü 
l'homme  avait  succomb6,  car  les  lois  de  la  produetion  artistique  ne  sont 
qu'une  transposition  des  lois  de  l'existence  reelle.  Le  rythme  des  pense"es 
et  des  mots  n'est  en  derniere  instance  que  l'expression  du  rythme  des 
actes.'  R.  gelangt  aus  dieser  Grundanschauung  heraus  zu  einer  Ver- 
werfung aller  Epochen,  in  denen  die  stärksten  KunstleistuDgen  von  Na- 
turen ausgingen,  denen  es  nicht  gelang,  ihr  Leben  zu  harmonisieren,  mit 
ihrem  inneren  Reichtum  als  gute  Haushalter  zu  verfahren.  Die  Romantik 
ist  ihm  besonders  antipathisch.  Eine  gewisse  Warnung  vor  der  Über- 
schätzung der  Romantik  mag  heute,  wo  man  in  aller  Freude  an  ihrem 
wiederentdeckten  Reichtum  geneigt  ist,  ihre  Grenzen  zu  übersehen,  viel- 
leicht am  Platze  sein.  Doch  R.s  Art  der  Ablehnung,  wie  sie  sich  auf 
S.  XV  und  öfter  offenbart,  ist  in  ihrer  Einseitigkeit  kaum  haltbar.  Seine 
Abneigung  gegen  moderne,  sich  mit  romantischer  Art  berührende  Kunst 
scheint  mir  seiner  Betrachtung  Lenaus  von  vornherein  eine  gewisse  Rich- 
tung gegeben  zu  haben,  weil  er  in  Lenau  einen  seelischen  Typus  erkennt, 
dessen  Steigerung  jene  'verderblichen'  Erscheinungen  zeitigen  kann.  Diese 
pädagogischen  Absichten  trüben  vielleicht  hier  und  da  die  Objektivität 
der  Betrachtung,  obwohl  ich  ein  Verdienst  des  Buches  darin  sehe,  dafs 
es  die  Grenzen  von  Lenaus  Kunst  nicht  aus  dem  Auge  verliert. 

Gegen  R.s  allgemeine  Anschauungen  läfst  sich  gewils  manches  ein- 
wenden. Eine  so  bündige  Beantwortung  der  alle  Ästhetik  beschäftigenden 
Frage  nach  dem  Grundverhältnis  von  Leben  und  Kunst  liefse  sich  meines 
Erachtens   immer   nur   auf  Grund    eines   sehr  grofsen,  sorgfältig  durch- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  407 

gearbeiteten  psychologischen  Materials  geben.  Eine  Betrachtung  der  ver- 
schiedenartigsten Künstlerpersönlichkeiten  unter  diesem  Gesichtspunkt 
müfste  voraufgegangen  sein.  Und  auch  dann  bedarf  es  in  der  Anwendung 
des  etwa  Gefundenen  gröister  Vorsicht:  eine  seelische  Organisation,  die 
dem  Dramatiker  verhängnisvoll  werden  mufs,  braucht  es  nicht  für  den 
Lyriker  zu  sein.  Das,  was  man  künstlerische  Intelligen 7.  nennt,  kann  ein 
Lyriker  im  hohen  Mafse  besitzen,  der  nie  mit  seinem  Denken  Herr  des 
Lebens  wurde.  Bei  dem  Gedanken  über  die  Erscheinungen  auf  künstle- 
rischem Gebiet,  die  der  Willensschwäche  im  Leben  entsprechen,  wäre 
schärfer  zu  scheiden  zwischen  den  lebenshungrigen  Impulsmenschen,  die 
alle  Kraft  im  Leben  verschwenden,  denen  keine  Mufse  zur  künstlerischen 
Konzentration  bleibt,  und  den  willensmatten  Naturen,  die,  scheu  vor  dem 
Leben,  die  Kunstübung  als  einzige  Lebensbetätigung  leidenschaftlich  um- 
klammern und  die  von  der  Kunst  allmählich  verzehrt  werden.  Hier  wird 
der  gröfsten  Willensschwäche  im  Leben  eine  sehr  sichere  Beherrschung 
der  Kunstform  parallel  gehen.  Gerade  die  österreichische  Literatur  lädt 
zur  Beobachtung  dieses  Typs  ein.  Gehört  Lenau  nicht  dem  zweiten  Typus 
an,  auch  nach  R.s  eigener  Darstellung? 

Der  Künstler  würde  allerdings  immer  da  unterliegen,  wo  der  Mensch 
unterliegt,  wenn  er  nur  das  ausdrückte,  was  er  ist,  nicht  auch  was  ihm 
mangelt;  wenn  alle  Kunst  nur  aus  dem  verwirklichten  Sein,  nicht  auch 
aus  der  Sehnsucht  eines  Menschen  entstünde.  Wie  weit  freilich  einer  sol- 
chen Natur  die  reife,  künstlerische  Gestaltung  dessen  möglich  ist,  was 
ihrem  eigenen  Sein  widerspricht,  das  wird  von  der  Selbsterziehung  bedingt 
sein.  Aber  vor  allem  von  der  auf  Kultur  der  Sinnlichkeit  und  Phantasie 
gerichteten :  von  der  wohl  erziehbaren  Fähigkeit,  sich  anschauend  in  frem- 
des Leben  zu  versenken  —  eine  Gabe,  die  doch  wohl  nicht  direkt  von 
intellektueller  und  moralischer  Kultur  abhängt.  Ein  bekanntes  Beispiel  ist 
C.  F.Meyer,  der  die  Renaissance  gestaltet.  Aber  wie  gesagt:  mit  Einzel- 
beobachtungen kommt  man  diesem  Problem  nicht  sehr  nahe,  hier  bedarf 
es  einer  breiten,  empirischen  Grundlegung. 

Durch  solche  Einwände  ist  noch  nichts  darüber  ausgesagt,  wie  weit 
in  diesem  einen  Fall  die  These  zutrifft,  wie  weit  das  Problem  Lenau  durch 
R.  erschöpft  wird.  Er  betrachtet  im  ersten  Teil  des  Buches :  'Les  sources 
de  l'ceuvre  lyrique:  Phomme'  das  Seelenwesen  Lenaus,  wie  es  sich  in  sei- 
nem Verhältnis  zur  Natur  offenbart,  wie  es  in  der  Art,  die  Umstände,  die 
Menschen,  namentlich  die  Frauen,  auf  sich  wirken  zu  lassen,  in  den  Un- 
regelmäfsigkeiten  seines  Lebens,  in  seinen  Beziehungen  zur  Philosophie 
und  Literatur  zutage  tritt.  Im  zweiten  Teil:  'L'oeuvre  lyrique'  sucht  er 
die  Spiegelungen  dieses  Seelenwesens  in  der  Lyrik,  strebt,  das  Walten  der 
gleichen  Haupttendenzen,  die  das  Leben  beherrschen,  nachzuweisen. 

In  der  Charakteristik,  die  er  am  Ende  der  ersten  Partie  gibt,  wieder- 
holt er  zum  Teil  das,  was  Roustan  in  seiner  trefflichen  Lenaubiographie 
zusammenfassend  gesagt  hatte.  Er  betont  die  nervöse  Empfindlichkeit, 
das  Vorherrschen  der  'sensibilite',  das  jähen  Impulsen  gehorchende  Tem- 
perament, den  Mangel  an  'energie  r^flechie'.  Viel  mehr  Bedeutung  als 
Roustan  oder  Castle  mifst  er  dem  Einflufs  literarischer  Moden  auf  Lenaus 
Leben  und  Kunst  bei.  Erwägenswert  sind  die  Betrachtungen  über  das, 
was  'Literatur'  in  Lenaus  Leben  war,  aber  R.  überschätzt  doch  wohl  diese 
Einflüsse;  namentlich  spielt  der  Byronismus,  dessen  Wichtigkeit  andere 
Betrachter  ganz  zurückgedrängt  hatten,  eine  zu  grofse  Rolle.  Roustan 
bewertete  Lenaus  philosophisches  Denken  höher  als  R.  es  tut.  'La  sensi- 
bilite- mobile  et  inquiete,  qui  constitue  le  caractere  de  Lenau  comme  eile 
est  la  source  de  sa  poesie,  n'est  qu'une  face  de  cet  etre  complexe.  A  c6t6 
de  l'instinctif  et  de  l'impulsif  substituent  un  intellectuel  et  un  analyste.' 
R.  sieht  viel  mehr  den  Mangel  an  Konsequenz,  Tiefe,  Selbständigkeit  in 
Lenaus  Denken.    Man  kann  ihm  den  Denker  Lenau  preisgeben:  den  Ge- 


408  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

dankeninhalt  der  epischen  Dichtung  nicht  hoch  einschätzen,  aber  es  ist 
nicht  zu  verkennen,  dafs  es  dem  Dichter  gelang,  durch  dieses  immer  wieder 
begonnene  Ringen  um  die  Weltanschauung  seiner  Lyrik  Tiefgang  zu  geben. 
Hier  zeigt  sich  eine  Willenskonzentration  des  Künstlers,  die  sogar  Grill- 
parzers  herbe  Verse  anerkennen,  und  die  R.  mir  nicht  genug  zu  beachten 
scheint.  Sehr  wünschenswert  wäre  es  gewesen,  dafs  die  Phantasie  Le- 
naus eine  zusammenhängende  Darstellung  erfahren  hätte.  Ansätze  dazu 
finden  sich  öfters  in  R.s  Buch,  aber  der  Anteil  der  Phantasie  an  Leben 
und  Kunst  Lenaus  wird  viel  weniger  beachtet  als  der  der  Gefühlssphäre, 
der  nervösen  Empfindlichkeit.  Castle  und  Walzel  hatten  darauf,  hin- 
gewiesen, dafs  viel  von  Lenaus  Eigenart  aus  der  Psychologie  des  Öster- 
reichers überhaupt  zu  erklären  ist.  Die  Verfolgung  dieser  Spur  läfst  sich 
R.  entgehen.  Ferner:  er  führt  die  Eintönigkeit  in  der  Grundstimmung, 
die  Lenaus  Kunst  trotz  aller  Farbigkeit  zeigt,  wesentlich  auf  die  Grenzen 
seiner  intellektuellen  und  moralischen  Persönlichkeit  zurück.  Aber  hier 
wäre  eben  zu  fragen,  ob  nicht  vielmehr  eine  zu  enge  Ausbildung  der 
anschauenden  Fähigkeit  daran  schuld  ist.  Ob  Lenau  nicht  —  was  ihm 
durch  Denken  nicht  oder  nur  spät  gelang  —  von  den  einseitigen  Forde- 
rungen seines  Gefühls  sich  hätte  bis  zu  einem  gewissen  Grade  befreien 
können,  wenn  er  es  vermocht  hätte,  sich  anschauend  auch  in  die  Er- 
scheinungen zu  versenken,  die  seinem  Gefühl  nicht  sofort  antworteten. 
Der  'Kult  seiner  Melancholie'  verhinderte  das.  Aber  ob  nicht  Lenau, 
ganz  abgesehen  von  einer  Erziehung  des  praktischen  Willens,  durch  eine 
nicht  nur  intensive,  virtuose,  sondern  auch  extensive  Entwickelung  seiner 
anschauenden  Fähigkeit,  nicht  mittels  ethischer,  sondern  ästhetischer  Kul- 
tur zu  einer  Befreiung  von  diesem  Kult,  zur  Aufweitung  seiner  Kunst 
gelangt  wäre?  Vielleicht  hätte  eine  Untersuchung  in  dieser  Richtung, 
namentlich  eine  Betrachtung  der  Anläufe,  die  Lenau  zuweilen  nimmt,  eine 
Lebensform  darzustellen,  die  der  seinen  entgegengesetzt  ist,  die  Formel 
etwas  erweitert,  mit  der  R.  ihn  zu  erklären  sucht. 

R.s  These  bedurfte  vor  allem  stärkerer  Stützen  durch  den  Nachweis, 
dafs  dem  Mangel  an  Lebensbeherrschung  ein  Versagen  des  künstlerischen 
Ordnungsgeistes  in  Lenaus  Dichtung  entspricht.  Dieser  Nachweis  ist 
nicht  völlig  erbracht.  Freilich,  die  mangelhafte  Komposition  der  Epen 
ist  unbestreitbar.  Aber  diese  Enge  der  Begabung  beim  Lyriker  braucht 
wahrlich  nicht  auf  einer  solchen  Seelenbeschaffenheit  zu  beruhen.  Uhland, 
der  klare,  wissenschaftlich  geschulte  Geist,  der  feste,  sein  Leben  beherr- 
schende Mann,  war  ebenso  unfähig,  ein  Drama  oder  Epos  zu  komponieren, 
wie  der  Impuls-  und  Stimmungsmensch  Lenau :  er  war  eben  nur  Lyriker. 
Was  nun  das  eigentlich  lyrische  Gedicht  und  das  lyrisch  -  epische  Stim- 
mungsbild betrifft,  so  stehen  neben  den  unvollkommen  komponierten  Ge- 
dichten, die  R.  auf  S.  432  anführt  und  deren  Zahl  man  übrigens  leicht 
um  eine  Reihe  mifslungener  Reflexionspoesien  erweitern  könnte,  genügend 
andere,  die  strengste  künstlerische  Besonnenheit  im  Gesamtaufbau  wie  im 
einzelnen  verraten. 

Die  Analyse  von  Lenaus  Lyrik  im  zweiten  Teil  des  Buches  enthält 
außerordentlich  viel  Feines.  Besonders  anregend  ist  im  Kapitel  'Vente"  et 
po£sie'  dargestellt,  wie  Erlebnis,  Phantasie  und  literarische  Tradition  die 
Stilisierung  des  Themas  der  Berta- Lieder  beeinflufsten.  Die  Behandlung 
des  Lenauschen  Naturgefühls  führt  in  einigen  Punkten  weit  über  das  hin- 
aus, was  etwa  Geskys  mit  hilflosen  Beiwörtern  an  Lenaus  Kunst  herum- 
tastende Studie  geben  konnte.  R.  begnügt  sich  nicht,  zu  klassifizieren,  er 
erkennt  die  Probleme.  Er  gibt  im  Kapitel  'L'art  de  Lenau'  eine  beson- 
ders dankenswerte  Betrachtung  des  Zusammenhangs  zwischen  Lenaus 
theoretischen  Ansichten  über  Naturlyrik  und  der  Entwickelung  seiner 
eigenen  Naturpoesie.  Die  Ausdrucksmittel  von  Lenaus  Kunst  werden 
feinfühlig  gewertet.    Manches  ist  zu  modifizieren,  die  Beobachtungen  über 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  400 

das  Stilistische  sind  hier  und  da  zu  erweitern ;  im  ganzen  liegen  hier  die 
gröfsten  Vorzüge  des  Buches. 

Im  einzelnen  liefse  sich  noch  manches  bemerken.  Ein  Vergleich  mit 
anderen  Dichtern  des  Meeres,  der  Heide,  des  Hochgebirges  wäre  vielleicht 
der  genaueren  Entscheidung  der  Frage  zugute  gekommen,  wie  weit  es  nur 
auf  Lenaus  eigenstes  Temperament  zurückzuführen  ist,  dafs  ihn  wesentlich 
eine  Natur  in  grofsartiger  Trostlosigkeit  oder  in  leidenschaftlichem  Auf- 
ruhr künstlerisch  erregt,  wie  weit  die  Landschaften,  in  denen  er  haupt- 
sächlich lebt,  auch  auf  andere  Künstlernaturen  so  zu  wirken  pflegten.  Zu 
solchen  psychologischen  Vergleichen  konnte  Ratzeis  trefflicher  Aufsatz 
(Beilage  zur  Allgemeinen  Zeitung  1003,  Nr.  218  bis  220)  anregen,  der  R. 
leider  entgangen  ist.  In  dem  Kapitel  'Son  tempeYament  physique  et  mo- 
rale'  befremdet  zuweilen  die  gleichwertige  Behandlung  der  Zeugnisse; 
mehr  noch  die  Art,  wie  die  Neigung  und  Fähigkeit,  sich  durch  musi- 
kalische Erlebnisse  im  tiefsten  erschüttern  zu  lassen,  mit  Lenaus  Schwäche 
für  physische  Reizmittel,  wie  Kaffee  und  Tabak,  in  engstem  Zusammen- 
hang behandelt  werden.  R.  hat  das  ungünstigste  Urteil  über  Sophie 
Löwenthal  und  ihren  Einflufs  auf  Lenau.  Er  gibt  die  vorsichtig  ab- 
wägende Behandlung  dieses  Verhältnisses  auf,  die  Minor  mit  Recht  {An- 
zeiger f.  d.  A.  1892)  anwendet,  betont  auch  nicht  genug  Lenaus  Kampf 
mit  seiner  Leidenschaft.  Vor  allem  aber  kann  ich  dem  Urteil  nicht  bei- 
stimmen, dafs  Sophie  ebenso  unheilvoll  auf  Lenaus  Kunst  einwirkte,  wie 
sie  zweifellos  auf  sein  Leben  gewirkt  hat.  Mag  man  R.s  Urteil  über  'Sa- 
vonarola',  über  die  'Liebesklänge'  unterschreiben  —  man  darf  die  ebenfalls 
an  Sophie  gerichteten  Sonette  'Stimmen'  (s.  Mayer,  Zeitschrift  für  österr. 
Gymnasien  1898)  nicht  vergessen,  die  einen  Höhepunkt  in  Lenaus  Kunst 
darstellen.  Ebensowenig  den  Anteil,  den  die  tiefe  Erschütterung  durch 
diese  Leidenschaft  an  dem  neuen,  durch  die  Philosophie  nur  befreiten 
Daseinsgefühl  der  'Waldlieder'  hat.  Nur  auf  Grund  einer  grofsen  tra- 
gischen Erfahrung  war  diese  Auffassung  des  Lebens  zu  gewinnen.  Nie 
hätte  er  ohne  seine  Liebe  zu  Sophie  den  'Don  Juan'  schreiben  können. 
Auf  den  inneren  Anteil  dieser  Leidenschaft  an  der  Entstehung  des  'Don 
Juan'  hat  Castle  besonders  hingewiesen.  Hier  gibt  Lenau  mehr  als  ein- 
zelne Erschütterungen,  Vibrationen  der  Seele.  Er  vermag  hier  das,  was 
R.  bei  ihm  vermifst:  seine  persönlichen  Leiden  in  einem  grofsen  Zusammen- 
hang als  etwas  typisch  Bedeutsames  zu  erfassen.  Denn  nicht  so  sehr 
Don  Juans  Seele  als  die  Gewalt  und  das  Schrecknis  der  sinnlichen  Liebe 
überhaupt  ist  der  Held  dieser  in  ihren  besten  Partien  lyrischen  Dichtung. 

Wenn  schon  Roustans  Darstellung  der  österreichischen  Literatur- 
zustände den  Vorwurf  erfahren  hat,  zu  sehr  grau  in  grau  zu  malen,  wenn 
anderseits  Walzel  einen  Hauptvorzug  von  Castles  Biographie  darin  sieht, 
dafs  er  in  dem  Eingangskapitel  'scharf  umschreibt,  welche  Fülle  von  An- 
regungen literarischer  und  künstlerischer  Art  sich  am  Anfange  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  in  Wien  und  in  Österreich  zusammenfindet,  An- 
regungen, die  der  folgenden  Blütezeit  zur  Begründung  dienen',  so  werden 
die  Seiten,  die  R.  den  Wiener  Literaturverhältnissen  widmet,  kaum  der 
Kritik  der  Spezialkenner  entgehen.  Man  vermifst  übrigens  an  dieser  Stelle 
im  Literaturverzeichnis  Minors  Aufsatz  'Zur  Bibliographie  und  Quellen- 
kunde der  österr.  Lit.- Gesch.':   Zeitschrift  für  österr.  Gymnasien  188ti. 

Die  Art,  wie  Lenau  philosophischen  Einflüssen  unterliegt;  betrachtet 
R.  eingehend  und  mit  Sorgfalt.  Der  Gedanke,  dafs  auch  der  philosophische 
Gehalt  des  'Cain'  für  die  Entwickelung  der  Weltanschauung  in  Betracht 
komme  (S.  '^12),  ist  zu  beachten.  Nicht  tief  genug  scheint  mir  R.  zu 
graben  bei  der  Behandlung  des  Problems,  wie  gerade  Hegels  System,  das 
doch  den  Rausch  der  logischen  Fähigkeit  darstellt,  von  Lenau,  dem  Im- 
puls- und  Stimmungsmenschen,  den  bisher  alle  intellektualistischen  Philo- 
sophien auf  die  Dauer  abgestofsen  hatten,   so  assimiliert  werden  konnte, 


410  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

ja,  vrie  es  ihm,  als  er  schon  der  Zerstörung  zueilte,  noch  eine  Nachblüte 
seiner  Kunst  schenkte.  Das  Zurückdrängen  der  'freien  Dichtungen'  Le- 
naus  bei  der  Analyse  seiner  Lyrik  hat  doch  manche  Bedenken.  Es  steckt 
so  viel  Lyrik  in  diesen  episch  und  dramatisch  verkleideten  Dichtungen ; 
namentlich  für  die  lyrische  Sprachkunst  bieten  sie  sehr  viel.  Ferner  hätte 
zu  dem  von  R.  ausführlich  behandelten  Thema  'Verite*  et  podsie'  doch 
schliefslich  auch  die  freie  Umbildung  des  dem  Dichter  vorliegenden  Stoffes 
gehört,  wenn  auch  das  Resultat  nur  Material  zur  vergleichenden  Ergänzung 
der  für  das  Verhalten  des  Lyrikers  gefundenen  Ergebnisse  sein  konnte. 
Die  Studien  von  Bolte,  Prosch,  Castle  haben  hier  vorgearbeitet.  Im  Ka- 
pitel 'Par  la  Nature  ä  l'absolu'  bieten  die  ersten  Seiten  der  Kritik  man- 
chen Angriffspunkt.  Die  Definition,  die  R.  hier  vom  Impressionismus 
gibt,  ist  unzureichend.  Schon  der  technischen  Behandlung  wegen  scheint 
es  mir  übrigens  unmöglich,  die  hier  angeführten  Gedichte  Lenaus  im- 
pressionistisch zu  nennen.  Auch  ist  es  nicht  richtig,  den  'Postillon'  unter 
die  Gedichte  zu  rechnen,  die  Eindrücke  flüchtig  erhaschen,  ohne  dafs  eine 
tiefere  Gefüblsauffassung  die  Wiedergabe  der  Eindrücke  beseele.  Er  gibt 
ein  Urthema  Lenaus:  die  geheimnisvolle  Nähe  von  Tod  und  Leben  in 
Natur  und  Menschendasein  mit  elegisch  gefühlvoller  Betonung.  Die 
Wechselbeziehung  zwischen  Natur  und  Seele  durchklingt  das  Gedicht,  nur 
leiser,  diskreter  als  anderwärts.  Dafs  Lenau  in  dem  Brief  an  Emilie  Rein- 
beck vom  8.  Juni  1832  technische  Versuche  des  modernen  lyrischen  Im- 
pressionismus theoretisch  vorausnimmt,  hatte  schon  R.  M.  Meyer  bemerkt 
(Die  deutsehe  Literatur  des  19.  Jh.,  1900,  S.  8"6).  Es  bleibt  ein  Verdienst 
R.s,  sich  an  dem  Problem  'Lenau  und  der  Impressionismus'  versucht  zu 
haben. 

Zusammenfassend  möchte  ich  sagen,  dafs  dieses  Buch  zwar  infolge 
einer  gewissen  Einseitigkeit  des  Kunstgeschmacks  und  zu  scharfer  An- 
spannung mancher  an  sich  richtiger  Gedanken  Lenaus  Wesen  nicht  er- 
schöpft, dafs  es  aber  doch  in  sehr  vielen  Punkten,  namentlich  für  den 
Künstler  Lenau  aufschlufsreich  ist,  Vorzüge  und  Grenzen  seiner  Art 
scharf  umschreibt  und,  wenn  auch  oft  zum  Widerspruch,  so  doch  jeden- 
falls zum  Nachdenken  über  die  Lenauprobleme  anregt. 

Berlin.  Helene  Herrmann. 

Tb..  Fontanes  Briefe  an  seine  Familie.      XII,  316,  342  S.     Berlin, 
F.  Fontane  u.  Co.,  1905. 

Diese  Auswahl  aus  den  zahllosen  Familienbriefen  des  eifrigsten  Brief - 
Schreibers  unter  unseren  neueren  Schriftstellern  und  des  am  meisten  lite- 
rarischen unter  unseren  Briefschreibern  ist  von  den  Verwandten  mit  an- 
erkennenswertem Absehen  von  persönlichen  und  familienhaften  Rücksichten 
veranstaltet.  Für  das  Verständnis  Fontanes  ist  sie  daher  unschätzbar, 
aber  auch  für  seine  gesamte  'Umwelt' ;  man  könnte  das  Buch  ruhig  nach 
dem  Muster  des  Fontanischen  über  Scherenberg  'Theodor  Fontane 
und  das  literarische  Berlin  von  1852 — 1898'  benennen.  Und 
wenn  seine  Bücher  zuweilen  wie  eine  blofse  Sammlung  von  Briefen  und 
Gesprächen  wirken,  mutet  umgekehrt  diese  Sammlung  wie  ein  Roman  an. 
Mit  der  entscheidenden  Reise  nach  England  beginnt  sie,  und  ein  geist- 
reicher Zufall  läfst  den  Brief,  den  Fontane  am  Morgen  seines  Todes- 
tages schrieb,  mit  den  Worten  beginnen :  'Dies  sind  nun  also  die  letzten 
Zeilen!' 

Literarisch  also  sind  die  beiden  Bände  noch  bedeutsamer  als  literar- 
historisch: überquellend  von  Witz  und  Weisheit,  feiner  Beobachtung  und 
tiefsinniger  Verallgemeinerung.  Etwas  Roman  steckt  in  jedem  Brief: 
F.  stilisiert  immer,  und  vor  allem  sind'seine  bitteren  Klagen  über  Welt 
und  Leben  ein  wenig  im  Sinne  der  Goethischen  Verse  zu  nehmen: 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  411 

Zart  Gedicht,  wie  Regenbogen, 
Wird  nur  auf  dunklem  Grund  gezogen; 
Darum  behagt  dem  Dichtergenie 
Das  Element  der  Melancholie. 

Wir  wollen  übrigens  den  Ernst  seiner  jahrzehntelangen  Verstimmung 
nicht  leugnen :  bot  doch  die  unglaubliche  Verkennung  seiner  Bedeutung 
Grund  genug  dazu,  während  er  äufsere  Bedrängnis  leichter  und  zuweilen 
fast  leichtsinnig  trug.  Für  die  literarischen  Zustände  in  jenem  halben  Jahr- 
hundert sind  diese  Klagen  auch  nur  zu  bezeichnend;  zieht  man  von  seinen 
Betrachtungen  über  Verleger,  Publikum,  Cliquen  die  stilistische  Steige- 
rung und  die  persönliche  Vergröfserung  ab,  so  bleibt  genug  übrig  —  um 
unsere  Zeit  zu  rechtfertigen ! 

Mit  jenen  beiden  Kautelen  sind  auch  die  Uterarischen  Urteile  aufzu- 
nehmen, um  derentwillen  wir  ein  Namenverzeichnis  besonders  lebhaft  ver- 
missen. Besonders  wichtig  ist  der  Wechsel  der  Stimmungen  über  W.  Scott, 
höchst  charakteristisch  die  Stellung  zu  Zola.  Über  P.  Heyse  fällt  manch 
bezeichnendes  Wort;  an  Spielhagen  und  Hopfen  mifst  F.  sich  selbst  — 
und  sieht  sich  von  anderen  an  Brachvogel  gemessen  I  Freudige  Zustim- 
mung zu  einem  vergessenen  Buch  von  Parisius  beweist,  wie  eng  F.  mit 
dem  Altberliner  Roman  überhaupt  zusammenhängt. 

Erstaunlich  ist  die  Sicherheit  seiner  Selbstkritik,  besonders  auch  über 
seine  Gedichte.  Aber  über  sein  ganzes  Wesen  findet  man  Urteile  von  un- 
beirrbarster Sachlichkeit;  wir  geben  die  Stellen  nicht  an,  damit  das  ganze 
Buch  um  so  eifriger  gelesen  werde.  Dann  werden  den  Leser  auch  die 
überraschendsten  historischen  Momentbilder  belohnen! 

Berlin.  Richard  M.  Meyer. 

The  Dation's  need.    Chapters  on  education.     Edited  by  Spenser  Wil- 
kinson.      Westminster,  Archibald  Constable  &  Co.,  Ltd.    811  S.    8°. 

Der  Herausgeber  dieser  Sammlung  von  Aufsätzen  verschiedener  Ver- 
fasser zum  Thema  der  öffentlichen  Erziehung  hat  sich  sonst  auf  einem 
anderen  Gebiete  bewegt,  das  offenbar  auch  das  ihm  selbst  vertraute  ist: 
er  behandelte  in  einer  Reihe  von  zum  Teil  umfangreichen  Büchern  die 
Fragen  der  englischen  Landesverteidigung,  die  Reformbedürfnisse  der 
Armee  und  Verwandtes.  Auch  hier  betrifft  sein  eigener,  die  ganze  Samm- 
lung abschliefsender  Beitrag  die  allgemeine  und  die  berufstechnische  Aus- 
bildung der  Offiziere  des  Landheeres  und  darauf  die  der  Marineoffiziere. 
Aber  er  sucht  die  wahren  nationalen  Bedürfnisse  nun  in  gröfserer  Tiefe 
und  lälst  zu  diesem  Zweck  allerlei  Stimmen  laut  werden  über  die  ein- 
zelnen Gebiete  des  Erziehungswesens  und  das,  was  zurzeit  innerhalb  der- 
selben fehlt  und  was  anzustreben  wäre.  Die  so  gewonnenen,  dem  ein- 
leitenden Aufsatz  folgenden  Abschnitte  sind  überschrieben:  The  Elementary 
School,  by  F.  S.  Marwin;  Local  and  Central  Government,  their  Relation 
in  Education,  by  Graham  Wallas;  Primary  Education  of  Girls,  by  Cathe- 
rine J.  Dodd;  Hygiene  and  Household  Economics,  by  Alice  Ravenhill; 
Higher  Education  in  France  and  Germany,  by  J.  J.  Findlay;  The  Seeon- 
dary  Day  School,  by  J.  J.  Findlay;  The  public  Schools  by  J.  C.  Tarver; 
The  Teaching  of  modern  Languages,  by  K.  Breul;  Higher  Education,  by 
H.  J.  Mackinder;  The  Nation's  Servants,  by  Spenser  Wilkinson. 

Natürlich  enthalten  die  Aufsätze  nicht  wenig  Interessantes  für  nicht- 
englische Pädagogen,  die  hier  zum  Teil  den  Widerklang  von  wohlver- 
trauten Fragen  und  Problemen  finden,  aber  ebenso  auch  für  jeden,  der 
englisches  Geistes-  und  Kulturleben  kennen  lernen  will,  und  deshalb  ist 
des  Buches  in  gegenwärtiger  Zeitschrift  zu  gedenken.  Dafs  ein  Abschnitt 
dem  Lehren  und  Lernen  der  neueren  Sprachen  gewidmet  ist,  dürfte  wohl 


412  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

auch  mitsprechen,  zumal  derselbe  gute  Gedanken  enthalt;  doch  braucht 
gerade  auf  dieses  besondere  Thema  hier  nicht  eingegangen  zu  werden,  da 
es  unter  uns  so  überreichlich  erörtert  worden  ist.  Nur  eins  sei  aus  dem 
Aufsatz  unseres  Landsmannes  Breul  hervorgehoben,  nämlich  die  den  Eng- 
ländern jetzt  durchaus  nicht  gleichgültige  Frage,  ob  der  Unterricht  in 
lebenden  Fremdsprachen  für  die  Zukunft  englischen  Lehrern  anzuvertrauen 
sei  oder  Ausländern.  Zunächst  wird  geantwortet:  den  Bestbefähigten, 
gleichviel  von  welcher  Nation,  dann  aber  zugestanden,  dafs  den  Unterricht 
in  den  Händen  von  wohlausgebildeten  Engländern  zu  sehen  doch  das 
natürliche  Programm  der  Zukunft  bilde. 

Aus  den  übrigen  Abschnitten  sei  es  gestattet,  etwas  ungesondert  eine 
Anzahl  Punkte  herauszuheben,  die  unsere  Aufmerksamkeit  zu  verdienen 
scheinen.  Dazu  gehört  die  rückhaltlos  an  mehreren  Stellen  ausgesprochene 
Klage  über  langdauernde  und  noch  nicht  überwundene  Rückständigkeit 
des  englischen  Elementarschulunterrichts.  Es  fehle  hier  durchaus  an 
gröfseren  Gesichtspunkten,  an  einer  bestimmten  Theorie  des  Lehrplans,  an 
gemütbildenden  Elementen.  Gut  formuliert  ist  jedenfalls  die  Gegenüber- 
stellung von  formal  und  vital  teaching  und  das  Urteil:  formal  teaching 
dulls  feeling  and  deadens  interest;  vital  teaching  arouses  interest,  atvakens 
sympathy  and  warms  the  heart.  Auf  die  planlose  und  unzulängliche  Unter- 
richtsorganisation wird,  wie  bekanntlich  gegenwärtig  in  England  vielfach, 
so  auch  hier  die  Schuld  für  ein  gewisses  Zurückbleiben  Englands  im 
internationalen  Wettbewerb  geschoben.  Spottend  wird  der  'narrotv  ideals' 
gedacht,  von  denen  man  sich  beherrscht  zeige,  spottend  z.  B.  auch  des 
unverhältnismäfsigen  Enthusiasmus,  mit  dem  man  seinerzeit  so  inferiore 
methodische  Erfindungen  wie  die  von  Bell  und  Lancaster  begrüfst  habe. 

Natürlich  schweift  der  Blick  der  Verfasser  unseres  Buches  zwischen- 
durch immer  wieder  hinüber  nach  Deutschland,  nach  den  Vereinigten 
Staaten  und  auch  nach  Frankreich,  nicht  blofs  in  denjenigen  Beiträgen, 
die  ausdrücklich  dem  Schulwesen  dieser  Länder  gewidmet  sind.  Dabei 
tritt  denn  der  bekannte  (in  England  besonders  häufig  zu  beobachtende) 
Zug  hervor,  dafs  man,  um  die  Landsleute  aufzurütteln,  die  Verhältnisse 
des  Auslandes  im  schönsten  Lichte  sieht  und  in  das  schönste  Licht  setzt, 
während  eine  objektive  Beurteilung  keinerlei  solchen  Wertkontrast  ergeben 
würde  und  in  dem  anderen  Lande  gleichzeitig  Schmerzen  genug  gefühlt 
werden.  Richtig  ist  übrigens,  dafs  die  ernste  Pflege  des  Unterrichts-  und 
Bildungswesens  in  Deutschland  eingesetzt  hat  mit  der  Zeit  nationaler  Er- 
niedrigung und  materieller  Kümmerlichkeit,  und  dafs  es  England  immer 
zu  gut  gegangen  ist,  als  dafs  es  sich  in  ähnlicher  Weise  hätte  auf  sich 
selbst  besinnen  müssen.  Ziemlich  richtig  mag  auch  sein,  was  von  der 
Überlegenheit  französischer  Lehrer  an  höheren  Schulen  über  englische  in 
Beziehung  auf  Bildung  und  Können  angedeutet  wird,  wenigstens  wenn 
man  an  die  Kunst  schöner  zusammenhängender  Rede  und  feinsinniger 
Analyse  denkt.  Und  nicht  unrichtig  ist  die  Gegenüberstellung  des  eng- 
lischen Schulzöglings  und  des  deutschen,  wo  es  vom  ersteren  heifst:  The 
English  boy  does  not  love  books  or  lessons  nor  do  his  parents  set  him  the 
example.  The  English  boy  and  young  man  is  the  outcome  of  a  nation  in 
easy  circumstances  —  he  doesn't  worry!  His  parents  do  not  mind  much 
if  he  has  an  easy  Urne  in  his  boyhood  —  'let  htm  run  wild  while  he  is 
young.'  Auch  das  kann  man  nach  eigener  Beobachtung  unterschreiben : 
when  once  the  young  Englishman  takes  to  his  life's  business  con  amore,  he 
displays  a  freshness  and  rigour  ^l^hich  is  seldom  witnessed  in  the  plodding 
young  Germern.  Nur  dafs  dabei,  wie  fast  immer  bei  solchen  Gelegenheiten, 
die  Zahmheit  und  der  subalterne  Gehorsam  und  die  unentwegt  2  willige 
Büffelei  des  deutschen  Gymnasiasten  denn*  doch  sehr  übertrieben  wird. 
Aber  man  mufs  sich  eben  immer  irgendwie  'dafür  'schadlos' halten,  wenn 
man   dem  Ausland   das  Zugeständnis  eines  Vorzugs  gemacht  hat!    Und 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  413 

im  Grunde  ist  dagegen  nicht  einmal  viel  einzuwenden.  Ganz  mit  Recht 
wird  denn  auch  an  einer  anderen  Stelle  der  Wert  des  Ideals,  und  zwar 
des  verwirklichten  Ideals  gerühmt,  das  in  Begriff  und  Erscheinung  des 
yentleman  als  Produkt  englischer  Erziehung  vorhege.  Aber  sehr  weise 
wird  hinzugefügt,  wie  dieses  Bildungsergebnis  doch  an  sich  und  für  die 
Zukunft  keineswegs  genüge. 

Im  ganzen  wird  wieder  und  wieder  als  ein  englischer  Nationalmangel 
die  viel  zu  geringe  Schätzung  der  Bildung  als  solcher,  der  fehlende  'Glaube 
an  Bildung'  oder  an  ihren  Wert  beklagt,  wozu  es  denn  z.  B.  auch  gehört 
und  pafst,  dals  der  zu  geistigem  Arbeiten  sich  nicht  bequemende  Knabe 
und  Jüngling  von  der  Familie  durchaus  in  Ruhe  gelassen  wird.  Es  wird 
aber  auch  auf  die  viel  gröfsere  Zahl  der  wirklich  gebildeten  und  dabei 
einfach  lebenden  Familien  in  Deutschland  mit  einer  gewissen  Beschämung 
hinübergeblickt,  wenigstens  wird  das  Urteil  des  trefflichen  M.  E.  Sadler 
darüber  mit  Beifall  zitiert ;  und  diese  Anerkennung  dürfen  wir  uns  getrost 
gefallen  lassen:  man  vergleiche  nur  in  einem  deutschen  und  in  einem  eng- 
lischen Theater  einerseits  die  Zahl  der  elegant  Gekleideten  und  anderseits 
die  der  in  gebildeter  Weise  Teilnehmenden!  Dafs  die  vielgerühmte  Frei- 
heit des  englischen  boy  zum  Arbeiten  oder  Nichtarbeiten  vielfach  auch  in 
eine  Gleichgültigkeit  der  Männer  gegenüber  idealen  Interessen  auslaufe, 
dieses  hier  anzutreffende  Urteil  wird  man  noch  nicht  leicht  gehört  haben ; 
ihm  beizustimmen  oder  es  zu  bezweifeln  ist  nicht  unsere  Sache.  Ebenso 
mag  die  hier  wiederholt  auftauchende  Klage  über  einen  starken  Rückgang 
wertvollen  Familienlebens  für  uns  zwar  von  Interesse  sein,  darf  uns  aber 
nicht  zu  rasch  zum  Übernehmen  und  zu  etwaigem  Nachsprechen  ver- 
anlassen. 

Und  auch  an  den  vornehmen  Mittelschulen,  den  berühmten  und  den 
kaum  berühmten  public  schools,  wird  ziemlich  schwere  Kritik  unter  mehr 
als  einem  Gesichtspunkt  geübt,  dabei  auch  Klagen  geäufsert,  die  mit  den 
gerade  auch  bei  uns  verbreiteten  Anschauungen  von  dem  Leben  dieser 
Schulen  gar  nicht  zusammenstimmen.  Dals  ihre  Kostspieligkeit  und 
namentlich  auch  die  Kostspieligkeit  der  vorbereitenden  Abteilungen  (pre- 
paratory  schools,  in  welche  die  Knaben  mit  zehn  Jahren  eintreten)  als  ein 
nationaler  Übelstand  betrachtet  wird,  kann  zwar  nicht  sehr  überraschen, 
aber  es  wird  auch  über  unnötige  Entfernung  und  Entfremdung  vom  Fa- 
milienleben geklagt,  und  anderseits  wiederum  wird  bedauert,  dafs  die  Angst 
der  zärtlichen  Mütter  vor  dem  bullying  durch  die  Mitschüler  und  vor  der 
sonstigen  Rauheit  des  Schullebens  auf  dessen  Gestaltung  gegenwärtig  ver- 
weichlichend einwirke.    Man  rühmte  sonst  immer  das  Gegenteil. 

Und  so  sind  es  auch  auf  anderen  Gebieten  Verhältnisse,  die  wir 
Deutschen  sonst  als  uns  eigentümlich  betrachteten,  und  die  hier  aus- 
drücklich auch  für  das  England  der  Gegenwart  festgestellt  und  angefochten 
werden.  So  eine  philologische  Kleinmeisterei  beim  muttersprachlichen 
Unterricht,  so  eine  verspätete  Differenzierung  der  Studien  in  den  höheren 
Schulen  (während  für  den  jungen  Menschen  von  sechzehn  Jahren  auf- 
wärts das  Bedürfnis  einer  gewissen  Wahl  anerkannt  und  berücksichtigt 
werden  mülste),  so  ferner  ein  zu  geringes  Interesse  der  meisten  Lehrer 
für  die  Fragen  der  Hygiene,  weiter  die  zu  grofse  Ermüdung  der  Lehrer, 
die  mehr  freie  Zeit  zu  eigenen  Studien  übrigbehalten  müfsten,  und  end- 
lich auch  die  nicht  wirklich  ausreichenden  Besoldungen. 

Wie  sehr  die  englischen  Universitäten  sich  von  den  deutschen  unter- 
scheiden, weifs  jedermann;  dafs  sie  in  wichtigen  Punkten  sich  auch  sehr 
günstig  von  ihnen  unterscheiden,  leugnet  wahrscheinlich  nur  der  Un- 
wissende. Aber  wie  auch  für  die  Universitätsstudien  die  Zielsetzung  doch 
ins  Schwanken  gekommen  ist  oder  vielmehr  ein  Kampf  um  dieselbe  im 
Lande  sich  abspielt,  kommt  in  unserem  Buche  zu  deutlicher  Darstellung. 
An   die  Namen  Newman   und   Huxley   knüpft  sich   die  Vorstellung  der 


414  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

gegenüberstehenden  Prinzipien.  Nach  dem  ersteren  soll  wesentliches  Ziel 
der  Universitätszeit  die  Charakterbildung  bleiben,  nach  dem  letzteren  die 
Befähigung  für  wissenschaftliche  Arbeit  {the  power  of  winning  new  know- 
ledge).  Dafs  die  Verbindung  beider  Ziele  das  Wünschenswerteste  sei,  ver- 
steht sich  für  den  Verfasser  von  selbst  und  ebensowohl  für  verständige 
Leser  —  nur  dafs,  wenn  man  von  Verbindung  oder  Vermittelung  ent- 
gegenstehender Aufgaben  spricht,  die  Majorität  alsbald  über  Halbheit, 
Unklarheit  oder  gar  Charakterschwäche  zu  schreien  pflegt. 

Im  Vermitteln  zwischen  den  Gegensätzen  müssen  übrigens  gegen- 
wärtig, wie  es  scheint,  alle  englischen  Schriftsteller  über  das  nationale  Er- 
ziehungswesen sich  versuchen,  wenn  sie  die  Frage  berühren,  ob  nicht  eine 
zentrale  Autorität  auch  in  England  sich  unentbehrlich  erweise.  Recht  zu 
bejahen  wagt  es  bis  jetzt  niemand,  um  nicht  den  individualistischen  Nei- 
gungen seiner  Laudsleute  vor  den  Kopf  zu  stofsen  und  darüber  selbst 
niedergetrampelt  zu  werden.  Zentralisation,  bestimmende  Vollmacht  für 
Regierungsbehörden  —  das  sind  dort  im  Lande  höchst  anstöfsige  Begriffe ; 
aber  man  seufzt  doch  und  leidet  unter  der  Zerfahrenheit,  Willkür  oder 
Ziellosigkeit  auf  diesem  Gebiete,  wie  neben  so  manchem  anderen  auch  das 
gegenwärtige  Buch  wieder  beweist.  Ja,  wenn  wir  doch  alles  gute  Eng- 
lische und  alles  gute  Deutsche  mit  einander  vermählen  könnten  und  in 
diesem  Sinne  'das  Böse  überwinden  durch  das  Gute!'  Aber  dergleichen 
kann  nur  Gedanke  der  Denkenden  sein,  es  wird  niemals  der  Wille  und 
die  Leistung  der  Gesamtheit  werden. 

Berlin.  W.  Münch. 

The  making  of  English.  By  Henry  Bradley,  Hon.  M.  A.  Oxon.,  Hon. 
Ph.  D.  Heidelberg,  sometime  President  of  the  Philological  Society. 
London,  Macmillan  and  Co.,  1904.    VIII,  245  S.    4  s.  6  d. 

Schon  lange  nicht  ist  mir  ein  Buch  in  die  Hände  gekommen,  das  ich 
mit  solchem  Vergnügen  gelesen  habe  wie  dieses.  Es  sucht  die  Grundzüge 
der  englischen  Sprachentwicklung  für  die  weiteren  Kreise  der  Gebildeten 
darzustellen.  Vom  Altenglischen  ausgehend,  von  dessen  Sprachbau  Brad- 
ley durch  Verweise  auf  das  Neuhochdeutsche  eine  ungefähre  Vorstellung 
gibt,  führt  er  den  Verfall  der  alten  Flexionssysteme,  das  Aufkommen 
neuer  Hilfsmittel  zum  Ausdruck  grammatischer  Beziehungen,  die  Verände- 
rungen des  Wortschatzes  durch  Entlehnung  und  Neubildung,  die  Arten 
des  Bedeutungswandels  und  schliefslich  im  Anhang  einige  'makers  of 
English'  dem  Leser  vor.  Das  sind  fast  alles  Gegenstände,  die  schon  viel- 
fach behandelt  worden  sind,  auch  für  weitere  Kreise.  Der  besondere  Reiz, 
der  dieser  Darstellung  eigen  ist,  rührt  einmal  daher,  dafs  Bradley  aus 
gründlichster  Sachkenntnis  schöpft,  sorgfältig  und  verständnisvoll  aus 
dem  grofsen  Stoff  das  Treffendste  und  Anschaulichste  auszuwählen  weifs 
und  alles,  was  er  sagt,  anziehend  zu  sagen  versteht.  Er  ist  nicht  blofs 
ein  bedeutender  Gelehrter,  sondern  auch  ein  vorzüglicher  Stilist,  dessen 
klare,  ebenmäfsige  und  dabei  belebte  Darstellung  auch  dem  schon  Be- 
kannten, ja  oft  Gesagten  ein  neues,  gefälliges  Kleid  verleiht.  Ferner  aber 
will  Bradley  nicht  blofs  über  Tatsachen  berichten,  nicht  blofs  die  Ver- 
änderungen der  Sprache  und  deren  Ursachen  darlegen,  sondern  auch  ab- 
schätzen, wie  weit  diese  Veränderungen  der  englischen  Sprache  als  Werk- 
zeug des  Gedanken-  und  Gefühlsausdruckes  zum  Vorteil  oder  zum  Schaden 
gereicht  haben  (S.  14).  Dabei  nun  tritt  ein  feines  Empfinden  für  sprach- 
liche Wirkungen  zutage  und  eine  Objektivität,  die  sehr  wohltuend  von 
der  vielfach  üblichen,  einseitigen  Verherrlichung  des  Englischen  absticht. 

Dies  zeigt  sich  gleich  bei  Besprechung  eines  der  charakteristischsten 
Züge  der  englischen  Spracheutwicklung,  der  Beseitigung  der  Flexions- 
endungen.   Bradley  sieht  darin  natürlich  nicht,   wie  die  ältere  Sprach- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  415 

forschung  zu  tun  geneigt  war,  einen  Verfall  der  Sprache  überhaupt,  son- 
dern weifs  die  Vorteile  des  analytischen  Sprachbaues  sehr  wohl  zu  wür- 
digen. Er  prägt  dafür  einige  glückliche  Wendungen,  die  verdienen,  be- 
sonders angeführt  zu  werden.  Die  Grammatik  des  Neuenglischen,  sagt 
er  S.  77,  'does  not,  as  it  does  in  purely  inflexional  languages,  obtrude 
itself  on  tbe  attention  where  it  is  not  wanted'.  Die  Sprache  habe  den 
eigenartigen  Vorteil  einer  'noiseless  grammatical  machinery'  (eb.).  Aber 
auf  der  anderen  Seite  übersieht  er  nicht  die  Nachteile  dieser  Entwicklung 
und  macht  Aufserungen,  die  ein  Ausländer  nicht  wagen  dürfte,  ohne 
von  den  meisten  Engländern  scharfe  Zurückweisung  zu  erfahren,  die 
allerdings  auch  eine  so  intime  Sprachkenntnis  voraussetzen,  dafs  sie  nur 
im  Munde  eines  Engländers  als  vollwertig  erscheinen  dürften.  Bradley 
gesteht,  dafs  der  englisch  Schreibende  oft  besondere  Sorgfalt  darauf  ver- 
wenden mufs,  um  nicht  in  Zweideutigkeiten  zu  verfallen,  weil  vielfach 
Nomen  und  Verbum  und  bei  diesem  wieder  der  Infinitiv  und  die  meisten 
Präsensformen  äufserlich  nicht  geschieden  sind.  Häufig  müsse  der  Un- 
geübte einen  Satz,  der  seinen  Gedanken  genau  wiedergibt,  ändern,  um 
dieser  Gefahr  zu  entgehen.  Diese  wachse  bei  der  Verwendung  von  In- 
versionen, die,  geschickt  verwendet,  die  Kraft  und  Schönheit  des  Aus- 
druckes so  sehr  steigern:  dann  könne  leicht  Subjekt  und  Objekt  ver- 
wechselt werden.  Besonders  bemerkenswert  ist  aber  das  Geständnis,  dafs 
auch  für  die  Engländer  vieles  in  ihrer  Poesie  beim  ersten  Lesen  dunkel 
ist,  weil  die  Dichter  durch  den  Bau  ihrer  Sprache  gezwungen  waren,  ent- 
weder auf  Durchsichtigkeit  oder  auf  Nachdruck  und  Schönheit  zu  ver- 
zichten. Viele  derartige  Stellen  würden  aber  vollkommen  deutlich,  wenn 
man  sie  wörtlich  ins  Lateinische  oder  Deutsche  übersetze  (S.  75).  Solche 
freimütige  Aufserungen  sind  an  sich  erfreulich  und  wissenschaftlich  von 
hohem  Wert,  weil  sie  eine  Charakteristik  des  tatsächlichen  Sprachzustandes 
enthalten.  Sie  zeigen  ganz  schlagend,  dafs  Jespersen,  obwohl  von  einem 
sehr  richtigen  Grundgedanken  ausgehend,  in  seiner  Verherrlichung  des 
analytischen  Sprachbaues  doch  etwas  zu  weit  gegangen  ist  ('Progress  in 
Language',  London  1894). 

Auch  den  ungeheuren  Wortschatz  des  Englischen  weifs  Bradley  ruhig 
und  unbefangen  zu  würdigen.  Er  hebt  seinen  Umfang  gebührend  hervor, 
aber  er  behält  dabei  im  Auge,  dafs  nicht  ein  Viertel  der  Wörter,  die  in 
den  Wörterbüchern  stehen,  der  grofsen  Masse  gebildeter  Leser  wirklich 
geläufig  sind  ('really  familiär',  S.  105). 

Dafs  alles,  was  Bradley  sagt,  wissenschaftlich  gut  fundiert  ist,  ver- 
steht sich  von  selbst.  Nur  einigen  allgemeinen  Ausführungen  mufs  ich 
die  lebhaftesten  Zweifel  entgegensetzen.  Wir  finden  hier  die  seit  Grimm 
öfter  ausgesprochene  Ansicht  wieder,  dafs  die  rasche  Vereinfachung  der 
ursprünglichen  Flexion  mit  der  in  England  eingetretenen  Rassenmischung 
zusammenhänge:  Bradley  will  in  ihr  wenigstens  eine  Ursache  sehen  und 
bildet  freilich  diese  Lehre  etwas  feiner  aus  (S.  25  ff.).  Er  weist  darauf 
hin,  dafs  für  den  praktischen  Sprachgebrauch  im  Alltagsleben  vielfach  die 
Wortstämme  genügen,  wie  etwa  Engländer  in  Deutschland  leben  und  gut 
durchkommen,  ohne  sich  viel  um  die  Endungen. der  Adjektiv-  und  Sub- 
stantivfiexion  und  des  Artikels  zu  kümmern.  Ahnlich  ungefähr  hätten 
sich  die  Stämme,  welche  in  England  nach  den  Angelsachsen  eindrangen, 
namentlich  die  Dänen,  den  Einheimischen  gegenüber  verhalten;  diese  hätten 
zunächst  im  Gespräch  mit  ihnen  den  Gebrauch  jener  Endungen,  die  den 
Fremdlingen  schwer  fielen,  vermieden,  und  schüefslich  sei  dieser  Brauch 
verallgemeinert  worden.  An  einen  solchen  Vorgang  vermag  ich  nicht  zu 
glauben,  solange  nicht  aus  der  Gegenwart  sichere  Parallelen  beigebracht 
werden.  In  Österreich  gibt  es  viele  Gegenden,  wo  Deutsche  und  Slawen 
nebeneinander  wohnen  und  letztere  das  Deutsch  nur  radebrechen:  von 
einem   Einflufs    dieser  Redeweise   auf  die  Formenlehre   der   betreffenden 


41  (J  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

deutschen  Dialekte  ist  aber  nichts  bekannt.  Auch  an  das  Pidgin-Englisch 
darf  mau  nicht  etwa  denken :  bei  ihm  handelt  es  sich  um  lautliche  Ver- 
änderungen und  Wiedergabe  einer  fremden  inneren  Sprachform  durch  eng- 
lisches Wortmaterial,  keine  Vereinfachung  der  Formenlehre  in  dem  Sinne, 
wie  sie  sich  im  11.  und  12.  Jahrhundert  vollzieht.  Eher  scheinen  sich  ja 
bei  Rassenmischung  lautliche  Tendenzen  zu  übertragen  und  eine  neue 
Färbung  der  Lautgebung  hervorzurufen,  wie  man  abermals  beim  Zusam- 
mentreffen von  Deutschen  und  Slawen  beobachten  kann. 

Dazu  kommt  noch  eine  Erwägung.  Es  ist  eine  bekannte  Tatsache, 
dafs  die  Kinder  von  Eingewanderten  immer  der  ortsüblichen  Sprechweise 
zustreben,  keineswegs  der  ihrer  Eltern,  und  sich  jene  in  der  Regel  voll- 
kommen aneignen.  In  Wien  leben  viele  zugewanderte  Tschechen,  die  mit 
der  deutschen  Formenlehre  und  Syntax  auf  dem  gespanntesten  Fufse 
stehen;  ihre  Kinder  dagegen  sprechen,  wenn  sie  nicht  etwa  künstlich  von 
der  Berührung  mit  Einheimischen  ferngehalten  werden,  den  reinsten  Wie- 
ner Dialekt.  Auch  die  in  England  geborenen  Nachkommen  der  eingewan- 
derten Dänen  werden,  sobald  sie  als  Kinder  überhaupt  Englisch  lernten, 
sich  dieselbe  Sprechweise  wie  die  einheimischen  Kinder  angeeignet  und 
keineswegs  ihre  radebrechenden  Eltern  nachgeahmt  haben.  Allerdings 
lagen  die  Verhältnisse  in  England  insofern  anders,  als  die  Dänen  vielfach 
die  herrschenden  Kreise  bildeten  und  manche  Angelsachsen,  wie  uns  aus- 
drücklich bezeugt  ist,  sie  in  Sitten  und  Gebräuchen  nachahmten.  Dies 
mag  sich  sehr  wohl  auf  die  Sprechweise  ausgedehnt  haben,  so  dafs  ein- 
zelne Angelsachsen  in  der  Tat  das  Radebrechen  der  Dänen  übernahmen. 
Ob  aber  ihre  Anzahl  und  ihre  Bedeutung  grofs  genug  war,  um  die  Masse 
der  Einheimischen  in  ihrer  Sprechweise  dauernd  zu  beeinflussen,  scheint 
mir  doch  sehr  zweifelhaft.  Und  wenn  Bradley  darauf  hinweist,  dafs  gerade 
in  den  von  Dänen  besiedelten  Gebieten  die  Formenabschleifung  am  rasche- 
sten sich  vollzieht,  so  ist  zu  erwidern,  dafs  schon  vor  der  Zeit  der  Dänen- 
niederlassungen die  anglischen  Dialekte  eine  stärkere  Auflösung  der  alten 
Formensysteme  aufweisen  als  das  Westsächsische  und  Kentische  und  da- 
durch die  mittelenglischen  Verhältnisse  hinreichend  erklärt  sind. 

Auf  der  anderen  Seite  ist  auch  zu  erwägen,  dafs  das  Niederdeutsche, 
speziell  das  Friesische,  in  bezug  auf  Formenabschleifung  dem  Englischen 
sehr  nahe  kommt,  während  die  Träger  dieser  Dialekte  am  allerwenigsten 
Rassenmischung  durchgemacht  haben.  Wir  haben  also  gar  keinen  Anlafs, 
diesen  Erklärungsgrund  fürs  Englische  heranzuziehen.  Schließlich  sei 
noch  auf  die  diese  Frage  berührenden  Darlegungen  Hempls !  und  Jesper- 
sens2  verwiesen,  welche  ebenfalls  nicht  zugunsten  Bradleys  sprechen. 

Wie  zwei  Sprachen  aufeinander  wirken,  denkt  er  sich  ferner  aber 
auch  das  Verhältnis  zwischen  zwei  verschiedenen  Dialekten  derselben 
Sprache,  die  in  der  Flexion  nicht  übereinstimmen.  Im  Verkehr  mit  einem 
Vertreter  des  anderen  Dialektes  sei  beim  Sprechenden  ein  gewisses  Zögern, 
eine  Unsicherheit  bezügüch  der  Endungen  entstanden,  und  das  habe  zu 
undeutlicher  Aussprache  und  schliefslich  zum  völligen  Abfall  geführt 
(S  28).  Hier  gelten  dieselben  Einwände  wie  früher  in  noch  höherem 
Mafse.  Ein  solcher  Vorgang  setzt  übrigens  eine  Überlegung  oder  doch 
eine  Feinfühligkeit  und  Rücksichtnahme  auf  Seiten  des  Sprechenden  vor- 
aus, die  nur  einzelnen  eigen,  und  die  im  Verkehr  mit  Laudsleuten  am 
seltensten  sein  wird.  Wieder  möchte  man  Beispiele  aus  der  Gegenwart 
sehen:  ich  glaube,  es  werden  sich  keine  finden. 

Von  Einzelheiten  sei  erwähnt,  dafs  Bradley  öfter  die  'leichtere'  Aus- 
sprache als  Erklärungsgrund  für  das  Siegen  oder  Beharren  gewisser  For- 
men heranzieht  (S.  51  ff.).     Leicht  ist  aber  dem  Sprechenden  immer  das 

1   Transactions  of  the  American  Philological  Association  XXIX  (1898)  31  ff. 
8  Engl.  Studien  XXXV  (1905)  12  ff. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  417 

Gewohnte,  schwer  das  Ungewohnte  (Sievers,  Phon.5  §  726).  Dagegen  wird 
in  den  von  Bradley  angeführten  Fällen  die  Kürze  das  Ausschlaggebende 
gewesen  sein.  Vermifst  habe  ich  einige  Worte  über  das  Aufkommen  der 
Dativumschreibung  mit  to,  nachdem  die  Genetivbildung  mit  of  behandelt 
worden  ist  (S.  59).  Bei  der  Besprechung  des  attributiven  Gebrauches  des 
Substantivs  hätte  der  'level  stress'  mit  Nutzen  herangezogen  werden  kön- 
nen (S.  64).  Alum  (S.  81)  gehört,  wenigstens  nach  dem  Material  des 
NED.  und  unserer  anderen  Behelfe,  nicht  zu  den  Lehnwörtern,  die  die 
Angelsachsen  schon  vom  Kontinent  mitbrachten.  Hat  etwa  Bradley  noch 
nicht  bekannte  Belege  für  das  Gegenteil? 

Das  Buch  ist  sicherlich  geeignet,  allgemein  Gebildete  für  die  Ge- 
schichte des  Englischen  zu  interessieren.  Aber  auch  der  Fachmann  wird 
daraus  mancherlei  Anregung  schöpfen,  insbesondere  aber  der  Studierende 
eine  vorzügliche  Übersicht  über  die  Grundtatsachen  der  englischen  Sprach- 
entwicklung und  viele  ihrer  Probleme  gewinnen.  Für  uns  Nichtengländer 
werden  namentlich  auch  die  vielen  feinsinnigen  Bemerkungen  im  Kapitel 
über  Bedeutungswandel  förderlich  sein.  Feines  Sprachgefühl  und  um- 
fassende Sprachkenntnis  äufsert  sich  ferner  in  den  Bemerkungen  über  die 
Leistungen  der  einzelnen  Autoren  für  die  Sprachentwicklung  (S.  215  ff.) 
oder  auch  in  denjenigen  über  ihr  Verhalten  gegenüber  Kompositionen 
(S.  126  ff.).  Wir  können  uns  freuen,  ein  so  ausgezeichnetes  Büchlein  zu 
besitzen. 

Graz.  K.  Luick. 

Moritz  Trautmann,  Das  Beowulflied,  als  Anhang  das  Finn- Bruch- 
stück und  die  Waldhere  -  Bruchstücke,  bearbeiteter  Text  und  deutsche 
Übersetzung  (Bonner  Beiträge  zur  Anglistik,  Heft  XVI).    Bonn  1904. 

Diese  Beowulfausgabe  verdankt  ihre  Entstehung  der  Überzeugung  des 
Verfassers  (Vorw.  S.  V),  dafs  'die  Handschrift  von  groben  Schreibfehlern 
wimmelt  und  sich  schon  dadurch  als  unzuverlässig  erweist.  Doch,'  heilst 
es  weiter,  'auch  an  sehr  vielen  Stellen,  an  denen  die  Fehler  nicht  sofort 
in  die  Augen  springen,  ist  der  Text  ohne  Zweifel  verderbt.  Der  Beowulf 
ist  ein  klassisches  Werk,  ein  Gipfel  der  Kunst  seiner  Art;  daher  sind  wir, 
wo  wir  auf  schiefen  Ausdruck,  Unklarheit  des  Gedankens,  Widersprüche, 
stilwidrige  Wendungen,  unbelegbare  Satzfügungen  stofsen,  berechtigt  und 
verpflichtet,  fehlerhafte  Überlieferung  zu  vermuten  und  auf  Besserung  zu 
denken.' 

Man  kann  über  die  Prämisse  dieser  Thesen  verschiedener  Ansicht  sein. 
'Gipfel  der  Kunst  seiner  Art'  ist  auf  alle  Fälle  ein  vergleichender 
Ausdruck.  Und  wo  sind  die  verglichenen  Objekte?  —  'Ein  klassisches 
Werk?'  Soll  das  heifsen:  ein  in  sich  vollendetes  Werk?  Dann  dürfen 
wir  das  Wort  auf  den  kompositionell  so  schwachen  Beowulf  gewifs  nicht 
anwenden.  Aber  dem  sei,  wie  ihm  wolle.  'Widersprüche,  stilwidrige  Wen- 
dungen' etc.  dürfen  wir  gewifs  verbessern.  Es  müssen  nur  Widersprüche 
und  stilwidrige  Wendungen  sein.  Denn  dafür  gilt  das  Wort  ten  Brinks: 
'Es  kommt  nicht  darauf  an,  auf  die  bequemste  Art  und  Weise  einen  les- 
baren Text  herzustellen,  sondern  vor  allem  darauf,  der  Überlieferung  einen 
Sinn  abzugewinnen  und  in  den  Prozefs  ihrer  Entstehung  einzudringen.' 
Dafs  Trautmann  das  nicht  für  nötig  hält,  darüber  hat  Sievers,  Beitr.  29, 
S.  307  ff.,  schon  ein  Urteil  gefällt,  das  der  Sache  nach  wohl  nirgends  auf 
Widerspruch  stofsen  wird.  Dafür  bietet  nun  auch  diese  neue  Ausgabe 
Beispiele  über  Beispiele.  Warum  'hiefse  es  den  Dichter  beleidigen,  wenn 
man  annehmen  wollte,  dafs  so  törichte  Einschiebsel  wie  ecg  wces  Iren  von 
ihm  selber  herrührten'?  Strotzt  nicht  z.  B.  auch  das  Nibelungenlied  von 
Parenthesen,  wo  man  es  aufschlägt,  wie  V.  621,  782,  1437,  1501,  1503, 
1625,  1873,  von  denen  manche  nicht  geistreicher  sind  als  die  obige?    Von 

Archiv  i.  n.  Sprachen.     CXV.  27 


418  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

anderen  mhd.  Gedichten  gar  nicht  zu  reden,  wie  König  Rother  (vergl. 
J.  Wiegand,  Stilistische  Untersuchungen  zum  König  Rother,  Marburg  19U4, 
B.  4  Ü'.).  Zu  welch  arger  Mifshandlung  des  Textes  Trautmanns  Ver- 
nichtungskampf gegen  die  Parenthesen  führt,  dafür  gewährt  V.  1509  (he 
Jxrs1  modig  was)  ein  gutes  Beispiel.  Hier  wird  verändert  in:  Swa  he 
ne  mihte  no,  he,  pmm  mynle  wces,  'er,  dem  Verlangen  war'.  Eine 
solche  Konstruktion,  Wiederaufnahme  des  Subjekts  durch  das  Pronomen 
zwecks  Anhängung  eines  Relativsatzes,  ist  für  den  Beowulf  ganz  unerhört 
(vgl.  meine  'Satzverknüpfung  im  Beowulf  §  24—28),  und  ich  zweifle,  ob 
Trautmann  in  den  noch  versprochenen  Erläuterungen  dazu  wird  Parallelen 
beibringen  können.  Ebenso  geht  es  mit  der  Ersetzung  einzelner  Worte 
durch  andere.  Warum  wird  V.  275  dced-hata  durch  dead-seada  ersetzt? 
Wir  haben  dced-beta,  dced-bana,  dced-scua,  und  das  Wort  gibt  vortrefflichen 
Sinn.  Warum  ist  V.  276  purh  egsan  verbessert  in  cefstu?  Man  könnte 
auf  den  Gedanken  kommen,  Trautmann  übersähe,  dafs  purh  auch  zum 
Ausdruck  der  'accompanying  circumstances  of  an  action'  (Bosworth-Toller 
S.  1078)  dient,  wie  Seefahrer  88  u.  ö.  Oder  warum  wird  wcepnum  ge- 
ivurdad  31  in  bewcedad  umgeändert?  Exod.  580  gab  ja  die  schönste  Pa- 
rallele an  die  Hand !  Warum  wird  das  Wort  dol-sceaäan  V.  479  entfernt  ? 
Ist  es  etwa  nicht  genügend  belegt?  (vergl.  B.-T.  206,  207).  Ebenso  liegt 
auf  der  Welt  kein  Grund  vor,  sundor-nytte  V.  667  zu  entfernen,  wir  haben 
ja  entsprechendes  sundor-gecynd,  sundor-gifu,  sundor-ivundor.  V.  711  wird 
uns  von  Grendel  gesagt:  godes  yrre  beer.  Das  ist  ohne  weiteres  verständ- 
lich und  wäre  es  auch,  wenn  wir  die  Parallelen  Genes.  695  und  Phon.  408 
nicht  hätten.  Denn  Grendel  wird  immer  unter  dem  Bilde  des  Teufels 
angeschaut,  weswegen  auch  Trautmann  V.  101  on  helle  nicht  in  on  healle 
zu  verändern  braucht,  godes  ondsaca  heifst  er  V.  1682.  Also  liegt  nicht 
die  leiseste  Veranlassung  vor,  godes  yrre  in  gud-yrre  zu  ändern.  Das- 
selbe gilt  von  deofla  756  (Tr.  deop).  Wozu  wird  V.  323  furdum  in 
furdur  verändert,  wenn  es  V.  2009  stehen  bleibt?  Vgl.  auch  ein  ge- 
legentliches Ic  furdum  ongan  ■=  I  first  began  im  Gudlac.  Warum  on- 
breed  pa  V.  723  in  onbreedde  verändert  wird,  ist  nicht  einzusehen,  vgl. 
V.  1664.  Aber  es  ist  eine  undankbare  Arbeit,  alle  diese  Fälle  aufzufüh- 
ren. Auffallend  sind  auch  gelegentlich  die  Inkonsequenzen  des  Heraus- 
gebers. V.  126U  wird  hinter  Orendles  modor  statt  se  pe  die  Form  seo  pe 
eingesetzt,  aber  V.  1392  und  1394  steht  ganz  munter  wieder  he.  Un- 
begreiflich ist  auch  die  Nichtachtung  der  übrigen  Beowulf-Literatur  durch 
den  Herausgeber.  Dals  zu  V.  31  Kocks  Auffassung  (Anglia  27,  S.  222)  nicht 
angegeben,  liegt  wohl  an  dem  ungefähr  gleichzeitigen.  Erscheinen.2  Aber 
man  kann  nicht  mehr  gut  V.  68  he  einsetzen,  wenn  man  Pogatschers  Auf- 
satz, Anglia  23,  261  ff.,  gelesen  hat.  Wie  man  noch  an  dem  ponne  V.  70 
Anstofs  nehmen  kann,  wenn  man  die  Beispiele  in  Cosijns  Aanteekeningen 
für  diesen  Gebrauch  gesehen  hat,  begreife  ich  ebensowenig.  Ist  Traut- 
mann ferner  die  Bedeutung  von  pa  =.  'weil'  ungeläufig,  dafs  er  201  pa 
in  pe  ändert?  Nach  Neckeis  'altgermanischen  Relativsätzen'  wird  man 
auch  V.  100U  kaum  mehr  für  pe  das  Wort  pa  einsetzen  und  das  peer 
V.  286  nicht  mit  'wo  er'  wiedergeben.  Nach  dem  eben  angeführten  Aufsatz 
von  Pogatscher  wird  man  auch  gut  tun,  1291  pa  hine  wiederherzustellen 
und  nicht  pe  (hine)  lesen.  Das,  was  Trautmann  selbst  BBzA.  II,  S.  169 
über  peet  V.  22  bemerkt  hatte  und  was  von  Kock  in  den  English  Ret. 
Pron.,  Lund  1897,  in   einen  gröfseren  Zusammenhang  eingestellt  war  — 


1  pmm  MS  für  pas  erklärt  sich  aus  irrtümlicher  Vorwegnahme  des  folgenden  m. 

2  Das  von  mir  ('Salzverknüpfung'  §  37  A  Anm.  1)  geltend  gemachte  metrische 
Bedenken  sei  hiermit  als  ein  Versehen  beim  eiligen  Einsetzen  der  Korrekturnote 
berichtigt. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen  419 

vgl.  auch  'Satxverknüpfung'  S.  132  —  hat  er  nun  mittlerweile  glücklich 
wieder  umgestofsen.  V.  649  odde  in  ond  pa  zu  verwandeln,  heifst  der  Be- 
deutung von  oääe,  wie  sie  Bugge  festgestellt  „hat,  einfach  nicht  gerecht 
werden  (vergl.  'Satxverknüpfung'  §  48).  Die  Änderung  von  pcer  in  pcet 
V.  852  rechnet  nicht  damit,  dafs  pcer  auch  =  'als'  sein  kann.  (Ebendort 
S.  55.)  V.  1247  ist  Trautmann  wohl  die  Bedeutung  von  oft  —  as  a  rule 
nicht  gegenwärtig  (vgl.  Kock  a.  a.  O.,  schon  Heyne-Socin  zu  oft  V.  1248 
und  .1888).  Ebenso  das  von  Cosijn  erschlossene  'denn'  für  ae  V.  1576. 
Die  Änderung  in  'swa'  ist  hier  gänzlich  unnötig.  V.  617  verändert  Traut- 
mann blidne  in  blidsan,  aber  ausgelassenes  wesan  finden  wir  häufig  (vgl. 
V.  2661,  1858,  1785,  2363).  —  Das  sind  nur  ganz  wenige  von  den  vielen 
Fällen.  Im  ganzen  kann  man  sagen,  dafs  die  neueren  Emendationen  bei 
Trautmann  ganz  unberücksichtigt  geblieben  sind.  Schlimmer  schon  sind 
nun  die  Fälle,  in  denen  die  'Besserung'  Fehler  enthält.  Wenn  in  para 
pe  das  para  V.  98  gestrichen  wird,  so  ist  das  ein  Verstofs  gegen  den 
Beowulfgebrauch,  in  dem  auf  gehwjle  immer  para  pe  folgt  (vgl.  'Satx- 
verknüpfung' §  27,  einmal  swa).  Durch  die  Besserung  V.  62  wird  ein  ein- 
gegliederter otf-Satz  herausgebracht.  Eingegliederte  od-pcet-S&tze  kommen 
sonst  im  Beowulf  nicht  vor,  einfache  od- Sätze  gleichfalls  nicht  (S.-V. 
§  7).  Das  broc  statt  bot  V.  281  ist  wohl  in  broc  zu  ändern.  Ich  be- 
zweifle auch  die  Möglichkeit  des  Ersatzes  der  alten  Grundtwigschen 
Fassung:  for  were  —  fyhtum  pu  ...  Beowulf  .  . .  usic  sohtest  durch  das 
Trautmannsche:  For  gewyrhtum  . . .,  gewyrht  ist  ein  spezifisch  christliches 
Wort,  mit  dem  auch  fast  immer  der  Begriff  des  Präteritalen  verknüpft  ist, 
es  wird  fast  stets  von  den  (guten)  'Werken'  gebraucht.  Sicher  ist  die 
Änderung  hleoäor  V.  4^7  für  hador  falsch.  Trautmann  übersetzt:  'Ein 
Spielmann  sang  zuweilen  ein  Lied  in  Heorot'.  Aber  hleoäor  heifst  nicht 
'Lied'.  In  Trautmanns  eigenen  BBxA.  IV  gibt  Padelford  dafür:  melody, 
musie,  tone  (voice,  sound,  noise).  Auf  sonitus  weisen  auch  die  germanischen 
Verwandten  des  Wortes.  Am  nächsten  kommt  Widsid  105  der  Bedeu- 
tung 'Lied',  aber  die  anderen  Fälle  zeigen  auch  hier  die  eigentliche  Bedeu- 
tung ganz  klar.  Dem  gegenüber  ist  hador  ganz  ohne  Einwand  (vgl.  Elene 
748  u.  ö.).  ah  587  kommt  sonst  im  Beowulf  nicht  vor.  Für  die  Wort- 
stellung alter  gum-eynnum  gyfheogyt  lyfad  V.  944  würde  Trautmann  gut- 
tun, einige  Parallelen  beizubringen.  Der  Vorschlag  'ond  statt  acV  V.  1448 
erledigt  sich  durch  das  S.-V.  S.  92,  Z.  3  v.  u.  bemerkte.  V.  1537  ist  statt 
eaxle  Riegers  Änderung  feaoce  aufgenommen.  Aber  jemanden  an  den  Haaren 
schwingen,  dafs  er  zu  Boden  fällt?  Da  eignet  sich  doch  wohl  die  Achsel 
zum  Ringen  besser.  —  Manchmal  schläft  freilich  auch  der  gute  Homer, 
aber  die  Sentenz  V.  2029  Deah  seldan  wcer  cefter  leod-hryre  'ein  Friede- 
vertrag taugt  selten  nach  Menschenfall'  ist  doch  wohl  zu  albern,  als  dafs 
wir  sie  dem  Beowulf  zutrauen  könnten.  Gibt  es  auch  in  jener  Zeit  einen 
Friedensvertrag  ohne  'Menschenfali'?  Zu  dem  Vorschlag  seo  pe  pone 
gomelan  V.  2421  ist  zu  bemerken,  dafs  im  Beowulf  niemals  eine  Form 
von  se  pe  mit  einer  Form  von  se  unmittelbar  zusammentritt,  diese  Wort- 
folge vielmehr  offenbar  gemieden  wird  (einmal  tritt  sepe  und  pes  zu- 
sammen in  V.  2252,  parape  pis  lif  ofgeaf).  Ich  glaube,  den  Euphuismus 
feoht-leas  gefeoht  'kampfloser  Kampf  trauen  wir  dem  Angelsachsen  besser 
nicht  zu,  V.  2441.  Die  Besserung  V.  -777  bill  cefter  gestread  wird  schon 
durch  die  Erzählung  selbst  als  unrichtig  dargetan.  V.  280U  ist  nuna 
eine  sonst  dem  Beowulf  unbekannte  Form.  Zu  dem  Vorschlag  'nu  statt 
ac'  V.  2850  ist  zu  beachten,  dafs  nu  im  Beowulf  noch  ausschliefst  ich 
in  der  Rede  erscheint  im  direkten  Bezug  auf  die  Gegenwart  (vgl.  S.-V. 
§  2).  Warum  die  Lesart  ymb  wean  sprecan  V.  3172  (statt  ymb  teer  spre- 
ean)  nicht  richtig  sein  kann,  dafür  hoffe  ich  die  Gründe  in  einem  in  Vor- 
bereitung befindlichen  Aufsatz  über  das  angelsächsische  Totenklagelied 
darzutun.    Ebendort  hoffe  ich  das  'ridend  swefad'  von  V.  2457  zu  erklären, 

27* 


420  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

für  das  Trautmann  redende  swefeä  einsetzt.  Bei  V.  2215  ist  freilich  der 
Text  arg  zerstört,  aber  darin  stimmen  doch  alle  Berichte  über  die  Hs. 
überein,  dafs  man  noch  ein  d  sehen  kann  (vergl.  Heyne-Socin,7  S.  107). 
Trautmanns  Emendation  der  Stelle  kümmert  sich  nicht  darum. 

Mit  der  Aufführung  dieser  Tatsachen,  die  nur  ein  kleiner  Bruchteil, 
vielleicht  kaum  ein  Zehntel  der  Fälle  sind,  die  angeführt  werden  könnten, 
mufs  ich  befürchten,  von  Trautmann  in  die  Klasse  derer  eingereiht  zu 
werden,  die  'mit  gänzlicher,  textkritischer  Unfruchtbarkeit  geschlagen' 
sind,  wobei  ich  mich  denn  wenigstens  in  ganz  guter  Gesellschaft  befinde. 
Auch  der  Hinweis  auf  einige  von  mir  in  der  'Satzverknüpfung'  versuchte 
Besserungsvorschläge  würde  mir  da  wohl  wenig  helfen.  Nun  ist  es  ja 
aber  freilich  nicht  zu  leugnen,  dafs  im  Beowulf  eine  ganze  Reihe  Stellen 
anders  zu  lesen  oder  zu  übersetzen  sind.  Das  wiht  unhcelo  bei  Socin  V.  120 
ist  z.  B.  offenbar  falsch  mit  'Dämon  des  Verderbens'  als  Subjekt  des 
folgenden  Satzes  gefafst.  Aber  für  Trautmanns  Fassung :  Wiht  onhcele 
scheint  mir  noch  weniger  zu  sprechen  (=  der  unheimliche  Wicht).  Wiht 
wird  überhaupt  von  Grendel  nie  gebraucht.  Man  hat  offenbar  das  Ganze 
als  Variation  zu  sorge  zu  ziehen,  =  'irgendein  Unheil'.  So  liest, 
wie  ich  nachträglich  sehe,  schon  Bosworth- Toller  1118  und  gibt  eine 
Fülle  Beispiele  für  wiht  mit  Genit.  Der  nach  Sievers  'allein  möglichen 
Übersetzung'  von  his  myne  169  scheint  mir  doch  die  von  Bosworth- 
Toller:  his  purpose  vorzuziehen.  Kaum  diskutabel  dünkt  mich  aber 
V.  513  wehton  statt  ßehton.  Das  letztere  ist  anschaulicher,  das  erstere 
scheint  mir  dem  ags.  Sprachgebrauch  zu  widersprechen,  der  weccan  = 
agitare,  movere  nur  gebraucht,  wo  das  Bild  wirklich  am  Platze  ist,  von 
Regenschauer,  Sturm,  Wind  usw.  Trautmanns  Auffassung  von  V.  068 
eoton  weard  abad  ist  vielleicht  die  einfachste  Lösung  der  Schwierigkeit. 
Seine  Besserung  des  vielbesprochenen  here-wcesmun  677  in  here-wcepnum 
ist  dagegen  nur  möglich,  wenn  wir  'nicht  schwächer'  als  sehr  kühne 
Litotes  =  'stärker'  auffassen.  Die  Wiederherstellung  der  alten  Greinschen 
Fassung  scyn-seaäa  V.  707  findet  auch  Edward  Schröders  Beifall  (vgl. 
Z.  f.  d.  A.  43,  361  ff).  Durchaus  diskutabel  erscheint  mir  auch  Traut- 
manns Auffassung  von  soäe  gebunden  V.  871,  vor  das  er  einen  Punkt 
setzt.  Die  bisherige  Auffassung  davon:  'in  guten  alliterierenden  Versen' 
(S.  144  bei  Heyne-Socin)  ist  etwas  fantastisch.  V.  723  hätte  bemerkt 
werden  müssen,  dals  die  Ergänzung  schon  von  Zupitza  herrührt.  Die 
Änderung  wigum  Scyldinga  statt  winum  Scyldinga  V.  1418  ist  wohl  eine 
wirkliche  Verbesserung  (vgl.  die  anderen  Fälle  von  wine  mit  Gen.  PI.). 
V.  2252  bin  ich  mit  der  Socinschen  Auffassung,  die  auf  den  himmlischen 
Saaljubel  geht,  auch  nicht  einverstanden.  Aber  Trautmann  ändert  zu 
radikal  gesawon  in  {ge)secga  um.  Ob  wir  an  eine  Übernahme  des  nega- 
tiven Begriffes  aus  dem  vorhergehenden  Satz  zu  denken  haben?  Feh- 
lende Negation  im  Beowulf  ist  öfters  auffällig,  so  V.  649.  V.  2336 
heifst:  Hirn  fices  guä-cyning,  Wedera  pioden,  wrcece  leornode,  Trautmann 
setzt  dafür  leanode:  'lohnte  mit  Strafe'.  Er  knüpft  dabei  an,  die  Be- 
deutung von  lean  —  Vergeltung  an.  Aber  mir  kommt  diese  Anderuug 
unnötig  vor.  Freilich,  die  bisherige  Auffassung:  'der  Kampfkönig  ersann 
sich  dafür  Rache'  (Socin  S.  220)  erscheint  mir  gleichfalls  unrichtig.  Die 
Sache  liegt  vielmehr  so :  die  Begriffe  'lernen'  und  'lehren'  unterliegen  seit 
alter  Zeit  einer  Verwechselung,  die  durch  die  enge  Verwandtschaft  beider 
hervorgerufen  wird.  Das  Dänische,  Schwedische,  Holländische,  Nieder- 
deutsche kennen  ja  überhaupt  nur  'lehren'  für  beide  Begriffe.  Für  die 
deutsche  Sprache  wird  die  Verwechselung  'lernen'  für  'lehren'  als  'schon 
seit  alters'  bestehend  angegeben  {Grimmsches  Wbrterb.  Sp.  768).  Und  wenn 
leornian  in  der  Bedeutung  Ho  teach'  erst  me.  auftaucht,  wie  im  Cursor 
Mundi  19028,  Orm.  19613,  so  ist  das  nur  ein  neuer  interessanter  Beweis 
dafür,   wie  wenig  eigentlich  volkstümliches    Sprachgut  aus  ae.  Zeit  uns 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  421 

überliefert  ist.  An  dieser  Stelle,  Beowulf  2836,  aber  haben  wir  es  offenbar 
mit  hornian  =  'lehren*  zu  tun.  'Er  lehrte  ihn  Rache',  wie  ne.  vulgär  Ho 
learn  him  a  lesson',  nhd.  in  bösem  Sinne:  'jemand  etwas  beibringen'. 
Anderseits  ist  Socins  'ersann  sich  dafür  Rache'  mit  leornian  =  excogitare 
völlig  ohne  Parallelen.  Ebenso  natürlich  Greins  Auffassung  von  him  =  ei. 
leornian  im  gewöhnlichen  Sinne  heifst  nur  Ho  leam,  to  study,  to  read'. 
Mit  Trautmann  bin  ich  ferner  der  Meinung,  dafs  wir  in  V.  2657  ßcet  nceron 
eald-gewyrht  ursprünglich  eine  andere  Fassung  anzunehmen  haben,  eald- 
gewyrht  kommt  sonst  einmal  von  Adams  Taten  vor  (Kr.  100),  es  pafst 
hier  schwerlich.  Vielleicht  haben  wir  an  der  Stelle  ein  ursprünglich  heid- 
nische Begriffe  widerspiegelndes  Wort  eald-wyrda  anzunehmen  (fata  = 
wyrde„  heifst  es  in  den  Glossen). 

Über  die  deutsche  Übersetzung  Trautmanns  läfst  sich  nicht  viel  Rüh- 
mendes sagen.  'Enttragen',  'Halsgebettin',  'Fifelgeschlecht', 
'Gegenzeit',  'unkle'in',  'Gelfworte',  'eine  Fahrt  ziehen',  'die 
Kampf  platze',  'Leutemänner',  'W  ehverf  ügung',  'Handmörder', 
'unge8Ündigtes  Verbrechen',  'des  Kampffürsten  Handarbeit', 
alles  das  ist  kein  Deutsch.  Das  cefter  symle  V.  1008  gibt  Trautmann 
durch:  'nach  der  Lust'  wieder.  Auch  Socin  fafst  es  merkwürdigerweise 
so  auf  (S.  266).  Es  ist  aber  offenbar  sowohl  symle  als  cefter  Adverbium, 
und  die  Stelle  heifst:  'beständig  nachher'  wie  symble  ece  Ps.  110,  2  und 
a  symle  Hy.  4,  114.  2077  lag  heifst  nicht  'lag',  sondern  'fiel'.  Sind  Apfel- 
schimmel 'apfelgelb'?  (V.  2165).  Noch  vieles  derart  liefse  sich  anführen. 
Und  schliefslich  könnte  man  die  Frage  erörtern,  ob  eine  Übersetzung 
neben  dem  Text  zweckdienlich  ist.  Für  den  Angelsächsisch  lernenden  und 
lesenden  Studenten  doch  wohl  sicher  nicht.  Denn  lernen  kann  man  eine 
tote  Sprache  nur  durch  Nachschlagen  der  Worte  im  Lexikon.  Die  neben- 
stehende Übersetzung  wird  immer  dazu  verleiten,  ein  solches  Nachschlagen 
zu  unterlassen.  Aber  auch  all  der  anderen  angeführten  Mängel  halber 
ist  diese  Beowulfausgabe  für  den  Gebrauch  des  Studenten  m.  E.  wenig 
zu  empfehlen. 

Göttingen.  Levin  Ludwig  Schücking. 

Levin  Ludwig  Schücking,  Beowulfs  Rückkehr,  eine  kritische  Studie 
(Studien  zur  englischen  Philologie,  herausgeg.  von  Lorenz  Morsbach, 
XXI).    Halle,  Niemeyer,  1905.     74  S. 

Schücking  packt  das  vielumstrittene  Problem  der  Beowulf- Entstehung 
an  einem  Zipfel,  der  in  der  Mitte  herausguckt:  an  der  Doppelerzählung 
des  Grendelkampfes.  Die  zweite  Fassung,  wie  sie  Beowulf  selbst  nach 
der  Heimkehr  dem  König  Hygelac  vorträgt,  ist  ihm  'langweilig'  und  von 
vornherein  verdächtig  als  ein  schlechter  Kitt,  mit  dem  die  Grendelgeschichte 
und  die  Drachengeschichte  von  einem  dritten  aneinandergesetzt  wurden 
(S.  11).  Sie  sei  'erstaunlich',  besonders  weil  sie  erst  von  einer  Handtasche 
des  Grendel  berichtet,  um  überwältigte  Männer  hineinzustecken,  während 
der  Dichter  selbst  in  der  ersten  Fassung  davon  nichts  verriet.  Über- 
haupt sei  eine  Ausmalung  von  Beowulfs  Heimkehr  unerwartet,  weil  seine 
Heimat  früher  nur  flüchtig  berührt  wurde;  'namentlich  knüpft  nichts  an 
ein  vorher  gegebenes  Moment  an ;  die  einzige  auf  ein  Geschehnis  vor  der 
Abreise  Beowulfs  gehende  Aufserung,  die  des  Hygelac,  dafs  er  dem  Beo- 
wulf stets  abgeraten  habe,  verträgt  sich  . . .  sogar  mit  dem  vorhergehen- 
den schlecht  (V.  204)'.  Auf  Grund  dieser  Inhalts-  und  Kompositions- 
verhältnisse schied  Schücking  V.  1888 — 2200,  d.  h.  alles,  was  zwischen 
dem  Abschied  Beowulfs  von  Hrothgar  und  dem  Anfange  der  Drachen- 
geschichte liegt,  aus  und  suchte  dann  nach  syntaktischen,  metrischen, 
stilistischen  Eigentum lichkeiten  dieser  Partie,  um  sie  als  'späteren  Zusatz' 
zu  erweisen,  wobei  er  mit  rühmlichem  Fleifs  und  nicht  ohne  Vorsicht  zu 


422  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Werke  ging.  Dann  aber  wagte  er  noch  einige  kühne  Schritte.  Unter 
Hinweis  darauf,  dafs  die  Formel  siääan  mrest  =  'sobald  als'  nur  in 
B(eowulfs)  R(ückkehr)  und  in  der  Einleitung  V.  6  erscheint,  schliefst  er 
auf  Beziehungen  zwischen  den  beiden  Partien,  und,  da  sie  beide  'kompo- 
sitionell  höchst  bedenklich'  seien,  auf  gleiche  Verfasserschaft  (S.  72).  Da 
ferner  in  BR  zwei  Ausnahmen  im  Tempus-  und  Modusgebrauch  (gegen  die 
consecutio  temporum  1928  und  die  Vorschrift  des  Opt.  nach  ar  2019) 
vorkommen  und  in  einem  historischen  Exkurs  der  Drachengeschichte  2496 
eine  dritte  (gegen  die  consec.  temp.),  so  wird  auch  letzteres  Stück  dem 
oben  erschlossenen  Nachdichter  zugewiesen,  zumal  es  einen  der  seltenen 
Fälle  von  'pa  an  zweiter  Stelle  des  Satzes'  mit  BR  teilt  (S.  73).  Einige 
andere  historische  Abweichungen  gehen  mit  in  den  Handel.  Es  wird  also 
für  die  ursprünglich  separaten  Epen  von  Beowulf-Grendel  und  Beowulf- 
Drache  ein  Eiuleiter,  Verbinder  und  Interpolator  aufgestellt,  ohne  An- 
spruch auf  vollständige  Herausschälung  seines  Anteils. 

Zu  dieser  nicht  wesentlich  neuen,  aber  neuartig  formulierten  Hypo- 
these ist  Schücking  offenbar  gelangt,  weil  er  anläfslich  seiner  Studie  über 
die  Satzverknüpfung  in  Beowulf,  Halle  1904,  mancherlei  Ungleichmäfsig- 
keit  im  Gebrauch  der  Konjunktionen  bemerkt  hatte.  Die  Sprachbeobach- 
tung ging  voran;  sie  lieferte  bisher  ungebrauchte  Argumente;  mit  ihr  hat 
daher  auch  die  Kritik  einzusetzen. 

Was  Schücking  als  Sprachabsonderlichkeiten  in  BR  bezeichnet,  zer- 
fällt in  zwei  Klassen:  in  'Waisen',  d.  h.  ganz  vereinzelt  auftretende  For- 
meln und  Fügungen,  und  in  Häufigkeitsstufen.  Bei  den  Waisen  kann 
der  Zufall  eine  grofse  Rolle  spielen;  Schücking  gibt  dies  selbst  zu  und 
belegt  es  durch  interessante  Zusammenstellungen  (S.  55);  ich  möchte  daher 
auf  dies  Kriterium  nicht  zu  viel  geben,  besonders  solange  die  ae.  Syntax 
der  erschöpfenden  Durchforschung  und  Sichtung  noch  sehr  entbehrt. 
Schücking,  der  sie  gewifs  gut  kennt,  stöfst  sich  z.  B.  an  ein  paar  Ver- 
letzungen der  consec.  temp.,  obwohl  es  deren  auch  sonst  in  ae.  Autoren 
manche  gibt;  ein  Fall  ist  aus  dem  poetischen  Guthlac  bekannt  {ncenig 
wces  . . .  pces  georn,  pcet  he  bibugan  mcege  837,  vgl.  M.  Furkert,  1889,  S.  14); 
ein  anderer  aus  den  Blickling-Homilien  (L.  Kellner,  Engl,  synt.,  1892,  S.  231), 
mehrere  aus  Alfred  (htm  sealdest  geniht  hwcetes  . . .  peak  hi  his  de  ne  dan- 
cien,  Wülfing  Ia  150  u.  ö.).  Er  verzeichnet  es  als  eine  'Verletzung  der 
für  das  Got.  Ahd.  Mhd.  As.  geltenden  Regel',  dafs  unterordnendes  cer  ein- 
mal mit  Indikativ  erscheint,  und  doch  belegt  es  Wülfing  II a  116  f.  aus 
Sachsenchronik,  Wulfstan  und  mehrfach  aus  Alfred.  Wir  haben  es  da 
wohl  eher  mit  stilistischen  Nuancen  als  mit  syntaktischen  Abnormitäten 
zu  tun.  Schücking  selbst  wollte  sicherlich  seinem  im  allgemeinen  recht 
gewandten  Nachdichter  nicht  geradezu  Sprachschnitzer  vorwerfen.  —  Um 
ferner  seine  Behandlung  der  Häufigkeitsstufen  bei  gewöhnlichen  Wörtern 
nachzuprüfen,  gehe  ich  auf  das  ein,  was  er  S.  57  f.  über  ond  als  Einfüh- 
rungskonjunktion für  ein  neues  Subjekt  sagt.  Nach  seiner  'Satzverk. 
im  B.'  S.  82  erscheint  solches  ond  nur  an  folgenden  Stellen :  280,  393, 
690,  808,  924?,  1090,  1108,  1154,  1193,  1194,  1237,  1554,  1591,  1850,  1858, 
2066,  2100,  2105,  2139,  2203,  2388,  2449.  Dafs  vier  von  diesen  Stellen 
in  BR  fallen,  findet  Schücking  sehr  hoch.  Obige  Liste  zeigt  aber,  dafs 
sie  überhaupt  gern  gruppenweise  auftreten.  Gleiches  ergibt  sich  aus  einem 
Verzeichnis  derselben  onrf-Fälle  im  Andreas:  283  (346  gleiches  Subjekt 
wiederholt),  371,  399,  896  (1187  Subj.  wiederh.),  1193,  1203,  1224,  1280 
(1414  Subj.  wiederh.),  1635,  1644,  1719.  Die  kursiv  gedruckten  Zahlen  be- 
ziehen sich  auf  Reden;  in  erregter  Rede  oder  Beschreibung  oder  beim 
Übergang  von  Erzählung  zu  direkter  Rede  steht  solches  ond  am  liebsten ; 
ich  möchte  es  daher  als  ein  Stilmittel  ansehen,  das  an  lebhafterer  Stim- 
mung hängt,  nicht  als  ein  Autorenkriterium,  das  an  einer  Person  haftet. 
Ähnliches   gilt   von    der   Häufigkeit   der   Gegensatzpartikeln;    Schücking 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  423 

findet  sie  wieder  in  BR  beachtenswert  (S.  58);  die  Erklärung  traf  er  selbst: 
der  gröfste  Teil  von  BR  ist  Rede,  und  wenn  der  Held  selbst  seine  Aben- 
teuer vorträgt,  ist  der  Stil  natürlich  wärmer,  als  wenn  sie  blofs  der  Epiker 
erzählt.  —  Anderes  Scheidungsmaterial  sprachlicher  und  auch  metrischer 
Art  hat  bereits  Schücking  nachgeprüft  und  als  schwach  dargetan;  es  be- 
hält Wert,  obwohl  in  anderer,  stilgeschichtlicher  Richtung. 

Die  sachlichen  Argumente  Schückings  gründen  minder  tief.  Ob  es 
Zuhörern  des  7.-8.  Jahrhunderts  wirklich  langweilig  wurde,  den  Grendel- 
kampf zweimal  zu  hören,  namentlich  wenn  neue  Züge  bei  der  zweiten 
Fassung  hinzukamen,  kann  man  bezweifeln;  die  Versuchungen  des  hl.  Guth- 
lac  wiederholen  sich  kaum  weniger,  und  in  der  afrz.  Epik  ist  bekanntlich 
die  Wiederholungsstrophe  ein  beliebter  Schmuck.  Dafs  wir  auf  die  Hei- 
mat des  Helden  von  BR  fast  nicht  vorbereitet  seien,  möchte  ich  angesichts 
der  mannigfachen  Erwähnungen  Hygelacs  im  Grendelteil  nicht  unter- 
schreiben; mehr  darüber  zu  sagen,  bevor  sie  zum  Schauplatz  wurde,  hätte 
kaum  der  altepischen  Kompositionsweise  entsprochen.  Die  Abgrenzung 
von  BR,  wie  sie  Schücking  vornimmt  (1880 — 2200),  ist  bedenklich,  insofern 
schon  vorher  der  Besuch  bei  Hygelac  ausdrücklich  angekündigt  wird  (we 
fundiad  Higelac  secan  1820  f.),  und  insofern  kurz  darauf  an  Hygelac  er- 
innert wird  (syädan  Hygelac  leeg  2202);  doch  fordert  die  Gerechtigkeit, 
beizufügen,  dafs  Schücking  seine  Grenzlinie  wenigstens  nicht  als  absolut 
sicher  hinstellt.  Warum  der  Verfasser  von  BR  aufser  dem  Grendelkampf 
auch  schon  den  Drachenkampf  vor  Augen  gehabt  haben  soll,  ist  bei 
Schücking,  soweit  ich  sehe,  gar  nicht  begründet;  war  BR  eine  Nachdich- 
tung, so  brauchte  sie  lediglich  zur  Abrundung  des  Grendelteils  zu  dienen. 
Hätte  endlich  gerade  dieser  Nachdichter  die  Einleitung  zum  Ganzen 
vorangestellt,  so  wäre  er  darin  wohl  eher  auf  den  ihm  vertrauten  Hygelac 
zu  [sprechen  gekommen  als  auf  die  Dänen.  Im  sachlichen  Teil  hat  es 
sich  Schücking  entschieden  leichter  gemacht. 

Es  war  das  Unglück  des  Büchleins,  dafs  Schücking  bei  der  Darstel- 
lung von  der  etwas  raschen  Deutung  einer  sachlichen  Besonderheit  aus- 
ging, um  sie  durch  formelle  Besonderheiten  zu  stützen.  Wäre  er  auf  dem 
Wege  geblieben,  den  er  beim  Forschen  befolgte,  so  hätte  er  eine  voll- 
ständigere und  geordnetere  Sammlung  der  syntaktischen  Schwankungen 
im  Beowulf  bekommen  und  sich  dann  vor  der  Frage  gefunden,  wie  sie 
zu  erklären  seien:  ob  durch  Verschiedenheit  des  Stoffes  oder  der  Stim- 
mung oder  des  Autors?  Unbefangenes  Urteil  wäre  schwerlich  auf  die 
letztere  Deutung  geraten. 

Berlin.  A.  B ran  dl. 

Theodor  Eichhoff,  Die  beiden  ältesten  Ausgaben  von  Romeo  and 
Juliet.  Eine  vergleichende  Prüfung  ihres  Inhalts.  (Unser  Shake- 
speare, IV.)     Halle  a.  S.,  Max  Niemeyer,  1904.    278  S.     M.  7. 

Die  Shakspere-Forschung  hat  bisher  ganz  falsche  Bahnen  eingeschla- 
gen; die  Wege,  die  sie  ging,  konnten  nicht  zu  sicheren,  positiven  Ergeb- 
nissen führen,  und  so  stehen  wir  noch  heute,  nach  300  Jahren,  vor  einer 
Fülle  ungelöster .Shakspere-Rätsel.  Das  ist  die  neue  Entdeckung.  Doch 
nur  Mut!  Der  Ödipus,  der  diese  Sphinx  nun  endgültig  stürzen  wird,  ist 
erschienen:  er  heifst  Theodor  Eichhoff  und  hat  soeben  den  vierten  Band 
seiner  Publikation  'Unser  Shakespeare'  herausgebracht. 

Das  Ziel  des  Verfassers  ist,  zu  beweisen,  dafs  nicht  die  zweite,  mit 
der  Folio  wesentlich  übereinstimmende  Quarto  von  'Romeo  and  Juliet' 
(1599)  den  echten  Shakespereschen  Text  darstelle,  dafs  dieser  vielmehr  in 
der  ersten  Quarto  (1597)  vorliege,  welche  Ausgabe  bisher  entweder  als  ein 
früherer  Entwurf  des  Dichters  oder  als  eine  buchhändlerische  Raubausgabe 
angesehen,  in  jedem  Falle  der  Quarto  von  1599  nachgestellt  wurde.  Eich- 


424  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

hoff  dagegen  behauptet,  dafs  Q.,  eine  von  einem  unfähigen  Korrektor  vor- 
genommene Ballhornisierung  des  echten  'Romeo'  sei,  der  uns  in  Q,  vor- 
liege. 'Nur  die  älteste  Ausgabe  ist  gut,  nur  die  älteste  ist  ein  Kunst- 
werk'. Das  Stück  sollte  daber,  das  ist  Eichhoffs  Forderung,  nur  in  dieser 
Ausgabe  genossen  werden,  sowohl  im  Theater  wie  bei  der  Lektüre. 

Es  gibt  zwei  Wege  von  sehr  verschiedener  Art,  um  derartige  Aufgaben 
zu  lösen.  1)  Unter  weitester  Heranziehung  aller  Werke  Shaksperes,  auch 
der  Poems,  des  Dichters  ästhetisches  und  sittliches  Empfinden  kennen  zu 
lernen  und  dann,  auf  Grund  des  erlangten  Wissens,  an  die  Beantwortung 
der  Frage  zu  gehen,  ob  die  Abweichungen  in  der  späteren  Fassung  von 
dem  Dichter  herrühren  können,  oder  ob  sie  als  unvereinbar  abzuweisen 
sind.  Das  beste  Hilfsmittel  zum  Verständnis  eines  Kunstwerkes  sind  eben 
die  anderen  Werke  des  Künstlers.  Der  Weg  führt  oft  zu  schönen  Resul- 
taten,  wie  Loenings  prächtiges  Buch  über  'Hamlet'  beweist.  —  2)  Der  an- 
dere Weg  ist  billiger.  Man  nimmt  das  betreffende  Kunstwerk,  verzeichnet 
die  nicht  zusagenden  Stellen  und  zieht  gegen  sie  los  mit  Schärfe,  Schnei- 
digkeit, vor  allem  mit  Sicherheit;  je  lauter  man  donnert,  desto  mehr 
Gläubige  findet  man.  Bei  Kontroversen,  Disputationen  bekam  nur  zu  oft 
derjenige  Recht,  der  'am  lautesten  schrie'. 

Den  ersten  Weg  geht  Eichhoff  nicht;  das  ist  ja  die  antiquierte,  zu 
ganz  unsicheren  Resultaten  führende  Heerstrafse,  von  der  schleunigste 
Umkehr  geboten  ist.  Wir  sollen  endlich  aufhören,  zu  fragen,  was  eigent- 
lich von  Shakspere  stamme,  sondern  gleich  daran  gehen,  den  Schönheits- 
gehalt der  Werke  Shaksperes  (sie!)  zu  untersuchen.  'Wir  können  viel 
wissenschaftlicher  sein,  wenn  wir  die  Schönheit,  als  wenn  wir  die  Richtig- 
keit der  Texte  erforschen,'  denn  'Wissenschaft  ist  Begründung'. 

Und  wie  begründet  Eichhoff?  Nun  gar  nicht;  er  zieht  gegen  die 
ihm  mifsliebigen  Stellen  zu  Felde,  wobei  er  sich  die  Rolle  eines  ästheti- 
schen Papstes  gibt,  und  in  dem  stolzen  Gefühl  der  Unfehlbarkeit  fällt  er 
sein  Urteil.  Ausdrücke  wie  'abgeschmackt,  possenhafte  Parodie,  lächer- 
lich, unglaubliche  Albernheit',  ironische  Seitenbemerkungen  ('der  Korrektor 
ist  immer  korrekt')  nehmen  einen  bevorzugten  Platz  in  Eichhoffs  Vokabel- 
schatz ein.  Wenn  im  allgemeinen  Bücher  unter  einer  solchen  Sprache 
leiden,  so  ist  bei  dem  vorliegenden  Buche  das  Gegenteil  der  Fall;  die 
Harmonie  zwischen  dem  Inhalt  und  der  Form  kann  einem  Werke  nur 
von  Nutzen  sein. 

Es  fällt  mir  nicht  ein,  gegen  die  Eichhoffsche  Methode  zu  Felde  zu 
ziehen ;  eine  Methode,  die  solche  Blüten  zeitigt,  richtet  sich  von  selbst. 
Ob  sie,  grob  aber  deutlich,  als  Unfug  abgewiesen  oder,  ein  wenig  milder, 
unter  die  krankhaften  Auswüchse  gerechnet  wird,  die  jede  Wissenschaft 
begleiten  und  also  auch  der  Shakspere-Forschung  nicht  fehlen,  bleibt  sich 
schliefslich  gleich.  Dagegen  kann  ich  mich  der  Verpfüchtung  nicht  ganz 
entziehen,  Eichhoff  mit  seinen  eigenen  Waffen  anzugehen.  Es  ist  merk- 
würdig, zu  sehen,  wie  dieser  Prediger  des  schrankenlosen  Subjektivismus 
alle  Augenblicke  gegen  sein  eigenes  System  anrennt.  Wenn  er  (Bd.  I, 
S.  11)  die  Herausgeber  der  Qlobe- Edition  scharf  tadelt,  dafs  'sie  in  einer 
so  unerhörten  Weise  die  Freiheit  ihrer  Mitmenschen  vergewaltigen,  indem 
sie  dieselben  einfach  zwingen,  die  Bürgschaft,  die  ihnen  genügend  war, 
gleichfalls  als  hinreichend  anzuerkennen',  so  möchte  ich  doch  den  Ver- 
fasser fragen,  ob  er  es  mit  seinen  Mitmenschen  anders  macht?  Weil  ihm 
die  Bürgschaft  seines  ästhetischen  Urteils  genügt,  Q,  zu  verdammen,  so 
mutet  er  uns  zu,  'Homeo'  künftig  in  der  Fassung  von  Q,  zu  geniefsen ! 
Die  Globe-Editors  werden  wegen  einer  gleichen,  nur  besser  fundierten  Zu- 
mutung verurteilt.  Ist  dem  Autor  sodann  nicht  ein  einziges  Mal  zum 
Bewufstsein  gekommen,  mit  welch  ungeheurer  Anmafsung  er  zu  Gericht 
sitzt,  zwar  nicht  über  Shakspere  (denn  er  hat  sich  ja  einen  Korrektor  als 
Zielscheibe  konstruiert),   wohl  aber  über.^  das  Schönheitsempfinden  dreier 


Beurteilungen  un  i  kurze  Anzeigen.  425 

Jahrhunderte,  die  sich  an  'Romeo  and  JulieV  begeistert  haben  und  zwar 
in  der  von  Eichhoff  als  kein  Kunstwerk  geschmähten  Fassung?  Sollte 
das  Urteil  dieser  drei  Jahrhunderte  nicht  das  eines  einzelnen  in  Frage 
stellen?  Wollte  sich  Eichhoff  aber  nicht  fügen,  so  blieb  es  ihm  unbe- 
nommen, sich  in  Shakspere  hineinzulesen,  wie  es  ihm  pafste,  sich  'das 
Fremde  zu  amalgamieren'.  Das  war  sein  gutes  Recht;  unser  gutes  Recht 
aber  wahren  wir  uns,  indem  wir  gegen  die  Zumutung  protestieren,  dieses 
Eichhoffsche  Amalgam  als  neue  Offenbarung  anzunehmen. 

Es  ist  mifslich,  Proben  aus  einem  Werke  zu  geben,  das  auf  jeder 
Seite  zur  schärfsten  Kritik  herausfordert.  Wifsbegierigen  sei  hier  wenig- 
stens der  Glanzpunkt  verraten  (S.  15  ff.):  es  ist  die  Betrachtung  des 
Monologes  der  Juliet  vor  ihrer  Hochzeitsnacht  (III,  2),  jenes  herrlichen, 
trotz  der  glutvollen  Sprache  so  keuschen  Epithalamiums.  Was  sich  der 
Verfasser  hier  leistet,  ist  bodenlos;  die  Sprache,  deren  er  sich  bedient, 
derart,  dafs  ich  keine  Parallele  für  sie  in  der  Shakspere-Literatur  kenne 
—  aufser  in  den  Eichhoff  sehen  Büchern  (vgl.  S.  28,  73  u.  a.). 

Der  Verfasser  hat  in  zwei  Jahren  vier  Bände  seiner  Publikation 
herausgebracht,  eine  quantitativ  ganz  tüchtige  Leistung.  Um  so  mehr 
kann  er  es  jetzt  des  grausamen  Spiels  genug  sein  lassen.  Nicht  nur  die 
Shakspere-Forschung,  sondern  jeder  geistig  gesunde  Leser  lehnt  sein  Werk 
durchaus  ab.  Sollte  Eichhoff  gleichwohl  seine  Tätigkeit  in  der  begon- 
nenen Weise  fortsetzen,  so  möge  er  wenigstens  den  Gesamttitel  seiner 
Publikation  ändern ;  'unser  Skakspere'  ist  das  nicht. 

Berlin.  Ernst  Kroger. 

George  Masons  Grammaire  Angloise  nach  den  Drucken  von  1622 
und  1633  herausgegeben  von  Rudolf  Brotanek.  Halle,  Nie- 
meyer, 1905  (Neudrucke  frühneuenglischer  Grammatiken,  herausgeg. 
von  R.  Brotanek,  Heft  I).    LH,  118  S. 

Vorliegendes  Heft  eröffnet  eine  Serie  von  Neudrucken  englischer  Or- 
thoepisten,  die  mit  zu  den  gröfsten  Desideraten  unserer  heutigen  Wissen- 
schaft gehören,  und  verdient  schon  deshalb  groi'se  Anerkennung.  Es  gibt 
einen  bis  auf  sämtliche  Druckfehler  des  Textes  und  der  Paginierung  ge- 
treuen Abdruck  des  Originals,  die  Varianten  der  zweiten  Auflage  und  eine 
wertvolle  Einleitung,  die  den  Verfasser  zu  charakterisieren  und  seine  Laut- 
werte zu  ermitteln  sucht.  Stellenweise  ist  dies  nur  möglich  durch  ein- 
gehende Untersuchungen  der  gleichzeitigen  französischen  Aussprache  und 
vermittelst  Hypothesen,  die  trotz  alles  eindringenden  Scharfsinnes  des 
Herausgebers  nicht  immer  überzeugend  sind  —  auch  kaum  überzeugen 
können,  weil  seinem  Autor  die  nötige  Sicherheit  und  Konsequenz  in  der 
Aussprachebezeichnung  fehlt.  Mason  bedient  sich  eines  Längezeichens, 
aber  ohne  Folgerichtigkeit,  den  aus  me.  1  entstandenen  Diphthongen  tran- 
skribiert er  teils  durch  ei,  teils  behält  er  die  überlieferte  Schreibung  bei, 
und  wo  er  für  denselben  verschiedene  Aussprachen  gibt,  ist  es  meist  un- 
möglich, einen  inneren  Grund  für  die  Abgrenzung  beider  Lautungen  zu 
finden ;  er  wird  daher  stets  zu  den  untergeordneten  Quellen  für  die  Sprache 
des  17.  Jahrhunderts  gehören.  Immerhin  ist  er  bemerkenswert  als  einer 
der  fortschrittlichen  Grammatiker,  der  ohne  gelehrten  Konservatismus  das 
Gehörte  wiederzugeben  strebt;  unter  seinen  Ansätzen  fällt  z.  B.  auf  die 
Gleichung  engl,  au  =  frz.  a,  die  der  Herausgeber  mit  Recht  dahin  inter- 
pretiert, dafs  in  Wörtern  wie  draw,  Laurence  ein  ä-artiger  Mittellaut  zwi- 
schen me.  und  ne.  Lautstande  zu  hören  war  (S.  XV).  Auch  die  Annahme 
einer  Monophthongierung  von  gu  zu  ö  wird  schon  für  diese  Zeit  dadurch 
gesichert,  dafs  Mason  dem  Vokal  in  blow,  soul,  shoiv  den  Wert  des 
frz.  au  [o]  zuspricht  (S.  XXXVII).  Unter  diesen  Umständen  will  es  mir 
wenig  einleuchten,  dafs  Mason  für  das  me.  ü  noch  einen  Monophthong, 


426  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

höchstens  mit  zweigipfliger  Aussprache,  gehört  haben  soll.  Seine  Tran- 
skription \ham<]  für  ne.  how  sucht  Brotanek  allerdings  auch  für  ü  [vgl. 
frz.  aoust,  raouler]  in  Anspruch  zu  nehmen.  Aber  es  wäre  doch  sehr  auf- 
fällig, dafs  ein  sonst  so  fortschrittlicher  Grammatiker  hier  eine  Aussprache 
ignoriert  haben  sollte,  die  schon  für  Tyndal  [hawe  <  ae.  hü,  nawe  <  ml, 
Sopps  Marburger  Diss.  1889,  S.  29],  ja  sogar  für  die  Paston  Letters  ge- 
sichert ist  [withaiight,  abaught  für  -üt- ;  vgl.  Anglia  XXIII  368].  Ob  nicht 
Mason  eine  der  verschiedenen  Zwischenstufen  zwischen  dem  me.  und  dem 
ne.  Laut  [Sweet,  HES  §  826]  gehört  haben  dürfte,  den  er  nicht  genauer 
wiederzugeben  in  der  Lage  war,  für  den  er  dann  meist  die  übliche  Ortho- 
graphie beibehielt  und  nur  einmal  zu  einem  —  für  die  damalige  Zeit  wohl 
auch  noch  nicht  ganz  zutreffenden  —  a  -f  ou  entgleiste?  Dafs  er  nicht 
immer  imstande  war,  zu  beschreiben,  was  er  hörte,  geht  z.  B.  deutlich 
hervor  aus  seiner  summarisch  einfachen  Angabe  für  den  Anlaut  in  knaue, 
Unit,  knot,  kmickle:  'devant  n  il  [k]  est  un  peu  plus  difficile!' 

Nicht  ganz  klar,  aber  bemerkenswert  sind  seine  Angaben  über  'il, 
(S.  XXXVIII),  die  bereits  auf  eine  starke  Modifikation  des  me.  Lautes  deu- 
ten, und  schwierig  ist  ebenfalls  die  Beschreibung  des  me.  f  (geschrieben  ea), 
hinter  der  Brotanek  wohl  mit  Recht  die  Luicksche  'Abstumpfung'  jenes 
Lautes  vermutet  (S.  XXI)  —  nur  dürfte  Mason  seine  Ausspracheregel 
wohl  nach  einigen,  auch  sonst  mit  Abstumpfung  belegten  wenigen  Dialekt- 
wörtern gebildet  und  sie  dann  in  übertriebener  Weise  verallgemeinert 
haben.  Interessant  sind  ferner  seine  Transkriptionen  für  ne.  sir,  girdle, 
fürst,  shirt,  in  denen  die  ne.  /--Modifikation  [aa]  bereits  deutlich  erscheint 
(S.  XXVI).  Nur  ist  der  Herausgeber  im  Irrtum,  wenn  er  darin  den 
frühesten  Beleg  für  diesen  Vokalwandel  sieht,  und  wenn  er  meint,  er 
müsse  sich  bei  i  früher  entwickelt  haben  als  bei  den  anderen  Lauten.  Eine 
Modifikation  des  me.  u  legen  nahe  die  Schreibungen  der  Paston  Letters 
herte  und  retemed  (Anglia  XXIII  360) ;  die  gleiche  Erscheinung-  zeigen  für 
me.  i  ebd.  sur,  urke  (Neumann,  Marburger  Studien  VII  S.  66,  68),  mög- 
licherweise deuten  auch  die  Schreibungen  mit  ee  für  me.  e  -f-  r  auf  eine 
quantitative  Veränderung  des  e  (ebd.  S.  83,  §  102),  die  mit  dem  quali- 
tativen Lautwandel  e  >  aa  Hand  in  Hand  gegangen  sein  wird.  Auch  sonst 
hätten  sich  die  Schreibungen  des  15.  Jahrhunderts  für  die  Chronologie 
der  von  den  Orthoepisten  aufgedeckten  Lautvorgänge  verwerten  lassen. 
Das  au  <  a  -4-  11,  welches  erst  seit  Tindal  (Brotanek  XVI)  auftreten  soll, 
ist  schon  vierzig  Jahre  früher  bezeugt  (Anglia  XXIII  184) ;  noch  viel 
früher  erscheint  f  <  /  [ne.  enough],  das  Brotanek  S.  XLVIII  erst  seit 
1568  belegt,  es  ist  im  15.  Jahrhundert  häufig,  vielleicht  schon  für  das 
Früh-Me.  anzunehmen  (ebd.  S.  467). 

Masons  Ansatz  für  cough  mit  einem  p  im  Auslaut,  den  Brotanek  für 
eine  akustische  Täuschung  hält,  ist  wohl  möglich;  wenigstens  zeigen  ne. 
Dialekte  kqup  —  cough  (Anglia  XXIII  467);  auch  ne.  dial.  fleip  'Flöhe' 
aus  ae.  *fleaha  (Wright,  Engl.  Dial.  Or.  §  359)  wird  hierher  zu  stellen  sein. 

Posen.  Wilhelm  Dibelius. 

Engelskt  uttal  af  C.  J.  M.  Fant,  Lektor  vid  Västeräs  högre  allmänna 
läroverk.  Stockholm,  P.  A.  Norstedt  &  Söners  Förlag,  190*.  37  S. 
Preis  60  öre. 

Zweck  des  vorliegenden  Schriftchens  ist,  nicht  nur  vorgeschritteneren 
Schülern  an  den  Gymnasien  und  anderen  damit  zu  vergleichenden  Lehr- 
anstalten, sondern  auch  Universitätsstudenten  und  Gymnasiallehrern  eine 
übersichtliche  Darstellung  wichtiger  Fragen  der  englischen  Lautlehre  in 
populärer  Form  zu  geben.  Besonders  hervorgehoben  werden  die  lokalen 
Verschiedenheiten  der  Aussprache  (namentlich  diejenigen  zwischen  Northern 
und  Southern  Enghsh).     Diesen  Auseinandersetzungen  schliefst  sich  öfter 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  427 

eine  Diskussion  der  bei  dem  Unterricht  vorzuziehenden  Aussprache  an. 
Der  Verfasser  bekämpft  die  wenigstens  in  Schweden  nicht  seltene  Neigung 
der  Lehrer,  Eigentümlichkeiten  der  englischen  Aussprache  zu  übertreiben ; 
dies  gilt  seiner  Meinung  nach  besonders  für  die  diphthongische  Aussprache 
von  e  und  o",  der  er  entschieden  eine  monophthongische  Aussprache  vor- 
ziehen will.  Er  beruft  sich  dabei  auf  eine  Aufserung  von  Sweet,  der  in 
seinen  Vorlesungen  (University  Extension  Meeting,  Oxford  1897)  —  denen 
auch  Referent  beiwohnte  —  einmal  Ausländer  vor  der  diphthongischen 
Aussprache  warnte,  da  'foreigners  exaggerate',  und  eine  monophthongische 
Aussprache  höchstens  als  eine  schottische  Eigentümlichkeit  aufgefafst 
werden  würde,  während  eine  mifslungene  Diphthongierung  entschieden 
den  Ausländer  gleich  verraten  würde.  Hiermit  vergleicht  er  eine  Stelle 
in  dem  Websterschen  Wörterbuche:  'The  vanish  comes  out  more  clearly 
in  some  syllables  than  in  others.  It  is  not  used  in  the  Scottish  dialect; 
and  it  is  not  apt  to  be  given  by  people  of  foreign  birth  and  training.' 
Auch  anderswo  hält  es  der  Verfasser  für  empfehlenswert,  von  zwei  oder 
mehreren  Aussprachen,  die  als  gut  englisch  betrachtet  werden  können, 
diejenige  vorzuziehen,  die  den  Schülern  am  besten  mundgerecht  wird. 
Daraus  folgt  also,  dafs  man  der  gebildeten  Aussprache  eines  gewissen  Ge- 
bietes nicht  in  allen  Details  zu  folgen  braucht,  sondern  dafs  man  aus 
praktischen  und  anderen  Rücksichten  sehr  gut  sich  auch  Eigentümlich- 
keiten anderer  Gebiete  —  wenn  sie  nur  als  gut  englisch  anerkannt  sind  — 
aneignen  darf.  Ich  will  nicht  auf  die  Frage  eingehen,  ob  nun  eine  solche 
eklektische  Anschauungsweise  mit  allen  ihren  Konsequenzen  wirklich  in 
abstracto  zu  billigen  ist.  Die  konkreten  Fälle,  die  vom  Verfasser  ange- 
führt werden,  sind  aber  kaum  ernsthaft  zu  beanstanden.  Meiner  Ansicht 
nach  mufs  jedoch  jeder  tüchtige  Lehrer  zuerst  wenigstens  versuchen,  seinen 
Schülern  die  beste  englische  Aussprache  ('that  which  gives  the  fewest 
signs  of  locality')  beizubringen. 

Auf  Einzelheiten  der  Arbeit  kann  ich  nicht  eingehen.  Nur  mufs  ich 
es  als  auffallend  bezeichnen,  dafs  Verfasser  die  Aussprache  der  Gebildeten 
in  einem  gewissen  Gebiete  'den  Dialekt  dieses  Gebietes'  öfters  nennt  (so 
z.  B.  S.  7). 

Die  phonetische  Literatur  der  letzten  Zeit,  auch  die  in  zahlreichen 
Zeitschriften  zerstreuten  Einzeldarstellungen,  hat  der  Verfasser  sich  mit 
grofsem  Fleifse  zunutze  gemacht. 

Das  in  schwedischer  Sprache  geschriebene  Büchlein  wird  wohl  aufser- 
halb  der  skandinavischen  Länder  kaum  einen  Leserkreis  finden.  Es  macht 
keinen  Anspruch  darauf,  neues  Material  zu  liefern;  aber  wertvoll  wird 
das  Buch  besonders  durch  die  Zusammenstellungen  einiger  der  letzten 
Resultate  der  englischen  Phonetik.  Somit  wird  die  Arbeit  für  die  Kreise, 
für  welche  sie  bestimmt  ist,  hoffentlich  doch  von  Nutzen  sein. 

Hellebeek  (Dänemark).  Erik  Björkman. 

Lehrbuch  der  englischen  Sprache  für  Realschulen  von  "Wilhelm 
Swoboda,  Prof.  an  der  Landes-Oberrealschule  in  Graz.  1.  Teil:  Ele- 
mentarbuch der  englischen  Sprache  für  Realschulen;  geb.  2  K  20  h 
(M.  1,85).  —  2.  Teil:  English  Reader  (Lehr-  und  Lesebuch  für  die 
6.  Klasse);  geb.  3  K  60  h  (M.  3).  —  K.  Teil:  Literary  Reader  (Lehr- 
und  Lesebuch  für  die  7.  Klasse);  geb.  3  K  60  h  (M.  3).  —  4.  Teil: 
Schulgrammatik  der  modernen  englischen  Sprache;  geb.  3  K  40  h 
M.  2,80).  —  Wien  und  Leipzig,  Franz  Deuticke,  U>05. 

Der  1.  Teil  dieses  Werkes,  der  die  Elemente  der  englischen  Gram- 
matik enthält,  schliefst  sich  in  seinem  Lehrgange  der  Art  und  Weise  an, 
die  ein  Lehrer  befolgt,  dem  nichts  anderes  als  liesestücke  zur  Verfügung 
stehen.    Der  kann  nicht  immer  ein  bestimmtes  System  streng  innehalten. 


428  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Er  mufs  manches  berücksichtigen,  das  nicht  in  sein  Hauptkapitel  gehört, 
die  Themata  durchkreuzen  sich,  statt  aufeinander  zu  folgen,  und  die  Dar- 
stellung zeigt  eine  gewisse  Unordnung.  Aber  nur  äufserlich;  denn  Ord- 
nung und  System  liegen  in  dem  Lehrenden  fest  begründet.  Er  kann  sie 
jeden  Augenblick  auch  nach  aufsen  hin  kenntlich  machen.  Darum  schadet 
die  Abschweifung  vom  Systematischen  kaum.  —  Anders  nimmt  sich  dies 
Verfahren  in  gedruckter  Grammatik  aus.  Die  gestörte  Ordnung  ist  hier 
nicht  so  leicht  wie  dort  zu  retablieren,  da  auch  in  ihr  Methode  liegt,  der 
der  Lehrer  folgen  mufs,  wenn  er  vom  Leichten  zum  Wenigerleichten  und 
Schweren  Schritt  für  Schritt  weitergehen  will.  Die  Basis  des  1.  Teiles 
dieser  Grammatik  ist  ein  pele-mele,  das  besonders  störend  dem  Schüler 
werden  muls.  (Man  vergleiche  §  8 :  Persönliche  Fürwörter,  §9:  Geschlecht 
des  Substantivs,  §  10 — 12  handeln  vom  Veib,  §  13:  Possessivpronomen, 
$  14:  Adjektiv;  dann  folgen  wieder  Verb,  Pronomen,  und  in  diesem  Durch- 
einander geht  es  fort.)  Allerdings  findet  sich  die  hier  fehlende  höhere 
Ordnung  im  4.  Teil  des  Werkes ;  aber  den  bekommt  der  Elementar-Anglist 
nicht  in  die  Hand,  und  er  versteht  ihn  auch  noch  nicht.  So  bleibt  ein 
Eest  zu  tragen  peinlich.  Wer  sich  aber  einmal  mit  dieser  sehr  natür- 
lichen Darstellungsweise  abgefunden  hat,  wird  sich  auch  weiter  mit  dem 
Buche  befreunden. 

Einer  allgemeinen  Forderung  dürfte  diese  Schulgrammatik  mehr  als 
andere  gerecht  werden.  Sie  wählt  die  Stoffe  ihrer  Übungsstücke  aus  dem 
alltäglichen  englischen  Leben,  wobei  sie  vom  Schulleben  ausgeht  und  den 
Schüler  in  ein  Milieu  versetzt,  an  das  er  gewöhnt  ist.  Das  Bild  eines 
class-room  trägt  zur  Orientierung  bei,  wenn  auch  nicht  alles  darauf  ist, 
was,  nach  Aussage  des  Lesestückes,  darauf  zu  sehen  wäre.  Zugleich  wird 
der  Schüler  genötigt,  sich  möglichst  bald  der  englischen  Sprache  zu  be- 
dienen. Er  mufs  das  Datum  einsetzen ;  am  Schlufs  der  Lesestücke  erfolgen 
kurze  Fragen  und  Anmerkungen  in  englischer  Sprache,  im  Anschlufs  an 
die  grammatische  Regel  stehen  englische  Sätze,  in  die  er  das  Wesentliche 
selbst  einzufügen  hat,  die  Zahl  der  Anmerkungen  wird  stetig  geringer,  so 
dafs  er  das  Wörterbuch  (S.  140  ff.)  zu  Eate  ziehen  mufs,  Aufzählung  von 
Synonymen  mit  ihren  Unterschieden  fördern  das  Eindringen  in  den  Geist 
der  Sprache.  Bei  so  konsequentem  Festhalten  am  Milieu  lassen  sich 
familiäre  Wörter  und  Aussprache  nicht  immer  vermeiden;  mit  anstelligen 
Schülern  wird  man  darauf  eingehen  können,  anderenfalls  mufs  man  sich 
mit  dem  Notwendigsten  bescheiden.  Die  Regeln  genügen  in  kurzer  Fas- 
sung durchaus  dem  Verständnis.  'The  Do  -  Infinitive  -  Construction  in 
Questions'  (I,  §  2S)  ist  allerdings  wenig  übersichtlich  behandelt.  Die  Aus- 
sprachelehre geht  praktisch  von  englischen  Wörtern  aus,  die  auch  dem 
Deutschen  geläufig  sind  {spieen,  strike,  down,  . . .).  Hier  mufs  der  Lehrer 
das  Beste  tun.  Dem  Nachschlagebedürfnis  der  Schüler  genügt  sie.  Löb- 
lich ist  der  Hinweis  auf  die  einzelnen  Lautarten  und  das  Bestreben,  den 
Schüler  an  ihre  Unterscheidung  zu  gewöhnen. 

Diese  elementar  gehaltenen  Regeln  des  1.  Teils  finden  ihre  Ergänzung 
im  4.  Teil,  der  mit  Kenntnis  und  Sorgfalt  zusammengestellt  ist.  Ein- 
gehender als  in  Schulgrammatiken  üblich,  wird  die  Stellung  der  Adverbien 
berücksichtigt  (S.  'M — 37),  woran  sich  die  ausführliche  Darlegung  der 
Mittel  knüpft,  durch  die  ein  Satzteil  im  Englischen  hervorgehoben  wird. 
Bei  der  Ausführlichkeit  dieser  Grammatik,  die  sogar  die  Interpunktions- 
lehre eingehend  bespricht  (§  406 — 409)  und  dem  Komma  ein  besonderes 
Übungsstück  widmet  (S.  202),  hat  es  mich  gewundert,  dafs  nicht  auch  ein 
Abrifs  der  englischen  Metrik  seine  Stelle  gefunden  hat.  —  Druckfehler 
habe  ich  bemerkt  in  IV,  S.  23,  Z.  6  v.  o.:  'Stellung  und  die  der  Wörter' 
statt:  und  die  Stellung  der  Wörter,  in  I,  S.  105,  Z.  7  v.  u. :  'tsee'  statt:  tsea. 

Wenn  der  1.  Teil  im  wesentlichen  in  englisches  Schulleben  einzuführen 
sucht,  so  wollen  der  2.  und  der  3.  Teil  eine  Vorstellung  von  dem  ge- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  429 

samten  Kultur-  und  Geistesleben  Englands  geben.  Auf  die  Geographie 
der  Britischen  Inseln  folgt  die  der  Hauptstadt  angeschlossen  an  'A  Irip 
on  the  Thames',  die  Beschreibung  ihrer  Sehenswürdigkeiten  und  Verkehrs- 
mittel, von  Spielen,  Keisen  in  England  und  seinen  Kolonien  etc.,  unter- 
mischt mit  passenden  Gedichten,  erläutert  durch  Anmerkungen,  Wörter- 
buch, Illustrationen,  eine  Karte  von  Grofsbritannien  und  London,  kurz 
eine  so  reiche  Stoffülle,  dafs  Lehrer  und  Schüler,  wohin  sie  auch  greifen 
mögen,  sicher  sind,  ein  volles,  interessantes  Völkerleben  zu  packen.  Dieser 
Teil  enthält  auch  deutsche  Stücke  zur  Übertragung  ins  Englische. 

Teil  3  ist  eine  englische  Chrestomathie,  die,  von  der  Neuzeit  aus- 
gehend, den  Schüler  bis  in  die  Zeit  des  Beowulf  zurückführt  und  ihm  an 
der  Hand  ihrer  Hauptvertreter  eine  Vorstellung  des  jeweiligen  Standes 
der  englischen  Sprache  und  Literatur  zu  verschaffen  sucht.  Die  Epochen 
Chaucers,  König  Alfreds  und  des  Beowulfdichters  sind  wenigstens  in  Cha- 
rakteristiken vertreten.  Eine  'History  of  the  English  Language'  schliefst 
den  Teil  ab.  Jedem  Bruchstück  eines  gröfseren  Literaturwerkes  gehen 
Bemerkungen  voran,  welche  die  Exposition  enthalten.  Auch  hier  tragen 
Bilder,  Karte,  Noten  in  englischer  Sprache  —  wie  im  2.  Teil  —  und 
Wörterbuch  zum  Verständnis  der  Dichtungen  bei.  Diese  Chrestomathie 
bildet  einen  organischen  Teil  des  gesamten  'Lehrbuches',  das  ohne  sie  un- 
vollständig wäre.  Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  betrachtet  darf  sie  auch 
vor  dem  ausgesprochenen  Gegner  der  Chrestomathien  unangefochten  pas- 
sieren. —  Alles  in  allem  ist  diese  englische  Grammatik  ein  Werk,  das 
ebensoviel  fachmännische  Kenntnis  wie  liebevolle  Hingabe  an  den  Gegen- 
stand bekundet,  und  das  ich  für  würdig  halte,  einem  Schüler  in  die  Hand 
zu  geben.  Ein  Bedenken  habe  ich:  der  für  ein  Schulbuch  sehr  hohe  Preis 
—  der  Gesamtpreis  beläuft  sich  auf  mehr  als  10  Mark  —  dürfte  seine 
Einführung  oft  erschweren,  wenn  nicht  unmöglich  machen. 

Willi   Splettstöfser. 

R.  Hall,  Lehrbuch  der  englischen  Sprache.  Für;  Mädchenschulen 
bearbeitet  in  zwei  Teilen.  Frankfurt  a.  M.,  Carl  Jügels  Verlag  (Moritz 
Abendroth).    I.  Teil,  2.  Aufl.   1904;   IL  Teil,  1.  Aufl.   1905. 

Diese  Grammatik  läfst  im  Anfang  dem  Lehrer  ausgedehnten  Spiel- 
raum. Mit  ihrer  Vorschrift,  die  ersten  zwanzig  Stunden  bei  geschlossenen 
Büchern  zu  unterrichten,  weist  sie  ihn  auf  sich  selbst  und  gibt  ihm  nur 
die  Anleitung.  Teil  I  führt  die  would-be  English  girls  an  der  Hand  von 
Sprichwörtern,  Lebensregeln,  kleinen  Gedichten,  Rätseln,  Gesprächen  spie- 
lend in  die  Sprache  ein  und  ist  für  den  Anfang  nicht  übel,  wenn  auch 
das  englische  Milieu  nicht  stark  hervortritt.  Auf  denselben  kindlichen 
Ton  ist  aber  auch  der  IL  Teil  gestimmt,  der  in  höheren  Klassen  zur  Ver- 
wendung kommen  soll.  Riddles,  Proverbs,  Tricks  (II,  S.  122),  Games: 
Making  words  (II,  S.  144),  Making  Utile  words  from  long  ones  (II,  S.  145)  etc. 
nehmen  auch  hier  einen  breiten  Kaum  ein.  Da  das  Buch  für  Mädchen 
bestimmt  ist,  sind  Stücke  wie  die  folgenden  wohl  am  Platze:  II,  §  69: 
Shops,  S  70:  Shopping  for  Christmas  (At  the  linen-draper's),  ij  79:  Three 
Cookery  Receipts  (1.  Piain  sweet  omelette,  2.  Macaroons,  3.  Apple  Pie).  Neben 
ihnen  aber  und  anderen  von  allgemeinem  Interesse  ( Woods,  Animals,  Plants, 
Death  of  Socrates  etc.)  kommen  Stücke  von  typisch  englischem  Gehalt  nur 
wenig  zur  Geltung.  Englischer  Geist  spricht  nicht  aus  diesem  Werk.  Es  ist 
klar  und  sorgfältig  durchgearbeitet,  und  so  mag  es  seinen  Zweck  erfüllen. 

Willi   Splettstöfser. 

W.  Sattler,  Deutsch-Englisches  Sachwörterbuch.  Leipzig,  Kengersche 
Buchhandlung  (Gebhardt  &  Wilisch),  1905. 

Nachdem  ich  die  Vollendung  des  stattlichen  Werkes  von  Sattler  vor 
kurzem  berichtet,  kann  ich  jetzt  bereits  das  Erscheinen  des  von  dem  Autor 


430  Beurteilungen  uud  kurze  Anzeigen. 

damals  in  Aussicht  gestellten  Verzeichnisses  der  englischen  Wör- 
ter melden  (Lieferung  12).  Letzteres  bedeutet  eine  wertvolle  Beigabe,  die 
auch  unter  der  angelsächsischen  Lehrerwelt  geschätzt  werden  wird.  Das 
Verzeichnis  umfafst  89  Seiten  von  je  vier  Kolumnen.  Seine  sorgfältigen 
Verweise  werden  dem  Lehrer  des  Englischen  wesentliche  Dienste  leisten. 
Sattler  hat  Wort  gehalten,  und  auch  hierdurch  hat  er  Anspruch  auf  un- 
sere Dankbarkeit.  Sein  Werk  sei  der  Fachwelt  bestens  empfohlen. 
Tübingen.  W.  Franz. 

Aus  romanischen  Sprachen  und  Literaturen.  Festschrift  Heinrich 
Morf  zur  Feier  seiner  fünfundzwanzigjährigen  Lehrtätigkeit  von  seinen 
Schülern  dargebracht.     Halle  a.  S.,  M.  Niemeyer,  1.905.     427  S. 

Wie  sehr  dieser  Band,  den  freundliches  Gedenken  mir  widmet,  mich 
mit  Freude  und  Stolz  erfüllt,  das  habe  ich  in  dem  Kreise,  aus  dem  er 
hervorgegangen  ist,  diesen  Sommer  mündlich  auszusprechen  unvergeßliche 
Gelegenheit  gehabt.  Meine  damaligen  Worte  des  Dankes  glaube  ich  nicht 
besser  bestätigen  zu  können  als  dadurch,  dafs  ich  als  aufmerksamer  Leser 
hier  über  den  Inhalt  des  Buches  selbst  referiere  und  damit  dem  Beispiel 
folge,  das  zuerst,  wenn  ich  nicht  irre,  Gaston  Paris  gegeben,  und  für 
welches  ich  an  dieser  Stelle  mich  besonders  auf  Adolf  Tobler  berufen 
kann  (vergl.  Archiv  XCV,  198;  OXV,  238).  Ich  möchte  von  den  14  Bei- 
trägen, die  der  Band  umschliefst,  hier  sagen,  worin  sie  nach  meiner  Mei- 
nung unsere  Erkenntnis  fördern.  Es  ist  keiner  darunter,  dem  ich  nicht 
für  viele  Anregung  und  Belehrung  dankbar  zu  sein  hätte.  Dafs  diese 
Anerkennung  gelegentlichen  Zweifei  und  Widerspruch  nicht  ausschliefst, 
ist  natürlich,  und  ebenso  natürlich  mul's  es  den  Freunden,  die  sich  hier 
zu  einer  gemeinsamen  Gabe  zusammengetan  haben,  erscheinen,  dafs  ich 
diese  Zweifel  äufsere  und  diesem  Widerspruch  Ausdruck  gebe,  wo  er  mir 
fruchtbar  zu  sein  scheint  — -  denn  sie  wissen  wohl,  dafs  es  sich  dabei 
nicht  darum  handelt,  dafs  der  Referent  recht  behält,  sondern  dafs  aus 
Rede  und  Gegenrede  gesicherte  neue  Erkenntnis  erwachse. 

Die  Beiträge  umfassen  ältere  und  neuere  französische  Literatur  (7), 
sie  verfolgen  laut-  und  formengeschichtliche  Probleme  innerhalb  einzelner 
lebender  Mundarten  oder  über  das  ganze  romanische  Sprachgebiet  dahin 
(5),  sie  handeln  von  romanischer  Syntax  (1)  und  bringen  Neues  zur  Ge- 
schichte des  fremdsprachlichen  Unterrichts  (1).  Sie  sind  aber  nicht  stoff- 
lich, sondern  nach  den  Verfassernamen  alphabetisch  geordnet.  In  dieser 
Folge  gehe  ich  ihnen  nach. 

Den  Anfang  macht  E.  Bovets  La  preface  de  Chapelain  ä 
l'Adonis. 

Als  der  'chevalier  Marin'  ums  Jahr  1620  mit  dem  Plane  umging,  die 
4000U  Verse  seines  Idylls  Adone  in  Paris  drucken  zu  lassen,  da  suchte 
er  einen  französischen  Literaten,  der  eine  programmatische  Vorrede  dazu 
schriebe.  Man  wies  ihn  an  den  jungen  Chapelain,  der  dafür  bekannt 
war,  dafs  er  mit  der  literarischen  Tradition  Italiens  vertraut  sei.1  Denn 
es  galt,  diese  neue  Art  des  idyllischen  Epos  (diese  'nouveaute1)  von  vorn- 
herein gegen  die  Kritik  zu  schützen,  die  seitens  der  italienischen 
Akademien  zu  erwarten  war.  Diese  Akademien  würden  nach  den  über- 
lieferten Kunstregeln  urteilen,  so  dafs  also  der  Vorrede  hauptsächlich  die 


1  Chapelains  Kenntnis  der  spanischen  Literatur  war  doch  wohl  nicht 
so  bedeutend,  wie  gewöhnlich  angenommen  wird,  sonst  hätte  er  1630  nicht  schreiben 
können,  dafs  aufser  dem  rimeur  Lope  de  Vega  alle  Spanier  ihre  Dramen  in  Prosa 
oder  reimlosen  Versen  schreiben. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  431 

Aufgabe  zufiel,  zu  zeigen,  dafs  Adone,  obwohl  neuartig,  doch  'condwit  et 
tissu  selon  les  regles  generales  de  l'epopee'  sei. 

Chapelain  versenkte  sich  in  das  Studium  der  italienischen  Theoretiker 
von  Trissino  bis  zur  Gegenwart, '  Scaliger  eingeschlossen,  und  schrieb  mit 
ihrer  Hilfe  die  Vorrede  lü20.    Gedruckt  wurde  sie  lb23. 

Diese  Vorrede  ist  viel  genannt  und  —  wenig  gelesen,  wie  Bovet  hu- 
morvoll zeigt.  Er  druckt  sie  in  extenso  ab  (p.  30—52)  und  begleitet 
diesen  Abdruck  mit  einem  sehr  interessanten  Kommentar. 

Chapelains  Vorrede  ist  keine  leichte  Lektüre.  Form  und  Inhalt  sind 
in  gleicher  Weise  schwierig:  Chapelains  Satzbau  ist  schwerfällig,  und  die 
Regeltheorien  der  Zeit  sind  oft  genug  abstrus.  Zu  alledem  gesellt  sich 
noch  der  Umstand,  dafs  Chapelain,  wie  Bovet  zeigt,  mit  Hintergedanken 
schreibt  und  seine  wahre  Meinung  oft  zwischen  den  Zeilen  gesucht  werden 
mufs.  Er  denkt  in  Wirklichkeit  vom  Adone  nicht  so  gut,  als  er  höflicher- 
weise in  seiner  Verteidigungsrede  sagt. 

Diese  Verhältnisse  erschweren  eine  Wiedergabe  seiner  Gedanken.  Doch 
hat  sich  Bovet  der  Aufgabe,  die  Vorrede  zu  analysieren,  in  trefflicher, 
feiner  Weise  entledigt. 

Er  hat  sich  auch  der  dankenswerten  Mühe  unterzogen,  Chapelains 
italienischen  Quellen  nachzugehen.  Das  Resultat,  dafs  Castelvetros  Poetiea 
d'Anstotile  vulgarixxata  e  sposta  (1570)  die  Hauptquelle  bildet,  wird  keinem 
ernsten  Widerspruch  begegnen  können. 

So  hat  Chapelain  seine  Theorie  des  Epos  aus  Italien  bezogen.  Nichts 
läfst  erkennen,  dafs  er  die  französischen  Theoretiker  des  lü.  Jahrhunderts, 
Ronsard,  D'Aigaliers,  Vauquelin,  beachtet  habe,  oder  dafs  er  auf  Aristo- 
teles direkt  zurückgegangen  sei.2 

Eine  Theorie  des  Epos  läfst  sich  nicht  entwickeln,  ohne  dafs  die 
übrigen  Gattungen  der  Dichtkunst,  Lyrik  und  Drama,  in  Mitleidenschaft 
gezogen  werden,  und  ohne  dafs  die  Frage  nach  Wesen  und  Aufgabe  der 
Poesie  überhaupt  berührt  wird.  Cbapelain  hat  die  Lyrik  völlig  beiseite 
gelassen,  die  Dramatik  nur  gelegentlich  zum  Vergleich  herangezogen. 
Von  Wesen  und  Aufgabe  der  Boesie  handelt  er  indessen  ausgiebig:  die 
Poesie  stellt  nicht  nackte  Tatsächlichkeit  (verite  particuliere)  dar,  sondern 
sie  kombiniert  sich  gemäfs  dem  Geiste  der  justice  und  der  raison  eine  all- 
gemeingültige vorbildliche  Wahrscheinlichkeit  (vraissemblance),  die  sie  in 
den  Dienst  der  sittlichen  Läuterung  der  Menschheit  stellt  (purgation  ou 
amendement  es  mceurs  des  homnies  qui  est  le  but  de  la  poesie)? 

Diese  rationalistische  Lehre  ist  eben  die  der  Italiener:  Chapelain  hat 


1  Ob  er  Tassos  Discorsi  deWarte  poetiea  e  del  poema  eroico  (1587 — 94)  gekannt 
hat?     Eine  Spur  ihrer   Verwertung  kann  ich  in  der  Preface  nicht  finden. 

2  Der  Umstand,  dafs  Chapelain  der  Handlung  des  Epos  nur  die  Dauer  eines 
Jahres  einräumt,  wahrend  Aristoteles  eine  solche  Beschränkung  nicht  kennt,  spricht 
nicht  dafür,  dafs  er  sich  stark  nach  Aristoteles  selbst  umgesehen,  dessen  Meinung 
überhaupt  für  ihn  nicht  entscheidend  war.  —  Auch  über  Homer  und  Vergil  setzt 
sich  Chapelain  dabei  hinweg,  während  die  älteren  Theoretiker  (auch  Madius,  trotz 
Bovet  p.  28  n.)  die  zeitliche  Freiheit  des  Epos  gerade  mit  Odyssee  und  Aneis 
begründen.  Bei  Chapelain  ist  das  Bedürfnis,  eine  Regel  aufzustellen,  gröfser  als 
sein  Respekt  vor  dem  Altertum:  On  devient  poete,  sagt  er  in  der  Vorrede  zur 
zweiten  Hälfte  der  Puci'lle,  par  l'etude  des  regles.  —  Übereifrige  Moderne  wie 
Saint-Amant  haben  schliefslich  die  epische  Handlung  in  die  24  Stunden-Einheit 
gezwungen  (Möise  sauve,  1653).  —  Chapelain  selbst  gibt  später  (1630)  auch  wieder 
zu,  dafs  das  Epos  eine  Handlung  von  mehreren  Jahren  umfassen  dürfe. 

3  Das  ist  denn  doch  nicht  so  neu  in  Frankreich.  Cf.  Ronsard  in  der  Vor- 
rede zur  Franciade  (1572):  il  (Je  poete)  a  pour  maxime  tres  necessaire  de  son  arl 
de  ne  svivre  jnmaU  pas  a  pas  la  verü*,  mais  la  vraisemblance  et  le  possible  etc. 


432  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

sie,  nach  Bovets  Urteil,  klarer  und  bestimmter  formuliert.  Man  kann  das 
zugeben  und  doch  finden,  dafa  Bovet  den  Chapelain  zu  nahe  an  Boileau 
rückt.  Gewifs  ist  beiden  die  rationalistische  Poetik,  die  ja  die  Basis  des 
Klassizismus  bildet,  gemein  —  aber  neben  dieser  Gemeinsamkeit  möchte 
ich  die  tiefe  Gegensätzlichkeit  mehr  betonen:  Chapelain  ist  ein  'moderne'. 
Der  gelehrte  Mann  hat  für  die  Antike  wohl  Worte  der  Bewunderung, 
aber  er  lehnt  ihre  Vorbildlichkeit  ab.  Er  ist  der  Überzeugung,  dafs  die 
moderne  Literatur  der  antiken  nicht  bedürfe  und  sie  übertreffe.  Er  stellt 
eine  Tragödie  Grazianis  über  alles,  was  die  Alten  geleistet.  Homer  und 
Vergil,  sagt  er,  sind  meine  Gottheiten  —  mais  ils  ont  bien  de  la  peine  ä 
etre  mes  patrons.  Er  tadelt  an  Ronsard,  dafs  er  ihr  ecolier  gewesen  sei. 
Er  übt  im  Dialog  über  die  Romanlektüre1  (1647)  an  Homer  jene  Kritik, 
die  für  die  'modernes'  charakteristisch  ist.  Nicht  die  antiken  Dichter, 
nicht  Aristoteles,  sondern  'die  Idee  der  Kunst'  sei  sein  Leitstern  (cf.  Lettres 
ed.  Tamizey  de  Laroque  I,  18  f.,  631  f.;  II,  744  etc.).  Das  ist  Subjekti- 
vismus, ein  revolutionäres  Prinzip,  und  läuft  ßoileaus  Altertumsreligion 
und  klassischer  Kunstlehre  direkt  zuwider.  Chapelain  hat  keinen  Re- 
spekt vor  dem  Altertum,  so  wenig  wie  Malherbe,  Boisrobert,  Sorel,  Sa- 
rasin,  Scudery,  Descartes,  Pascal  —  die  ganze  erste  Hälfte  des  17.  Jahr- 
hunderts. Die  Arbeit  aller  dieser  Männer  ist  gegen  die  literarische 
Hegemonie  des  Altertums  gerichtet.  Sie  vertreten  die  Gedanken,  die 
in  Italien  Tassonis  Pensieri  diversi  (1620)  ausgesprochen  haben:  das 
Altertum  gilt  für  überwunden. 

In  diese  ikonoklastische  Welt  hat  der  grimme  Boileau  dann  die  Stand- 
bilder der  literarischen  Ahnen  der  Renaissance  wieder  hineingestellt.  Er 
hat  ihren  Kultus  restauriert  und  den  Klassizismus  strenger  Observanz  im 
Gegensatz  zu  der  altertumsfeindlichen  Haltung  der  Chapelains  und  Ge- 
nossen begründet. 

Seinem  Grundsatz  gemäfs,  dafs  die  Idee  der  Kunst  sein  Leitstern  sei, 
erweist  Chapelain  in  seiner  literarischen  Kritik  dem  Aristoteles  nirgends 
besondere  Reverenz:  in.der  Vorrede  zum  Adone  nennt  er  ihn  nur  einmal 
und  ganz  nebenbei.  Überall  beruft  er  sich  darauf,  dals  seine  eigenen 
Überlegungen,  dafs  die  Forderungen  der  poetischen  vraissemblance  ihn  zu 
den  Regeln  geführt  haben,  die  er  aufstelle.  Dabei  hebt  er  es  gern  hervor, 
wenn  die  Praxis  der  antiken  und  der  italienischen  Dichter  zu  seinen 
Forderungen  stimmt.  Aber  was  die  alten  und  neuen  Theoretiker 
sagen,  das  kümmert  ihn  nicht  sehr:  als  ihn  ein  Freund  um  Auskunft 
über  eine  Kunstregel  bittet,  antwortet  er  ihm:  'Ich  entsinne  mich  nicht, 
ob  Aristoteles  oder  einer  seiner  Erklärer  die  Sache  behandelt  hat;  ich 
will  einfach  versuchen,  Ihnen  meine  eigene  Begründung  zu  geben.'2 

Nun  sucht  Bovet  die  Überlieferung  zu  stützen,  welche  lehrt,  dafs 
Chapelain  im  17.  Jahrhundert  die  Regel  der  drei  Einheiten  für  das 
Drama  wieder  eingeführt  habe.  So  scharfsinnig  seine  Argumentation  ist, 
so  kann  ich  ihr  doch  nicht  zustimmen.  Ich  teile  die  Meinung  Ottos  (in 
der  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  von  Mairets  Silvanire,  Bamberg  1890) 
und  Dannheifsers  (Behrens'  Zs.  XIV,  1 — 76).  Mancherlei  Besonderes 
liefse  sich  freilich  dazu  sagen.    Hier  beschränke  ich  mich  auf  folgendes : 


1  Feillet  hielt  diesen  Dialog  mit  Unrecht  für  ungedruckt,  als  er  ihn  1870 
edierte.  Er  ist  schon  1728  von  Desmolets  und  Goujet  im  6.  Band  der  Conti- 
nuation  des  memoires  de  litterature  et  d'histoire  de  Sallengre   herausgegeben    worden. 

2  Es  ist  das  eine  kapitale  Stelle  seines  Briefes  an  Godeau  vom  29.  Nov. 
1630,  abgedruckt  von  Ch.  Arnaud,  Les  theories  dramatiques  au  XVII'  siede, 
Paris,  1888,  p.  336  ff.  Und  die  Kunstregel,  aus  deren  Anlafs  er  hier  Aristoteles 
und  seinen  Stab  als  quantite  negligeable  eliminiert,  ist  —  die  24  Stunden-Einheit 
des  Dramas!     Ich  werde  auf  die  Stelle  zurückkommen. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  433 

Man  läuft  Gefahr,  einem  Anachronismus  zu  verfallen,  wenn  man  für 
die  Jahre  1620 — lt>30  von  der  Regle  des  trois  unites  spricht.  Diese  Trini- 
tät  ist  späteren  Datums.1 

Das  Wort  unite  findet  sich  zunächst  nur  in  dem  Ausdruck  unite 
d'action:  die  Handlungsein  hei  t  ist  die  älteste,  in  der  Kunst  selbst  be- 
gründete Forderung.  Sie  ist  aus  Aristoteles  in  die  Renaissancepoetik  über- 
gegangen. Auch  Chapelain  erhebt  sie  in  der  Vorrede  zum  Adone  nicht 
als  ein  spezifisch  dramatisches,  sondern  allgemeines,  insbesondere  episches 
Requisit  \unite  de  l'action,  Bovet  p.  42). 

Ebenfalls  auf  Aristoteles  und  der  herrschenden  Praxis  der  antiken 
Dramatik  beruht  die  Forderung,  dafs  die  Handlung  des  Dramas  die  Dauer 
eines  Tages  nicht  überschreite.  Chapelain  erwähnt  die  Forderung  in  der 
Vorrede  ganz  beiläufig  mit  den  Worten:  Das  Epos  soll  nicht  mehr  als 
ein  Jahr  umspannen,  gerade  wie  das  Drama  nicht  mehr  als  einen  jour 
naturell 

Neben  dieser  ganz  beiläufigen  Erwähnung  der  regle  des  24  heures  oder 
des  ordre  du  temps  —  das  sind  die  eigentlichen  Termini  technici  —  fehlt 
in  der  Vorrede  jeder  Hinweis  auf  eine  sogenannte  'Ortseinheit'. 

Tatsache  ist  also,  dafs  Chapelain  in  der  Vorrede  von  162'  nicht  von 
den  'drei  dramatischen  Einheiten'  spricht,  sondern  dafs  er  die  unite  d'ac- 
tion als  eine  allgemeine  und  spez.  epische  Forderung  erwähnt,  dafs  er  die 
regle  des  24  heures  im  Vorbeigehen  für  das  Drama  konstatiert  und  von 
einer  'Ortseinheit'  überhaupt  nichts  sagt. 

Das  macht  durchaus  nicht  den  Eindruck,  als  ob  er  den  dramatischen 
Kunstregeln  besondere  Beachtung  schenkte. 

Dafs  in  Frankreich  die  vom  Drama  des  Altertums  sich  herschreiben- 
den Kunstregeln  auch  im  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  ohnedies  nicht 
gänzlich  vergessen  und  unbekannt  waren,  zeigt  z.  B.  Lariveys  Vorrede 
zu  La  Constance  (1611).  Und  ehe  Chapelain  in  der  Vorrede  zum  Adone 
nebenbei  die  24 -Stunden -Regel  erwähnt,  liefs  Thßophile  die  zum  ro- 
mantischen Schauspiel  geratene  Tragödie  Pyramus  und  Thisbe  (1617)  auf- 
führen, deren  einfache  Handlung  nur  wenige  Stunden  umfafst  und  in  einer 
verhältnismäfsig  einfachen  sehne  ä  compartiments  'Landschaftseinheit'  zeigt. 


1  Die  gedrungene  Formulierung  Jeans  de  la  Taille  (1572):  il faut  toujours 
representer  le  jeu  en  un  meme  jour  (Handlungseinheit),  en  un  meme  temps  (Zeitein- 
heit), en  un  meine  Heu  (Ortseinheit)  bleibt  ganz  isoliert.  Chapelain  kannte  sie 
nicht  (zur  Auffassung  der  Stelle  vergl.  Revue  oVhist.  litt,  de  la  France  XII,  p.  2). 
Mairet  führt  noch  1631  als  die  drei  Hauptregeln  der  Comedie  an:  freie  Er- 
findung der  Fabel,  Einheit  der  Handlung  und  lla  troisieme  et  la  plus  rigoureuse  est 
Vordre  du  temps'  (Otto,  l.  c,  p.  15  f.).  —  Zum  ersten  Male  finde  ich  im  17.  Jahr- 
hundert die  drei  Forderungen  im  Ausdruck  vereinigt  in  Isnards  Vorrede  zu  Pi- 
ch ous  La  Filis  de  Scire  vom  nämlichen  Jahre  1631:  ...  prescrire  les  regles  de 
l'unite  du  Heu  (=  Landschaftseinheit,  cf.  unten  p.  8),  de  l'action  et  des  2i  heures 
du  temps  (cf.  Otto,  l.  c.  p.  CXII)  und  dann  in  der  endgültigen,  uns  geläufigen  For- 
mulierung in  Durvals  Tratte  (A.  Gaste,  La  querelle  du  Cid,  1899,  p.  274):  l'unite 
d'action,  de  temps  et  de  lieu.  Dieser  Traite  ist  von  1637  (trotz  E.  Rigal,  Le  theätre 
franqais,    1901,  p.   339;  cf.  Archiv  CVH,  443). 

3  Aus  dem  Umstand,  dafs  Chapelain  hier  und  später  diesen  Ausdruck  {jour 
naturel)  braucht,  darf  geschlossen,  werden,  dafs  er  von  der  Kontroverse  wufste,  die 
sich  an  Aristoteles'  ftiav  negioSov  rjkiov  geknüpft  hatte:  ob  damit  nämlich  der 
dies  naturalis  von  24  Stunden  oder  der  dies  artißcialis  der  Tageshelle  gemeint  sei. 
Chapelain  entscheidet  anders  als  z.  B.  Robortello  (dies  artificialis)  und  Castelvetro 
(dodici  ore).  Kannte  er  Segnis  Poetica  a"Aristotile  (1549)?  Übrigens  betrachtet  er 
1630  die  24  Stunden  als  ein  Maximum  und  erscheint  ihm  die  Hälfte  dieser  Zeit 
als  das  Normale  (Arraud,  l.  c.  p.  343). 

Archiv  L  n.  Sprachen.    CXV.  28 


434  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

So  ist  denn  Chapelain  1020  keineswegs  ein  Entdecker,  ganz  abgesehen 
von  der  beiläufigen  und  fragmentarischen  Form  seiner  Aufserungen. 

Das  Nächste,  was  wir  nun  in  Frankreich  von  der  24-Stunden-Regel 
hören,  datiert  von  1628.  Am  28.  September  dieses  Jahres  schreibt  Balzac 
aus  Paris  an  M'm'  Desloges  über  den  Typus  einer  femme  savante,  die  unter 
anderem  auch  literarische  Kritik  treibe  und  nicht  imstande  sei,  de  souffrir 
une  comedie  qui  n'est  pas  dam  la  loi  des  24  heures,  qu'elle  s'en  va  faire 
publier  par  toute  la  France.* 

Balzac  weist  damit  deutlich  auf  die  Salons  der  hauptstädtischen  So- 
ciete  polte  als  den  Ausgangspunkt  der  praktischen  Forderung  der 
'Zeitregel'  hin:  die  Salonkritik  fordert  sie;  sie  fordert  sie  als  eine  neu- 
modische Eleganz,  als  eine  nouvelle  invention?  wie  Godeau  noch  1630  zur 
Verwunderung  Chapelains  sagt,  der  ihm  antwortet,  die  Geschichte  sei  ja 
uralt,  schon  das  antike  Theater  habe  diese  Regel  beobachtet  —  ob  Aristo- 
teles selbst  von  ihr  handle,  entsinne  er  sich  nicht.3 

Und  deutlich  können  wir  erkennen,  wie  die  Societe  polte  um  1628  zu 
ihrer  Forderung  kam.     Das  Vehikel  bildete  die  Pastorale. 

Die  Pastorale  war  das  Stück,  in  dem  die  Salonwelt  mit  ihrem  ga- 
lanten Treiben  sich  spiegelte.  Seit  Jahren  stand  sie  unter  dem  Einflufs 
der  Astree.  Die  Derbheiten  Hardys  treten  zurück.  Künstlerisches  Streben 
macht  sich  geltend  (viel  mehr  als  in  der  verwilderten  Tragicomedie).  Zu 
den  italienischen  Vorbildern  Tasso  und  Guarini  gesellen  sich  andere, 
besonders  G.  Bonarelli  mit  der  Filii  dt  Sciro  (1607).  Die  französischen 
und  italienischen  Elemente  mischen  sich  bei  den  einzelnen  Dichtern  in 
verschiedenen  Dosen.  Da  die  französische  Pastorale  die  regle  des  24  heures 
nicht  beobachtet,  so  gestattet  sie  eine  reichere  Entfaltung  der  Bühnen- 
handlung.4 

Gegen  1619  stellt  Racan  in  Les  Bergeries  (gedruckt  1625)  'die  Tor- 
heiten seiner  Jugendjahre'  dar.  Das  Stück  ist  zugleich  Huldigung  und 
Rache  seiner  unerwiderten  Liebe.  Die  schleppende  Handlung  ist  aus 
Hardyschen,  D'Urf6schen  und  italienischen  Elementen  zusammengesetzt 
und  folgt  in  ihrer  Kompliziertheit  hauptsächlich  dem  Pastor  fido. 

Einen  reicheren,  bewegteren  Inhalt,  mehr  wirkliches  Liebesleben,  leider 
auch  mehr  Pointen  gibt  Mairet  in  seiner,  wie  es  scheint,  frei  erfundenen 
Silvie  (1626),  die  sich  der  Welt  der  Tragicomedie  nähert.  Er  nennt  sie 
denn  auch  tragicomedie  pastorale,  worin  andere  ihm  folgen  werden. 

Diesen  unregelmäfsigen  französischen  Pastoralen  gegenüber  er- 
schien der  Salongesellschaft  die  strenge,  zeitliche  Regelhaftigkeit  der 
italienischen  Pastorale,  die  sich  dafür  auf  das  Altertum  berief,  als  das 
Vornehmere.     Und  als  ob  sie  nie  zuvor  in  Frankreich  erhoben   worden 


1  Man  fllhlt,  wie  Balzac  diese  loi  qu'on  va  faire  publier  par  toute  la  France 
1628  nicht  ehen  sehr  ernst  nimmt,    sondern  eher  für  eine  modische  Schrulle  hält. 

2  Als  P.  Corneille  1628 — 1629  zu  Rouen  sein  erstes  Stück  schrieb,  Melite,  da 
liefs  er  die  dramatische  Handlung  sich  über  Wochen  ausdehnen,  weil  er,  wie  er 
später  selbst  sagt,  damals  —  in  Rouen  —  von  der  Existenz  der  Zeitregel  noch 
nichts  wufste.     In  seinem  zweiten  Stück,   Clitandre  (1632),    unterwirft   er  sich  ihr. 

3  Vgl.  oben  S.  5  Anm.  2.  Der  Ton  dieser  Stelle  läfst  nicht  annehmen,  dafs  Cha- 
pelain während  der  Jahre  1628  — 1630,  da  der  Kampf  um  die  regle  des  24  heures 
schon  heftig  tobte,  sich  intensiv  mit  der  Sache  beschäftigt  habe.  Man  begegnet 
überhaupt  in  dem  ganzen  Kampf  dieser  und  der  nächsten  Jahre  (bis  16  3  6),  an 
welchem  Ogier,  Mairet,  Isnard,  Scudery,  Gombaud,  Rayssiguier,  Corneille  teil- 
nehmen, keiner  Spur  von  Chapelain.  Auch  in  seinen  Briefen  spricht  Chapelain 
von  der  Zeitregel  erst  aus  Anlafs  der   Querelle  du  Cid  (1637). 

4  Es  ist  bezeichnend,  dafs  z.  B.  Rayssiguier  in  seinem  Aminie  du  Tasee 
(1632)  Vorgänge,  die  Tasso  nur  erzählen  läfst,  in  Handlung  umsetzt. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  485 

wäre,  wird  nun  1628  die  Forderung  der  24  -  Stunden  -  Einheit  aus  der 
italienischen  Pastorale  neu  importiert.1 

Sofort  erhebt  sich  auch  der  Widerspruch.  In  der  bekannten  Vorrede 
zu  dem  romantischen  Schauspiel  {tragicomedie)  Tyr  et  Sidon2  bekämpft 
1628  der  Pariser  Geistliche  Ogier  die  Zeitregel,  weil  sie  den  Dichter  zu 
Unwahrscheinlichkeiten  und  zur  Ersetzung  der  Handlung  durch  rheto- 
rische Berichte  dränge.  Die  griechische  Bühne  habe  diese  Regel  keines- 
wegs streng  befolgt,  und  überdies  seien  die  Franzosen  keine  Griechen. 
Er  verweist  auch  auf  das  Beispiel  der  Freiheit,  welches  das  spanische 
Theater  gebe.     Von  einer  Ortseinheit  ist  nirgends  die  Rede. 

Mairet  aber  liefs  sich  von  der  Salonkritik  belehren.3  1629  brachte  er 
auf  einer  Salonbühne  eine  neue  tragicomedie pastorale  zur  Aufführung: 
Silvanire,  zu  der  D'Urf£s  gleichnamiges  Stück  (um  1627)  ihn  angeregt 
hatte.  Er  zwängte  die  schleppende,  chorbegleitete  Handlung  in  24  Stun- 
den ein  und  schuf  so  die  regelhafte  italiauisierende  Pastorale.  In  einer 
der  Prachtausgabe  des  Stückes  (1631)  vorausgeschickten  Abhandlung  ver- 
teidigte er  unter  Berufung  auf  die  Wahrscheinlichkeit,  auf  die  italienische 
Pastorale  und  die  Alten  die  Einheit  der  Handlung  und  den  ordre  du 
temps  für  ernste  und  heitere  Bühnenstücke.  Von  einer  Ortseinheit  ist 
noch  keine  Bede.  Doch  bemerkt  Mairet,  dafs  die  Reduktion  der  Zeitdauer 
der  Handlung  auch  eine  Vereinfachung  der  'ambulatorischen'4  Szene 
bringen  werde.  Der  Ortswechsel  wird  sich  eben  nun  auf  einen  Raum  be- 
schränken, der  in  24  Stunden  durchmessen  werden  kann,  z.  B.  auf  eine 
Provinz  oder  eine  Ortschaft.  Man  kann  also  zunächst  blofs  von  einer 
Landschafts-  oder  Ort  Schaftseinheit  (unite  de  Heu  en  general,  wie 
Corneille  sagt)  reden,  die  in  Silvanire  denn  auch  mit  recht  verwickeltem 
Ortswechsel  verbunden  ist.5 

Nichts  in  dieser  Vorrede  verrät  Kenntnis  noch  Einflufs  Chapelainscher 
Gedanken :  was  Mairets  und  Chapelains  literarischer  Kritik  gemein  ist, 
stammt  aus  den  gemeinsamen  Quellen ;  was  für  Chapelain  charakteristisch 
ist,  fehlt  bei  Mairet. 

1  Die  Zeit  von  1628  und  1629  macht  in  der  Geschichte  der  Pariser  Bühne 
überhaupt  Epoche:  der  Streit  um  die  Zeitregel  entsteht;  Mondory  gründet  ein 
neues  Schauspielhaus;  nachdem  Mairet  vorangegangen,  debütieren  nun  Rotrou, 
Gombaud,  Rayssiguier,  Du  Ryer,  Scudery,  Corneille  und  andere  als  Theaterdichter. 
Es  stellt  ein  frischer  kräftiger  Zug  sich  ein. 

2  In  seinem  Abdruck  dieser  Tragikomödie  von  1628  (Anc.  theätre  franqais, 
1856,  VIII,  p.  7)  sagt  Viollet  Le  Duc,  dafs  dies  die  zweite  vermehrte  Auflage 
einer  Ausgabe  des  Stückes  von  1608  sei,  die  er  nicht  selbst  gesehen.  Die  Sache 
verlohnt  eine  nähere  Untersuchung,  auf  die  ich  zurückkommen  werde.  Das  Stück 
von  1608  ist  ein  wesentlich  anderes:  Tyr  et  Sidon,  tragedie,  ou  les  funestres  amours 
de  Belcar  et  Meliane  etc.,  in  5  Akten,  mit  Chören  und  erheblich  weniger  Personen. 
Die  Umwandlung  dieser  antikisierenden  Tragödie  von  1608  in  eine  Tragikomödie 
von  1628  ist  eine  sehr  interessante  Illustration  zur  Theatergeschichte  der  Zeit 
Hardys,  welche  die  Renaissancetragödie  ins  romantische  Schauspiel  überführt.  Die 
Societe  des  Textes  franqais  moderne*  könnte  das  König  Jakob  I.  von  England  ge- 
widmete Bändchen  von   1608  mit  Nutzen  neu  drucken. 

3  Nach  seiner  eigenen  Angabe  (Otto,  1.  c.  p.  9)  bewog  ihn  das  Zureden  des 
Grafen  Carmail  und  des  Kardinals  Valette  de  composer  une  pastorale  avec  toutes  les 
rigueurs  que  les  Italiens  ont  accoütume  de  pratiquer  en  cct  agreable  genre  d'ecrire. 

4  Der  Ausdruck  scene  ambulatoire  für  die  bunte  Hardysche  Inszenierung  stammt 
von  Sarasin,  Vorrede  zu  Scuderys  Amour  tyrannique. 

5  In  der  Vorrede  zu  seiner  Pastorale  Amaranthe  billigt  Gombaud  im  näm- 
lichen Jahre  (1631)  die  Beschränkung  der  Zeitdauer  auf  zwölf  Stunden,  du  maün 
au  soir  ou  du  soir  au  matin.  Die  Landschaftseinheit  werde  sich  auf  eine  Insel  oder 
eine  Provinz  beschränken. 

28* 


43G  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Die  in  den  Salons  mit  Beifall  überschüttete  Silvanire  wurde  im  Hotel 
de  Bourgogne  (1630)  ohne  Beifall  gespielt.  Die  Zeitregel,  sagt  nachher 
Mairet  selbst,  est  de  tres  difficile  Observation  ä  cause  de  la  sterilite  des  beaux 
effets  qui  rarement  se  peuvent  rencontrer  dans  un  si  petit  espace  de  temps.1 
(Test  la  raison  de  V  Hotel  de  Bourgogne  que  mettent  en  avant  quelques-uns 
de  nos  poetes  qui  ne  s'y  veulent  pas  assujettir.  Und  Rayssiguier  bemerkt 
l§32  (Otto,  1.  c.  p.  CXIII):  La  plus  grande  part  de  ceux  qui  portent  le 
teston  ä  V Hotel  de  Bourgogne  veulent  que  Von  contente  leurs  yeux  par  la 
diversite  et  changement  de  la  face  du  theatre  et  que  le  grand  nontbre  des 
accidents  et  aventures  extraordinaires  leur  ötent  la  connaissance  du  sujet: 
ainsi  ceux  qui  veulent  faire  le  profit  et  Vavantage  des  messieurs  qui  recitent 
leurs  vers  sont  obliges  d'ecrire  sans  observer  aucune  regle. 

Die  Schauspieler  und  die  für  sie  schreibenden  Dichter  lehnen  also  die 
Fessel  der  neuen  Zeitregel  ab.  So  wurde  der  Streit  um  die  Regel  zu 
einem  Kampf  zwischen  Salonästhetikern  und  Bühne,  zwischen  den 
ldoctes'  und  den  'ignorants',  zwischen  Theorie  und  Praxis. 

Zu  Mairets  italienischer  Theorie  bekannte  sich  Gombaud.  Auf  seiten 
dieser  Salonkritik  steht  natürlich  auch  Richelieu,  der  eben  damals 
daran  ging,  sich  ein  Salontheater  zu  erbauen.  Auch  Chapelain,  der 
schon  in  der  Vorrede  zum  Adone  zu  erkennen  gegeben  hatte,  dafs  ihm 
der  jour  naturel  für  das  Drama  als  eine  Forderung  der  vraissemblanee  er- 
scheine. Als  der  verwunderte  Godeau  ihn  1630  nach  der  neuen  Regel- 
erfindung fragt,  gibt  er  die  schon  oben  zitierte  briefliche  Antwort  (cf.  oben 
S.  5  und  7),  die,  wie  gesagt,  in  keiner  Weise  verrät,  dafs  er  sich  mit 
dem  nun  schon  zwei  Jahre  dauernden  Regelstreit  näher  beschäftigt  habe. 
Jetzt  erwähnt  auch  Chapelain,  dafs  die  Beobachtung  der  Zeitregel  natur- 
gemäfs  eine  Vereinfachung  des  Handlungsortes  zur  Folge  haben  werde. 
Er  spricht  durchaus  noch  nicht  von  einer  unite  de  Heu,  sondern  er  drückt 
sich  allgemeiner,  ganz  im  Sinne  der  Landschaftseinheit  aus,  wie  da- 
mals auch  die  anderen  taten.2 

Dafs  der  theaterfreundliche  Richelieu  erst  durch  Chapelain,  der  kaum 
vor  1634  zu  ihm  in  Beziehungen  trat,  von  einem  dramaturgischen  Streit 
unterrichtet  worden  sei,  welcher  seit  1628  Theater  und  Salons  erfüllte, 
hält  vor  streng  chronologischer  Betrachtung  nicht  stand. 

Die  Rücksicht  auf  den  Bühnenerfolg  bestimmt  Mairet,  in  seinem 
nächsten  Stücke  wieder  von  den  alten  Freiheiten  Gebrauch  zu  machen 
(1632:  Les  galanteries  du  duc  d'Ossone).  Die  tragicomedie  Virginie  (1633) 
aber  mit  ihrer  komplizierten  Szenerie  unterwirft  er  von  neuem  der  Zeit- 
regel. 

Inzwischen  griffen  andere  auf  die  Tragödien  Senecas  zurück  und  be- 
arbeiteten, unbekümmert  um  diese  Zeitregel,  seinen  Thyestes  oder  seinen 
'sterbenden  Herkules'  (Rotrou  1634). 

Von  dieser  Seneca-Renaissance  angeregt,  schrieb  auch  Mairet 
eine  Tragödie,  Sophonisbe,  und  liefs  sie  (Dezember  1634)  im  Maraistheater 
aufführen,  das  der  Salonkritik  mehr  entgegenkam.    Die  Handlung  verläuft 


1  Die  antiken  Tragödien  und  Komödien  erscheinen  ihm  denn  auch  handlungs- 
arm und  en  quelque  faqon  ennuyeuses  (Otto,  1.  c.  p.   19). 

a  Im  Februar  1635  sendet  Chapelain  an  Boisrobert  die  Abschrift  einer  kleinen 
dramaturgischen  Arbeit  (la  copie  de  ces  regles  de,  la  comedie).  Es  ist  damit  wohl 
eine  Skizze  gemeint,  wie  sie  bei  Arnauld  p.  347  sich  abgedruckt  findet.  Es  ist 
leicht  möglich,  dafs  diese  kompendiöse  Zusammenfassung  für  die  seit  1634  be- 
stehende Genossenschaft  der  cinq  auteurs  bestimmt  war.  Hier  braucht  Chapelain 
zum  ersten  Male  den  Ausdruck  unite  du  Heu,  aber  der  Zusammenhang  zeigt  deut- 
lich, dafs  er  immer  noch  die  Provinz-  oder  Landschaftseinheit  meint  und 
nicht  die  unite  de,  lieu  im  späteren  strengen  Sinne. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  437 

innerhalb  24  Stunden.  Die  Bühne  zeigt  das  Innere  eines  Königspalastes 
mit  dessen  Umgebung;  mitten  im  fünften  Akt  wird  durch  Entfernung 
eines  Vorhanges  ein  weiterer  Baum  geöfinet,  in  dem  die  tote  Königin 
liegt.     So  zeigt  die  rhetorische  Sophonisbe  wirklich  Einheit  des  Ortes. 

Diese  Sophonisbe  schwellte  den  Strom  der  Tragödiendichtung,  der  seit 
anderthalb  Jahrzehnten  versiegt  war.  Fast  jeder  Dichter  schrieb  1635J36 
sein  regelrechtes  Trauerspiel:  La  Calprenede  einen  Mithridates,  Cor- 
neille eine  Medea,  Desmarets  eine  Aspasia,  Tristan  eine  Mariamne, 
Benserade  eine  Cleopatra.  Sogar  Scud^ry  'genügte  den  Gelehrten' 
durch  einen  Ccesar,  um  dann  durch  die  Buntheit  einer  Dido  (lo37)  wieder 
'das  Volk  zu  befriedigen'.  Mairet  selbst,  der  Führer  der  ganzen  Be- 
wegung, gab  noch  einen  Marens  Antonius  und  einen  Soliman.  Rotrou 
hielt  sich  fern. 

Alle  diese  'regelrechten'  Tragödien  zeigen  noch  kombinierte  Inszenie- 
rung. Das  Beste  unter  ihnen,  Tristans  Mariamne,  bedarf  fünf  verschiede- 
ner, aber  benachbarter  Örtlichkeiten  (compartiments) :  Thronsaal,  zwei  Ge- 
mächer, Gefängnis  und  offene  Halle.1 

So  ist  mit  dem  Jahre  1635   der  Sieg  der  24-Stunden-Regel  gesichert. 

In  der  Vorrede  zu  Panthee  (Anfang  1639)  erklärt  denn  auch  Durval, 
dafs  die  'reguliers'   nun  seit  reichlich  drei  Jahren  die  Bühne  beherrschen. 

Es  erscheint  als  ganz  natürlich,  dafs  —  wie  schon  das  Beispiel  von 
Mairets  Sophonisbe  zeigt  —  auch  der  Handlungsort  des  zeitlich  verein- 
fachten Dramas  sich  immer  mehr  vereinfacht,  und  dafs  die  Theoretiker 
hier  nachzuhelfen  sich  bestreben,  um  die  Landschafts-  und  Ort- 
schaftseinheit der  kombinierten  Szene2  zur  strengeren  unkombinierten 
Ortseinheit  zu  führen.  Noch  1635  kennt  auch  Chapelain  nur  diese 
Landschaftseinheit  (vgl.  S.  9  Anm.  2).  Aber  schon  im  Sommer  1636  zeigt 
Durvals  Argument  zu  Agarite,  dafs  die  Kritik  angefangen  hat,  die  Einheit 
des  Ortes  zu  fordern,  und  bekanntlich  verlangt  dann  im  Dezember  1657 
die  junge  Akademie  in  ihren  Sentiments  sur  le  Cid  diese  strenge  Orts- 
einheit als  Konsequenz  der  Tageseinheit. 

Aber  diese  Forderung  blieb  zunächst  wesentlich  Theorie.  Im  Jahre 
1639  tadelt  Sarasin,  dafs  die  Dichter  noch  einige  Beste  der  alten  Hardy- 
schen  Inszenierung  bewahrt  hätten:  leur  scene  est  bien  en  une  seul  eville 
mais  non  pas  en  un  seul  Heu  (Otto,  1.  c.  p.  CXVI). 

La  Mesnardiere  stellt  in  seiner  Poetique  den  Stand  der 'göttlichen' 
Regeln  für  1610  dar.  Auch  er  bezeugt  noch  die  Ortschaftseinheit  mit 
kombinierter  Inszenierung.  Der  Abbe  d'Aubignac  aber  fordert  1657 
in  seiner  Pratique  du  theätre  die  strenge  Ortseinheit,  die  nun,  wie  er  sagt, 
auch  herrschend  zu  werden  beginne,  nachdem  die  Zeiteinheit  seit  zwanzig 
Jahren  zur  Begel  geworden.  Und  der  Erste,  der  schliefslich  dazu  kommt, 
die  unite  de  Heu  im  allerstrengsten  Sinne  als  'Zimmereinheit'  zu  formu- 
lieren, ist  Corneille,  der  1661  einen  Ausweg  aus  seinen  Inszenierungs- 
nöten in  der  Fiktion  jenes  Vestibüls,  wo  alle  Personen  in  gleicher  Weise 
zu  Hause  sind,  findet  (CEuvres,  ed.  Marty-Laveaux  I,  121). 

Ich  bitte  meinen  Freund  Bovet  um  Entschuldigung  dafür,  dafs  ich 
alle  diese  Dinge  hier  aufzähle,  die  er  ebensogut  kennt  wie  ich.  Doch, 
wollte  ich  seinen  scharfsinnigen  Ausführungen  mit  Aussicht  auf  Erfolg 
widersprechen,   so  war  es  unerläfslich,   das   Wesentliche   aus   den   zeit- 


1  Mit  dieser  Inszenierung  wurde  Mariamne  im  Februar  1897  im  Od£on  auf- 
geführt. 

2  Zur  kombinierten  Szene  gesellte  sich  bereits  auch  der  Szenenwechsel  mit 
Hilfe  von  Vorhängen  und  Kulissen  (vgl.  Archiv  CVII,  443  f.),  den  besonders  S en- 
de ry  braucht.  Eine  nützliche  Zusammenstellung  seiner  schwankenden  Ortsbehand- 
lung  gibt  A.  Batereau,    G.  de  Scudery  als  Dramatiker,  Leipzig,   1902,  S.  170  ff. 


438  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

genöasischen. Zeugnissen  hier  zusammenzufügen.  Denn  nicht  die  iso- 
lierende Betrachtungsweise,  sondern  blofs  solche  Zusammenfügung  setzt 
die  Entwickelungsvorgänge  in  deutliches  Licht.  Das  Detail  gewinnt  erst 
hier  seine  Kraft:  l'union  fait  la  force  gilt  auch  davon. 

In  der  Literaturgeschichte  —  wie  in  der  Geschichte  überhaupt  — 
werden  entscheidende  Bewegungen  gern  auf  bewufstes  Eingreifen  bestimm- 
ter Persönlichkeiten  zurückgeführt  und  so  eine  anek  dotische  Erklärung 
bedeutsamer  geschichtlicher  Vorgänge  geschaffen.  Der  Mensch  neigt  dazu, 
alles  Denkwürdige  auf  einen  bestimmten  Namen  abgestempelt  zu  sehen. 
Dieser  Neigung  zur  Legendenbildung  sind  auch  die  sogenannten  'drei  Ein- 
heiten' zum  Opfer  gefallen,  und  zwei  Gewährsmänner  des  achtzehnten 
Jahrhunderts,  die  Segraisiana  und  D'Olivet,  erklären  denn  die  'Ein- 
führung der  drei  Einheiten'  als  die  Tat  Chapelains.1 

Kein  Zeitgenosse  weifs  etwas  davon,  und  was  uns  die  Zeugnisse  der 
Zeitgenossen  —  Chapelain  inbegriffen  —  über  dramaturgische  Dinge  der 
Jahre  1628 — 1636  lehren,  das  widerspricht  direkt  jener  nachträglichen 
Überlieferung. 

Es  handelt  sich  nicht  um  die  Einführung  der  'drei  Einheiten'.  Die 
unite  (factum  ist  jederzeit  eine  unbestrittene  Forderung  gewesen.  Es  han- 
delt sich  zunächst  auch  nicht  um  die  unite  de  lieu;  diese  tritt  erst  im 
Laufe  der  Jahre  im  Gefolge  der  Zeiteinheit  auf,  braucht  Jahre,  um  for- 
muliert zu  werden,  und  Jahrzehnte,  um  durchzudringen.2  Es  handelt 
sich  nur  um  die  regle  des  24  heures.  Diese  wird  durch  das  Beispiel  der 
italienischen  Pastoralen  um  1628  in  die  Salons  der  Pariser  Societe  polte 
getragen,  und  der  Einflufs  dieser  mächtigen  Kreise  bewegt  den  Pastoralen- 
dichter Mairet  1629,  trotz  des  Widerspruches  der  Praktiker  seine  Silva- 
nire  der  Forderung  der  Salonkritik  zu  unterwerfen. 

Die  Zeitregel  kommt  mit  der  Pastorale  aus  Italien. 

Das  Tragödienjahr  1635,  im  Gefolge  von  Mairets  Sopkonisbe,  be- 
siegelt dann  ihren  Triumph. 

Unter  den  Namen  der  literarischen  Persönlichkeiten,  die  in  diesem 
siebenjährigen  Kriege  hervortreten,  fehlt  der  Chapelains.  — 

E.  Brugger,  der  seit  Jahren  mit  tief  eindringender  Arbeit  das  Ge- 
biet der  bretonischen  Sagen  und  ihrer  französischen  Überlieferung  durch- 
forscht, bringt  einen  'Beitrag  zur  Arthurischen  Namenforschung' 
und  handelt  über  Alain  de  Oomeret. 


1  Zweifellos  wird  bei  dieser  Legende  Chapelain  überhaupt  eine  persönliche 
Bedeutung  zugeschrieben,  die  der  junge  Mann  gegen  1630  noch  gar  nicht  hatte. 
In  der  Erinnerung  der  Nachwelt  lebte  eben  der  spätere  Nephelegeretes  Chapelain 
weiter,  der  dann  besonders  unter  Mazarin  das  literarische  Wetter  machte,  bis  das 
Boileau-Gewitter  ihn  wegfegte. 

2  Die  Geschichte  der  unite  de  lieu  ist  ein  Kapitel  für  sich.  Es  ist  immer 
noch  nicht  geschrieben  trotz  aller  Abhandlungen  zur  Geschichte  der  drei  Ein- 
heiten. Wer  sie  schreiben  will,  mufs  besonders  auf  zwei  Dinge  achten.  Erstens 
mufs  er  in  der  Darstellung  der  Theoretiker  wohl  scheiden  zwischen  der  älteren 
Forderung  einer  blofsen  Vereinfachung  der  Handlungsörtlichkeiten  (cf.  Madius, 
1550;  Scaliger,  1561;  Mairet,  1631,  Landschaftseinheit)  und  der  späteren 
Forderung  einer  eigentlichen  Ortseinheit  (Castelvet ro,  1570;  Jean  de  la 
Taille,  1572;  Carlos  Boyl,  1616:  dentro  una  casa;  Academie  franc^ise, 
1637).  Zweitens  mufs  er  die  zeitgenössische  Bühnenpraxis  der  mise  en  scene 
(kombinierte  Inszenierung  und  Kulissenwechsel)  genau  verfolgen.  Was  eben  die 
Ortseinheit  von  den  beiden  anderen  Einheiten  trennt,  das  ist,  dafs  sie  einen  tiefen 
Eingriff  in  die  überlieferte  Bühnenpraxis  bedeutet.  Dieser  Umstand  hielt  ihren 
Triumph  hintan. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  439 

Alain  de  Oomeret  klingt  auch  dem,  der  im  Oycle  breton  einigermalsen 
belesen  ist,  fremd.  Und  wirklich  findet  sich  der  Name  in  dieser  Form 
nirgends  in  der  Arthur-Epik.  Brugger  aber  hat  seine  Spur  doch  überall 
gefunden  —  als  Namen  von  Percevals  Vater. 

De  Oomeret  begegnet  als  bretonische  Heimatsbezeichnung  bei 
mehreren  Namen: 

Ban  de  Gomeret  (z.  B.  im  Eree  und  Perceval  Chr^tiens;  im  Beau  De- 
eonnu);  Elinan,  Elian  de  Oomeret  (in  den  Proph.  de  Merlin);  Marin 
lejaloux  de  Oomeret,  Oomoret,  Oomaret  (im  Perlesvaus). 

Es  findet  sich  ein  Alain  (le  gros)  als  Vater  Percevals  in  den  meisten 
französischen  Perceval-Romanen. 

Als  Personenname  erscheint  Oomeret  (Oaumeret)  mit  dem  bre- 
tonischen Attribut  mor  {=  der  Grofse)  im  Atre  perilleux  und,  wenn  Brugger 
gegen  Hertz  und  Heinzel  recht  hat,  bei  Wolfram.  Wolfram  nennt  den 
Vater  Percevals  Gahmuret  (von  Anjou).  Dieser  Oahmuret,  mit  dessen 
Geschichte  Wolfram  die  beiden  ersten  Bücher  seines  Parxival  füllt,  würde 
einem  Gomeret,  Oaumeret  des  verlorenen  Guiot sehen  Perceval  entsprechen, 
und  in  diesem  hätte  der  Verfasser  des  Atre  perilleux  den  Namen  gefunden. 

In  die  Vielheit  dieser  Namen  bringt  Bruggers  Scharfsinn  Einheit: 
ihr  gemeinsamer  Ursprung  ist  in  Alain  de  Gomeret  zu  suchen. 

Gomeret  ist  die  auf  graphischem  Mifsverständnis  beruhende  Namens- 
form, mit  der  die  französischen  Romane  die  altbretonische  Landschaft 
Guenet  (=  franz.  Vannes)  bezeichnen  (der  Name  kann  dann  wohl  auch 
die  Bretagne  überhaupt  bedeuten). 

Alain  mor  [de  Oomeret]  hiefs  ein  historischer  Graf  von  Vannes  (f  908), 
der  schliefslich  Herrscher  über  die  ganze  Bretagne  geworden  war.  Die 
Überlieferung  der  Lais  und  Romane  hätte  also  den  Namen  dieses  Alain 
mor  [de  Gomeret]  merkwürdig  getrennt  in :  einerseits  Alain,  dessen  Beiname 
mor  dem  Attribut  le  gros  wich,  das  von  einem  späteren  bretonischen 
Grafen  Conain  le  gros  (f  1148),  dem  Sohne  Alain  Fergants,  her- 
käme (cf.  den  Lai  Tidorel);  anderseits  Oomeret,  was  mifsverständlich  zum 
Personennamen  gemacht  wurde. 

Da  diese  Überlieferung  im  Französischen  wesentlich  schriftlich  war, 
so  waren  die  fremden  Eigennamen  argen  Verstümmelungen  und  Ver- 
wechselungen ausgesetzt,  und  damit  ist  denn  auch  bei  dieser  Namen- 
forschung der  Hypothese  ein  weites  Feld  eröffnet.  Falsche  Schreibung 
oder  Lesung,  Kleckse,  welche  einen  Teil  des  Wortes  entstellen,  Vertau- 
schung von  Buchstaben  und  Buchstabengruppen,  Abfall  ganzer  Silben 
sind  mehr  oder  weniger  authentische  Vorgänge,  die  zwischen  scheinbar 
unverwandten  Namensformen  willkommene  Brücken  zu  schlagen  gestatten. 
Dem  Linguisten  schwindelt  bei  diesen  Kombinationen  —  doch  hat  er  hier 
wenig  mitzureden,  da  es  sich  nicht  um  lautliche,  sondern  um  graphische 
Vorgänge  handelt.  Man  wird  Brugger,  der  sich  auf  diesem  glatten  Boden 
mit  grofser  Sicherheit,  aber  auch  mit  grofser  Vorsicht  bewegt  —  wie  oft 
sagt  er  'vielleicht',  'wohl',  'es  dürfte'  — ,  bei  seinen  einzelnen  Schritten 
meist  gern  folgen  und  doch  am  Ziele  auf  die  durchlaufene  Bahn  mit 
einem  Gefühl  der  Unsicherheit  zurückblicken.  Aber  lehrreich  ist  der  Weg, 
und  Dank  schulden  wir  dem,  der  ihn  so  scharfsinnig  gewiesen  hat. 

So  verfolgt  Brugger  die  Histoire  poetique  des  Alain  mor  [de  Gomeret] 
des  9.  Jahrhunderts  durch  das  Wirrsal  der  bretonisch-französischen  Über- 
lieferungen und  ihrer  fremden  (griechischen)  Einschläge.  Von  ihr  aus 
fallen  fesselnde  Streiflichter  auf  Entstehung  und  Charakter  des  französi- 
schen Cycle  breton.  Z.  B.  auf  die  Stammsage  der  Bretonenfürsten  (Lai 
Tidorel)1  und  des  Hauses  Bouillon  (Schwanrittersage)  und  ihre  Verknüpfung 

1  In  der  Deutung  des  Details  dieses  merkwürdigen  Lai  vermag  ich  freilicli 
Br.  nicht  überall  zu  folgen. 


440  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

mit  dem  P<?rc«'a/-Roman,  auf  den  griechischen  Ursprung  des  verlorenen 
Sagremor-Rom&ns  etc.  Das  Vorkommen  von  Mohrenland  und  Sarazenen 
in  den  späteren  Arthur-Romanen  wird  besprochen;  es  werden  Spuren  <ler 
Überlieferung  von  den  Kämpfen  der  Bretonen  gegen  Goten  und  Franken 
signalisiert ;  das  Verhältnis  von  Perceval  und  Lancelot  (gemeinsame  Quelle) 
wird  gestreift  —  Brugger  verweist  hier,  wie  nicht  selten,  auf  Untersuchungen, 
mit  denen  er  noch  Dicht  ans  Licht  getreten  ist,  und  deren  Veröffentlichung 
man  mit  Spann ung  entgegensieht.  Das  gilt  besonders  auch  für  seine  Be- 
merkungen zur  Kiot-Frage.  Brugger,  der  uns  längst  eine  Ausgabe  der 
Werke  Guiots  von  Provins  versprochen  hat,  wird  in  dieser  Ausgabe  seiner- 
seits den  Nachweis  versuchen,  dafs  Guiot  in  angevinischem  Interesse  einen 
angevinischen  Perceval  mit  Beigabe  sekundärer  kymrischer  Züge  ge- 
schrieben, der  Wolfram  als  Muster  gedient.  Dieser  angevinische  Tendenz- 
roman sei  dann  mit  dem  Sinken  der  Macht  des  Hauses  Anjou  der  Ver- 
gessenheit anheimgefallen  und  der  Nachwelt  verloren  gegangen.  Diese 
Auffassung  zu  besprechen  wird  erst  dann  an  der  Zeit  sein,  wenn  Brugger 
ihre  ausführliche  Begründung  gegeben  haben  wird. 

Sein  ganzer  Aufsatz  ist  ein  neuer  Beitrag  zur  Lehre  von  der  breto- 
nischen Herkunft  der  französischen  Arthur-Epik.  In  der  einst  so  leiden- 
schaftlich geführten  Diskussion  dieser  Frage  ist  man  jetzt  ruhiger  ge- 
worden, und  Brugger  selbst  hat  seinen  Ton  zum  Nutzen  der  Sache  ge- 
mäfsigt.  Ich  gehöre  zu  denen,  die  der  von  ihm  vertretenen  Auffassung 
im  wesentlichen  recht  geben,  ohne  einen  frühen  kräftigen  britisch-anglo- 
normannischen  Einschlag  in  dem  bunten  Gewebe  der  französischen  Arthur- 
Epik  zu  leugnen.  — 

Das  Patois  von  Cremines l  betitelte  sich  eine  Inauguraldissertation  von 
1896,  die  im  Druck  indessen  nur  die  Darstellung  des  Vokalismus  bot. 
Ihr  Verfasser,  W.  Degen,  trägt  hier  aus  seinem  Material  Die  Konju- 
gation im  Patois  von  Cr6mines  nach.  Leider  verschwindet  dabei 
ein  Teil  der  Lautlehre,  die  Darstellung  des  Konsonantismus,  in  der  Ver- 
senkung, und  der  Leser  steht  nun  manchem  Problem  der  Verbalformen 
zu  wenig  ausgerüstet  gegenüber.  Hoffentlich  schenkt  uns  Degen  nach- 
träglich auch  diese  Konsonantenlehre  noch. 

Das  Verbum  von  Cr6mines  ist  reich  an  Problemen,  gemeinwest- 
schweizerischen  und  eigenen.2  Die  Mundart  ist  am  Absterben  und  zeigt 
in  der  Konjugation  Erscheinungen,  die  man  als  Zeichen  des  Verfalls,  d.  h. 
des  schwindenden  Sprachgefühls  ansprechen  möchte. 

Das  lautliche  Zusammenfallen  von  Infinitiv  und.  Part.  perf.  in  den 
Verben  auf  -are  und  -ire  (auch  anderer  Verba,  wie  z.  B.  tswä  =  cadere 
und  *cadectu)  führt  dazu,  dafs  oyü  und  ntdrü  als  Infinitive  in  Gebrauch 
gekommen  sind.3    Wie  das  Partizip  den  Infinitiv  erneuert,  zeigen  auch 


1  Cremines  liegt  im  Jura  an  der  Sprachgrenze,  die  dort  zugleich  bernisch- 
solofhurnische  Kantonsgrenze  ist. 

2  Dafs  Kabutum  dem  Verb  etr  sein  Part.  perf.  liefert:  i  so  äyü  (=  fai  ete), 
darf  freilich  nicht  als  eine  Cremines  eigentümliche  Erscheinung  angesprochen  wer- 
den (§  30).  Sie  ist  nicht  nur  gemeinwestschweizerisch  (cf.  S.  192,  293),  sondern 
weit  über  romanisches  Gebiet  verbreitet,  und  seit  Gauchat  1900  in  der  Festschrift 
für  E.  Monaci  über  sie  gehandelt  hat,  ist  sie  auch  von  Salvioni  (Arch.  glottol 
XVI,   208)  besprochen  worden.    Einen  Hinweis  bringt  auch  dies  Archiv  CIX,  197  n. 

3  Wie  auf  der  Basis  des  r-losen  Infinitivs  eine  Verwechselung  mit  dem  Part, 
perf.  eintreten  kann,  zeigt  das  surselvische  i  (gehen;  mit  der  Nebenform  ira  aus 
ire  -j-  ad,  wie  Gärtner,  Rätorom.  Grammatik,  p.  186,  richtig  erklärt).  Das  Part, 
perf.  von  i*  heifst  im  Sing,  ius,  im  Plur.  i.  Eis  ein  i  (sie  sind  gegangen)  wird  nun 
zu  eis  ein  ira,  was  trotz  Ascoliß  Bedenken  (Arch.  gloit.  VII,  511)  nicht  als  Präsens, 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  441 

die  Verba,  die  das  r  des  Infinitivs  noch  erhalten  haben.  So  ist  rötre  < 
rumpere  nicht  schwer  zu  deuten  (§  9),  sondern  aus  dem  Part.  *rumpitu 
entstanden  wie  trentinisches  rotter  aus  ruptu.  Rontre  fand  Nigra  in  Val 
Soana  (Arch.  glott.  III,  88,  wo  er  auch  auf  die  weitere  Verbreitung  der 
Form  hinweist),  und  seither  hat  sie  Salvioni  auch  im  Pavesischen  nach- 
gewiesen (ib.  XV,  3(5  f.).  So  sind  denn  auch  gewifs  die  merkwürdigen 
Infinitive  äpü'r  (appuyer),  diü^r  (jowr)  etc.  Neubildungen  auf  Grund  der 
Part,  äpü?  etc. 

Dafs  die  endungsbetonten  (Plural-)Formen  des  Konjunktiv  praes.  teil- 
weise mit  den  Imperfektformen  zusammenfallen,  ist  ja  gemeinfranzösisch 
(-ions,  -iex).  Eine  Reihe  westschweizerischer  und  ostfranzösischer  Mund- 
arten haben  diese  Betonung  auch  auf  die  3.  Pers.  Plur.  ausgedehnt,  so 
dafs  der  ganze  Plural  von  Imperf.  und  Konj.  praes.  zusammenfällt.  Viele 
Mundarten  des  franko  -  provenzalischen  Gebietes  haben  bekanntlich  auch 
im  Singular  des  Konj.  praes.  endungsbetonte  Formen  entwickelt  und  da- 
mit diesen  Konj.  lautlich  dem  Imperf.  noch  mehr  genähert.  Aber  bis 
jetzt  ist  nur  in  Cr^mines  der  völlige  Zusammenfall  der  Endungen  von 
Konj.  praes.  und  Imperf.  indic.  beobachtet  worden.  Man  wird  durchaus 
geneigt  sein,  diesen  Zusammenfall  lautlich  —  und  nicht  analogisch  —  zu 
erklären,  doch  fehlt  für  eine  fruchtbare  Diskussion  noch  die  phonetische 
Grundlage.1 

Degens  Darstellung  ist  sehr  knapp;  ein  reiches  morphologisches  Ma- 
terial ist  auf  wenigen  Seiten  zusammengedrängt  und  übersichtlich  ge- 
ordnet. Die  Probleme  treten  scharf  hervor;  doch  hat  der  Verfasser  mit 
Recht  auf  billige  Gelegenheitserklärungen  verzichtet  und  auf  die  grofsen 
Zusammenhänge  hingewiesen.2  — 

Aus  seinem  umfangreichen  Werke  über  Dante  in  Francia  gibt  A.  Fari  - 
nelli  hier  einen  weiteren  Vorläufer:  das  Kapitel  Dante  nell'opere  di 
Christine  de  Pisan. 

Fast  zu  gleicher  Ztit  zogen  von  Italien  nach  Westen  und  nach  Nor- 
den die  beiden  ersten  literarischen  Verkündiger  Dantes  aus:  der  Genuese 
Francisco  Imperial  nach  Spanien  und  die  Venezianerin  Christine  nach 
Frankreich.  Wie  Imperial  sich  auf  der  Spur  Dantes  abmüht,  zeigt  Fari- 
nelli  in  seiner  Arbeit  Dante  in  Ispagna  nell'  Etä  Media  (vgl.  Archiv  CXV, 
270).  Christine  ist  eine  ungleich  bedeutendere  Persönlichkeit  als  jener 
Genuese.  Streben,  Gesinnung  und  Wissensdurst  brachten  Dante  ihrem 
Denken  und  Empfinden  inhaltlich  nahe.  Augenscheinlich  erbaute  sie  sich 
an  ihm,  wenn  sie  auch  aus  seiner  Gedankenwelt  wenig  direkt  sich  zu  eigen 
zu  machen  vermochte.  Die  Macht  des  Poeten  mag  sie  gefühlt  haben,  aber 
künstlerisch  bleibt  Dante  auch  ihr  nicht  nur  unerreichbar  —  der  Künstler 
bleibt  auch  ihrem  Schaffen  fremd.  Christine  hat  keine  Gestaltungskraft, 
und  eine  persönliche  Note  ist  in  ihren  Werken  eigentlich  nur  da  erkenn- 
bar, wo  sie  von  ihrem  Unglück  spricht  oder  ein  Liebeslied  singt. 


sondern  als  historisches  Perfekt  aufzufassen  ist,  wie  der  Zusammenhang  der  Texte 
zeigt.  Vergl.  z.  B.  Cheu  ein  ei  ira  in  den  Praulas  surselvanas  in  Böhmers  Rom. 
Studien  II,    133,   8. 

1  Warum  sollte  z.  B.  räsi  (scier)  nicht  res(e)cart  sein  (§  12)?  Cf.  jetzt 
Gillieron  et  Mongin,  ' Scier  dans  la  Gaule  romane  du  sud  et  de  Test,  Paris  1905.  — 
Ist  nicht  äbrü'r  (avaler)  =  franz.  broyer  (§   13)? 

a  Der  Ausdruck:  'es  wird  ein  y  eingeschoben  zum  Zwecke,  einen  durch  den 
Fall  eines  Konsonanten  entstandenen  Hiatus  zu  beseitigen'  ist  sehr  anfechtbar. 
Solche  Zwecke  darf  man  dem  Lautwandel  nicht  setzen.  Die  Sprache  scheut  keinen 
Hiatus;  wohl  aber  entwickeln  sich  zwischen  Vokalen  leicht  hörbare  Übergangs- 
lautc.     Vergl.  dazu  Gorras  Abhandlung  (Studi  di  ßi  rem.  VI,  465  ff.). 


442  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Es  ist  ihr  Verdienst,  zum  ersten  Male  in  französischer  Sprache  von 
Dant  de  Florence,  dem  raillant,  dem  sage  poete  gesprochen  zu  haben.  Sie 
stellt  das  Buch  qu'on  appelle  le  Dant  en  langue  florentine  souverainement 
ditte,  als  eine  Quelle  höherer  Belehrung  und  edlerer  Art  dem  verabscheuten 
Rosenroman  gegenüber.  Von  der  Überzeugung  erfüllt,  dafs  wissenschaft- 
liche Bildung  die  Blüte  des  Daseins  ist,  wählt  sie  das  lungo  studio,  mit 
welchem  Dante  sich  bei  Vergil  legitimiert  (Inferno  I,  83),  zur  Lebensauf- 
gabe.    Sie  schreibt  das  Buch  vom  Chemin  de  long  etude  (1402),  indem  sie 

Dantes  Wort 

vaglia  mt  u  lungo  studio  e  il  grande  amore 

Che  m'a  fatto  cercar  lo  tuo  volume 

zu  ihrer  Devise,  zu  ihrem  Stofsgebet  macht: 

Vaille  moy  long  estude 
Qui  m'a  fait  cerchier  (es  volumes. 

Am  Anfang  ihres  endlosen  allegorischen  Chemin  zeigt  sie  einige  Dante- 
sche  Reminiszenzen  (an  den  Limbo  mit  seinen  Gelehrten  und  Dichtern, 
an  das  Paradiso  terrestre)  —  auch  in  den  zunächst  folgenden  Werken 
(Mutaeion  de  fortune,  Visions,  Livre  de  Prudence)  verweist  sie  noch  auf 
Dante  und  entlehnt  ihm  dort  eine  Invektive,  hier  einen  Hinweis  auf  les 
palus  d'enfer  oder  den  Spruch  von  der  verite  qui  face  a  de  menconge  (Inf. 
XVI,  124).  Dann  aber  entschwindet  der  Dichter  ihrem  Gesichtskreis; 
Italien  und  seine  Sprache  werden  Christine  fremder  in  der  Not  ihrer  fran- 
zösischen Existenz.  Seit  1407  scheint  sie  Dante  nicht  mehr  zu  nennen, 
und  sichere  Spuren  der  Commedia  vermag  auch  das  scharfe  Auge  Fari- 
nellis  bei  ihr  nicht  weiter  zu  finden. 

So  ist  Dante  in  ihr  nicht  sehr  lebendig  geworden.  Sie  sieht  aus  engen 
Schranken  zu  ihm  auf.  Sie  kennt  von  seinen  Werken  nur  die  Commedia. 
Diese  ist  für  sie  ein  opus  doetrinale.  Der  so  persönlich  geprägten  Ge- 
dankenwelt dieser  Commedia  vermag  die  unermüdliche  Kompilatorin  eigent- 
lich nur  das  Unpersönliche  zu  entnehmen,  das,  was  sich  schon  in  den 
Quellen  Dantes,  in  der  Bibel,  bei  Boethius  etc.,  fand:  Gemeinplätze  der 
mittelalterlichen  Wissenschaft. 

Das  zeigt  uns  Farinelli  mit  reichem  Kommentar,  und  er  gibt  uns  zu- 
gleich ein  sympathisches  Bild  der  strebenden  Frau,  die  sich  selbst  treffend 
eine  ancilla  scientiae  genannt  hat.  Er  schöpft  dabei  auch  aus  ihren  un- 
gedruckten Werken.  Wieder  erfüllt  der  Umfang  seiner  Belesenheit  und 
die  Fülle  seines  Gedächtnisses  mit  Bewunderung,  und  zum  Gefühle  der 
Sicherheit,  mit  dem  der  Leser  sich  diesem  Führer  überläfst,  gesellt  sich 
die  Freude  an  der  kunstvollen  Darstellung,  die  das  Wort  Dantes  mit  der 
Rede  Christinens  in  den  fesselnden  Text  verwebt.  — 

A.  Fluri  erzählt  nach  den  Akten  des  bernischen  Staatsarchivs  'Die 
Anfänge  des  Französischunterrichts  in  Bern',  die  in  die  zweite 
Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  zurückgehen.  Es  sind  sehr  bescheidene  An- 
fänge. Sie  bezeugen  ebensowohl  die  Ängstlichkeit  des  Rats  in  Sachen 
der  Niederlassung  von  Fremden  als  das  alte  Elend  des  Sprachmeister- 
tums.  Was  den  Rat  bewegt,  die  Einrichtung  französischen  Unterrichts 
seit  1675  ernstlich  in  Erwägung  zu  ziehen,  ist  der  Umstand,  dafs  es  be- 
reits damals  in  der  Bürgerschaft  Sitte  geworden  war,  die  Kinder  zur  Er- 
lernung der  Sprache  ins  'Welschland'  zu  senden,  wodurch  'ohngleüblich 
vil  gelt  aufs  dem  land  und  hingegen  vil  böse  sachen  eingebracht  werden.' 
Aber  das  Jahrhundert  ging  zu  Ende,  ohne  dafs  die  amtlichen  Schreibereien 
zu  einer  Tat  führten.  Eine  Eglise  francaise  war  schon  1624  errichtet  und 
eine  Ecole  francaise  für  die  Befugies,  die  nach  der  Aufhebung  des  Ediktes 
von  Nantes  in  Bern  Zuflucht  gesucht  hatten,  1689  gegründet  worden. 
Aber  für  die  Bernburger,  die  'welsch'  lernen  wollten,  geschah  von  Amts 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  443 

wegen  noch  lange  Jahrzehnte  nichts,  obwohl  der  Schulrat  1726  erklärt, 
dals  'die  frantzösische  Sprach  heüt  zu  Dag  fast  in  der  gantzen  Welt  üb- 
lich und  zum  Commercio  höchst  nöhtig  ist.'  Erst  1769  wurde  ein  —  un- 
glücklicher —  Versuch  gemacht,  Französisch  in  den  Unterricht  der  Latein- 
schule aufzunehmen,  und  erst  zehn  Jahre  später  erscheint  diese  Sprache 
nun  endgültig  im  Stundenplan  einer  städtischen  Lehranstalt:  der  neuge- 
gründeten sogen.  Kunstschule,  wo  sie  'anstatt  der  todten  Sprachen,  von 
denen  man  im  gemeinen  Leben  selten  einen  Gebrauch  zu  machen  weifs,' 
gelehrt  wird. 

Fluris  interessante  Mitteilungen  zeigen  aufs  neue,  dafs  Bern  von  alters 
her  bei  allem  französischen  Firnis  eine  deutsche  Stadt  gewesen  und  ge- 
blieben ist.  Die  siegreichen  Burgunderkriege,  die  Reformation,  die  Er- 
oberung der  Waadt  hatten  ohnedies  seit  Ende  des  15.  Jahrhunderts  das 
deutsche  Empfinden  gestärkt:  Französisch  war  die  Sprache  der  besiegten 
Savoyer  und  Burgunder  und  der  unterworfenen  Waadtländer.  Der  Eat 
der  Stadt  Bern  hielt  jederzeit  am  Deutschen  als  seiner  Amtssprache  fest. 
Um  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  weigerte  er  sich  sogar,  Mitteilungen 
fremder  Gesandten  in  französischer  Sprache  entgegenzunehmen.  Die  Ver- 
hältnisse zwangen  ihn  hier  natürlich  bald  zu  Konzessionen.  Die  stete 
Berührung  mit  welschen  Untertanen  machte  den  regierenden  Familien  das 
Französische  vertraut:  französische  Rede  wurde  gleichsam  zum  Zeichen 
der  Regimentsfähigkeit,  und  mit  dem  18.  Jahrhundert  kam  die  Zeit,  da 
das  vornehme  Bern  verwelscht  war  wie  —  das  vornehme  Berlin.  Doch 
blieb  Deutsch  die  Amtssprache,  und  der  Bürger  fuhr  fort,  sein  bifschen 
Französisch  mühsam  durch  Privatunterricht  oder  ein  bifschen  Schule  und 
etwas  'Welschland'  zu  lernen  —  wie  heute. 

Zum  erstenmal  wird  die  Frage  der  Einheitlichkeit  des  Lautstandes 
einer  Mundart  zum  Gegenstand  systematischen  Studiums  gemacht  von 
L.  Gauchat:  L'unite  phon^tique  dans  le  patois  d'une  com- 
mune. Der  reiche  Inhalt  dieser  Arbeit  über  den  Dialekt  der  freiburgi- 
schen  Gemeinde  Charmey1  (Gruyere)  mufs  ebensowohl  den  Mundarten - 
forscher  wie  den  Sprachphilosophen  fesseln ;  der  Beobachter  sprachlichen 
Kleinlebens  findet  in  ihr  den  Mikrokosmus  des  Details,  und  wer  weite 
Ausblicke  liebt,  vor  dem  rollt  Gauchat  die  grofsen  Fragen  des  Lebens 
aller  Sprechtätigkeit  auf. 

Die  Erfahrung  einer  langjährigen  und  unermüdlichen  Patoisforschung 
diktierte  ihm  die  ersten  Seiten;  sie  bilden  ein  Vademekum  für  den  Lin- 
guisten, mag  er  selbst  Dialektaufnahmen  machen  oder  die  Aufnahmen 
anderer  benutzen.  Sie  orientieren  mit  Hilfe  präziser  Angaben  über  die 
Kautelen,  die  zu  beachten  sind,  über  das  Mafs  des  Zweifels,  das  berech- 
tigt, über  das  Mafs  des  Vertrauens,  das  unanfechtbar  ist. 

Gauchat  hat  seit  1898  wiederholte  umfangreiche  Untersuchungen  in 
Charmey  vorgenommen,  und  seine  Aufnahmen  eistrecken  sich  über  die 
ganze,  weit  ausgedehnte  Gemeinde  sowie  über  die  Nachbarschaft,  über  alle 
Alter  und  Berufe.  Er  erhaschte  noch  einige  Laute  von  einer  fast  hundert- 
jährigen Greisin :  la  bonne  vieille  venait  de  mettre  de  cote  pour  toujours  son 
rouet,  et,  lisant  la  Bible  aupres  du  cercueil  qu'eüe  avait  fait  faire  d'avance, 
eile  n'etait  dejä  plus  de  ce  monde.  —  Seine  sukzessiven  Aufnahmen  von 
etwa  fünfzig  Individualsprachen  kontrollieren  sich  gegenseitig.  Sie  sind 
ohne  Hilfe  eines  Apparats  von  einem  ungewöhnlich  scharfen  und  geübten 
Ohre  gemacht. 

1  Charmey  liegt,  900  Meter  hoch,  in  der  östlichen  Gruyere,  hart  an  der 
deutschen  Sprach-  und  Kantonsgrenze.  Es  ist  ein  grofses  Dorf  (1250  Einwohner). 
Fast  identisch  ist  die  Mundart  des  benachbarten,  eine  kleine  Stunde  entfernten 
Cerniat. 


444  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Gauchats  Untersuchung  gilt,  wie  der  Titel  zeigt,  vor  allem  den 
Schwankungen,  die  der  Lautstand  der  Mundart  von  einem  Individuum 
zum  anderen  zeigt;  seine  Arbeit  ist  ein  aus  dem  lebendigen  Leben  ge- 
schöpfter Beitrag  zur  Kenntnis  der  Natur  des  Lautwandels. 

Er  beginnt  mit  einigen  orientierenden  Ausführungen  über  den  —  ver- 
schwindenden —  Einflufs  anderer  Mundarten,  über  den  Einflufs  des  Hoch- 
französischen '  (der  nicht  phonetisch  ist  und  sich  besonders  im  Wort-  und 
Phrasenschatz  äufsert).  Dann  kommt  er  (S.  191)  zu  der  Sprachbewegung, 
die  innerhalb  des  Patois  selbst  entsteht  {mouvement  spontane).  Der  Be- 
wegung der  Formen  und  des  Wortschatzes2  widmet  er  nur  wenige  Worte, 


1  Die  alte  mundartliche  Konstruktion  (S.  190  cf.  p.  291)  i  va  lu  vweri  (=  ils 
vont  leur  guerir)  zeigt  mit  ihrem  lu  als  betontem  Obliquus  des  Plurals  (franz.  eux) 
syntaktische  Zugehörigkeit  zum  Provenzalischen. 

2  Für  die  Bewegung  im  Wortschatz  sorgt  das  Leben.  Die  neuen  Dinge  und 
die  neuen  Beziehungen,  die  sein  Flufs  auch  ins  abgelegene  Alptal  wirft,  modifizieren 
den  Wortschatz.  Neben  dem  Neuen  stirbt  Altes  ab:  Wörter,  die  einst  häufig 
waren,  weil  die  von  ihnen  bezeichneten  Dinge  und  Beziehungen  alltäglich  waren, 
treten  mit  diesen  zurück  und  verschwinden.  Diese  Bewegung  des  Wort- 
schatzes zieht  auch  den  Lautstand  in  Mitleidenschaft,  insofern  durch 
das  Zu-  und  Abkommen  von  Wörtern  und  Phrasen  (d.  h.  Lautreihen)  in  der  rela- 
tiven Häufigkeit  der  Laute  und  Lautverbindungen,  d.  h.  in  der  ganzen  Ökonomie 
des  Lautgebäudes  der  Mundart,  kleine  Verschiebungen  erfolgen  —  kleine  mikro- 
skopische Verschiebungen.  Aber  Lautwandel  entwickelt  sich  bekanntlich  aus  un- 
scheinbarsten Anfängen.  Hinter  dem  makroskopischen  Lautwandel,  den 
wir  hören,  liegt  ein  mikroskopischer,  der  jenen  vorbereitet  und  dessen  Bewegung 
wir  nicht  vernehmen. 

Ich  sehe  in  der  steten  Veränderung  des  Wortschatzes,  für  welche  das  Leben 
sorgt,  eine  Quelle  des  Lautwandels,  d.  h.  der  unserem  Ohr  und  unseren  Apparaten 
erkennbaren  Veränderung  des  Lautstandes  einer  Sprache.  Vergessen  wir  nicht, 
dafs  die  Sprachlaute  aufserordentlich  komplizierte  Gebilde  sind  (auch  die,  die  wir 
nach  ihrem  akustischen  Eindruck  als  einheitlich  bezeichnen,  cf.  S.  219  f.),  und 
dafs  diese  Gebilde  Schwankungen  und  Veränderungen  ausgesetzt  sind,  die  zu  messen 
Ohr  und  Apparat  nicht  ausreichen.  Aus  diesen  feinen  und  feinsten  Schwankungen 
und  Veränderungen,  die  jenseit  unserer  Beobachtung  liegen,  quillt  der  sogenannte 
Lautwandel,  d.  h.  der  phonetische  Wandel,  der  sinnfällig  genug  ist,  dafs  wir 
ihn  zu  registrieren  vermögen.  Eine  spätere  Zeit  wird  ohne  Zweifel  Instrumente 
konstruieren,  mit  denen  wir  diesen  Lautwandel  noch  weit  hinter  die  Grenzen  seiner 
heutigen  Sinnfälligkeit  zurück  verfolgen  können;  auch  hier  wird  sich  die  unendlich 
grofse  Welt  des  unendlich  Kleinen  vor  uns  öffnen.  Diese  spätere  Zeit  wird  mit- 
leidig auf  unsere  heutigen  Registrierapparate  herabsehen;  sie  wird  mit  ihren  'Laut- 
fernröhren' und  'Lautmikroskopen'  ein  Leben  und  Weben  der  Laute  erkennen,  das 
wir  heute  nur  ahnen  können  —  bis    ans  Ende  wird  freilich  auch  sie  nicht  sehen. 

Also:  das  Aufkommen  neuer  Wörter,  das  Häufigwerden  bisher  seltener,  das 
Seltenwerden  und  der  Schwund  bisher  gebräuchlicher  Wörter  unterhält  in  der 
Ökonomie  des  Lautgebäudes  einer  Mundart  eine  stete  mikroskopische  Bewegung, 
die  sich  summieren  und  zum  Ausgangspunkt  makroskopischen  Lautwandels  werden 
kann.  Denn  es  ist  augenscheinlich  —  und  ich  weifs  mich  hier  mit  Freund 
Gauchat  völlig  einig  — ,  dafs  der  Umstand,  ob  ein  Laut  resp.  eine  Lautreihe  häufig 
(überhäufig)  oder  selten  ist,  für  die  lautliche  Entwickelung  einer  Mundart  von 
fundamentaler  Bedeutung  ist:  eine  überhäufige  Lautung  kann  sich,  sozusagen  durch 
das  Gewicht  ihrer  Frequenz,  ausbreiten  (1  au tl ich e_  Analogie).  Ein  namhafter 
Wortzutritt  oder  Wortschwund  kann  aber  eben  Überhäufigkeit  einer  Lautung 
schaffen  resp.  hemmen  helfen. 

So  ist  das  Leben  (d.  h.  unsere  Kultur)  eine  Quelle  des  sogenannten  Laut- 
wandels   —    und  zwar  eine  nie  versiegende  Quelle,  ein  wahres  perpetuum  mobile. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  445 

um  rasch  zu  seinem  eigentlichen  Gegenstand,  der  Bewegung  der  Laute, 
den  phonetischen  Variationen,  zu  kommen,  die  er  in  zwei  grofsen  Ab- 
schnitten behandelt: 

A.  Variete  phonetique  provenant  du  rhythme  de  la  phrase. 

B.  Variete  phonetique  suivant  Vage. 1 

Eine  Fülle  linguistischer  Belehrung  tritt  uns  da  entgegen.  Gauchats 
Blick  schweift  von  den  sons  charmeysans  zu  den  Lauten  der  anderen  pa- 
tois  romands.  Wir  erfahren,  dafs  nicht  alle  dieser  Patois  in  ihrem  Laut- 
stand beweglich  sind,  und  dafs  auch  innerhalb  eines  Patois  tous  les  sons 
ne  marchent  pas  en  meme  temps.  Die  neuen  burger  Mundarten  z.  B.  zeigen 
keine  makroskopische  Lautbewegung;  in  Charmey  sind  es  hauptsächlich 
die  Vokale,  die  in  Bewegung  begriffen  sind  (sich  diphthongieren  resp. 
monophthongieren) : 

»  j  ey*  bewegt  sich  über  ey  zu  i  (mey  d'u  >  mi  d'u  =  mois  d'aoüt). 

vortonie-es  \  ow   Dewe§^  8icü   uDer  uw  zu  u   (*  PXOW  pa  >  *  pxu  pä  =  il 
ges  ^  ne  ^eui  ^^ 

r>         j  a°  bewegt  sich  nach  ä  (la°  >   lä  =  loup). 
betontes  {  *  bewegt  sich  nach  f  (te  >  t?  =  toit). 

{  ä  bewegt  sich  nach  ao  (fdve  >  faove  =  feves). 

Zu  A.  Diese  voyelles  mobiles  ey  >  i  und  ou  >  u  sind  also  nur  vor- 
tonig, d.  h.  sie  finden  sich  nur  im  Innern  des  Sprechtaktes  und  auch 
hier  nur  in  geläufigen  Wortverbindungen  (formcs  liees  sagt  Gauchat),  ey 
>  i  sind  die  beweglichen  Pendants  zu  betontem  $  (me  =  mois,  kre  = 
croix,  ve  =  voit);  ow  >  u  die  beweglichen  Pendants  zu  betontem  a  (i  p/,a 
=  il  pleut,  ka  =  cozur).  Dieses  betonte  e  und  a  bleibt  auch  im  Innern 
des  Sprechtaktes  bestehen,^ wenn  nicht  eigentliche  Proklise  eintritt,  also: 
la  croix  blandie  =  la  kre  bldtse,  aber  le  mois  d'oüt  =  h  mey  d'u  —  h  mey 
d'u  — Jd  mi  d'u.3  Welche  von  diesen  vortonigen  Formen,  die  alle  — 
samt  Übergangsformen  —  der  lebenden  Mundart  zur  Verfügung  stehen, 
im  einzelnen  Fall  zur  Verwendung  kommt,  hängt  von  verschiedenen  Fak- 
toren ab: 

a)  vom  Akzent  (Rhythmus),4  z.B.  v  v  begünstigt  i  (mi  d'u) ;  vvvv 
begünstigt  ey  (mey  de  fevre); 

b)  vom  Kedetempo. 

Doch  ist  von  einer  streng  regelhaften  Verwendung  dieser  sons 
mobiles  nach  Rhythmus  und  Redetempo  nicht  die  Rede.  Die  Vielheit 
strebt  zur  Einheit:  i  und  u  werden  herrschend,  wenigstens  bei  den  Jün- 
geren.   Denn  bei  der  Verteilung  der  Formen  spricht 

c)  auch  das  Alter  mit.    Die  älteren  Leute  sind   vielfach  bei  ey,  ow 


1  Diese  Einteilung  ist  nicht  ganz  scharf.  Auch  die  von  Akzent  und  Rede- 
tempo Dedingten  Lautschwankungen  (A)  erfolgen  zum  Teil  suivant  Vage,  vgl.  unten. 

2  Ich  kann  nicht  recht  verstehen,  warum  G.  die  komplizierte  Reihe  aver  — 
aveir  —  avair  —  aveir  —  av$  —  avey  ansetzt  (S.  198).  Weder  der  Umweg  über 
avair  scheint  mir  für  Charmey  wahrscheinlich,  noch  sehe  ich  ein,  warum  die  vor- 
tonige Form  avey  ihren  Weg  über  das  betonte  ave  genommen  haben  soll.  Aus 
altem  aveir  ist  proklitisch  avey,  betont  av$  entstanden. 

3  Im  benachbarten  Bulle  gibt  es  ein  Wirtshaus  La  Croix  blanche  (S.  201).  In 
Bulle  ist  infolgedessen  der  Nexus  croix  blanche  so  geläufig  geworden,  dafs  croix 
in  eigentliche  Proklise  trat  und  eine  "forme  liee'  entstand;  daher  das  Wirtshaus 
la  kri  blätse  heifst. 

4  Es  handelt  sich  um  den  vom  expiratorischen  Akzent  geschaffenen  Rhythmus. 
Gewifs  kommt  auch  dem  musikalischen  Akzent  (der  Sprachmelodie)  Einflufs  im 
Lautwandel  zu;  doch  bestehen  über  diese  subtilen  Dinge  noch  keine  Untersuchungen. 


446  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

geblieben,  so  dafs  z.  B.  ihr  Zowtä  (saider)  neben  Sutä,  ihr  rey  rod%9  (radis 
rouge)  neben  ri  rodxd  noch  besteht. 

Aber  auch  die  Alten  sagen  bereits  regelmäfsig  du  pd  (du  pairi),  di 
face  (des  feves),  vufro  (veux-tu),  vifro  (vois-tu)  und  nicht  mehr  dow,  dey, 
roic,  rey,  d.  h.  der  Lautwandel  dieser  überhäufigen  Verbindungen  ist 
auch  in  ihrer  Rede  weiter  vorgeschritten.  Nicht  in  einer  Front  mar- 
schieren die  Wörter  unter  dem  Befehl  des  Lautwandels,  sondern  die  Be- 
wegung hat  ihre  Vorposten  und  ihre  Nachhut.  Jene  finden  sich  bei  jung 
und  alt,  diese  nur  bei  den  Alten. 

Die  aus  der  Tiefe  der  Sprache  aufsteigende  Lauttendenz  ergreift  zu- 
erst die  überhäufigen  Verbindungen. 

Zu  B.  Die  Mehrzahl  der  Tonvokale  des  Charmeysan  ist  nicht  in  Be- 
wegung, aber  die  drei  beweglichen  au  >  ä,  §  >  e"  und  ä  >  ao  sind  weit- 
aus die  häufigsten;  am  häufigsten  ist  ä  >  ao,  der  den  franz.  Endungen 
er,  ex,  e,  ee  entspricht. 

Auch  im  Wandel  des  betonten  Vokalismus  spielt  die  Häufigkeit  des 
Vokals  eine  Bolle. 

Die  Bewegung  a°  >  ä  ist  heute  abgeschlossen.  Sie  hat  in  Pausa  und 
zwar  im  Wortauslaut  begonnen :  «)  8  lä l  (un  hup) ;  dann  ist  der  Wort- 
inlaut gefolgt:  ß)  ara  (heure);  darauf  ist  auch  das  a°  des  Satzinnern  er- 
griffen worden:  ;-)  h  lä  te  predrq  (le  loup  te  prendra).  Nur  die  erste  Ge- 
neration2 braucht  in  8  und  y  noch  a°  und  auch  sie  nur  mit  Schwankungen : 
der  nämliche  Greis  sagt  pa"dxo  (pollice),  aber  kädo  (cubitu). 

Die  Bewegung  £  >  e'J  scheint  einen  entstehenden  Diphthong  zu  zeigen, 
doch  bleibt  hier  manches  im  ungewissen.3 

1  C'est  l'accent  qui  en  est  cause,  fügt  G.  hinzu,  ohne  freilich  zu  verkennen,  wie 
wenig  damit  erklärt  ist.  Der  nämliche  Finalis-Akzent,  unter  dem  a°  zu  ä  mo- 
nophthongiert wird,  begleitet  in  a  die  Diphthongierung  zu  ao.  Wenn  aber  der 
Akzent  sowohl  Monophthongierung  als  Diphthongierung  mit  sich  bringt,  so  ist  er 
offenbar  nicht  die  eigentliche  Ursache,  sondern  er  schafft  nur  die  Gelegenheit, 
bei  welcher  tiefer  liegende  Ursachen  wirksam  werden. 

So  sucht  der  eine  Sprachforscher  den  Ursprung  gewisser  Diphthongierungen 
im  Affekt  (Schneegans);  der  andere  läfst  sie  in  'den  Lento-Formeu'  entstehen 
(Herzog).  Beide  haben  darin  recht,  dafs  sie  für  einzelne  Sprachgebiete  konstatieren, 
dafs  dort  das  rasche  affektische  Sprechen  und  hier  das  langsame  affektarme 
Reden  den  nämlichen  Lautwandel  (Diphthongierung)  begleite.  Aber  solche  Kon- 
statierungen sind  keine  Erklärungen  der  Diphthongierung,  und  als  Erklärung 
würde  die  eine  der  anderen  nicht  übel  widersprechen.  Dafs  dort  der  Affekt  und 
hier  dessen  Mangel  mit  Diphthongierung  begleitet  ist,  liegt  nicht  am  Affekt,  son- 
dern liegt  an  der  Verschiedenheit  des  ganzen  subtilen  Lautgebäudes  der  betreffen- 
den Idiome,  an  der  ganz  verschiedenen  Lagerung  ihrer  mikoroskopisch  verschiedenen 
Laute  —  d.  h.  die  Ursache  liegt  in  einer  Tiefe  verborgen,  aus  der  noch  kein 
Klang  an  unser  Ohr  dringt.  Wir  können  einfach  makroskopische  Entspre- 
chungen konstatieren. 

2  Gauchat  unterscheidet  drei  Generationen:  I  (60  bis  90  Jahre),  II  (30  bis 
60  Jahre),  III  (bis  30  Jahre). 

3  Sicher  ist,  dafs  der  Laut  in  Bewegung  (bald  £,  bald  £»)  ist;  ob  sie  wirk- 
lich von  q  zu  qv  geht  und  nicht  etwa  q'J  als  das  Altere  gelten  mufs,  davon  hat 
mich  Gauchats  Darlegung  der  schwierigen  Verhältnisse  nicht  überzeugt.  Wenn 
ey  ein  schwindender  Diphthong  ist,  so  erklärt  sich  sowohl  das  ablehnende 
Verhalten  von  -£  aus  -er  als  auch  die  Sprechgewohnheit  einiger  Alten  (S.  214, 
bes.  auch  Anm.  3).  Auch  das  £"  der  konservativen  (cf.  S.  211)  position  interne 
(t&qyla  —  etoile)  spricht  für  älteres  e'J.  Es  scheint  ein  Kampf  zwischen  aus- 
lautendem -£  (aus  -qr)  und  -qy  vorzuliegen,  in  welchem  augenblicklich  f"  der 
mächtigere  Partner  ist  und  auch  die  Jungen  für  sich  hat,  während  die  alte  und 
die  mittlere  Generation  achwankt. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  447 

Für  die  Bewegung  ä  >  ao  —  sie  zog  von  allen  zuerst  Gauchats  Auf- 
merksamkeit auf  die  sons  mobiles  —  notiert  er  Übergangsformen  wie  ä°, 
a°  bis  zu  aiv  >  ow.  Die  Jugend  steht  heute  allgemein  bei  ao;  unter  den 
Altesten  sind  welche  mit  intaktem  a,  andere  zeigen  einige  a°  ohne  alle 
Regelmäfsigkeit.  Gauchat  nennt  Ehepaare,  in  deren  Verkehr  durch- 
aus keine  Ausgleichung  stattgefunden  hat:  der  Mann  ist  in  der  Haupt- 
sache beim  älteren  ä  geblieben,  während  die  Frau  zu  ao  fortgeschritten  ist. 

Neben  diese  voyelles  mobiles''  gesellen  sich  nun  auch  einige  Konso- 
nantenbewegungen (vergl.  S.  221 J,  deren  zwei  von  Gauchat  besonders  ein- 
gehend erörtert  werden: 

Mouilliertes  l  (?)2  wird  von  Generation  I  und  II  noch  gesprochen; 
III  spricht  y,  d.  h.  bildet  den  palatalen  Verschlufs  nicht  mehr. 

Bei  interdentalem  fr  ist  eine  ähnliche  Bewegung  im  Gange :  auch  hier 
wird  die  Artikulationsbewegung  der  Zunge  nicht  mehr  völlig  ausgeführt, 
so  dafs  an  Stelle  der  interdentalen  Reibung  ein  indifferentes  h  entsteht. 3 


1  Gauchat  verzeichnet  im  Vorbeigehen  auch  noch  andere  Vokalbewegungen, 
z.  B.  S.  221.  So  zeigt  die  Jugend  von  Charmey  (p.  188)  die  Neigung,  die  Nasal- 
vokale zu  dekomponieren,  d.  h.  ä  als  o",  5  als  on  zu  sprechen.  Ich  denke,  die 
Bewegung  ging  von  dem  Falle  aus,  wo  ä,  o  vor  einem  Dental  stand,  at  z.  B. 
enthält  stets  und  ganz  natürlich  den  Gleitlaut  n :  änt,  nnd  wenn  tsäta  (chanter) 
zu  t-sänta,  pxäta  (plante)  zu  p%änta  wird,  so  ist  eben  dieser  Gleitlaut  gewachsen 
und  gleichsam  selbständig  geworden.  Die  lautliche  Analogie  hat  diese  Entwicke-. 
lung  dann  weitergetragen,  so  dafs  auch  man  (main),  byän  (blanc)  etc.  entstand.  — 
Ihren  Anfang  aber  hat  die  weithin  verbreitete  Lautbewegung  a>an,  o  >  o~n  viel- 
leicht im  Gefolge  der  Akzentverschiebung  genommen,    die  tsäta   zu  tsata  führt. 

2  Ich  mufs  an  meiner  Auffassung  festhalten,  dafs  der  Laut,  den  Gauchat  mit 
Xl  bezeichnet,  ein  'einheitlicher',  und  zwar  eine  stimmlose  l  mouillee  ist:  /.  Das 
X,  das  einen  vermeintlichen  Rest  von  k  bezeichnen  soll,  ist  nichts  anderes  als  der 
bei  palatalen  Verschlufslauten  sich  leicht  einstellende,  dem  Verschlufs  un- 
mittelbar vorangehende  Engelaut:  ein  Gleitlaut  (vergl.  das  y,  das  leicht  vor  und 
nach  dem  mouillierten  n  gehört  wird:  "n",  aber  im  übrigen  durchaus  nicht  zu  den 
wesentlichen  Komponenten  des  Lautes  gehört,  sondern  nur  seine  Gleitlautumgebung 
bildet).  Wird  nun  bei  l  mouillee  der  Verschlufs  am  Palatum  nicht  mehr  völlig 
hergestellt,  so  entsteht  der  homorgane  Engelaut:  statt  l  ein  y  und  statt/  ein  x- 
Dieses  x  i8t  aDer  vor  Vokalen  ganz  natürlich  vom  tönenden  Übergangslaut  y  be- 
gleitet: xv-  Dieser  Gleitlaut  y  ist  auch  keine  neue  Entwickelung :  er  hat  schon 
beim  /  (=  Gauchats  xl)  bestanden. 

Steckt  nicht  in  dem  mouillierten  /  der  Formen  je  <  ille  est  und  la  <  üle 
habet  der  Gruyere  das  y  des  lateinischen  ibi,  d.  h.  ist  nicht  Je  =  franz.  il  y  est 
und  ja  =  il  y  a?  Die  Erscheinung,  dafs  das  Adverb  in  dieser  Verbindung  fest 
wird  und  semantisch  untergeht,  ist  ja  wohl  bekannt ;  cf.   das  nordital.  ga  =  habet. 

Das  Gegenstück  dazu  bietet  altfr.  ere  (ert)  <  erat.  Dieses  betonte  ere,  das 
mit  e  aus  lat.  d  reimt,  ist  nicht  aus  einer  tonlosen  undiphthongierten  Form  (ere) 
entstanden,  die  den  Vokal  e  nicht  erklären  könnte,  sondern  ist  erwachsen  aus  dem 
Nexus  il  i  iere,  d.  h.  der  Lautreihe  iliere,  die  in  il  i  ere  zerlegt  wurde. 

3  Bei  diesem  Anlafs  streift  G.  die  Frage  der  Bequemheit  des  Lautwandels 
(vergl.  auch  S.  220).  Wenn  der  Sprechende  von  einer  alten  zu  einer  neuen  Laut- 
form übergleitet,  so  dokumentiert  er  dadurch  doch  zweifellos,  dafs  ihm  die  neue 
Lautform  bequemer  ist  als  die  alte.  Die  Gründe  für  diese  Bequemheit  sind  selbst- 
verständlich psychisch  und  liegen  nicht  nur  in  der  phonetischen,  sondern  auch 
in  der  begrifflichen  Natur  der  betr.  Lautung.  Die  Frage  ist  eben  nicht  die,  ob 
uns  fremden  Beobachtern  die  Lautverbiudung  bequem  erscheint  oder  nicht.  Sie 
kann  unserer  Zunge  recht  unbequem  sein  —  fügt  sich  aber  doch  bequem  ins 
Lautgebäude  des  fremden  Idioms  ein:  sie  ist  bequem,  weil  sie  idiomatisch  ist, 
sie    ist    subjektiv    bequem:    De  eommoditatibu»  non  est  disputandum  '     Ist  r  be- 


448  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Gauchat  zeigt  au  den  drei  Generationen  vortrefflich  die  allmähliche  Ent- 
wicklung des  Wandels:  ein  wahres  Schulbild  für  die  Art,  wie  eine  Laut- 
tendenz sich  nach  und  nach  durchsetzt. 

Zuerst  wurde  das  Demonstrativum  ergriffen  und  zwar  frow  (ecce  illo- 
rum)  früher  als  fra  (ecce  Mas):  auch  die  Ältesten  —  mit  einer  Ausnahme 
—  sprechen  bereits  how,  hu,  ha.%  Die  erste  Etappe  ist  also  eine  über- 
häufige Form. 

Dann  ergriff  die  Bewegung  auch  intervokales  fr  und  zwar  in  Verbin- 
dungen wie  vois-tu  :  vifro  >  viho;  veuxtu  :  vufro  >  vuho.  Die  Gene- 
ration II  zeigt  die  Anfänge  dieser  Ausdehnung:  auch  in  dieser  zweiten 
Etappe  sind  die  Träger  überhäufige  Formen. 

Ebenso  beim  jüngsten  Schritt  von  fr  zu  h,  in  den  Frageformen  der 
dritten  Person,  wie  oü  est-il  =  yg  efra  >  yg  eka? 

In  den  Wörtern  wie  festa  >  fifra,  testa  >  tifra  ist  fr  zu  Charmey  noch 
ganz  intakt.  Der  Lautwandel  fr  >  h  tritt  also  zunächst  innerhalb 
morphologischer  Grenzen  auf,*  die,  wohlgemerkt,  zugleich  Häufigkeits- 
grenzen sind.  Diese  Formwörter  hu,  ha  (hu  bä  —  ces  beufs;  ha  vätse  = 
cette  vache),  -ho?  -ha?  sind  ihrer  Natur  nach  überhäufig  und  bedeutungs- 
schwach.3 Sie  haben  in  bestimmten,  stets  wiederkehrenden  Verbindun- 
gen, in  welche  die  lebende,  von  Gesten  begleitete  Rede  sie  setzt,  ihren 
festen  Platz:,  der  Sprechende  kann  sich  begnügen,  sie  gleichsam  blofs  an- 
zudeuten. Überhäufigkeit  und  Bedeutungsschwachheit  der  Formwörter 
fru,  fra,  -fro,  -frd  ermöglichen  und  fördern  eine  reduzierte  Artikulation  fr 
>  h.    Diese  reduzierte  Artikulation  h  übt  sich  nun  so  ein   und   erstarkt 


quem?  Ja!  sagt,  wer  es  zu  sprechen  gewöhnt  ist;  nein!  sagt,  wer  mit  R  auf- 
gewachsen ist. 

Dialektuntersuchungen  wie  die  Gauchats  zeigen  auch,  dafs  die  historische 
Grammatik  in  ihren  entwickelungsgeschicbtlichen  Lautkonstruktionen  nicht  leicht- 
hin mit  dem  Begriff  der  Unaussprechb  arkeit  von  Lautverbindungen  operieren 
soll.  Schwer  aussprechbar  oder  unaussprechbar  sind  ganz  subjektive 
(idiomatische)  Begriffe,  für  die  dem  Grammatiker  kein  objektiver  Maßstab  zur 
Verfügung  steht.  Lat.  obscuru  wird  rätisch  stxir,  ja  in  Oberhalbstein  und  Engadin 
styikr:  das  ist  dem  Räten  leicht  aussprechbar  und  bequem ,  dafür  ist  rätisch  auch 
weder  toskanisch  noch  sächsisch. 

Das  natürliche  Bequemlichkeitsstreben  des  Sprechenden  findet  an  der  Hem- 
mungsvorrichtung des  sogen.  Deutlichkeitstriebs  (cf.  Archiv  CXIII,  154)  seine 
natürliche  Schranke.  Wenn  ich  von  meinem  Jungen  Theodor  in  der  Familie 
als  von  The  spreche  (aus  Bequemlichkeitsgründen),  so  werde  ich  vor  Fremden 
dafür  en  toutes  lettres :  mein  Sohn  Theodor  sagen ;  auch  dies  aus  Bequem- 
lichkeit, denn  ich  will  eben  verstanden  werden. 

1  Eine  orientierende  Bemerkung  über  sämtliche  Quellen  des  Lautes  fr  und 
über  sein  gesamtes  Vorkommen,  d.  h.  seine  Stellung  im  Lautgebäude  der  Mund- 
art,  wäre  für  den  Leser  lehrreich  gewesen. 

2  Doch  erscheint  er  in  Charmey  im  Begriff,  diese  Schranke  zu  überschreiten: 
ifrrd  (elre)  wird  ihn;  fonifrra  >  finihra. 

3  Die  Überhäufigkeit  eines  Wortes  bedingt  stets  eine  gewisse  Nachdrucks- 
losigkeit:  Gedanke  und  Artikulation  des  Sprechenden  gleitet  achtloser  über  ein 
solches  Wort,  das  immer  wiederkehrt  und  vom  Hörenden  ohne  Mühe  immer  wieder 
erkannt  wird.  Der  Grammatiklehrer,  sagt  Gauchat  sehr  gut,  wird  leicht  in  seinem 
Milieu  part'cip  zu  sagen  geneigt  sein;  aber  deswegen  wird  er  nicht  ohne  weiteres 
Al'bi  oder  Prinz'pat  statt  Alibi,  Prinzipat  sprechen.  Die  Überhäufigkeit  schafft  für 
ein  Wort  besondere  Lebensbedingungen  und  zeitigt  Sondererscheinungen.  Zu  den 
überhäufigen  Wörtern  bestimmter  Milieux  gehören  z.  B.  die  Bezeichnungen  des 
Handwerkszeuges,  weshalb  gerade  diese  Ausdrücke  der  etymologischen  Deutung 
so  grofse  Schwierigkeiten  machen. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  440 

so,  dafs  sie  auch  weiterhin  auf  dem  Wege  lautlicher  Analogie  sich  aus- 
dehnt und  auch  bedeutungsstarke  Wörter  wie  fifra,  tifra  (Gruyeres :  fiha, 
tiha)  ergreifen  kann. 

Diese  Untersuchungen  Gauchats  zeigen,  dafs  der  Lautwandel  sich  in 
Tat  und  Wahrheit  in  anderer  Weise  vollzieht,  als  die  Theorie  sich's  aus- 
gedacht hat.  Diese  Theorie  behauptet,  dafs,  wenn  ein  Laut  in  Be- 
wegung gerät,  z.  B.  d  gegen  e  hin  oder  ~t~  gegen  d  >  S  hin,  diese  Be- 
wegung in  winzigen  Schritten  gleichmäfsig  auf  der  ganzen  Linie  bei  allen 
d  und  T  sich  einstelle  und  alle  d  und  T  zu  gleicher  Zeit  bei  e  resp.  S 
anlangen.  Und  die  Theorie  fügt  hinzu,  dafs  das  so  sein  müsse,  weil  der 
Lautwandel  ausnahmslos  verlaufe.  Die  Tatsachen  einer  lebenden  Mund- 
art aber  zeigen,  dafs  die  Lautbewegung  nicht  in  dieser  Gleichmäfsigkeit 
und  Allgemeinheit  verläuft,  sondern  dafs  sie  an  einer  einzelnen,  ganz  be- 
stimmten (bedingten)  Stelle  einsetzt  und  hier  sich  entwickelnd  und  erstarkend 
über  diese  ursprüngliche  Bedingtheit  hierhin  und  dorthin  hinausgreift  und 
—  hier  zögernd,  dort  stürmischer  —  das  Entwickelungsresultat  (d.  h. 
den  fertigen  neuen  Laut)  auf  andere,  nicht  identische,  sondern  nur  ähn- 
liche Fälle  überträgt.  Gewifs  zeigt  das  Ergebnis  dieser  Übertragung 
schliefslich  eine  grofse  Regelmälsigkeit  —  aber  der  Übertragungsprozefs 
selbst  (d.  h.  der  Wandel)  vollzieht  sich  in  der  Individualsprache  sprung- 
haft und  ohne  Konsequenz. 

Und  in  diesen  Prozefs  hinein  führt  uns  Gauchats  feine  Beobach- 
tungsgabe und  kluger  Sinn. 

Der  Wandel  von  fr  >  h  nimmt  mit  einem  einzigen  überhäufigen  Wort 
(frotv),  welches  das  fr  in  besonderer  Stellung  —  anlautend  vor  o  —  zeigt, 
seinen  Anfang.  Anlautendes  fr  vor  a  im  überhäufigen  fra  derselben  demon- 
strativen Funktion  folgt,  fr  vor  a  ist  nämlich  gar  nicht  der  gleiche  Laut 
wie  fr  vor  o  —  ganz  abgesehen  von  der  makroskopischen  Tatsache,  dafs 
fr  vor  o  'gerundet'  ist:  jede  Lautverbindung  modifiziert  durch  feinere  oder 
gröbere  Assimilationsvorgänge  (Sandhi)  den  einzelnen  Laut,  und  für  ein 
so  feines  Ding,  wie  der  Lautwandel  ist,  fallen  auch  die  kleinsten,  feinsten 
Differenzen  der  Laute  in  Betracht.1 

Nuu  greift  h  statt  fr  über  die  demonstrative  Funktion,  die  den  Prozefs 
zunächst  begrifflich  bedingt  hatte,  hinaus  auf:  viho,  auf:  yg  ehd,  immer 
noch  innerhalb  überhäufiger  bedeutungsschwacher  Nexus  stehen  bleibend. 
Ohne  alle  Regelmäfsigkeit  sprechen  die  Sprachgenossen  fra  neben  ha,  vifro 
neben  viho,  yg  efrd  neben  yg  ehd. 

Niemand  sagt  zu  Charmey  statt  fifra  ein  fiha  (wie  sie  im  Hauptort 
Gruyeres  sprechen).  Das  fr  in  fifra  ist  eben  tatsächlich  ein  etwas  anderer 
Laut  als  das  fr  in  vifro  —  seine  psychischen  Bedingungen  (Überhäufig- 
keit,  Funktion)  sind  ganz  andere  — ,  und  im  Sprachempfinden  des  Char- 
meysan  sjegt  vorläufig  diese  akzidentelle  Verschiedenheit  über  die  funda- 
mentale Ähnlichkeit  und  verhindert  die  Ersetzung  durch  h.  Aber  —  il 
tempo  e  galantuomo  auch  in  Dingen  des  lautlichen  Empfindens,  und  Char- 
mey wird  wohl  ebenfalls  dahin  gelangen,  wo  Gruyeres  bereits  angekommen 
ist:  zu  fiha. 

Heifst  es  einmal  viha,  fiha,  tiha,  dann  liegen  die  Dinge  so,  dafs  am 
grünen  Tisch  der  papierenen  Linguistik  ein  sogen,  'ausnahmsloses  Laut- 
gesetz' beschlossen  werden  kann,  das  vorschreibt:  in  Charmey  mufs  inter- 
vokales fr  zu  h  werden !  Wie's  aber  mit  fiha  wirklich  zugegangen  ist, 
das  läfst  dieses  'Gesetz'  nicht  ahnen:  ein  solches  'Gesetz'  schlägt  das 
Leben  tot! 


1  Schon  längst  habe  ich  (z.  B.  Archiv  XCIV,  348  n.)  dagegen  protestiert,  dafs 
unsere  historische  Lautlehre  über  diese  Differenzen  so  leicht  hinweggeht.  G.  Paris 
habe  ich  freilich  nicht  überzeugt  Cef.   Rnmania  XXXI,   491). 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    CXV.  29 


450  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Nun  konstatiert  Gauehat  die  kapitale  Tatsache,  dafs  den  Bewoh- 
nern von  Charmey  die  geschilderten  starken,  zum  Teil 
sprunghaften  Lautdifferenzen  nicht  bewufst  sind.  Die  einen 
sprechen  •>,  die  anderen  //,  die  einen  sagen:  ipxowpa",  die  anderen :  i p/,u 
/></.  die:  n  na  (un  nex),  jene:  S  nao  —  aber  sie  hören  diese  Verschieden- 
heit nicht.  Die  Alten  sagen:  h  me  le  da0  (le  miel  est  doux),  die  Jungen: 
le  n/r"  le  da  —  aber  wenn  sie  auf  solche  Differenz  aufmerksam  gemacht 
werden,  so  wollen  sie  nichts  davon  wissen  und  weisen  den  Beobachter  mit 
der  Erklärung  zurecht:  Nous  parlons  tous  la  meme  chose!  (S.  2U2).  Le 
sujet  qui  vient  de  prononcer  vuho  proteste  qu'il  ne  s'exprime  jamais  ainsi 
(S.  231). 

Der  Lautwandel  der  gesprochenen  Sprache  vollzieht  sich,  ohne  dafs 
die  Sprachgemeinschaft  der  durch  ihn  geschaffenen  individuellen  Ver- 
schiedenheiten bewufst  wird.     Das  ist  eine  sehr  bedeutsame  Tatsache. 

Unser  Ohr  ist  bekanntlich  den  Klängen  der  Muttersprache  gegenüber 
sehr  empfindlich.  Die  geringste  Veränderung  ihrer  Laute,  die  ein  Frem- 
der sich  zuschulden  kommen  läfst,  kommt  uns  scharf  und  deutlich  zum 
Bewufstsein.  Dafs  dieses  scharfe  Ohr  in  Charmey  Lautdifferenzen  wie  9- —  h, 
oic  —  u  etc.  nicht  hört,  liegt  daran,  dafs  es  sie  nicht  als  etwas  Fremdes 
empfindet.  Diese  Differenzen  beruhen  auf  Lauttendenzen,  die  tief  im 
Sprachgebäude  begründet,  die  aus  dessen  besonderer  Harmonie  geboren 
sind.  Sie  reichen  mit  ihren  Wurzeln  tief  in  das  mikroskopische  Leben 
und  Weben  der  Laute  hinab,  und  auch  das  Individuum,  das  den  Laut- 
wandel noch  nicht  sinnfällig  aufweist,  trägt  ihn  doch  latent  in  seiner 
Sprache,  trägt  die  schlummernde  Neigung  dazu. 

Ein  Fremder  verletzt  unser  Ohr  durch  Laute,  die  zu  unserem  ganzen 
Lautsystem  in  keinem  harmonischen  Verhältnis  stehen;  die  neuen  Laute, 
die  der  eingeborene  Lautwandel  schafft,  empfinden  wir  als  harmonische 
Teile  dieses  Systems,1  das  uns  mit  unseren  Sprachgenossen  ge- 
meinsam ist. 

Jenes  komplizierte  psychische  Gebilde,  das  wir  Sprache  nennen,  ist 
gewifs  bei  jedem  Individuum  individuell  gestaltet.  Die  auf  die  Sprache 
bezüglichen  Vorstellungen  (Klang-,  Bewegungs-  und  Begriffsbilder)  sind 
bei  jedem  etwas  anders  gelagert,  besonders  die  Begriffsbilder.  Die  Asso- 
ziationsreihen aber,  in  denen  die  den  Sprach  lauten  geltenden  Klang- 
und  Bewegungsbilder  geborgen  sind,  sind  bei  allen  Sprach  genossen  wesent- 
lich identisch;  sie  sind  interindividuell.  Auf  der  Basis  dieses  gemeinsamen 
Lautempfindens  erwächst  der  Lautwandel;  in  diesen  Assoziationsreihen 
verläuft  er. 

So  hat  der  Lautwandel  wesentlich  unpersönlichen  Charakter.  Tai 
etudie,  sagt  Gauchat,  environ  50  langues  individuelles  et  je  n'y  ai  rien 
trouve  d' individuell  — 


1  Man  pflogt  die  Resultante  aller  Artikulationen  eines  Idioms  Artikulations- 
basis zu  nennen  und  könnte  also  in  einer  gewissen  äufserlichen  Weise  sagen, 
dafs  die  durch  den  Lautwandel  geschaffenen  Laute  eben  der  Artikulationsbasis 
konform  sind.  —  Man  darf  aber  nicht  vergessen,  dafs  'Artikulationsbasis'  die  Be- 
zeichnung eines  physiologischen  Verhältnisses  ist,  während  der  Lautwandel 
ein  psychischer  Vorgang  ist.  Indessen  könnte  man  von  einer  psychischen 
Artikulationsbasis  sprechen  und  darunter  das  Ganze  der  psychischen  Lautbilder 
verstehen,  die  der  Artikulation  vorstehen. 

2  Dafür  gibt  er  zum  Schlufs  noch  einen  überraschenden  Beleg,  der  zugleich 
die  bewunderungswürdige  Schärfe  und  Umsicht  seiner  Arbeitsweise  illustriert.  In 
dem  jenseit  des  Javroz  liegenden,  von  Charmey  etwa  dreiviertel  Stunden  entfernten 
Dorfe  Cerniat,  das  mit  Charmey  sehr  wenig  Verbindung  hat,  zeigen  sich  die  näm- 
lichen Lauterscheinungen  wie  in  Charmey.    Dieselben  Laute  sind  in  der  nämlichen 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  451 

Wenn  diese  Anschauungen  richtig  sind,  so  ist  es  auch  einleuchtend, 
dafs  die  Häufigkeit  eines  Lautes  seinen  Wandel  fördert.  Ich  will  nicht 
sagen,  dafs  die  Häufigkeit  den  Wandel  geradezu  hervorruft  —  aber:  ein 
Laut,  der  in  Bewegung  geraten  ist,  wird  rascher  zum  sinnfälligen  Laut- 
wandel gelangen,  wenn  er  sehr  häufig  gebraucht  wird. 

Gauchat  hat  nachgewiesen,  wie  Überhäufigkeit  die  Lautbewegung  för- 
dert: die  mobilen  a°,  &',  a  sind  zugleich  die  häufigsten  Vokale,  und  9-  be- 
ginnt seinen  Verschlufs  zu  verlieren  in  gewissen  Lautverbindungen  häufig- 
sten Gebrauchs. 

Und  noch  auf  eine  andere  'Häufigkeitserscheinung'  weist  Gauchat 
wiederholt  und  nachdrücklich  hin.  Er  hat  beobachtet,  dafs  die  Frauen 
den  Männern  im  Lautwandel  durchschnittlich  voraus  sind  (in  l  >  l,  S.  205; 
fr  >  h,  S.  2()0;  a°  >  ä,  S.  211;  ä  >  ao,  S.  218  f.;  vergl.  S.  224).  Das 
hängt  zweifellos  damit  zusammen,  dafs  die  Frau  mehr  spricht  und  also 
auch  die  in  Bewegung  befindlichen  Laute  mehr  braucht  und  so  die  in 
ihnen  wirkende  Lauttendenz  fördert.  A  la  eampagne,  heifst  es  bei  Gau- 
chat (S.  218),  le  pere  quitte  la  maisott  de  bonne  lieure  pour  vaquer  ä  ses 
travaux,  au  milieu  desquels  on  le  voit,  tacitume  et  souvent  isole,  toute  la 
journee.  Tel  pere  parle  plus,  en  ete,  ä  ses  betes  qu'ä  ses  enfants.  La  mere 
qui  passe  beaueoup  plus  de  temps  ä  la  maison,  en  societe,  ä  cuisiner,  ä 
laver,  parle  beaueoup  plus.  S'il  faut  dire  10000  fois  päla  pour  arriver  ä 
dire  paola,  il  est  evident  que  la  nouvelle  facon  de  prononcer  apparaltra 
plus  vite  dans  le  langage  de  la  femme  que  dans  le  parier  plus  rare  et  plus 
lent  de  l' komme. 

Daraus  geht  nun  auch  hervor,  dafs  das  Kind  von  der  Mutter  einen 
vorgerückteren  Lautstand  lernt:  'La  derniere  generation,  c'est  ä  dire  tous 
les  enfants,  se  ränge  du  eote  des  meres  . . .  on  ne  parle  pas  sans  raison  du 
toit  paternel,  mais  de  la  langue  maternelle. 

Das  ist  im  Lautwandel  die  Bolle  des  Kindes:  Übernahme  und  Weiter- 
bildung einer  vorgeschritteneren  Lauttendenz.  Diese  Tendenz  wird  nicht 
durch  eine  angeblich  unvollkommene  Lautnachahmung  seitens  des  Kindes 
geschaffen.1  Nicht  beim  Kinde  tritt  eine  Lauttendenz  zuerst  in  Er- 
scheinung, sondern,  wie  Gauchat  mit  guten  Gründen  meint,  beim  Er- 
wachsenen im  kräftigsten  Alter,  bei  der  Generation  IL  Diese  Generation 
hat  den  reichsten  Sprachbesitz,  und  in  dieser  gröfsten  Fülle  des  Sprach- 
lebens treten  die  verborgenen  Lauttendenzen  an  die  Oberfläche  im  Laut- 
wandel. 

Aber  warum  wandelt  sich  denn  der  Sprachlaut  überhaupt?  Keine 
der  bisherigen  Erklärungen  befriedigt,  insbesondere  auch  die  nicht,  die 
den  Sprachwandel  auf  einen  ganz  imaginären  Wandel  der  artikulierenden 
Organe  gründet. 

Indem  sich  die  Linguistik  ausschliefslich  an  den  sinnfällig  gewordenen, 
makroskopischen  Lautwandel  hält,  hat  sie  zu   der  Vorstellung  gelangen 

Bewegung,  obwohl  ein  persönlicher  Einflufs  von  Dorf  zu  Dorf  nicht  besteht.  Ein 
Greis  zu  Charmey  spricht  wie  ein  Alter  aus  Cerniat  —  auch  die  Jugend  der 
beiden  Dörfer  ist  lautlich  gleich  weit  vorgeschritten,  so  dafs  innerhalb  der  näm- 
lichen Gemeinde  zwischen  einem  70jährigen  und  einem  20jährigen  Charmeysau  die 
Lautdirfeienzcn  gröfser  sind,  als  zwischen  zwei  jungen  Burschen,  von  denen  der 
eine  aus  Cerniat,  der  andere  aus  Charmey  stammt. 

1  Diese  unhaltbare  Lehre  ('Einübungstheorie')  wird  von  Gauchat  wiederholt 
abgelehnt  (S.  212,  228  ff.).  —  Statt  auf  die  angebliche  Ungenauigkeit,  mit  der 
das  Kind  die  Rede  der  Mutter  nachahme,  eine  sprachliche  Eutwickelungstheorie 
zu  gründen,  fufse  man  lieber  auf  der  augenscheinlichen  Genauigkeit  dieser  Nach- 
ahmung und  der  Virtuosität,  mit  der  das  Kind  sich  nach  den  ersten  Tastversuchen 
seinem  lautlichen  Milieu  anbequemt.  Am  Kinde  ist  doch  gerade  die  Fähigkeit 
der  Assiinilierunn  das  Charakteristische  und  nicht  die  Selbständigkeit. 

29* 


452  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

können,  es  sei  der  Lautwandel  ein  rein  artikulatorischer  Vorgang.  Sie 
hat  auf  diese  Weise  auch  auf  den  Einfall  kommen  können,  den  Laut- 
wandel aus  Veränderungen  der  Artikulationsorgane  zu  erklären,  und  hat 
ihn  als  'physiologisch'  den  'psychischen'  Sprachvorgängen  gegenübergestellt. 

Es  ist  aber  der  Lautwandel  selbst  ein  psychisches  Phänomen;  er  be- 
ginnt mit  jenen  allerfeinsten  Veränderungen  der  psychischen  Lautbilder, 
die  der  Akzent  veranlafst. 

Dafs  die  Lautgestalt  eines  Wortes  mit  dem  Akzent  aufs  innigste  zu- 
sammenhängt und  die  Tonsilbe  andere  Lautschicksale  hat  als  die  Neben- 
tonsilbe, weifs  man ;  ebenso,  dafs  eine  Veränderung  des  Akzentes  von 
Lautwandel  begleitet  ist. 

Die  romanische  Sprache,  deren  Lautwandel  sie  am  weitesten  vom 
Latein  entfernt  hat,  das  Französische,  weist  auch  die  stärkste  Akzent- 
änderung auf.  Das  Französische  ist  binnen  einem  Jahrtausend  vom  über- 
mächtigen expiratorischen  Akzent,  der  die  Neben tonsilben  einschrumpfen 
liefs  (carricdtis  >  tsardxiets),  zum  schwebenden  Akzent  gekommen,  der 
trotz  grundsätzlicher  Üxytonieruug  fast  alle  Silben  gleich  hervortreten 
läfst:  das  Französische  ist  vom  Extrem  des  gewalttätigen  Iktus  zum 
Extrem  des  schwächsten  Nachdrucks  gekommen.  Und  gegenwärtig  sieht 
es  so  aus,  als  ob  neue  Formen  der  Akzentuirung  sich  vorbereiteten:  im 
Affekt  stellt  sich  ein  kräftiger  expiratorischer  Akzent  ein,  und  oft  sehen 
wir  ihn  die  altgewohnte  Tonstelle  verlassen  (absolument ;  c'est  degoütant  etc.). 
Wohin  das  führen  mag,  braucht  uns  hier  nicht  zu  beschäftigen ;  ich  wollte 
nur  auf  den  Parallelismus  zwischen  Akzentwandel  und  Lautwandel  hin- 
weisen:  Akzentwandel  wird  zum  Anlafs  von  Lautwandel. 

Der  Akzent  aber  wandelt  sich  aus  Gründen  des  Affekts.  Der  Akzent 
(der  expiratorische  und  der  musikalische)  hat  den  Zweck,  gewisse  Teile 
der  Lautreihe  hervorzuheben  und  so  die  Aufmerksamkeit  des  Hörenden 
auf  bestimmte  Teile  der  Rede  zu  lenken.  Im  Akzent  liegt  das  persön- 
lichste Element  der  Sprache;  er  ist  seiner  Natur  nach  individuell.  Indem 
nun  die  Sprache  auch  den  Akzent  in  Rhythmus  und  Melodie  der  Laut- 
reihe für  alle  festlegt,  legt  sie  dem  Individuum  eine  Fessel  auf,  die  es  in 
gewöhnlicher  Rede  willig  trägt,  die  es  aber  in  der  Erregung,  im  Affekt 
forziert  und  sprengt.  Das  Bedürfnis  des  Affekts  rehabilitiert  den  indi- 
viduellen Akzent. 

So  liegt  im  Akzent  der  Sprache  ein  Widerspruch,  der  nie  zur  Ruhe 
kommen  wird,  so  lange  Menschen  sprechen :  der  Widerspruch  zwischen 
Individuum  und  Gemeinschaft.  In  dem  Mafse,  in  welchem  eine  'Hervor- 
hebungsweise' (Akzentuirung)  allgemein  (interindividuell)  wird,  in  dem 
nämlichen  Mafse  verliert  sie  an  Hervorhebungs kraft,  d.  h.  wird  sie  selbst 
entwertet,  und  instinktiv  strebt  das  Individuum  nach  eigener,  abweichen- 
der, seinen  Affekt  befriedigender  Hervorhebungsweise,  die  dann  wieder 
allgemein  werden  kann.  Aus  diesem  Kreislauf  entsteht  eine  stete  Be- 
wegung der  Laute,  und  aus  ihr  vermag  im  Laufe  der  Zeit  makroskopischer 
Lautwandel  zu  erfolgen. 

Eine  andere  Quelle  des  Lautwandels  habe  ich  oben  S.  17  Anm.  2  ge- 
nannt: den  Kultur  Wechsel,  der  den  Wortschatz  umgestaltet.  Das  ist  eine 
Bewegung,  die  von  aufsen  an  den  sprechenden  Menschen  herantritt.  Jene 
innere  Quelle,  die  in  seinem  Affekt  hegt,  ist  aber  viel  mächtiger:  sie  ist 
die  Quelle  des  Lautwandels. 

So  ist  der  ununterbrochene  Anstofs  zum  Lautwandel  individuell,  der 
Wandel  selbst  aber  eine  Gemeinschaftsform. 

Vollzieht  sich  dieser  Wandel  nach  Gesetzen?     Gibt  es   Lautgesetze? 

Das  ist  in  letzter  Linie  eine  Frage  der  Weltanschauung. 

Wer  überzeugt  ist,  dafs  auch  das  psychische  Geschehen  Gesetzen 
unterliegt,  der  wird  auch  'Lautgesetze'  anerkennen. 

Gefunden  aber  hat  noch  niemand  ein  solches  Gesetz.     Was  die  Lin- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  458 

guistik  gefunden  hat,  und  was  sie  mifsbräuchlich  Lautgesetze  nennt,  sind 
keine  Gesetze,  sondern  sind  Regeln,  d.  h.  Formeln  für  makroskopische 
historische  Lautentsprechungen.  Es  sind  gute  wackere  Regeln,  die  gerade 
so  lange  gelten,  als  keine  Ausnahme  kommt  —  denn  auch  von  ihnen  gilt: 
keine  Regel  ohne  Ausnahme.1 

Wir  sollten  wirklich  aufhören,  unsere  kleinen  Entdeckungen  als  Ge- 
setze zu  erklären  und  demgemäfs  zu  verehren  und  über  diesem  Götzen- 
dienstchen die  wahre  Natur  des  sprachlichen  Lebens  zu  vergessen.2 

Es  ist  mit  der  Sprache  wie  mit  dem  Wetter. 

Gewifs  ist  der  Witterungswandel  von  Gesetzen  bedingt,  und  wenn  wir 
diese  Gesetze  kennten,  so  könnten  wir  mit  Sicherheit  das  Wetter  voraus- 
sagen. Aber  so  eifrig  unsere  Meteorologen  forschen,  so  sind  sie  doch  zu 
einer  unfehlbaren  Wetterprognose  noch  nicht  gekommen:  sie  haben  in 
den  Entsprechungen  der  Wetterkarten  gewisse  Wetterregeln  gefunden, 
verfeinerte  und  erweiterte  Bauernregeln,  auf  Grund  deren  sie  die  zu- 
künftige Witterung  erraten  —  stets  der  Ausnahme  gewärtig. 

Nun :  auch  der  Lautwandel  ist  von  Gesetzen  bedingt,  und  wenn  wir 
sie  kennten,  könnten  wir  die  zukünftige  Gestalt  eines  Idioms,  das  Sprach- 
wetter, voraussagen.  Aber  wir  haben  noch  keine  Lautgesetze  gefunden, 
sondern  nur  Regeln.  Was  wir  kennen,  das  sind  die  Bauernregeln  des 
Sprachwetters. 

Gauchat,  der  tiefer  als  irgendeiner  vor  ihm  in  den  Prozefs  des  Laut- 
wandels eingedrungen  ist,  bestätigt  eben  diese  Lehre,  eine  Lehre  der  Be- 
scheidenheit. — 

Die  Zehnerzahlen  in  den  romanischen  Sprachen  behandelt 
J.  Jud.      Seine  Untersuchung  gilt  in  erster  Linie  viginti  und  triginta. 

Er  geht  von  der  hochlateinischen  Betonung  vlgihti,  triginta  aus  und 
lehnt  es  mit  Recht  ab,  der  vereinzelten  Angabe  des  Galliers  Consentius 
{triginta)  gemeinromanische  Bedeutung  zuzumessen.3  Auch  in  der  weite- 
ren Ausführung,   durch  die  er  die   romanischen  vingt,   venti,  veinte  etc.; 


1  Gauchat  schliefst  seine  Studie  mit  einigen  schönen  Worten  an  die  Adresse 
derer  qui  croient  encore  ä  Vinfaillibilite  des  lots  phonetiques,  die  er  durch  seine  For- 
sehungsresultate  noch  einmal  des  Irrtums  überwiesen  hat.  Aber  auch  er  braucht 
noch  den  Ausdruck  'Lautgesetz'  statt  Lautregel.  Gewifs  haben  alte  termini  tech- 
uici  ein  gutes  historisches  Recht;  aber  gerade  der  terminus  'Lautgesetz'  ist  ge- 
fährlich, weil  er  fortwährend  zu  den  Mifsverständnissen  verleitet,  die  niemand 
nachdrücklicher  bekämpft  als  Gauchat. 

2  Und  docli  hat  schon  vor  dreifsig  Jahren  Ludwig  Tobler  Über  die  Anioendung 
des  Begriffes  von  Gesetzen  auf  die  Sprache  geschrieben  ( Vierteljahresschrift  für  wiss. 
Philosophie  III,  30—52). 

3  Zu  der  in  extenso  mitgeteilten  Stelle  aus  Consentius  wäre  noch  man- 
cherlei nachzutragen.  Es  würde  schon  förderlich  sein,  sie  übersichtlicher  zu 
drucken,  als  dies  der  Verfasser  (S.  247 — 249)  vornimmt,  der  hier  weniger  tut  als 
Förster  im  Altfranz.  Übungsbuch,  und  der  in  der  Zusammenstellung  der  gerügten 
Barbarismen  (S.  249)  einiges  versieht  (es  soll  heifsen:  10.  socrum  pro  socerum; 
15.  onortm  pro  honorem). 

Jud  will  zeigen,  wie  wenige  der  von  Consentius  angeführten  Barbarismen 
'eine  Spur  in  den  romanischen  Sprachen  zurückgelassen  haben.'  Da  müssen  aber 
zunächst  die  Fälle  überhaupt  ausgeschieden  werden,  die  offenbar  blofse  Versehen 
flüchtiger  oder  unwissender  Schreiber  sind  (Tracia,  Trachia  statt  Thracia)  oder  die 
sich  auf  Qualitätsfehler  zeitgenössischer  Reimkünstler  beziehen  (öralor,  piper). 
Diese  Fälle  bezeugen  ja  natürlich  nicht  unmittelbar  entsprechende  Lautwerte:  dafs 
ein  Dichter  piper  mafs,  beweist  nicht  die  wirkliche  Existenz  einer  Form  mit  i, 
sondern   zeigt   nur,   dafs   ihm   die   hochlatein.    Quantität   des   Wortes  piper   neben 


454  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

trotte,  trinta,  treinta  etc.  auf  dem  Wege  lautgerechter  und  analogischer 
Entwickelung  zu  gewinnen  sucht,  stimme  ich  ihm  im  allgemeinen  bei.  Im 
einzelnen  kann  man  sehr  schwanken,  denn  jedes  der  beiden  Zahlwörter 
ist  lautlich  sui  generis.1 

Die  spätere  lateinische  Überlieferung  zeigt  folgende  Graphien : 
für  viginti:  vigenti,  reienti  (ßetevTi),  rienti,  vinti; 
für   trtg int a:    trigenta,   trienta,   trenta,   trinta   (treginta  ist  eine 
späte  vereinzelte  Schreibung). 

Diese  Graphien  bedürfen  der  Interpretation ;  sie  geben  eben  nicht  ein- 
fach die  späteren  vulgärlateinischen  Laute  wieder,  sondern  stellen,  wie 
üblich,  Kompromisse  zwischen  vulgärer  Lautform  und  Schreibtradition 
dar.     Ich  interpretiere  sie  so : 

Tritj'nüa  lautete  zunächst  tridyenta,  triyenta;  viginti  aber  vidyinti,  vi- 
ginti (Umlaut  -i).  Aus  triyenta,  trienta  entstand  trenta,2,  indem  der  kom- 
plizierte Anlaut  tr  die  Reduktion  des  Diphthongs  begünstigte.  Aus  vi- 
yinti  entstand  *viinti,  vinti. 

Das  ist  die  lautgerechte  Entwickelung.  Stets  aber  haben  die  beiden 
Wörter  sich  auch  analogisch   beeinflufst:   nach  vinti  ward   trinta?  nach 


seinem  vulgären  pebere  fremd  geworden  war.  —  Die  übrigbleibenden  Fälle  aber 
haben  im  Romanischen  denn  doch  in  weiterem  Umfange  Spuren  zurückgelassen, 
als  Jud  zugeben  will.  Wenn  man  1.  coperit  statt  operit  brauchte,  läfst  uns  das 
erkennen,  dafs  die  Entwickelung  operit  <  aperit  bereits  begonnen  hat.  Bei  8. 
mite  und  9.  vila  kommt  es  in  diesem  Zusammenhang  nicht  darauf  an,  ob  das  ein 
oft  gerügter  Fehler  sei,  sondern  darauf,  dafs  die  Erscheinung  romanisch  ist :  11  >  l 
ist  ja  nordgallische  Entwickelung  (Priscians  l  plenum  [nicht  phnus  !]  hat  hier  nichts 
zu  tun).  Zu  16.  bobis  pro  vobis  ist  nicht  das  Wort  'Betazismus'  von  Bedeutung, 
sondern  der  Nachweis  Parodis,  Romania  XXVII,  185  ff.,  dafs  darin  ein  noch  ro- 
manisch wirksamer  Lautwandel  sich  zu  erkennen  gibt.  17.  peres  pro  pedes:  das 
r  kann  sehr  wohl  eine  ungeschickte  Notierung  für  die  Tatsache  sein,  dafs  der 
Verschlufs  des  d  sich  zu  lösen  beginnt  (5).  18.  stetim  pro  statim  deutet  auf  Um- 
laut hin,  dessen  zerstreute  lateinische  Zeugnisse  einmal  systematisch  gesammelt 
werden  sollten  (vgl.  Gröbers  Zei/schr.  XXV,  733).  19.  tarterum  pro  tartnrum  ist 
gemeinromaniseher  Lautwandel,  denn  auf  den  Laut  kommt  es  hier  an,  nicht  auf 
das  Wort,  etc. 

Übrigens  fügt  Consentius  zu  dem  Barbarismus  triginta  hinzu:  qui  et  per  immu- 
tationcm  fieri  videtur.  Wie  versteht  er  diese  immutatio,  die  sonst  in  seinem  System 
die  dritte  Kategorie  der  Barbarismen  veranlaßt?  Er  meint  wohl  einfach,  dafs 
man  triginta  auch  zur  dritten  Kategorie  stellen  könnte,  wo  er  als  Beispiel  der 
'Akzentvertauschung'  oratorem  anführt.  Durch  die  Nachbarschaft  dieses  hybriden 
oratorem  gewinnt  triginta  nicht  an  Beweiskraft.  Ich  teile  ganz  die  Meinung  Juds, 
der  dieses  triginta  als  Sp  ra  ch  Zeugnis  unerheblich  findet.  Zur  Zeit  des  Consentius 
kannte  die  lebende  Sprache  kaum   mehr  dreisilbige  triginta  neben  trinta,  trenta. 

1  In  triginta  steht  z.  B  der  Ton  vokal  unter  dem  möglichen  Einflufs  eines 
vorangehenden  Palatals;  in  viginti  ist  der  Ton  vokal  »  palatal  doppelt  bedroht 
durch  g  und  v  Ich  bestreite  also  durchaus,  dafs  'triginta  das  gleiche  Resultat  er- 
geben mufste  wie  viginti'  (S.  240).  Auch  ist  die  Verschiedenheit  des  Anlauts  (tri- 
gegen  vi-)  für  die  weitere  Entwickelung  nicht  bedeutungslos. 

2  Jud  behandelt  trenta  als  analogisch,  doch  nicht  ohne  Schwankungen.  S.  250 
nennt  er  trenta  lautgerecht;  vergl.  S.  241  n. 

Einer  solchen  Schwankung  begegne  ich  auch  in  der  Beurteilung  des  Einflusses 
von  l  in  viginti  (Umlaut).  Nachdem  er  S.  237  die  Möglichkeit  solchen  Einflusses 
erwogen  und  zugegeben  (wie  S.  241  n.),  erklärt  er  ihn  S.  242  und  259  n.  als 
unwahrscheinlich. 

3  Trinta  kann  regional  auch  lautgerecht  sein;  wenigstens  ist  es  dies  im  Ro- 
manischen   da,    wo  lat.  i     nicht  e,    sondern    »    ergab,    wie    Sizilien    und    Sardinien 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  455 

triyertta,  trienta  ward  viyenti  (veienii),  vienti1  gebildet  (es  ist  bezeichnend, 
dafs  Verg.  Maro,  der  trienta  hat,  auch  vienti  bietet).  Die  Vulgärlatein. 
Formen  sind  also: 

viyinti    analogisch  triyenta 

viyenti 

trienta 
vienti  \ 

vinti  an  alogisch      trenta 

trinta 

Vinti  und  trenta  sind  die  romanischen  Erben;  sie  sind  die  beiden 
dominierenden  Formen  der  Ostromania  (Rätien,  Italien,  Gallien). 

Wo  sich  rent(i)  findet,  da  liegt  Angleichung  an  die  Endung  -ent(a) 
der  übrigen  Zehnerzahlen  vor,  so  im  florent.  venti  neben  toskan.  (senesisch) 
vinti,  im  locarn.  cent  neben  gemeinlomb.  vint.2 

Vulgärlat.  vinti  und  trenta  sind  die  Grundlagen  der  ostromanischen 
Entwickelung.  Die  Formen,  auf  denen  die  westromanische  (span.- 
portug.)  Entwickelung  beruht,  führen  auf  einen  älteren  Lautstand  zurück : 
span.  reinte,  treinta;  portug.  vinte,  trinta.  Die  mundartlichen  Formen  sind 
uns  noch  fast  unbekannt. 

Die  älteren  spanischen  und  portugiesischen  Texte  zeigen  nach  Juds 
Sammlungen:  veyente,  riente,  veynte,  reinte,  vente,  viinte,  einte;  treyenta, 
treenta,  treymta,  treynta,  treinta,  triinta,  trinta. 

Es  leuchtet  ohne  weiteres  ein,  dafs  Jud  recht  hat,  1.  dreisilbige  For- 


(logud.).    In  Gallura  freilich  ist  frenla  regelhaft.    Juds  Bemerkungen  dazu  (S.  253) 
sind  mir  nicht  klar. 

1  Dafs  vienti  im  Romanischen  Spuren  zurückgelassen  habe,  wage  ich  nicht  zu 
sagen.  Es  kanu  seinerseits  noch  umgelautet  worden  und  so  zu  viinti,  vinti  geführt 
worden  sein.  Dafs  vienti  zu  venti  geführt  habe,  glaube  ich  nicht.  Jedenfalls  taugen 
Parallelen  wie  quielus  >  queius,  sapiebam  >  sapebam  nicht  zur  Erhärtung  (S.  238). 
Dafs  die  Analogieform  venti  vulgärlateinisch  nicht  belegt  ist,    halte  ich  für  Zufall. 

2  Dafs  'bei  ital.  vinti  einzelsprachlich  kein  Umlaut  anzunehmen  ist'  (S.  255), 
mufs  ich  grundsätzlich  bestreiten,  auch  wenn  ich  im  Einzelfalle  Juds  Auf- 
fassung des  senes.  genues.  vinti  und  des  tosk.  venti  teile. 

Wenn  einzelne  Mundarten  keinen  Umlaut  aufweisen,  so  ist  damit  nicht  ge- 
sagt, dafs  nicht  doch  ihre  Zahlwörter,  die  so  häufig  singulären  Lautwandel 
zeigen,  jener  mächtigen  Palatalisierung  erlegen  seien,  die  wir  Umlaut  nennen. 
Insbesondere  kann  ich  nicht  zugeben,  dafs  das  Genuesische  aus  *  venti  heute  nicht 
vinti,  sondern  *veinti ('Attraktion  des  t ')  hätte  ergeben  müssen.  Diese  sogen. 
'Attraktion'  ist  selbst  nichts  anderes  als  'Umlaut'.  Wenn  *cani  zu 
cain  wird,  so  ist  nicht  das  1  'attrahiert'  worden,  sondern  es  hat  sich  aus  *cani 
durch  Vorwegnahme  der  Zungenstellung  für  -t  (progressive  Assimilation)  zwischen 
d  und  n  ein  Gleitlaut  i  (caini)  entwickelt.  Damit  ist  das  d  palatal  umgelau- 
tet, ob  es  bei  ai  bleibt  oder  schliefslich  e  (ken)  entsteht.  Der  Umlaut  a  >  e 
kann  eben  entweder  durch  direkte  'Steigerung'  oder  auf  dem  Umweg  über  Di- 
phthongierung ae  >  ai  >  ei  >  e  entstehen.  Die  Diphthongierung  ('Epenthese', 
Attraktion'  sind  sehr  unglückliche  Bezeichnungen  des  Vorganges)  ist  hier  nur  eine 
Form  des  Umlaufs  —  eine  Erkenntnis,  die  besonders  für  die  Phonetik  der  süd- 
italienischen Mundarten  grundlegend  ist. 

Genues.  *veinli  wäre  also  von  vinti  nicht  grundsätzlich,  sondern  nur  graduell 
verschieden.      Vinti  kann  ein  monophthongisiertes  *veinti  sein. 

In  den  rätischen  Formen  von  viginii  (S.  253)  sollte  Jud  das  e  Gärtners  in 
seiner  Transkription  als  e  wiedergeben ;  zu  rät.  e  aus  lat.  I  cf.  Gärtners  Rätische 
Gramm.,  §  43  f. 


456  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

men  zugrunde  zu  legen  und  2.  ausgiebige  Analogiewirkungen1  anzunehmen. 
Im  einzelnen  aber  ist  es  sehr  schwer,  ohne  die  Hilfe  der  lebenden  Mund- 
arten in  diese  Graphien  lautliche  Ordnung  zu  bringen.  Doch  ist  der  Aus- 
gangspunkt ganz  klar:  *veyinti,  das  aus  viyinti  durch  jene  Dissimilation 
entstanden  ist,  die  ja  interromanisch  und  deshalb  sehr  alt  ist.  Von  diesem 
*  veyinte  ist  dann  treyenta  (statt  triyenta),  treyinta  beeinflufst,  und  nach 
treyenta  ist  wieder  veyente  gebildet.  So  entstand  /'einte  (altspan.  veinte), 
darnach  treinta;  trenta  und  darnach  vente  (dialektisch). 

Aber  auch  viyinte  —  viinte  —  vinte  ist  auf  weitem  iberischem  Gebiet 
geblieben  (z.  B.  portugiesisch)  und  hat  trinta  nach  sich  gezogen. 

Der  ganze  Unterschied  zwischen  den  west-  und  den  ostromanischen 
Formen  reduziert  sich  also  in  seinem  Ursprung  auf  veyinti  statt  viyinti, 
d.  h.  auf  die  verschiedene  Behandlung  von  viyinti,  die  dann  das  Schicksal 
von  triyinta  analogisch  beeinflufst  hat. 

Das  obige  Schema  ist  also  wie  folgt  zu  ergänzen: 

viyinti  triyenta;  regional:  triyinta 


vinti, 

veyinte 

an  alogisch: 

trienta 

(analogisch: 

westroman. 

J 

treyinta 

1 

ventt) 

u.  portug. 

veinte 

\ 

trenta 

span. 

treinta, 

(analogisch : 

trinta, 

span. 

trinta) 

siz.  sard. 

Auch  in  der  Behandlung  der  lat.  Endung  -aginta  (quadraginta)  zeigt 
das  Span,  einen  älteren  Lautstand.  Gemeinromanisch  ist  -aginta  über 
•aenta  früh  zu  -anta  geworden,  z.  B.  ital.  quaranta  (cf.  magistrum  >  ma- 
stro).  Während  dies  quaranta  schon  in  Vulgärlatein.  Schreibung  erscheint, 
zeigt  Spanien  nach  den  lehrreichen  Zusammenstellungen  von  Jud  noch 
im  späteren  Mittelalter  -aenta,  -eenta,  die  in  der  lebenden  Sprache  -enta 
ergeben  haben,  ähnlich  wie  altspan.  cuaraesma  heute  cuaresma  lautet. 

Wir  haben  also,  wie  Jud  konstatiert,  für  die  ganze  Serie  der  Zehner- 
zahlen von  20  bis  90  diese  nämliche  Erscheinung:  die  ganze  Romania 
aufser  der  iberischen  Halbinsel  führt  auf  bereits  monophthongierte  Formen 
(vinti,  trenta,  -anta)  zurück;  Spanien  aber  weist  einen  Lautstand  auf,  der 
weit  über  diese  Monophthongierung  zurückdeutet  in  eine  Zeit,  wo  noch 
veyinte,  triyenta,  -ayenta  erklang.  — 

Un  document  inödit  du  francais  dialectal  de  Fribourg 
au  XVe  siecle  behandelt  J.  Jeanjaquet. 

Die  Suisse  romande,  die  uns  mit  ihren  heutigen  Patois  so  reiche  Aus- 
kunft über  das  Leben  der  Sprache  gibt,  bietet  nur  sehr  kärgliches  Material 
zur  Erforschung  ihrer  alten  Mundarten.  Diese  haben  kein  Schrifttum 
hervorgebracht,  und  die  Amtssprache  blieb  lateinisch.  So  sind  die  älteren 
Urkunden  alle  lateinisch,  und  wenn  mit  dem  14.  Jahrhundert  die  Vulgär- 
sprache in  die  amtlichen  Aufzeichnungen  eindringt,  so  ist  diese  Vulgär- 
sprache eben  nicht  rein  dialektisch.  Es  bemüht  sich  z.  B.  die  Kanzlei 
der  Stadt  Freiburg  augenscheinlich,  Französisch  zu  schreiben  —  wenig- 
stens jenes  Französisch,  das  im  amtlichen  Verkehr  des  benachbarten  Ost- 
frankreich üblich  war:  eine  regionale  ostfranzösische  Kanzlei- 


1  Jud  braucht  dafür  auch  den  Ausdruck  Assimilation,  was  mir  nicht 
glücklich  erscheint.  Und  vollends  von  progressiver  resp.  regressiver  Assi- 
milation zu  sprechen,  um  die  Analogiewirkung  von  viginti  auf  triginta  resp.  um- 
gekehrt zu  bezeichnen,  ist  ein  MifsgrifiF.  Diese  Termini  eignen  der  Lautlehre: 
wenn  in  fiel  das  e  zu  i  umlautet  (hice),  so  ist  eben  dieser  Umlaut  progressive 
Assimilation  des  e   an  %. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  457 

spräche.  In  diese  Kanzleisprache  mischen  dann  die  freiburgischen 
Ämter  je  nach  der  Persönlichkeit  der  Schreiber  Formen  des  lokalen  Dia- 
lekts, so  dafe  ein  hybrides  Amtsfranzösisch  entstand  —  kein  francais 
föderal,  aber  ein  francuis  communal  — ,  ähnlich  dem  hybriden  Deutsch, 
das  zur  nämlichen  Zeit  in  den  Kanzleien  der  Zentral-  und  Ostschweiz  im 
Schwange  war.  Aus  dieser  labilen  Schriftsprache  gilt  es,  die  dialektischen 
Indizien  zu  gewinnen,  die  uns  über  das  parier  local  der  alten  Zeit  Auf- 
schlufs  zu  geben  geeignet  sind. 

Was  an  Dokumenten  des  freiburgischen  francais  dialectal  erhalten  ist, 
ist  zumeist  in  den  acht  Bänden  des  Recueil  diplomatique  du  canton  de 
Fribourg  und  in  den  Comptes  de  depenses  de  la  construction  du  clocher  de 
St-Nicolas  veröffentlicht;  cf.  auch  Bomania  XXI,  39  ff.  Nach  den  sum- 
marischen Bemerkungen  von  P.  Meyer  l.  c.  hat  dann  J.  Girardin  in  Grö- 
bers  Zeitschrift  XXIV,  199  ff.  den  altfreiburgischen  Vokalismus  (Ende 
des  15.  Jahrhunderts)  auf  Grund  der  Comptes  darzustellen  unternommen. 

Jeanjaquet  hat  sich  die  Aufgabe  gestellt,  die  hybride  Kanzleisprache 
selbst  in  ihren  Schwankungen  darzustellen.  Er  legt  dabei  aufser  dem 
ältesten  Dokument  von  1319  eine  bisher  unveröffentlichte  Verordnung 
von  1414  zugrunde,  dehnt  aber  seine  Beobachtungen  auf  das  ganze  ge- 
druckte Material  aus.  Er  zeigt  in  der  Graphie  die  Mischung  hochfranzö- 
sischer, ostfranzösischer  und  lokaler  Lautung  auf;  weist  in  Biegung  und 
Satzfügung  lokale  Gewohnheiten  und  gelegentliche  Germanismen  nach 
und  fügt  auch  ein  Glossar  hinzu. ' 

So  gibt  Jeanjaquet  zum  erstenmal  ein  Bild  der  alten  Amtssprache 
der  französischen  Schweiz,  speziell  Freiburgs.  Er  stellt  mit  dieser  ge- 
drängten, scharfen  und  sicheren  Orientierung  zugleich  fest,  in  welchem 
Mafse  diese  alten  Dokumente  als  Quellen  unserer  Dialektkenntnis  gelten 
dürfen,  und  er  hat  auf  Grund  seiner  reichen  Erfahrung  Veranlassung,  zur 
Vorsicht  zu  mahnen  (S.  288  u.).  — 

Unter  dem  Titel  Zur  italienischen  Syntax  behandelt  E.  Keller 
einige  Fragen  der  Parataxe  mit  reicher  Beispielsammlung. 

I.  Che\2  Dieses  che  (=  denn),  das  lautlich  mit  che  (=  dafs,  weil) 
zusammenfällt  und  infolgedessen  auch  graphisch  (che,  che)  nicht  konse- 
quent —  und  in  der  älteren  Schrift  gar  nicht  —  von  jenem  unterschieden 
wird,  ist  eigentlich  Fragepronomen  (quid?).  Ein  Non  piangere,  che  la 
mamma  e  in  paradiso  ist  schon  durch  den  Indikativ  dahin  charakterisiert, 
dafs  nicht  das  gewöhnliche  Objektsverhältnis  (che  la  mamma  sia  in  para- 
diso) vorliegt,  sondern:  Non  piangere,  che  la  mamma  e  in  paradiso  d.  h. 
eigentlich  =  Non  piangere!  che?  la  mamma  e  in  paradiso  (cf.  A.  Tobler, 
Verm.  Beitr.  II,  79  frz.  car  =  quare?).3 

II.  Die  relativische  Verknüpfung  selbständiger  Gedanken  ist  latei- 
nische Stil  gewohn  heit.    77  quäl  padre  Cristoforo,  wie  Manzoni  das  fünfte 

1  Das  Lehnwort  der  Kirchenverwaltung  marguillier  <  malriculariut  weist  im 
Romanischen  zahllose  Varianten  auf,  von  denen  viele  auf  Verschränkung  mit  re- 
gula  :  malricula  >  *matregula,  *  malr*  gularius  hinweisen,  so  gewifs  auch  freibur- 
gisches  maruglei  und  walliser  maruhy.  Die  lehnwortliche  Behandlung  von  regula 
selbst  ist  vielgestaltig,  und  es  wäre  zunächst  diese  für  die  Westachweiz  festzustellen, 
um  maruglei  etc.  zu  erklären. 

2  Der  Verfasser  schreibt  mit  den  neueren  che,  perche;  warum  dann  aber 
poiche,  fuorche,  sieche? 

3  Hierher  gehört  auch  das  von  Keller  S.  310  f.  behandelte  perche  —  denn. 
Z.  B. :  Per  Vanima  di  Laurenti  fu  quello  im  giorno  dt  sole.  Perche  dovete  safere 
che  ...  =  Perche?     Dovete  sapere  che  ... 

Mit  Unrecht  sind  auch  die  Beispiele  'kontinuativer'  Relativsätze  der  S.  317  f. 
getrennt  von  den  S.  308  f.  angeführten. 


458  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Kapitel  seines  Romans  beginnt,  ist  nicht  lingua  parlata. '  —  Bezieht  sich 
das  Relativum  auf  den  ganzen  Inhalt  des  vorangehenden  Satzes,  so  lautet 
es  zumeist  il  che,  doch  auch  che  allein  und  entsprechend  in  präpositionaler 
Verbindung,  z.B.:  del  che  non  devi  stupirti  oder  di  die  non  devi  stupirti 
(S.  307);  per  il  che  dicevano  . . .  oder  per  che  dicevano2  (Vockeradt,  Lehr- 
buch der  ital.  Sprache,  Berlin  1878,  §  453,  2). 

In  einem  dritten  Abschnitt  werden  noch  andere  Fälle  besprochen, 
wo  die  Verbindung  selbständiger  Sätze  mit  Mitteln  der  Hypotaxe  vor- 
genommen wird:  poiche  =  nämlich  (vgl.  das  franz.  puisque  hier  XCVIII, 
383);  senonche  =  nur;  fuorche  =  nur;  sieche  =  so;  (e)  tanto  che  = 
(und)  schliefslich ;  quando  =  da;  oltreche  =  zudem.  Und  mit  Recht 
weist  Keller  darauf  hin,  wie  schwankend  die  Grenzen  der  Erscheinungen 
sind,  welche  die  Grammatik  durch  ihre  überlieferten  technischen  Aus- 
drücke hübsch  voneinander  geschieden  zu  haben  wähnt.  — 

Henri  Blazes  Übertragung  des  zweiten  Teils  von  Goethes 
Faust.  Der  erste  Franzose,  der  das  Wagnis  einer  Übersetzung  des 
zweiten  Teils  des  Faust  unternommen  hat,  ist  Blaze  de  Bury.  Pro- 
ben dieser  Übertragung  gab  er  zunächst  in  der  Revue  des  deux  mondes 
(1839).  Im  Jahre  darauf  erschien  dann  sein  Faust  de  Goethe,  traduetion 
complete.  Sie  wird  noch  heute  aufgelegt.  —  H.  Blaze  hat  nur  die  durch 
ihren  poetischen  Charakter  hervorragenden  Stellen  in  gebundener  Rede 
wiedergegeben;  das  meiste  ist  in  Prosa  übertragen,  und  in  den  späteren 
Auflagen  hat  er  die  metrischen  Stellen  noch  weiter  reduziert. 

M.  Langkavel  hat  diese  Übertragung  einer  eingehenden  Verglei- 
chung  mit  der  Urschrift  unterworfen.  Wohl  zeigt  sie,  wie  der  Zwang 
des  Verses  und  die  Fessel  der  traditionellen  Dichtersprache  den  Über- 
setzer hemmt,  seinen  Ausdruck  dekoloriert  und  ihm  Füllsel  und  For- 
meln in  die  Feder  fliefsen  (z.  B.  das  Epitheton  blond);  wie  gelegentlich 
ein  sprachliches  Mifsverständnis  mit  unterläuft,  obschon  Blaze  Loeve- 
Veimars  zu  Rate  zieht.  Doch  kommt  sie  auf  Grund  ihrer  Untersuchung 
dazu,  en  connaissance  de  cause  das  günstige  Urteil,  das  bisher  über  Blazes 
Leistung  bestand,  zu  bestätigen,   indem  sie  es  begründet  und  ergänzt.  — 

Aus  ihrer  Beschäftigung  mit  Houdar  de  la  Motte  heraus  spendet  M.  J. 
Minckwitz:  Ein  Scherflein  zur  Geschichte  der  französischen 
Akademie  von  1710  —  31,  d.h.  in  den  zwanzig  Jahren,  während  deren 
la  Motte  Mitglied  und  Directeur  war.  Es  sind  die  letzten  Jahre  Lud- 
wigs XIV.,  die  Regentschaft  (1715—23)  und  die  erste  Zeit  Ludwigs  XV.  mit 
seinem  Minister  Kardinal  Fleury  (seit  1726).  Diese  zwei  Jahrzehnte  haben, 
wie  die  Verfasserin  selbst  sagt,  eine  besondere  Bedeutung  in  der  Geschichte 
der  Akademie  nicht.  Die  Akademie  ist,  wie  vorher  und  wie  nachher,  eine 
höfische  Institution.  Die  Verf.  hat  denn  auch  vorzüglich  von  höfischen 
Obliegenheiten  und  Gunstbezeugungen  zu  reden  und  berichtet  da  manches 
charakteristische  Detail  aus  dem  Kleinleben  dieser  geistlich  geleiteten 
Körperschaft,  deren  dekorative  Huldigungen  der  schlaue  Regent  dem 
Königsknaben  zukommen  liefs,  wie  der  Erwachsene  einem  unbequemen 
Kinde  glänzendes  Spielzeug  zuschiebt.  Gegenüber  diesen  höfischen  Ob- 
liegenheiten, zu  denen  ja  auch  die  Wahlen  und  Concours  gehörten,  gegen- 
über Fragen  der  Sitzungsräume  und  der  Sitzungsfauteuils,  stand  auch  da- 
mals die  eigentliche  Aufgabe  der  Akademie  im  Hintergrunde.     Sehr 

1  Wie  Manzoni  sich  in  den  verschiedenen  Redaktionen  der  Promessi  Sposi  zu 
dieser  Konstruktion  verhielt,  sagt  D'Ovidio,  Le  correzioni  ai  Prom.  5p.,4  Napoli, 
1895,  p.   77. 

2  Da  dieses  per  che  ein  der  Sprache  auch  sonst  sehr  geläufiger  Nexus  ist,  so 
tritt  das  il  des  SatzrelativumB  bisweilen   vor  per:  il  perche  dicevano_(S.   307). 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  459 

bezeichnend  ist,  was  Verf.  von  der  Arbeit  am  Dictionnaire  zu  berichten 
weifs:  der  Antrag,  die  einzelnen  Wörter  mit  historischen  Belegstellen  zu 
versehen,  wurde  1727  abgelehnt.  Neunzig  Jahre  zuvor  hatte  ihn  bereits 
der  einsichtsvolle  Chapelain  umsonst  gestellt.  Die  Akademie  heharrte  von 
Anfang  an  darauf,  die  Musterbeispiele,  die  sie  ihren  Wortdefinitionen  bei- 
fügte, selbst  zu  erfinden,  und  sicherte  sich  so  die  Freiheit  sprachmeister- 
licher Eigenwilligkeit.  Dem  Secretaire  perpetuel  aber  ward  gestattet,  bei 
der  Korrektur  der  Druckbogen  geeignete  Belegstellen  aus  guten  Autoren 
von  sich  aus  einzufügen.  Doch  war  ihm  streng  verwehrt,  dabei  an  die 
Definitionen  und  Musterbeispiele  der  Akademie  zu  rühren,  d.  h.  der  histo- 
rische Beleg  mufste  diesen  aprioristischen  Schranken  sich  fügen.  So  hat 
die  Akademie  das,  was  die  induktive  und  lexikologische  Wissenschaft 
einer  späteren  Zeit  als  Grundlage  betrachtet,  jederzeit  als  das  Sekundäre 
behandelt  und  gering  geschätzt. 

Zwei  akademische  Vorkommnisse  dieser  Zeit  erklärt  Verf.  als  beson- 
ders bedeutsam:  die  Ausstofsung  St-Pierres  (1718)'  und  die  Aufnahme 
Montesquieus  (1721 — 28).  Jene  wird  eingehend  erzählt,  diese  nur  gestreift. 
Ich  bin  überzeugt,  dafs  Brunei  (S.  347)  recht  hat,  wenn  er  glaubt,  dafs 
der  Regent  St-Pierre  nicht  gram  war.  Er  war  sicherlich  an  den  geistlich- 
akademischen Verfolgungen,  denen  St-Pierre  erlag,  unbeteiligt  und  brachte 
es  deutlich  zum  Ausdruck,  dafs  ihm  das  akademische  Gezänk  zuwider 
war.  Die  Polysynodie  war  für  den,  der  mit  Ministerkonseils  regierte,  keine 
revolutionäre  Schrift,2  und  sich  für  das  Andenken  Ludwigs  XIV.  be- 
sonders ins  Zeug  zu  legen,  hatte  der,  der  dessen  Testament  gebrochen, 
keine  Veranlassung.  Dafs,  nach  Brunei,  der  Schwärmer  St-Pierre  als 
ein  Vorläufer  Montesquieus  bezeichnet  wird ,  halte  ich  für  unrichtig. 
St-Pierre  ist,  wie  freilich  der  treffliche  Hettner  besser  und  deutlicher  zeigt 
als  Brunei,  ein  universeller  Reformer,  Montesquieu  ist  ein  konservativer 
Antireformer  (cf.  Archiv  CXIII,  391).  Auch  dafs  mit  der  Wahl  Montes- 
quieus an  Stelle  de  Sacys  (1728)  für  die  Folgezeit  ein  'ungemein  bedeut- 
samer Ersatz'  gewonnen  worden  sei,  mufs  ich  bestreiten.  Montesquieu 
ist  für  die  Akademie  vielmehr  völlig  bedeutungslos  gewesen.  Der, 
der  in  den  Lettres  persanes  so  unbarmherzig  über  das  'ewige  Gewäsch'  der 
Akademiker  gespottet  hatte,  hat  nach  seinem  Discours  de  reception  die 
Sitzungen  überhaupt  nur  noch  wenige  Male  besucht  und  keinerlei  Ein- 
flufs  weder  auszuüben  erstrebt  noch  tatsächlich  ausgeübt.  Wer  die  un- 
erfreulichen Vorgänge,  die  Montesquieus  Kandidatur  und  Wahl  beglei- 
teten (vgl.  Sonntagsblatt  des  Bund,  Bern  1884,  n"  18  ff.),  näher  untersucht, 
der  findet  dies  auch  erklärlich.  Diese  Vorgänge  sind  für  die  Akademie 
ebenso  charakteristisch  wie  für  Montesquieu.  Sie  zeigen,  wie  der  aka- 
demische Ehrgeiz  zur  verhängnisvollen  Klippe  ward,  an  der  auch  Montes- 
quieus Charakter  nicht  ohne  Havarie  vorüberkam.  — 

Der  junge  Voltaire  und  der  junge  Goethe  ist  der  Titel  des 
interessanten  Essay,  den  K.  Schirmacher  beigetragen  hat.  Den  jungen 
Voltaire  vornehmlich  nach  seinen  Briefen  zu  charakterisieren,  habe  auch 
ich  vor  langen  Jahren  einst  unternommen3  und  dabei  aus  seinen  Jugend- 
briefen  ähnliches  herausgelesen  wie  K.  Schirmacher;   aber  der  Gedanke, 

1  Es  empfiehlt  sich,  in  den  mit  Saint  gebildeten  französischen  Eigen- 
namen die  französische  und  nicht  die  deutsche  Form  der  Abkürzung  zu  gebrauchen : 
St-  und  nicht  St.  (==  Sankt),  also  St-Pierre,  Ste-Beuve  und  nicht  St.  Fierre,  Ste. 
Beuve  zu   schreiben. 

a  Aus  welchen  Gründen  vielleicht  der  Regent  trotz  der  Lobsprüche,  die 
Saint-Pierre  seiner  Person  und  seinem  Regierungssystem  widmet,  sich  verletzt 
fühlen  konnte,  zeigt  Rousseau  in  seinem  Jugement  sur  la  Pohjtynodie. 

3  Im  Sonntagsblatt  des  Bund  (Bern)  1888,  n°  20—22. 


460  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

ihn  mit  dem  jungen  Goethe  zu  vergleichen,  der  höchsten  Kultur  die 
tiefste  Natur  gegenüberzustellen,  ist  mir  nicht  gekommen.  Unbestreit- 
bar ist  dieser  Gedanke  ein  sehr  glücklicher.  Für  beide  besteht  aus- 
kömmliches Material  in  Briefen  an  Freunde,  Gönner  und  geliebte  Mäd- 
chen: reicher  freilich  ist  dies  Material  für  den  reicheren  Goethe.  Die 
Verfasserin  hat,  was  es  birgt,  in  helles  Licht  gesetzt  und  die  Gestalten 
dieser  beiden  Grofsen,  von  denen  der  eine  'typisch  französisch,  der  andere 
unnachahmlich  deutsch'  war,  in  scharfen  Umrissen  aus  ihren  Jugend- 
briefen erstehen  lassen.  Und  es  erfreut  insbesondere,  zu  sehen,  wie  gerecht 
sie  Voltaire  beurteilt,  gegen  den  der  Deutsche  so  leicht  unbillig  wird.  - 

E.  Tappolet  handelt  Über  die  Bedeutung  der  Sprachgeogra- 
phie mit  besonderer  Berücksichtigung  französischer  Mund- 
arten. Dabei  steht  die  Frage  der  Dialektgrenzen  im  Zentrum  seiner  Er- 
örterungen. Er  legt  Gillierons  Atlas  linguistique  de  la  France  zugrunde 
und  geht  auch  vom  zukünftigen  Atlas  linguistique  de  la  Suisse  romande 
aus,  aus  dessen  Werkstätte  L.  Gauchat  hier  (CXI,  3ti5  ff.)  so  fesselnde 
Mitteilungen  gemacht  hat.  Auch  verfügt  Tappolet  als  einer  der  drei  Re- 
daktoren des  Olossaire  de  la  Suisse  romande  über  eigene  reiche  dialektische 
Beobachtungen  und  methodische  Erfahrungen. 

Tappolet  verfährt  nach  der  nämlichen  graphischen  Methode,  die  Gau- 
chat zu  so  schönen  Erkenntnissen  geführt  hat:  er  bestätigt  diese  Erkennt- 
nisse und  bereichert  sie. 

Er  hat,  vorzüglich  aus  dem  ersten  Faszikel  des  Atlas  Oillieron,  etwa 
drei  Dutzend  Erscheinungen,  hauptsächlich  phonetische  und  lexikologische, 
aufs  Geratewohl  ausgewählt,  die  Grenzlinien  dieser  Dialektmerkmale  fest- 
gestellt und  diese  Grenzlinien  alle  auf  das  nämliche  Kartenblatt  einge- 
tragen. Aus  dem  Wirrsal  dieser  Merkmalgreuzen '  ergibt  6ich  zunächst 
für  Frankreich,  was  die  Karte  hier  CXI,  3v»2  für  die  Schweiz  _  lehrt :  die 
dialektischen  Merkmale  sind  nicht  in  gleichmäi'sig  allmählichen  Übergängen 
über  das  ganze  Land  verteilt  (wie  eine  aprioristische  Sprachlehre  behauptet 
hat),  sondern  in  dem  einen  Landesteile  häufen  sie  sich  mit  scheinbar  will- 
kürlichen Kreuzungen,  in  anderen  Gegenden  sind  sie  selten.  Es  gibt 
grenzenreiche,  d.  h.  dialektisch  heterogene,  und  gibt  grenzenarme,  d.h. 
dialektisch  homogene,  Gebiete  —  immerhin  bleibt  abzuwarten,  inwiefern 
die  Eintragung  weiterer  Merkmalgrenzen  im  einzelnen  das  vorläufige 
Kartenbild,  das  uns  Tappolet  weist,  modifizieren  würde.  Er  erkennt 
zwei  grofse  relativ  homogene  Gebiete:  das  südöstliche  Tiefland,  Provence- 
Languedoc,  und  das  sogenannte  Pariserbecken  im  Nordwesten.  Zwischen 
diesen  beiden  grenzenarmen  'Kernlandschaften'  zieht  sich  in  südwest- 
nordöstlicher Richtung  eine  Zone  heterogenen  Sprachgebietes  über  das 
Zentralplateau.2    Ihre  Breite  variiert  von  50 — 200  Kilometer. 

1  Man  kann  die  Linie,  welche  die  Grenzorte  der  nämlichen  Lauterscheinung 
verbindet,  als  Isophon en  bezeichnen  und  darnach  auch  von  Isomorphen, 
Isolexen  sprechen:  Grenzlinien  für  flexivische  und  lexikologische  Erscheinungen. 

2  Tappolet  konstatiert  das  eigentümliche  Zusammentreffen,  dafs  'da,  wo  Frank- 
reich ans  Meer  grenzt,  sich  meist  homogenes  Dialektgebiet  findet;  dafs  hingegen 
da,  wo  franz.  Mundarten  mit  deutschen,  italienischen,  katalanischen 
oder  baskischen  zusammenstofsen,  sich  erstere  in  der  Kegel  recht  stark  diffe- 
renziert haben.'  Dafs  die  vom  Meer  begrenzten  Landesteile,  wo  jeder  sprachliche 
Gegenstofs  fehlt,  verhältnismäfsig  einheitlich  bleiben,  ist  erklärlich.  Da  ein  dia- 
lektischer Gegenstofs  auch  von  fremden  Idiomen,  wie  deutsch,  kaum  ausgeht,  so  ist 
die  Differenzierung  der  franz.  Mundarten  an  der  deutscheu  Sprachgrenze  auffallend.  — 
Italienisch  und  Katalanisch  durften  in  diesem  Zusammenhang  nicht  olme  weiteres 
mit  genannt  werden:  hier  finden  Übergänge  und  Gegenstöfse  statt,  und  es  ist  ja 
das  Katalanische  nur  eine  verhältnismäfsig  junge  Verlängerung  des  Provenzaliscben. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  461 

So  ergibt  sich  eine  sprachliche  Dreiteilung  für  das  heutige  Land;  sie 
entspricht  Frankreichs  topographischer  Gliederung  und  erinnert  auch  an 
Caesars  Gallia  est  omnis  divisa  in  partes  tres.  Die  mittlere  heterogene 
Zone  sieht  aus  wie  die  sprachlichen  Trümmer  der  Gallia  lugdu- 
nen sis.  In  welchem  Umfange  dieser  Dreiteilung  aber  wirklich  alte  gallo- 
romanische  Sprachzustände  zugrunde  liegen  —  dies  zu  eruieren  wäre  eine 
reizvolle  Aufgabe  der  historischen  Lautlehre,  deren  Lösung  durch  sorg- 
fältige Eintragung  der  ältesten   erreichbaren  Isophonen   zu  suchen   wäre. 

Dafs  die  erdrückende  Mehrzahl  der  Tappoletschen  Merkmalgrenzen  — 
und  insbesondere  die  Isophonen,  welche  alten  galloromanischen  Lautwandel 
darstellen  —  west-östlich  verlaufen,  ist  eine  Erscheinung,  die  für  die  Er- 
klärung des  Romanisierungsprozesses  in  Gallien  von  der  höchsten  Bedeu- 
tung ist.  — 

Bisweilen  fallen  von  den  im  allgemeinen  wirr  verlaufenden  Merkmal- 
grenzen einige  auf  kürzere  oder  längere  Strecken  völlig  zusammen.  Es 
zeigen  sich  so  kürzere  oder  längere,  schwächere  oder  stärkere  Linienbündel, 
zum  Zeichen,  dai's  auf  der  betreffenden  Strecke  mehrere  Sprachmerkmale 
erlöschen.  Jedes  dieser  Linienbündel  ist  als  tieferer  sprachlicher  Ein- 
schnitt interessant  und  gibt  der  Sprachgeschichte  ein  kleines  Problem  auf. 
Am  interessantesten  sind  unzweifelhaft  jene  starken  und  langen  Linien- 
bündel, wie  sie  Gauchat  hier  CXI,  392  ff.  für  die  Suisse  roinande  nach- 
gewiesen und  besprochen  hat,  und  wie  sich  nun  Tappolet  vorläufig  deren 
zwei  für  Frankreich  ergeben  haben,  beide  im  Südwesten:  I.  Von  der  Mün- 
dung der  Gironde  bis  nördlich  von  Bordeaux  fallen  auf  eine  Strecke  von 
100  Kilometern  dreizehn  Merkmalgrenzen  zusammen,  d.  h.  die  breite 
Gironde,  die  eine  natürliche  Verkehrsgrenze  ist,  bedeutet  auch  einen  tiefen 
sprachlichen  Einschnitt1  zwischen  Saintonge  und  Medoc.  IL  Sechs 
Merkmal  grenzen  fallen  auf  eine  300  Kilometer  lange  Strecke  zusammen, 
die  sich  bogenförmig  vom  Bassin  d'Arcachon  gegen  die  Garonnequellen 
hinzieht,  das  Flufsgebiet  des  Adour  umschliefsend.  Das  ist  die  alte  Gas- 
cogne,  die  also  heute  noch  durch  eine  Dialektgrenze  vom  übrigen  süd- 
französischen Mundartengebiet  scharf  geschieden  ist.  Man  wird  Tappolets 
Vermutung,  dafs  diese  dauerhafte  und  energische  Dialektscheide  auf  eth- 
nischer (iberischer)  Grundlage  beruhe,  berechtigt  finden.  Die  endgültige 
Aufklärung  über  Entstehung  und  Erhaltung  dieser  Dialektgrenze  muls 
uns  die  Provinzial-  und  Lokalgeschichte  geben.  Sie  mufs  über  die  staat- 
liche, kirchliche,  wirtschaftliche  Zugehörigkeit  resp.  Autonomie  des  um- 
grenzten Gebietes  im  Laufe  der  Jahrhunderte  Aufschlufs  geben.  Von  ihr 
ist  die  Antwort  auf  die  Frage  zu  erwarten,  welches  waren  im  Lauf  der 
Jahrhunderte  die  politischen  und  kirchlichen  Grenzen  und  das  wirtschaft- 
liche Leben  dieser  Südwestecke  Frankreichs,  d.  h.  wohin  gravitierte  der 
ganze  politisch,  kirchlich  und  wirtschaftlich  bedingte  Verkehr  ihrer  Be- 
wohner —  mit  anderen  Worten:  welches  waren  einst  ihre  Verkehrs- 
grenzen? Denn,  was  emsige  Arbeit  bis  jetzt  auf  dem  Gebiete  der  deut- 
schen und  französischen  Mundartenforschung  zutage  gefördert  hat,  hat 
die  sprachliche  Allgewalt  des  Verkehrs  erwiesen :  die  bis  jetzt  gefundenen 
Dialektgrenzen  sind  Verkehrsgrenzen ,  uralte  oder  jüngere,  mit  oder 
ohne  erkennbare  Verschiedenheit  des  ethnischen  Substrats. 

Dafs  diese  Verkehrsgrenzen,  welche  mundartliche  Einschnitte  schaffen, 
oft  genug  von  Terrainschwierigkeiten  bedingt  sind,  ist  einleuchtend  (z.  B. 
die  Gironde)  —  wie  oft  aber  überwindet  politische,  kirchliche,  wirtschaft- 
liche Zusammengehörigkeit  die  gröfsten  Terrainschwierigkeiten  und  schafft 
mit  der  Verkehrseinheit  auch  Spracheinheit.  Zwar  ist  der  Gotthard 
eine  Sprachscheide  —  aber  dafür  haben  die  höchsten  Gipfel  der  Alpen, 

1  Doch  bilden  die  untere  Loire,  Seine  und  Uhöne  keine  sprachlichen  Ein- 
schnitte. 


4P>2  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

der  Montblanc  und  der  Monterosa,  nicht  verkehrshemmend  und  also  nicht 
sprachtreuuend  gewirkt:  die  Alpwirtschaft  verbindet  das  Aostatal  mit 
Savoyen  und  Maeugnaga  mit  Saas. 

Die  Verhältnisse  der  Schweiz  sind  hier  insbesondere  lehrreich,  und 
Tappolet  widmet  ihnen  die  letzten  Seiten  seines  schönen  Aufsatzes.  Schon 
Gauchat  hatte  gezeigt,  dafs  die  ausgeprägteste  Dialektgrenze  der  Suisse 
romande  nicht  im  Hochgebirge,  sondern  auf  flachem  Grund  und  Boden, 
auf  einer  Hochebene  des  bernischen  und  neuenburgischen  Juras  liegt  und 
da  die  beiden  Dörfer  Les  Bois  und  La  Fernere  trennt:  das  bäuerliche 
und  katholische  Les  Bois  vom  industriellen  und  protestan- 
tischen La  Fernere.  Indem  Tappolet  den  mundartlichen  Erscheinungen 
längs  der  französisch -schweizerischen  Landesgrenze  (waadtländer,  neuen- 
burger  und  berner  Jura)  nachgeht,  zeigt  er  den  sprachtrennenden  Einflufs 
der  Konfessionen.  Auf  der  waadtländischen  Strecke  ist  die  Landesgrenze 
zugleich  Dialektgrenze,  trotzdem  nach  Frankreich  hinüber  keine  natür- 
lichen Verkehrshemmnisse  bestehen:  die  Waadt  ist  protestantisch ;  auf  der 
berner  Strecke  vermag  sogar  das  tief  eingeschnittene  Grenztal  des  Doubs 
keine  scharfe  Mundartscheide  zu  bilden:  der   berner  Jura  ist  katholisch. 

Wie  sehr  kirchliche  Zugehörigkeit  die  Verkehrgruppen  und  damit  die 
Sprachgruppen  besonders  ländlicher  Kreise  bis  heute  bestimmt,  das  zeigt 
Graubünden,  in  dessen  Oberland  geradezu  eine  katholische  und  eine  refor- 
mierte Varietät  des  Romontsch  unterschieden  wird.  —  Im  Sprachbild  des 
Mittelalters  haben  unzweifelhaft  die  Diözesangrenzen  eine  hervorragende 
Bolle  gespielt:  sie  schieden  die  Bezirke  des  grofsen  foires  auch  mundart- 
lich voneinander. 

Empirische  Feststellungen  wie  die  Tappolets  zeigen,  dafs  es  zwar  Dia- 
lekte im  landläufigen  Sinne,  in  die  sich  die  Sprachmasse  eines  Landes 
wissenschaftlich  einteilen  liefse,  nicht  gibt;  dafs  aber  anderseits  diese 
Sprachmasse  sich  auch  nicht  gleichmälsig  in  einzelne  Merkmalzonen  auf- 
löst, die,  wie  die  Ringe  eines  Harnisch,  ineinander  liegen,  und  von  denen 
keine  sich  ganz  mit  der  anderen  deckte.  Die  Wahrheit  liegt  vielmehr 
sozusagen  in  der  Mitte:  es  gibt  zwar  keine  scharf  umgrenzten  Dialekte 
—  aber  es  gibt  scharfe  Dialektgrenzstrecken.  Sie  sind  geschichtlich 
bedingt  als  Verkehrsgrenzen,  die  ihrerseits  politisch,  kirchlich  und  wirt- 
schaftlich bedingt  sind. 

In  diesen  Forschungen  beleuchten  sich  Linguistik  und  Geschichte 
gegenseitig.  Wo  der  Linguist  eine  Mundartgrenze  —  d.  h.  das  Zusammen- 
fallen von  Isophonen  —  nachweist,  da  mufs  der  Historiker  —  wenn  die 
Gegenwart  keine  entsprechende  Verkehrsgrenze  mehr  aufweist  —  nach 
einem  alten  Limes  graben.  Und  umgekehrt  müssen  alte  Verkehrsgrenzen, 
z.  B.  die  Diözesangrenzen,  auch  wenn  ihre  sprachlichen  Spuren  in  der 
heutigen  Mundart  nicht  mehr  erkennbar  sind,  von  der  Sprachgeschichte 
in  Rechnung  gesetzt  werden. 

Man  darf  wohl  sagen,  dafs  die  Erforschung  der  lebenden  Mundarten, 
in  Verbindung  mit  der  Phonetik,  die  Sprachwissenschaft  der  letzten  zwan- 
zig Jahre  völlig  umgestaltet  hat.  Man  hat  einsehen  lernen,  dafs  die  Ge- 
setze des  Sprachlebens  vor  allem  am  Leben  selbst  zu  studieren  sind, 
und  dafs  jene  linguistischen  Theorien,  die  auf  papierenem  Boden  gewachsen 
sind,  eine  gründliche  Revision  und  Säuberung  durch  die  Empirie,  welche 
das  wunderbare  Leben  der  Mundarten  so  freigebig  gewährt,  erfahren 
müssen.  Die  Linguistik  hat  sich  lange  am  Phantom  geübt;  nun  ist  sie 
zum  Studium  des  lebendigen  Leibes  übergegangen.  Sie  hat  sich  lange 
auf  Paläontologie  beschränkt,  hat  Knochenreste  gedeutet  und  Koprolithe 
bestimmt,  nun  ist  auch  sie  zur  Biologie  gekommen  und  mufs  jetzt  ihre 
paläontologischen  Theorien  revidieren.  Und  weil  ich  an  mir  selbst  er- 
fahren habe,  welche  Erfrischung  das  bedeutet,  habe  ich  längst  dafür  plä- 
diert,  die  Arbeit    am    lebenden   Patois    in  den   akademischen   Unterricht 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  463 

aufzunehmen.1  Diese  Arbeit  ist  wie  keine  andere  eine  Schule  linguistischen 
Denkens.  Die  schweizerischen  Universitäten  sind  durch  ihre  Lage  für 
Patoisforschung  besonders  günstig  gestellt.  Solche  Gunst  schafft  Ver- 
pflichtungen, und  dafs  sie  ihrer  bewufst  sind,  zeigt  die  tiefgehende  Studie 
Gauchats,  die  feine  Skizze  Jeanjaquets  und  diese  orientierende  Antritts- 
vorlesung Tappolets.  — 

Zu  den  Stimmen  der  Lebenden  gesellt  sich  am  Schlufs  die  Stimme 
eines  teuren  Toten.  L.  P.  Betz  hat  zu  dem  Bande  einen  Aufsatz  über 
den  Zürcher  Heinrich  Meister,  den  'Pariser  Meister',  beisteuern  wollen. 
Er  war  dazu  vortrefflich  gerüstet.  Dieser  treue  Freund  Grimms  und 
Diderots,  der  von  lrtT-">  an  während  vierzig  Jahren  deren  Correspondance 
litteraire  in  Paris,  in  London  und  Zürich  fortgeführt  hat,  dieser  schweize- 
rische Vermittler  deutschen  und  französischen  Geistes,  war  einer  von  Betz' 
Lieblingen.  Wie  oft  bildete  er  den  Gegenstand  unserer  Unterhaltung; 
wie  oft  hatte  Betz  neues  über  ihn  mitzuteilen!  Es  sollte  ihm  nicht  ver- 
gönnt sein,  die  ordnende  Hand  an  sein  reiches  Material  zu  legen.  Ein 
grausames  Schicksal  entrifs  den  Vortrefflichen  in  der  Blüte  der  Jahre 
seiner  weitausblickenden  Tätigkeit  als  Forscher  und  akademischer  Lehrer, 
seiner  Familie  und  seinen  Freunden  (vergl.  Goethe  -  Jahrbuch  1904).  Von 
seiner  Arbeit  über  Meister  war  nur  die  Bibliographie  der  Werke 
Jakob  Heinrich  Meisters  bereit.  Die  Sorge  gemeinsamer  Freunde 
hat  sich  dieses  Bruchstücks  angenommen,  und  auch  Frau  Betz,  der  treuen 
Mitarbeiterin  ihres  Gatten,  sage  ich  dabei  herzlichen  Dank  dafür,  dafs  sie 
ihre  Einwilligung  dazu  gegeben  hat,  dafs  der  Torso  dem  Lehrer  und 
Freunde  dargebracht  werde.  Wie  eine  gebrochene  Säule  steht  er  am 
Schlüsse  des  Bandes  über  einem  Grab,  das  viele  schöne  Hoffnungen  deckt. 

Das  Buch,  von  dem  ich  hier  so  lange  gesprochen,  hat  in  mir  die  leb- 
hafteste Erinnerung  an  die  nur  zu  rasch  entschwundenen  Zeiten  geweckt, 
die  uns  zu  gemeinsamer  Arbeit  in  den  romanischen  Seminaren  zu  Bern 
und  zu  Zürich  vereinigte.  Dafs  auch  ich  in  Dankbarkeit  und  treuer  An- 
hänglichkeit an  diese  gemeinsame  Arbeit  zurückdenke  —  das  den  Ver- 
fassern dieses  Bandes  zu  zeigen 

Vagha  mi  il  lungo  studio  e  il  grande  amore 

Che  m'a  fatto  cercar  il  lor  volume.  xt    vj 

Dr.  Otto  Knörk  et  Gabriel  Puy-Fourcat,  Le  francais  pratique 
pour  la  jeunesse  comnieryante  et  industrielle.  löre  partie.  Berlin, 
Mittler  &  Sohn,  lyoä.     128  S.  8  mit  Vocabulaire  (getrennt)  '23  S. 

Ein  neues  Glied  in  der  Reihe  der  Lehrgänge  für  den  französischen 
Anfangsunterricht  an  Handels-  und  Fortbildungsschulen,  das  von  den  be- 
treffenden Lehrern  mit  Freude  begrüfst  werden  wird.  Es  will  diesen 
Herren,  wie  die  Preface  hervorhebt,  die  Möglichkeit  bieten,  den  Unterricht 
gleich  in  französischer  Sprache  zu  erteilen.  Deshalb  ist  es  ganz  in  dieser 
Sprache  geschrieben,  abgesehen  vom  Cours  preliminaire,  der  auf  S.  XI 
bis  XIX  Lautlehre  und  Bindung  bespricht  und  Ausspracheübungen  bringt. 
Deutsche  Sätze  zum  Übersetzen  fehlen  also,  entsprechend  dem  Reform- 
grundsatze: 'Das  Übersetzen  ist  eine  Kunst,  welche  die  Schule  nichts  an- 
geht.' Mit  Recht,  denn  durch  Übersetzen  ist  noch  kein  Schüler  direkt 
zum  Aufsatz  und  zum  freien  Gebrauch  der  Sprache  geführt  worden.  Jede 
der  30  Lektionen  enthält  Lecture,  Questions,  Qrammaire  und  Eocercice. 
Die  Lecture  fängt  mit  Anschauungsunterricht  und  dem  Nächstliegenden 

1  Die  Untersuchung  lebender  Mundarten  und  ihre  Bedeutung  für  den  akademischen 
Unterricht,    in  Behrens'  Zeitschrift  1888;   cf.  W.  Vietors  Phonetische  Studien  111,71. 


!'"4  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

an :  La  salle  de  elasse,  Le  eorps  humain,  Les  vetements,  L'enseignement 
commercial  et  Industrie/,  Lettre,  Carte  postale  etc.,  und  bringt  von  der 
19.  Lektion  an  die  Geschichte  zweier  jungen  Kaufleute,  die  Stellungen  in 
Paris  finden  und  dorthin  reisen.  Ein  Vorzug  des  Buches  ist  also,  dafs 
es  interessant  ist;  ein  zweiter,  dal's  es  praktisch  und  kurz  ist.  Denn  die 
Qrammaire,  welche  vielfach  noch  nicht  eine  Seite,  dazu  in  sehr  übersicht- 
licher Form  und  in  zum  Teil  fettem  Druck,  einnimmt,  behandelt  in  der 
vorliegenden  lh'e  partie  die  ganze  Formenlehre  und  Teile  der  Syntax:  des 
subjonctif,  place  de  l'adjectif,  infinitif.  Ist  es  nicht  ganz  natürlich,  bei 
aller,  venir,  courir  gleich  den  infinitif  sans  preposition,  bei  resoudre  etc. 
gleich  den  infinitif  avec  la  preposition  ä  zu  behandeln,  namentlich  wenn 
es  in  so  kurzer  Form  wie  hier  geschieht?  Etwas  bedenklich  dagegen  er- 
scheint es,  wenn  nun  gleich  in  derselben  Lektion  mit  dem  Infinitiv  die 
Konstruktion  von  ne  pas  douter  mit  dem  Subjonktiv  durchgenommen  wird. 
Überhaupt  dürfte  der  Lehrer  bei  Zugrundelegung  des  Buches  mit  man- 
chem deutschen  Anfänger  an  der  Handelsschule,  wo  die  Schüler  jung  und 
noch  anderweitig  stark  belastet  sind,  schwere  Arbeit  haben;  indessen  mufs 
es  sehr  interessant  sein,  Schüler  nach  diesem  Buche  ganz  in  französischer 
Sprache  zu  fördern.  Bedingungslos  zu  empfehlen  ist  das  Buch  für  Fort- 
bildungsschulen, wo  die  Schüler  älter  sind  und  meist  nichts  weiter  gleich- 
zeitig in  ihrer  Mufse  treiben.  Zum  Schlufs  sei  noch  ein  Vorzug  vor  vielen 
anderen  Lehrbüchern  hervorgehoben:  es  ist  in  gutem  und  einfachem  Fran- 
zösisch geschrieben. 

Berlin.  Keesebiter. 

I.  Giorgi  ed  E.  Sicardi,  Abbozzi  di  rime  edite  ed  inedite  di  Fran- 
cesco Petrarca.  Perugia,  Unione  Tipografica  Cooperativa  MDCCCCV. 
20  pp.  8. 

Ein  glücklicher  Zufall  mehrt  uns  die  Zahl  der  bekannten  Dichtungen 
Petrarcas  um  ein  paar  interessante  kleine  Stücke.  Als  der  Kodex  924  der 
casanatensischen  Bibliothek,  dessen  Wichtigkeit  für  die  Petrarcaphilologie 
sich  bei  des  Referenten  Prüfung  herausgestellt  hatte,  kürzlich  einen  neuen 
Einband  erhielt,  fand  man,  dafs  die  auf  dem  alten  Umschlag  festgeklebten 
zwei  Pergamentblätter  eine  Fortsetzung  der  Kollation  enthalten,  welche 
ein  Petrarchist  des  16.  Jahrhunderts  nach  eigenhändigen  Niederschriften 
des  Dichters  auf  den  Text  dieser  Handschrift  eingetragen  hatte.  Jene 
Niederschriften  sind  uns  im  Cod.  Vatic.  3196  erhalten,  aber  nur  zum  Teil. 
Beccadelli  und  Daniello  haben  mehr  von  ihnen  gekannt,  als  jetzt  vor- 
handen ist  (s.  die  Geschichte  dieser  Blätter  in  des  Ref.  Zur  Entwicklung 
ital.  Dichtungen  Petrarcas  S.  2  ff.),  und  ebenso  der  Kollationator  des 
Casanatensis.  Nachdem  uns  seine  Arbeit  schon  eine  grofse  Zahl  neuer 
Lesarten  des  Dichters  für  die  Triumphe  kennen  gelehrt  hatte,  fügt  es 
jetzt  der  Zufall,  dafs  die  neu  losgelösten  Blätter  wieder  einige  der  im  Ori- 
ginal verloren  gegangenen  Stücke  ans  Licht  bringen. 

Der  Kollationator  trug,  wie  gesagt,  die  Varianten  jener  Autographe 
auf  einen  an  sich  wertlosen,  im  15.  Jahrhundert  geschriebenen  Text  des 
Kanzoniere  und  der  Triumphe  ein.  Die  Blätter  enthielten  aber  auch  Ge- 
dichte, welche  Petrarca  nicht  in  die  Sammlung  seiner  rerum  vulgarium 
fragmenta  aufnahm,  weil  sie  ihm  dessen  nicht  wert  erschienen,  oder  weil 
sie  in  unvollendetem  Zustande  geblieben  oder  auch  weil  sie  ihm  nicht  zu 
guter  Stunde  wieder  unter  die  Augen  gekommen  waren.  Solche  Stücke 
konnte  der  Kollationator  also  nicht  im  Zusammenhange  des  Kanzoniere 
mitteilen,  und  er  schrieb  sie  auf  den  jetzt  wieder  zum  Vorschein  gekom- 
menen Seiten  nieder.  Sechs  Sonette,  drei  Ballaten  und  ein  Fragment 
einer  Ballata  werden  uns  so  überliefert.  Von  ihnen  besitzen  wir  eine 
Ballata  (Amor,  che'n  cielo  e'n  gentil  core  alberghi)  und  drei  Sonette  (Se 
Phebo  al  primo  amor  non  e  bugiardo,  Quando  talor  da  giusta  ira  commosso, 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  465 

Piü  volte  il  di  mi  fo  vermiglio  e  fosco)  noch  jetzt  im  Vat.  3196;  die  Ballata 
Nova  bellexxa  in  habito  gentile  ist  schon  unter  den  estravaganti  der  Aus- 
gabe Giunti  1522,  Morelli  1799  (und  in  manchen  anderen  Ausgaben,  die 
Giorgi  und  Sicardi  nicht  nennen)  gedruckt.  Die  anderen  Ballaten  und 
drei  Sonette  sind  neu.  Es  fehlen  dagegen  die  in  den  vatikanischen  Blät- 
tern stehenden,  in  den  Kanzoniere  nicht  aufgenommenen  Sonette  Quella 
che  gli  animali  del  mondo  atterra,  Quella  ehe'l  giovenil  meo  core  avinse  und 
Tal  cavalier  tutta  una  sehiera  atterra  und  einige  Fragmente,  so  dafs  wir 
annehmen  dürfen,  dafs  auch  jetzt  uns  ebensowenig  für  den  Kanzoniere 
wie  für  die  Triumphe  die  vollständige  Arbeit  des  Kollation ators  vorliegt. 

Die  Abschrift  der  im  Original  erhaltenen  Stücke  ist  uns  willkommen, 
weil  wir  an  ihr  von  neuem  die  Sorgfalt  des  alten  Petrarchisten  prüfen 
können.  Sie  läfst  wenig  zu  wünschen  übrig  für  die  Sonette  Se  Phebo, 
Quayido  talora  und  Piü  volte,  die  auf  den  petrarkischen  Blättern,  sauber 
geschrieben,  leicht  lesbar  sind:  In  Se  Phebo  ist  v.  3  giamai  mit  zwei  m 
geschrieben.  In  Quando  talora  hat  der  Kopist  für  giugne  ..zuerst  gionge 
gesetzt,  dann  gne  hinzugefügt,  ohne  nge  zu  tilgen.  Die  Überschrift  zu 
Piü  volte  hat  am  Ende  von  parisf  das  '  übersehen.  Die  Notiz  4  nouebr 
1336  reicepi  hoc  (oder  hie)  scribere  scheint  nach  dem  Druck  der  beiden 
Herausgeber  zum  Sonett  Quando  talora  zu  gehören.  Der  Kollationator 
hat  sie,  ganz  dem  Original  entsprechend,  am  Rande  des  Blattes  oberhalb 
des  Sonettes  Piü  volte  eingetragen. '  V.  6  des  Sonetts  steht  Hauea  statt  Auea. 

Nicht  so  gut  überschrieben  ist  die  im  Original  schwerer  zu  lesende 
Ballata  Amor  che'n  cielo.  V.  2  hat  freilich  nur  der  Druck  ispiri;  die 
Photographie  zeigt  das  inspiri  Petrarkas.  Aber  v.  3  steht  mei  statt  miei, 
v.  5  leual  graue  penser  tallor  statt  leua  il  gr.  pensier  talor,  v.  7  fehlt  die 
Lesart  nodo,  die  Petr.  für  peso  eingeführt  hat,  v.  9  steht  su(oi)  statt  tuoi, 
v.  11  fehlt  die  letzte  Lesart  pur  spero,   v.  12  steht  perfetta  statt  perfecta. 

Merkwürdigerweise  fehlen  im  Casan.  die  lateinischen  Notizen,  welche 
der  Dichter  dieser  Ballata  beigegeben  hatte  (s.  Zur  Entwickelung  S.  100), 
während  wir  hier  wieder  eine  Notiz  finden,  welche  das  Blatt  der  Vatikana 
nicht  zeigt.     Diese  Notiz  lautet  nach  der  Lesung  der  Herausgeber: 

h2  T  ordine  retrogrado  ad  Iram3  n  fallor  ut  hie  süt  dietaui  äno  istq  pro 
confortiuo  et  unä  aliud  postea  quod  nö  curaui  pficere  ex  his  aut  elegit  . . . 4 
ipse  ultimü  quod  hie  est  primil  scripsi  hoc  ne  elaberet  in  totü  que  magna  . . . 

Wo  diese  Notiz  gestanden  hat,  bleibt  unklar.  Das  Originalblatt  zeigt 
keine  Spur  einer  Beschädigung,  die  sie  hätte  verloren  gehen  lassen.  Es 
ist  dort  vielmehr  Raum  genug  frei,  auf  dem  sie  hätte  stehen  können. 
Hierzu  kommt,  dafs  der  Kollationator  sie  mit  einer  anderen  Feder,  offen- 
bar erst  später,  der  Abschrift  der  Ballata  hinzugefügt  hat,  so  dafs  er  sie 
wohl  irgend  anderswoher  nahm.  Es  erscheint  also  durchaus  zweifelhaft, 
ob  sie  zu  dieser  Ballata  gehört,  wobei  aber  doch  wieder  zu  bemerken  ist, 
dafs  dieselbe  Seite  des  Originals,  welche  die  Ballata  enthält,  auch,  wie 
diese  Notiz,  einer  Abschrift  pro  Confortino  gedenkt. 

Diese  Notiz  hat  nun  leider  beim  Druck  der  neugefundenen  Stücke 
grofses  Unheil  angerichtet.  Die  Worte  in  ordine  retrogrado,  die  sich  offen- 
bar auf  die  (buchstäbliche  'ad  litteram')  Überschreibung  mehrerer  Stücke 
von  einer  Niederschrift  zu  einer  anderen  'in  umgekehrter  Reihenfolge'  be- 
ziehen, haben  die  Herausgeber  dahin  verstanden,  dafs  Petrarca  die  Folge 
der  einzelnen  Verse  geändert  habe,  per  rendere  piü  difficile  a  quanti  gli 

'  Ich  benutze  die  photographische  Wiedergabe  der  beiden  Blätter,  welche  die 
Herausgeber  mir  freundlich  zugesandt  haben,  und  die  im  3.  Bande  des  Archivio 
Paleografico  Italiano  auf  tav.  55  enthalten  sein  soll. 

2  Der  Anfang  scheint  mir  unsicher.  Es  liegt  nahe,  Tr.  zu  lesen,  wie  bei  so 
vielen  Stücken  des  Vat.  steht:   Tr.  in  ordine. 

3  Über  Iran  ein  Strich  als  Zeichen  der  Abkürzung. 

4  Das  Ende  der  zweiten   Zeile  ist  unsicher. 

Archiv  f.  u.  Sprachen.     CXV.  30 


466  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

capitavano  in  casa  con  V intenxione  di  chiedergli  o  sottrargli  de'  versi,  o 
qualsiasi  altro  scritto  (Famil.  V,  IG),  il  leggere  specialmente  quelle  sue  rime 
die  erano  in  uno  stato  di  prima  elaboraxione.  So  drucken  sie  denn,  nach 
einem  diplomatischen  Text  auf  S.  6  f.,  die  neugefundenen  Stücke  S.  16 — 18 
ab  'nell' '  ordine  in  cui  li  avremmo  trovati  nella  membrana  A  (dem  ersten 
der  losgelösten  Blätter),  se  egli  ve  li  avesse  voluti  disporre  nel  modo  ordi- 
nario,  come  stanno  appunto  nella  membrana  B'  (dem  zweiten  Blatt,  auf 
welchem  die  Herausgeber  die  schlichte  Reihenfolge  der  Verse  anerkennen). 
Von  ihrem  Irrtum  hätte  sie  schon  der  Umstand  abhalten  sollen,  dafs 
gerade  die  Ballata,  zu  welcher  die  lat.  Notiz  scheinbar  gehört,  auf  dem 
neuen  Blatt  in  fast  derselben  Art  geschrieben  steht  wie  im  Vat.  3196. 
Freilich  geht  das  nicht  aus  ihrem  Abdruck  S.  6  f.  hervor,  wohl  aber  aus 
der  photographischen  Reproduktion.  Auch  dafs  die  Form  der  Sonette,  die 
bei  der  Neuordnung  der  Verse  herauskommt,  eine  bei  Petrarca  beispiel- 
lose ist  (a  b  b  a  b  a  a  b  in  den  Quaternarien,  vgl.  über  die  Sonettenform 
bei  Petrarca  des  Referenten  Berliner  Bandschriften  der  Rime  Petrarcas 
S.  63  Anm.),  zeigt  sogleich,  dafs  diese  Ordnung  der  Verse  nicht  die  richtige 
sein  kann.  Die  Stücke  sind  vielmehr  in  derselben  einfachen  Art  zu  lesen 
wie  alle  Niederschriften  Petrarcas,  und  es  ergeben  sich  sodann  die  folgen- 
den Texte  für  die  bisher  noch  nicht  bekannten  Gedichte:1 

I. 

ove  onesti,  ligiadrette  e  sole : 

Un  spirto  elletto  in  cuor  grave  e  superno 
Regon  madonna,  ed  ella  ä  il  mio  governo 
Ch'al  mondo  con  begli  occhi  il  fosco  tole. 
5     Farebbe  a  megia  notte  arder  il  sole 

E  primavera  quando  e  maggior  vemo; 
Ma  con  piü  sua  beltate  e'l  mio  amor  ferno, 
Piü  sua  crudezza  mi  trapesa  e  dole. 
Amor,  (questa)  giä  mia  consienza  non  acerba 
10  Ma  ben  l'invita,  e'l  vero  mi  constrigne 

Che  tanto  .  .  i  lice  l'esser  meno  acerba 
Quanto  fortuna  in  alto  piü  la  spigne. 

Giorgi  und  Sicardi  nehmen  die  Reihenfolge  2,4,1,  3,  6,  5,  8,  7 ;  9,  10, 
11,  12  als  die  richtige  an  und  fassen  die  Verse  1 — 8,  9 — 12  als  Fragmente 
zweier  verschiedener  Dichtungen  auf.  Da  sie  in  der  Niederschrift  als  zu- 
sammengehörig erscheinen,  sehe  ich  in  ihnen  ein  unvollendetes  oder  un- 
vollständig überliefertes  Sonett,  dessen  Ternarien  die  Reihenfolge  c  d  c  d  c  d 
hatten  (wie  113  von  den  :U7  Sonetten  des  Kanzoniere).  Ob  die  fehlenden 
zwei  Verse  am  Ende  oder  vor  v.  9  oder  etwa  vor  10  hinzuzufügen  sind,  bleibt 
ungewifs.  —  V.  1  ist  im  Beginn  unlesbar.  G.  und  S.  ergänzen  Oh  pruove, 
und  besseres  weifs  ich  auch  nicht  vorzuschlagen.  Onesti  ist  zu  oneste  zu 
korrigieren.  —  V.  2  1.  un  statt  inl  —  V.  7  darf  man  statt  ferno  wohl  scerno 
lesen  und  con  als  com'  (s.  209,  8;  269,  13)  verstehen.  —  Auch  trapesa  v.  8 
wird  nicht  bleiben  dürfen;  man  kann  in  verschiedener  Art  ändern. 

II. 
In  cielo,  in  aria,  in  terra,  in  fuoco  e  in  mare 
Amor  percuote,  e  vola  senza  manto. 
Contra  suo'  strali  orati  non  e  incanto; 
Ma  se  col  piombo  vuol,  puö  risanare. 
5     A  megia  State  fa  l'huomo  tremare 

Et  arder  a  gran  verno,  e  piü  che  quanto 
....  forza  di  canpar  e  ufsir  di  pianto, 
In  piü  vilupi  e  lacrime  fa  intrare. 

'  Ich  behalte  die  Orthographie  des  Casanatensis  bei. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  467 

La  baila,  le  mie  fasse  e  la  mia  cliuna 
10  O  biastemato  mille  fiate  e  gli  anni 

Onde  io  son  vivo  e  gusto  aureo  martire. 
M'al  fin  V(penso)  credo  soglier  queste  funa 
O  dar  rimeggio  a  mie'  gravosi  affanni, 
Se  tempo  aspetto  con  humil  sufrire. 

Eeihenfolge  der  Verse  bei  GS:  2,  1,  4,  3,  5—8,  10,  9,  11—14.  V.  7. 
Den  unlesbaren  Anfang  des  Verses  ergänzen  GS.  zweifellos  mit  Recht: 
se  sforza;  1.  uscir  wie  v.  9  fascie,  v.  12  scioglier.  —  V.  12:  Ma  al  fin. 

ni. 

L'oro  e  le  perle  e  i  bei  fioretti  e  l'erba 

Oe  par  natura  aduopre  piü  che  seta, 

Le  Manche  mano  e  l'angelice  deta 

Che  a  nobil  uopre  a  punto  se  riserba, 
5     Quegli  occhi  ch'al  voltar  suo  disacerba 

Ogni  crudezza,  e'l  viso  che  divieta 

Turbarsi  l'aria,  e  quella  faza  lieta 

Che  humil  farebe  ogni  fera  superba, 
Mirategli,  per  Dio,  signor  gentile! 
10  Mirategli,  se  mai  bramasti  in  terra 

Veder  un  dolce  e  proprio  paradiso. 
Vedrete  cose  d'aquetar  humile 

Vulcano  e  Jove  alhor  che  piü  disserra 

Per  fulminar  qui  giü  luoco  preciso. 

Versfolge  bei  GS:  5—8,  2,  1,  4,  2,  9—14.  —  2.  1.  Ove.  3.  1.  mani. 
lü.  1.  bramaste. 

Diese  Sonette  werden  zum  Lorbeer  Petrarcas  kein  neues  Blatt  hinzu- 
fügen. Der  Dichter  hat  sie  wohl  weiterer  Überarbeitung  für  unwert  ge- 
halten. Wenigstens  das  letzte,  vielleicht  aber  auch  die  beiden  vorher- 
gehenden, sind  auch  kaum  eigenem  Antrieb  entsprungen,  sondern  sind 
Risposte,  vielleicht  mit  mehr  oder  weniger  denselben  Reimwörtern,  auf 
Sonette,  die  man  ihm  Antwort  heischend  zugesandt  hatte.  Daher  denn 
auch  Formen,  die  wir  sonst  nicht  bei  ihm  finden,  wie  deta,  und  gezwungene 
Ausdrücke  und  Konstruktionen,  die  zu  korrigieren  unter  diesen  Umständen 
ein  müfsiges  Beginnen  wäre.  Freilich  bleibt  auch  immer  noch  der  Zweifel, 
inwiefern  die  Überlieferung  des  Casanatensis  in  jedem  Punkte  genau  ist. 
Besser  als  mit  den  Sonetten  steht  es  mit  den  beiden  Ballaten.  Sie  ent- 
behren nicht  der  Anmut.  Die  erste  von  ihnen,  die  schon  in  den  genannten 
Ausgaben  steht,  lautet  nunmehr,  mit  geringen  Abweichungen  von  jenen 
Drucken  (M): 

v    '  IV. 

Nova  bellezza  in  habito  gentile 

Volse  il  mio  core  al'  amorosa  schiera 
Ove'l  mal  si  sostene  e'l  ben  si  spera. 
Gir  mi  convene  e  star  com'  altri  vole, 
5  Poi  ch'al  vago  penser  fu  posto  un  freno 

Di  dolci  sdegni  e  di  pietosi  sguardi. 
£1  chiaro  nome  e'l  suon  de  le  parole 
De  la  mia  donna  e'l  bei  viso  sereno 
Son  le  faville,  Amor,  di  che'l  cor  m'ardi. 
10  I'pur  spero  merce,  quanto  che  tardi, 

Ch'avenga  {oder:  Che  ben)  ella  si  mostre  acerba  e  fera, 
Humile  amante  vince  donna  altera. 

Versfolge  bei  GS:  1—3,  5,  4,  7,  6,  9;  —  8,  10—12  (als  zwei  Frag- 
mente gedruckt).  V.  3  mal  fehlt  C.  9  a.  per  che  ü  c.  M.  10.  sp.  quan- 
twnque  che  sia  L  M.     11.  che  ben  fehlt  M. 

30* 


468  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

V. 
L'amorose  faville  e'l  dolce  lume 

De'  be'  vostri  occhi,  onde  la  mente  ho  piena, 
Fanno  la  vita  mia  (troppo)  sempre  serena. 
Donna,  l'alto  viaggio  ond'io  m'ingegno 
5  Meritar  vostra  gratia  humilemente, 

Con  sua  durezza  m'averia  giä  stancho, 
Se  non  ch'  Amor  dal  bei  viso  lucente 
Si  fa  mia  scorta  et  infallibil  segno, 
Mostrandose  nel  bei  nero  et  nel  bianco; 
10  Onde  sospira  il  disioso  fianco 

E  riprende  valor,  che'n  alto  il  mena, 
Fincendo  ogni  contrario  che  l'affrena. 

V.  4,  6,  8,  10,  12  die  ersten  Buchstaben  unleserlich,  V.  9  die  letzten 
Buchstaben  abgeschnitten  (vgl.  für  diesen  Vers  29,  28;  72,  50).  GS.  haben 
die  ersten  drei  Verse  als  besonderes  Fragment  von  den  folgenden  getrennt. 
Diese  Ballata,  die  wie  das  in  mancher  Beziehung  ähnliche  Madrigal  Per 
ch'al  viso  d' Amor  portava  insegna  dantischen  Erinnerungen  entsprungen 
scheint,  hätte  der  Dichter  wohl  mit  geringen  Änderungen  in  den  Kanzo- 
niere  aufgenommen,  wäre  es  ihm  zu  rechter  Zeit  begegnet.  Die  letzten 
fünf  Verse,  welche  uns  die  neugefundenen  Blätter  kennen  lehren,  gehören 
auch  wohl  einer  Ballata  und  vielleicht  auch  einer  fast  vollendeten  an; 
aber  es  sind  nur  ihre  ersten  und  letzten  Verse,  während  die  dazwischen- 
liegenden uns  verloren  gegangen  sind,  wenn  nicht  ein  glücklicher  Zufall 
sie  uns  wiederfinden  läfst: 

VI. 
Amor,  che'n  pace  il  tuo  regno  governi, 

Pon  flne  a  l'aspra  guerra  ch'  i'  sostegno, 
Se  ch'  i'  non  pera  per  soverchio  sdegno 

etc.     et  in  fine : 
A  voi  servir,  a  voi  piacer  m'ingegno, 
E  quel  poco  ch'  i'  son,  da  voi  mi  tegno. 

Die  Verse  sind  auf  dem  zweiten  Blatt  mit  anderer  Feder  dem  Sonett 
Piü  volle  il  dl  nachgesetzt. 

Breslau.  C.  Appel. 

O.  Hecker,  Neues  deutsch-italienisches  Wörterbuch  aus  der  lebenden 
Sprache  mit  besonderer  Berücksichtigung  des  täglichen  Verkehrs  zu- 
sammengestellt und  mit  Aussprachehilfen  versehen.  Teil  II:  Deutsch- 
Italienisch.  Braunschweig,  G.  Westermann,  1905.  VIII,  043  S.  kl.  8. 
M.  4. 

Die  grofsen  Vorzüge,  welche  dieses  italienische  Wörterbuch  vor  den 
übrigen  auszeichnen,  hat  kein  geringerer  als  Tobler  in  dieser  Zeitschrift 
Bd.  CV  S.  216 — 218  schon  hervorgehoben.  Die  kleinen  Unebenheiten, 
welche  sich  in  dem  ersten  Bande  noch  hier  und  dort  finden,  scheinen  mir 
hier  ganz  verschwunden  zu  sein.  Auf  die  Anordnung  der  einzelnen  Ar- 
tikel nach  der  Bedeutungsentwickelung  und  die  Verdeutschung  ist  wo- 
möglich noch  mehr  Sorgfalt  verwendet  worden.  Dazu  bietet  dieser  zweite 
Teil  des  Wörterbuches  eine  bei  seinem  Umfange  geradezu  überraschende 
Fülle  von  Stoff,  besonders  Redensarten  aus  dem  täglichen  Leben,  und  bei 
jedem  mehrdeutigen  Ausdruck  ist  durch  geeignete  Zusätze  für  schnelle 
und  sichere  Unterscheidungsmöglichkeit  gesorgt.  Um  ein  Beispiel  zu 
geben :  'ab'fdjlagcu,  /.  1.  portär  via  con  un  colpo  |  ($o|)f)  tagliare  |  (Wüffe) 
abbacchiare  |  bie  @d)ne£pe  ~  öon  sboccare  |  fein  SBctffer  „  fare  un  pö'  d'acqua. 
2.  (löiQavtibanbe)  rfendere.  3.  (fig.j  rifiutare,  negare  |  fdjlagen  Sie  e§  mit  nfdjt 
ab !  non  mi  dica  di  no ! ;  (Eingriff,  ©ejucb)  respingere.    *r  i.  sonär  la  ritirata.' 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  469 

Kein  grolser  Schade  ist  es,  dafs,  jedenfalls  der  Kaumersparnis  halber,  hier 
bei  den  italienischen  Zeitwörtern  der  Akzent  im  Präsens  und  die  Qualität 
der  e  und  o  unter  dem  Tone  nicht  angegeben  sind;  da  hilft  mit  leichter 
Mühe  der  erste  Teil  aus. 

Bei  den  vielen  Stichproben,  die  ich  an  der  Hand  meiner  eigenen  reich- 
haltigen Sammlungen  von  italienischen  Redensarten,  Bedeutungsentwicke- 
lungen usw.  angestellt  habe,  ist  mir  kaum  etwas  zu  bessern  aufgestofsen. 
Denn,  wenn  man  hier  und  dort  Zusätze  wünschte  und  dafür  lieber  an- 
deres aufzugeben  geneigt  wäre,  so  beruht  das  natürlich  einem  so  sorgfältig 
durchdachten  Werke  gegenüber  auf  persönlichem  Empfinden.  Zunächst 
also  in  bunter  Reihenfolge  ganz  wenige  Bedenken.  Zurückzahlen  rim- 
borsare.  Daraus  ist  nicht  ersichtlich,  dafs  es  heifst  rimborsare  uno  delle 
spese.  Pech  an  den  Hosen  haben  ist  mit  aver  la  disdetta  adddsso 
übersetzt.  Das  heifst  aber  nur  Pech  haben.  Ich  kenne  wenigstens 
Pech  an  den  Hosen  haben  nur  in  der  Bedeutung  'nicht  aus  der 
Kneipe,  einer  Gesellschaft  usw.  nach  Hause  finden  können'.  Beschot- 
tern ist  mit  acciottolare  übersetzt.  Dies  heifst  doch  aber  'mit  Kieselsteinen 
pflastern',  wie  acciottolato  ein  Kieselsteinpflaster  ist.  Ich  hätte  es 
mit  imbrecciare  wiedergegeben,  wie  das  Hauptwort  Beschotterung, 
das  H.  nicht  hat,  mit  imbrecciata.  Bei  Notnagel  steht  nur  ultima  ri- 
sorsa,  eine  Bedeutung,  in  der  ich  das  Wort  überhaupt  nicht  kenne,  und 
die  jedenfalls  weit  häufigere  'Notnagel  am  Finger'  fehlt.  An  Zusätzen 
hätte  ich  etwa  gewünscht:  befingern  (H.  hat  das  seltenere  fingern); 
in  die  Falle  locken  (accalappiare);  netter  Kerl!  iron.  bei  cesto;  bei 
Olim  hätte  ich  al  tempo  della  Regina  Berta  angeführt  (an  dieser  Stelle 
habe  ich  übrigens  den  einzigen  Druckfehler  gefunden :  von  Ulis  ist  das  s 
abgesprungen);  eine  lose  Zunge  haben  (H.  hat  nur  loses  Maul); 
verfahren  als  adj.  (etwa  spallato);  aufgeschmissen;  Furchen  - 
kämm;  mit  vollen  Backen  kauen  {mangiare  a  due  palmenti);  kei- 
nen Ton  reden  (non  aver  paröle  fatte);  ersaufen  (in  Schuhen)  (sbigon- 
ciare);  Hauptmahlzeit;  platt  sein;  Strohblume,  Immortelle; 
reiterlos  (scdsso);  Winketmafs;  lichtbraun  (sagginato) ;  prangen 
von  der  Landschaft  (il  paesaggio  esulta). 

Eine  ausgezeichnete,  ja  unentbehrliche  Zugabe  ist  das  Eigennamen- 
verzeichnis.  In  der  Aussprache  des  Deutschen  schwankt  übrigens  der 
Akzent  in  einer  ganzen  Anzahl  der  aufgeführten  Worte;  H.  gibt  da  immer 
nur  eine  Betonung  an,  meist  die  richtigere  oder  gebräuchlichere.  Sehr 
viele  Deutsche  sagen  z.  B.  Bee'thoven  und  nicht  Beetho'ven;  A'gathon, 
nicht  Agathon';  Ah'riman,  nicht  Ahri'man;  Beresi'na,  nicht  Bere'sina; 
Damo'kles,  nicht  Da'mokles ;  Eu'gen,  nicht  Eugen'  u.  a. ;  wohl  die  meisten 
betonen  E'mil  und  nicht  Emi'l,  um  Ge'org  und  Jo'hann  gar  nicht  zu  er- 
wähnen, die  nach  norddeutscher  Ansicht  verkehrte,  aber  weitverbreitete 
Betonung.  Bei  Worten  wie  sha'kespearisch  u.  a.  wäre  vielleicht  in 
Rücksicht  auf  die  Italiener  eine  Umschrift  der  Aussprache  angebracht  ge- 
wesen. Für  diese  ist  endlich  auch  noch  der  Anhang  der  starken  und  un- 
regelmäfsigen  Verbformen  in  streng  alphabetischer  Anordnung  und  das 
Verzeichnis  der  üblichsten  Abkürzungen  von  gröfster  Wichtigkeit. 

Alles  in  allem  ist  das  Büchlein  inhaltlich  und  typographisch  eine 
Musterleistung,  zu  welcher  wir  dem  Verfasser  und  der  Verlagsbuchhand- 
lung nur  Glück  wünschen  können.  Uns  selber  aber,  sowohl  den  deut- 
schen Freunden  Italiens  und  seiner  Literatur,  als  auch  den  italienischen 
Freunden  des  deutschen  Geisteslebens,  wünschen  wir,  dafs  wahr  sein  möge, 
was  man  munkelt,  dafs  nämlich  Hecker  an  einem  grofsen,  allumfassenden 
Wörterbuch  der  italienisehen  Sprache  arbeitet,  und  dafs  er  die  Kraft  und 
die  Mufse  findet,  es  samt  seinen  Boccacciostudien  unter  Dach  und  Fach 
zu  bringen. 

Halle  a.  S.  Berthold  Wiese. 


Verzeichnis 

der  vom  2.  Oktober  bis  zum  28.  November  1905  bei  der  Redaktion 
eingelaufenen  Druckschriften. 


Volsler,  K.,  Sprache  als  Schöpfung  und  Entwicklung.  Eine  theo- 
retische Untersuchung  mit  praktischen  Beispielen.  Heidelberg,  Winter, 
1905.    VII,  154  S. 

Panzer,  Fr.,  Märchen,  Sage  und  Dichtung.  München,  O.Beck,  1905. 
56  S.  [Eine  reizvolle  Arbeit,  gleich  schön  in  der  Form  wie  reich  im  In- 
halt. Märchen,  Sage  und  Dichtung  sind  drei  Stufen  der  Epik,  die  P.  in 
grofsen  Zügen  und  doch  mit  lebendigem  und  belebendem  Detail  entwicke- 
lungsgeschichtlich  darstellt  und  verbindet.  P.  teilt  die  Auffassung,  dafs 
das  Märchen,  'ein  Nachklang  der  Urpoesie  des  Menschengeschlechts', 
aus  den  Erlebnissen  des  Traumes  entstanden  ist:  su  vida  es  sueno.  Der 
Alltagsnot  des  Lebens  setzt  der  primitive  Mensch  im  Märchen  eine  Wunder- 
welt entgegen,  wo  einem  Sonntagskind  alles  in  wunderbarer  Weise  zu 
Diensten  ist  und  alles  zum  Guten  gerät.  Ihre  namenlosen  Helden  und 
Örtlichkeiten  entsprechen  einer  namen-  und  heimatlosen  Menschheit.  Kein 
lyrisches  (religiöses)  Element  mischt  sich  in  die  Erzählung  des  Abenteuers ; 
das  Märchen  hat  auch  nie  Liedform.  Wohl  aber  kann  sich  die  Volks- 
sage zu  dieser  Form  erheben.  Die  Volkssage  ist  die  Epik  einer  höheren 
Kulturstufe,  einer  Menschheit,  die  eine  feste  Heimat  hat,  deren  bestimmte 
Umwelt  Deutung  und  deren  Schicksale  Bericht  und  Erklärung  verlangen. 
In  den  Dienst  dieser  Erklärung  tritt  auch  die  primitive  Metaphysik,  d.  i. 
der  Mythus.  Die  Stimmung  der  Volkssage  ist  reifer,  d.  h.  ernster  als  die 
des  Märchens;  mit  dem  Gefühle  der  Abhängigkeit  (religio),  dessen  anthropo- 
morphisierender  Ausdruck  der  Mythus  ist,  stellen  sich  lyrische,  religiöse 
Elemente  ein.  Diese  werden  zum  Ferment  künstlerischer  Gestaltung,  und 
diese  künstlerische  Gestaltung  wird  insbesondere  der  geschichtlichen 
Sage  zuteil  und  erhebt  sie  in  den  kriegerisch-aristokratischen  Kreisen  zu 
dem,  was  wir  Heldensage  nennen.  Die  Heldensage  ist  nicht  aus  dem 
Stoffe  der  —  prosaförmigen  —  Volkssage  später  erwachsen,  sondern  sie 
ist  aus  dem  Ereignis  durch  die  Dichtung  geschaffen  und  ausgebildet.  Die 
Heldensage  ist  das  historische  Lied  in  jener  reichen  Entfaltung,  welche 
dieses  Lied  in  der  unmittelbaren  heroistischen  Umgebung  der  hervor- 
ragenden Persönlichkeiten  fand,  die  im  Mittelpunkt  der  heldenhaften  Er- 
eignisse standen.  Die  poetische  Ausgestaltung  dieser  Heldensage  hat  sich 
dabei  im  Laufe  der  Jahrhunderte  auch  aufsergeschichtliche  epische  Ele- 
mente (Märchen-,  Novellen-,  Schwankstoffe)  dienstbar  gemacht.  P.  wird 
wohl  auch  zugeben,  dafs  sie  dabei  gelegentlich  auch  zu  Stoffen  der  pro- 
saischen, episodenhaften  Volkssage  gegriffen  hat.  —  Nur  in  dieser  poetischen 
Form  hat  sich  zusammenhängende  geschichtliche  Überlieferung  mündlich 
dauernd  erhalten.  Dauerndes  Leben  in  der  Erinnerung  der  Menschen  hat 
auch  hier  nur  die  künstlerische  Auslese  und  Gestaltung  der  einstigen 
Wirklichkeit  verliehen.  —  Mit  dem  Fortschritt  von  Erkenntnis  und  Kunst 
ist  dann  in  der  Folgezeit  das  Verhältnis  des  Menschen  zur  Geschichte 
(zum  hervorragenden  heroistischen  Geschehnis)  ein  anderes  geworden.  Sie 
hat  aufgehört,  die  vornehmste  Hüterin  seiner  Aspirationen,  der  stärkste 
Antrieb  seiner  Dichtuug  zu  sein.  Kritischere  Zeiten  schaffen  keine  Helden- 
sage mehr.    In  ihren  epischen  Dichtungen  tritt  überhaupt  das  Abenteuer 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  471 

zurück,  wird  die  Geschichte  zu  einem  blofsen  antiquarischen  Kahmen,  der 
dazu  meist  unvollkommen  ist.  An  die  Stelle  des  Heros  tritt  der  Mensch; 
unsere  Epik  hat  sich  erdenwärts  gewandt,  wie  unsere  ganze  Lebensarbeit 
und  Weltanschauung,  und  baut  in  die  Tiefe.  Das  führt  P.  zum  Schlufs 
in  geistvoller  Weise  aus.  —  Man  sieht,  dafs  der  Verfasser  von  Hilde- 
Oudrun  in  dieser  akademischen  Antrittsrede  einen  kunstvollen  Rahmen 
zu  jenem  Märchenbuche  geschaffen  hat.  Ich  bedaure,  dafs  er  dabei  nicht 
Veranlassung  genommen,  im  Vorbeigehen  auch  ein  Wort  über  Entstehung 
des  Mythus  und  des  'Tiermärchens'  zu  sagen :  wir  hätten  sicherlich  einige 
feine  Bemerkungen  zu  hören  bekommen.  Doch  fürchte  ich,  dafs  so  der 
dankbare  Leser,  der  hier  spricht,  schliefslich  noch  gar  unbefriedigt  er- 
scheint —  aber:  an  leckerer  Tafel  l'appetit  vient  en  mangeant\ 

Sieveking,  F.,  Die  Hamburger  Universität.  Ein  Wort  der  An- 
regung.    Hamburg,  Meifsner,  1905.    39  S.    M.  0,50. 

The  American  Journal  of  philology.     XXVI,  3  (whole  nr.  103). 

Rösler,  Margarete;  Die  Fassungen  der  Alexius-Legende,  mit^beson- 
derer  Berücksichtigung  der  mittelenglichen  Versionen  (Wiener  Beiträge  zur 
engl.  Philol.,  XXI).     Wien,  Braumüller,  1905.     X,  197  S.    M.  6. 

Spruchwörterbuch,  Sammlung  deutscher  und  fremder  Sinnsprüche, 
Wahlsprüche,  Inschriften,  Grabsprüche,  Sprichwörter,  Aphorismen,  Epi- 
gramme, von  Bibelstellen,  Liederanfängen,  von  Zitaten,  von  Schnader- 
hüpfln,  Wetter-  und  Bauernregeln,  Bedensarten  etc.,  nach  den  Leitworten, 
sowie  geschichtlich  geordnet  und  unter  Mitwirkung  deutscher  Gelehrter 
und  Schriftsteller  hg.  von  Franz  Freiherrn  von  Lipperheide.  In  monat- 
lichen Lieferungen,  je  3  Bogen  fassend,  zu  M.  0,60.  Gesamtpreis  M.  12. 
1.  Lieferung,  48  S.    Berlin  (W.  35,  Potsdamerstr.  38)  1906. 


Literaturblatt  für  germanische  u.  romanische  Philologie.  XXVI,  10 
(Oktober). 

Publications  of  the  Mod.  Lang.  Association  of  America.  XX,  2,  June 
1905  fj.  D.  Ford,  'To  bite  the  dust'  and  symbolic  lay  communion.  — 
L.  F.  Mott,  The  round  table.  —  J.  P.  Hoskins,  Parke  Godwin  and  the 
translation  of  Zschokke's  Tales.  —  S.  G.  Morley,  The  detection  of  per- 
sonality  in  literature.  —  O.  M.  Johnston,  Sources  of  the  lay  of  Yonce.  — 
C.  C.  Rice,  Romance  etymologies.  —  H.  S.  Jones,  Some  observations  upon 
the  Squire's  tale.  —  F.  G.  Hubbard,  Repetition  and  parallelism  in  the 
earlier  Elizabethan  drama.  —  K.  McKenzie,  Unpublished  mss.  of  Italian 
bestiaries]. 

Die  neueren  Sprachen  ...  hg.  von  W.  Vietor.  XIII,  4  [A.  Ram- 
beau,  The  Teaching  of  Modern  Language  in  the  American  High  School.  — 
O.  Jespersen,  Zur  Geschichte  der  Phonetik  (I).  —  Besprechungen.  —  Ver- 
mischtes], XIII,  5  [A.  Altschul,  Über  Bilder  als  Lehrmittel  beim  Unter- 
richt in  den  neusprachlichen  Realien.  —  R.  J.  Lloyd,  Glides  between 
Consonants  in  English  (VI).  —  Berichte.  —  Besprechungen.  —  Vermisch- 
tes]. XIII,  6  [W.  Münch,  Ein  italienischer  Vorgänger  Miltons.  —  R.  J. 
Lloyd,  Glides  between  Consonants  in  English  (VII).  —  J.  Geddes  jun., 
A  Universal  Alphabet.  —  Berichte.  —  Besprechungen.  —  Vermischtes]. 
XIII,  7  [W.  Münch,  Ein  italienischer  Vorgänger  Miltons  (Schlufs).  — 
O.  Jespersen,  Zur  Geschichte  der  Phonetik  (II).  —  Berichte.  —  Be- 
sprechungen. —  Vermischtes]. 

Modern  philology.  III,  2,  October  [S.  Lee,  Chapman's  'Amorous  Zo- 
diacke'.  —  E.  P.  Hammond,  On  the  Order  of  the  Canterbury  tales:  Cax- 
ton's  two  editions.  —  F.  M.  Warren,  Some  features  of  style  in  Early 
French  narrative  poetry  1150—70,  part  I.  —  R.  Weeks,  The  newly  dis- 
covered  Chaucun  de  Willame,  part  III.  —  F.  Klaeber,  Studies  in  the 
textual  Interpretation  of  'Beowulf.  —  W.  A.  Nitze,  A  new  source  of  the 
'Yvain'].J 


472  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Neuphilologische  Mitteilungen,  hg.  vom  Neuphilol.  Verein  in  Helsing- 
fors.  1905.  Nr.  4/5  [A.  Lindfors,  Sur  la  me*thode  de  Penseignement  des 
langues  modernes  (II).  —  Besprechungen.  —  Zeitschriften-Rundschau.  — 
Eingesandte  Literatur.  —  Mitteilungen].  1905.  Nr.  6  [A.  Längfors,  Une 
paraphrase  anonyme  de  VAve  Maria  en  ancien  francais.  —  H.  Palander, 
Volksetymologische  Umbildung  im  Englischen.  —  Besprechungen.  —  Be- 
richt und  Protokolle.  —  Eingesandte  Literatur.  —  Mitteilungen]. 

Modern  language  teaching.  I,  6,  Oct.  [N.  L.  Frazer,  $  6  of  the  new 
regulations.  —  P.  b.  Jeffrey,  Normal  Engüsh.  —  Mrs.  E.  Miall,  French 
in  the  elementary  stages.  —  A  modern  lang,  teacher's  reference  library.  — 
Discussion  column,  correspondence  etc.].  —  7,  Nov.  [R.  J.  Lloyd,  On 
thinking  in  a  foreign  tongue.  —  Discussion  column,  Mod.  Lang.  Asso- 
ciation, Esperante  congress,  Examinaüons  etc.]. 

The  modern  language  review.  1,1.  A  quarterly  devoted  to  the  study 
of  medieval  and  modern  literature  and  philology  edited  by  J.  G.  Robin- 
son. Advisory  board:  H.  Bradley,  L.  M.  Brandin,  E.  G.  Braunholtz, 
K.  Breul,  E.  Dowden,  H.  G.  Fiedler,  J.  Fitzmaurice-Kelly,  W.  W.  Greg, 
C.  H.  Herford,  W.  P.  Ker,  Kuno  Meyer,  W.  R.  Moifill,  A.  S.  Napier, 
R.  Priebsch,  W.  W.  Skeat,  Paget  Toynbee.  Cambridge,  University  Press. 
86  p.  To  appear  four  times  a  year;  annual  sübsciiption:  8  sh.  net.  [G.  G. 
Smith,  Some  notes  on  the  comparative  study  of  literature.  —  P.  Toynbee, 
English  translations  of  Dante  in  the  18th  cent.  —  A.  C.  Bradley,  Notes 
on  passages  in  Shelley.  —  W.  W.  Greg,  The  authorship  of  the  songs  in  Lyly's 
plays.  —  G  .C.  Moore  Smith,  Shakespeareana.  —  J.  Crosland,  A  German 
version  of  the  thief-legend.  —  Reviews.  Minor  notices.  New  publications]. 
Schweizerisches  Archiv  für  Volkskunde,  hg.  von  E.  Hoffmann- 
Krayer  und  J.  Jeanjaquet.  IX,  2  [H.  Zahler,  Rätsel  aus  München- 
buchsee (Bern).  —  A.  Rossat,  Les  Paniers,  poeme  patois  (suite).  —  S.  Meier, 
Volkstümliches  aus  dem  Frei-  und  Kelleramt.  —  Miszellen.  —  Bücher- 
anzeigen. —  Berichte].  IX,  3  [Chr.  Luchsinger,  Das  Molkereigerät  in  den 
Alpendialekten  der  romanischen  Schweiz.  —  H.  Zahler,  Rätsel  aus  München- 
buchsee (Schlufs).  —  S.  Meier,  Volkstümliches  aus  dem  Frei-  und  Keller- 
amt (Forts.).  —  A.  Rossat,  Les  Paniers,  poeme  patois  (suite).  —  Bücher- 
anzeigen]. 

Breymann.  H.,  Neusprachliche  Reform-Literatur  (Drittes  Heft).  Eine 
bibliographisch- kritische  Übersicht,  bearbeitet  von  Prof.  Dr.  Steinmüller. 
Leipzig,  Deichert  (G.  Böhme),  1905.  IV,  152  S.  M.  4.  [Die  übersicht- 
liche Anlage  des  trefflichen  Breymannschen  Werkes  ist  in  diesem  dritten 
Hefte  bewahrt  worden.  Die  ersten  Seiten  enthalten  Nachträge  zu  den 
früher  erschienenen  Teilen;  S.  10—102  bieten  das  neue  Material,  haupt- 
sächlich für  die  Jahre  1899 — 1904,  und  daran  schliefst  sich  der  zusammen- 
fassende Rückblick,  der  über  die  methodologische  Diskussion  dieser  fünf 
Jahre  im  Sinne  der  'vermittelnden  Reformmethode'  orientiert.] 

Münch,  W.,  Das  akademische  Privatstudium  der  Neuphilologen 
[S.-A.  aus  Lehrproben  und  Lehrgänge  der  Gymnasien  und  Realschulen, 
4.  Heft].  1905.  20  S.  [Von  dem  Gedanken  ausgehend,  dafs  der  Student 
der  neueren  Sprachen  allzuleicht  sich  damit  begnügt,  sich  nur  mit  dem 
zu  beschäftigen,  was  der  Turnus  der  Vorlesungen  und  Seminarübungen 
ihm  zufällig  zuführt,  weist  hier  M.  nachdrücklich  auf  die  Notwendigkeit 
eines  planmäfsigen  Privatstudiums  hin,  das  neben  der  gleichsam  offiziellen 
Beschäftigung  herzugehen  hat.  Er  spricht  von  den  Aufgaben  dieses  Privat- 
studiums und  seiner  Organisation  in  warmen  Worten  der  Erfahrung,  die 
jeder  Student  sich  zu  Herzen  nehmen  sollte.] 

Lüde  ritz,  A.,  Die  Liebestheorie  der  Provenzalen  bei  den  Minne- 
singern der  Stauferzeit  (Literarhistorische  Forschungen,  hg.  von  Schick 
und  v.  Waldberg,  XXIX.  Heft).  Berlin  u.  Leipzig,  Felber,  1904.  136  S. 
M.  3,  Subskriptionspreis  M.  2,60. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  473 

The  Journal  of  English  and  Germanic  philology.  V,  4,  October  1905 
[E.  D.  Hanscone,  The  feeling  for  nature  in  0.  E.  poetry.  —  O.  B.  Schlutter, 
On  the  O.  E.  glosses  printed  in  Kluge's  Ags.  Lesebuch.  —  C.  H.  Hatha- 
way jr.,  Chaucer's  verse  tags  as  a  part  of  his  narrative  machinery.  — 
A.  S.  Cook,  Browning,  Abt  Vogler,  99  ff.  —  G.  H.  Nettleton,  The  books 
of  Lydia  Languish's  circulating  library.  —  E.  Björkman,  Etymological 
notes.  —  G.  M.  Priest,  Zu  Eberhard  von  Erfurt.  —  C.  Osthaus,  Strong 
forms  of  Ein  before  nouns.  —  F.  L.  Wells,  Experimental  phonetics  and 
Verner's  law.  —  F.  M.  Padelford,  Note  on  Brasil's  Address  to  young  men. 
—  E.  Klaeber,  An  O.  E.  proverb.  —  W.  S.  Johnson,  A  note  on  King 
Lear.  —  G.  T.  Flom,  The  Norwegian  dialect  and  Folklore  Society.  — 
Reviews]. 

Jantzen,  Hermann,  Gotische  Sprachdenkmäler  mit  Grammatik,  Über- 
setzung und  Erläuterungen.  3.  Aufl.  (Sammlung  Göschen  Nr.  79).  Leip- 
zig, Göschen,  1905.     153  S.    M.  0,80. 

Golther,  Wolfgang,  Nordische  Literaturgeschichte.  I.  Teil:  Die  is- 
ländische und  norwegische  Literatur  des  Mittelalters  (Sammlung  Göschen 
Nr.  254).    Leipzig,  Göschen,  1905.    123  S.     M.  0,80. 

Skandinavisk  mänadsrevy.  I,  4.  Nov.  [E.  Wrangel,  Schiller  und 
Schweden.  —  The  Kipling  reader,  Jungle  animals  in  India.  —  English 
guides  to  learning.  —  Miscellanea  etc.]. 

Methode  Toussaint-Langenscheidt.  Brieflicher  Sprach-  und  Sprech- 
unterricht f.  d.  Selbststudium  der  schwedischen  Sprache  von  E.  Jonas, 
E.  Tuneid,  C.  G.  Moren.    Berlin,  Langenscheidt.    Brief  31—35  zu  M.  1. 


Sahr,  Julius,  Das  deutsche  Volkslied,  ausgewählt  und  erläutert.  2.  Auf- 
lage (Sammlung  Göschen  Nr.  25).   Leipzig,  Göschen,  1905.    189  S.   M.  <»,80. 

Zscharnack,  Leopold,  Lessing  und  Semler.  Ein  Beitrag  zur  Ent- 
stehungsgeschichte des  Rationalismus  und  der  kritischen  Theologie.  Gie- 
fsen,  Töpelmann,  1905.    388  S.    M.  10. 

Homers  Ilias  und  Odyssee  in  verkürzter  Form  nach  Joh.  H.  Vofs 
bearbeitet  von  Dr.  Edmund  Weilsenborn,  Prof.  am  Gymn.  zu  Mühl- 
hausen i.  Th.  I.  Bändchen:  Ilias.  3.  Auflage.  Leipzig,  Teubner,  1905. 
IV,  164  S. 

Goethe's  Faust,  translated  by  Anna  Swanwick,  LL.  D.  with  an  in- 
troduction  and  bibliography  by  Karl  Breul,  York  Library.  London, 
Bell,  1905.     LXX,  4R7  S.    2  s. 

:  T|    Goethes  Iphieenie  auf  Tauris,  edited  with  introduction  and  notes   bv 
Max  Winkler,  Ph.  D.    Neuyork,  Holt,  1905.    CV,  211   S. 

Drescher,  Max,  Die  Quellen  zu  Hauffs 'Lichtenstein' (Probefahrten, 
Erstlingsarbeiten  aus  dem  Deutschen  Seminar  in  Leipzig,  VIII).  Leipzig, 
Voigtländer,  1905.     146  S. 

Paszkowski,  Wilhelm,  Lesebuch  zur  Einführung  in  die  Kenntnis 
Deutschlands  und  seines  geistigen  Lebens.  Für  ausländische  Studierende 
und  für  die  oberste  Stufe  höherer  Lehranstalten  des  In-  und  Auslandes. 
2.  Auflage.     Berlin,  Weidmann,  1905.    VIII,  240  S.    M.  3,20. 

Langer,  O.,  Deutsche  Diktierstoffe  in  Aufsatzform,  vermehrt  durch 
Einzelsätze  für  den  Unterricht  in  der  Rechtschreibung.  Zum  Gebrauch 
an  höheren  Lehranstalten  sowie  Bürgerschulen  und  für  den  Privatunter- 
richt.   4.  Auflage.     Wien,  Tempsky,  1906.     162  S.    M.  2. 

£,  Beiblatt  zur  Anglia.  XVI,  4,  5  (April,  Mai  1905). 
' "  Scottish  historical  review.  III,  9,  Oct.  1905  [C.  H.  Firth,  A  resto- 
ration  duel.  —  Sir  Herbert  Maxwell,  The  Scalacronica  of  Sir  Thomas 
Gray.  —  R.  M.  Fergusson,  Presbytery  and  popery  in  the  16.  cent.  — 
R.  M.  Holden,  The  first  Highland  regiment.  —  W.  G.  B.  Murdock,  Charles 
the  Second,  his  connection  with  art  and  letters.  —  A.  F.  Stewart,  The 


474  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Scottish  'nation'  at  the  university  of  Padua.  —  A.  H.  Miliar,  Killicrankie 
described  by  an  eye-witness.  —  W.  R.  Scott,  Scottish  industrial  under- 
takings  before  the  union.  —  Reviews  of  books.  Queries.  Communication 
and  replies]. 

Swaen,  A.  E.  H.,  A  short  history  of  English  literature.  Second 
edition.     Groningen,  Noordhoff,  1906.     60  S.    M.  n,80. 

Schmidt,  Friedrich,  Oberlehrer,  Short  English  prosody  for  use  in 
schools.    Leipzig,  Renger,  1004.     14  S.    M.  0,30. 

Beowulf  nebst  dem  Finnsburg-Bruchstück  mit  Einleitung,  Glossar  und 
Anmerkungen  hg.  von  F.  Holthausen.  I.  Teil:  Texte  und  Namenver- 
zeichnis (Alt-  u.  mittelengl.  Texte,  hg.  von  Morsbach  u.  Holthausen,  III). 
Heidelberg,  Winter,  1905.    VII,  112  S.    M.  2,40. 

Derocquigny,  Jules,  A  contribution  to  the  study  of  the  French 
element  in  English.    Lille,  Le  Bigot  Bros.,  1904.     176  S. 

Lucht,  Paul,  Lautlehre  der  älteren  Layamonhandschrift  (Palaestra, 
XLIX).    Berün,  Mayer  &  Müller,  1905.     132  S. 

French,  John  C,  The  problem  of  the  two  prologues  to  Chaucer's 
Legend  of  good  women.     Baltimore,  J.  H.  Fürst  Company,  1905.    100  S. 

Benndorf,  Cornelie,  Die  englische  Pädagogik  im  16.  Jahrhundert, 
wie  sie  dargestellt  wird  im  Wirken  und  in  den  Werken  von  Elyot,  Ascham 
und  Mulcaster  (Wiener  Beiträge  zur  engl.  Philologie,  XXII).  Wien,  Brau- 
müller, 1905.    XI,  84  S.    M.  3. 

Shakespeare,  William,  Hamlet.  Erklärt  von  H.  Fritsche,  neu  hg. 
von  Hermann  Conrad  (Shakespeares  ausgewählte  Dichtungen,  V).  Ber- 
lin, Weidmann,  1905.     LXXXII,  153  S.    M.  2. 

Shakespeare,  Julius  Caesar  edited  by  Frederic  W.  Moor  man  (Teub- 
ner's  School  Texts,  I).   Leipzig,  Teubner,  1905.    91  S.  (Dazu  Notes,  66  S.) 

Minor  poets  of  the  Caroline  period,  vol.  I  containing  Chamberlayne's 
Pharonnida  and  England's  jubilee,  Benlowes'  Theophila  and  the  poems 
of  Katherine  Philips  and  Patrick  Hannay,  edited  by  George  Saints- 
bury,  M.  A.     Oxford,  Clarendon  Press,  1905.    XVIII,  726  S.    10s.  6  d. 

Souvenir  of  the  Crabbe  celebration  and  catalogue  of  the  exhibition  at 
Aldeburgh.Suffolk,  16th  to  17Ul  September,  1905.    2  s.  6  d.y 

Collection  of  British  authors.    Tauchnitz  edition.     ä  M.  1,60. 
Vol.  3841:   Percy  White,  The  patient  man. 
„      3842 — 3:   A.  Hope,  A  servant  of  the  public. 
„      3844:  A.  Morrison,  Divers  vanities. 

Krueger,  Gustav,  Englisches  Unterrichtswerk  für  höhere  Schulen. 
III.  Teil:  Lesebuch  mit  8  farbigen  Karten  und  Tafeln.  Wien,  Tempsky, 
1906.    400  S.    M.  3,60  =  4  K  30  h. 

Röttgers,  Benno,  Englisches  Lesebuch  für  höhere  Lehranstalten. 
Mit  35  Illustrationen  und  3  farbigen  Karten.  Bielefeld  und  Leipzig,  Vel- 
hagen  &  Klasing,  1906.    X,  352  S.    M.  3  50. 

Hamilton,  Louis,  The  practical  Englishman.  Lehrbuch  für  öffent- 
liche Lehranstalten  und  für  den  Privatunterricht.  Berlin,  Weidmann, 
1905.     163  S. 

Wingerath,  Hubert  H,  New  English  reading-book  for  the  use  of 
middle  forms  in  German  high-schools.  Second  edition,  revised  and  en- 
larged.  with  a  map  of  Great  Britain  and  Ireland.  Cologne,  Dumont- 
Schauberg,  1905.     XII,  367  S.     M.  3,50. 

English  histories  in  biographies,  with  a  Synopsis  of  the  history  of 
England  from  the  Norman  conquest  to  the  time  of  George  I.  Zusammen- 
gestellt und  erklärt  von  Karl  Köhler  (Schulbibliothek  französ.  und  engl. 
Prosaschriften,  II,  44).     Berlin,  Weidmann,  1905.    VI,   144   S.    M.  1,40. 

Rider  Hagsrard,  H.,  Mr.  Meeson's  will.  Annotated  by  Grond- 
houd  and  Roorda.  Library  of  contemporary  authors  I.  Second  edition. 
Groningen,  Noordhoff,  1906.    VIII,  271  S.    f.  1,50.    . 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  475 

Romania  p.  p.  P.  Meyer  et  A.  Thomas.  No.  135  (juillet  1905) 
[A.  Thomas,  Le  nominatif  pluriel  asymeHrique  des  substantifs  masculins 
en  ancien  provencal.  —  H.  Omont.  Notice  sur  des  feuillets  retrouv£s  du 
ms.  525  de  Dijon.  —  A.  Piaget,  Le  Belle  Dame  sans  merei  et  ses  imitations 
(suite).  —  P.  Meyer,  Fragments  de  manuscrits  francais.  —  Melanges: 
J.  Derocquigny,  Anc.  fr.  besuchter  (=  s'occuper  ä  des  riens).  —  A.  Tho- 
mas, Fr.  elanguer,  elangueur;  fr.  dialektal  fenerotet;  fr.  rancune;  anc.  fr. 
renformer,  fr.  mod.  renformir.  —  Comptes  rendus.  —  Periodiques.  — 
Chronique]. 

Revue  des  langues  romanes  XLVIII,  4  [V.  Chichmarev,  Contenances 
de  table  en  vers  provencaux.  —  F.  Castets,  Une  Variante  allemande  de 
'Apres  la  bataille'.  —  P.  Devoluy,  Discours  prounouncia  au  festenau  de 
Santo-Estello  lou  12  de  jun  1905* en  Arie.  —  P.  Ulrich,  L'Apocalypse  en 
haut-engadinois  (fin).  —  H.  Guy,  La  Chronique  francaise  de  Maitre 
G.  CreHin  (suite).  —  Bibliographie].  XLVIII,  5  [L.-E.  Kastner,  Les  ver- 
sions  fr.  ine"dites  de  la  descente  de  saint  Paul  en  enfer.  —  F.  Castets, 
I  dodici  canti  (suite).  —  J.  Ronjat,  Sur  la  langue  de  Foures.  —  A.  Vidal, 
Les  delib^rations  du  conseil  communal  d'Albi  de  1372  ä  1388  (fin).  — 
Bibliographie.  —  Chronique]. 

Romanische  Forschungen.  Organ  für  roman.  Sprachen  und  Mittel- 
latein, hg.  v.  K.  Vollmöller.  XX,  1.  Heft  [L.  Jordan,  Die  Sage  von 
den  vier  Haimonskindern.  —  G.  Hartmann,  Zur  Geschichte  der  italie- 
nischen Orthographie.  —  F.  B.  Luquiens,  The  Roman  de  la  Rose  and 
medieval  Castilian  literature]. 

Biblotheca  Romanica,  Strafsburg,  Heitz  u.  Mündel  (1905).  Das 
Bändchen,  ca.  5  Druckbogen,  M.  0,40. 

1.  Moli  er  e,  Le  Misanthrope. 

2.  Moliere,  Les  Femmes  savantes. 

3.  Corneille,  Le  Cid. 

4.  Descartes,  Discours  de  la  m^thode. 

'.    5.  u.  6.  Dante,  Div.  Commedia:  Inferno. 

7.  Boccaccio,  Decameron,  Prima  giornata. 

8.  Calderon,  La  vida  es  sueno. 

9.  Restif  de  la  Bretonne,  L'an  2000. 

10.  Camöes,  Los  Lusiadas,  Canto  I  und  IL  [Diese  neue  Sammlung  will 
den  Gelehrten,  Studierenden,  Lehrern,  Schülern  und  den  Gebildeten  über- 
haupt zuverlässige  Ausgaben  romanischer  Literaturwerke  zu  billigem  Preise 
und  in  guter  Ausstattung  bieten.  Das  Unternehmen,  das  in  der  be- 
währten Hand  von  G.  Gröber  liegt,  wird  jedem  willkommen  sein  und  ist 
insbesondere  im  Interesse  des  Studierenden  und  des  akademischen  Unter- 
richts zu  begrülsen.  Dieser  Unterricht  leidet  vielfach  unter  dem  Um- 
stände, dafs  dem  Studenten  die  Literaturwerke  nicht  erreichbar  sind  und 
der  Umfang  seiner  fremdsprachlichen  Lektüre,  seine  direkte  Quellenkenntnis 
unzureichend  ist.  Hier  wird  ihm  eine  reiche  Auswahl  romanischer  Werke 
geboten,  die  seiner  Börse  zugänglich  sind.  Die  weiteren  Bändchen  sollen 
zunächst  auch  Voltaire,  Rousseau,  Diderot,  Beaumarchais,  Balzac,  Tillier, 
Musset;  Petrarca,  Ariost,  Cellini,  Tasso,  Metastasio,  Goldoni,  Alfieri,  Leo- 
pardi;  Lope,  Cervantes,  Gil  Vicente  etc.  bringen.  Jedes  Bändchen  ist 
mit  einer  Einleitung  versehen,  die  eine  literaturgeschichtliche  Würdigung 
des  Werkes  mit  bibliographischen  Angaben  verbindet  und  in  der  Sprache 
des  romanischen  Autors  verfafst  ist.  Der  Druck  ist  klein,  aber  scharf. 
Die  Orthographie  der  älteren  französischen  Texte  ist  in  vernünftiger  Weise 
modernisiert.  Im  allgemeinen  sollen  diesen  Neudrucken  die  Ausgaben  letzter 
Hand  zugrunde  gelegt  werden.  So  beruht  z.  B.  der  Cid  auf  der  Edition 
von  1682;  doch  sind  die  Abweichungen,  die  der  ursprüngliche  Text  von 
1637  zeigt,  angeführt.  Molieres  Stücke  sind  auf  die  Editiones  principes 
gegründet  (init  Angabe  der  Varianten  von  1682).  Der  Wittesche  Text  der 
Commedia  ist  mit  den  Lesarten  der  verbreitetsten  neueren  Ausgaben  und 


476  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

der  Boccaccio-Handschrift  versehen,  und  die  Ausgabe  der  iAisiadas  (von 
Carolina  Michaelis  de  Vasconcellos)  bietet  mit  einer  längeren  Einleitung 
einen  kritischen  Text.] 

Societa  filologica  romana: 
I  Documenti  d'Amore  di  Francesco  da  Barberino  secondo  i  manoscritti 
originali  a  cura  di  F.  Egidi,  fasc.  IV,  Roma  1905.    8.  ?09— 288. 

Bulletino  della  Soc.  fil.  rom.    Num.  VII.    Roma  1905.    90  S. 

Niedermann,  M.,  Contributions  ä  la  critique  et  ä  l'explication  des 
Gloses  latines  [Acad^mie  de  Neuchatel.  Recueil  de  travaux  p.  p.  la  Fa- 
culte"  des  Lettres  sous  les  auspices  de  la  Soci^te"  acadömique.  Prem.  fa- 
scicule].    Neuchatel,  Attinger,  1905.     IX,  49  S.    Fr.  3. 

Weise,  0.,  Charakteristik  der  lateinischen  Sprache.  Dritte  Auflage. 
Leipzig,  Teuber  1905.  VI,  190  B.  [Diese  dritte  Auflage  des  bekannten 
Werkchens  zeigt  mancherlei  Ergänzungen  und  Nachträge,  so  z.  B.  einen 
kurzen  Schlufsabschnitt  über  'Die  römische  Kultur  im  Spiegel  des  la- 
teinischen Wortschatzes']. 

Grundrifs  der  romanischen  Philologie,  hg.  von  G.  Gröber.  I.  Band, 
4.  Lieferung  (Bogen  49—68;  Schlufs  des  Bandes).  Mit  13  Karten.  Zweite 
verb.  und  verm.  Auflage.  Strafsburg,  K.  J.  Trübner,  1906.  M.  5,50.  [Auf 
die  drei  vorausgehenden  Lieferungen  ist  hier,  CXIII,  244;  490;  CXIV,  263, 
bereits  hingewiesen  worden.  Mit  der  vorliegenden  vierten  (Schlufs-)Liefe- 
rung  ist  dieser  erste  Band  nun  auf  rund  1100  Seiten  angewachsen: 
er  hat  gegenüber  der  ersten  Auflage  eine  Vermehrung  von  15  Bogen  er- 
fahren. Diese  Schlufslieferung  führt  Suchiers  Darstellung  'Die  franzö- 
sische und  provenzalische  Sprache  und  ihre  Mundarten'  zu  Ende,  bringt 
Morel-Fatios  Darstellung  des  Katalanischen  in  teilweiser  Neubearbei- 
tung durch  Saroi'handy,  Baists  'Spanische  Sprache',  Cornus  'Portu- 
giesische Sprache'  (mit  einem  Anhang  'Neugalizische  Formenlehre')  und 
'Die  lateinischen  Elemente  im  Albanesischen'  in  neuer  Redaktion  durch 
W.  Meyer-Lübke.  —  Vergleicht  man  den  Band  in  seiner  neuen  Ge- 
stalt mit  der  ursprünglichen  Form  von  1888,  so  findet  man,  ganz  abge- 
sehen von  fortlaufenden  Zusätzen,  welche  die  Bibliographie  ä  jour  halten 
und  sonstige  im  Laufe  der  Jahre  entstandene  Lücken  ergänzen,  fast  in 
jedem  Paragraphen  Änderungen  zum  Teil  tiefgreifender  Art,  wie  sie  durch 
die  Fortschritte  der  Forschung  bedingt  worden  sind  (vgl.  z.  B.  §  96  in 
Suchiers  Abschnitt).  Die  Karten  sind  wohl  ganz  unverändert  geblieben; 
zu  kleineren  Retuschen  wäre  auch  hier  gelegentlich  Veranlassung  gewesen. 
Z.  B.  gehört  (Karte  I)  das  linksloirische  Montbrison  nach  Philipon,  Ro- 
mania  XXII,  1  ff.,  zu  den  Orten,  die  d  nach  Palatalen  bewahren  (finales 
Pal.  -f-  a  aber  wird  i),  und  diesen  Forschungen  Philipons,  Devaux'  und 
Gauchats  zufolge  hätte  auf  der  allgemeineu  Übersichtskarte  des  roma- 
nischen Sprachgebietes  auch  die  Grenze  des  'Frankoprovenzalischen'  ver- 
ändert werden  müssen:  das  frankoprovenzalische  Gebiet  dehnt  sich  west- 
lich von  Lyon  bis  zur  Loire,  ja  (mit  auslaut.  -a  >  -i)  noch  etwas  jenseits 
dieses  Flusses  aus,  während  es  anderseits  sich  etwas  weniger  weit  nach 
Süden  und  ganz  erheblich  weniger  weit  nach  Norden  erstreckt,  als  die 
gelbe  Grenze  angibt.  Es  wäre  übrigens  erwünscht,  dafs  Herausgeber  und 
Verleger  diese  Übersichtskarte  in  gröfserem  Mafsstab,  als  Wandkarte,  her- 
stellen liefsen.  Sie  würde  die  Anschauungsmittel  unserer  Seminarien  in 
willkommener  Weise  vermehren.  —  Der  Grundrifs  ist  allen,  die  sich  mit 
romanischer  Philologie  beschäftigen,  den  Lernenden  und  den  Lehrenden, 
längst  ein  unentbehrliches  Hilfsmittel  geworden.  Die  Rolle,  die  er  in  der 
Forschungsarbeit  der  letzten  zwei  Jahrzehnte  als  Inventar  und  Wegweiser 
gespielt  hat,  wird  rnoch  gewichtiger  werden  durch  diese  so  rasch  und 
glücklich  geförderte  Neubearbeitung  von  1904 — 6.] 

Roques,  M.,  Möthodes  ötymologiques  (Extrait  du  Journal  des  Sa- 
vants,  aoüt).  Paris  1905.  15  S.  [Von  A.  Thomas'  Nouveaux  Essais  de 
Philologie  francaüe,  vergl.  hier  CXIII,  493,  ausgehend,  gelangt  Roques  zu 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  477 

einer  vergleichenden  Würdigung  der  Wortforschungsmethoden,  die  durch 
Thomas  einerseits,  durch  Schuchardt  anderseits  vertreten  werden.  Auch 
er  kommt,  wie  Tappolet  in  seinem  hier  erschienenen  Aufsatz  über  'Pho- 
netik und  Semantik:  in  der  etym.  Forschung',  CXV,  121,  zu  dem  Resultat, 
dafs  die  Differenz,  welche  die  beiden  Forscher  trennt,  durch  die  Polemik 
gröfser  erscheint,  als  sie  wirklich  ist.  Man  wird  das  gelten  lassen  und 
doch  mit  Roques  der  Meinung  sein,  dafs  ein  tiefer  prinzipieller  Unter- 
schied sich  in  beider  Methode  verbirgt.  Nicht  darin  liegt  er  freilich,  dafs 
Schuchardt  die  semasiologische  Seite  der  Wortgeschichte  mehr  betont  als 
Thomas,  sondern  er  liegt  in  der  Auffassung  der  sog.  Lautgesetze  (cf .  hier 
p.  454  f.),  und  hier  ist  er  unüberbrückbar.  Schuchardt  glaubt  nicht  an  die 
von  uns  formuberten  Lautgesetze;  er  spricht  diesen  empirischen  For- 
meln die  ausnahmslose  Gültigkeit  ab.  So  findet  er  eben  da  keinen  festen 
Boden,  wo  Thomas  seinerseits  ganz  sicher  zu  stehen  und  zu  gehen  ver- 
meint. Aus  dieser  Sicherheit  Thomas'  fliefst  seine  Selbstbeschränkung: 
er  arbeitet  mit  Vorliebe  am  einzelnen  Wort,  bleibt  gern  innerhalb  eines 
Dialekts  und  meist  innerhalb  des  Französischen  oder  doch  des  Gallo- 
romanischen  und  begnügt  sich  mit  der  Herausarbeitung  des  limitierten 
phonetischen  Problems,  für  welches  sein  Auge  eine  aufserordentliche  Schärfe 
besitzt.  Und  weil  Schuchardt  in  den  sog.  Lautgesetzen  einen  sicheren 
Halt  nicht  erkennen  kann,  sieht  er  sich  nach  anderen  Hilfsmitteln  um, 
befragt  er  mit  unermüdlicher  Wifsbegier  die  Bedeutungsgeschichte,  d.  h. 
die  Kulturgeschichte,  dringt  er  vom  einzelnen  Wort  zur  ganzen  Sippe  vor, 
geht  vom  Begriff  zur  Sache  und  ist  ihm  der  Kreis  der  romanischen  Kul- 
turen und  Sprachen  zu  eng  geworden.  Gewifs  hat  Roques  recht:  'leurs 
methodes  se  rencontrent  et  se  confondent  souvent,'  und  auch  diejenigen,  die 
grundsätzlich  auf  Schuchardts  Seite  stehen,  können  sich  der  Resultate 
Thomas'  freuen.] 

Revue  de  philologie  francaise  p.  p.  L.  C16dat.  XIX,  2  et  3. 
[L.  Vignon,  Les  patois  de  la  region  lyonnaise:  le  pronom  regime  de  la 
'66  personne:  le  regime  direct  neutre.  —  P.Meyer,  La  simplification  ortho- 
graphique  (fin).  —  J. -Henri  Reinhold,  Quelques  remarques  sur  les  sources 
de  'Floire  et  Blanceflor'.  —  Em.  Casse  et  Eug.  Chaumiade,  Vieilles  chan- 
sons  patoises  du  Pe>igord.  —  Melanges:  L.  Cl<§dat,  L'usage  orthogr.  du 
XVHIe  siecle.  —  Ph.  Fabia,  Malgoires,  une  Etymologie  toponymique.  — 
L.  C16dat,  Le  verbe  falloir  —  faillir.  —  J.  Bastin,  Faillirai  et  defaille.  — 
Comptes  rendus.  —  Chroniquej. 

Zeitschrift  für  französ.  Sprache  und  Literatur,  hg.  v.  D.  Behrens. 
XXVIII,  2  und  4  [Der  Referate  und  Rezensionen  erstes  u.  zweites  Heft]. 
XXVIII,  5  und  6  |H.  Droysen,  Unvorgreifliche  Bemerkungen  zu  dem 
Briefwechsel  zwischen  Friedrich  d.  G.  und  Voltaire.  —  W.  Mangold,  Noch 
einige  Aktenstücke  zu  Voltaires  Frankfurter  Haft.  —  W.  Küchler,  Ste- 
Beuve  Studien,  I:  Ste-B.  und  die  deutsche  Literatur.  —  W.  Martini, 
V.  Hugos  dramat.  Technik  nach  ihrer  histor.  und  psychol.  Entwicklung 
(Schlui's).  —  C.  Riesland,  Französische  Sprichwörter-Bibliographie.  —  L. 
E.  Kastner,  A  neglected  french  poetic  form.  —  D.  Behrens,  Wortgeschicht- 
liche Miszelien].  XXVIII,  G  und  7  [Der  Referate  und  Rezensionen  drittes 
und  viertes  Heft.  —  Miszelien :  L.  Thomas,  Supplement  ä  la  bibliographie 
des  ecrits  de  Ste-Beuve;  Notes  bibliographiques  sur  Ste-Beuve.  —  E.  Uhle- 
mann,  Syntaktisches]. 

Revue  des  Etudes  Rabelaisiennes.  III,  3  [A.  Lefranc,  Picrochole  et 
Gaucher  de  Ste-Marthe.  —  J.  Barat,  L'influence  de  Tiraqueau  sur  Rabe- 
lais. —  Melanges.  —  Compte  rendu.  —  Chronique]. 

Saure,  H.,  Auswahl  französischer  Gedichte  für  Schule  und  Haus. 
Dritte  Auflage.  Berlin,  Herbig,  1905.  VIII,  143  S.  ßrosch.  M.  1,60,  ge- 
bunden M.  2. 


478  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Weidmannsche  Sammlung  französischer  und  englischer  Schriftsteller 
mit  deutschen  Anmerkungen.    Berlin,  Weidmann,  1905: 

Moliere,  Les  Pr^cieuses  ridicules,  erkl.  von  H.  Fritsche.  2.  Auf- 
lage, durchgesehen  von  Dr.  J.  Hengesbach.     73  S. 

Schult» bl.  franz.  u.  engl.  Prosaschriften  aus  der  neueren  Zeit,  hg.  von 
Bahlsen  u.  Hengesbach,  Abteil.  I.    Berlin,  Weidmannsche  Buchhdlg.  1905: 

N°  37,  Histoire  de  la  Revolution  fran§aise,  hg.  u.  erklärt  von  Prof. 
Dr.  F.  J.  Wershoven.  Mit  0  Abbildungen  und  einem  Plan  von  Paris. 
Zweite  verb.  Auflage.     VI,  160  S.    Geb.  M.  1,50. 

N°  40,  Conteurs  contemporains,  neun  Erzählungen  von  Theuriet, 
France,  Loti,  Sardou,  Zola,  bearb.  und  erklärt  v.  Dr.  J.  Hengesbach. 
Mit  eiuem  Plan.    Zweite  sorgf.  duichges.  Auflage.    XIV,  136  S.    M.  1,40. 

N°  54,  L'Empire  1813 — 15.  L'Allemagne  anti-napoleonne.  Aus  der 
Hist.  Generale  von  Lavisse  und  Rambaud,  bearbeit.  u.  mit  Anm.  hg.  von 
Dr.  Th.  Haas.    Mit  einer  Karte  und  zwei  Plänen.   VII,  168  S.   M.  1,80. 

Prosateurs  Modernes.     Wolfenbüttel,  Zwifsler,  1905 : 

Band  XX:  L'Histoire  de  France  depuis  1328  jusqu'en  1871,  für  den 
Schulgebrauch  bearbeitet  v.  H.  Bretschneider.  Mit  Karte  und  Plan 
von  Paris.    VI,  69  S.     M.  0,75. 

Counson,  A.,  Petit  manuel  et  morceaux  celebres  de  la  littörature 
francaise.  Halle  a.  S.,  Buchhandlung  des  Waisenhauses,  1905.  276  S. 
M.  3,40.  [Das  Buch  widmet  dem  Mittelalter  und  der  Renaissance  die  ersten 
zwei  Dutzend  Seiten,  dient  im  übrigen  der  literarischen  Orientierung  über 
das  .17.,  18.  und  19.  Jahrhundert  und  ist  für  höhere  Schulen  sowie  für 
die  Übungskurse  des  Universitätslektors  bestimmt.] 

Les  Paniers.  Poeme  en  patois  bisontin,  traduit  en  patois  jurassien 
p.  F.  Raspieler,  eure"  de  Courroux.  Etüde  critique  des  diverses  versions 
p.  A.  Rossat  (S.  A.  aus  d.  Schweiz.  Archiv  f.  Volkskunde  VIII  u.  IX). 
Zürich  1905.  94  S.  [Vgl.  Archiv  CXIV,  266;  Rossat  gibt  hier  den  Text 
der  einen  Raspielerschen  Handschrift  (Ms.  A)  mit  phonetischer  Umschrift, 
reichem  philologischem  Kommentar  und  neufranz.  Übersetzung.] 

Loseth,  E.,  Le  Tristan  et  le  Palamede  des  manuscrits  francais  du 
British  Museum.  Etüde  critique  (Aus  Videnskabs  -  Selskabets  Skrifter. 
IL  Hist.-Filos.  Klasse  1905,  N°  4).  Christiania,  J.  Dybwad  1905.  38  S. 
[Die  Manuskripte  sind  acht  an  der  Zahl;  sechs  davon  enthalten  den  Tri- 
stan. An  ihnen  hat  der  Verfasser  die  ebenso  verdienstliche  wie  mühevolle 
Arbeit  fortgesetzt,  die  er  bereits  für  die  Pariser  Hss.  geliefert  hat  (Le 
roman  de  Tr.  en  prose,  le  roman  de  Pal.  et  la  compilation  de  Rusticien  de 
Pise,  1890).  Die  Untersuchung  ist  leider  nicht  sehr  ergebnisreich,  und 
insbesondere  hat  sie  nichts  zutage  gefördert,  um  die  Frage  endgültig  zu 
entscheiden,  ob  die  franz.  Quelle  des  italienischen  Tristano  Riccardiano 
älter  ist  als  die  uns  bekannten  franz.  Versionen.  Immerhin  weifs  L.  gute 
Gründe  gegen  die  Annahme  solcher  Priorität  —  die  Parodi  vertreten  hat 
—  geltend  zu  machen.] 

Neu  mann,  E.,  Der  Söldner  (soudoyer)  im  Mittelalter  nach  den  frz. 
und  provenzal.  Heldenepen  (Marburger  Dissertation).  Marburg,  Schön- 
hoven,  1905.     102  S. 

Zenker,  R.,  Boeve  Amlethus.  Das  altfranz.  Epos  von  Boeve  de 
Hamtone  und  der  Ursprung  der  Hamletsage  (Literarhistorische  Forschun- 
gen, hg.  v.  Schick  und  Waldberg,  XXXII.  Heft).  Berlin  und  Leipzig, 
Felber,  1905.    XX,  418  S.    Ladenpreis  M.  9.     Subskriptionspreis  M.  8. 

Voretzsch,  C.,  Einführung  in  das  Studium  der  altfranzösischen 
Literatur,  im  Anschlufs  an  die  Einführung  in  das  Studium  der  altfran- 
zösischen Sprache  (Sammlung  kurzer  Lehrbücher  der  romanischen  Spra- 
chen und  Literaturen,  II).  Halle,  M.  Niemeyer,  1905.  XVII,  573  S. 
M.  .0.  [Dieses  Werk,  auf  welches  das  Archiv  in  eingehenderem  Referat 
zurückkommen  wird,  ist  nun  freilich  kein  'kurzes  Lehrbuch'  mehr,  sondern 
eine  recht  eingehende  Darstellung  der  mittelalterlichen  Literatur  Frank- 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  479 

reichs.  Doch  war  es  wohl  nicht  anders  zu. machen,  wollte  der  Verfasser, 
was  er  in  seiner  Vorrede  verspricht:  'eine  Übersicht  über  die  historische 
Entstehung  und  Entwickelung  der  altfrauz.  Literatur  im  ganzen  und  ihrer 
Hauptgattungen  bieten,  die  wichtigsten  Werke  besprechen  oder  wenigstens 
hervorheben  und  von  allem  eine  möglichst  konkrete  Vorstellung 
geben.'  Da  das  Buch  pädagogischen  Zwecken  dienen  soll,  so  mufste 
diese  Aufgabe,  dem  Suchenden  konkrete,  scharfe  und  sichere  Vorstellungen 
zu  bieten,  die  nächstliegende  sein.  Sie  erscheint  mir  auch  in  hohem  Mafse 
erfüllt,  sowohl  durch  die  Gliederung  des  Ganzen  und  die  Ökonomie  der 
einzelnen  Paragraphen,  als  durch  die  Anschauung,  welche  die  Textproben 
(etwa  zwei.. Dutzend)  gewähren;  durch  die  kritische  Bibliographie  und 
durch  die  Übersichten,  die  von  den  Ursprungsfragen  handeln,  an  deren 
Aufhellung  Voretzsch  selbst  ja  hervorragend  tätig  ist  (Heldenepos,  Roman 
de  Renard).  Ein  Glossar  stellt  das  Buch  auch  in  seinen  Textproben  auf 
eigene  Füfse.  Voretzsch'  Einführung  wird  nicht  nur  dem  Studierenden 
des  Faches  während  und  nach  der  Universitätszeit  eine  sehr  nützliche 
Wegleitung  sein,  sondern  sicherlich  auch  'den  Angehörigen  der  Nachbar- 
facher  zur  Orientierung  über  dieses  oder  jenes  Gebiet  der  altfranzösischen 
Literatur  dienen'.] 

Lefranc,  A.,  Les  navigations  de  Pantagruel.  Etüde  sur  la  geo- 
graphie  rabelaisienne.  Paris,  Henri  Leclerc,  19u5.  333  S.  Mit  7  Tafeln. 
Fr.  12.  [Das  Buch  über  Pantagruels  Seefahrten,  das  wir  nach  den  Mit- 
teilungen der  Revue  des  Etudes  Rab.  von  Abel  Lefranc  erwarten  durften 
(cf.  Archiv  CXI V,  265),  liegt  vor:  ein  prachtvoll  ausgestatteter  Band,  des- 
sen reicher  Druck  und  schöne  Tafeln  das  Auge  in  gleicher  Weise  erfreuen. 
Mit  Spannung  folgt  der  Leser  diesem  Explorateur  Lefranc,  der  hier  die 
Reise  durch  unerforschte  Länder  zur  Divine  Bouteille  erneut  und  verjüngt 
und  der  unterwegs  von  Rabelais  und  seiner  Zeit  so  viel  Neues  zu  sagen 
weils.  —  Von  drei  Reisen  seines  Helden  weifs  R.  zu  berichten,  nachdem 
er  sie  erst  in  dem  heimatlichen  'benoist  pays  de  Touraine'  fest  verankert 
hat,  in  dessen  Topographie  erst  gegen  Ende  des  zweiten  Buches  durch  das 
Hereinspielen  des  Landes  Utopien  ein  phantastisches  Element  gebracht  wird. 
Die  drei  Reisen  sind  indessen  von  R.  sehr  ungleich  behandelt.  Die  erste 
—  la  route  ordinaire  des  Portugualoys  —  führt  von  Frankreich  ums  Kap 
der  guten  Hoffnung  nach  Utopien  (d.  h.  nach  Nordchina  =  Oberindien): 
sie  ist  mit  wenigen  Worten  erwähnt  (II,  cap.  24).  Die  zweite  ist  nur 
geplant:  sie  soll  über  den  atlantischen  Ozean,  zwischen  Nord-  und  Süd- 
amerika, die  man  sich  1532  noch  getrennt  dachte,  hindurch  nach  Indien 
führen  (II,  cap.  34).  Nachdem  dann  die  Fortschritte  der  Geographie  die 
Unmöglichkeit  dieser  Durchfahrt  gezeigt,  änderte  R.  154ö  mit  Buch  III 
den  Reiseplan  und  liefs  Pantagruel  auf  dem  Wege  der  nordwestlichen 
Durchfahrt  nach  'Oberindien'  gelangen:  diese  dritte  Reise  (Saint-Malo — 
Neufundland— Ostasien)  füllt  bekanntlich  die  beiden  letzten  Bücher.  Le- 
franc zeigt,  wie  R.  diese  Meerfahrt  mit  den  Personen  und  den  Tatsachen 
des  zeitgenössischen  nationalen  Seefahrertums  aufs  engste  verbunden  hat, 
wie  er  die  Reise  an  der  Hand  der  neuesten  Reisewerke  und  Karten  macht 
und  wie  er  sich  dabei  im  Geiste  von  Jacques  Cartier,  dem  Entdecker  Ka- 
nadas, und  von  Jean  Alfonse,  dem  Kosmographen,  begleiten  läfst.  Rabe- 
lais' Reiseschilderung  beruht,  trotz  aller  Phantastik,  auf  ernsten  Studien; 
der  ganze  Wissensdurst  der  Renaissance  erfüllt  und  trägt  sie,  der  Glaube 
an  die  Zukunft  der  Wissenschaft  spricht  aus  Lbr.  Das  zeigt  in  der  an- 
ziehendsten Weise  Lefranc,  dessen  feiner  Sinn  auch  in  dem  scheinbar  be- 
deutungslosen Detail  Beziehungen  erkennt  und  Leben  aufweist.  So  fesselt 
denn  seine  Darstellung  von  Anfang  bis  zu  Ende;  sie  fesselt  durch  all  die 
neuen  Lösungen  grofser  und  kleiner  Probleme  und  dadurch,  dafs  sie  selbst 
wieder  neue  Probleme  aufdeckt  und  neue  Wege  weist.  Zwölf  Appendices 
füllen  die  letzten  60  Seiten,  und  besonders  der  vorletzte  {Les  äements  reels 
dans  les  trois  premiers  livres  de  R.)  zeigt,  trotz  seiner  skizzenhaften  Form, 


480  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

in  welchem  Umfang  Lefrancs  unermüdliche  Forscherarbeit  unsere  Kennt- 
nis Rabelais'  und  seines  Werkes  zu  erneuern  im  Begriffe  steht.] 

Roth,  Dr.  Th.,  Der  Einflufs  von  Ariosts  Orlando  Furioso  auf  das 
französische  Theater  (Münchener  Beiträge  zur  roman.  u.  engl.  Philologie, 
hg.  v.  Breymann  u.  Schick.  XXXIV.  Heft).  Leipzig,  Reichert  (Nachti. 
Böhme),  1905.     XXII,  263  S.     M.  5,80. 

Schmid,  K.  F.,  John  Barclays  Argenis.  Eine  literarhistorische 
Untersuchung  (Literarhist.  Forschungen,  hg.  v.  Schick  und  Wal db erg. 
XXXI.  Heft).  Berlin  und  Leipzig,  E.  Felber,  1904.  IX,  183  S.  M.  4. 
[Dieser  erste  Teil  eines  neuen  Buches  über  Barclays  posthumen  Roman 
(1621)  trägt  den  Untertitel:  Ausgaben  der  A.,  ihrer  Fortsetzungen  und  Über- 
setzungen und  ist  wesentlich  Bibliographie  —  doch  eine  kritische  Biblio- 
graphie, deren  Angaben  über  ein  weitverstreutes  Material,  zudem  auf 
Autopsie  beruhen.  Der  Verfasser  unterrichtet  uns  über  charakteristische 
Verumständungen  bei  der  Entstehung  der  einzelnen  Drucke,  er  gibt  eine 
Würdigung  der  Treue  und  Kunst  der  Übersetzer  und  eine  Inhaltsangabe 
der  Fortsetzung,  die  Mouchemberg  (1025 — 20)  drucken  liefs  und  durch 
die  er  Barclays  Erfindungen  in  die  Phantastik  der  galanten  Romane  über- 
führte. Er  schliefst  mit  einer  Charakteristik  der  Arbeiten  seiner  Vor- 
gänger, d.  h.  derer,  die  der  Argenis  nicht  nur  gelegentliche  Bemerkungen, 
sondern  eine  ganze  Schrift  gewidmet  haben.] 

Finsler,  G.,  Die  Conjectures  aeademiques  des  Abbe  d'Aubignac  (S. 
A.  a.  d.  Neuen  Jahrbücliern  f.  d.  Mass.  Altertum,  ed.  ilborg  und  Gerth, 
I.  Abteilung.  XV,  7.  Heft.  S.  495— 5u9).  Leipzig,  Teubner,  1905  [Der 
Verf.  der  Pratique  du  Theätre  steht  in  der  Frage  des  Epos,  d.  h.  Homers, 
Aristoteles  freier  gegenüber  als  in  der  Dramaturgie.  Er  hatte  Tassoni 
gelesen,  als  er  um  lö64  seine  Conjectures  aeademiques  ou  dissertation  sur 
l  Iliade  schrieb.  Aber  zu  den  Modernes  im  Streit  um  Homer  darf  er  des- 
halb nicht  gerechnet  werden,  obwohl  ihn  Perrault  dafür  in  Anspruch 
nimmt.  D'Aubignac  hat  sich  eine  erfreuliche,  in  glückliche  und  würdige 
Worte  gefalste  Unabhängigkeit  des  Urteils  gewahrt:  er  zweifelt  an  der 
Existenz  des  einen  Homer  und  sucht  gegenüber  den  Verkleinerern  der 
Iüas  den  Nachweis  zu  führen,  dafs,  'was  in  einem  durch  einen  einzigen 
Dichter  planmäfsig  angelegten  Epos  unverständlich  und  unerträglich  wäre, 
bei  Annahme  verschiedener  Dichter  vollkommen  erklärlich  sei  und  dafs 
man  auf  diese  Weise  manches  als  wirkliche  Schönheit  geniefsen  könne, 
was  in  einem  langen  Epos  zum  Fehler  würde.'  Die  Uias  ist  nach  ihm 
ein  Korpus  von  anonymen  Einzelliedern,  die  -  wie  Piutarch  überliefert 
—  Lykurgos,  der  sie  in  Ionien  fand,  schriftlich  zusammenfügte  und  so 
nach  "Griechenland  brachte,  wo  sie  später  Peisistratos  aus  neuer  Zerstreu- 
ung endgültig  rettete.  Das  Korpus  wurde  'die  Rhapsodie  des  Bünden' 
(Homer  =  o  ur  ooeöv)  genannt  und  das  Wort  Homer  dann  als  Eigenname 
mii'sverstanden.  —  Diese  Schrift,  in  welcher  D'Aubignac  die  äufseren  und 
inneren  Gründe  für  seine  Liedertheorie  scharfsinnig  auseinandersetzt,  ist 
von  ihm  nicht  völlig  druckfertig  redigiert  worden.  Perrault  kannte  1088 
ihren  Gedankengang;  als  Buch  erschienen  die  Conjectures  aber  erst  1715, 
anonym.  F.  A.  Wolf  hat  sie  mit  so  ungerechter  Geringschätzung  behan- 
delt, dafs  der  Verdacht  entsteht,  'er  habe  den  unbequemen  Vorgänger  ab- 
schütteln wollen.'  So  ist  Wolfs  Theorie  vielleicht  von  Frankreich  aus 
angeregt  worden;  jedenfalls  stellt  Finslers  interessante  Darlegung  das 
vergessene  Werk  D'Aubignacs  nachdrücklich  an  die  Spitze  der  neueren 
Homerkritik.  —  Die  französischen  Komödien,  auf  welche  D'Aubignac 
nach  S.  499  anspielt,  sind  die  Comedie  de  chansons  1040  und  der  Orateur 
francais  1029.] 

Becker,  Ph.  A.,  Molieres  Subjektivismus.  H.  Schneegans  zur  Er- 
widerung (S.  A.  aus  Zeitschr.  f.  vergl.  Literaturgeschichte,  hg.  v.  Wetz  und 
Collin,  S.  193—221).  Berlin,  Felber,  1905.  [Vergl.  hier  CXIV,  266.  Ich 
sehe   das  Wesentliche   dieses   interessanten  Aufsatzes   in    der  Kritik    der 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  481 

anonymen  Fameuse  Comedienne  (1688)  und  Gritnarests  Vie  de  M.  de  Mo- 
liere (1705).  Scharfsinnig  deckt  Becker  einen  wirklich  frappanten  Paral- 
lelismus  der  beiden  Schriften  auf.  Er  erklärt  ihn  so,  dafs  hinter  beiden 
Schriften,  sowohl  hinter  den  Verleumdungen  jenes  Pamphlets  als  hinter 
der  Apologie  dieser  Biographie,  der  Schauspieler  Baron,  der  Feind  der 
MUe  de  Moliere,  stehe,  der  hier  und  dort  aus  verschiedenen  Stimmungen 
heraus  berichte.  Die  Hypothese  hat  etwas  sehr  Verführerisches;  doch 
zögere  ich,  ihr  ohne  eine  erneute  Lektüre  der  beiden  Quellen,  die  mir 
augenblicküch  nicht  möglich  ist,  zuzustimmen.  Jedenfalls  spricht  aus 
Grimarest  nicht  allein  Baron,  und  sicher  scheint  mir  Beckers  Schlufs- 
folgerung  übertrieben:  'so  verliert  natürlich  die  eine  Quelle  so  gut  wie 
die  andere  ihren  ganzen  Wert.'  Den  ganzen  Wert  sicherlich  nicht  —  doch 
wir  werden  Grimarest  nach  wie  vor  sehr  kritisch  benützen  müssen.  Ge- 
wifs  aber  reicht  seine  Glaubwürdigkeit  hin,  um  uns  zu  zeigen,  dafs  Hö- 
heres Ehe  unter  dem  Altersunterschied  der  Gatten  und  ihrer  incompati- 
bilite  d'humeurs  gelitten  hat  und  unglücklich  war.  —  Im  weiteren  sucht 
Becker  darzutun,  dafs  Moliere  nicht  sowohl  durch  persönliche  Erlebnisse,  als 
vielmehr  durch  seinen  intellektuellen  Habitus  und  seine  geistige  Entwicke- 
lung  zu  den  Thematen  der  Ecoles  und  des  Misanthrope  geführt  worden  sei. 
Gewiis  bringt  der  Verf.  viel  Beachtenswertes  vor  und  rückt  die  Zeitfragen, 
denen  Moliere  sich  gegenüber  sah,  in  helles  Licht;  doch  empfinde  ich  hier 
bei  der  temperamentvollen  Darstellung  Beckers  mehr  das,  was  mich  von 
ihm  trennt,  als  das,  was  mich  mit  ihm  verbindet.  Mich  verbindet  z.  B. 
mit  ihm  die  Ablehnung,  an  Armandes '  skandalöse  Lebensführung  zu 
glauben:  gewifs  sind  die  Spöttereien  über  Molieres  Hahnreischaft  (seit 
ltiü3,  vengeance  des  Marquis)  nur  schlechte  'Retourkutschen'  —  schlagend 
zeigt  dies  der  Umstand,  dafs  Scarron  schon  1660  —  also  pränumerando 
—  ä  Moliere  le  cocuage  vermacht!  Es  ist  Moliere  eben  ergangen,  wie  er 
selbst  es  durch  Chrysalde  dem  Arnolphe  prophezeien  liefs :  es  schallte  aus 
dem  Walde  zurück,  wie  er  hineingerufen.  Was  mich  von  Becker  scheidet, 
kann  ich  am  kürzesten  an  zwei  Punkten  zeigen.  1)  Ostern  1661  verlangt 
Moliere  als  Soci6taire  deux  parts  'für  sich  und  für  seine  Frau,  falls  er 
heirate.'  Innerhalb  des  Theaterjahres,  im  Februar  1662,  heiratet 
er  Armande.  Da  denke  ich  denn  doch,  dafs  Moliere  zu  Ostern  eben  an 
die  Heirat  dachte,  die  er  zehn  Monate  später  schlofs.  Becker  aber  hält 
es  für  'ungewifs,  ob  er  Ostern  1661  bereits  an  die  Ehe  mit  Armande 
dachte.'  Da  kann  ich  freilich  nicht  mehr  mit;  das  ist  für  mich  Hyper- 
kritik  und  nihil  probat  qui  nimium  probat.  2)  Molieres  Freunde  sagen 
(1G82):  il  s'y  est  joue  le  premier  en  plusieurs  endroits  sur  des  affaires 
de  sa  famille  et  qui  regardaient  ce  qui  se  passait  dans  son  do- 
mestique.  Becker  will  das  jenen  Freunden,  die  in  Molieres  Intimität 
gelebt  haben  (ses  plus  partieuliers  amis),  zugeben  'für  Szenen,  wie  die 
Entlassung  der  Martine  oder  die  Ausforschung  der  Louison'.  Also  die 
Entlassung  der  Martine  =  etwas  qui  passait  dans  son  domestique,  wie 
seine  intimsten  Freunde  haben  beobachten  können;  und  die  Ausforschung 
der  Louison  =  eine  affaire  de  sa  famille!  Doch  'auch  noch  für  wich- 
tigere Dinge'  will  es  B.  zugeben  —  er  sagt  aber  nicht  für  welche.  Und 
in  diesen  wichtigeren  Dingen,  die  hier  unter  den  Tisch  fallen,  und  nicht 
in  Martine  und  Louison,  mufs  die  raison  d'etre  jener  kapitalen  Bemerkung 
von  1682  hegen;  in  ihnen  liegt,  was  mich  von  Becker  trennt  —  oder  mit 


1  Ich  gehöre  übrigens  noch  zu  denen,  die  in  der  Menou  des  Jahres  1653 
Armande  erkennen  möchten ;  aber  auch  zu  denen,  die  Bernardins  Vermutung  über 
Armandes  Ursprung,  so  sinnreich  sie  ist,  nicht  beizustimmen  vermögen  (Bernardin, 
Hommes  et  mceurs  au  XVJ1'  siede,  1900).  Im  übrigen  rege  ich  mich  über  die 
Frage,  ob  Armande  die  Tochter  oder  die  Schwester  Madeleines  gewesen  sei,  nicht 
auf,  halte  aber  das  letztere  für  wahrscheinlicher. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    CXV.  31 


482  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

ihm  verbindet.  So  hat  mich  Becker  an  der  Auffassung,  der  ich  hier 
CXIII,  459  Ausdruck  gegeben  habe,  nicht  irre  zu  machen  vermocht,  und 
die  Konstruktion,  aus  der  er  z.  B.  p.  197  die  Ecole  des  maris  hervorgehen 
läfst,  erscheint  mir  viel  künstlicher  und  aprioristischer  als  die,  zu  der 
mich  die  Tatsachen  des  Lebens  drängen  —  des  Lebens  Molieres,  des  Le- 
bens überhaupt.  'Ein  Dichter,  der  mit  dem  Tod  im  Herzen  noch  den 
Malade  imaginaire  schafft,  besitzt  im  allerhöchsten  Mafse  die  Fähigkeit, 
sich  über  sich  selbst  zu  erheben',  schrieb  K.  Vofsler  hier  CVIII,  404. 
Dieselbe  Fähigkeit  hat  Moliere  bewiesen,  indem  er  als  vierzigjähriger 
Bräutigam  und  Gatte  einer  Zwanzigjährigen  die  humorvollen  Possenspiele 
vom  vierzigjährigen  Sganarelle  und  Arnolphe  schrieb,  die  beide  ihre  jun- 
gen Isabelle  und  Agnes  nicht  zu  bewahren  wissen.  Vom  'Ausdruck  be- 
klommener Angst-  und  Schmerzgefühle'  sehe  ich  allerdings  keine  Spur! 
Alles  ist  eitel  Lachen  und  Heiterkeit.  Keine  Sentimentalität,  kein  Pathos 
—  er  objektiviert  mit  kühler,  erfrischender  Gescheidtheit.  So  bleibe  ich 
denn  bei  meiner  Auffassung,  der  zufolge  z.  B.  auch  die  Femmes  savantes 
aus  persönlichem  Erlebnis  geboren  sind:  sie  sind  eine  persönliche  Satire, 
die  er  kunstvoll  in  eine  Sittenkomödie  hinein  verwoben  hat.  Das  Thema 
selbst  stammt  aus  1663.  —  Für  die  Entstehung  der  Themata  Molieres  ist 
überhaupt  dieses  Jahr  1663  bedeutsam.  Dieses  stürmische  Jahr  ist  ein 
Brennpunkt  seiner  Entwickelung.  Die  Erfahrungen  dieses  Jahres  sugge- 
rieren ihm  die  Idee  einer  'Schauspielerkomödie',  die  er  indessen  —  im 
Impromptu  —  nur  skizziert,  einer  Autorenkomödie  (Femmes  savantes),  einer 
Komödie  der  Kirchlichkeit  (Tartuffe)  und  einer  Komödie  der  gesellschaft- 
lichen Heuchelei  (Misanthrope).  Doch  davon  im  Zusammenhang  ein 
andermal.] 

Roques,  M.,  La  composition  de  la  fable  de  Lafontaine  'Le  vieillard 
et  les  trois  jeunes  hommes'  (S.  A.  aus  Revue  d'hist.  litt.  XII).  Paris  1905. 
6  S.  [R.  macht  wahrscheinlich,  dafs  die  Todesbetrachtungen  dieser  Fabel 
aus  Senecas  Briefen  an  Lucilius  stammen.] 

Baldensperger,  F.,  Les  aspects  successifs  de  Schiller  dans  le  ro- 
mantisme  francais  (S.  A.  aus  Euphorion,  hg.  v.  A.  Sauer,  XII,  681 — 9). 
Leipzig  und  Wien,  C.  Fromme,  1905.  —  Schiller  et  Camille  Jordan  (S.-A. 
aus  d.  Revue  germanique  I,  555 — 68).  Paris,  Alcan,  Sept.  1905.  —  Paul 
de  Krüdener  en  Lorraine  et  en  Alsace  (1812 — 13)  d'apres  des  documents 
inödits  (S.  A.  aus  d.  Bulletin  de  la  Soeiete  philomatique  Vosgienne).  St-Di6, 
0.  Cuny,  1905.    28  S. 

Burkhardt,  Dr.  C.  A.  H.,  Goethes  Unterhaltungen  mit  Friedrich 
Soret.  Nach  dem  französischen  Texte  als  eine  bedeutend  vermehrte  und 
verbesserte  Ausgabe  des  dritten  Teils  der  Eckermannschen  Gespräche  her- 
ausgeg.  Weimar,  H.  Böhlaus  Nachf.,  1905.  XVII,  158  S.  M.  4.  [Ecker- 
mann ist  Soret  gegenüber,  der  ihm  um  18o9  seine  Conversations  de  Goethe 
zur  Verfügung  gestellt  hatte  (73  Nummern),  nicht  dankbar  verfahren:  er 
hat  ihn  weder  genau  benutzt,  noch  gerecht  gewürdigt.  Da  im  grofsherz. 
Hausarchiv  zu  Weimar  ohnedies  ein  Exemplar  der  Conversations  vorhanden 
ist,  das  noch  gegen  100  Ergänzungen  zu  jenen  73  Nummern  bietet,  so  ist 
ein  vollständiger  Abdruck  dieser  Conversations  hochwillkommen.  Der 
Ausgabe  des  franz.  Textes  wird  hier  eine  deutsche  Übersetzung  voraus- 
geschickt, in  welcher  alles  Neue  sorgsam  kenntlich  gemacht  ist.  Eine 
biographische  Notiz  über  den  Genfer  F.-J.  Soret  leitet  die  'Unterhaltungen' 
ein;  ein  ausführliches  Register  schliefst  sie.] 

Roques,  M.,  Manuscrit  et  eMitions  du  (Pere  Ooriot'.  20  S.  ohne  Ort 
noch  Datum.  [Nur  die  ersten  hundert  Seiten  des  Balzacschen  Romans, 
die  für  1905  auf  dem  Programm  der  agregation  de  grammaire  stehen,  bil- 
den den  Gegenstand  dieser  Broschüre.  Roques  gibt  unter  Zugrundelegung 
des  Textes  der  Nouv.  Coli.  Michel  Levy  (zu  1  franc)  die  Varia  leetio  des 
Originalmanuskripts,  des  ersten  Druckes  in  der  Revue  de  Paris  (1834), 
zweier  Buchausgaben  —  Werdet  —  von  1833,  der  Edition  Charpentier  von 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  483 

1839  und  der  Edition  Furne  von  1843,  von  der  ein  Exemplar  Balzacs  letzte 
handschr.  Verbesserungen  enthält.  Balzac  hat  im  Laufe  der  zehn  Jahre 
viel  geändert;  doch  konstatiert  R.,  dafs  diese  Änderungen  eilig,  oberfläch- 
lich und  wenig  von  künstlerischen  Erwägungen  getragen  sind,  so  dafs  die 
oft  kleinliche  Verbesserungsarbeit  dem  Werke  fast  keinen  Vorteil  gebracht 
hat.  Am  .meisten  Interesse  erweckt  eine  Namensänderung,  d.  h.  die  nach- 
trägliche Überführung  einer  neuen  Figur  (Massiac)  in  eine  alte  (Rastignac), 
durch  welche  Änderung  hindurch  R.  scharfsinnig  den  ursprünglich  ein- 
heitlicheren Plan  des  Pere  Goriot  erkennen  will.] 

Grojean,  O.,  Sainte-Beuve  ä  Liege.  Lettres  et  documents  inödits. 
Bruxelles,  Misch  et  Thron;  Paris,  Fontemoing,  1905.  66  S.  [Ste-B.  ist 
zweimal,  im  Mai  1831  und  im  Sept.  1848,  zum  Professor  der  franz.  Lite- 
ratur an  der  Universität  zu  Lüttich  ernannt  worden.  Das  erste  Mal  trat 
er  sein  Amt  gar  nicht  an :  die  Wechselfälle  seiner  Liebe  zu  Frau  Hugo 
hinderten  ihn,  Paris  zu  verlassen.  Die  näheren  Umstände  klärt  Grojean 
mit  zum  Teil  unediertem  Material  auf,  und  in  ebenso  interessanter  Weise 
verbreitet  er  Licht  üher  das  Jahr,  das  Ste-B.  1848  im  Gefolge  der  Juli- 
revolution zu  Lüttich  verbrachte.  Ste-B.  war  unglücklich;  die  Presse 
empfing  ihn  als  einen  etranger  sans  titres  serieux,  der  kein  Examen  ge- 
macht und  dessen  Moralität  anfechtbar  sei;  er  lebte  einsam  und  verdrossen, 
seine  Briefe  aus  der  Zeit  sind  ein  langes  Klagelied  —  wie  schön  war's  in 
Lausanne!  Am  Schlufs  des  Sommersemesters  nahm  er  seine  Entlassung 
und  verliefs  das  ungastliche  Belgien,  wo  sein  Chateaubriand  et  son  groupe 
litteraire  enstanden  .war.] 

Wiske,  Fr.,  Über  Georges  Gourdons  Gedichtsammlung  'Chansons 
de  Geste'  und  ihre  Quellen.  (Berliner  Dissert.)  Erlangen,  Fr.  Junge  [1905]. 
155  S. 

Tob ler,  A.,  Vermischte  Beiträge  zur  französischen  Grammatik.  Ber- 
lin 1905,  17  S.  [Sitzungsber.  der  kgl.  preufs.  Akademie  der  Wissenschaften, 
phil.-histor.  Klasse  824—40.  Umfafst  die  Beiträge  8—11;  cf.  Archiv  CXIV, 
482.  8)  Die  Verneinung  in  der  rhetorischen  Frage.  Die  Wendung  que  ne 
me  reste-t-il  (point)  ä  faire!  ist  eine  rhetorische  Frage,  die  den  Gedanken: 
'alles  bleibt  mir  noch  zu  tun  übrig'  umschreibt,  gleichwie  'wer  weifs  das 
nicht?'  den  Sinn  von  'jeder  weifs  das'  hat.  Der  nämliche  Gedanke  kann 
auch  positiv  ausgedrückt  werden.  In  diesem  Fall  verwendet  aber  die  heu- 
tige Sprache  die  Form  der  indirekten  Frage:  ce  qu'il  me  reste  ä  faire!  als  ob 
etwa  ein  je  vous  demande  un  peu  . . .  den  Ausdruck  des  Gedankens  leitete.  — 
9)  'n'etait  ...,  tvenn  ...  nicht  wäre'.  Die  Verwendung  des  Indikativs  in 
Bedingungsnebensätzen  wie:  N'etait  lanegligence  du  style,  Vouvrage  serait 
fort  hon  ist  eine  Folge  des  Eintretens  dieses  Modus  im  irrealen  Bedin- 
gungssatz überhaupt  (nach  si)  und  somit  dem  Altfranzösischen  fremd, 
das  dafür  ne  fust  sagt,  Wie  aber  für  die  Vergangenheit  neben  s'ü  avait 
ete  noch  heute  altes  s'ü  eüt  ete  gebräuchlich  ist,  so  findet  sich  auch  noch 
n'eüt  ete  neben  n'etait  (n'eüt  ete  le  souci  qui  pesait  lourdement  sur  son 
present,  il  se  füt  estime  heureux,  S.  7).  Das  herrschende  n'etait  ist  übrigens 
geradezu  zeitlos  geworden  und  verbindet  sich  mit  einem  präsentischen, 
imperfektischen  oder  plusquamperfektischen  Hauptsatz  (n'etaient  ces  raiso?i, 
il  merite  notre  respect,  —  il  meriterait  notre  respect,  —  il  aurait  merite 
notre  respect).  —  10)  Das  Ausbleiben  des  unbestimmten  und  des  'Teilungs'- 
Artikels  wird  durch  zahlreiche  Beispiele  aus  der  lebenden  Sprache  belegt 
und  als  eine  archaische  Erscheinung  geschichtlich  erörtert.  —  11)  La  pre- 
miere  vue  l'un  de  l'autre.  Der  Abschnitt  handelt  von  der  Konstruktion 
des  franz.  l'un  . . .  l'autre  ('einander',  'gegenseitig').  Er  zeigt,  wie  bereits 
in  der  Verbindung  dieses  l'un  . . .  l'autre  mit  dem  Verbum  eine  gewisse 
Freiheit  der  Beziehung  Platz  greift  (nous  devons  parier  des  ourrages  les 
uns  des  autres  avec  beaucoup  de  circonspection,  S.  15)  und  die  Sprache 
dann  zu  ganz  attributiver  Verwendung  des  Nexus  fortschreitet:  'die 
gegenseitige  Liebe  der  Bürger'  =  Vaniour  des  citoyens  les  uns  pour  les 

Sl* 


484  Verzeichnis  der  eingelaufenen  "Druckschriften. 

iiittrrs:  'das  wechselseitige  Übergreifen  der  Gedanken'  =  les  empitte- 
ments  des  pensees  les  unes  sur  les  autres ;  'das  gegenseitige  erste  Er- 
blicken' =  la  premiere  vue  l'un  de  l'autre  etc.,  wobei  ganz  wie  bei  der  ver- 
balen Rektion  (elles  empietent  les  unes  sur  les  autres)  hier  die  nominale 
(amour  pour;  empietement  sur,  vue  de)  am  zweiten  Komponenten  des 
Nexus  bezeichnet  wird.  Ja  auch  aufserhalb  des  Reziprozitätsverhältnisses : 
la  perle  de  ses  possessionis  les  unes  apres  les  autres  =  'der  sukzessive 
Verlust  seiner  Besitzungen'.  —  Der  Verf.  weifs,  wie  begierig  alle  nach 
diesen  seinen  Gaben  greifen,  und  wie  dankbar  wir  für  diese  aus  dem  Vol- 
len geschöpften  Aufklärungen  und  Anregungen  sind.] 

Gilli6ron,  J.,  et  Mongin,  J.,  Etüde  de  geographie  linguistique. 
Seier  dans  la  Gaule  romane  du  sud  et  de  l'est.  [Mit  5  farbigen  Karten.] 
Paris,  Champion,  1905.     30  S.  4°.     5  fr. 

Pünjer,  J.,  Lehr-  und  Lernbuch  der  französichen  Sprache.  Zwei 
Teile.  I.  Teil.  7.  Auflage.  Hannover  u.  Berlin,  Meyer  (Prior),  1905. 
V,  170  S.    Geb.  M.  2. 

Boerner  u.  Werr,  Lehrbuch  der  französischen  Sprache.  Insbeson- 
dere für  bayr.  Real-  und  Handelsschulen.  III.  Teil  (Oberstufe).  Mit  einem 
Hölzelschen  Vollbild :  'La  Ville'  und  8  Ansichten  von  Paris,  sowie  2  Bei- 
büchern: Hauptresreln  und  Wörterbuch  in  Taschen.  Leipzig  u.  Berlin, 
Teubner,  1905.    VIII,  172  S. 

Boerner-Stefan,  Lehr-  und  Lesebuch  der  französischen  Sprache. 
Für  österreichische  Realschulen  und  verwandte  Lehranstalten.  Wien, 
K.  Graeser  u.  Co.,  1904—5.  I.  Teil,  128  S.  Geb.  1  K.  80  h.;  IL  Teil, 
mit  drei  Vollbildern  und  einer  Münztafel,  195  S.     Geb.  2  K...80  h. 

Ploetz-Kares,  Kurzer  Lehrgang  der  franz.  Sprache.  Übungsbuch, 
verf.  von  Dr.  G.  Ploetz.  Ausgabe  F.  Neue  Ausgabe  f.  Realgymnasien. 
Berlin,  F.  A.  Herbig,  1906.    VIII,  323  S.    Ungeb.  M.  2.50. 

Weitzenböck,  G.,  Lehrbucb  der  französischen  Sprache.  IL  Teil. 
B.  Sprachlehre.  Fünfte  durchges.  Auflage.  Leipzig,  Freytag,  1906.  89  S. 
Geb.  M.  1.50. 

Haupt,  O.,  Neue  franz.  Handelskorrespondenz  mit  grammat.  und 
Stilist.  Erläuterungen,  zum  Gebrauche  an  Handelsschulen,  kaufm.  und  ge- 
werbl.  Fortbildungsschulen ,  sowie  für  den  geschäftlichen  Verkehr  und 
zum  Selbstunterricht.    Stuttgart,  P.  Neff,  1905.    XV,  283  S.    Geb.  M.  3. 

Bechtle-Morgenthaler,  Französische  Sprachschule,  Mittel-  und 
Oberstufe.     Stuttgart,  Bonz  u.  Co.,  1905.    XII,  3t>8  S. 

Böddeker,  K.,  Das  Verbum  im  französischen  Unterricht.  Ein 
Hilfsbuch,  neben  jeder  Grammatik  zu  gebrauchen.  Leipzig,  Rengersche 
Buchhandlung,  1905.     X,  38  S. 

Böddeker,  K.,  Die  wichtigsten  Erscheinungen  der  französischen 
Grammatik.  Ein  Lehrbuch  für  die  Oberklassen  höherer  Lehranstalten. 
Mit  Beispielen  und  Belegstellen,  zum  gröfsten  Teil  neueren  Autoren  ent- 
nommen. Zweite  Auflage.  Leiüzig,  Rengersche  Buchhandlung,  1905. 
XIV,  176  S. 

Stier,  G.,  Übungsbuch  zum  Übersetzen  aus  dem  Deutschen  ins 
Französische.     Cöthen,  Schulze,  1905.    216  S.    Geb.  M.  2.10. 

Bally,  Ch.,  Prelis  de  stylistique.  Esquisse  d'une  methode  fond^e 
sur  l'6tude  du  francais  moderne.  Geneve,  Eggimann  [1905].  183  S. 
[Das  Buch  ist  aus  den  Erfahrungen  hervorgegangen,  die  der  Verf.  in  den 
Übungen  des  Genfer  Seminaire  de  francais  moderne  und  der  Ferienkurse 
gemacht  hat.  Es  skizziert  eine  Methode,  die  Ausdrucksformen  der  fran- 
zösischen Sprache  zu  studieren,  und  illustriert  sie  an  einer  reichen  Samm- 
lung eindrucksvoller  Beispiele  und  mit  feinen  Bemerkungen.  Man  mag 
gegen  einzelne  Ausführungen,  besonders  vom  linguistischen  Standpunkt 
aus,  seine  Vorbehalte  machen  und  doch  finden,  dafs  dem  Studenten  und 
dem  Lehrer  der  franz.  Sprache  in  diesem  Buche  ein  guter  und  anregender 
Führer  geboten  wird.] 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  485 

Mohrbutter,  Dr.  A.,  Hilfsbuch  für  den  französischen  Aufsatz. 
Leipzig,  Rengersche  Buchhandlung,  1905.  VIII,  152  S.  Brosch.  'M.  2. 
Geb.  mit  Schreibpapier  durchschossen  M.  2.80. 


Lambert,  L.,  Chants  et  Chansons  populaires  du  Languedoc,  re- 
cueillis  et  publica  avec  la  musique  notee  et  la  traduction  francaise.  2  voll. 
Paris  u.  Leipzig,  Welter,  1906.  VIII,  385;  345  S.  [Vor  nunmehr  dreiisiu 
Jahren  erschien,  zunächst  in  der  Revue  des  langues  romanes  und  einige 
Zeit  darauf  in  besonderem  Bande,  der  erste  Teil  einer  grofs  angelegten 
Sammlung  von  Volksliedern  Südfrankreichs  (Chants  pop.  du  Languedoc, 
Paris,  Maisonneuve,  1880).  Die  600  Seiten  dieses  Bandes  waren  aus- 
schliefslich  Wiegenliedern  gewidmet,  denen  die  beiden  Autoren  A.  Montel 
und  L.  Lambert  einen  ausführlichen  sachlichen  und  philologischen  Kom- 
mentar beigegeben  hatten.  Dieser  erste  Band  liels  eine  Liedersammlung 
erwarten,  wie  sie  wohl  kein  anderes  Land  aufzuweisen  hatte:  mit  dieser 
Fülle  von  Material  sollte  der  ganze  Lebensgang  des  Menschen  'von  der 
Wiege  bis  zum  Grabe'  im  Liede  dargestellt  werden:  Kinderspiel  und  -tanz; 
Liebe.  Ehe,  Beruf  etc.  Da  starb  Montel,  und  der  Überlebende  fand  den 
Mut  nicht,  das  so  grofs  angelegte  Werk  fortzusetzen.  Er  sammelte  weiter, 
um  vor  dem  Untergang  zu  retten,  was  zu  retten  war,  aber  er  liefs  keinen 
zweiten  Band  folgen.  Jetzt  hat  das  Zureden  der  Freunde  und  Sprach- 
genossen ihn  zu  aller  Freude  bewogen,  seine  Schätze  doch  herauszugeben. 
Und  so  läfst  er  denn  hier  zunächst  einen  Nachtrag  zu  den  Wiegenliedern 
und  dann  Hunderte  von  Kinderreimen  folgen,  an  welche  die  Bondes,  die 
Danses  rustiques,  Frühlings-  und  Liebeslieder  (hier  II,  150  ff.,  das  Vorbild 
zu  Mistrals  Magali)  und  die  Ehelieder  sich  anschliefsen.  Im  ganzen  sind 
es  wohl  tausend  Nummern,  und  ein  weiteres  halbes  Tausend  dürfen  wir 
von  dem  unermüdlichen  Sammler  noch  erwarten  (S.  III).  Dafs  er  diesmal 
die  Lieder  ohne  jenen  Kommentar  gibt,  der  die  Sammlung  von  1880 
schmückte,  wird  man  bedauern.  Aber  wie  dankbar  müssen  wir  trotzdem 
für  diese  Gabe  sein,  die  uns  Wort  und  Weise  des  Volksliedes  des  Lan- 
guedoc in  so  reicher  Fülle  und  mit  so  mancher  wertvollen  Orientierung 
bietet.  Sachkenntnis  und  Liebe  zur  liederreichen  südfranzösischen  Heimat 
haben  sich  hier  verbunden,  um  jahrzehntelanges  Bemühen  zu  reichem  Er- 
trag zu  führen.] 

Thomas,  A.,  Le  nominatif  pluriel  asymetrique  des  substantifs  mas- 
culins  en  ancien  provengal.  (S.-A.  aus  Romania  XXXIV.)  Paris,  Bouillon, 
1905.  13  S.  [Es  handelt  sich  um  die  Deklination:  Sing.  nom.  donxels 
acc.  donxel;  Plur.  nom.  donxelh  acc.  donxels,  d.  h.  um  die  Spur  des 
latein.  -*  in  der  Pluralform  des  Substantivs.  Thomas  stellt  die  Bei- 
spiele zusammen,  die  sich  im  Altprov.  für  diese  Palatalisierungserscheinung 
der  Substantivdeklination  finden,  und  die,  so  sporadisch  sie  auftreten,  doch 
viel  zahlreicher  sind,  als  man  bisher  annahm.  Er  erwähnt  im  Vorüber- 
gehen natürlich  auch  die  analoge  Erscheinung  in  der  Flexion  des  Pro- 
nomens und  Adiektivs  (Partizip)  und  schliefst  mit  Recht  mit  dem  Hin- 
weis, dafs  das  Phänomen  dieses  flexivischen  Umlauts  —  Umlaut  des 
Vokals  oder  des  Konsonanten  oder  beider,  oder  auch  Erhaltung  des  -i  — 
im  Zusammenhang  der  galloromanischen  Idiome,  ja  am  besten  auf  dem 
ganzen  roman.  Sprachgebiet  untersucht  werden  müsse.  —  Soweit  man 
die  Erscheinung  bis  jetzt  übersehen  kann,  ist  die  Erhaltung  einer  beson- 
deren, auf  -*- Wirkung  beruhenden  Nominativform  des  Plurals  im  Altprov. 
dreifach  konditioniert:  1.  Ist  sie  gebunden  an  überhäufige  pronomi- 
nale Formen  wie  eil,  tuig,  die  der  analogischen  Ausgleichung  infolge  ihrer 
Überhäufigkeit  widerstanden  haben ;  2.  erscheint  sie  als  ein  Produkt'des 
prädikativen  Verhältnisses  tque  siatz  visti  d'els,  Romania,  XVIII,  425; 
Reime  des  11.  rr.  XLII,  267),  wie  im  rätischen  'Prädikatskasus'  {Arch.  glott. 
VII,  426  ff.);  3.  ist  sie  eine  Eigentümlichkeit  von  Substantiven,  die 


1?  <  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

lobende  Wesen ,  besonders  Personen,  bezeichnen,  und  gibt  sich 
damit  als  eine  Vokativform  zu  erkennen:  enfanh!  toxeh!  domclh !  Der 
Vokativ,  der  auch  im  Singular  'asymetrische'  Nominativformen  hat  er- 
halten helfen  (enfas!),  hat  im  Plural  eine  ähnliche  Wirkung  ausgeübt: 
enfanh!  Während  die  unter  1.  genannten  Fälle  in  allen  Dialekten  ziem- 
lich gleichmäßig  vertreten  sind,  haben  die  Fälle  unter  2.  und  S.  sehr  wech- 
selvolle Schicksale  gehabt.  Sie  sind  einerseits  von  analogischer  Ausglei- 
chung gefährdet.  Anderseits  ist  es  ihnen  aber  auch  nicht  selten  gelungen, 
sich  auszudehnen :  2.  ist  über  den  'Prädikatskasus'  hinaus  ins  attributive 
Verhältnis  eingedrungen ;  3.  hat  sich  auch  auf  Substantiva  ansgedehnt, 
die  unbelebte  Wesen  bezeichnen.] 


Giornale  storico  della  lett.  italiana,  dir.  e  red.  da  F.  Novati  e 
R.  Remier.  Fase.  136—7.  [Ilda  Morosini,  Lettres  in  6dit.es  de  Mme  de 
Stael  ä  V.  Monti  (1804 — 16).  —  R.  Sabbadini,  Briciole  umanistiche.  — 
Varietä:  G.  Lega,  Una  ballata  politica  del  sec  XIII.  —  G.  Traversari, 
Per  l'autenticitä  dell'  epistola  del  Boccaccio  a  Fr.  Nelli.  —  G.  Malagoli, 
Per  un  verso  dell'  Ariosto  e  per  una  particolare  forma  sintattica  italiana. 
—  P.  Toldo,  Uno  scenario  inedito  della  Commedia  dell' arte.  —  Rassegna 
bibliografica.  —  Bolletino  bibliografico.  —  Annunzi  analitici.  —  Publica- 
zioni  nuziali.  —  Communicazioni  ed  apunti.  —  Cronaca]. 

Bulletin  italien.  V  (1905)  3  [A.  Jennroy,  Quelques  reilexions  sur  le 
'Quattrocento'.  —  P.  Duhem,  Leonard  de  Vinci  et  Villalpand.  —  Ch. 
Dejob,  Les  descriptions  de  batailles  dans  l"Orlando  furioso'  et  dans  la 
'Gerusalemme  liberata'.  —  P.  Toldo,  Les  morts  qui  mangent.  —  Biblio- 
graphie]. 

Pasini,  F.,  Un'amicizia  giovenile  di  Niccolö  Tommaseo.  54  S. 
[S.  A.  aus  d.  Archeografo  triestino,  serie  III.  vol.  II].    Trieste,  1905. 

Anzalone,  E.,  Su  la  poesia  satirica  in  Francia  e  in  Italia  nel  secolo 
XVI.  Appunti.     Catania,  G.  Musumeci,  1905.  189  S. 

Flamini,  Fr.,  Varia,  pagine  di  critica  e  d'arte.  Livorno,  R.  Giusti, 
1905.  X,  350  S.  3  Lire.  [Fr.  Flamini,  dem  wir  so  viele  und  so  schöne 
Arbeiten  zur  italienischen  und  zur  vergleichenden  Literaturgeschichte  (be- 
sonders über  die  Zeit  des  Rinascimento)  verdanken,  stellt  hier  fünfzehn 
Reden  und  Aufsätze  zusammen,  die  von  Dante  bis  zur  Gegenwart  führen. 
Sie  sind  für  ein  weiteres  Publikum  berechnet,  doch  liegt  ihnen  gewissen- 
hafteste fachmännische  Forschung  zugrunde.  Sie  geben,  ohne  gelehrten 
Apparat  sichtbar  zur  Schau  zu  tragen,  aber  auch  ohne  Wortschwall,  eine 
Synthese,  die  auch  den  Fachmann  selbst  zu  fesseln  und  zu  belehren  ver- 
mag. Solche  gute  und  populärwissenschaftliche  Arbeiten  werden  in  Italien 
zurzeit  noch  weniger  gepflegt  als  bei  uns  oder  in  Frankreich.  Flamini 
gibt  mit  diesen  gesammelten  Varia  ein  sehr  gutes  Beispiel  ernster  und 
zugleich  künstlerischer  Darstellung,  und  sein  Buch  wird  sich  auch  bei 
uns  Freunde  erwerben  und  besonders  auch  denen  willkommen  sein,  die 
gute,  bildende  italienische  Lektüre  suchen.  Für  den  Zweck  von  Universi- 
tätsübungen ist  es  wie  geschaffen.  Die  einzelnen  Titel  lauten :  Dante  e  il 
'dolee  stile'  —  11  trionfo  di  Beatrice  —  I  significati  e  il  fine  del  'poema 
sacro'  —  Nel  cielo  di  Vettere  —  La  gloria  del  Petrarca  —  Poesia  di  popolo 
del  buon  tempo  antico  —  Un  virtuoso  del  Quattrocento  (Serafino)  —  Le 
lettere  italiane  in  Francia  nei  seeoli  del  Rinascimento  —  Oiac.  Leopardi 
poeta  —  Commemorando  Nie.  Tommaseo  —  L'opera  di  Oius.  Verdi  — 
Art.  Graf  e  i  Suoi  'Poemetti  drammatici'  —  Pel  re  buono  —  In  me- 
moria d'un  filologo  (F.  Qnesotto)  —  L' insegnamento  scientifico  della  lette- 
ratura  naxionale.  Schöner  romanischer  Inhalt  in  schöner  romanischer 
Form.] 

Heim,  S.,  Kleines  Lehrbuch  der  italienischen  Sprache.  A.  Auflage. 
Zürich,  Schulthess  u.  Co.,  1905.    VIII,  185  S.    M.  1.80. 


Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften.  487 

Methode  Toussaint-Langenscheidt.  Brieflicher  Sprach-  und 
Sprechunterricht  für  das  Selbststudium  der  italienischen  fcprache  von 
Dr.  H.  Sabersky,  unter  Mitwirkung  von  Prof.  G.  Sacerdote.  Berlin, 
Langeuscheidt.     Brief  31 — 35  zu  M.  1. 

Bartoli,  M.  G.,  Un  po  di  Sardo  [S.  A.  aus  d.  Archeografo  Triestino, 
serie  III,  vol.  1.  S.  129—156].  Trieste,  Stabiliinento  G.  Caprin,  1903. 
[Ist  eine  Besprechung  von  G.  Subaks  Bricciche  linguisticlie  1903,  der  dann 
darauf  in  seinen  Notereile  erwidert  hat,  cf.  Archiv  CXV,  270.  Bartoli  läfst 
es  sich  angelegen  sein,  das  Sardische  auch  in  seiner  interromauiscben 
Stellung  allgemein  zu  charakterisieren:  er  stellt  seine  lautlichen,  morpho- 
logischen und  syntaktischen  Sonderzüge  zusammen,  weist  ihm  zwischen 
Ost-  und  Westromania  die  mittlere  Stellung  an  und  scheidet  das  Gallu- 
resische  (mit  dem  Korsischen)  vom  eigentlichen  Sardo  della  Sardegna 
(Logudor.  und  Campidan.j.  Der  gröfsere  Teil  der  interessanten  Arbeit  gilt 
einzelnen  Problemen  der  sardischen  Lauteutwickelung.] 

Vidossich,  G.,  Etimologie  triestine  e  istriane  —  Rassegna  degli 
studi  etnografici,  dialettali  e  toponomastici  1902  —  giugno  1905  [S.  A.  aus 
d.  Areheogr.  Triestino,  serie  III,  vol.  II.  S.  143 — 46,  149 — 64].  Trieste, 
1905.  [Der  erate  Aufsatz  bietet  ein  Dutzend  Etymologien;  der  zweite  gibt 
eine  sehr  lehrreiche  kritische  Übersicht  über  die  neueste  Literatur,  die  die 
interessante  rätisch-venedisch-dalmatisch-rumänische  Sprachecke  behandelt. 


Bulletin  hispanique  VII  (1905)  3  [C.  Jullian,  Questions  ibenques  III. 
Oyarzun.  —  A.  Morel-Fatio,  Vida  de  D.  Luis  de  Requesens  y  Züniga 
(suitej.  —  E.  Pineyro,  Jose"  Joaquin  de  Oimedo.  —  F.  Sauvaire-Jourdan, 
La  crise  du  change  en  Espagne.  —  Varietes:  G.  Daumet,  Semonce  du 
pape  Benoit  XII  ä  Pierre  IV  d' Aragon.  —  C.  Pitoliet,  'La  Bodega'  de 
V.  Blasco  Ibanez.  —  Bibliographie.  —  Revues.  —  Chronique].  VII,  4 
[P.  Paris,  Ornement  de  miroir  en  bronze  au  Musöe  archeologique  de  Ma- 
drid. —  H  de  la  Ville  de  Mirmont,  Ciceron  et  les  Espagnols.  —  A.  Morel- 
Fatio,  La  duchesse  d'Albe,  Da  Maria  Enriquez  et  Catherine  de  M6dici. 
—  S.  Griswold  Morley,  The  use  of  the  verse-forms  (strophes)  by  Tirso  de 
Molina.  Der  Autor  untersucht  das  numerische  Verhältnis  der  redondillas, 
quintillas,  deeimas,  romances  etc.  in  den  Tir&oschen  Dramen,  um  Material 
zur  Lösung  des  Problems  der  Autorschatt  des  Burlador  und  des  Conde- 
nado  zu  gewinnen.  In  bezug  auf  den  Burlador  gelingt  ihm  das  nicht, 
doch  führt  er  einen  anderen  gewichtigen  Grund  (Behandlung  der  Bauern- 
szenen) gegen  diese  Autorschaft  ins  Feld.  Der  Strophen  bau  des  Condenado 
por  deseotifiado  weist  eine  Strophentechnik  auf,  die  Tirso  fremd  war.  — 
Varietes:  G.  Cirot,  Les  portraits  de  Juan  de  Mariana.  —  H.  Merim£e, 
Sur  la  biograpnie  du  chanoine  Francisco  de  Tärrega.  —  Bibliographie.  — 
Chroniques.  —  Tables.  —  4  Planches]. 

Walberg,  E.,  Juan  de  la  Cueva  et  son  Exemplar  poetico  [Lunds 
Universitets  Arsskrift,  Band  39.  Afdeln  1  N°  2].  Lund,  Imprimerie  Hakan 
Ohlsson.  117  S.  h°.  3:75.  [Die  Ars  poetica  des  alten  Sevillaner  Drama- 
tikers (1606),  dieses  Seitenstück  zu  Lopes  Arte  nueva  (cf.  Archiv  CIX,  458), 
ist  bisher  sehr  schwer  zugänglich  gewesen.  Huudertdreifsig  Jahre  sind 
verflossen,  seit  Sedano  sie  in  seinem  Parnaso  Espahol  zum  erstenmal  ge- 
druckt. Walberg  bietet  uns  also  eine  sehr  willkommene  Gabe,  indem  er 
das  geschichtlich  recht  wichtige  Stück  (1300  Verse)  nach  jenem  Manu- 
skript wiedergibt,  welches  die  Colombina  aufbewahrt  und  das  das  Hand- 
exemplar des  Autors  gewesen  zu  sein  scheint  Die  Varianten  zweier  an- 
derer von  Cueva  selbst  gefertigter  Kopien  werden  beigefügt.  Doppelt  will- 
kommen wird  Walbergs  sorgfältiger  Neudruck  durch  Einleitung  und 
Noten:  Cuevas  Stellung  in  der  dramatischen  Literatur,  Tendenz,  Quellen 
und  Sprache  seiner  Poetik  werden  erörtert  und  in  den  Anmerkungen  ein 
fortlaufender  Kommentar  gegeben.] 


488  Verzeichnis  der  eingelaufenen  Druckschriften. 

Der  sinnreiche  Junker  Don  Quijote  von  der  Mancha  von  Miguel  de 
<  ■  iv:iht(\s  Saavedra.  Übersetzt,  eingeleitet  und  mit  Erläuterungen 
versehen  von  Ludwig  Braunfels.  Neue  revidierte  Jubiläumsausgabe. 
Stra&burg,  K.  J.  Trübner,  1905.  4  Bände,  XLI,  818;  406;  3y7;  374  8. 
Preis  des  Bandes  geh.  M.  2.50;,  geb.  M.  3.50.  [Braunfels'  Übertragung  des 
D.  Q.  ist  eine  sehr  sorgfältige  und.  kundige  und  auch  eine  sehr  kunst- 
volle Arbeit.  Er  steht  als  D.  Q. -Übersetzer  weit  über  allen  deutschen 
Vorgängern  in  seiner  Verbindung  von  kenntnisreicher  Sorgfalt  und  künst- 
lerischem Nachempfinden.  Er  allein  hat  uns  eine  in  Wortsinn  und  Ton 
treue  Umschrift  geliefert.  Sie  verdiente  es  wohl,  im  Jubiläumsjahre  des 
Originals  zu  neuem  Leben  erweckt  zu  werden,  nachdem  sie  zwei  Jahr- 
zehnte in  den  Bändchen  der  'Collection  Spemann'  (1888)  geschlummert 
hat.  Die  Fufsnoten  jener  ersten  Ausgabe  sind  im  Neudruck  revidiert, 
reduziert  und  an  den  Sehluis  der  einzelnen  Bände  verwiesen  worden. 
Über  die  Grundsätze,  die  im  übrigen  den  Herausgeber  geleitet  haben, 
gibt  die  Vorrede  Auskunft.  Diese  Neuausgabe  ist  von  vornehmer  Aus- 
stattung, bestimmt  und  geeignet,  ein  Buch  der  Erholung  und  des  Ge- 
nusses zu  sein.  Der  Preis  cier  vier  Bände  (geh.  M.  10,  geb.  M.  14)  ist 
außerordentlich  niedrig.] 

Menöndez  Pidal,  R.,  Manuel  elemental  de  gramatica  historica 
espanola.  Segunda  edicion.  Madrid,  Suärez,  1905.  VII,  271,  S.  Pes.  6,5C 
[Der  ersten  Auflage  dieses  trefflichen  Handbuches,  cf.  Archiv  CXIII,  231 
folgt  binnen  Jahresfrist  die  zweite.  Der  Autor  hat  es  sich  angelegen  sei. 
lassen,  den  Wünschen  der  fachmännischen  Kritik  Rechnung  zu  tragen 
und  wenn  die  Zahl  der  Paragraphen  seines  Buches  sich  nicht  vermehrt 
hat,  so  ist  doch  vielfach  deren  Inhalt  erneut  und  erweitert,  so  dafs  das 
Buch  erheblich  an  Umfang  gewonnen  hat.  Die  typographische  Ausstat- 
tung ist  ebenfalls  reicher  geworden.] 

El  Comerciante.  Spanisches  Lehrbuch  für  Kaufleute,  kaufm.  Fort- 
bildungsschulen, Handelsschulen  und  verwandte  Anstalten,  sowie  zum 
Selbstunterricht  von  C.  Demehl.  Unter  Mitwirkung  Hamburger  Kauf- 
leute und  der  spanischen  Lehrer  E.  Solana  und  Ol.  Herreros.  Mit 
einer  Konjugationstabelle,  drei  Münztafeln  und  einer  mehrfarbigen  Karte 
von  Spanien.    Leipzig  und  Berlin,  Teubner.    XII,  27i»  S. 


Stuppaun,    Gebhard,    Las    desch    eteds.      Publicaziun    da   Jacob 
Jud.     Coira,  H.  Fiebig,  1905.     113  S.     [Gegen  1560  schrieb  der  Prediger 
G.  Stuppaun  zu  Ardez  im  Unterengadin   das   dramatische  Gespräch  der 
'Zehn  Alter',   das  Gärtner   vor  zwanzig  Jahren  in  Böhmers  Rom.  Studien 
VI,  239  ff.  herausgegeben   und  für  das  Gärtner  auch  die  deutsche  Quelle, 
Genzenbachs  'Zehn  Alter'  (15o4),  nachgewiesen  hat.    Jud  druckt  hier  — 
es  ist  ein  S.-A.  aus  den  Annalas  della  Societad  Raeto-Rotnanseha  —   den 
'l'ext  nach   einer  älteren   und   vollständigeren  Handschrift  neu   und   gibt 
die  Sinnyarianten   des  Gartnerschen   und  zweier  anderer  fragmentarischer 
Manuskripte.     Diese  Handschrift   führt  ihn   zu   der   ansprechenden   Ver- 
mutung,  dal's   hinter  den   erhaltenen  oberengadinischen  Kopien    sich  eine 
unterengadinische  Urschrift  verbirgt.    Ein  rätisch-deutsches  Glossar,  da 
sorgfältig  gearbeitet  zu  sein  scheint,  ist  beigegeben.     Ist  furberta  (ct.  fw 
batrta,  Var.  zu  699)  nicht  ein  Fehler   des   Kopisten   statt  furberial     D 
Wörter  der  Varia  lectio  sind  nicht  ins  Glossar  aufgenommen.] 

Michael,  J.,    Der  Dialekt   des    Poschiavo  -  Tals  (Poschiavo  -  Brusic 
Campocologno).    Zürcher  Dissert.     Halle,  E.  Karras,  1905.    99  S. 


BIND1NG  SECT.  JAN  2  5  1968 


PB        Archiv  für  das  Studium 
der  neueren  sprachen 
A5 

Bd. 115 


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