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Full text of "Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen"

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ARCHIV 


FÜR    DAS 


STUDIUM  DEK  NEUEREN  SPRACHEN 
UND  LITERATUREN. 


HERAUSGEGEBEN 


LUDWIG     HERRIG. 


XXVI.   JAHKGANG,  48.   BAND. 


BRAUNSCHWEIG, 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  GEORGE  WESTERMANN. 


18  71. 


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Inhalts- Verzeichniss  des  XLVIII.  Bandes. 


Abhandlungen. 


Seite 


Ueber   Shakespeare's  Würdigung  in    England,   Franlireich   und  Deutschland. 

Von  Dr.  Riedel .  1 

Die  Dichter  der   modernen   französischen  Literaturperiode.     Von  Dr.  J.  J. 

S.  May        41 

Das  Leben  der  heiligen  Brigitta.  Mitgetheilt  von  Dr.  A.  Tobias  .  .  .  69 
üngedruckta   politische    Gedichte    aus  dem   17.   Jahrhundert.      Von  Dr.  H. 

Bieling 77 

Chatten  und  Hessen.     Von  Dr.  WilhelmKellner 85 

Fran9ois  Villon.     Von  Dr.  AlbertStimming 241 

Rechtsalterthümer  aus  dem  Rolandsliede.  Von  Dr.  Er  esslau  .  .  .  .  291 
Ein  Wort  zur   Verständigung    über   den   Accent   tonique   im  Französischen. 

Von  Brunnemann 307 

I.     Die  römische  Novelle 369 

n.     Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman.     Von  Dr.  Härtung  .  391 

Die  sprichwörtlichen  Formeln  der  deutschen  Sprache.     Von  Carl  Schulze  435 

Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Die  Sprache  als  Kunst,  von  Gustav  Gerber.     (G.  Weigand.)       .     .     .     .  175 
Schwab  und  Klüpfel,  Wegweiser  durch  die  Literatur  der  Deutschen    .     .     .  183 
Hermann  Oesterley,   Die  Dichtkunst  und  ihre  Gattungen.     Mit  einem  Vor- 
worte von  K.  Goedeke.     (Dr.  Rothenbüfcher.) 184 

Deutsche   Gedichte    zur   deutschen   Sage   und  Geschichte.     Von  H.  A.  Nie- 
meyer.    (Kölscher.) 184 

F.  W.  Culemann,  Schlüssel  z.  Studium  d.  Deutschen.     (Dr.  K.  Büddeker.)  188 

Baensch's  Pocket  Miscellany 190 

L.  Geiger,  Der  Ursprung  der  Sprache.  (Dr.  K.  Böddeker.)  .  .  .  .  317 
Les  femmes  savants,  comedie  de  Moliere.     Für  den  Schulgebrauch  bearbeitet 

von  Dr.  C.  Tb.  Lion.     (Th.  Ameis.) 320 

Sicilianische  Märchen.     Aus  dem  Volksmunde  gesammelt  von  Laura  Gonzen- 

bach.     (B.  t.  B.) 327 

Dr.  Hermann  Franz:  The  English  SpeUing  Book  and  First  Reader.     (Alb. 

Benecke.) 331 

E.  Marggraff:  Frecis  de  l'Histoire  d'Allemagne.     (Alb.  Be necke.)    .     .     .  335 

Traitd  de  Versification  fran9aise  par  Gustave  Weigand.  (P.  de  Ri viere.)  336 
Alb.  Benecke,  Die   französische  Aussprache   in   methodischer  Darstellung   u. 

schulmässiger  Fassung.     (H.) 338 

Ueber  Wolfram's  von  Eschenbach   Rittergedicht   Wilhelm   von  Orange  .und 
sein  Verhältniss   zu   den    altfranzösischen   Dichtungen    gleiches   Inhalts. 

Von  San  Marte.     (Heinrich  Pröhle.) 451 

E.  Böhmer,  Romanische  Studien.     (Dr.  K.  Böddeker.) 452 

Codicem    Manu    Scriptum    Digby   86    in    Bibliotheca   Bodleiana   asservatum 

descripsit,   excerpsit,    illustravit  Dr.  E.  Stengel.     (Dr.  K.  Böddeker.)  453 

A.  Tobler,  Li  dis  dou  vrai  aniel.     (Dr.  K.  Böddeker.) 455 


Seite 

W.  Shakespeare's   dramatische  Werke.     Für   die   deutsche  Bühne  bearbeitet 

von  W.  Oechelhäiiser.     (Hans  Herr  ig.) 456 

Les  Femmes  Savantes,  mit  Einleitung  und  erläuternden  Anmerkungen  her- 
ausgegeben von  Dr.  C.  Th.  Lion.     (Dr.  K.  Böddeker.)        ....     460 

Egmont,  a  tragedy  by  Goethe,  ed.  by  C.  A.  Bucbheim.     (G.  A.  Volcher  t.)     462 

Die  Menaechraen  oder  Zwillingsbrüder  des  T.  Maccius  Plautus.    Für  deutsche 

Leser  bearbeitet  von  Dr.  Carl  Chr.  Conr.  Völker.    (H.) 464 

E.  Burtin.    Recueil  de  Mots  Fran9ais  pour  les  Excercices  de  Langage  d'apres 

les  Tableaux  de  M.  Strübing.     (F.  S.) 465 

Programmenschau. 

Grundsätze   zur    regelung   unserer   deutschen    Orthographie.     Von  'Dr.  Paul 

Wessel 192 

Das  Sprachbewusstsein  unserer  Tage.     Von  Dr.  Kohl 193 

Zur  Geschichte  der  Wortbedeutungen  in   der  deutschen  Sprache.     Von  Dir. 

Dr.  Ed.  Cauer 193 

Die  neuhochdeutsche  Suhstantiv-Declination.     Vom  Oberlehrer  W.  0.  Gort- 

zitza 195 

Darstellung  der  Form  und  des  Gebrauchs  der  appellativen  Deminutiva  in  der 
neuhochdeutschen  Sprache  mit  Berücksichtigung  des  Mittel-  und  Alt- 
hochdeutschen.    Von  Dr.  Gustav  Müller 195 

Geschichte  und  Bedeutung   des  reimlosen  fünffüssigen  jambischen  Verses   in 

der  deutschen  Dichtung.     Von  Dr.  Dannehl 198 

Reimbrechung  und  Dreireim  im  Drama  des  Hans  Sachs  und  anderer  gleich- 
zeitiger Dramatiker.     Vom  Oberlehrer  Dr.  Rachel 199 

Der  deutsche  Michel.     Vom  Oberlehrer  Dr.  Alb.  Muncke 201 

Bemerkungen  zu  Shakespeare's  Julius  Caesar.  Vom  Oberlehrer  Dr.  Wiarda  202 
Bild  und  Gleichniss  in  ihrer  Bedeutung  für  Lessing's  Stil.  Vom  Dr.  Cosack  203 
Lessing's  Verhältniss  zu  Shakespeare.     Von  Dr.  L.  Rovenhagen     ....     203 

Lessing  als  Lustspieldichter.     Von  Franz  Graul 204 

Goethe's  Stellung  zu  den  Naturwissenschaften.     Von  Dr.  Ed.  Krüger      .  204 

Zu  Goethe's  Iphigenie.     Vom  Oberlehrer  Dr.  Köpke 206 

Ueber  Goethe's  Elpenor  und  Achilleus.  Vom  Dir.  Dr.  Fr.  Strehlke  .  .  206 
Schiller  und  die  praktischen  Ideen.  Vom  Conrector  Dr.  Tepe  ....  207 
Schiller's  Jungfrau  von  Orleans,    neu   erklärt    und    nach   ihrem   christlichen 

Gehalte  gewürdigt.     Vom  Dir.  Dr.  G.  Fr.  Eysell 208 

Ueber  den  Charakter   des  Schicksals  in  Schiller's  Tragödie.      Von   Dr.  Th. 

Nölting 210 

Schicksal  und  Schuld  in  Schiller's  Braut  von  Messina.     Vom  Subrector  Jul. 

Drenckmann.    (Hülse  her.) 210 

Analyse  der  französischen  Verbalformen  für  den  Zweck  des  Unterrichts.    Von 

Dr.  Lücking.     (Dr.  Q.  Steinbart.) 344 

Dr.  Bärwald.      Zur   Erinnerung   an  Lazarus  Geiger.      2.    Eugene  Peschier, 

Lazarus  Geiger.     Sein  Leben  u.  Denken 355 

A.  Zauritz.     Ueber  Voltaire 's  Charles  XII.  —  Dr.  Ludwig  Bossler,  Voltaire's 

Glaubwürdigkeit  in  seiner  Histoire  de  Charles  XII.  (Harry  Bresslau.)     356 
Dr.    Carl   Christian   Redlich,    Die    poetischen  Beiträge    zum    „Wandsbecker 

Bothen"  gesammelt  und  ihrem  Verfasser  zugewiesen.     (R.)     ....     358 

Miscellen. 

Seite  212—238.     360—366.     467—475. 

Bibliographischer  Anzeiger. 

Seite  239—240.     367—368.     476—480. 


Ueber 

Shakespeare's  Würdigung  in  England,  Frankreich 
u.  Deutschland. 

Von 
Dr.  Riedel   in   Altena. 


I. 

Es  ist  ein  wunderbares  Bild,  das  sicli  vor  unsern  Blicken 
entrollt,  wenn  wir  die  Schicksale  der  dramatischen  Dichtungen 
Shakespeare's  uns  vergegenwärtigen,  Schicksale,  die  so  ernst 
und  einzig  in  ihrer  Art  sind,  dass  sie  zu  interessanten  Betrach- 
tungen anregen.  Vor  Allem  wird  uns  die  Untersuchung  der 
Gründe  nahe  gelegt,  w^elche  die  geistigen  Erzeugnisse  eines 
Dichters  der  neueren  Zeiten  fast  zwei  Jahrhunderte  hindurch, 
obwohl  gekannt,  dennoch  nahezu  unbekannt  haben  bleiben  las- 
sen, die,  bekannter,  alle  Art  von  Schmähungen  und  Tadel  haben 
erfahren  müssen,  deren  Werth  von  hochgeachteten  Kritikern 
kaum  dem  des  durch  die  Schriftzüge  zur  Makulatur  gewordenen 
Papieres  gleich  geachtet  wurde,  und  die  jetzt  den  herrlichsten 
Productionen  aller  Zeiten  und  Völker  nicht  sowohl  als  ebenbürtig 
an  die  Seite  gestellt,  sondern  von  den  besten  Geistern  vmd 
klarsten  Denkern  als  unübertrefflich  geschätzt  und  gepriesen 
werden. 

Es  sind  die  Schicksale  dieser  Werke  einzio;  in  ihrer  Art : 
weder  haben  die  Flammen,  noch  hat  barbarische  Wuth  sie  je  den 
Augen  der  folgenden  Geschlechter  entzogen,  auch  hat  sie  nicht 
eine  un<?e!ieure  Umw'alzunfr  in  dem  Cultursanoie  der  Welt  als 
schädlich    oder   nutzlos   in   den  Schatten    gedrängt.     Entstanden 

Archiv  f,  n.  Sprachen.  XLVm.  l 


2  Shakcspeare'a  Wih'digung 

7.U  einer  Zeit,  In  der  das  Streben  nach  freierer  Kntfaltun<r  des 
geistigen  Lebens,  nach  allgemeiner  Bildung,  und  nach  Befreiung 
von  den  Fesseln  hergebrachter  Denkweise  ein  mäclitiges  war, 
hat  dennoch  der  Vertreter  dieser  seine  Zeit  bewegenden  und  in 
der  Nachzeit  noch  wirksamen  Eichtung  in  das  Dunkel  der  Ver- 
gessenheit gehüllt  bleiben  müssen,  bis  es  einer  späteren  und 
vergleichsweise  noch  jungen  Zeit  gelang,  ihn  auf  die  Stufe  zu 
erhöhen,  die  ihm  mit  Recht  gebührt.  Ernst  aber  ist  dieses  I'jild 
darin,  dasa  es  uns  ein  Abglanz  des  Geschickes  ist,  das  im  Laui'o 
des  individuellen  Lebens  so  vieles  Gute  und  Schöne  in  Gedanken 
und  That  in  Fesseln  schlägt  und  Hindernisse  vor  ihm  aufthürmt, 
welche  es  in  günstigen  Fällen  zu  Zeiten  mühsam  durchbricht, 
die  es  in  ungünstigen  aber  verbergen  oder  zerschmettern.  P^rnst 
ist  es  ferner  darum,  dass  es  uns  auf  der  einen  Seite  die  blind(> 
Macht  des  Princips  der  Autorität,  auf  der  andern  die  traurigen 
Folgen  des  Vorurthells  und  der  oberflächlichen  Schätzung  ver- 
gegenwärtigt,  und  ernst  und  dringend  ist  die  Lehre,  die  aus 
diesen  Betrachtungen  zu  uns  spricht. 

jNIan  kann  es  wohl  sagen,  dass  die  Verfolgung  des  Fort- 
schritts der  Shakespeare -Würdigung  in  den  drei  hervorragend- 
sten Culturländern  uns  einen  eigenthümlichen,  docii  sicheren 
Maassstilb  für  die  Bcurthcilung  der  literarischen  Fortbildung 
dieser  Nationen  an  die  Hand  giebt.  Sie,  die  Jahrhunderte  hin- 
durch so  verschieden  von  einander  gewesen,  stimmen  jetzt  zu- 
sammen in  dem  J^obe  des  einen  grossen  Geistes,  den  sie,  jede 
an  ihrem  Theile  und  nach  ihrer  Art  wetteifernd  sich  rühmen 
ganz  zu  verstehen,  zu  lieben,  und  sich  an  den  von  ihm  aus- 
gehenden belebenden  Hauche  zu  begeistern.  AVenn  sie  nun  nicht 
alle  das  Opfer  einer  Hallucination  geworden  sind,  sondern  kla- 
ren Geistes  und  richtigen  Verständnisses  den  Wcrth  dessen  er- 
kennen, dns  sie  preisen,  mit  welchem  Gefühl  von  Beschämung 
müssen  sie  nicht  auf  die  vorurtheilsvollc  und  sinnlose  Kritik 
der  beiden  letztverflossenen  Jahrhunderte  zurückblicken  1  Es 
braucht  sich  in  dieser  Beziehung  wahrlich  keine  der  drei  Natio- 
nen über  die  andere  zu  erheben,  denn  wenn  englische  Kritiker 
im  Ganzen  weniger  schroff  in  ihren  tadelnden  Urtheilen  über 
Shakespeare  gewesen  sind,  so  muss  man  in  Betracht  ziehen, 
dass  sie  immerhin  in   ihm  den  Landsmann  ehrten,   seine  patrio- 


in  England,  Frankreich  und  Deutschland.  8 

tischen  Gesinnungen,  die  in  England  manchen  Fehler  verdecken, 
nie  in  Zweifel  zogen  und  dass  sie  ferner  das  Idiom  voUkom- 
men  verstanden,  dessen  Kenntniss  von  den  Fremden  erst  mit 
grosser  Mühe  erworben  werden  musste,  dessen  Unkenntniss  aber 
in  vielen  Fällen  der  Grund  falscher  Auffassung  und  mangel- 
haften Verständnisses  war.  Waren  die  Franzosen  Shakespeare's 
erbitterte  Gegner,  so  rauss  auch  hier  nicht  ausser  Acht  gelas- 
sen werden,  dass  sie  zur  Zeit,  wo  sich  ihre  Kritik  seiner  be- 
mächtigte, alle  dramatischen  Erzeugnisse  nach  Norm  der  von 
Corneille  zusammengefiissten  und  von  ihm,  seinen  Zeitgenossen 
und  den  Späteren  befolgten  Regeln  beurtheilten,  welche  dem 
AVortlaute  nach  aristotelisch,  dem  Geiste  der  griechischen  Tra- 
gödie aber  durchaus  fremd  waren,  und  dass  sie  Alles,  was  ge- 
gen diese  Regeln  verstiess,  völlig  verdammten.  Weiter  verhin- 
derte sie  der  Nationalstolz,  Erzeugnisse  fremder  Völker  genügend 
und  vorurtheilsfrei  zu  würdigen,  ja  selbst  ihnen  die  Ehre  einey 
Vergleichs  mit  den  eigenen  angestaunten  Dichterwerken  anzu- 
thun.  Vor  Allem  aber  muss  hier  die  grosse  Verschiedenheit  in 
den  socialen  Verhältnissen  der  beiden  Nationen  und  die  aus  der- 
selben entspringende  Verschiedenheit  in  der  Anschauung  beach- 
tet werden,  die  es  den  Franzosen  kaum  möglich  machte,  anders 
als  in  sehr  guten  üebertragungen  Sh.  auch  nur  annähernd  zu 
verstehen.  Eine  meisterhafte  Uebersetzung  des  Sh.  ins  Fran- 
zösische ist  aber  wiederum  der  grossen  Verschiedenheit  des 
Idioms  wegen  unendlich  schwierig  und  ist  selbst  heutigen  Tages 
noch  ein  desideratum,  obwohl  uns  die  letzten  Jahre  vergleichs- 
weise wohlgelungene  gebracht  haben.*  Wir  aber,  die  wir  in 
unserer  Denkweise  dem  englischen  Volke  so  nahe  verwandt  sind, 
deren  Sprache  sich  mit  Geschmeidigkeit  dem  Ausdrucke  der 
englischen  leiht,  wir  müssen  mit  Schmerz  zurückblicken  auf 
eine  Zeit,  in  der  wir  so  völlig  vom  Einflüsse  des  französischen 
Geistes  beherrscht  waren,  dass  unsere  Wieland  und  Gottsched 
Kritiken  wie  die  in  der  Folge  näher  zu  beleuchtenden  dem 
deutschen  Volke   anbieten   konnten.     Aber    wir   haben  dieselben 


*  Guizot.     Oeuvres  completes  de  Sh.  1S62. 
V.  Hugo  „  „  „     „      1862. 

Benj.  Laroche,,  „  „     „      1864. 


4  Shakespeare's  \^"drdigung 

längst  gesühnt.  Jene  befangenen  Urtheile  waren  nur  wie  ein 
Schleier,  der  in  der  Zeit  unserer  literarischen  Knechtschaft  den 
kritischen  Blick  der  Kunstrichter  trübte,  wir  konnten  nicht  be- 
ständig die  eigene  Natur  verlaugnen,  die  uns  unwiderstehlich 
zog,  das  Wahre,  das  Edele,  das  Tiefe  anzuerkennen,  wo  wir  es 
fanden.  Wir  mussten  bewundernd  stehen  vor  der  Macht  des 
Dichters,  der  das  Gemeine  des  Alltagslebens  in  das  ewig  junge 
und  hohe  Reich  der  Kunst  hinüberzog,  der  uns  das  Walten 
einer  ewig  wachenden  und  liebevollen  Vorsehung  in  dem  Ge- 
triebe, das  jeder  Morgen  neu  erstehen  iLisst  und  jeder  Abend 
zur  Ruhe  besänftigt,  in  erschütternden  Bildern  vor  die  Seele 
führte,  der  aber  auch  die  strengsten  Consecjuenzen  zog  und  das 
unheimliche  Schreiten  der  unerbittlichen  Nemesis  an  unser  Ohr 
schlagen  Hess  in  ehernen  Tönen.  Mit  ihm  verloren  in  die  Zau- 
berwelt der  jungen  fröhlich  grünenden  Liebe,  jauchzend  mit  ihm 
in  dem  endlichen  Siege  des  unerschütterlichen  Willens,  dem 
Lohne  der  herrlichen  That,  scliaudernd  bei  dem  Schreckens- 
Gefülge  der  Leidenschaft,  fühlen  wir  Ihn  als  den  unsern  und 
folgen  ihm  willig  in  die  heiteren,  in  die  tiefen  Regionen,  in  die 
uns  sein  Geist  unwiderstehlich  dahinzieht. 

Die  Stellung  der  deutschen  Kritik  in  ihrer  Intensität  zu 
diesem  einer  fremden  Nation  angehörenden  Dichter  ist  in  hohem 
Grade  eigenthümlich,  sie  ist  ganz  einzig  in  ihrer  Art,  da  sie  in 
der  Vorliebe,  mit  der  sie  sich  seiner  bemächtigt,  die  Bestre- 
bungen der  Nation,  welcher  Sh.  angehörte,  in  Bezug  auf  ihren 
Werth  und  ihre  Gründlichkeit  um  ein  Bedeutendes  übertroffen 
hat;  sie  ist  aber  eben  so  characteristisch  für  unsern  kritischen 
Scharfsinn  und  die  Macht  der  aesthetischen  Bildung  unter  uns, 
die  alle  Schranken,  welche  die  Würdigung  dieses  Dichters  um- 
gaben, siegreich  durchbrochen  haben.  Es  sei  gestattet,  an  die- 
ser Stelle  treffende  Worte  anzuführen,  die  einer  unserer  noch 
lebenden,  hervorragenden  Kritiker  jüngst  gesprochen:*  „Man 
sagt  uns  wohl,  eben  desshalb  sind  wir  Deutschen  so  tief  in  das 
Verständniss  Sh.'s  eingedrungen,  eben  desshalb  ist  dieser  Dich- 
ter  ein    solcher  Liebling   unserer   Nation  geworden,   weil   seine 


*  Aus:  Prof.  Lemcke's  zu  Marburg  Rede,  gelialten  zur  Feier  des  SOOjäh- 
rigen  Geburtstags  Sh.'s  1864. 


in  England,  Frankreich  und  Deutschland.  5 

Nation  der  unsrigen  stammverwandt,  weil  der  Geist,  der  uns 
aus  des  Dichters  Werken  anmuthet,  vorherrschend  ein  germa- 
nischer ist.  Es  heisst  meiner  Ansicht  nach  dem  deutschen 
Geiste  ein  Armuthszeugniss  ausstellen,  wenn  man  jene  Stamm- 
verwandtschaft als  die  Brücke  betrachten  will,  die  uns  zu  Sii. 
geführt  hat.  Legen  wir  auch  in  diesem  Falle  einmal  unsere 
sprichwörtlich  gewordene  Bescheidenheit  bei  Seite  und  sagen 
wir  es  offen  heraus:  nicht  die  Stammverwandtschaft  mit  seiner 
Nation,  nicht  die  Kundgebungen  germanischen  Geistes  in  seinen 
Dichtungen  sind  es,  was  uns  Sh.  so  nahe  gebracht,  sondern  es 
ist  jene  uns  Deutschen  vor  anderen  Völkern  verliehene  Götter- 
gabe, vermöge  deren  wir  den  ächten  Genius,  welcher  Nation  er 
auch  angehöre,  besser  als  andere  Nationen,  besser  oft  als  seine 
eigene,  zu  begreifen,  seine  Gaben  besser  zu  geniessen  und  uns 
anzueignen  vermögen.  Wir  verstehen  und  lieben  Sh.  vermöge 
desselben  deutschen  Geistes,  welcher  auch  den  Italienern  ge- 
holfen hat,  ihren  Dante  zu  verstehen,  welcher  den  Spaniern 
geholfen  hat,  ihre  Romanzen  zu  ordnen,  und  welcher  jetzt  noch 
immer  den  Franzosen  hilft,  die  Schätze  ihrer  mittelalterlichen 
Literatur  zu  erforschen.  Wir  verstehen  und  lieben  Sh.  vermösre 
jener  Faustnatur  unserer  Nation,  welche  instinctmässig  den  Geist 
wittert,  wo  die  Wagnersaugen  anderer  Nationen  nichts  sehen  als 
einen  schwarzen  Pudel,  mit  einem  Worte:  Wir  verstehen  und 
lieben  Shakespeare,  weil  wir  wirklich  jenes  „Volk  von  Den- 
kern" sind,  als  welches  die  anderen  Völker  uns  so  oft  schon 
mit  schlecht  verhehltem  Unmuth  anzuerkennen  genöthigt  ge- 
wesen sind."  — 

W^as  die  Engländer  Werthvolles  zur  Förderung  der  Sh.- 
Studien  geleistet  haben,  ist  meist  auf  die  Verbesserung  des 
Textes  beschränkt  geblieben,  und  es  rauss  die  angewandte  un- 
geheure Mühe  und  Beharrlichkeit  Bewunderung  erregen;  den 
aesthetischen  Maassstab  an  die  Werke  ihres  grossen  Dichters 
zu  legen  haben  sie  im  Vollgefühl  des  Genusses,  den  sie  aus 
ihnen  zogen,  mit  wenigen  Ausnahmen,  unterlassen.  Abgesehen 
davon,  dass  die  aesthetische  Kritik  überhaupt  in  England  noch 
nicht  auf  der  Stufe  der  Ausbildung  steht,  die  sie  bei  uns  er- 
reicht hat,  ist  Sh.  dort  so  tief  in  das  Bewusstsein  des  Volkes 
gedrungen   und   ist   so  bestimmend  für   die  Gefühls-   und  Ge- 


6  Shakespeare's  Würdigung 

dankenrichtung  desselben  geworden,  oder  vielmehr  repräsentirt 
Sh.  diese  Richtungen  des  Volkes  so  vollkommen,  dass  man  es 
für  überflüssig  hält,  das  in  vielen  Worten  zu  sagen,  was  jeder 
fühlen  muss.  Dass  die  künstlerische  Seite  Sh.'s  dabei  nicht  zur 
Geltuno-  kommt,  liegt  auf  der  Hand,  aber  es  ist  ein  eigenes, 
nicht  unnatürliches  Gefühl  der  Pietät,  welches  die  Engländer 
davon  abhält,  die  Werke  ihres  grossen  Dichters  —  ihnen  ist  er 
mehr  der  grosse  Weise  —  zu  zerklauben  und  durchzuhecheln, 
sie  wollen  den  Gesammteindruck  derselben  auf  sich  wirken 
lassen.  Die  eigentlich  philosophische  Kritik  Sh.'s  ist,  wie  schon 
im  Vorhergehenden  angedeutet,  von  Deutschland  ausgegangen, 
und  es  gebührt  uns  nicht  nur  der  Ruhm,  mächtig  die  Feder  zur 
umfassendsten  Würdigung  des  Shakespeare'schen  Genius  ge- 
führt, sondern  auch  dies  früher  gethan  zu  haben,  als  Sh.'s 
eigene  Landsleute. 

Diesen  Ruhm  hat  uns  vor  Allen  Lessing  erworben. 

Das  Verdienst  der  Franzosen  auf  diesem  Felde  ist  Im  gün- 
stigsten Falle  ein  negatives.  Sie  haben  sich  nur  langsam  und 
mit  schlecht  verhehltem  Unmuth  der  nun  ein  für  allemal  offen- 
kundigen allgemeinen  Anerkennung  Sh.'s  gefügt  und  noch  in  der 
jüno-sten  Zeit  haben  Avir  das  unwürdige  Schauspiel  vor  Augen 
gehabt,  dass  eine  der  Vierzig  hterarischen  Grössen,  die  auf  den 
Sesseln  der  französischen  Academie  thronen,  von  wo  sie  den 
o-uten  Geschmack  und  die  literarische  Kritik  in  Frankreich  lei- 
ten  und  verbreiten  sollen,  Ponsard  semen  Eintritt  in  diese  ge- 
lehrte Körperschaft  in  einer  Rede  feierte,*  die  in  bedauerlicher 
Welse  alle  die  alten  längst  bei  Seite  gelegten  Vorurtheile  und 
den  längst  einer  gerechteren  und  billigeren  Auffassung  gewiche- 
nen Tadel  vergangener  Tage  mühsam  wieder  zusammentrug. 
Es  muss  jedoch  hierbei  bemerkt  werden,  dass  Aeusserungen 
dieser  Art  keineswegs  ein  Criterium  für  die  gegenwärtig  all- 
o-emelne  Stlmmuns;  über  Sh.'s  Verdienste  in  Frankreich  sind; 
die  grosse  Zahl  der  Gebildeten  verschllesst  sich  dort  keineswegs 
mehr  der  gerechten  Sh.  zu  zollenden  Anerkennung,  wie  denn 
auch  NIsard,  der  verdienstvolle  Herausgeber  der  Chefs-d'oeuvre 
de   Sh.    in   seiner   Antwort  auf  die  oben   erwähnte  Rede   vom 


*  Discours  prononce  a  l'academie  fran9aise.     185G. 


in  England,  Frankreich  und  Deutschland.  7 

Standpunkte  des  vorurtheilsfreien  Philosophen  aus  in  kühnen 
und  mächtigen  Zügen  die  wahre  Stellung  Sh.'s  den  Angriffen 
Pousard's  gegenüber  würdig  characterisirte. 

Es  ist  eine  wohlbekannte,  und  wenn  man  den  Glanz  be- 
trachtet, der  den  Namen  des  Dichters  jetzt  umstrahlt,  auf  den 
ersten  Blick  höchst  befremdende  Thatsache,  dass  Sh.'s  Werke 
in  den  auf  seinen  Tod  im  Jahre  1616  folgenden  hundert 
Jahren  von  seinen  eigenen  Landsleuten  mehr  oder  minder  ver- 
nachlässigt waren,  während  man  ihn  in  Deutschland  und  Frank- 
reich nicht  einmal  dem  Namen  nach  kannte.  Sie  ist  jedoch  einer 
genügrenden  Erklärung,  wenn  auch  nicht  voller  Entschuldiounjr 
fähig,  und  es  verliert  das  Erstaunen  über  diese  Erscheinung  an 
Intensität,  sobald  man  sich  die  Umstände  der  Zeit,  in  welcher 
Sh.  schrieb,  vergegenwärtigt,  das  theatralische  Leben  derselben 
und  der  darauf  folgenden  Periode  und  des  Dichters  Eigenart, 
die  seinen  dramatischen  Werken  aufgeprägt  ist,  in  Betracht  ge- 
zogen hat.  Die  Grenzen  dieser  Abhandlung  gestatten  nicht, 
auf  das  Nähere  der  höchst  ausgedehnten  und  befriedigenden  For- 
schungen über  diesen  Gegenstand  einzugehen,*  es  können  nur 
die  wichtigsten  Resultate  derselben   hier  hervorgehoben  werden. 

Das  Zeitalter,  in  dem  Sh.  schrieb,  w^ar,  wenn  auch  der 
Dichtung,  dem  Dichter  selbst  nicht  günstig.  Mächtig  gährte  es 
auf  allen  Gebieten  des  öffentlichen  Lebens.  Es  war  die  Periode 
des  thatsächlichen  Ueberganges  vom  Mittelalter  in  die  Neuzeit; 
die  grossen  weltstürmenden  Begebenheiten,  an  denen  das  Ende 
des  fünfzehnten  und  der  Anfang  des  sechszelmten  Jahrhunderts 
so  reich  ist,  übten  damals  ihre  ersten  Wirkungen  aus,  das  so- 
ciale Leben  gestaltete  sich  auf  einer  ganz  neuen  Basis  und  die 
volle  Energie  der  starken  Menschen,  die  ihre  Zeit  begriffen, 
ward  in  Anspruch  genommen  mächtig  in  dieselbe  einzugreifen, 
und  den  ungewissen  und  schwankenden  Impulsen  eine  Form  zu 
verleihen,  die  Segnungen  aus  ihnen  zu  machen  fähig  wäre.  In 
einer  solchen  Zeit,  die  zwar  dem  Dichter  und  dem  Philosophen 
mannigfachen  Stoff  zu  dichten  und  zu  denken  vor  die  Seele 
führt,  gilt  der,  welcher  sich  mitten  in  die  Wogen  der  Zeitströ- 


*  Vergl.  Nathaniel  Drake,  Shakespeare  and  bis  times.  1817;  Ch.  Knight, 
Studies  of  Sh.  1749;  Colliers  verschied.  Schriften.  1835 — 40;  ferner  Gervi- 
nus,  Shakespeare.  1850.  1862;  Kreissig,  Vorlesungen  über  Sh.  1858. 


8  Shakespearc's  Würdigung 

mung  stellt,  mit  dem  Tage  lebt  und  was  den  Tag  bewegt  wirkt 
und  bereitet,  nicht  aber  derjenige,  welcher  von  den  Höhen  der 
Menschheit  herab  das  bunte  Treiben  überschaut  und  es  in  sei- 
ner Seele  zum  Bilde  gestaltet.  Da  Averdcn  rauhere  Seiten  in 
der  Brust  der  Menschen  angeschlagen,  die  reale  Welt  fordert 
ihre  Rechte,  und  will  man  ihr  genügen,  so  übertönt  ihr  Geräusch 
die  zarteren  Töne  der  sanften  Leyer. 

War  also  der  Character  der  Zeit  der  Beschäftigung  mit 
dichterischen  Erzeugnissen  überhaupt  ungünstig,  so  kamen  noch 
tief  eingreifende  äussere  Umstände  hinzu,  welche  dazu  angethan 
waren,  dieselbe  noch  mehr  zu  verdrängen. 

Die  Deformation  bedurfte  zu  ihrer  Einführung  und  Befesti- 
gung in  den  Gemüthern  des  Volks  einer  eingehenden  Contro- 
vers-Literatur,  die  alle  namhaften  Talente  in  Anspruch  nahm, 
und  besonders  die  Gebildeten  so  sehr  beschäftigte,  dass  ihnen 
zum  Genuss  und  Studium  von  Dichterwerken  weder  Müsse  noch 
Lust  blieb.  Hierzu  kam  in  England  noch  ein  stärker  als  bei 
andern  Nationen  ausgeprägtes  Vorurtheil  gegen  theatralische 
Darstellungen,  die  nicht  mehr  wie  ehedem  unter  dem  besonderen 
Schutze  und  unter  Mitwirkung  der  Geistlichkeit  ausgeführt  wur- 
den, wo  sie  den  ausgesprochenen  Zweck  hatten,  in  erster  Linie 
zu  belehren,  in  zweiter  erst  zu  unterhalten.  Dass  sich  zu  die- 
ser Parteinahme  gegen  das  Theater  die  Avichtigsten  und  ein- 
flussreichsten Klassen  des  Volkes,  selbst  wenn  man  die  Geist- 
lichkeit ausnimmt,  verstanden,  darauf  wirkte  die  Reformation  ohne 
Zweifel  mittelbar,  sie  hatte  bei  dem  auf  das  Reale  und  Nüch- 
terne gerichteten  Sinne  des  Volkes  den  Widerwillen  gegen  alle 
Schaustellung  und  alles  Gepränge,  dessen  höchsten  Ausdruck 
es  in  den  Ceremonien  und  Processionen  der  katholischen  Kirche 
sah,  übermässig  gesteigert,  man  wollte  Alles  verbannen,  das  von 
dem  Wege  des  alltäglichen,  gesetzten  und  ruhigen  Lebens  ab- 
führte, daher  waren  Schauspiele  und  Schauspieler  allen  Denen 
ein  Dorn  im  Auge,  die  sich  unter  die  in  England  damals  wie 
jetzt  mit  Vorliebe  erstrebte  Klasse  der  „respectable  people"  ein- 
zuordnen drängten.  Zu  dieser  rechneten  sich  besonders  die  ein- 
flussreichen und  begünstigten  Kaufherren,  die  zu  jener  Zeit,  wo 
Englands  Handel  einen  so  ungeheuren  Aufschwung  nahm,  eine 
weit  bevorzugtere  Stellung  behaupteten,  als  es  selbst  heute  der 


in  England,  Frankreich  und  Deutscbland.  9 

Fall  ist.  Sie  führten  mit  grosser  Beharrlichkeit  den  Kampf  ge- 
gen das  Entstehen  von  Theatern  im  Umkreise  ihrer  Jurisdiction^ 
der  City  von  London  und  würden  gewiss  erfolgreich  die  Auf- 
führung von  Schauspielen  in  der  Hauptstadt  ganz  verhindert 
haben,  wenn  sie  nicht  auf  geheimen  von  Seiten  des  Hofes  aus- 
gehenden Widerstand  zu  Gunsten  der  Theater  gestossen  wären. 
Wenn  nun  aber  auch  in  der  City  selbst  keine  Theater  entstan- 
den, so  ertheilte  doch  Graf  Leicester  mit  der  stillschweigenden 
Billigung  Seitens  der  Königin  den  Schauspielern,  die  er  im 
Solde  hatte,  im  Jahre  ]574  eine  Concession  zur  Ausübung  ihrer 
Kunst,  die  unter  die  Bezeichnung  eines  Gewerbes  fiel  und  so- 
mit die  Erlaubniss  gewährte  zum  Bau  geeigneter  Localitäten  im 
ganzen  Umfang  des  Königreichs,  die  City  allein  ausgenommen. 
So  entstanden  allerdings  Theater  dicht  vor  den  City-Thoren, 
wie  1579  das  Blackfriars  Theatre  in  einem  ehemaligen  Kloster 
der  schwarzen  Brüder  an  dem  jenseitigen  Ende  der  Brücke  glei- 
chen Namens,  und  1594  das  Globe  Theatre  an  der  Südseite  von 
London  Bridge,  wo  in  beiden  Fällen  die  Themse  die  City-Grenze 
bildete.  Wenn  diese  Bühnen,  an  deren  letzterer  Sh.  einen  nam- 
haften Antheil  besass,  auch  während  der  Regierungszeit  der 
Königin  Elisabeth  und  Jacob  I.  vom  Adel  und  von  dem  nie- 
deren Volke  begünstigt  wurden,  immerhin  wurden  sie  nur  durch 
künstliche  Mittel  vor  oänzlicher  Vertils-uno;  bewahrt  und  die 
Localgeschichte  von  London  in  jener  Zeit  ist  reich  an  den  er- 
götzlichsten Wiukelzügen,  durch  die  der  Hof  und  der  Adel  das 
Fortbestehen  derselben  überhaupt  ermöglichten.  Nicht  aber  aus 
Mangel  an  penügender  Einnahme  geriethen  sie  in  Verf:^ll,  denn 
es  w'ar  diese  vielmehr  so  bedeutend,  dass  die  Antheilhaber,  wie 
also  auch  Sh.  nicht  unbeträchtliches  Vermögen  aus  dem  Ertrage 
zogen,*  aber  der  Hass  und  die  Verfolgung  der  an  Zahl  bestän- 


*  Die  Einnahme  des  „Globe"  betrug  bui  gefülltem  Hause  etwa  20  Pfund 
über  die  Tageskosten.  Man  machte  aus  ihr  40  Antheile.  15  davon  erhielten 
die  Eigenthümer  des  Hauses,  3  wurden  zum  Ankauf  neuer  Stücke  (also  für 
die  Dichter)  bestimmt  und  22  theilten  die  Schauspieler  unter  sich.  So 
mochten  die  Schauspieler  ersten  Ranges  jährlich  etwa  auf  90  Pfd.  (600  Thlr.) 
kommen,  eine  Summe,  «lie  freilich  wenigstens  mit  5  multiplicirt  werden 
müsste,  um  sie  heutigen  Einkünften  vergleiolien  zu  können.  —  Der  Dichter 
verkaufte  sein  Werk  entweder  ein  für  allemal  der  Gesellschaft,  oder  er 
behielt  sich  das  Recht  der  Veröfientlichung  vor,  und  nahm  dann  mit  einem 
Benefiz,  der  2.  oder  3.  Aufführung  vorlieb.     Für  den  Hamlet  soll  Sh.  5  Pfd. 


10  Shakcspeare's  Würdigung 

dig  zunehmenden  und  zu  immer  grösserer  Geltung  gelangenden 
Puritaner  gegen  das  Theater  steigerte  sich  allmählich  so  sehr, 
und  ihr  Einfluss  auf  das  niedere  Volk,  dessen  Lehrer  sie  waren, 
wurde  so  bedeutend,  dass  es  ihnen  schliesslich  unter  der  Re- 
gierung Karls  I.  im  Jahre  1G42,  nach  Aufgebot  aller  ihrer 
Kräfte  in  Spott  und  Verdammung  gelang,  die  gänzliche 
Schliessung  aller  Theater  durchzusetzen. 

Hier  nur  eine  Probe  der  Art,  in  welcher  man  zu  jener  Zeit 
gegen  die  Theater  und  ihre  Besucher  eiferte.  Prynne  sagt  in 
seinem  Histrio-mastix :  „Tanz  ist  die  Hauptehre,  Schauspiel 
das  Haupt  vergnügen  des  Teufels.  In  zwei  Jahren  sind  40,000 
Schauspiele  verkauft  worden,  besser  gedruckt  und  mehr  gesucht 
als  Bibeln  und  Predigten.  Die  Schauspielbesucher  sind  nicht 
viel  besser  als  eingefleischte  Teufel ;  sie  befinden  sich  wenigstens 
auf  dem  breiten  Wege  der  Verdammniss,  gleich  denen,  welche 
jagen,  Karten  spielen  oder  Perrücken  tragen.  Und  doch  ist  ihre 
Zahl  so  gross,  dass  man  schon  eine  sechste  Teufelskapelle  in 
London  errichten  will,  während  Rom  zu  Nero's  Zeit  deren  nur 
drei  hatte." 

Aus  den  im  Vorstehenden  angeführten  Gründen  ist  es  klar, 
dass  Sh.  bei  seinen  Lebzeiten  nie  vollkommen  in  das  ßewusst- 
sein  der  Gesammtheit  seiner  Nation  eingedrungen  ist:  war  sein 
Name  auf  den  Lippen  gewisser  Klassen  des  Volkes  und  wurde 
er  von  diesen  hochgehalten,  so  war  er  einer  anderen  und  zwar 
der  grossen  Klasse  des  gebildeten  Mittelstandes  eben  nur  dem 
Klange  seines  Namens  nach  bekannt.  Denn  man  bemühte  sich, 
ihn  und  seine  Werke  überhaupt  nicht  kennen  zu  lernen,  was 
damals  leicht  war,  wo  dieselben  im  Druck  nicht  existirten,  und 
Avo  man  eine  Kenntniss  derselben  nur  durch  den  Besuch  der 
Theater  erlangen  konnte;  dieses  aber  erschien  Vielen  fast  einer 
Sünde  gleich  zu  sein,  wie  oben  gezeigt  worden.  Man  kann  al- 
lerdings wohl  annehmen,  dass  einzelne  Mitglieder  des  Adels, 
wie  unter  Andern  Graf  Southampton,  Sh.'s  mächtiger  und  fein- 

bekomnien  haben.  In  seiner  besten  Zeit  bezog  er  als  Dichter,  Schauspieler 
und  Theaterbesitzer  ein  jährliches  Einkommen  von  beinahe  400  Pfd.,  das 
einer  heutigen  Revenue  von  12000  Thlr.  vollkommen  gleich  zu  achten  sein 
möchte.    Drake,  IL  S.  233  etc.     Kreissig,  I.  P.  56. 


in  England,  Frankreich  und  Deutschland.  11 

gebildeter  Gönner,  etwas  Anderes  an  einer  Aufführung  dieser 
Werke  gefunden  haben  mögen,  als  eben  nur  eine  Unterhaltung 
ihre  müssigen  Stunden  auszufüllen,  aber  lesen  oder  gar  stu- 
diren  konnten  sie  dieselben  nicht,  weil  sie  ein  eifersüchtig  be- 
wachtes Eigenthum  der  Theaterbesitzer  waren  und  diese  durch 
die  Mittheilune:  derselben  möglichenfalls  eine  bedeutende  Ein- 
busse  in  ihren  Einnnahmen  erlitten  hätten. 

Ganz  ausser  Frage  war  dies  natürlich  bei  der  zweiten  Classe 
der  Zuhörer,  dem  niederen  Volke.  Da  dieses  übrigens  den  weit 
grösseren  Theil  der  Zuhörerschaft  bildete,  so  hat  man  geglaubt, 
dass  es  nahe  liege,  aus  dieser  Thatsache  zu  folgern,  dass  Sh. 
die  vielfachen  lockeren  Redensarten  und  Schilderungen  aus  dem 
Leben  des  Pöbels  nur  darum  in  seine  dramatischen  Werke  ein- 
geflochten habe,  weil  er  die  Ohren  dieser  seiner  Zuhörer  damit 
habe  kitzeln  wollen.  Dieser  Vorwurf  scheint  dem  oberflächlichen 
Kenner  Sh.'s  alsobald  sehr  einzuleuchten;  wer  sich  aber  die 
Mühe  gegeben  hat,  durch  ein  gründliches  Studium  seiner  Werke 
tiefer  in  sein  Wesen  einzudringen,  dem  wird  es  klar  werden, 
wie  sehr  eine  solche  Auffassung  den  Dichter  missversteht  und 
herabwürdigt.  Treffend  sagt  Herder  von  ihm:  „Seine  Seele  ist 
weit  wie  die  Welt,  sein  Schauplatz  ist  für  alle  Sitten  und  für 
alle  Völker.  Eine  ähnliche  Seele  gehört  auch  dazu  Sh.  zu  um- 
fassen und  wie  er  angewandt  sein  will  anzuwenden."  Nichts 
erscheint  ihm  gering,  Nichts  unbedeutend,  das  dazu  dienen  kann, 
den  Eindruck  eines  grossen  Ganzen  herzustellen,  er  weiss,  ein 
tiefer  Kenner  menschUcher  Verhältnisse  und  Schicksale,  sehr  wohl, 
dass  nicht  nur  das  Bedeutende,  das  Gewaltige  oder  das  Erha- 
bene die  eigenthümliche  Gestaltung  irgend  eines  Zeitraums  oder 
eines  Processes  in  dem  Leben  der  Nationen  wie  der  Einzelnen 
bedingt,  sondern  grosse  und  folgenschwere  Ereignisse  irp  äusse- 
ren Leben,  so  wie  tief  eingreifende  und  bestimmende  Wand- 
lungen in  der  Gestaltung  des  Innern  oft  an  geringen  Ursachen, 
an  kaum  merkbaren  Anstössen  hängen.  Es  stehe  hier  Sh.'s  eige- 
nes Wort  (Hamlet  Act  IIL  Sc.  H.):  „Es  war  von  Anfang  des 
Schauspiels  Zweck*  und  er  ist  es  noch  jetzt,  der  Natur  gleich- 


*  Wie    dies    auch   Goethe    gethan.     Vergl.    in    „Shakespeare  und  kein 
Ende"  seine  Bemerkungen  über  d.  Amme  und  Mercutio  in  Romeo  u.  Julie. 


12  Shakespeare's  Würdigung 

sam  den  Spiegel  vorzuhalten :  der  Tugend  ihre  eigenen  Züge, 
der  Schmach  ihr  eigenes  Bild  und  dem  Jahrhundert  und  Kör- 
per der  Zeit  den  Ausdruck  seiner  Gestalt  zu  zeigen." 

Als  im  Jahre  1660  die  Königs-Familie  der  Stuarts  zurück- 
gekehrt und  -wieder  in  ihre  Rechte  eingesetzt  worden,  war  es 
eine  der  ersten  INIaassnahmen  Königs  Karl  II.  die  Theater  in 
erhöhtem  Glänze  wiederherzustellen,  weil  ihm  den  Traditionen 
seiner  Familie  gemäss  eine  wohleingerichtete  Bühne  zur  Erhöhung 
des  Glanzes  des  königlichen  Hofes  nöthig  schien,  und  weil  er 
den  Puritanern  an  dieser  ihrer  besonders  wunden  Stelle  zeigen 
wollte,  dass  ihre  Herrschaft  jetzt  gänzlich  zu  Ende  sei.  Aber 
ach !  die  Generation,  die  den  Shakespeare'schen  Stücken  mit  lau- 
tem Beifall  zugejauchzt  hatte,  die  Cavaliere,  die  ihm  ihre  frohe 
Gunst  gezollt,  der  Pöbel,  der  sich  an  den  Ausfällen  und  Scher- 
zen seiner  Clowns  ergötzt,  waren  entweder  dahin,  oder  nach- 
dem die  Schrecken  des  Büro-erkrieges  über  das  Land  gezogen 
und  der  Protector  die  Kräfte  und  Talente  des  Volkes  in  neue 
Bahnen  gelenkt  hatte,  waren  sie  der  theatralischen  Darstellungen 
so  entwöhnt,  dass  fürs  Erste  die  Begünstigung  der  letzteren 
nur  vom  Hofe  ausgehen  konnte.  Aber  Karl,  der  seine  Er- 
ziehung und  mit  ihr  alle  das  spätere  Leben  bestimmenden  Ein- 
drücke in  Frankreich  erhalten  hatte,  so  wie  die  wenigen  Cava- 
liere, die  sich  aus  dem  Sturze  des  Königthums  mit  ihm  in  das 
gastliche  Land  gerettet,  hatten  zu  sehr  die  fianzösische  Art  zu 
denken  angenommen,  um  dem  von  Sh.  zur  Blüthe  erhobenen 
nationalen  Drama  wieder  Eingang  zu  verschaffen. 

Während  der  Zeit  ihres  Exils  wollte  man  in  Frankreich 
Aristoteles  und  seine  dramatischen  Regeln  neu  entdeckt  haben, 
jedes  dramatische  Erzeugniss  sollte  sich  nach  ihnen  in  der  Art 
wie  die  Franzosen  dieselben  auffassten  und  auslegten,  richten; 
eine  Folge  davon  war,  dass  die  englischen  Theater  mit  elen- 
den,  nach  französischem  Muster  angefertigten  Schau-  und  Sing- 
spielen,  die  aber  einen  grossen  Aufwand  von  Decorations  -  und 
sonstigen  Bühnencflecten  zuliessen,  überschwemmt  wurden,  ja 
dass  man  die  Shakespeare'schen  Stücke  grenzenloser  Verstösse 
gegen  die  aristotelischen  Regeln  zieh  und  dass  befangene  Schrift- 
steller,   selbst  Leute  von  Talent  wie  John  Dryden  viele  dersel- 


in  England,  Frankreich  und  Deutschland,  13 

ben  nach  ihrem  Belieben  ganz  umgestaheten,  d.  h.  nahezu  werth- 
lo9  machten.* 

Diese  für  nothwendig  eraclitete  Bearbeitung  Shakespeare'- 
scher  Stücke  führt  uns  auf  eine  weitere  Ursache,  welche  der 
Vernachlässigung  unseres  Dichters  zu  Grunde  liegt.  Es  ist  diese 
in  der  Natur  seiner  Werke  selbst  zu  finden.  Da  nämlich  auf 
der  einen  Seite  der  Geschmack  jenes  Zeitalters  sich  so  sehr  ver- 
ändert hatte,  dass  das  Volk  sein  eigenes  Leben  und  Schaffen 
in  den  Bildern,  die  Sh.  ihnen  vorführte,  nicht  mehr  erkennen 
konnte,  so  war  man  auf  der  andern  noch  nicht  so  weit  in  kri- 
tischem Verständniss  gediehen,  dass  man  von  Zeit  und  Gewohn- 
heit so  vollkommen  abstrahiren  konnte,  das  Grosse  und  Schöne 
in  ihnen  objectiv  zu  würdigen.  Man  konnte  sich  zu  jener  Zeit 
nicht  dazu  aufraffen,  das  Ausserordentliche  seines  Schaffens, 
die  Hohen  und  Tiefen  seines  mächtigen  Geistes  zu  erfassen, 
man  wollte  in  ihm  nur  den  Sohn  seiner  Zeit  erkennen  und  ver- 
gass  oder  erkannte  nicht,  dass  er  weit  über  dieselbe  und  die 
Scholle  der  vaterländischen  Erde  hinausreichte. 

Dryden,**  dessen  schon  oben  erwähnt  ward,  ein  Mann  von 
durchdringendem  Verstände  und  glänzenden  Geistesgaben,  aber 
ein  inconsequentor  Kritiker  und  characterlos  den  Zeitströmungen 
und  der  Geschmacksricbtuno;  des  Monarchen  fuliiend,  ein  Kunst- 
richter,  dessen  Urtheil  leider  den  grössten  Theil  der  Regierung 
Karls  II.  hindurch  als  maassgebend  angesehen  wurde,  erkannte 
Sh.'s  Grösse  wohl,***  aber  aus  serviler  Huldigunfj  des  Zeitire- 
schmacks  gab  er  vor,  dass  diese  Werke  völliger  Umarbeitung 
bedürften,  um  für  die  verfeinerte  Gesellschaft  jener  Tage  ge- 
niessbar  zu  werden,  und  warf  jene  traurigen  Machweike  auf 
das  Papier,  die  zum  Glück  längst  vergessen  sind,  obgleich  sie 
ihrem  Verfasser  nicht  verziehen  werden  können.  Und  leider  stand 
Dryden  hierin  nicht  allein,  auch  Schriftsteller  von  untergeord- 
neten poetischen  Gaben  zerstückelten  und  zerstörten  Sh.  auf 
c;anz  ähnliche  AVcise.    Selbst  ein  Mann  wie  der  berühmte  Heraus- 


*  So  wandelte  Dryden  Sh.'s  Anthony  and  Cleopatra  in:  All  für  love,  so 
auch  den  „Sturm"  in  eine  Art  Oper  um,  Davenaut  Mensure  for  measure  in: 
The  law  against  lovers  etc. 

**  Er  wurde  nach  Sir  W.  Davenant's  Tode  im  J.  16G8  „Poeta  laureatus." 

***  Vergl.  Dryden:  Essay  on  dramatic  poetry. 


14  Shakespeare's  Würdigung 

geber  des  Tatler  konnte  damit  zufrieden  sein,  einzelne  Cltate 
in  seiner  Zeitschrift  aus  Sir  W.  Davenant's  Bearbeitung  des 
Macbeth  zu  ziehen,  als  wenn  diese  eine  Verbesserung  wäre, 
und  Lord  Shaftesbury,  der  feingebildete  und  geistreiche  Staats- 
mann und  Schriftsteller  konnte  noch  zu  Anfang  des.  vorigen 
Jahvluinderts  sich  zu  keinem  besseren  Urtheil  über  Sh.  beg:ei- 
stern,  als  zu  der  Klage  über  seinen  „rüde  unpolished  style  and 
his  antiquated  phrase  and  wlt."  Wer  sieht  nicht  hierin  den 
Einfluss  des  französischen  Geistes,  der  auch  bei  uns  so  lange 
dem  Verständniss  des  englischen  Dichters  sich  entgegen- 
stellte. Es  war  hier  nichts  Geringeres  nöthig  als  ein  gänzlicher 
Umschwung  in  der  Denkweise  und  eine  Läuterung  der  Grund- 
sätze der  Kritik,  wie  sie  sich  in  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen 
Jahrhunderts  vollzog.  Damals  erst  erkannte  man  die  mächtigen 
Adern  reinen  Goldes,  die  sich  durch  Sh.'s  Werke  hinziehen, 
man  wurde  aber,  als  man  ihren  Reichthum  wahrgenommen,  der 
mühsamen  und  angestrengten  Arbeit  sich  bewusst,  die  nöthig 
wäre,  diesen  Schatz  zu  heben,  und  unablässig  hat  man  seitdem 
an  ihm  gefördert. 

Die  oben  angeführten  Gründe  sind  hinreichend  zu  erklären, 
warum  Sh.  sich  der  Kenntniss  der  grossen  Zahl  seiner  Lands- 
leute fast  hundert  der  auf  seinen  Tod  folgenden  Jahre  hindurch 
entzog,  es  wäre  jedoch  ein  Irrthum  anzunehmen,  dass  man  ihn 
während  dieser  Zeit  gänzlich  vergessen  habe.  Die  fünfmaligen 
Ausgraben  seiner  Werke  innerhalb  dieses  Zeitraums  bis  zum 
Jahre  1709  beweisen  dies  zur  Genüge,  derselbe  war  aber  iiöchst 
imgünstig  für  die  Verbreitung  literarischer  Erzeugnisse  in  Eng- 
land, selbst  derer,  die  zu  ganz  anderen  Gebieten  zählten  als 
dem  der  Dichtkunst.  Denn  vor  Allem  waren  Bücher  zu  jener 
Zeit  theuer  und  die  grosse  Masse  des  Volkes  auch  der  elemen- 
tarsten Bildung  fremd,  ferner  aber  traten  in  der  Hauptstadt  des 
Landes,  auf  die  sich  die  vorhandene  fast  allein  concentrirte, 
zwei  für  die  Verbreitung  von  Büchern  verhängnissvolle  Ereig- 
nisse auf,  das  grosse  Feuer  des  Jahres  1666,  welches  einen  sehr 
grossen  Theil  des  damaligen  London  in  Asche  legte  und  in  dem 
alier  Wahrscheinlichkeit  nach  viele  der  ersten  Ausgaben  der 
Shakespeare'schen  Werke  vernichtet  worden  sind,  und  die  Pest 
im  Jahre  1667,   welche  die  Einwohner  decimirte  und  ihnen  auf 


in  England,  Frankreich  und  Deutschland.  15 

die  zunächst  folgenden  Jahre  ausschliesslich  die  Sorge  für  das 
allernothwendigste  des  Lebens  nahelegte. 

Shakespeare  starb  im  Jahre  1616  und  sieben  Jahre  nach 
seinem  Tode,  1623,  erschien  die  erste  von  den  Schauspielern 
Heminge  und  Condell,  seinen  Freunden  und  Testamentsvoll- 
streckern, besorgte  Ausgabe  (editio  princeps)  seiner  Werke  in 
Folio-Format.  Diese  beiden  Männer  waren  mit  Sh.  zusammen 
Besitzer  des  Globe-Theaters,  und  da  sie  bei  seinen  Lebzeiten 
in  einem  freundschaftlichen  Verhältniss  mit  ihm  gestanden  hat- 
ten, so  ist  wohl  anzunehmen,  dass  er  ihnen  die  Erlaubniss  er- 
theilt  habe,  nach  seinem  Tode  zu  geeigneter  Zeit  seine  Werke 
herauszugeben,  was  er  selbst,  sei  es  aus  übergrosscr  Beschei- 
denheit, sei  es  weil  er  einen  Verlust  an  Geld  bei  diesem  Un- 
ternehmen fürchtete  —  denn  er  musste  den  Erfolg  oder  Kicht- 
Erfolg  desselben  am  besten  beurtheilen  können,  —  unterlassen 
hatte.  Schauspieldichter  verkauften  zu  jener  Zeit  ihre  Werke 
meist  ein  für  allemal  an  die  Besitzer  der  Theater  —  ob  nur  an 
die  zeitweiligen  Besitzer  oder  das  Theater  als  Institut  ist  nicht 
o-enügend  klar,  —  und  konnten  daher  ohne  deren  Erlaubniss 
dieselben  nicht  dem  Druck  übergeben;  auch  dies  mag  zur  Er- 
klärung der  Thatsache  dienen,  dass  Sh.  selbst  nicht  eine  Heraus- 
gabe seiner  Werke  besorgte  und  dass  ein  Abkommen  wie  das 
obige  zwischen  dem  Dichter,  zugleich  aber  Mitbesitzer  des  Thea- 
ters und  den  Ilauptbesitzern  aller  Wahrscheinlichkeit  getroffen 
wurde.  Es  scheint  jedoch  aus  der  Vorrede  zu  dieser  Ausgabe 
hervorzugehen,*  dass  Sh.  selbst  die  Absicht  gehabt  habe,  am 
Abend  seines  Lebens  sich  der  Durchsicht  seiner  Manuscripte  zu 
unterziehen;  sein  früher  Tod  im  kaum  vollendeten  53.  Lebens- 
jahre verhinderte  ihn  daran.  Selten  aber  sind  Versprechungen 
bei  der  Ankündigung  eines  Werkes  gemacht,  welche  weniger 
treu  gehalten  wurden  als  diejenigen,  welche  mit  grosser  Zu- 
versicht hier  vorgetragen  werden  :**  denn  es  ist  in  dieser  Samm- 


*  Es  heisst  darin:  It  had  been  a  thing,  we  confess.  worthy  to  liave  heen 
wished,  that  the  autlior  biinself  had  lived  to  have  set  forth  and  overseen  bis 
own  writings ;  but  since  it  hath  been  ordained  otherwise,  and  he  by  death 
departed  from  that  right  we  pray  you  do  not  envy  his  friends  the  office  of 
their  care  and  pain  to  have  collected  and  published  them  —  **  and  so  to 
have  published  them,  as  where  (before)  you  were  abused  with  diverse  stolen 
and  surreptious  copies,  maimed  and  deformod  by  the  frauds  and  stealths  of 


jg  Shakespeare's  Würdigung 

lung  kaum  eine  Zeile  zu  finden,  die  nicht  einen  groben  gram- 
matischen, orthographischen  oder  sinnentstellenden  Fehler  auf- 
zuweisen hätte,  Fehler,  die  theila  aus  der  Nachlässigkeit  und 
dem  Mangel  an  Bildung  Seitens  der  Herausgeber,  theils  aus 
Fahrliissio-keit  des  Setzers  und  aus  Nachlässigkeit  bei  der  Cor- 
rectur  entstanden  sind. 

So   erhielt   die   Nachwelt  Sh.'s  Werke   in  einer  Form,    die 
unmöglich  zum  Studium  derselben  reizen  und  irgend  einen  Ge- 
nuss  gewähren  konnte.     Man  wies    sie  als  unverständliche   und 
verworrene  Compositionen    zurück,    und   in  diesem  Grunde  mag 
das    oben  angeführte  Urtheil   des  Lord  Shaftesbury  wohl   seine 
Erklärung    finden.     Die  Zeitgenossen  Sh.'s  aber,   die   ihn  über- 
lebten  und  jene  Folianten    aufschlugen,    um    sich    in    der  Erin- 
nerung an  die  Glanzzeit  der  Theater  zu  ergehen,  in  der  sie  der 
Auff'ührung  der  Stücke  mit  Vergnügen  gelauscht,    mussten  die- 
selben  enttäuscht  wieder  aus  den  Händen  legen,    denn  die  feh- 
lerhaften  und  unverständlichen  Zeilen  spiegelten    ihnen  die  Ge- 
müthsbewegungen  nicht  zurück,  die  sie  einst  bei  der  Aufführung 
empfunden  hatten.    Der  traurige  Zustand  dieser  ersten  Sh.-Aus- 
o-abe    hat    vielleicht    mehr    als    irgend    etwas  Anderes  dazu    bei- 
getragen seine  Werke  lange  der  Geringschätzung  anheimzugeben  ; 
dersetbe  Umstand    aber    ist  es,    der  auch    das  Interesse   an    der 
beständigen    Verbesserung    derselben,    um    sie    endlich    makel- 
los   wiederherzustellen,    zwei   Jahrhunderte    hindurch    wach    er- 
halten hat. 

Die  zweite  Folio-Ausgabe,  ein  Abdruck  der  ersten,  erschien 
im  Jahre  1632,  die  dritte  Ausgabe  1664,  die  vierte  1685 ;  die 
Zahl  der  Abdrücke  dieser  verschiedenen  Ausgaben  ist  leider 
unbekannt  geblieben. 

Im  Jahre  1709  endlich  trat  Nicholas  Rowe  mit  einer  ver- 
besserten Octav-Ausgabe  der  Shakespeare'schen  Werke  auf,  die 
einen  bedeutenden  Fortschritt  bezeichnet  und  dieselben  überhaupt 
erst  lesbar  machte,  und  von  dieser  Zeit  an  beginnt  die  schnelle 
Folge  der  Ausgaben,  die  bis  in  unsere  Zeit  zu  einer  ungemein 
grossen  Zahl   angewachsen   sind.      So   erschienen  während   des 


injarious  impostors,  that  expose-l  them:  even  those  are  now  offered  to  your 
View  cured  and  perfect  of  their  limbs,  and  all  the  rest,  absolute  m  their 
numbers,  as  he  conceive'l  them. 


in  England,  Frankreicb  und  Deutschland.  17 

achtzehnten  Jahrhunderts  im  J.  1725  eine  Quart-Ausgabe  von 
Pope  mit  einer  werthvolien  Vorrede  und  einer  Sammlung  der 
bisherigen  bedeutenderen  Kritiken  versehen,  doch  mit  willkürlich 
verändertem  Texte,  im  Jahre  1733  eine  solche  von  Theobald, 
in  Bezug  auf  Correctheit  des  Textes  die  beste  der  bis  dahin 
erschienenen,  im  J.  1774  die  Oxford-Ausgabe  von  Hanmer, 
1747  von  Pope  und  Warburton,  1753  von  Hugh  Blair,  1765 
von  Dr.  Johnson,  1766  von  Steevens,  1773  von  Johnson  und 
Steevens,  1790  von  Malone  etc. 

Im  Jahre  1693  leistete  ein  gewisser  Rymer  den  Werken 
Sh.'s  den  unfreiwilligen  Dienst,  dui'ch  eine  schnöde  Kritik  der- 
selben die  Aufmerksamkeit  eines  grösseren  Publicums  auf  sie 
hinzulenken.  Sein  Urtheil  ist  jedoch  nur  bemerkenswerth  durch 
die  Verkehrtheit  desselben  und  durch  die  Bitterkeit,  die  er  aus 
Lust  an  Widerspruch  gegen  die  durch  Betterton's  Spiel  noch 
immer  hin  und  wieder  mit  rauschendem  Beifall  begrüssten  Stücke 
ausü'iesst.  Er  o-ab  aber  doch  den  Anstoss  zu  näherer  kritischer 
Untersuchung  derselben,  so  ungünstig  sie  auch  zu  jener  Zeit 
ausfallen  mochte,  wo  man  noch  immer  mit  den  französirten  Re- 
geln des  Aristoteles  wie  mit  der  Elle  messen  wollte.  Ein  gün- 
stigeres Urtheil  über  dieselben  wagten  die  damals  nach  und  nach 
entstehenden  viel  gelesenen  Wochenblätter,  hauptsächlich  der 
Tatler  imd  Spectator,  zu  fällen: 

Einen  weit  grösseren  Einfluss  auf  die  Wiedereinführung 
Sh.'s  in  die  Herzen  des  Volks  als  ihn  diese  häufigen  Ausgaben 
seiner  Werke  und  diese  Kritiken  gehabt,  äusserten  die  unüber- 
trefflichen Darstellungen  Siiakespeare'scher  Charactere  gegen 
Ende  des  17.  und  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  durch  Betterton 
und  besonders  seit  1741  durch  David  Garrick.  Wie  überhaupt 
dramatische  Werke  ihrer  Natur  nach  eine  ergreifende  Wirkung 
in  der  scenischen  Darstellung  äussern  sollen,*  ist  früher  an- 
erkannt worden,    wie    es  noch  jetzt  anerkannt  wird,**  dass  von 


*  Vergl.  Johnson's  Vorrede  zu  s.  Sh.-Ausgabe  wo  er  sagt:  His  language 
not  beinji  designed  for  the  reader's  desk  was  all  he  desired  it  to  be,  if  it 
conveyed  his  meaning  to  the  audience. 

*•  Gervinus  sagt  darüber  Th.  II,  S.  490:  Ein  ganz  Wesentliches  zu  der 
ideellen  Wirkung  eines  Shakespeare'schen  Dramas  thut  die  Aufführung; 
durch  sie  erst  kommt  die  ganze  Macht  des  Dichters  zu  Tage  etc.  AVir  wer- 
den von  der  Aufführung  gezwungen,  nicht  wie  beim  Lesen  auf  Worten  zu 
Archiv  f.  n.  Sprachen.  XLVIU.  2 


18  Shakespeare's  Würdigung 

den  Dramen  der  Neueren  dieser  allgemeine  Ausspruch  auf  Sh. 
am  meisten  Anwendung  findet;  er  ist  so  frisch  und  lebenswahr, 
dass,  um  ihn  recht  zu  erfassen,  man  das  natürliche  Bild  des 
Lebens  und  Handelns,  das  er  uns  darstellen  will,  an  sich  vor- 
beiziehen lassen  muss.  Dies  erklärt  zur  Genüge  den  gewaltisren 
Umschwung,  den  Garrick's  Darstellungen  in  der  damaligen 
Schätzung  Sh.'s  hervorriefen.  Garrick  hatte  das  richtige  Gefühl 
und  besass  den  tiefen  Einblick  in  die  Eigenthümlichkeiten  seiner 
Landsleute,  dass  er  zur  Hervorrufung  grösserer  Begeisterung 
für  Sh.  den  Erfolg,  den  er  durch  seine  Darstellungen  errungen, 
durch  eine  öflfentliche  glänzende  Demonstration  zu  krönen  be- 
schloss,  und  so  entstand  auf  sein  Betreiben  die  grosse  Feier, 
das  „Jubilee"  zu  Stratford  on  Avon,  Sh.'s  Geburtsort,  am  6. 
September  1769,  also  ohngefähr  200  Jahre  nach  des  Dichters 
Geburt.  Es  war  dies,  obwohl  nach  unserem  Geschmacke  nicht 
so  recht  sinnig  arrangirt,  der  englischen  Art  der  Demonstration 
aber  vollkommen  angepasst,  das  grosse  Versöhnungsfest  der 
Nation  mit  ihrem  so  lange  verkannten  und  vernachlässigten  Dich- 
ter  und  der  eigentliclic  Zeitpunkt,  von  dem  an  der  Strom  der 
Sh. -Verehrung  und  des  Sh.-Studiums  immer  mächtiger  anschwoll 
und  unaufhaltsam  fortströmte. 


weilen,  sondern  auf  dem,  was  das  Schauspiel  darstellen  will,  auf  der  Hand- 
lung etc.  Sh.'s  Werke  sollten  streng  genommen  durchaus  nur  durch  Auf- 
führung verständlich  gemacht  werden.  Denn  dafür  und  dafür  uliein  sind 
sie  geschrieben  worden;  die  Trennung  der  dramatischen  Dichtung  von  der 
Schauspielkunst,  durch  die  bei  uns  beide  Künste  gelitten  haben,  bestand  in 
Sh.'s  Zeiten  nicht.  Die  Hauptschwierigkeit  des  Verständnisses  seiner  Stücke 
liegt  auch  nur  darin,  dass  wir  sie  lesen  und  nicht  sehen.  Denn  vollgedrängt 
wie  sie  sind  von  dichterischen  Schönheiten,  von  psychologischer  Charac- 
teristik,  von  moralischer  Lebensweisheit,  von  Beziehungen  und  Anspielungen 
auf  Zeitverhältnisse  und  Personen,  zerstreuen  sie  die  Aufmerksamkeit  auf 
die  verschiedensten  Puncte  und  lassen  schwer  zur  Zusammenfassung  des 
Ganzen  und  schwer  zu  seinem  leichten  Genüsse  gelangen.  Wenn  sie  aber 
dargestellt  werden  von  Schauspielern,  die  dem  Dichter  gewachsen  sind,  so 
tritt  eine  Arbeitseintheilung  ein,  die  uns  durch  Einschreiten  einer  zweiten 
Kunst  die  erste  zum  leichteren  Genüsse  vermittelt.  Die  Spieler,  die  ihre 
Rollen  begriffen  haben,  überheben  uns  jener  erschwerenden  Mühe  beim  Le- 
sen, vielleicht  zwanzig  verschiedene  Charactere  auseinander  zu  halten,  und 
in  sich  in  ihrem  gegenseitigen  Verhältnisse  zu  verstehen.  Erscheinung,  Spra- 
che, Benehmen  des  einzelnen  Spielers  erklären  uns  mühelos  wie  im  Gemälde 
die  Figuren  und  Hebel  der  Handlung;  sie  geben  uns  die  feinsten  Fäden 
durch  deren  Verwickelungen  an  die  Hand  und  leiten  uns  zu  dem  Innersten 
und  Ailerheiligsten  des  Kunstbaues  auf  ebnerem  Wege.  Gervinus,  l'h.  I, 
S.  26  u.  27. 


in  England,  Frankreich  und  Deutschland.  19 

Wie  gross  der  EInfluss  Garrick's  auch  auf  Deutschland 
war,  ist  daraus  abzunehmeu,  dass  in  demselben  Jahre  1741,  in 
dem  dieser  Schauspieler  zuerst  in  dem  kleinen  Theater  von 
Goodman's  fields  in  London  in  der  Holle  Richards  III.  auftrat 
und  seine  Zuhörer  zu  Schauer  und  Thränen  hinriss,  Ritter  W. 
von  Borck,  der  zur  Zeit  preussischer  Gesandter  in  London  war, 
ohne  Zweifel  weil  auch  er  das  mächtiof  Ergreifende  des  Sh.- 
Geistes  in  ebenbürtiger  Darstellung  erfahren  hatte,  die  erste 
üebersetzung  eines  vollständigen  unverfälschten  Trauerspiels 
von  Sh.,  den  Julius  Caesar,  herausgab. 

Es  waren  allerdings  schon  vor  dieser  Zeit  einzelne  Bruch- 
stücke und  selbst  ganze  Dramen  von  Sh.  nach  Deutschland 
hinübergebracht  und  in  der  bekannten  Sammlung  der  „Wiener 
Ifaupt-  und  Staatsactionen"  veröffentlicht  worden,  aber  in  einer 
so  entstellten  Form,  dass  wenn  nicht  Namen  und  einzelne  Theile 
der  Handlung  einen  Anhaltepunkt  gewährt  hätten,  man  Sh.  nim- 
mermehr daraus  würde  erkannt  haben,  wie  denn  auch  des  Dich- 
ters Name  aus  nahelieo-enden  Gründen  verschwiegen  worden 
war.  Diese  Stücke  und  Bruchstücke  rührten  von  englischen 
Schauspielern  her,  die  gegen  das  Ende  des  sechszehnten  Jahr- 
iiunderts  ihren  Weg  über  Holland  nach  Norddeutschland  und 
den  Rhein  hinauf  nach  Süddeutschland  fanden.  Es  können  die- 
ser Stücke  aber  nur  wenige  gewesen  sein  und  man  kann  sich 
nicht  darüber  wundern,  dass  diese  von  den  enghschen  Schau- 
spielern selbst  in  der  höchsten  Verunstaltung  aufgeführt  worden 
sind,  da,  Avie  oben  angeführt,  dramatische  Werke  Eigenthum 
der  Theaterbesitzer  waren  und  letztere  natürlich  mit  Argus-Augen 
über  ihrem  Schatze  wachten,  damit  nicht  andere  Gesellschaften 
sich  der  Stücke  bemächtigten  und  iene  zur  Erreichung  grösserer 
Erfolge  allein  auf  die  Tüchtigkeit  ihrer  Schauspieler  angewiesen 
gewesen  wären.  Es  waren  daher  diesen  englischen  Schauspie- 
lern ältere  Stücke  weit  eher  zugänglich,  welche  als  veraltet  von 
den  Theater-Directoren  den  Buchhändlern  übergeben  worden, 
oder  wenigstens  handschriftlich  leichter  zu  erlano-en  waren  als 
die  Shakespeare's,  aus  deren  ausschliesslichem  Besitz  die  Di- 
rectorcn  des  „Globe"  gerade  zu  jener  Zeit  bedeutende  Reich- 
thümer  zogen.  Diejenigen  derselben  daher,  die  in  Deutschland 
zur  Aufführung  gelangten,  müssen  durch  Nachschreiben  bei  der 

2* 


20  Shakespeare's  Würdigung 

Darstellung,  durch  fragmentarische  Mittheilungen  von  Personen, 
welche  dem  Theater  nahe  standen,  oder  auf  ähnliche  Weise  zu- 
sammengestellt worden  sein. 

Schon  im  Jahre  1620  erschien  ein  Band  von  Verdeutschungen 
unter  dem  Titel :  „Englische  Komödien  und  Tragödien,  wie  sie 
von  den  Engländern  in  Deutschland  an  königlichen,  kur-  und 
fürstlichen  Höfen,  auch  in  vornehmen  Reichs-,  See-  und  Han- 
delsstädten agieret  und  gehalten  worden,"  in  dem  sich  zwei 
Stücke  befinden,  die  entschieden  an  die  „beiden  Veroneser"  und 
das  Sh.  von  Vielen  zugeschriebene,  richtiger  aber  überarbeitete 
Stück  „Titus  Andronicus"  erinnern,  wie  Tieck  gezeigt  hat.* 
Das  erste  grössere,  leicht  erkennbare  Bruchstück  eines  der 
Shakespeare'schen  Werke,  das  in  deutschem  Gewände,  allerdings 
ganz  umgearbeitet,  bekannt  geworden,  ist  die  Episode  der  Hand- 
werker-Comödie  im  Sommernachtstraum.  Sie  ist  verflochten  in 
das  Lustspiel  von  Gryphius:  Absurda  comica  oder  Herr  Peter 
Squenz,  in  dem  Herr  Squenz  der  Pedant  die  Hauptrolle  spielt. 
das  um  die  Mitte  des  siebenzehnten  Jahrhunderts  erschien.  Ob 
der  Sommernachtstraum  als  Ganzes  von  den  englischen  Schau- 
spielern nach  Deutschland  gebracht  worden  sei,  oder  nur  diese 
Episode  allein,  wie  sie  in  England  von  Cox  bearbeitet  um  die- 
selbe Zeit  unter  dem  Titel :  „The  merry  conceited  humours  of 
Bottom  the  weaver"  bekannt  war,  ist  nicht  erwiesen,  jedenfalls 
ist  sie  doch  auf  das  (englische)  Shakespeare'sche  Stück  zurück- 
zuführen. 

Wir  wissen  genau,  dass  ausser  dieser  Episode  drei  Shake- 
speare'sche Dramen  früh  ihren  Weg  nach  Deutschland  gefunden 
haben  und  in  deutschen  Uebertraguno-en  von  deutschen  Wander- 
truppen  aufgeführt  wurden;  es  sind  dies  „Romeo  und  Julie," 
das  unter  dem  Namen  „Romeo  und  Julieta"  nicht  zu  verkennen 
ist,  wie  Ed.  Devrient,  der  es  aufgefunden,^*  durch  Auszüge 
daraus  hinlänglich  gezeigt  hat,  ferner  Hamlet,  der  unter  dem 
Titel:  „Eine  Tragödie,  der  bestrafte  Brudermord  oder  Prinz 
Hamlet  von  Dänemark"  unter  des  Schauspielers  Eckhoflf  Nach- 


Vergl.  Tieck,  Deutsches  Theater  I,  S.  27  etc. 
*"  Vergl.  Devrient,  Geschichte  d.  deutschen  Schauspielkunst  I,  S.  289  ff. 


in  England,  Frankreich  und  Deutschland.  21 

lass  gefunden  und  aus  dem  im  Gothaischen  Theater-Kalender 
von  1779  ein  Auszug  verofFcntlicht  wurde,  und  zuletzt  der  Kauf- 
mann von  Venedig.  Die  beiden  letzteren  scheinen  jedoch  etwas 
später  übertragen  worden  zu  sein  als  das  erste,  das  schon  in 
der  zweiten  Hälfte  des  siebenzehnten  Jahrhunderts  durch  deutsche 
Schauspieler  zur  Aufführung  gelangt  sein  muss.  Üebrigens 
sollen  nach  Fr.  Thimm's  Angabe  schon  im  Jahre  1614  Hand- 
schriften von  Romeo  u.  Julie,  Hamlet  und  Ben  Jonson's  Vol- 
pone,  die  in  der  Züricher  Bibliothek  aufgefunden  worden  sind, 
von  Joh.  R.  Hess,  nachmaligem  Senator  in  Zürich,  aus  England 
gebracht  worden  sein. 

Da  bei  den  deutschen  Bearbeitungen  der  genannten  Stücke 
die  Quelle,  aus  der  sie  geschöpft  waren,  verschwiegen  worden, 
so  Avar  Sh.'s  Name  in  Deutschland  noch  immer  unbekannt,  als 
Spätere,  z.  B.  Dryden,  der  17  Jahre  nacli  Sh.'s  Tode  geboren 
wurde,  sich  der  Kenntniss  deutscher  Literar-Historiker  bereits 
dargeboten  hatten.  Die  erste  Erwähnung  des  Namens  Sh.  ge- 
schieht, soAveit  bis  jetzt  bekannt,  in  einem  im  Jahre  1682  er- 
schienenen Buche  von  Georg  Daniel  Morhof,  der  in  seinem 
„Unterricht  von  der  deutschen  Sprache  undPoesie" 
sao-t:  „John  Dryden  hat  gar  wohl  gelehrt  von  der  dramatica 
poesi  geschrieben.  Die  Engelländer,  die  er  hierinnen  anführet, 
sind  Shakespeare,  Fletcher  und  Beaumont,  von  welchen  ich 
nichts  ofesehen  habe."  Eine  zweite  Notiz  über  ihn  findet  sich 
erst  iu  den  im  Jahre  1708  erschienenen  „Gedanken  von  der 
Oper"  von  Berthold  Feind,  und  zwar  in  folgender  Stelle:  M.  le 
Chevalier  Temple  in  seinem  Essai  de  la  poesie  erzählet  p.  374, 
dass  etliche,  wenn  sie  des  rennomierten  englischen  Tragioi 
Shakespeare  Trauerspiele  verlesen  hören,  oft  lautes  Halses  an 
zu  schreien  gefangen  und  häufige  Thränen  vergossen."  Bald 
darauf  erwähnt  Bentheim  in  seinem  „englischen  Schul  und  Kir- 
chenstaat" (Kap.  29)  Shakespeare  folgendermassen :  „William 
Shakespeare  kam  zu  Stratford  in  Warwickshire  auf  die  Welt. 
Seine  Gelehrsamkeit  war  sehr  schlecht,  und  daher  verwunderte 
man  sich  um  desto  mehr,  dass  er  ein  fürtrefflicher  poeta  war. 
Er  hatte  einen  sinnreichen  Kopf,  voller  Scherz,  und  war  in 
Tragödien  und  Comödien  so  glücklich,  dass  er  auch  einen  He- 


22  SLake.^peare's  Würdigung 

raclitum    zum  Lachen  und  einen  Democritum  zum  Weinen  be- 
wegen konnte."* 

Von  dieser  Zeit  an  bis  zum  Jahre  1740  findet  man  Shake- 
speare's  Namen  in  keinem  deutschen  Werke.  In  dem  bezeich- 
neten Jahre  aber  erwähnt  Bodmer  eines  englischen  Dichters, 
den  er  Saspar  und  bald  darauf  in  den  „Betrachtungen  über  die 
poetischen  Gemälde"  Sasper  nennt,**  worunter  Shakespeare  zu 
verstehen  ist.  Die  sonderbare  Orthographie  hatte  er  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  einer  falschen  Aussprache  oder  Abkürzung 
des  Namens  nachgebildet. 

Als  aber  im  Jahre  1741  des  Ritters  von  Borck  Ueber- 
setzunjr  des  Julius  Caesar  erschienen  war  und  somit  das  Pu- 
blicum  zum  ersten  jNIale  ein  Shakcspeare'sches  Trauerspiel  voll- 
ständig in  ziemlich  gelungener  Uebersetzung,  (sie  war  in 
Alexandrinern,  einer  damals  durch  die  französischen  Classiker 
den  Deutschen  geläufig  gemachten  Versart  geschrieben,)  lesen 
konnte,  da  glaubte  Gottsched,  als  wenn  er  ahnte,  dass  der  kri- 
tischen Zwingburg,  die  er  mühsam  und  unter  grosser  Anstrengung 
in  langen  Jahren  aufgebaut  hatte,  und  vor  der  sich  alle  Kritiker 
seiner  Zeit  ehrfurchtsvoll  neigten,  Gefahr  drohe,  mit  scharfem 
Tadel  o-egen  diese  Uebersetzung  zu  Felde  ziehen  zu  müssen. 
Die  auf  dieselbe  bezügliche  Stelle  in  den  Beiträgen  zur  kriti- 
schen Historie  der  deutschen  Sprache,  Poesie  und  Beredsamkeit 
lautet  folgendermassen:  „Die  Uebersetzimgssucht  ist  so  stark 
unter  uns  eingerissen,  dass  man  ohne  Unterschied  Gutes  und 
Böses  in  unsere  Sprache  bringt;  gerade  als  ob  alles,  was  aus- 
ländisch ist,  schön  und  vortrefflich  wäre  und  als  ob  wir  nicht 
selbst  schon  bessere  Sachen  aus  den  eigenen  Köpfen  unserer 
Landsleute  aufzuweisen  hätten.  Die  elendeste  Haupt-  und 
Staatsaction  unserer  gemeinen  Comödianten  ist  kaum  so  voll 
Schnitzer  und  Fehler  wider  die  Regeln  der  Schaubühne  und 
gesunden  Vernunft  als  dieses  Stück  Shakcspeare's  ist.  Der 
Herr  Uebersetzer  also,  wenn  er,  wie  er  drohet,  noch  mehr  über- 


*  Vergl.  Eschenburg-,  Ueber  Shakespeare  1787.  p.  498. 

**  Dass  Shakespeare  unter  diesem  Namen  gemeint  sei,  geht  aus  zwei 
Stellen  der  oben  angeführten  Abhandlung  hervor,  von  denen  die  eine  sich 
auf  des  Theseus  Beschreibung  seiner  Hunde  im  Sommernachtstraura  (Act  4, 
Sc.  2),  die  andere  sich  auf  die  Erscheinung  des  Geistes  im  Hamlet  bezieht. 
Q{.  Krit.  Betrachtungen  üb.  d.  poet.  Gemälde.  S.  170  u.  593. 


in  England,  Frankreich  und  Deutschland.  23 

setzen  will,  beliebe  sich  unmassgeblich  bessere  Urschriften  zu 
wählen,  womit  er  unsere  Schaubühne  bereichern  will,  ehe  er 
sich  diese  Mühe  giebt,  sonst  '\\ird  ihm  Deutschland  keinen 
grösseren  Dank  dafür  wissen,  als  unseren  Komödianten,  die 
uns  auch  eine  Menge  Stücke  aufFühren,  die  sie  aus  allen  kleinen 
Geistern  der  Franzosen  übersetzet,  die  von  ihren  eigenen  Lands- 
leuten ausgezischet  und  verworfen  werden." 

Noch  in  demselben  Jahre  und  in  derselben  Zeitschrift  er- 
schien eine  Vergleichung  Sh.'s  mit  Grjphius  von  Joh.  Elias, 
dem  Bruder  von  Joh.  Heinrich  Schlegel.  Abgesehen  von  der 
nach  unserer  heutigen  Schätzung  höchst  sonderbaren  Wahl  der 
zu  vergleichenden  Dichter,  muss  man  Joh.  Elias  Schlegel  die 
Gerechtigkeit  widerfahren  lassen,  zu  sagen,  dass  er  nach  dem 
Stande  der  dramatischen  Kritik  seiner  Zeit,  bei  den  herrschenden 
Vorurtheilen  zu  Gunsten  des  französischen  Classicismus  ein 
recht  gesundes  und  freimüthiges  Urtheil  über  Shakespeare  ge- 
fällt hat,  das  erste  in  Deutschland,  das  diesen  Namen  überhaupt 
verdient.  Er  betonte  darin  besonders  Sh.'s  ausserordentliche 
iMeisterschaft  in  der  Zeichnung  der  Charactez'e,  und  den  rich- 
tigen Ausdruck,  den  er  den  Gefühlsbewegungen  leihe  im  Gegen- 
satz zu  Gryphius,  dessen  dramatische  Oeconomie  er  dagegen 
über  der  Sh.'s  lobend  erhob.  Auch  ihm  war  die  ewig  wieder- 
holte und  bis  zum  Ekel  angepriesene  Einheit  des  Orts,  der  Zeit, 
der  Handlung  nach  den  französischen  Mustern  unumstösslichcs 
Gesetz  und  er  konnte  bei  aller  richtigen  Würdigung  Sh.'s  im- 
mer noch  nicht  über  den  scharfen  Stein  des  Anstosses,  dass 
Sh.  dieselbe  nicht  beobachtet,  hinweg.  Man  darf  ihm  wohl  ver- 
zeihen, dass  er  in  den  Fehler  verfiel,  in  den  häufig  in  die  Sh.'schen 
Stücke  eingeflochtenen  Scenen  aus  dem  Volks  -  und  Alltagsleben 
eine  Abschw-ächung  der  durch  die  pathetischen  Stellen  hervor- 
gerufenen Regungen  zu  sehen ;  es  ist  dasselbe  von  späteren 
Kunstrichtern,  die  mit  weit  mehr  Praetensionen  auftraten,  be- 
ständig nachgebetet  worden,  bis  Gervinus  endlich  in  schlagender 
und  geistvoller  Ausführung  den  ächten  poetischen  Werth  dieser 
Episoden  kennen  und  würdigen  lehrte. 

Es  stehe  hier  noch  ein  zweites  Urtheil  über  Sh.  aus  jener 
Zeit,  das  Gottsched  fällte,  dessen  Aussprüche  ja  damals  auch 
dem  grossen  gebildeten  Publicum  Orakelsprüche  waren,  weil  es 


24  Sliakespeare's  Würdigung 

in  schlagender  Weise  den  Contrast  der  vor  100  Jahren  aus- 
geübten Sh. -Kritik  und  der  jetzigen  darstellt.  Gottsched  sagt 
von  einem  Aufsätze  in  dem  englischen  Blatte  The  Spectator, 
in  dem  Sh.'s  Regellosigkeit  als  durch  die  vielfachen  Schönheiten 
in  seinen  Werken  vollkommen  aufgewogen  erklärt  wurde:  „Das 
klingt  nun  recht  hoch,  und  w^er  von  Sh.'s  Sachen  nichts  gelesen 
hat,  der  sollte  fast  denken,  es  müsste  doch  wohl  recht  was 
Schönes  sein,  welches  den  Abgang  aller  Regeln  so  leichtlich 
ersetzen  kann.  Allein  man  irrt  sich  sehr.  Die  Unordnung  und 
UnWahrscheinlichkeit,  welche  aus  dieser  Hintansetzung  der  Re- 
geln entspringen,  die  sind  auch  bei  dem  Sh.  so  handgreiflich 
und  ekelhaft,  dass  wohl  Niemand,  der  nur  je  etwas  Vernünf- 
tiges gelesen,  daran  ein  Belieben  tragen  kann.  Sein  Julius 
Caesar,  der  noch  dazu  von  den  Meisten  für  sein  bestes  Stück 
gehalten  wird,  hat  so  viel  Niederträchtiges  an  sich,  dass  ihn 
kein  Mensch  ohne  Ekel  lesen  kann.  Er  wirft  darinnen  alles 
unter  einander.  Bald  kommen  die  läppischen  Auftritte  von 
Handwerkern  und  Pöbel,  die  wohl  gar  mit  Schurken  und 
Schlingeln  um  sich  schmeissen  und  tausend  Possen  machen, 
bald  kommen  wiederum  die  grössten  römischen  Helden,  die  von 
den  wichtigsten  Staatsgeschäften  reden.  Die  Zeit  ist  so  schön 
darinnen  beobachtet,  dass  dies  Trauerspiel  mit  der  Verschwö- 
rung wider  den  Caesar  anfängt  und  mit  der  pharsalischen 
—  so  steht  da  —  Schlacht  aufhört.  Auch  die  Gespenster  sind 
darinnen  nicht  vergessen,  vor  welchen  Brutus  eine  recht  kin- 
dische Angst  hat,  ohngeachtet  er  sich  kurz  zuvor  einen  derben 
Rausch  getrunken  (!)  um  den  Tod  seiner  Gemahlin  Portia  zu 
verschmerzen.  Wenn  nun  solche  saubere  Sachen  einem  Lieb- 
haber der  Dichtkunst  die  Verwerfung  der  Regeln  angenehm 
machen  können,  so  muss  er  ein  trefflich  Geschick  zur  englischen 
Leichtgläubigkeit  haben."* 

Zu  dieser  Zeit  treten  die  Franzosen  thätiger  in  der  Kritik 
Sh.'s  auf  als  wir  Deutsche,  wmc  denn  auch  einige  ihrer  Kritiker 
viel  früher  die  Aufmerksamkeit  der  Gebildeten  auf  ihn  hingelenkt 
hatten.  Dieses  findet  seinen  Grund  augenscheinlich  in  dem  bei 
Weitem  grösseren  Verkehr  der  Franzosen  mit  den  Engländern. 


Beiträge  zur  kritischen  Historie  ctc, 


in  England,  Frankreich  und  Dcntscliland.  25 

Schon  1699  hatten  St.  Evremond,*  der  den  grössten  Thcil 
seines  Lebens  in  England  zubrachte,  auch  dort  starb,  später 
La  Motte  und  La  Fosse  sowie  der  Abbe  Prevost  in  seiner 
Zeitschrift  le  Pour  et  le  Contre  sich  eingehend  mit  Sh.'s  Wer- 
ken beschäftigt,  und  schon  in  den  Jahren  1745 — '18  erhielten 
die  Franzosen  im  Theatre  anglais  von  de  la  Place  eine  Ueber- 
setzung  von  Antonius  u.  Cleopatra,  Cymbeline,  Hamlet,  Henry  VI-, 
Julius  Caesar,  Macbeth,  Merry  wives  of  Windsor,  Othello, 
Richard  HL  und  Timon  of  Athens.  Leider  hatte  de  la  Place 
nicht  den  Muth  mit  einer  Uebersetzung  der  vollständigen  Stücke 
hervorzutreten,  er  Hess  die  charakteristischen  Volksscenen  wie 
überhaupt  Alles,  was  in  jener  überfeinerten  Zeit  in  Frankreich 
irgend  einen  Anstoss  erregen  konnte,  aus,**  so  dass  man  in 
seinen  Uebertragungen  immer  noch  nicht  den  Shakespeare  hatte ; 
aber  sie  gewährten  doch  den  Vortheil  das  grössere  Publicum 
mit  Sh.'s  Namen  bekannt  zu  machen,  die  Kritik  herauszufordern, 
und  Anresuno;  zu  vollständigen  Uebersetzungen  der  sämmt- 
liehen  Sh.'schen  Werke  zu  werden.  Diese  Kritik,  fast  ohne 
Ausnahme  eine  heftig  tadelnde  aber  höchst  unberechtigte  und 
aller  vernunftgemässen  Beweisführung  entbehrend,  wurde  von 
verhältnissmässior  unbedeutenden  literarischen  Grössen  ausgeübt, 
bis  sie  im  Jahre  1755  in  Voltaire's  Lettres  sur  les  Anglais  ihren 
Culrainationspunkt  erreichte,  und  sich  nun,  da  ein  so  bedeu- 
tender Kämpfer  in  die  Arena  getreten  war,  die  besten  Geister 
in  Deutschland  und  Frankreich  es  angelegen  sein  Hessen,  den 
(jrund  oder  Ungrund  eines  so  absprechenden  und  in  sich  selbst 
widerspruchsvollen  Urtheils  zu  untersuchen.  Da  in  Frankreich 
jedoch,  wo  man  vielfach  mit  Voltaire's  als  des  literarischen  Dic- 
tators  Augen  sah,  diese  Periode  nicht  von  bedeutendem  Einfliiss 
auf  die  Verbreitung  des  Shakespeare-Studiums  war,  auch  keine 
besonders  wichtige  Momente  in  der  Sh. -Kritik  zu  Tage  förderte, 
so  möge  hier  nur  Voltaire's  Kritik  ganz  kurz  characterisirt 
werden. 


*  St   Evremond  Oeuvres.  Paris,  1699.  P.  245.  260. 

**  Vergl.  mit  diesem  ein  ähnliches  rnglisches  Unternehmen  der  Neuzeit, 
das  dem  Heransgeber,  den  nach  dem  Namen  eines  feinfühlenden  Mannes 
verlangte,  mit  Recht  den  eines  Barbaren  einzutragen  geeignet  ist,  den  sogen. 
Family  Shakespeare  v.  J.  Bowden. 


2ß  Shakespeare's  Würdigung 

In  Deutschland  waren  seit  der  oben  angeführten  SchlegeP- 
schen  Vergleichung  Sh.'s  mit  Gryphius  bis  zu  diesem  Zeiträume 
keine  selbstständigen  und  eingehenden  Kritiken  erschienen,  es 
war  aber  Sh.'s  hin  und  wieder  bei  der  Anzeige  fremder  Beur- 
theilungen  in  den  von  Gottsched  herausgegebenen  Zeitschriften, 
so  besonders  in  dem  „neuen  Bildersaal  der  Weltliteratur"  in  Bemer- 
kungen, meist  tadelnden  oder  spöttischen  Inhalts  gedacht  worden,  wo 
sie  nicht  dieses  Inhalts  sind,  geben  sie  nichts  als  Uebersetzungen 
aus  englischen  Schriftstellern;  hier  und  da  nur  ist  eine  kurze  Notiz 
lobender  Art  von  einem  deutschen  Kritiker  eingeflochten,  aber 
Gottsched  wies  allen  Antheil  daran  auf  das  Ernsteste  von  sich.* 

Noch  im  Jahre  1750  findet  sich  eine  höchst  eigenthümliche 
Notiz  in  einem  damals  weitverbreiteten  Universahverke,  dem 
Jöcher'schen  compendiösen  Gelehrten-Lexicon,  das  bis  zum  Jahre 
1819  sich  eines  sicheren  Bestehens  erfreute,  vor,  aus  der  erhellt, 
eine  wie  fast  mythische  Persönlichkeit  Sh.  selbst  den  damaligen 
Gelehrtenkreisen  war.  Die  Stelle  lautet  folgendermassen:  „Shake- 
speare (Wilh.),  ein  englischer  Draraaticus,  geboren  zu  Stradford 
1564,  war  schlecht  auferzogen  und  verstund  kein  Latein.  Er 
hatte  ein  scherzhaftes  Gemüthe,  konnte  aber  doch  sehr  ernsthaft 
sein,  und  excellierte  in  Tragödien.  Er  hatte  viel  sinnreiche  und 
subtile  Streitigkeiten  mit  Ben  Jonson,  wiewohl  keiner  von  beyden 
viel  damit  gewann.  Er  starb  zu  Stradford  1616  am  23.  April 
im  53.  Jahre.  Seine  Schau-  und  Trauerspiele,  deren  er  sehr 
viel  geschrieben,  sind  in  VI  Theilen  1709  zu  London  zusam- 
mengedruckt und  werden  sehr  hoch  gehalten." 

Die  Jahre  1755—56,  in  denen  Voltaire's  Kritiken  erschie- 
nen,** bezeichnen  den  Zeitpunkt,  in  dem  man  sich  allen  Ernstes 


*  Vergl.  Vorrede  zum  neuen  Büchersaal.  Bd.  8,  S.  136. 

**  Vergl.  folgende  Stellen  in  den  Lettres  sur  les  Anglais;' dix-liuitieme 
lettre:  de  la  tragedie  anglaise  1755:  Sluikespeare  que  les  An<;lais  prennent 
pour  un  Sophocle  crea  le  th^ätre  anglais.  11  avait  un  genie  plt-in  de  force 
et  de  fecondite  de  naturel  et  de  sublime  sans  la  moindre  etiiicelle  de  bon 
goüt  et  Sans  la  moindre  connaissance  des  regles.  II  y  a  de  si  helles  scenes, 
des  morceaux  si  grands  et  si  terribles  repandues  dans  ses  farces  monstrueuses, 
qu'on  appelle  tragedies  que  ces  piecces  ont  toujours  ete  jouees  avec  un 
grand  succes.  Und  an  einer  anderen  Stelle:  Shakespeare  le  Corneille  de 
Londres,  grand  fou  d'ailleurs,  mais  il  a  des  morceaux  adniirables.  Ferner : 
Lettre  a  Tacademie  fran^aise,  25.  Aug.  I77ß.  Prem.  partie:  Une  partie  de 
la  nation  anglaise  a  erige  dupuis  peu  un  temple  au  fameux  comedieii-poeto 
Shakespeare  et  a  fonde  un  jubile  en  son   bonneur.     Quelques  Fran^ais  ont 


iu  England,  Frankreich  und  Dcui.^cliland.  27 

an  eine  vorurthellsfreie  Verstandes  -  und  zeitgeniässe  Beurthei- 
lung  Sh.'s  machte,  und  dies  um  so  mehr,  als  gerade  in  dem- 
selben Jahre,  1755,  Lessing's  Miss  Sarah  Sampson  erschien,  und 
die  Deutschen  in  diesem  ersten  „bürgerlichen  Trauerspiel"  von 
hervorragendem  Werthe  einen  Weg  der  productiven  Dramatik 
beschritten,  welcher  dem  der  französischen  Heldentragödie 
geradezu  entoeo-engesetzt  war.  Das  Stück  ward  bekanntlich 
mit  allgemeinem  Jubel  besrüsst. 

Es  war  diese  Keaction  geo-en  den  franz.  Geschmack  zwar 
der  Zeit  nach  vorbereitet  worden  durch  die  Opposition  von 
Bodmer  und  Breitinger  gegen  Gottsched's  bis  dahin  allgemein 
als  gültig  anerkannte  Kunstregeln,  aber  Lessing  ging  seinen 
Wes;  doch  ganz  selbstständicr  und  er  war  es,  der  von  nun  an 
im  Verein  mit  Nicolai  mit  mächtigen  und  genialen  Streichen" 
Gottsched  aus  dem  letzten  literarischen  Gebiete  verjagte,  auf 
dem  er  sich  noch  mit  Mühe  gehalten  hatte,  und  uns  Sh.  in 
seiner  ganzen  Würde  und  Erhabenheit  darstellte.  Es  ist  dies 
einer  der  kühnsten  und  mächtigsten  Griffe,  die  je  in  das  Ge- 
triebe der  deutschen  Literatur  gethan  worden  sind  und  unbe- 
rechenbar sind  seine  Folgen  für  das  ganze  Gebiet  derselben 
geworden. 

Während  Lessing  selbst  durch  die  Production  eines  bahn- 
brechenden Dramas,  ähnlich  wie  Lillo  es  in  England  durch  den 
Kaufmann  von  London  gethan,  das  Gefühl  und  den  Geschmack 
seiner  Landsleute  auf  eine  neue  Bahn  leitete,  um  sie  das  lange 
verkannte  Wesen  ihrer  eigensten  Richtung  und  Neigungen  wie- 
derfinden zu  lassen,  überliess  er  es  vor  der  Hand  Nicolai,  in 
dem  Hinweise  auf  Shakespeare  und  der  Auslegung  seines  dem 
deutschen  Character  so  verwandten  Wesens  den  Deutschen  kri- 


täche  d'avoir  le  nieme  enthousiasme.  Ils  transporterent  chez  nous  une  Image 
de  la  divinite  de  »Shakespeare.  Deuxieme  partie.  Personne  assurement 
ne  respecte  plus  que  moi  les  grands  hommes  que  cette  ile  a  produits  et  j'en 
ai  donne  assez  de  preuves.  La  verite  qu'on  ne  peut  deguiser  devant  vous 
m'ordonne,  de  vous  avouer,  que  Shakespeare,  si  sauvage,  si  bas,  si  effrene 
et  si  absurde  avait  des  etincelles  de  genie.  Und  später:  Figurez-vous, 
Messieurs,  Louis  XIV.  dans  sa  galerie  de  Versailles  entoure  de  sa  cour 
brillante,  un  gille  couvert  de  lambeaux  perce  la  foule  dos  hercs,  des  grands 
hommes  et  des  beautes,  qui  composent  cette  cour;  il  leur  propose  de  quitter 
Corneille,  Racine,  Moliere  pour  un  saltimbanque  (jui  a  des  saillles  heureuses 
et  qui  falt  des  contorsions.     Croyez-vous  que  cette  oflire  serait  re9ue? 


28  Shakespeare's  Würdigung 

tisch  vorzuführen,  wo  sie  ihre  Vorbilder  zu  suchen  hätten,  ihnen 
die  Quelle  zu  zeigen,  aus  der  allein  es  ihrer  würdig  wäre,  tief 
und  freudig  zu  schöpfen.  Er  hob  in  den  Briefen  „über  den 
jetzigen  Zustand  der  schönen  Wissenschaften  in  Deutschland" 
bei  der  Besprechung  des  deutschen  Theaters  besonders  Shake- 
speare's meisterhafte  Characterzeichnung  hervor,  die  ihm  trotz 
der  Vernachlässigung  der  gangbaren  dramatii^chen  Kegeln  einen 
hohen  ßang  über  den  französischen  Dramatikern  einräumte. 
„Wem,"  sagte  er,  „das  englische  Theater  bekannter  ist,  der 
weiss,  dass  es  in  seiner  Art  so  viel  Vorzügliches  hat,  als  das 
französische.  Die  Grösse  und  Mannigfaltigkeit  der  Charactere 
ist  eines  der  Vornehmsten,  worin  die  Deutschen  von  den  Eng- 
ländern lernen  könnten.  Es  ist  wahr,  ihre  Wildheit,  ihre  Un- 
regelmässigkeit, ihr  übelgeordneter  Dialog  ist  nicht  nachzuahmen: 
aber  die  Regeln  sind  dasjenige,  was  ein  Deutscher  am  ersten 
weiss,  und  mit  einer  massigen  Kenntniss  derselben  sind  diese 
Fehler,  bis  auf  den  letzten,  sehr  leicht  zu  vermeiden.  Ihre  Un- 
regelmässigkeit bringet  ihnen  zuweilen  auch  Avirklichen  Vortheil ; 
die  Franzosen  gestehen  es  selbst,  dass  ihre  allzugrosse  Zärt- 
lichkeit und  Weichlichkeit  ihnen  nicht  erlaubt,  viele  Charactere 
auf  ihr  Theater  zu  bringen,  die  auf  dem  engländischen  Theater 
die  glücklichste  AVirkung  thun.  Der  Stoff  der  engländischen 
Comödie  ist  daher  viel  manniwfaltisfer.  Ich  sehe  in  derselben 
allezeit  die  Menschen  unter  den  verschiedensten  Gestalten  und 
sehr  öfters  mit  den  feinsten  Auswickelungen  ihrer  Neigungen. 
In  den  meisten  französischen  Comödien  weiss  ich  schon  voraus, 
was  ich  sehen  werde :  einen  verliebten  Herrn,  einen  lustigen 
Diener  und  ein  Kammermädchen,  das  witziger  ist,  als  ihre  Ge- 
bieterin." 

Ebenso  wies  er  auch  in  einem  1756  o;eschriebenen  Artikel  in 
der  „theatralischen  Bibliothek,"  in  dem  er  die  Geschichte  der 
englischen  Bühne  behandelte,  rühmend  auf  Shakespeare,  Beau- 
mont  u.  Fletcher  und  Ben  Jonson  hin,  indem  er  zugleich  die 
Behauptung  aufstellte,  dass  ein  Vorrang  vor  den  dramatischen 
Werken  jener  Dichter  nur  .den  Griechen  zuzugestehen  sei. 

Das  eigentlich  belebende  Feuer  aber  in  diese  kritischen  Be- 
strebungen warf  erst  Lessing  durch  seine  Abhandlungen  über 
Sh.  in  den  „Briefen  die  neueste  Literatur  betreffend,"  in  denen 


in  England,  Frankreich  und  Deutschland.  29 

er,  wie  es  stets  seine  Art  war,  mächtig  an  der  trägen  Nach- 
ahmungssucht für  die  französischen  Muster  rüttehe  und  mit 
feurigen  Worten  dem  Bhtzstrahl  gleich  die  ungesunde  litera- 
rische  Atmosphäre  reinigte.  Der  siebenzehnte  Brief  des  an- 
geführten Cyclus  vom  Februar  1759  kann  mit  Recht  als  ein 
Aufruf  an  alle  vorurtheilsfreien  und  klaren  Köpfe  gelten,  an  alle 
Gebildeten  seiner  Nation,  zu  erkennen,  wie  ungehörig  sie  bisher 
auf  falschen  Altären  geopfert  und  das  wahrhaft  Erhabene  und 
Meisterhafte  unwürdiger  Vernachlässigung  anheimgegeben  hätten, 
und  sich  fortan  mit  Ernst  und  Liebe  zu  der  Würdigung  des 
grossen  und  reinen  Genius  zu  begeistern,  den  er  ihnen  in  so 
hellem  Lichte  und  in  so  scharfen  Umrissen  darstellte.  Lessing 
war  der  Mann  dazu,  eine  solche  Revolution  in  den  Gemüthern 
hervorzubringen,  denn  er  besass  nicht  allein  die  durch  Klarheit 
der  Anschauung  hervorgebrachte  überzeugende  Kraft  des  Wortes, 
sondern  auch  die  Beharrlichkeit,  das  Erkannte  zur  Geltung  zu 
bringen,  und  die  stete  Schlagfertigkeit,  jedem  Angriffe,  wo  und 
in  welcher  Form  er  hervortrat,  zu  begegnen;  und  es  ist  wohl 
eine  Fügung,  die  wir  Späteren  allen  Grund  haben  anzuerken- 
nen, dass  diese  grosse  Sache  in  die  Hände  eines  solchen  Sach- 
walters fiel.  Er  wandte  zuerst  seine  Waffen  gegen  die  Auto- 
rität und  die  kritische  Begabung  Gottsched's,  als  gegen  den 
offensten  und  gefährlichsten  Widersacher  der  richtigen  Wür- 
digung  Sh's. 

„Niemand,"  hatte  Nicolai  gesagt,  „wird  läugnen,  dass  die 
deutsehe  Schaubühne  einen  grossen  Theil  ihrer  ersten  Verbes- 
serung dem  Herrn  Professor  Gottsched  zu  danken  hat."  Darauf 
antwortete  Lessing:  „Ich  bin  dieser  Niemand,  ich  läugne  es 
geradezu.  Es  wäre  zu  wünschen,  dass  sich  Herr  Gottsched 
niemals  mit  dem  Theater  vermengt  hätte.  Seine  vermeintlichen 
Verbesserungen  betreffen  entweder  entbehrliche  Kleinigkeiten 
oder  sind  wahre  Verschlimmerungen."  „Den  elenden  Zustand 
der  Bühne  einzusehen,"  sagt  er  weiter,  „brauche  man  eben  nicht 
der  feinste  und  grösste  Geist  zu  sein.  Es  hätten  auch  andere 
denselben  wohl  eingesehen,  aber  Gottsched  habe  sich  vor  An- 
dern die  Kraft  zugetraut,  Ihn  zu  verbessern,  indem  er  aus  dem 
Französischen  übersetzt,  französische  Reimerei  ermuntert  und 
den  Harlequin  feierlich  vom  Theater  vertrieben  habe.     Er  habe 


30  Shakespeare's  Würdigung 

nicht  sowohl  das  alte  Theater  verbessern,  als  der  Schöpfer  eines 
ganz  neuen  französirenden  werden  wollen,  ohne  zu  untersuchen, 
ob  dies  der  deutschen  Denkungsart  angemessen  sei  oder  nicht.* 

Dass  so  kühne  Behauptungen  nicht  ohne  Erwiderungen 
bleiben  konnten,  liegt  auf  der  Hand,  sie  sind  aber  von  zu  ge- 
ringer Bedeutung  und  Hegen  dem  Vorwurf  dieser  Zeilen  zu  fern, 
als  dass  ihrer  hier  speciell  Erwähnung  geschehen  sollte. 

Das  grosse  Publicum  war  indessen  bis  hierher  und  noch 
bis  in  die  vier  folgenden  Jahre  dem  richtigen  Verständniss  und 
der  Parteinahme  an  diesem  literarischen  Streite,  der  auf  Les- 
sings  Seite  auch  von  den  Mitarbeitern  an  den  Literaturbriefen 
Nicolai  und  Mendelssohn  geführt  worden,  ganz  fern  geblieben, 
da  ihm  die  Grundlage  des  Verständnisses  desselben  in  einer 
deutschen  Uebersetzung  der  Shakespeare'schen  Werke  fehlte. 
Es  war  jedoch  durch  denselben  bei  den  Gebildeten  der  Wunsch 
rege  geworden,  zu  einer  gründlicheren  Kenntniss  der  englischen 
Dramatik  durchzudringen,  und  es  war  daher  ein  mit  Freuden 
begrüsstes  Ereigniss,  als  1762  der  erste  Band  der  Wieland'schen 
Uebersetzung  von  Sh.'s  Werken  erschien,  die  nach  und  nach 
bis  zum  Jahre  1766  auf  8  Bände  anwuchs.  Sie  enthielt  von 
den  historischen  Stücken  nur  die  beiden  Theile  von  Heinrich  IV., 
es  fehlten  in  derselben  ferner:  Cjmbeline,  die  lustigen  Weiber 
von  Windsor,  Ende  gut,  Alles  gut,  die  bezähmte  Widerspänstige, 
Coriolanus,  Troilus  u.  Cressida,  Verlorene  Liebesmüh  und  die 
von  Sh.  nur  überarbeiteten  Pericles  und  Titus  Andronicus.  Sie 
war  leider  bis  auf  die  meisten  der  Reim-Verse  im  Sommer- 
nachts-Traum in  Prosa  abgefasst,  ein  Umstand,  der  keineswegs 
geeignet  war,  den  deutschen  Lesern  eine  richtige  Anschauung 
von  den  Originalen  zu  geben.  W^ieland  hatte  diese  Form  ge- 
wählt, Aveil,  wie  er  in  einer  Anmerkung  zu  einem  der  gereimten 
Verse  sagt,  Sh.  jegliches  Talent  Verse  in  Reimen  zu  schreiben 
abgesprochen  werden  müsse,  und  entschuldigt  damit  in  vielen 
Füllen  seine  eigene  schlechte  Prosaübersetzung,  da  er  so  viel 
wie  möglich  w'örtlich  habe  wiedergeben  wollen,  was  er  gefunden, 
und  Sh.  häufig  sich  nicht  nur  nicht  vor  groben  Unschicklichkeiten, 
sondern  auch   nicht   einmal    vor  offenem  Unsinn  gescheut  habe, 


*  Siehe  den  17.  Litorrtturhrief. 


in  England,  Frankreich  und  Deutschland.  31 

um  einen  Eelm    zu  Stande   zu   bringen.     Dass  es  nur  äusserst 
wenige  oder  vielleicht  nie  einen  Schriftsteller  gegeben,  dem  ein 
Kenn  immer  sogleich    bei  der  Hand  gewesen   i^st,    und  der  sicli 
beim  Schreiben   gereimter  Verse   nie   einen  Z^vang  hat  auflegen 
müssen,  daran  wird  jetzt  wohl  Niemand  zweifeln,  und  es  solhen 
daher  Sh.'s  Reime  nicht  härter  beurtlieilt  werden,  als  die  anderer 
Schriftsteller,  aber  man  wird  wohl  kaum  umhin  können  zu  füh- 
len, dass  Sh.'s  reimlosen  Jambenversen  jene  hinreissende  Gewalt 
innewohnt,   die  den  vollen  augenblicklichen  Ausguss   tiefen  Ge- 
fühls   und    kräftigen    Gedankens     so    wunderbar    kennzeichnet. 
Dass  Wieland    aber   ganz  anderer  Meinung  war,    geht   aus  den 
vielfach  unter  die  einzelnen  Stücke  gesetzten  Anmerkungen  her- 
vor, deren  Abgeschmacktheit  gegenwärtig  in  hohem  Grade  lächer- 
lich erschemen  muss,  Wieland  aber  auch  schon  damals  die  hef- 
tigsten Angriffe    und    manchen   Spott    zuzog.*     Diese    tadelnde 
Kritik  beschränkt  sich  aber  nicht  allein  auf  den  Reim  der  Sh  '- 
sehen  Verse,    sie  ist  ungemein  fruchtbar  in  der  Auffindung  der 
m-schiedenartigsteu   Fehler   und    stellt   Alles,    was    auf  dfesem 
Felde  vor  und  nachher  geleistet  worden,  gänzlich  in  den  Schat- 
ten.    Es  möge  hier  Einiges  aus  derselben  Platz  finden,  welches 
zeigen  soll,    wie  befangen  das   Urtheil    eines  so   hervorragenden 
und  geistreichen  Schriftstellers  und  noch  dazu  nicht  einmal  ab- 
gesagten Feindes  der  Sh.'schen  Muse  war,  wie  dies  sowohl  aus 
verschiedenen   Stellen    der    Vorrede    zu    der   Uebersetzung,    als 
auch  aus  einem  im  Folgenden  angeführten  Briefe  hervorgeht. 

So  sagt  er  in  der  Anmerkung  zu  dem  Selbstgespräch  Ed- 
munds vor  dem  Eintritt  Edgars  in  König  Lear,  Act  1.  Sc.  2 : 
„Dieses  nonsensicalische  Gewäsch  hat  man  beinahe  so  verworren^ 
als  es  im  Original  ist,  zu  einer  Probe  stehen  lassen  wollen  von 
einer  dem  Shakespeare  sehr  gewöhnlichen  Untugend,  seine  Ge- 
danken nur  halb  auszudrücken,  übel  passende  Metaphern  durch- 
einander zu  werfen  und  sich  von  allen  Regeln  der  Grammatik 
zu  dispensiren."  Ferner  bemerkt  er  zu  der  prophetischen  Rede 
des  alten  Gaunt  auf  dem  Sterbebette  (Rieh.  IT.  Act.  II.  Sc.  1), 
die  in  so  überaus  herrlicher  Sprache  den  ohnmächtigen  Schmerz 
desjcheidenden  Patrioten  vergegenwärtigt:  „Was  für  eine  Rede 

\vl  "f^^^-  ^n-^\¥-  Götter   Helden  u.  Wieland,  u.  was  Goethe  darüber  in 
„Wahrheit  u.  Dichtung-,«  3.  Theil  S.  200  sa^t. 


32  Shakespeare's  Würdigung 

in  dem  Munde  eines  alten  sterbenden  Prinzen,  der  eich  über 
Engbrüstigkeit  und  kurzen  Athem  beklagt!  Indessen  war  dieses 
schülerhafte  rhetorische  Gewäsche,  diese  auf  einander  gehäuften 
übel  zusammen  2)assenden  Metaphern  und  diese  abmattenden 
Tautologien  die  allgemeine  Mode  in  unseres  Autors  Zeit."  Ist 
dieses  nicht  eine  Versündigung  an  dem  ewig  wahren  Geiste  der 
Poesie,  dessen  Wehen  in  diesem  schönen  Monologe  nur  dem 
geistig  Stumpfen,  sollte  man  meinen,  nicht  fühlbar  ist?  Am 
lustigsten  aber  ist  die  Kritik  der  unvergleichlichen  Scene  im 
„Eberkopfe"  in  Eastcheap,  wo  der  Prinz  und  FalstafF  abwech- 
selnd den  König  darstellen.  (Henry  IV.  Act  II.  Sc.  4).  Es 
heisst  hier:  „Diese  unvollkommene  Probe —  denn  man  hat  den- 
noch einige  Blümchen  auslassen  müssen  —  wird  den  Leser  ver- 
muthüch  geneigt  machen,  dem  Uebersetzer  in  Absicht  der  fal- 
staffischeu  Scenen  Vollmacht  zu  geben,  darüber  nach  eigenem 
Belieben  zu  schalten.  Man  muss  ein  Engländer  sein,  diese  Sce- 
nen von  Engländern  spielen  sehen  und  eine  gute  Portion  Punsch 
dazu  im  Kopfe  haben,  um  den  Geschmack  daran  zu  finden,  den 
Sh.'s  Landsleute  grösstentheils  noch  heutigen  Tages  an  diesen 
Gemälden  des  untersten  Grades  von  pöbelhafter  Ausgelassenheit 
des  Humors  und  der  Sitten  finden  sollen.*  Wer  ausser  Wieland, 
der  sich  nicht  ganz  in  einen  Panzer  von  Vorurtheilen  gesteckt 
hat,  möchte  wohl  je  in  vollem  Ernst  ein  solches  Urtheil  haben 
fällen    mögen?     Hatte    er    es    wirklich   heute    gethan,    so  würde 


*  Ich  kann  hier  der  Versuchung  nicht  widerstehen,  im  Gegensatz  zu  die- 
sem geringschätzigen  Urtheile  Wielands  über  die  Scenen  in  Eastcheap,  eine 
Schilderung  eines  neueren  ebenso  gemüthvollen  wie  mit  kritischem  Scharf- 
sinn begabten  Schriftstellers  über  den  Eindruck,  den  dieselben  Scenen  bei 
ihm  zurückgelassen,  herzusetzen,  obwohl  dies  eigentlich  dem  Vorwurf  dieser 
Arbeit  liemd  ist,  des  Americaners  Washington  Irving.  Er  sagt  in  dem 
öketchbook  (Tauchnitz-Ed.  S.  106):  „Ich  möchte  den  fetten  Jack  nicht  für 
die  Hälfte  der  grossen  Männer  in  den  alten  Chroniken  aufgeben.  Was 
haben  die  Helden  vergangener  Tage  für  mich  oder  meinesgleichen  gethan? 
Sie  haben  Länder  erobert,  von  denen  ich  nicht  einen  Streifen  besitze,  sie 
haben  Lorbeern  errungen,  von  denen  ich  kein  Bhitt  geerbt,  sie  haben  toll- 
kühne Thaten  vollführt,  die  ich  weder  die  Gelegenheit  noch  die  Neigung 
habe,  nachzuahmen.  Aber  der  alte  Jack  FalstaiT  —  der  freundliche  Jack 
Falstaff"  —  der  süsse  Jack  Falstaff  —  hat  die  Grenzen  des  menschlichen 
Vergnügens  erweitert,  er  hat  weite  Regionen  von  Witz  und  Humor  eröffnet, 
in  denen  auch  der  ärmste  Mann  sich  ergötzen  mag,  und  er  hat  eine  endlose 
Erbschaft  von  fröhlichem  Gelächter  hinterlassen,  die  Menschen  lustiger  und 
besser  zu  machen  bis  in  die  spätesten  Zeiten." 


in  England,  Frankreich  und  Deutschland.  33 

er  sicherlich  morgen  unter  einer  unwiderstehlichen  Anwandlung 
von  Lustigkeit  das  Schriftstück  zerrissen  haben. 

Wie  wenig  "Wieland  überhaujDt  den  wahren  Werth  der 
Sh.'schen  Dichtungen  erfasst  hatte,  geht  daraus  hervor,  dass  er 
an  verschiedenen  Stellen  statt  der  Sh.'schen  Scenen  kurze  In- 
haltsangaben derselben  liefert,  als  ob  im  Grunde  dasselbe  Re- 
sultat und  mit  weniger  Worten  erzielt  würde,  wenn  man  statt 
einer  treuen  Uebertragung  nur  kurz  den  Faden  der  Handlung 
angiebt.  So  erklärt  er  eine  solche  Manipulation,  die  er  mit  dem 
letzten  Act  von  „Was  ihr  wollt"  vorgenommen,  mit  folgenden 
Worten :  „Dieser  ganze  letzte  Aufzug  enthält  nichts  mehr  als 
eine  Entwickelung,  welche  leicht  vorherzusehen  ist.  Man  weiss 
schon,  dass  die  Anles^ung  des  Plans  und  die  Entwickeluno;  des 
Knotens  diejenigen  Theile  nicht  sind,  worin  unser  Autor  vor- 
trefflich ist.  Hier  scheint  er,  wie  es  ihm  mehrmal  in  den  fünften 
Aufzügen  begegnet,  begieriger  gewesen  zu  sein,  sein  Stück  fertig 
zu  machen,  als  von  den  Situationen,  worin  er  seine  Personen 
gesetzt  hat,  Vortheil  zu  ziehen."  Allerdings  mass  er  hier,  seiner 
Richtung  gemäss,  Sh.  nach  dem  Maasse  französischer  Stücke 
und  den  Corneille'schen  Regeln,  nach  denen  freilich  die  durch 
die  Begebenheiten  und  Verwickelungen  der  ersten  vier  Acte  an- 
gefüllte Schaale  bersten  und  das  fertige  Resultat  auf  den  Zu- 
schauer auf  einmal  ausgiessen  musste.  Ausserdem  verleitet  die 
geringe  Bekanntschaft  mit  dem  Gange  der  englischen  Cultur 
Wieland  zu  häufigem  ungerechten  Tadel:  Sh.  ist  selten  ten- 
denziös,  aber  wo  er  es  ist,  da  muss  billiger  Weise  den  Um- 
ständen Rechnung  getragen  werden,  die  ihn  zu  dieser  oder  jener 
Schreibweise  bestimmten.  Wenn  Sh.  im  „Kaufmann  von  Ve- 
nedig" und  an  manchen  andern  Stellen  den  übertriebenen  Hang 
seiner  Landsleute  nach  dem  Gebrauch  einer  möglichst  latei- 
nisirten  Sprache  geisselt,  so  ist  es  ungereimt,  Avenn  Wieland 
„alle  nur  möglichen  Fehler  des  Ausdrucks  findet."  Dies  näm- 
lich ist  sein  Urtheil  über  das  obige  Stück,  dass  „alle  Fehler 
eines  ungereinigten  Geschmacks  und  einer  übertriebenen  Gefäl- 
ligkeit  gegen  den  verdorbenen  Geschmack  seiner  Zeit  in  keinem 
Stücke  vielleicht  auf  eine  beleidigendere  Art  vorherrschen,  als 
im  „Kaufmann  von  Venedig,"  indem  die  häufigen  und  rührenden 

Schönheiten  desselben    alle  Augenblicke   durch    ungereimte  Ab- 

3 

Arcliiv  r.  11.  Sprachen,  XLVHI. 


34  Shakespeare's  Würdigung 

fälle,  aufgedunsene  Figuren,  frostige  Antithesen,  Wortspiele  und 
alle  nur  mögliche  Fehler  des  Ausdrucks  entstellt  seien."  „Der 
Uebersetzer  hat  es  daher,"  fährt  er  fort,  „vorgezogen,  manche 
Stellen  in  veränderter  Form  wiederzugeben,  um  nicht  durch 
eine  allzu  schüchterne  Treue  dem  Sh.  zu  schaden  und  den  Le- 
ser ungeduldig  zu  machen." 

Man  sieht  aus  allen  diesen  hier  angezogenen  Urtheilen,  mit 
wie  grosser  Voreingenommenheit  Wieland  den  Sh.  betrachtete, 
man  erkennt  leicht  den  allzu  getreuen  Anhänger  der  französischen 
Schule,  aber  er  konnte  das  deutsche  Wesen,  das  in  ihm  war, 
doch  nicht  so  ganz  ertödten,  dass  er  nicht  angezogen  worden 
wäre  von  dem  verwandten  Geiste,  der  aus  Sh.'s  Dramen  zu  ihm 
sprach.  Dies  zeigte  er,  indem  er  sich  mit  ganzem  Ernst  und 
Eifer  gegen  die  leichtfertige  Kritik  Voltaire's  auflehnte,  und 
wir  müssen  uns  wieder  mit  ihm  versöhnen,  wenn  wir  lesen, 
was  er  in  einem  Briefe  an  Zimmermann  schrieb,  im  Jahre  1758, 
einer  Zeit,  wo  er  sich  noch  nicht  berufen  fühlte,  mit  einer  strengen 
Kritik  hervorzutreten,  und  wo  noch  die  geistige  Grösse  des  bri- 
tischen Dichters  gewaltig  rührend  vor  ihm  aufzog.* 

Eine  wie  wunderbare  Umwandlunoj  aber  hatten  wenige 
Jahre  in  der  Denkweise  dieses  Mannes  hervorgebracht,  der  im 
Jahre  1758  diesen  Brief  und  1762 — QQ  die  oben  beleuchteten 
Anmerkungen  schreiben  konnte. 

So  ungerecht  und  beschränkt  seine  Auffassung  auch  war, 
so  hätte  es  doch  den  Gegnern  derselben  besser  angestanden, 
das  Verdienstvolle  einer  Uebersetzung  der  Sh.'schen  Werke 
überhaupt,  zumal  einer  solchen,  die  doch  trotz  ihrer  Fehler  bei 


*  Er  schreibt:  Sie  kennen  ohne  Zweifel  diesen  ausserordentlichen  Men- 
schen durch  seine  Schriften.  Ich  liebe  ihn  mit  allen  seinen  Fehlern.  Er  ist 
ihst  einzig  darin,  die  Menschen,  die  Sitten,  die  Leidenschaften  nach  der 
Natur  zu  malen:  er  hat  das  köstliche  Talent,  die  Natur  zu  verschönern, 
ohne  dass  sie  ihre  Verhältnisse  verlöre.  Seine  Fruchtbarkeit  ist  unerschöpf- 
lich. Er  scheint  nie  etwas  Anderes  studirt  zu  haben  als  die  Natur,  ist  bald 
der  Michel  Angelo,  bald  der  Correggio  der  Dichter.  Wo  fände  man  mehr 
kühne  und  doch  richtige  Entwürfe,  mehr  neue,  schöne,  erhabene,  treflfende 
Gedanken,  mehr  lebendige,  glückliche,  beseelte  Ausdrücke  als  bei  diesem 
unvergleichlichen  Genie?  Zum  Geier  mit  dem,  dereinem  Genie  von  solchem 
Range  Regelmässigkeit  wünscht,  und  der  vor  seinen  Schönheiten  die  Augen 
zuschliesst,  oder  kein  Auge  dafür  hat,  blos  weil  es  die  nicht  sind,  welche 
das  kläglichste  Stück  von  Pradon  in  weit  höherem  Grade  besitzt  als  der 
Cid."     (Gruber,  Wieland's  Leben,  I.  S.  233.) 


in  England,  Frankreich  und  Deutschland.  35 

Weitem  nicht  unbrauchbar  war,  hervorzuheben,  statt  sich  in 
(lern  herbsten  Tadel  und  sarkastischen  Angriffen  gegen  Wieland 
zu  ergehen.*  Denn  Dank  ist  man  dem  Manne  immerhin  schul- 
dig, der  zuerst  ein  anerkannt  schwieriges  Unternehmen  angreift, 
mögen  Andere  es  später  auch  noch  soviel  besser  und  gedie- 
gener ausführen.  Dies  erkannte  Lessing  sehr  wohl,  und  es  ist 
ein  nicht  zu  unterschätzender  Beweis  seines  richtigen  Blicks, 
dass  er  nicht  in  den  von  allen  Seiten  ausgesprochenen  Tadel 
einstimmte,  obgleich  er  wohl  mehr  als  die  meisten  Anderen  von 
der  Unzulänglichkeit  der  Uebersetzung  und  den  Schwächen  der 
Anmerkungen  Wieland's  überzeugt  sein  musste.** 

Im  Anfange  des  Jahres  17G7  erschienen  die  ersten  Briefe 
seiner  „Hamburger  Dramaturgie,"  in  denen  er  die  in  den  Lite- 
raturbriefen begonnene  Polemik  gegen  das  französische  Theater 
wieder  aufnahm,  und  wo  immer  sich  die  Gelegenheit  bot,  auf 
das  englische  und  besonders  auf  Sh.  hinwies  und  dieses  Dich- 
ters Dramen  denen  der  französischen  Classiker  kritisch  gegen- 
überstellte. Diese  Abhandlungen  sind  mehr  als  irgend  welche 
andere  Bestrebungen  wirksam  gewesen  Sh.  in  Deutschland  ein- 
zuführen und  heimisch  zu  machen,  denn  sie  waren  die  ersten 
eingehenderen  dieser  Art,  die  von  Grund  aus  die  Frage  der 
Classicität  des  französischen  Theaters  sowie  der  vermeintlichen 
Superiorität  derselben  über  das  englische  Theater  ergriffen  und 
mit  Scharfsinn  und  gründlicher  Gelehrsamkeit  erörterten.  Hatte 
Lessing  die  erste  dieser  Fragen  siegreich  bekämpft,  so  war  mit 
ihr  auch  die  zweite  gefallen  und  es  war  dann  die  Nothwendig- 
keit  eingetreten,  seine  Behauptungen  und  Beweise  durch  ein- 
gehendes Studium  der  englischen  dramatischen  Werke,  beson- 
ders derer  Sh.'s,  zu  prüfen. 


*  So  unter  Anderen  Gerstenberg,  der  in  den  Schleswiger  Literatur- 
briefen mit  grossem  Aufwände  von  Genialität  stinen  Tadel  gegen  die  Ueber- 
setzung zu  persönlichen  Angriffen  auf  Wieland  benutzte.  Dieselben  Briefe 
bieten  uns  eine  eintrehcndere  Beurtheilung  Sh.'s,  die  aber  an  ebenso  grosser 
Ueberschwenglichkeit  im  Loben,  wie  die  Angriffe  gegen  Wieland  im  Tadeln 
leiden.  Gerstenberg  wollte  an  Sh.  nur  Tugenden  und  Schönheiten  finden, 
Fehler  oder  Mangel  cxistirten  nach  ihm  an  Sh.  nicht,  doch  enthalten  die- 
selben manche  treffende  Bemerkung  u.  sind  daher  immerhin  ein  werthvoller 
Beitrag  zur  Sh.-Literatur.  Sein  Ugolino  entstand  unter  dem  Einflüsse  dieser 
Studien  (1768). 

**  Siehe  darüber:  Hamb.  Dramaturgie.    15.  Stück,  v.  19.  Juni  1TG7. 

3* 


36  Shakespeare's  Würdigung  • 

Aber  nicht  allein  dadurch,  dass  er  die  Autorität  der  so- 
genannten französischen  Classiker  untergrub,  wirkte  Lessing 
vortheilhaft  auf  das  Studium  Sh.'s  ein,  er  that  es,  um  auch  den 
vorsichtigen  Kunstkennern  zu  genügen  auch  dadurch,  dass  er 
die  Berechtigung  Sh.'s  als  dramatischen  Künstlers  nachwies. 
Zu  einer  Zeit,  avo  die  Pedanterie  in  allen,  besonders  aber  den 
wissenschaftlichen  Bestrebuno-en  sehr  gross  war,  genügte  es 
nicht,  die  Shakespeare'sche  Welt  dem  Gemüthe  zu  erschliessen, 
es  musste  auch  gezeigt  werden,  dass  man  es  nicht  mit  einem 
dramatisch  ungebildeten,  alle  Kegeln  der  Kunst  ignorirenden 
wenn  auch  geistvollen  Naturkinde  zu  thun  habe,  dargethan 
werden,  dass  man,  selbst  wenn  man  auf  dem  Boden  der  aristoteli- 
schen Regeln  stehen  bliebe,  Sh.  dem  Geiste  seiner  Schöpfungen 
nach  als  einen  weit  treueren  Schüler  des  griechischen  Weisen  an- 
erkennen müsse,  als  die  französischen  Nachahmer  der  griechischen 
Tragödien.  Dieser  zweite  Punkt  stand  in  Wechselwirkung  zu 
dem  ersten ;  scharf  untersucht  und  schlagend  bewiesen,  mussten 
beide  zusammen  unfehlbar  der  ßeurtheilung  Sh.'s  eine  ganz  an- 
dere Richtung  geben. 

Bedenkt  man  ferner  die  Armuth  der  dramatischen  Muse  in 
Deutschland  zu  jener  Zeit,  und  den  immer  stärker  hervortre- 
tenden Conflict  des  französischen  Geschmacks  mit  dem  deutschen, 
dem  die  pomphaften  Tragödien  der  Franzosen  auf  die  Dauer 
nicht  entsprechen  konnten,  und  vergegenwärtigt  man  sich  dann 
die  durch  die  „Hamburger  Dramaturgie"  hervorgerufene  Stim- 
mung und  angezeigte  Richtung,  so  hat  man  darin  den  Schlüssel 
zu  der  nunmehr  immer  allgemeiner  werdenden  Würdigung  Sh.'s 
in  Deutschland  gefunden. 

Es  seien  hier  zwei  Stellen  der  „Hamb.  Dramat."  hervor- 
gehoben, die  für  Lessing's  Schätzung  von  Sh.  characteristisch 
sind.  Die  eine  findet  sich  in  dem  bereits  angeführten  Briefe 
V.  19.  Juni  1767  im  Verlauf  seiner  Beurtheilung  von  Voltaire's 
Zaire.  Dieser  hatte  gesagt,  es  sei  diese  Tragödie  in  Folge 
einer  an  ihn  von  verschiedenen  Damen  ergangenen  Auffor- 
derung ein  Stück  zu  schreiben,  in  dem  die  Liebe  eine  hervor- 
ragende Rolle  spiele,  entstanden:  Lessing  bemerkt  hierzu,  „die 
Liebe  selbst,"  habe  ein  Kunstrichter  artig  genug  gesagt,  „habe 
Voltaire  die  Zaire  dictirt,"   richtiger  hätte  er  gesagt:   „die  Ga- 


in  England,  Frankreich  und  Deutschland.  37 

lanterle."  „Ich  kenne",  fährt  er  fort,  „nur  eine  Tragödie,  an 
der  die  Liebe  selbst  hat  arbeiten  helfen;  und  das  ist  „Romeo 
u.  Julie"  von  Shakespeare." 

Die  andere  im  Briefe  v.  12,  Januar  1768  knüpft  bei  der 
Beurtheilung  des  Richard  III.  v.  Chr.  Weisse  an  eine  Bemer- 
kung des  Verfassers  an,  dass  er  in  der  Abfassung  seiner  Tra- 
gödie kein  Plagium  an  Sh.  begangen  habe,  obwohl  „es  vielleicht 
ein  Verdienst  gewesen  wäre,  an  dem  Sh.  ein  Plagium  zu  be- 
gehen." Auf  diese  Bemerkung  erwidert  Lessing  an  der  betreffen- 
den Stelle  in  trefflicher  Weise. 

Hatte  sich  Lessing  das  grosse  Verdienst  erworben  der 
erste  gewesen  zu  sein,  der  die  Deutschen  auf  dem  Wege  der 
vorurtheilsfreien  Kritik  gründlicher  mit  Sh.  bekannt  machte  und 
Wieland  gegenüber  einen  richtigeren  Maassstab  an  seine  Beur- 
theilung legte,  so  ward  ihm  ferner  der  Ruhm,  zwei  unserer 
herrHchsten  Männer  zu  immer  tieferem  Eindringen  in  den  Reich- 
thum  des  Sh.'schen  Geistes  angeregt  zu  haben,  Herder  und 
Goethe. 

Herder,  um  5  Jahre  der  Aeltere  von  den  Beiden,  hatte 
sich  schon  einige  Jahre  vor  dem  Erscheinen  der  Wieland'schen 
Uebersetzung  viel  mit  Sb.  in  der  Original- Sprache  beschäftigt. 
Er  erkannte  zwar  das  Verdienstvolle  dieser  Verdeutschung  als 
einer  solchen  gerechter  Weise  an,  da  er  die  Schwierigkeiten 
dieses  Unternehmens  sehr  wohl  zu  würdigen  wusste,  war 
jedoch,  selbst  ein  gewandter  Uebersetzer,  mit  derselben  kei- 
neswegs, weit  weniger  aber  noch  mit  den  Anmerkungen  Wie- 
land's  zufrieden,  wie  er  dies  unter  anderem  in  einem  Briefe  aus 
dem  Jahre  1771  ausspricht.*     Goethe  urtheilte   nicht   so  streng 


*  Er  sagt  in  diesem  aus  Strassburg  an  seine  Braut  gerichteten  Briefe: 
So  hat  Ihnen  Romeo  u.  Julie  gefallen!  und  doch  haben  Sie  dieses  vortreff- 
liche himmlische  Stück,  das  einzige  Trauerspiel  in  der  Welt,  was  über  die 
Liebe  existirt,  nur  in  der  Uebersetzung  gelesen.  Denn  das  muss  ich  sagen, 
dass  unter  allen  Sh.'schen  Stücken  Wieland's  keins  so  verunglückt  ist,  als 
dieses.  Der  Grund  ist  vielleicht  der,  dass  Wieland  nie  selbst  eine  Romeo- 
Liebe  gefühlt  hat:  sondern  sich  nur  immer  mit  seinen  Pantheen  und  Sera- 
pbins  den  Kopf  voll  geweht,  statt  das  Herz  je  menschlich  erwärmt  hat; 
und  so  sind  ihm  die  schönsten  Augenwinke,  in  denen  die  Liebe  mehr  als 
durch  Worte  redet,  eine  ganz  unbekannte  Sprache  gewesen.  Dazu  hat  Sh. 
in  diesem  Stück  viel  Reime,  auf  die  Wieland  in  den  Noten  schimpft,  die 
freilich  einem  Uebersetzer  auch  den  Kopf  und  die  Feder  toll  machen  kön- 
nen,  die  aber  im  Original  so  sehr  zur  wahren  Romanzenspracbe  der  Liebe 


38  Shake?peare's  Würdigung 

über  dieselbe,  er  vertheidigte  sogar  noch  in  „Dichtung  u.  Wahr- 
heit," deren  erster  Theil  erst  1811  erschien,  die  von  Wieland 
o-ewählte  Prosa-Form  der  Uebersetzung  gegen  die  vielen  kurz 
nach  dem  Erscheinen  derselben  auf  sie  gerichteten  Angriffe. 
Der  Freundeskreis,  der  sich  in  den  Jahren  1770  —  72  in  Strass- 
burg  gebildet  hatte,  zu  dem  neben  Goethe,  Lenz  und  Klinger 
auch  Herder  zählte,  war  der  eigentliche  Herd,  auf  dem  die 
Flamme  der  Begeisterung  für  Sh.  hell  aufloderte,  wo  das  Er- 
götzen an  ihm  und  die  Hinneigung  sich  ganz  in  seine  Denk- 
weise und  AuflPassung  hineinzuversetzen,  von  Tag  zu  Tage  in 
dem  Maasse  wuchs,  als  man  sich  mehr  in  ihn  vertiefte.*  Hier 
soo"  man  den  Geist  ein,  der  eich  darauf  in  der  hauptsächlich 
von  Herder,  Goethe  und  Mendelssohn  verfassten  Zeitschrift: 
Von  deutscher  Art  und  Kunst  nachhaltig  wirkend  und  fördernd 
für  das  Studium  Sh.'s  in  Deutschland  offenbarte. 

Unter  dem  mittelbaren  oder  unmittelbaren  Einfiuss  dieser 
Shakespeare-Studien  entstand  bei  Goethe,  wie  er  selbst  andeutet, 
die  Idee  zum  „Götz  von  Berlichingen,"  und  wie  dieses  W^erk 
mächtig  in  den  Gedankengang  der  Gebildeten  Deutschlands  ein- 
griff, so  erregte  es  auch  wechselsweise  den  Wunsch  in  ihnen, 
die  dramatischen  Werke  kennen  zu  lernen,  die  zu  dem  Götz 
und  zu  denen  er  in  so  naher  Verbindung  stand.  Goethe  hat 
durch  denselben  der  Verbreitung  Sh.'s  in  Deutschland  auf  in- 
directem  Wege  einen  grossen  Dienst  erwiesen,  einen  Dienst, 
dessen  Werth  er  durch  seine  spätere  unübertreffliche  Kritik  ein- 
zelner Sh. 'scher  Tragödien  erhöhte,  Herder  erfasste  ihn  mit  der 
ganzen  Tiefe  seines  innigen  Gemüths  und  stellte  ihn,  indem  er 
uns  ihn  empfinden  machte,  zugleich  unserem  Verstände  in  sei- 
ner ganzen  Grösse  dar,  nicht  nur,  dass  er  ihn  gegen  die  so  oft 
erhobenen  Anklagen   seines  Mangels  an  Kenntniss   der   drama- 


gehören, als  sie  dem  Fühllosen  freilich  närrisch  vorkommen  können.  Eine 
Probe  sei  z.  B.  das  Gespräch  zwischen  Romeo  und  Julie  auf  dem  Ball,  wo 
immer  die  Allegorie  von  andächtigen  Pilgrimen  in  Frag'  und  Antwort,  bei 
Händedrücken  und  Kuss  fortläuft,  dass  es  so  heimlich  wird,  als  es  freilich 
romantisch,  und  wenn  Sie  wollen,  abentheuerlich  im  Deutschen  heraus- 
kommt. Um  so  mehr  freut  es  mich,  dass  durch  alle  dies  Missrathen  der 
Geist  Sh.'s  Sie  hat  erwärmen  können.  (Herder's  Leben  I.  S.  170  von  Ca- 
roline von  Herder.) 

*  Vergl.  hierüber:  Dichtung  u.  Wahrheit,  Theil  HI.  Buch  11.  S.  45. 


in  England,  Frankreich  und  Deutschland.  39 

tischen  Regeln  vertheidigte,  sondern  dass  er  sogar  den  zu  jener 
Zeit  kühnen  Satz  aufstellte,  dass  man,  statt  Sh.  wegen  seiner 
Verstösse  gegen  die  aristotelischen  Regeln  (im  französischen 
Sinne)  zu  entschuldigen,  in  ihm  vielmehr  den  Schöpfer  einer 
neuen,  der  Neuzeit  allein  angemessenen  Dramatik  bewundern 
müsse. 

Wie  wohlthuend  wirkt  nach  allen  den  widerwärtigen  und 
sinnlosen  Kritiken  verständniss  -  und  gefühlloser  Beurtheiler  der 
Ausguss  tiefer  Bewunderung  und  Verehrung  in  einem  solchen 
Manne.  „O  Shakespeare!  wie  kehrst  Du  das  Innere  hinaus! 
machst  sprechend  den  stummsten  Abgrund  der  Seele!  Alles  ist 
Dir  Verhängniss,  und  ohne  innere  Theilnahme  doch  Nichts  Ver- 
hängniss.  Zu  jedem  Deiner  Ereignisse,  seien  sie  Gräuel  oder 
edele  Thaten,  stimmt  die  ganze  Natur  bei,  frohlockend  oder 
schaudernd.  Das  Ungewitter  in  Lear,  da  der  Himmel  seinen 
ganzen  Zorn  wegen  des  Undanks  der  Töchter  ausgiesset,  trifft 
das  nackte  Haupt  des  unbedachten  dachlosen  Vaters,  der  an 
seinem  Unglück  selbst  Schuld  ist.  Das  Klopfen  an  Macbeth's 
Thür,  sobald  der  König  ermordet  ist,  und  was  der  Wächter 
dabei  saget ;  die  Furchtereignisse  nach  König  Hamlets  Tode, 
sonst  jede  Zustimmung  der  Natur  zu  der  von  Dir  dargestellten 
That;  sie  zeigen  alle  Deine  stille,  grosse  in's  Weltall  ergossene 
Seele,  in  die  sich  alles  spiegelt,  aus  der  sich  alles  herausspie- 
gelt, Verhängniss  und  Character,  Character  und  Schicksal. 
Grosser,  stiller  Dichter,  Du  führtest  die  Wage  menschlicher 
Gesinnungen  und  des  waltenden  Schicksals  in  Glück  und  Un- 
glück mit  Treue,  mit  Wahrheit.  Keines  Deiner  Stücke  ist  dem 
andern  gleich;  in  jedem  haucht  ein  anderer  Welt-,  Zeit-  und 
Lebenso;eist ;  das  Band  der  Begebenheiten  ward  immer  anders 
geschlungen,  anders  geleitet;  und  doch  ist's  allenthalben  nur 
Dein  unsterblicher  Griffel,  der  von  den  Tafeln  des 
Verhängnisses  uns  diese  Gemälde  darstellte  und  unser  in- 
neres Auge  ihnen  aufs c bloss." 

An  einer  anderen  Stelle:  „Die  Liebe,  nie  ist  sie  bei  Sh. 
Galanterie,  als  wo  sie  es  sein  muss.  Wahre  Liebe  dagegen 
mit  allen  Vorbereitungen  und  Wendungen,  mit  jedem  süssen 
Spiel,  das  ihr  gehöret,  geschweige  mit  den  verschiedenen  Aus- 
gängen ihres  Schicksals  —  wer  hat   sie  reiner,   tiefer,    vollen- 


40      Shakespeare's  Würdigung  in  England,  Frankreich  u.  Deutschland. 

deter  dargestellt  als  Sh.?  Romeo  u.  Julie,  Desdemona,  Imogen, 
so  manch  anderes  Gemälde  mit  anderen  Farben  gemalt,  in  an- 
deren Situationen  dargestellt,  sind  ewig  lebende  Bilder  im  Gar- 
ten der  Liebe !  Ihr  und  jeder  Leidenschaft  wies  Sh.  das  Gebiet 
an,  das  jeder  gehöret." 

Diese  Bewunderung  für  Sh.  und  dies  Hineinleben  und  Sich- 
hineinfühlen  in  seine  Denk-  und  Empfindungs weise  hielt  Herder 
jedoch  nicht  ab,  ernst  zu  prüfen,  in  wie  fern  er  dieser  Bewun- 
derung auch  vom  künstlerischen  Standpunkte  würdig  wäre,  und 
er  stellte  so  in  einem  in  den  „Blättern  für  deutsche  Art  und 
Kunst"  im  J.  1773  erschienenen  Aufsatze  die  Grundzüge  einer 
ganz  neuen  Beurtheilung  des  künstlerischen  Werthes  der  Sh.'schen 
Werke  auf,  indem  er  die  Abweichung  des  modernen  Dramas 
von  den  Tragödien  der  Griechen  klar  und  alli2;emein  fasslich 
erörterte  und  seine  Berechtigung  nachwies. 


Die  Dichter  der  modernen  französischen 
Literaturperiode. 

Von 

Dr.  J.  J.  S.  May  in  München. 


Die  französische  Literatur  bietet  in  ihrer  Entwickelungs- 
gesehichte  ein  Phänomen  dar,  welches,  wenn  sich  auch  AehnU- 
ches  in  den  Literaturen  anderer  Völker,  namentlich  der  Spa- 
nier, der  Italiener  und  selbst  der  Deutschen,  findet,  doch  nir- 
gends so  auffallend  erscheint  und  so  consequent  durchgebildet 
worden  ist,  als  bei  den  Franzosen,  nämlich  ein  gänzliches  Ver- 
lassen und  Aufgeben  einer  früheren  Nationalliteratur  und  die 
Aufnahme  einer  neuen,  durchaus  abweichenden,  von  aussen  her 
gekommenen  Richtung,  welche  mit  Verdrängung  des  eigentlich 
.Volksthümlichen  zu  allgemeiner  Geltung  gelano-t  ist  und  alle  Fii- 
eher  der  Literatur  durchdrungen  und  beherrscht  hat  und  im 
Ganzen  noch  jetzt  beherrscht.  Die  französische  Literatur  bis 
auf  die  neueste  Zeit ,  wo  man  endlich  einigermaassen  zur  Be- 
sinnung gekommen  zu  sein  scheint,  bietet  daher  das  auffallende 
Beispiel  einer  durchaus  künstlich  gemachten  Bildung,  welche 
auf  gelehrtem  Wege  entstanden ,  mit  dem  Nationalgeiste  aber 
freilich  nun  innig  verschmolzen,  sich  doch  von  allem  echt  Na- 
tionalen vollkommen  losgerissen  hat,  um  einem  conventioneilen 
Ideal  zu  huldigen.' 

Man  ist  wol  darüber  einig,  dass  die  Franzosen  das  am  we- 
nigsten poetische  Volk  In  Europa  sind,  In  dem  Sinn,  dass  sich 
die  Poesie  im  poetischen  AVort  und  Bild  ausdrückt.  Denn  In 
der  Poesie  des  Heldenthumes ,  der  Thaten  sind  sie  gross  vor 
andern,    und    sie    gleichen  darin   den  alten    Römern,    die  auch 


42  Die  Dichter  der  modernen  fianzösischen  Literaturperiode. 

nicht  die  ausgezeichnetste  Poesie  schrieben,  aber  die  grösste 
Poesie  auf  den  Schhichtfeldern  wie  auf  dem  Marktplatz  Eoms, 
auf  der  Weltbühne  spielten.  So  geht  auch  bei  den  Franzosen 
die  wahre  Tragödie  öfters  durch  die  Strassen  von  Paris  als  über 
die  Bretter  des  Schauspielhauses,  und  ein  grösseres  Heldenge- 
dicht ist  mancher  Heereszug,  als  das  beste  Gedicht  ihres  be- 
sten epischen  Dichters.  Darum  ist  auch,  wie  bei  den  Römern, 
ihre  Geschichtsschreibung  wahrhafter  poetisch,  als  ihre  Ge- 
dichtschreibung, wiewol  sie  auch  in  der  Geschichte  bis  jetzt 
mehr  auf  Pracht  des  Gedankens  und  Wortes,  auf  glänzenden 
und  hinreissenden  Styl  ausgingen,  als  auf  die  einfache  Hoheit 
der  Wahrheit  und  den  stillen  Geist  der  Schönheit. 

Fast  noch  an  der  Grenzscheide  des  Mittelalters  und  der 
modernen  Zeit  tritt  uns  ein  Mann  entgegen,  der,  indem  er  der 
Unnatur  der  Romantik,  die  sich,  wie  wir  gesehen,  in  immer  in- 
haltlosere Allegorien  verflüchtigt  hatte,  die  concrete  Natur  und 
den  gesunden  Menschenverstand  gegenüberstellte,  noch  seine 
eigenen,  wenn  auch  seltsamen  Wege  wandelte.  Wenn  auch 
die  meisten  Anekdoten,  die  man  von  Franz  Rabelais  erzählt, 
wol  nicht  allzu  begründet  sein  möchten,  so  ist  doch  so  viel  ge- 
wiss, dass  er  ein  Mann  von  höchst  umfassender  Gelehrsamkeit 
gewesen  und  ein  sehr  bewegtes  Leben  geführt  hat,  wie  er  denn 
nach  einander  Franziscaner  und  Benedictiner,  dann  Doctor  und 
Docent  der  Medicin  in  Montpellier,  Herausgeber  medicinischer 
Schriften,  Arzt  in  Lyon,  zuletzt  Kanonicus  und  Pfarrer  in 
Meudon  bei  Paris  gewesen,  wo  er  auch  1553  mit  den  Worten 
„ich  gehe,  ein  grosses  Vielleicht  zu  suchen,"  gestorben  ist. 
Sein  Testament  lautete :  Ich  habe  nichts,  ich  bin  viel  schuldig ; 
ich  gebe  den  Rest  den  Armen.  Das  war  der  Meister,  der  den 
grossen  satyrischen  Roman  Gargantua  und  Pantagruel  schuf, 
einzig  in  seiner  Art  durch  die  Kühnheit  seiner  Zusammenstel- 
lungen und  seiner  Wortschöpfungen,  durch  die  Kraft  der  Zeich- 
nung mit  wenigen  gewaltigen  Strichen,  durch  die  Schärfe  des 
Witzes  und  den  Humor  der  Weltanschauung,  durch  die  Tiefe 
seiner  Satyre,  womit  er  die  Gebrechen  seiner  Zeit  und  der 
Menschen  überhaupt,  der  Grossen  und  Kleinen  geisselte,  durch 
die  glücklichsten  Sprünge  vom  Ernst  in  den  Scherz  und  vom 
Scherz   in    den  Ernst,   durch   eine   grossartige   Weisheit    unter 


Die  Dichter  der  modernen  französiscben  Literatui-periode.  43 

dem  Ueberwurf  von  scheinbaren  Ruchlosigkeiten,  und  durch 
einen  grossen  Styl.  Diese  Compositionen  sind  in  der  Poesie 
in  der  That  dasselbe,  was  die  ungeheuerlichen  Gestalten  eines 
Höllenbreughels  oder  Hieronynius  Bosch  in  der  Älalerei.  Es 
sind  kecke  Satyren  auf  die  Sophisterei  der  Scholastik ,  auf  die 
Verderbtheit  des  Klerus,  auf  die  Zuchtlosigkeit  der  damaligen 
Pariser  Sitten ,  die  bis  in  die  geringsten  Einzelheiten  geschil- 
dert werden,  auf  die  Völlerei  und  Schlemmerei  des  Zeitalters, 
<Te2;en  Ende  auch  auf  die  Politik  desselben.  Gargantua  ist  ein 
Fresser,  Pantagruel  ein  Säufer.  Die  Anlage  ihrer  Geschichte 
ist  nun  zwar  biographisch,  allein  ohne  irgend  ein  psychologi- 
sches oder  ethisches  Interesse.  Eabelais  überlässt  sich  mit  sei- 
nem unendlichen  Talente  zur  Komik  jeden  Augenblick  den  Ein- 
fällen, die  ihm  gerade  kommen,  unterdrückt  keinen  Witz,  der 
sich  ihm  darbietet ,  und  wühlt  sich  mit  Behagen  gern  in  den 
schlammigsten  Cynismus  hinein.  Das  ritterhche  Ideal  behan- 
delt er  mit  nicht  geringerer  Verachtung,  als  das  mönchische. 
Er  ist  voller  Witz,  Laune,  Schalkheit,  Phantasie  und  hat,  im 
Gegensatz  zur  höfischen  Poesie,  die  Sprache  des  Volkes  aufge- 
nommen, die  er  mit  der  genialsten  Willkür  durch  die  kühnsten 
Schöpfungen  erweiterte,  allein  im  Ganzen  haftet  ihm  eine  Form- 
losigkeit an,  die  auch  bis  zur  Rohheit  sich  verläuft.  Die  er- 
götzlichste Figur  seiner  bunten  Erzählung,  der  vielgereiste 
Panuro-e  wird  schon  nach  Beendigung  des  Krieges  des  Panta- 
gruel  mit  den  Dipsoden  vom  dritten  Buche  ab  die  Hauptper- 
son. Er  möchte  gern  heirathen.  Die  Bedenken  gegen  diese 
Neigung  werden  mit  gründlicher  aber  äusserst  cynischer  imd 
widriger  Breite  erörtert  und  zuletzt  will  Panurge  das  Orakel 
der  heiligen  Flasche  darüber  befragen ;  dies  giebt  die  Veran- 
lassung zu  einer  Reise  nach  den  Inseln  der  Nirgendheimer  und 
des  Laternenvolkes.  Panurge  gelangt  endlich  auch  zu  seinem 
Zweck.  Die  heilige  Quelle,  aus  welcher  er  die  Flasche 
empfängt,  murmelt  ein  Orakel,  welches  die  Priesterin  für  das 
bedeutendste  erklärt ,  das  sie  je  vernommen.  Es  heisst  näm- 
lich: Trink!  Der  Gehalt  seines  wunderlich  krausen,  göttlich- 
tollen Buches  ist  ein  ewiger;  er  gehört  nicht  nur  seiner  Zeit, 
sondern  jeder  Zeit  an,  weil  im  Besonderen  das  Allgemeine  ge- 
zeichnet   ist,    weil  er  tief  aus    der   menschlichen   Natur  nahm. 


44  Die  Dichter  der  modernen  französischen  Literaturperiode. 

Man  stosse  sich  nur  nicht  an  dem  Seltsamlichen  seiner  Bildun- 
gen: er  sollte  und  wollte  das  Ungeheure  des  Burlesken  geben. 
Man  ärgere  sich  nicht  am  Gemeinen :  das  ist  ein  unentbehrli- 
ches Ingredienz  einer  solchen  Komik,  wenn  sie  ist,  was  sie  sein 
soll.  Er  schuf  die  neufranzösische  Literatur,  mit  ihm  fing  die 
neufranzösische  Sprache,  die  in  den  Zeiten  Franz  I.  zu  allge- 
meiner Herrschaft  gelangte,  an;  Viele  lernten  von  ihm,  aber  sie 
wussten  nicht,  wie  er,  die  Sprache  weiter  zu  bilden  und  zu 
bereichern. 

Das  Genie  Rabelais',  des  phantasie-  und  geistreichsten  fran- 
zösischen Dichters,  vererbte  sich  nicht.  Statt  wie  er  die  Sprache 
immer  freier  und  beflügelter  zu  machen  und  ihr  schöne  sinn- 
liche Anschaulichkeit  zu  geben,  banden  und  beschnitten  sie  ihr 
die  Flügel  und  zogen  ihr  alles  Fleisch  ab.  So  wurde  die  fran- 
zösische Sprache  das,  was  sie  bis  zur  Revolution  blieb,  —  un- 
frei ,  kaltblütig ,  abgezogen ,  abgeblasst ,  unvolksthümlich,  vor- 
nehm ,  reich  an  Ausdrücken  für  praktische  Dinge ,  arm  an 
Bezeichnungen  für  das,  was  in  der  Tiefe  der  Seele  vorgeht, 
für  alles  Ideale.  Erst  die  Revolution,  welche  alles  Ueberkom- 
mene  umkehrte,  und  alles  Gebundene  freigab,  führte  auch  der 
Sprache  wieder  aus  der  Hütte  und  vom  Markt,  aus  den  ur- 
sprünglichen lebendigen  Quellen  neue  Lebenskräfte  zu  und  ge- 
stattete ihr  einen  freieren  und  höheren  Schwung.  Unter  uner- 
müdlichem Säubern  und  Klären  durch  solche,  welche  kalte 
Schönredner  aber  keine  Dichter  waren,  war  die  Sprache  frei- 
lich zu  einer  eigenen  Klarheit  und  geschmackvollen  Einfachheit 
gekommen.  Sie  zeichnet  sich  vor  den  meisten  modernen  Spra- 
chen durch  logische  Präcision,  Nettigkeit  und  Durchsich- 
tigkeit aus ,  ist  aber  eben  deshalb  gebundener  und  unbiegsa- 
mer, als  alle  übrigen,  wegen  ihrer  Einförmigkeit  in  der  Beto- 
nung der  Bilduugssilben  und  der  meist  consonantisch  abge- 
stumpften oder  in  tonlose  Vocale  abgeschwächten  Auslaute,  är- 
mer an  Wohllaut  und  unrhythmischer:  ihre  Hauptstärke  ist  da- 
her die  Prosa  und  sie  eignet  sich  vorzugsweise  zur  Umgangs- 
sprache. 

Ebenso  wurden  Grundgesetze  und  Grenzen  der  Poesie  für 
immer  und  ewig  festgestellt,  Glaubenssätze  der  Dichtkunst,  von 
denen  keiner  abweichen  durfte,  und  zwar  Grenzen  und  Gesetze 


Die  Dichter  der  modernen  französischen  Literaturperiode.  45 

sowol  für  die  Form  als  für  den  Inhalt.  Unerlässlich  war  in 
Sonderheit  für  das  Schauspiel  die  Beachtung  der  hochheiligen 
Reo;el  der  drei  Einheiten  und  die  Scheiduno-  des  Komischen 
und  Tragischen,  des  Ernstes  und  Witzes.  In  der  Tragödie 
war  der  Wärmegrad  des  Gefühls  und  der  Leidenschaft  vorge- 
schrieben, alles  Starke  war  verboten,  und  nur  das  Zarte,  an- 
ständig Gemässigte  der  Gesinnung  und  des  Ausdrucks,  eine  ge- 
wisse Vornehmigkeit  beider,  was  man  so  Adel  und  fürstlichen 
Anstand  in  den  gebildeten  Kreisen  nannte,  war  zugelassen. 
Weiter  war  das  Feld  für  die  Posse  und  das  Intriguenstück, 
doch  musste  auch  der  Inhalt  dieser  hoffähig,  eine  höflich  feine, 
nach  dem  Beo^i'ifFe  der  gesellschaftlichen  Etikette  anständio-e 
Kurzweil  sein.  Wehe  dem,  der  etwas  geschrieben  hätte,  das 
vom  Athem  des  Volkslebens  nur  von  fern  angehaucht  gewesen 
wäre,  nur  einen  einzigen  Ausdruck!  Alles  musste  aus  der  soge- 
nannten guten  Gesellschaft  genommen  sein.     Und 

„Gute  Gesellschaft  hab'  ich  gesehn;    man  nennt  sie  die  gute, 
Weil  sie  zum  kleinsten  Gedicht  keine  Gelegenheit  giebt." 

In  solchen  Fesseln  musste  sich  die  französische  Poesie  be- 
wegen. Sie  konnte  keine  Palme  werden,  das  Genie  wird  gross 
nur  in  der  Himmelsluft  der  Freiheit ;  sie  wurde  ein  hübscher 
Zierbaum  im  Hofgarten. 

Was  das  Zeitalter  Franz  des  I.  vorbereitet  hatte,  ging  in 
dem  Zeitalter  Ludwig  des  XIV.  in  Erfüllung.  Die  Bourbons 
vollendeten  das  Werk  der  Valois.  Aus  dem  Feudalstaat  war 
das  souveraine  Königthum,  aus  diesem  die  raffinirte  Despotie 
geworden,  welche  ihr  schnödes  Princip  in  dem  berüchtigten 
Worte  des  vierzehnten  Ludwigs :  l'etat  c'est  moi !  aussprach ; 
die  nationalen  Erinnerungen  waren  verwischt ,  die  Volkskraft 
gebrochen  oder  entnervt,  ein  stehendes  Heer,  Polizeibrutalität 
und  das  unter  dem  Titel  „Finanzwürthschaft"  organisirte  Aus- 
saugesystem gaben  die  Regierungsmittel  dieses  Königthums  ab, 
welches  mit  wahnwitzigem  Eifer  den  Schlund  aushöhlte,  in 
den  es  zu  Ausgang  des  18.  Jahrhunderts  versinken  sollte. 
Ludwig  XIV.  hat  das  seltene  Glück  gehabt,  überall  mühelos 
zu  ernten,  was  lange  vor  ihm  von  Andern  unter  Kämpfen  aller 
Art  ausgesäet  und  herangereift  war.  Durch  Richelieu's  eisernen 
Willen  und  durch    alle  Künste   der  Schlauheit  und  Gewalt  war 


46  Die  Dichter  der  modernen  französischen  Literaturperiode. 

die   letzte   Macht  der  Grossen   und  der  Widerstand  der  Prote- 
stanten o-ebrochen;    denn  die  geringen  fast  lächerlichen  Unruhen 
der  Fronde,  welche  die  Jugend   des    Königs  berührten,  verdie- 
nen kaum  erwähnt  zu  werden.     Die  Macht  des  Königs  war  un- 
umschränkt,   und    wenn    er  nur  einigermaassen  den  Umständen 
entsprach,  so  rausste  seine  Regierung  kräftig  und  glänzend  sein. 
Durch  Ronsard,  Jodelle  u.  A.   war  die  Sprache  ihrer  Voll- 
endung nahe  gebracht  und  feste  Grundzüge  für  literarische  Pro- 
ductionen  aufgestellt  worden;  man  wusste,  was  man  wollte,  und 
es  kam  nur  darauf  an,  dass  sich  Talente  fänden,  das  auszufüh- 
ren, was  längst   schon    angebahnt    war.      Ludwig   war  aber  ge- 
rade  der    Mann,    der    als    die    Sonne,    um    Avelche    sich    Alles 
drehte,  diese  Keime  zu   reifen   verstand.      Mit  massigen  Fähig- 
keiten beo-abt,  ohne  alle  eigenen  Kenntnisse  und  Bildung,  wurde 
er  doch  getragen    von    dem    erhebenden    Gefühl    seiner    königli- 
chen  Würde  und  nicht  ohne   einen  gewissen  Tact  für  das  Edle 
und  Grosse  hat  er  seinem  Hofe  und  seiner  ganzen  Zeit  das  Ge- 
l)räge    des    Hohen,    Vornehmen    und    Anständigen    aufgedrückt. 
Alles    drängte,    sich    dem  Feenreiche    dieses    glänzenden    Hofes 
zu  nähern,  alle  Augen  waren   auf  den  Hof  gerichtet ,    und    wie 
dort  nur  das  Feine,  das  Abgeschliffene  geduldet  werden  konnte, 
so  war  es  ganz  natürlich,  dass  auch  die  ganze  Literatur  diesen 
Charakter  annahm.     Was  nicht  in  Gegenwart  eines  solchen  [Kö- 
nios,   was  nicht  in  dem  Kreise  eines  solchen    Hofes  gesprochen 
und  gethan  werden  durfte,    das  musste  als  roh  und  gemein  er- 
scheinen, woo-egen  dann  freilich  ebenso  natürlich  das  Vornehme 
an    die  Stelle  des  Erhabenen,    das   Zierliche   und    Geleckte    an 
die  Stelle  der  Leidenschaft  und   der    Innigkeit,    das   Künstliche 
und    Gemachte    an    die  Stelle    der    Natur  und  Wahrheit  treten 
rausste.     Selbst    die  Schwäche  des  Königs  für  das  schöne  Ge- 
schlecht war  mit   einer  gewissen  vornehmen  Decenz    verbunden 
und  eine  zierliche  Sittenlosigkeit,    welche   wenigstens  vor   Roh- 
heit und  Zügellosigkeit  bewahrte,    verlieh    den  Frauen    ein  ent- 
schiedenes Gewicht  und  einen  mächtigen  Einfluss  auf  literarische 
Gegenstände,  die  nun  in   ihrer  Gegenwart,  ja    unter    ihrer    un- 
mittelbaren Mitwirkung  verhandelt   wurden.     Selbst  die  Gelehr- 
samkeit    und    die     ernste    Wissenschaft    konnten    sich     diesem 
Einflüsse  der  höfischen    Sitten   und    des  höfischen  Geschmackes 


Die  Dichter  der  modernen  französischen  Literaturperiode.  47 

nicht  entziehen  und  strebten  nach  gefälliger ,   lichtvoller ,    allge- 
mein verständlicher  Darstellung,    ein   Vorzug,    welchen  Frank- 
reich   bis    auf  den  heutigen    Tag    behauptet   hat.     Wie    wenig 
gründliche  Bildung  aber  und  Kunstsinn  diesem  Glanz  und  die- 
ser AbgeschlifFenheit    zu  Grunde   lag,    das    sieht    man   an    dem 
kläglichen  Zustande,  in  welchem  sich  damals  die  Künste  befan- 
den.     Die  Musik   y.'ar    elende   Stümperei,    in   den    plastischen 
Künsten  der    Bildhauerei   und   Architektur    begnügte    man    sich 
mit   einer    überkünstelten   Nachahmung    der   Italiener,    und  wie 
wenig    Schönheitssinn    vorhanden  war,    zeigen    schon    die    über 
alle  Begriffe   geschmacklosen    Moden    in   der    Kleidertracht    der 
Männer    und    Frauen,    Avelche    natürlich   auch    die  Malerei    zur 
Carricatur  machten.     Die  Alten   —    das  stand    nun  fest  für  alle 
Zeiten  —  wurden  als  die  allein    ewig   gültigen  Muster  betrach- 
tet, mit  dem  stillschweigenden  Vorbehalte  jedoch,  dass  sie  ihrer 
oft  etwas  derben   Natürlichkeit  entkleidet    sich    den  feinern  Sit- 
ten und    der  zahmen  Abgeachliffenheit   eines    unsittlichen   Hofos 
unterwerfen  müssten.     Correctheit    der   Sprache    und  des  Vers- 
baues, durchgängig  sich  gleichbleibende  Zierlichkeit    und  Ange- 
messenheit des  Ausdruckes,  und  das,    was  bei  Hofe  als  Würde 
galt,  das  waren  die  Maassstäbe,    womit    nunmehr  Alles  gemes- 
sen und  beurtheilt  wurde,  wobei  durchaus  kein  wesentlicher  Un- 
terschied zwischen  Poesie  und  Prosa  gemacht  wurde,  die  nämli- 
chen   Regeln   für  beide  galten,    so    dass  die    echt  französischen 
Kunstrichter   das    dem  Buffon    häufig    beigelegte    Wort  stets  zu 
dem  ihrigen  gemacht  haben,  von  einem  Gedichte,    das  sie  rüh- 
men Avollten,  zu  sagen:    cela   est    beau    comme  de    belle  prose. 
Die  ganze   Literatur    war   formell    und   conventioneil,    der  Hof 
war  der  Parnass  und  die  von  dem  Cardinal  Richelieu  im  Jahre 
1635    gestiftete   französische    Academie    decretirte    Unsterblich- 
keit und  Verdammung.     Die  Classik  der  Franzosen  ist  demnach 
ein  Product  der  Gelehrsamkeit,    wie    die    Literatur  der   alexan- 
drinischen  Griechen,   daher    —    bei  aller  Achtung  vor  den  emi- 
nenten Talenten,  die  sie  aufzuweisen  hat,    muss  es  gesagt  wer- 
den —  ihre  Vernachlässigung  und  Missachtung    der  Natur,  ihre 
Gemachtheit,    ihr   gefrornes  Pathos,    ihre  bloss  rhetorische  Be- 
geisterung,   welche   die  hölzernen    Dämme   der    Convenienz  nie 
oder    doch   nur    höchst   selten   zu  übcrfluthen    kräftig  und  kühn 


48  Die  Dichter  der  moflorncn  französischen  Literaturperiode. 

genuo-  ist.     Nicolas  Boileau  Despreaux  war  es,  der  den  ästheti- 
schen   Kanon   des   classischen  Zeitalters   aufstellte.      Wer  seine 
versificirte  Poetik  kennt,    der  kennt    auch   den   Geschmack  der 
Franzosen    im   siebzehnten    und    achtzehnten   Jahrhundert,    der 
kennt,  sobald  er  nur  urthellen  kann,   das  Gute,    aber  auch  das 
Erbübel  der  französischen  Poesie.     Sieht  man  auf  Form,    Dar- 
stellung, Sprache,  Versification  ^es  Werkchens,    so   ist  es  vor- 
trefflich und  verdient    die   staunende  Bewunderung,    welche  die 
Franzosen  ihm  als  einem  Symbol  erweisen.     Verlangt  man  aber 
in  einem   kritisch-ästhetischen   Lehrgedichte  etwas  Andres,    als 
eine  Kritik    der  Fehler,    welche   Dichter   gegen    Sprache,    Styl 
und  Eleganz  begehen  können,  ist  man  nicht  zufrieden,  bloss  zu 
erfahren,  dass  der  Poet  Genie  haben  und  dem  bon  seus  getreu 
bleiben  müsse,  genügt  Einem  eine  Anweisung  zum  Reimen,  die 
Warnung    sich    vor  dem  Niedrigen  zu  hüten,    nicht;    will   man 
nämlich  wissen,    was    denn    eigentlich  Poesie  ist,  so  fragt  man     | 
Boileau  vergebens.     Die  Einkleidung  eines   mittelmässigen  Ge- 
dankens in  edle,  gut  versificirte  Worte,  die  man  bei  Hofe  hören 
lassen  könnte,  das  ist  ihm  Poesie. 

Die    ganze  Eigenthümlichkeit    des    modern-antiken    Ideals 
kam  in  der  dramatischen  Poesie  der  Franzosen  zum  Vorschein. 
Im  Roman  konnte  dasselbe,  der  Natur  der  Sache  nach,  weniger 
durchdringen.     In  der  Lyrik  herrschte  es  zwar,    allein  in  einer 
unvollkommenen  Weise,    denn  die    alten  Töne  der  ursprünglich    j 
proven^alischen  Lyrik  kehrten    immer    zurück:  die  italienischen    ] 
Formen,    deren  man  nicht    mehr    entrathen    konnte,   waren  ja 
theilweis    aus    ihr   hervorgegangen.     Die  quantitätslose   Sprache 
und  der  Reim  machten  hier  eine  völlig  servile  Nachahmung  der 
Alten    unmögHch.     Im   Drama   aber  konnte  das    modern-antike 
Ideal  bis  zu  einer  Vollständigkeit  und  Reinheit  sich  durchsetzen, 
wie  sie  in   der  Lyrik   und    Epik  unmöglich  war.     Dennoch  ist 
es  ein  Irrthum,  wenn  man  sich ,    wie   es   sehr   häufig  geschieht, 
vorstellt,    dass   die    Franzosen    das   romantische    Element     des 
Drama's  ganz  auszuschliessen  vermocht  hätten.     Man  überzeugt 
sich  nämlich  bei  näherer   Betrachtung,    dass  eine  sehr  umfang- 
reiche Assimilation  des  spanischen  Dramas    stattfand;    dass  die 
strenge  Scheidung  der  Tragödie  und  der  Komödie  sehr  allmälig 
erfolgte  und  das  Extrem  der  pieces  ä  scenes   detachees ,    so  wie 


[Die  Dichter  der  modernen  französischen  Literaturperlode.  49 

die  Farcen  des  Volkstheaters  immer  neben  sich  liatte,  und  dass 
in  der  Entstehung  der  sogenannten  comedie  larmoyante  sich  im 
Grunde  nichts  Andres  als  das  romantische  Element  wieder  gel- 
tend machte.  Die  französische  Tragödie  hat  als  reines  Kunst- 
werk der  gelehrten  Berechnung  den  unpopulärsten  Ursprung. 
Weil  man  die  griechische  Tragödie  für  die  vollkommenste  hielt, 
so  strebte  man  ihrer  regelmässigen  Form  nach.  Weil  bei  der 
grossen  Einfachheit  der  von  den  Griechen  behandelten  Stoffe 
man  leicht  bemerken  musste,  dass  die  Handlung  des  Dramas 
bei  ihnen  in  der  ßegel  an  einem  und  dem  nämlichen  Orte  und 
an  einem  und  dem  nämlichen  Tage  vor  sich  ging,  auch  Aristo- 
teles diese  Bemerkung  schon  gemacht  hatte,  Horaz  aber,  man 
weiss  nicht  recht  woher,  die  Eegel  aufstellt,  das  Drama  müsse 
fünf  Acte,  nicht  mehr  und  nicht  weniger,  haben,  so  glaubte  man 
in  diesen  Gewohnheiten  der  Alten  die  lange  gesuchten  Regeln, 
die  sogenannten  drei  Einheiten,  die  Einheit  der  Handlung  näm- 
lich, die  sich  freilich  von  selbst  versteht,  mit  eingeschlossen,  ge- 
funden zu  haben,  und  dies  von  Boileau  ausgesprochene  Gesetz 
galt  seitdem  für  einen  Fundamentalartikel  des  ästhetischen  Glau- 
bens bei  den  Franzosen.  Weil  man  ferner  mit  Aristoteles 
glaubte,  der  Zweck  einer  Tragödie  bestehe  in  Erregung  der 
Affecte  der  Bewunderung  und  des  Mitleids,  so  legte  man  es 
auch  hierauf  lediglich  und  geflissentlich  au.  Man  betrachtete 
das  Theater  als  einen  galvanischen  Apparat  zur  beliebigen  Er- 
regung interessanter  Nervenzuckungen.  Man  operirte  mit  der 
Behutsamkeit  und  der  ausgeklügelten  Vorsicht  eines  experimen- 
tirenden  Physikers.  Man  berechnete  Scenen  für  möglichst 
starke  und  möglichst  interessante  Empfindungen.  Um  die 
Empfindungen  stark  zu  haben,  wählte  man  lauter  heroische 
Charaktere  und  nahm  daher  die  Personen  am  liebsten  aus  der 
heroischen  Eömerzeit.  Die  Folge  jenes  ersten  zwingenden  Ge- 
setzes war  einerseits  der  Ausfall  aller  grossen ,  wahrhaft  er- 
schütternden Scenen,  die  nur  in  der  Wechselwirkung  des  heroi- 
schen Individuums  mit  der  Masse,  die  nur  in  der  Berührung 
mit  den  ewigen  Mächten  der  Natur,  mit  Wald  und  Berg,  Strom 
und  Meer,  Erde  und  Himmel  möglich  sind;  andrerseits  die 
Nothwendigkeit,  den  breiten  Hintergrund  eines  V^olkslebens  und 
der   Natur    doch    zur    Anschauung    zu  bringen,    was    man    nur 

Archiv  f.  n.  Siaachcn.    XLVIH.  4 


50  Die  Dichter  der  modernen  französischen  Literaturperiode. 

durch  ärmliche  Surrogate  vermochte,  durch  Beschreibungen  von 
Schlachten,  Ungeheuern,  Stürmen,  durch  Briefe,  Monologe,  na- 
mentlich aber  durch  die  sogenannten  Vertrauten,  welche  dem 
Helden  oder  der  Heldin  von  allem  Wichtigen  und  Geräusch- 
vollen, was  sich  draussen  begiebt,  erzählen.  Die  Declamation 
musste  daher  der  Mittelpunkt  der  ganzen  Darstellung  werden; 
denn  ihr  ward  es  zugemuthet,  alles  das  für  die  Phantasie  des 
Hörers  hervorzuzaubern,  was  er  selbst  hätte  sehen  und  hören 
sollen.  Die  Folge  dieses  zweiten  Irrthums  aber  war,  dass  man, 
um  seltene,  interessante  und  kostbare  Empfindungen  zu  bekom- 
men, die  Personen  in  widersprechende  Verhältnisse  setzte,  wo 
ihre  Seelen  einen  seltenen  und  unverhofften  Farbenwechsel  der 
Aflfecte  entwickeln  mussten.  Hieraus  entsteht  ein  Antithesen- 
spiel. Man  strebt  nach  Antithesen  in  den  Verhältnissen  der 
Personen  gegen  einander,  in  ihren  Situationen,  in  ihren  Leiden- 
schaften und  endlich  auch  iu  ihren  Worten.  Der  Begründer 
dieses  tragischen  Schachbretts  ist  Corneille,  sechs  Jahre  jünger 
als  Calderon.  Pierre  Corneille  bewegt  sich  in  der  Dialectik 
der  Collision ,  dass  die  Erfüllung  der  Pflicht  zugleich  die 
Pflicht  verletzt. 

In  Cinna  ist  ein  Kampf  des  Gefühles  der  Dankbar- 
keit mit  dem  der  Liebe  gesetzt.  Der  Kaiser  Augustus 
überhäuft  den  Cinna  mit  Vertrauen  und  Wohlthaten.  Dies  er- 
regt seine  Dankbarkeit  in  hohem  Grade.  Aber  Cinna  liebt  auch 
Emilie,  und  diese  schenkt  ihm  ihre  Liebe  nur  um  einen  hohen 
Preis.  Der  Preis  ist,  dass  er  sich  ihr  durch  einen  Schwur  ver- 
pflichten muss,  den  Kaiser  zu  ermorden.  Das  Resultat  dieser 
Antinomie  ist  ein  chamäleonischer  Farbenwechsel  seiner  Ge- 
fühle, welchem  dadurch  ein  Ende  wird,  dass  der  Kaiser  die 
Gefahr  entdeckt  und  dem  Cinna  verzeiht.  Emiliens  Gefühle 
aber  bilden  durch  ihren  reinen  Heroismus  gegen  die  des  Cinna 
eine  interessante  Antithese.  Auch  sie  empfängt  vom  Kaiser 
Vertrauen  und  Wohlthaten,  wie  Cinna;  aber  je  höher  dieselben 
steigen,  desto  mehr  stählt  sie  ihr  Gemüth  zum  Widerstand. 
Die  Ursache  ist,  weil  der  Kaiser  ihren  Vater  durch  Proscrip- 
tion hatte  hinrichten  lassen  und  weil  sie,  je  grösser  des  Kaisers 
Wohlthaten  sind,  desto  mehr  fürchtet,  von  ihnen  im  Gemüthe 
bestochen  zu   werden,   und   folglich   desto   mehr   den  Rachege- 


Die  Dichter  der  modernen  französischen  Literaturperiode.  51 

danken  mit  künstlicher  Energie  in  sich  hervortreibt.  Der 
Heroismus  der  Emilie  ist  noch  höher  gesteigert  im  Charakter 
der  Pulcheria  in  der  Tragödie  Heraclius.  Pulcheria  ist  die 
Tochter  des  Kaisers  Mauritius  ,  durch  dessen  Ermordung  sich 
Phokas  den  Weg  zum  Throne  gebahnt  hat.  Sie  wolint  mit  dem 
Tyrannen  in  einem  Hause,  sie  empfängt  Wohlthaten  von  ihm, 
er  will  sie  sogar  mit  seinem  Sohne  vermählen.  Sie  aber  wi- 
dersetzt sich  nicht  allein  dieser  Verbindung,  sondern  behandelt 
den  Phokas  als  einen  Niederträchtigen  und  sagt  ihm  in's  Ge- 
sicht ,  dass  sie  auf  seinen  Tod  sinne.  In  eben  so  hohem 
Grade,  als  dies  Betragen,  frappirt  im  Contraste  dazu  der  Gleich- 
u^uth,  womit  der  Tyrann  dasselbe  erträgt.  Im  Polyeukt  stellt 
der  Dichter  die  siegreiche  Macht  und  die  Wahrheit  der  Ideen 
vor  Augen  und  berührt  darin  die  damals  viel  besprochenen  Strei- 
tigkeiten über  Gnade,  Vorherbestimmung  und  Freiheit.  Po- 
lyeukt ist  Christ,  seine  Gemahlin  Pauline  eine  Heidin.  Pauliiie 
liebt  ihren  Gemahl  aber  nicht,  sondern  ihre  Liebe  hat  sich  auf 
den  Sever  gewandt,  welcher  dieselbe  erwiedert.  Nun  treten 
zwei  interessante  Stellungen  der  Verhältnisse  und  Gefühle  nach- 
einander ein.  Erstlich:  Polyeukt  strebt  nach  keinem  Gute  so 
sehr,  als  danach,  den  Tod  eines  Märtyrers  zu  sterben.  Dies 
ist  im  Grunde  das  Interesse  aller  drei  Personen ,  wonach  alle 
mit  gleicher  Macht  hinneigen.  Dahingegen  sucht  Pauline  aus 
Pflicht  auf  alle  mögliche  Weise  den  Tod  ihres  Mannes ,  den 
dieser  wünscht,  zu  verhindern  und  Sever  leistet  ihr  darin  Bei- 
stand. Zweitens  :  Polyeukt  stirbt  den  Märtyrertod.  Die  Stunde 
der  Erfülluno;  lange  geheofter  Sehnsucht  ist  für  die  Liebenden 
gekommen.  Nun  hingegen  lässt  sich  Pauline  durch  das  glor- 
reiche Märtyrerthum  ihres  Mannes  rühren,  Wittwe  zu  bleiben 
und  zum  Christenthume  überzugehen.  In  dieser  Tragödie  hält 
folglich  das  Hinderniss  der  Liebe  die  Liebe  aufrecht  und  die  Ver- 
tilgung ihres  Hindernisses  vertilgt  zugleich  die  Liebe  mit.  Im  Tode 
des  Pompejus  gesteht  Cleopatra,  den  Cäsar  auf's  Feurigste  zu  lie- 
ben. Aber  der  Ruhm  bewegt  sie  noch  mehr  und  zwingt  sie, 
Alles  für  den  Pompejus  gegen  ihren  Geliebten  zu  thun.  Sie  han- 
delt also  für  den,  den  sie  hasst,  und  streitet  gegen  den,  welchen  sie 
liebt.  Dieselbe  Complication  der  Gefühle  ist  angebracht  irii  Cid, 
den  die  Franzosen    als  ihr  grösstes   Meisterwerk  zu  bewundern 


52  Die  Dichter  der  modernen  französischen  Literaturperiode. 

gewohnt  sind,  obschon  er  keineswegs  Original  ist,  sondern  nach 
Plan  und  Ausführung  nur  eine  verschmelzende  Bearbeitung 
und  stellenweis  wörtliche  Uebersetzung  zweier  gleichnamigen 
spanischen  Stücke  von  Guillem  de  Castro  und  Juan  Bautista 
Diamante,  die  Corneille  nach  gehöriger  Entfernung  des  Roman- 
tischen für  die  französische  Bühne  gewann.  Eodrigo  liebt  Xi- 
mene  und  wird  von  ihr  wieder  geliebt.  Ximenens  Vater  be- 
leidigt den  Vater  Rodrigo's  aufs  Schimpflichste  und  dieser 
trägt  dem  Eodrigo  für  ihn  die  Rache  auf.  Rodrigo  tödtet  Xi- 
menens Vater  im  Zweikampf.  Ximene  fleht  den  König  um  Rache 
an  gegen  ihres  Vaters  Mörder,  den  sie  nicht  allein  auf  das  leiden- 
schaftlichste liebt,  sondern  in  dem  sie  noch  dazu  den  Rächer  seines 
Vaters  ehrt.  Die  Horatier  sind  das  Meisterwerk  Corneilles.  Hier 
schlägt  jeder  Schlag  verschiedenartige  Verbindungen.  Die  Fi- 
guren sind  mit  der  Regelmässigkeit  eines  Schachspiels  einander 
gegenüber  geordnet.  Die  drei  Brüder  Horatier  in  Rom  haben 
eine  Schwester  Camilla,  welche  Braut  des  einen  Curiatiers  ist, 
und  die  drei  Brüder  Curiatier  in  Alba  haben  eine  Schwester 
Sabina,  welche  Gemahlin  des  einen  Horatlers  ist.  Nun  folgen 
drei  Schläge,  welche  entgegengesetzte  Empfindungen  in  den 
Personen  erregen.  Die  Horatier  werden  beordert ,  gegen  die 
Curiatier  auf  Leben  und  Tod  zu  fechten.  Die  Gefühle  der 
Freundschaft  treten  mit  denen  des  Patriotismus  in  Conflict. 
Beim  Gemahl  der  Sabina  bewirkt  die  Furcht,  durch  die  Freund- 
schaft gegen  die  Interessen  des  Vaterlandes  bestochen  zu  wer- 
den, ein  künstliches  Hinauftreiben  der  patriotischen  Gesinnung. 
Er  spricht :  „Mit  einer  ebenso  grossen  und  aufrichtigen  Freude, 
als  womit  ich  die  Schwester  heirathete,  werde  ich  den  Bruder 
bekämpfen."  Beim  Bräutigam  der  Camilla  dagegen  zeigen 
sich  beide  Gefühle  im  einfachen  Conflict.  Der  Horatier  spricht 
zum  Curiatier:  „Geh,  Alba  hat  dich  ernannt,  ich  kenne  dich 
nicht  mehr."  Der  Curiatier  antwortet  ihm:  „Ach,  ich  kenne 
dich  noch,  und  das  ist's,  was  mich  tödtet."  —  Es  kommt  die 
Nachricht,  dass  zwei  Horatier  getödtet  seien,  und  der  dritte, 
nämlich  der  Gemahl  der  Sabina,  fliehe.  Sabina,  welche  durch 
diese  .  Nachricht  sowol  ihren  Gemahl  als  ihre  Brüder  gerettet 
sieht,  empfängt  davon  eine  stille  Freude.  In  Camilla  vermischt 
sich    der  Schmerz    über  den   Verlust     zweier   Brüder    mit   der 


Die  Dichter  der  moderneu  französischen  Literaturperiode.  53 

Freude  über  die  Rettung  ihres  Geliebten.  Der  Vater  der  Ho- 
ratier  aber  tobt  in  Verzweiflung  über  die  Feigheit  des  fliehenden 
Sohnes.  Er  Avünscht  sich  Glück  zu  dem  Verluste  der  beiden 
andern  und  klagt  nur  um  die  Erhaltung  des  letzten  Zweiges 
seines  Geschlechts.  Doch  bald  meldet  ein  Bote  den  Ausganir 
des  Kampfes.  Der  Horatier  hat  durch  seine  verstellte  Flucht 
gesiegt.  Sabinens  frohe  Stimmung  sinkt.  Camillens  Seele 
taucht  sich  in  heimliche  Verzweiflung.  Den  alten  Horaz  bringt 
der  Sieg  Roms,  der  Ruhm  seines  Stammes ,  die  Erhaltung  sei- 
nes Sohnes  zu  hoher  Entzückung. 

In  allen  seinen  Stücken  rollt  Corneille  eine  Welt  toU 
grossartig  angeregter  und  energischer  Naturen  vor  uns  auf,  und 
sein  Sinn  war,  nicht  allein  durch  Schrecken  und  Mitleid,  son- 
dern auch  durch  Bewunderung  den  ethischen  Zweck  der  Tra- 
gödie, die  Reinigung  der  Leidenschaften,  zu  erreichen.  Von 
der  stillen  Schönheit,  in  der  der  höchste  poetische  Genius  sich 
kund  thut,  von  jener  Einfachheit  und  Wahrheit,  mit  der  Shake- 
speare malt,  ist  nichts  in  Corneille.  Corneille's  Cleopatra 
wird  der  shakespearschen  gegenüber  fast  lächerlich.  Viel 
Schein-Grosses  waltet  bei  geringem  innern  Zusammenhange  an 
seinen  Stücken;  die  innere  Nothwendigkeit  kommt  in  allen  zu 
kurz.  Corneille's  Ilauptverdienste  bestehen  in  dem  Adel  seiner 
Gesinnung,  Avelche  ihn  vor  der  Gemeinheit  und  Plattheit  seiner 
Vorgänger  bewahrte,  und  in  dem  männHchen,  oft  erhabenen 
Tone  seiner  Sprache ;  Verdienste,  welche  aber  nicht  selten,  auch 
in  den  bessern  Stücken,  durch  Härte  des  Ausdrucks,  Geschro- 
benheit  der  Gedanken  und  politischen  Bombast  verdunkelt  wer- 
den. Die  französische  Kritik  hält  pich  vorzüglich  an  gewisse 
Schlagworte  und  glänzende  reparties,  welche  in  seinen  bessern 
Stücken  vorkommen,  etwa  wie  die  Italiener  während  der  genial- 
sten Oper  plaudern,  um  nachher  diese  oder  jene  Arie  zu  be- 
wundern. 

In  diesen  Formen,  welche  Corneille  mit  correcter  Schroff- 
heit festsetzte,  dichtete  Racine  fort,  mit  minderer  Affection 
der  Empfindung  und  mehr  Wirkung  auf's  Herz.  Racine  hat 
auch  die  Entzweiung  des  sittlichen  Gefühls  mit  sich  selbst  zum 
tragischen  Ausgangspunkte,  allein  ohne  den  subtilen  Antago- 
nismus Corneille's ,   ohne  die   Unnatur  in   der  Lage  seiner  Hei- 


54  Die  Dichter  der  modernen  französischen  Literaturperiode. 

den  und  Heldinnen.  Jean  Racine,  um  33  Jahre  jünger  als 
Corneille,  behauptet  unter  allen  französischen  Dramatikern  unbe- 
stritten den  ersten  Rang.  In  der  Kunst  des  poetischen  Aus- 
drucks und  des  Versbaues  hat  ihn  kein  Anderer  erreicht,  und 
wenngleich  er  das  System  der  französischen  Tragödie  nun  schon 
80  fest  ausgebildet  fand,  dass  es  ihm  gar  nicht  einfallen  konnte, 
davon  abzuweichen,  so  gaben  ihm  doch  seine  gründliche  Kennt- 
niss  des  ^Iterthums  und  namentlich  der  Griechen,  sein  natürli- 
cher richtiger  Tact  und  sein  für  Zärtlichkeit  und  Religion 
empfängliches  Gemüth  einen  unendlichen  Vorzug  vor  allen  sei- 
nen früheren  und  späteren  Kunstgenoseen.  Geht  man  einmal 
von  der  Voraussetzung  aus,  dass  die  Helden  des  Alterthums  un- 
sere Vorstellungen,  Sitten  und  Gefühle  haben  konnten,  dass  ihre 
bürgerlichen  und  häuslichen  Verhältnisse  den  unsrigen  ähnlich 
gewesen,  übersieht  man  einige  Widersprüche,  welche  allerdings 
aus  diesen  Anachronismen  unvermeidlich  hervorgehen,  wie 
z.  B. ,  dass  moderne  Liebe  und  moderne  Stellung  der  Frauen 
mit  Menschenopfern  und  mit  den  Vorstellungen  der  alten  My- 
thologie sich  schlecht  vertragen;  übersieht  man  diese  und  ähn- 
liche Mängel,  welche  den  Zeitgenossen  auch  dadurch  weniger 
fühlbar  wurden,  dass  die  tragischen  Helden  in  dem  damaligen 
Hofcostüme  auftraten,  so  wird  man  gestehen  müssen,  dass  Ra- 
cine Alles  geleistet  hat,  was  unter  solchen  Umständen  und  Vor- 
aussetzungen nur  möglich  war,  und  man  begreift,  dass  mehrere 
seiner  Stücke  noch  in  diesem  Augenblicke  mit  Enthusiasmus 
auf  dem  Theater  begrüsst  werden.  Im  Allgemeinen  muss  man 
gestehen,  dass  ihm  die  Frauenrollen  bei  Weitem  besser  gelun- 
gen sind,  als  die  der  Männer,  was  seinen  Grund  wol  nur  in 
seinem  eigenen,  etwas  weichen  Charakter  hatte. 

Mit  Uebergehung  einiger  schwächeren,  aber  doch  immer 
noch  bedeutenden  Jugendarbeiten  stützt  sich  der  Ruhm  Racine's 
vorzüglich  auf  seine  Andromache,  worin  zum  ersten  Mal  die 
Liebe  einen  natürlichen  und  wahren  Ausdruck  gefunden;  auf 
seine  Phädra,  in  welcher  wenigstens  die  Hauptrolle  von  entzü- 
ckender Schönheit  ist;  auf  seine  Iphigenie,  an  der  nur  das  zu 
tadeln,  dass  in  diesem  Stücke  mehr  als  in  den  meisten  übrigen, 
die  Sitten  allzu  sehr  modernisirt  und  die  antik  feststehenden 
Charaktere   zu  sehr  alterirt,/ sind.     Ebenso  vortrefflich ,  ja  im 


Die  Dichter  der  modernen  französischen  Literaturperiode.  55 

Ganzen  sogar  den  früher  erwähnten  Stücken  vorzuziehen,  ist 
der  Britanniens,  worin  man  sieht,  mit'  welchem  tiefen  Geiste 
der  Dichter  den  Tacitus  gelesen.  Hier  ist  die  Schilderung  des 
verfeinerten,  von  Tücke  und  Ränken  umstrickten  römischen  Ho- 
fes zu  Nero's  Zeit  besonders  interessant  und  gelungen,  weil  die 
ähnlichen  Zustände  des  französischen  Hofes  unter  Ludwig  XIV. 
dem  Dichter  dabei  vor  der  Seele  standen,  was  seinem  Gemälde 
Farbe  und  Leben  giebt.  Denn  ein  unbedingtes ,  rücksichtslo- 
ses Ergreifen  und  Wiedergeben  des  Gegenstandes  wurde  nur 
da  recht  durchführbar,  wo  das  gesellschaftliche  Leben  selbst 
denselben  bildete.  Mehr  ein  höfisches  Idyll  als  eine  Tragödie 
ist  dagegen  Berenice,  welche  ihr  Glück  nur  den  obwaltenden 
Hofverhältnissen  verdankte.  Der  Verdruss  darüber,  dass  eine 
Partei  den  alten  Corneille  gegen  den  jungen  Dichter  zu  halten 
suchte,  eine  andere  gar  ihm  einen  ganz  unwürdigen  Nebenbuh- 
ler entgegen  setzte,  verbunden  mit  religiöser  Aengstlichkeit,  da 
die  Geistlichkeit  das  Theater  perhorrescirte,  bewogen  den  Dich- 
ter, sich  ganz  vom  Theater  zurückzuziehen,  und  nur  die  Er- 
munterungen und  der  Befehl  der  Frau  von  Maintenon  konnten 
ihn  dahin  bringen,  wieder  dramatische  Arbeiten  zu  unterneh- 
men. Aber  diese  Arbeiten  sollten  wenigstens  nicht  im  Sinne 
der  Welt  sein.  So  entstand  die  Esther,  ein  schwaches  Pro- 
duct,  welches  indessen,  durch  die  frivolen  Anspielungen  auf  da- 
malige Hof intriguen ,  welche  die  Höflinge  darin  fanden,  mit 
grossem  Beifall  in  der  Erziehungsanstalt  für  junge  adlige  Mäd- 
chen in  St.  Cyr  von  diesen  selbst  dargestellt  wurde.  Seine 
Athalie  dagegen,  der  Schwanengesang  des  Dichters  und  zu- 
gleich sein  grösstes  Werk,  wie  das  gediegenste  Drama  der 
französischen  Literatur  überhaupt,  ward  so  kalt  aufgenommen, 
dass  sie  nur  einmal  dargestellt  wurde  und  den  Dichter  veran- 
lasste, sich  nun  in  gerechtem  Unmuthe  gänzlich  von  der  theatra- 
lischen Laufbahn  zurückzuziehen.  In  der  Athalie  waltet  statt 
der  französischen  Convenienz,  welche  sonst  das  Theater  zum 
Wohnsitz  der  Unnatur  machte,  wirklich  die  tragische  Würde 
der  Griechen,  ein  sophokleischer  Hauch,  d.  h.  ein  harmonischer 
Einklang  von  Zartheit  und  Hoheit,  Anmuth  und  Kraft  durch- 
zieht das  Ganze,  das  grossartige  Element  des^  hellenischen 
Chors    ist    in  echt   antikem  Sinn  in   die  Handlung  verflochten. 


56  Die  Divhter  der  modernen  französischen  Litcraturperiode. 

die  Handlung  hat  die  Majestät  einer  nationalen  Krisis,  die 
Scene  die  OefFentlichkeit  und  Weite  des  Volkslebens ,  und  die 
fromme  Begeisterung  des  Dichters,  welche  das  Stück  durch- 
ü-liiht,  lest  ihm  kühne  und  erhabene  Worte  heiligen  Eifers  auf 
die  Lippen ,  welche  gegenüber  der  Despotie  Ludwigs  XIV., 
o-eirenüber  der  raffinirten  Genusssucht  eines  verworfenen  Hofes, 
iregenüber  dem  schwelgenden  Uebermuthe  des  Adels  und  der 
Geistlichkeit,  gegenüber  endlich  dem  Elend  und  der  Blosse 
eines  beraubten  und  misshandelten  Volkes  wie  eine  prophetische 
Ankündigung  des  Gerichtes  der  Revolution  klingen : 

Was  bleibt  von  all  dem  Glück,  das  ihnen  lacht? 

Was  von  dem  Traume  bleibt,  wenn  man  erwacht. 

O  des  Erwachens  Schreckensaugenblick ! 

Indess  an  deinem  Tisch,  o  Herr,  der  Arme 

Sich  laben  wird  am  ewig  süssen  Glück, 

Gesunden  wird  von  jedem  Erdenharme, 

Trinkt  der  Verbrecher  Schaar  in  ew'gen  Qualen 

Die  unerschöpflich  bittern  Leidensschalen, 

Wozu  dein  Zorn,  am  Tage  des  Gerichts  entflammt, 

Das  ganze  schuldige  Geschlecht  verdammt. 

Das  gute  Glück  Ludwigs  XIV.  wollte  es,  dass  zugleich 
mit  jenen  Meistern  der  tragischen  Kunst  auch  der  grösste  Lust- 
spieldichter  der  Franzosen  auftrat.  Wenngleich  die  Bewunde- 
rung der  französischen  Kunstrichter,  welche  ihren  Moliere  unbe- 
dingt für  den  ersten  Komiker  aller  Völker  und  aller  Zeiten 
halten,  eine  entschieden  unbegründete  und  verkehrte  zu  nennen 
ist,  so  ist  doch  ebenso  gewiss,  dass  ihm  wenigstens  in  Frank- 
reich kein  früherer  und  kein  späterer  Komödiendichter  auch  nur 
entfernt  zu  vergleichen  ist.  Es  gab  eine  Zeit,  in  welcher  Mo- 
liere's  Verdienst  in  der  Weise  überschätzt  wurde ,  dass  das 
durch  ihn  begründete  Lustspiel  für  die  in  jeder  Hinsicht  voll- 
endetste Form  der  Komödie  galt.  Auch  gegenwärtig  wird  die 
unbefangene  ästhetische  Kritik  aussagen,  dass  Moliere  das  Le- 
ben, insofern  es  innerhalb  der  Formen  geselliger  Verhältnisse 
sich  bewegt,  nach  den  vielseitigsten  Richtungen  hin,  unüber- 
trefflich dargestellt  hat.  Die  Thorheiten,  Narrheiten  und  sittli- 
chen Verirrungen,  die  beim  Anbhck  des  Weltlebens  uns  zunächst 
entgegentreten,  erkennen  wir  auch  in  Moliere's  Dramen  so  treu 
und  wahr  wieder,  dass  wir  an  jenen  Ausspruch  des  alten  Gram- 
matikers  über   den    berühmtesten   Dichter  der   neueren  griechi- 


Die  Dichter  der  modernen  französischen  Literaturperiode.  57 

sehen  Comödie ,  Menander,  von  Neuem  erinnert  werden: 
„O  Leben,  o  Menander!  Wer  von  euch  Beiden  hat  dem  An- 
dern nachgeahmt?"  Nur  Einzelnes  dieser  Portraitmalerei  er- 
scheint uns  gegenwärtig  als  veraltet  und  erweckt,  indem  nur  je- 
ner Zeit  Anfjehörio^es  berührt  wird,  kein  eigentliches  Interesse 
mehr.  Welt  häufiger  jedoch  ist  es,  dass  Moliere  solche  Züge 
dem  Individuellen  ablauscht,  die  der  menschlichen  Natur  we- 
sentlich sind,  und  die  daher  auch  in  dem  gegenwärtigen  Zeit- 
alter nicht  fehlen. 

Bei  dieser  Liebe  zur  Portraitmalerei  ist  dem  französischen 
Lustspieldichter  eine  Feinheit  und  Schlauheit  der  Beobachtung 
eigen,  welche  auch  das  Im  Innern  des  Menschen  Verborgene 
ungemein  glücklich  auffindet  und  Andern  sichtbar  zu  machen 
weiss.  Daher  kommen  denn  hier  die  feinsten  Nuancen  und 
Schattlrungen  des  Seelenlebens  zum  Vorschein ,  und  die  durch 
den  Dichter  in  uns  hervorgerufenen  Gestalten  entbehren  selbst 
der  mimischen  Lebendigkeit  nicht.  Wie  nun  aber  Mollere's 
Talent  In  der  Darstelluns;  der  Portraitwahrheit  als  eines  der 
grössten  ?ich  zeigt,  so  ist  andererseits  auch  einzuräumen,  dass 
der  eigentliche  Humor,  der  das  Endliche  dem  Unendlichen  ge- 
genüberstellt, diesem  Dichter  mangelt.  Das  Leben,  insofern  es 
an  die  socialen  Verhältnisse  gebunden  ist,  wird  von  diesem 
oder  jenem  Gesichtspunkte  aus  ungemein  hell  beleuchtet,  aber 
an  dem  Individuellen  kommt  nicht,  wie  dies  in  den  Schöpfun- 
gen der  höchsten  Kunst  stattfindet,  die  volle  Wahrheit,  die  dem 
Menschen  innewohnt ,  zur  Erscheinung.  Indem  nun  Mollere 
nicht  die  Welt  überhaupt,  Insofern  sie  der  Thorheit  ergeben  ist, 
belacht,  sondern  einzelne  Momente  der  Wirklichkeit,  die  lächer- 
lich sind,  als  solche  herausstellt,  so  Ist  es  einmal  das  sub- 
jectlve,  oder  das  allein  aus  psychologischer  Beobachtung  her- 
vorgegangene Komische,  das  andre  Mal  dagegen  das  objective 
Komische,  oder  der  an  dem  äussern  Gegenstande  leicht  wahr- 
nehmbare Contrast,  was  uns  vorgeführt  wird.  Diese  beiden 
Extreme  des  feinen  und  derben  Komischen ,  die  in  dem  Hu- 
mor zur  Identität  vermittelt  sind,  treten  In  Mollere's  Drama  so 
schroff  einander  gegenüber,  dass  die  sämn)tllchen  Schauspiele 
In  zwei  Klassen,  als  die  dem  gewöhnlichen  Ernste  nahe  kom- 
menden   Charakterstücke    und   als    die    den  eigentlichen    Scherz 


58  Die  Dichter  der  modernen  französischen  Literaturperiode. 

darstellenden  Possen  sich  von  einander  sondern.  Die  Charak- 
terstücke, denen  Tartüffe,  der  Geizige,  der  Misanthrop,  die  ge- 
lehrten Frauen  u.  a.  angehören ,  sind  schon  dem  Geiste  des 
soa'enannten  bürgerlichen  Drama  sehr  verwandt  und  mit  Aus- 
nähme  einiger  rein  komisch  gehaltenen  Scenen  beruht  hier  das 
Lächerliche  gewöhnlich  in  solchen  Zügen,  die  in  Folge  seiner 
Beobachtungen  den  Charakteren  abgewonnen  sind.  Man  hat 
den  Charakterstücken  als  Tadel  vorgeworfen,  dass  in  denselben 
eine  bestimmte  didactisch-satyrische  Tendenz  geltend  gemacht 
und  dadurch  dem  Interesse  des  eigentlichen  Drama  Abbruch 
gethan  werde.  O bschon  aber  diese  Schauspiele  hin  und  wie- 
der einen  gewissen  Ernst,  der  an  die  Prosa  des  gemeinen  Le- 
bens erinnert,  verrathen,  so  sind  sie  doch  keine  nur  in  drama- 
tischer Form  abgefasste  Lehrgedichte.  Moliere  versteht  die 
Kunst,  das  Interesse  des  eigentlichen  Bühnenspiels  und  das 
didaktische  Element  miteinander  auszugleichen.  Wie  er  das 
Letztere  mitspielen  lässt,  ist  es  in  den  meisten  Fällen  der  Art, 
dass  die  wirkliche  Handlung,  die  derselben  nothwendige  Bewe- 
gung und  der  in  Folge  der  Leidenschaft  hervortretende  Con- 
flict,  nicht  beeinträchtigt  wird.  Wenn  moralische  Lehren  beitje- 
seilt  werden,  so  entsprechen  diese  gewöhnlich  den  Charakteren 
und  den  Situationen,  worin  jene  sich  gerade  befinden.  So  wird 
das  Abstracte ,  Dürre,  Avas  die  gewöhnliche  Moral  als  solche 
an  sich  trägt,  vermieden  und  das  didaktische  Interesse  verdrängt 
nicht  mehr  das  individuelle  Leben.  Die  Hauptcharaktere  dieser 
Dramen  wurden ,  was  die  psychologische  Wahrheit  betrifft,  mit 
Recht  von  jeher  bewundert,  und  manche  derselben  dürfen  auch 
noch  gegenwärtig  als  Repräsentanten  der  Gattung  betrachtet 
werden.  Das  Typische  einiger  dieser  Charaktere  finden  wir 
freilich  bereits  in  der  griechisch-römischen  Comödie,  die  über- 
haupt auf  die  ganze  Darstellung  des  französischen  Lustspiel- 
dichters sehr  vielen  Einfluss  ausübte.  L^nter  denjenigen  Cha- 
rakteren, die  erst  durch  Moliere  auf  die  Bühne  gebracht  sind, 
bleibt  Tartüffe  der  bedeutendste.  In  diesem  ist  das  Bild  des 
Heuchlers  in  so  scharfen,  bestimmten  Zügen  aufgestellt,  dass 
ähnliche  Versuche  späterer  Dichter  geAvöhnlich  nur  als  matte 
Abschattungen  jenes  Molierischen  Originals  erscheinen.  Ueber 
den    Geizigen  urtheilt  Lessing:    „Moliere    und   Plautus   haben 


Die  Dichter  der  modernen  französischen  Literaturperiode.  50 

statt  der  Abbildungen  eines  geizigen  Mannes  uns  eine  grillen- 
hafte niedrige  Schilderung  des  Geizes  gegeben."  Obschon 
solchem  Tadel  Wahrheit  zum  Grunde  liegt,  so  ist  doch  die  dem 
Bilde  des  Geizes  verliehene  mimisch-dramatische  Lebendigkeit 
der  Art,  dass  dieses  Bildes  Züge  und  diejenigen,  die  wir  an 
dem  Geizigen  des  gemeinen  Lebens  wahrgenommen  haben,  für 
die  Erinnerung  unwillkürlich  in  einander  übergehen. 

Noch  vortrefflicher  als  Charakterbild  erscheint  uns  der 
Misanthrop.  Viele  Individuen,  die  bei  Adel  der  Gesinnung  und 
entschiedenem  Talente  doch  zu  leidenschaftlich  bewegt  sind, 
um  die  innere  Idealwelt  mit  dem  wirklichen,  gemeinen  Leben 
auso'leichen  zu  können,  «glaubt  man  im  AIcest  wiederzusehen. 

In  der  Schule  der  Frauen  verdient  vor  Allem  der  Charak- 
ter der  Agnes  grosses  Lob.  Wie  in  dem  naiven,  kindlichen 
Gemüthe,  ohne  dass  es  sich  dessen  eigentlich  bcAvusst  wird, 
die  Liebe  erwacht,  und  dann  das  Mädchen  auch  der  Intrigue 
nicht  widerstehen  kann ,  —  dies  ist  hier  überaus  schön  darge- 
stellt. 

Ebenso  müssen  wir  in  den  gelehrten  Frauen  eine  seltene 
psychologische  Wahrheit  bewundern.  Diese  Damen  haben  durch 
das  Studium  der  (jrrammatik  keineswegs  die  höhere,  ideale  Na- 
tur ausgebildet  und  Gefallen  an  dem  Echten  und  Wahren  der 
Dichtkunst  gewonnen.  Sie  sind  im  Gegentheil  lächerliche,  ab- 
geschmackte Pedantinnen  geworden,  die,  dem  Natürlichen  feind, 
auch  das  Absurde,  Geckenhafte  anstaunen  können.  Zugleich 
lässt  der  Dichter,  ganz  in  Uebereinstimmung  mit  dem  wirkli- 
chen Leben,  die  Leidenschaft  des  Weibes  auch  an  diesen  ge- 
lehrten Damen  in  aller  Grellheit  hervortreten.  Verschieden  von 
den  Charakterstücken  sind,  was  die  Auffassung  des  Lebens 
überhaupt  und  die  künstlerische  Composition  anlangt,  die  ei- 
gentlichen Possen  unsers  Dichters ,  wie  der  Bauer  als  Edel- 
mann, Herr  von  Pourceaugnac ,  der  eingebildete  Kranke ,  der 
Arzt  wider  Willen  u.  a.  Das  Bild  des  Lebens,  welches  Me- 
liere in  seinen  Possen  uns  aufstellt,  ist  ein  sehr  treues.  Die 
Arroganz  und  Unwissenheit  der  Aerzte,  die  Schwäche  der 
unter  dem  Pantoffel  der  Frauen  stehenden  Ehemänner  und  die 
Aufgeblasenheit  derjenigen  Individuen ,  die  bedeutender  erschei- 
nen möchten,  als  sie  wirklich  sind,  wird  überaus  witzig  und  in 


CO  Die  Dichter  der  modernen  französischen  Literaturperiode. 

sehr  glücklich  gewählten  Situationen  zur  Anschauung  gebracht. 
Nicht  minder  zeigt  sich  Moliere's  Meisterschaft  in  Darstellung 
gewisser  weiblicher  Charaktere ;  denn  sowol  die  Verschroben- 
heit verbildeter  Bürgertöchter,  die  Interesse  für  Naivetät  und 
Genialität  affectiren,  als  auch  die  Intrigue  und  Unverschämt- 
heit, vermöge  der  das  lieblose,  herrschsüchtige  Eheweib  den 
Mann  ganz  umstrickt  hält,  weiss  der  Dichter  in  sehr  sprechen- 
den, frappanten  Zügen  der  Einbildungskraft  vorzuführen. 

Was  an  der  Moliere'schen  Posse  weniger  zu  loben  ist,  ist 
dies,  dass  das  Ganze  eine  gewisse  Beschränktheit  zeigt,  dass 
nicht  die  Welt  überhaupt,  vielmehr  das  Einzelne  es  ist,  was 
komisch  behandelt  wurde.  Indem  der  wirkliche  Humor,  der 
Scherz  und  Ernst  in  einander  übergehen  lässt,  fehlt,  muss  der 
Dichter,  um  seinem  moralischen  Bewusstsein  Genüge  zu  thun, 
der  lächei'lichen  Welt  noch  den  Ernst,  als  ein  zufälliges,  ab- 
stractes  Moment  mitgeben.  Dieser  Ernst  nimmt  nun  aber  nicht 
selten  die  Form  der  eigentlichen  Strafrede  an  und  verhindert 
dann,  dass  in  uns  die  rein  komische  Heiterkeit,  das  behagliche 
herzliche  Lachen  sich  einfindet.  Eine  gewisse  Abstraction,  ein 
Vorherrschen  des  nüchternen  Verstandes  verhindert,  dass  der 
französische  Lustspieldichter  die  Idee,  in  der  auch  der  Gegen- 
satz des  gewöhnlichen  Scherzes  und  des  gewöhnlichen  Ernstes 
sich  ausgleicht,  gewinnen  kann.  Die  schwächste  Seite  an  Mö- 
llere ist  die  Erfindung,  und  man  weiss  ,  wie  er  Bezugs  dersel- 
ben einerseits  der  italienischen  Volkskomödie  wie  dem  spani- 
schen Intriguenstücke,  andererseits  dem  Plautus  und  Terenz 
wie  den  altfranzösischen  Fabliaux  und  dem  grossen  ßabelais 
viel  verdankt. 

Es  ist  eine  auffallende  Thatsache,  dass,  während  die  dra- 
matische Poesie  in  ihrer  Art  den  Gipfel  einer  freilich  höchst 
einseitigen  Vollkommenheit  in  diesem  Zeiträume  erreichte,  die 
epische  dagegen  nur  äusserst  schwache  und  gradezu  verunglückt 
zu  nennende  Versuche  aufzuweisen  hat.  Der  Grund  liegt  nicht 
darin  allein,  dass  sich  die  Franzosen,  wie  für  das  Drama,  so 
auch  für  das  Epos  aus  den  Werken  der  Alten  wunderliche, 
beengende  Regeln  abstrahirt  haben,  sondern  er  scheint  vielmehr 
tiefer  zu  liegen  in  dem  innersten  Wesen  des  Nationalcharak- 
ters,   welcher   weder   die    Geduld    hat,   ein   grosses    Ganze  mit 


Die  Dichter  der  modtmen  fianzüsisclicn  Literaturperiode.  Gl 

Ruhe  auszuführen,  noch  auch  den  Ernst,  ein  solches  auch  nur 
zu  ertragen.  Daher  die  Vorliebe  der  Franzosen  für  kleine, 
meist  komische  oder  erotische  Erzählungen  und  ihre  gänzliche 
Unfähigkeit,  eine  heroische  Zeit  zu  begreifen,  darzustellen  und 
zu  geniessen.  Den  meisten  Dichtern,  welche  es  unternommen, 
epische  Dichtungen  zu  schreiben,  fehlt  es  keineswegs  an  Er- 
findung, an  Phantasie,  zum  Theil  sogar  an  wahrhaft  poetischen 
Elementen ;  aber  was  Allen  fehlt,  das  ist  die  Ehrfurcht  vor  dem 
selbst  gewählten  Gegenstande;  sie  glauben  selbst  nicht  an  die 
Wunder,  die  sie  uns  erzählen,  und  verfallen  daher  alle  mehr 
oder  weniger  in  leeren  Schwulst ,  hochtrabende  Phrasen  und 
Bilder,  welche  den  Leser  nur  ermüden,  aber  keineswegs  zu 
fesseln  im  Stande  sind.  Es  ist  nicht  etwas  innerlich  Erlebtes 
und  Geschautes,  etwas  sie  selbst  Hinreissendes  und  Fesseln- 
des, was  sie  vortragen,  sondern  nur  ein  künstliches  Machwerk 
ohne  inneres  Leben.  Die  Lust  der  Franzosen  an  komischen, 
besonders  erotischen  Erzählungen  und  Schwänken,  wie  sie 
sich  in  den  zahlreichen  contes  und  fabliaux  der  ältesten  Zeit 
kund  giebt,  findet  sich  in  jeder  Periode  ihrer  Literatur  wieder. 
Hier  sind  in  dieser  Art  zu  nennen  die  sittlich  allerdino-s  ver- 
werflichen  aber  in  der  Darstellung  einzigen  poetischen  Erzäh- 
lungen Lafontaine's,  ewige  Muster  einer  heitern,  geistreichen 
und  anmuthigen  Erzählung  schalkhafter  Begebenheiten,  welche 
er  meist  aus  jenen  alten  fabliaux,  zum  Theil  aber  auch  aus  dem 
Ariost  und  Boccaccio  geschöpft  hat.  Denselben  Älann ,  der 
überhaupt  einer  der  eigenthümlichsten  und  wunderlichsten  iMen- 
schen  seiner  Zeit  gewesen  ist,  haben  wir  auch  als  Fabeldichter 
Avahrhaft  zu  bewundern.  Seine  Fabeln  muss  man  durchaus 
meisterhaft  nennen,  sobald  man  nur  nicht  vergisst,  dass  auch 
die  Natur  sich  bei  jedem  Volke  dem  Geiste  auf  eine  ei- 
genthümliche  Weise  offenbart;  und  eben  dies,  dass  Lafontaine 
sich  ganz  als  Franzose  in  die  Natur  und  in  die  Verhältnisse 
der  Thiere  versenkt,  dass  ihm  die  Thiere,  man  möchte  sagen, 
als  seine  Landsleute  erscheinen,  dass  er  sie  mit  denselben  Au- 
gen betrachtet,  Avie  er  die  Menschen  betrachtet,  das  giebt  seinen 
Fabeln  den  unaussprechlichen  Reiz ,  und  wird  sie  nie  veralten 
lassen.  Es  ist  in  ihm  etwas  von  dem,  was  wir  an  unserm  He- 
bel  bewundern.      An   Innerlichkeit   und  Wahrheit,   an   Schalk- 


G2  Die  Dichter  der  modernen  französischen  Literaturperiode. 

lieit,  Gutmüthigkelt  und  Laune  hat  ihn  keiner  seiner  Lands- 
leute erreicht.  Die  lyrische  Poesie  bildet  keineswegs  einen 
Glanzpunkt  in  der  französischen  Literatur,  wie  sehr  auch 
manche  Producte  dieser  Art  von  den  Franzosen  bewundert 
werden.  Von  den  verschiedenen  Gattungen  der  Lyrik  fehlen 
ihnen  einige  so  gut  wie  ganz.  Zuerst  das  Lied,  welches  die 
innio-sten  Beweojun2;en  des  Herzens  in  Liebe  und  Andacht  aus- 
haucht.  In  den  früheren  Perioden  finden  sich  noch  manche 
schöne,  naive  und  innige  Anklänge  dieser  Art,  welche  aber  bei 
der  immermehr  über  das  ganze  Volk  sich  verbreitenden  höfi- 
schen und  galanten  Bildung  entweder  in  fades  Liebesgeschwätz, 
oder  in  ebenso  widrige  Sentimentalität  und  Schäferlichkeit  aus- 
arten. Dann  das  Kirchenlied,  eins  der  edelsten  Juwele  der 
deutschen  Literatur,  welches  in  Frankreich  ganz  fehlt.  Selbst 
das  Volkslied  im  germanischen  Sinne  ist  in  Frankreich  von 
jeher  unbekannt  gewesen;  es  existirt  nur  in  der  Form  von 
Spottliedern,  chansons,  und  der  oft  giftigen  politischen  Satire. 
So  bleibt  denn  der  französischen  Lyrik  nur  die  emphatische, 
mit  grossen  Ansj)rüchen  und  wenigem  Gehalte  auftretende 
Ode  und  allenfalls  das  lustige  und  gesellige  Trinklied  übrig. 
Die  erstere  musste  jawol  ein  Gegenstand  des  Ehrgeizes  für 
Dichter  sein,  welche  gewohnt  waren,  ihre  Literatur  als  ein  Rin- 
gen mit  dem  Alterthume  zu  betrachten  und  es  daher  nicht 
lassen  konnten,  mit  Pindar  und  Horaz  zu  wetteifern.  An  heroi- 
schen Oden  fehlt  es  daher  der  französischen  Literatur  keines- 
Avegs,  aber,  wie  bedeutend  auch  das  Talent  einiger  Dichter  die- 
ser Gattung  sein  mag,  sind  die  französischen  Oden  doch  meist 
alle  entweder  durch  niedrige  Schmeichelei  gegen  die  Fürsten 
und  Grossen,  an  die  sie  gerichtet,  oder  durch  Steifheit,  Schwulst 
und  mühsam  erzwungenen  frostigen  Enthusiasmus  ungeniess- 
bar.  Selbst  der  Poman  schlug  in  jener  Periode  keine  neuen 
und  wahrhaft  eigenthümlichen  Bahnen  ein,  da  er  sich  durchaus, 
wie  wir  dies  an  seinen  beiden  Hauptvertretern ,  Lesage  und 
Scarron,  im  Einzelnen  nachweisen  könnten,  an  spanische  Mu- 
ster mehr  oder  minder  frei  anlehnt. 

Geschmack  in  seiner   Reinheit!    ist   das   Losungswort    der 
classischen  Schule  der  Franzosen:   geniale  Schöpferkraft,  Kraft  ^ 
des  Genius,  der  mit  der  Natur  die  wahre  Schönheit,  die  ideale, 


Die  Dichter  der  modernen  französischen  Literaturperiode.  63 

zeugt,  ist  die  Losung,    an   der   man    die  echte  Poesie  erkennt. 
Das  Schöpferische  wie  das  Naturwahre,  die  echte  Poesie  haben 
die  französischen  Classiker  nicht  in  sich,  Racine  ist  nur  davon 
angehaucht,   und   auch    bei  ihm  thut  der  Zwang   weh,    der   die 
Handlung  in  die  Einheit  des  Ortes  und   der   Zeit,   in  dieselben 
Wände    und   in    den   engen   Zeitraum   eines    Tages    einzwängt, 
nicht  auf  freien  Plätzen  die  Handlung  entfaltet,  wie  in  der  Tra- 
gödie der  Griechen,  noch  weniger  im   freien  Wechsel  des   Orts 
und  der  Zeit,   wie   bei   Shakespeare.      Die   Folgen  davon,    Ar- 
muth  und  Unwahrscheinlichkeiten,  lassen  sich  durch  nichts  ver- 
decken, selbst   Kälte  und   Langweiligkeiten    hängen   mit   dieser 
Einförmigkeit  zusammen  und  national  ist  diese   classische    Poe- 
sie gar  nicht,  ob  sie  gleich  die  Griechen   und  Römer  und  Tür- 
ken in  der  Tracht,    der  Sprache    und    den  Sitten    des  französi- 
schen  Hofes    vorführte.     Und   diese   Poesie    sollte   es  sein,  die 
auf  die  vaterländische    deutsche   einen    so  wesentlichen  Einfluss 
auszuüben  berufen    war.      Hauptsächlich    war    es  die  Erbschaft 
der  übertriebenen  Ausländerei,  wodurch  das  selbstständige  Auf- 
leben  des  nationalen  Geistes  in  unsrer  damaligen  Literatur  zu- 
rückgehalten   wurde.     Das    siebzehnte   Jahrhundert    hatte    sich, 
besonders    in   seiner    zweiten  Hälfte,   in    diesem  Bezüge  geo-en 
das  Vaterländische  schwer  versündigt,    von    den    marinistischen 
Italienern  den  unnatürlichen  Schwulst,  von  den  Franzosen  Wort 
und  Wendung  leichtfertig   entlehnend,    beides    mit    der  latinisi- 
renden  Styhstik  der  schlesischen  Schule  vielftxch  durchwirkend, 
so  dass  ein  buntes  Allerlei  den  deutschen  Grundton  kaum  mehr 
hervortreten    liess.      Was    die   Productionen    selbst   angeht,    so 
zeigten  sie  meist  dasselbe  Gepräge.    Bei  unnatürlicher    Auffas- 
sung und  haltungsloser  Ausführung  ermangelten  sie  aller  volks- 
thümlichen  Bedeutung  und  innerlichen  Belebung.     Unnatur,  Ge- 
suchtheit   und    Zufälligkeit,    sinnlicher   Luxus    und    Pretiosität, 
falsche  Erhabenheit  nebst  gesinnungsloser  Frivolität  bei  selbst- 
gefälliger Breite  bildeten  die  Haupteigenschaften  dieser  vorgeb- 
lich deutschen  Literatur  um  den  Anfang  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts.    Wie  wenig  auch  verkannt  werden  darf,  dass  mit  den 
national-literarischen    Strebungen    des    achtzehnten  Jahrhunderts 
eich  allerdings    Bewusstsein    und    Absicht    einer  Reaction    ge- 
gen   die   Undeutschheit    und    Geschmacklosigkeit    jener  unmit- 


G4  Die  Dichter  der  modernea  tVauzosiscben  Literaturperiode. 

telbar    vorhergehenden  Literatarrichtung    verband;    so    kann  es 
doch    der    unbefangenen    ästhetischen    Anschauung     nicht    ent- 
gehen, dass  mit  wenigen  Ausnahmen  die  Geistlosigkeit  und  der 
Mangel  an  aller  originellen  Belebung  die  Grund züge  dieser  poe- 
tischen Erstlinge  des  Jahrhunderts  bilden.   Reinheit  und  Selbst- 
ständigkeit de°  Muttersprache  und  Verbesserung  der  Form  war 
es  vornehmlich,  worauf  es  ankommen  sollte.     Obwol  gegen  die 
Undeutschheit  gerichtet,  tragen  diese  regenerativen  Versuche  doch 
den    Stempel   ausländischer    Waare.      Die  Macht  des   französi- 
schen Regelzwanges  herrscht  über  sie  und  nur  hie  und  da  lässt 
sich,    wie    bei  Günther  und   Brockes,   eine   freiere    Bewegung, 
welche   mehr   von  enghschem  Geiste  getrieben  wird ,    erkennen. 
So    entstand   eine    Literatur,    welche    gleichsam    französisch  in 
deutscher  Sprache    redete   und    sich    durch    das    Streben    nach 
technischer  Gebildetheit  bei  Mangel  an  innerem  Gehalte  und  le- 
bendiger Natürlichkeit  charakterisirt  und  die  Vertreter  derselben 
waren  meist  Männer,   die  in  der  grössern  gebildeten  Welt  sich 
bewegten,   wo  französische  Gewohnheiten   und  Lebensansichten 
vorzü°glich  ihre  Herrschaft  übten.    Mit  der  Rückkehr  der  Stuarts 
aus  Frankreich   nach  England    fand   auch  der  französische  Ge- 
schmack sofort  in  diesem  Lande   eine  günstige  Aufnahme,    wed 
sich    eine  höfische  Poesie   nach   dem   Vorbilde    von   Paris    und 
Versailles  entwickelte.     Es  war  besonders  John  Dryden,  nächst 
ihm  Joseph  Addison,  welche  dem  französischen  System  huldig- 
ten.    Aber  dies  System  herrschte  nicht  nur  in  Deutschland  und 
England,   sondern    breitete  sich   über    ganz    Europa    aus.     In 
Spanien   wurde  es  durch  Luzan,   in  Itahen    durch  Goldoni  und 
Alfieri,  in   den   Niederlanden  durch  van  der  Vondel,   in  Däne- 
mark durch  Tullin,  in  Schweden  durch  Dalin  vertreten.    Ueber- 
all  hat  es  eine  Reaction  der  nationalen  Richtung  der  Poesie  zur 
Folge,  war  aber  durch  den  Kampf  mit   derselben   für  die  Her- 
vorbildung   einer   höheren    rationellen   ästhetischen    Kritik   sehr 
wichtig,  die  sich  aus  der  Widerlegung  der  Pseudoclassicität  als 
Resultat   ergab.      In   Frankreich    selbst    ging    ein   bedeutsamer 
Anstoss  zu  einem  Umschwünge  der  ästhetischen  Anschauungen 
zunächst  von  einem  Manne  aus,  der  uns  überall  in  dem  folgenden 
Zeiträume  entgegentritt,  von  Voltaire.    Ein  schöpferischer  Dich- 
ter im    höhern  Sinne    war   er  gar   nicht.     Gross  ist  sein  klarer 


Die  Dichter  der  modernen  französischen  Literaturperiode.  65 

Verstand,  scharf  sein  Witz,  aber  nur  beweglich  und  in  Vorge- 
fundenes sich  einschmiegend  ist  seine  Einbildungskraft  nicht 
neu  und  gross. 

Wenn  wir  zunächst  von  dem  Tragiker  Voltaire  reden,  so 
müssen  wir  gestehn,  dass  es  ihm  unstreitig  gelungen,  sich  sei- 
nen beiden  grossen  Vorgängern  als  dritter  würdig  an  die  Seite 
zu  setzen,  und  wenn  er  auch  allerdings  nicht  die  Vollendung 
der  Sprache  ßacine's  und  vielleicht  auch  das  erhabene  Pathos 
Corneille's  nicht  ganz  erreicht  hat,  so  zeichnet  er  eich  dagegen 
von  anderen  Seiten  vortheilhaft  aus,  welche  eben  seinen  Vor- 
nränoern   abirehen.     Er    war   längere    Zeit  in   England  gewesen, 

O  O  O  O  CD  o  ^ 

und  oboleich  er  zu  seiner  Schande  zeitlebens  oft  sehr  unver- 
ständig  über  Shakespeare  gesprochen,  so  hatte  er  sich  doch  so 
viel  oremerkt ,  dass  er  wohl  fühlte ,  es  fehle  der  französischen 
Tragödie  an  Wahrheit,  an  geschichtlichem  Sinne,  an  Innigkeit 
und  Tiefe  in  der  Darstellung  der  Leidenschaften,  besonders 
der  Liebe,  an  Llannigfiiltigkeit  und  theatralischer  Wirkung. 
Das  Alles  suchte  er  nun  in  seinen  Werken  zu  erreichen ;  des- 
halb erweiterte  er  schon  den  Kreis  der  darzustellenden  Gegen- 
stände und  führte  mit  richtigem  Takt  den  ritterlichen  Sinn  wie- 
der in  seine  Rechte  ein ;  auch  kann  man  nicht  leugnen,  dass 
ihm  der  Ausdruck  der  Liebe  unendlich  besser  gelungen,  als 
seinen  Vorgängern,  dass  er  mehr  allgemein  menschliche,  nicht 
bloss  höfische  Gesichtspunkte  und  Gefühle  darstellt,  mehr  allge- 
meine, philosophisch-religiöse  Interessen  aufs  Theater  bringt, 
und  dass  er  eben  dadurch  ergreifender  und  rührender  ist,  als 
sie.  Unter  seinen  Tragödien  zeichnen  sich  aus:  Merope,  bei 
welcher  er  indessen  sehr  Vieles  dem  MafFei  verdankt;  Zaire, 
in  welcher  die  Darstellung  der  Liebe  und  des  ritterlichen  Sin- 
nes vortrefflich  ist,  dagegen  die  orientalische  Seite  des  Stückes 
ziemlich  verfehlt.  Sein  Meisterstück  ist  vielleicht  Alzire,  ein 
rein  erfundener,  aber  mit  Würde  ausgeführter  Stoff,  in  welchem 
der  Contrast  der  Civilisation  und  der  amerikanischen  Wildheit, 
des  Christenthums  und  des  Heidenthums,  so  wie  die  ritterliche 
Liebe  vortrefflich  aufgefasst  und  dargestellt  sind.  Auch  Tancrede 
verdient  alles  Lob.  Als  ganz  verfehlt  muss  dagegen  der  Ma- 
homet  erklärt  werden.  Hier  hat  der  liass  gegen  Priester thum 
und   o-eoffenbarte   Keligion    den   Dichter    zu    den   entsetzlichsten 

Archiv  f.  n.  Sprachen.   XLVllL  5 


CG  Die  Dichter  der  modernen  fra;^zösischen  Literaturperiode. 

Ungerechtigkeiten  gegen  seinen  Helden,  zu  einer  argen  Ent- 
stellung der  Geschichte  und  zu  den  widerwärtigsten  Gräueln 
hingerissen. 

Merkwürdig  ist,  wie  unbedeutend  und  geradezu  schlecht 
die  vt'enigen  Komödien  Voltaire's  sind;  zum  deutlichen  Be- 
weise, dass  die  vis  comica  sich  auf  keine  Weise  durch  \'\'itz 
ersetzen  lässt. 

Voltaire's  Henriade  ist,  trotzdem  dass  sie  an  Eleganz  der 
Sprache  und  des  Versbaues  und  an  einzelnen  gLänzenden  Par- 
tien Alles,  was  sonst  die  Franzosen  im  epischen  Fache  produ- 
cirt  haben,  weit  übertrifft,  zu  einer  blossen  historisch-jDoetischeu 
Erzählung  herabgesunken,  die  durch  ihre  frostigen  Allegorien 
allerwege  störend  auf  den  poetischen  Genuss  wirkt. 

Es  ist  Voltaire  gelungen,  in  seiner  schamlosen  pucelle  die 
einzige  romantische  Heldengestalt  Frankreichs  im  Mittelalter 
zu  entweihen  und  das,  was  der  Stolz  seines  Volkes  sein  sollte, 
in  den  Koth  zu  treten.  Dabei  ermangelt  dieses  burlesk  epische 
Gedicht  alles  Plans,  aller  Ordnung,  alles  Interesses ;  es  ist  dem 
Verfasser  bloss  darum  zu  thun  gewesen ,  seine  ohnmächtige 
Wuth  gegen  Alles  auszulassen,  was  einer  früheren  Zeit  ehrwür- 
dig und  heilig  erschien. 

Die  Bedeutung  Voltaire's ,  der  auch  im  Gebiete  des  Ten- 
denzromanes  anregend  wirkte,  ist  eine  weltgeschichtliche,  und 
diese  näher  zu  entwickeln,  liegt  ausserhalb  der  Grenzen  unse- 
rer Aufgabe. 

Etwas  von  deutscher  Natur  und  Innigkeit ,  welches  auch 
den  Schweizern  französischer  Zunge  nie  ganz  fehlt,  ist  in 
J.  J.  Rousseau  unverkennbar,  und  war  es  eben,  was  sein  Ver- 
hältniss  zu  den  Franzosen  nie  recht  innerlich  und  ungetrübt 
werden  Hess.  Die  Schriftstellerlaufbahn  hat  er  ziemlich  spät 
betreten.  Seine  erste  Schrift,  womit  er  den  Preis  der  Akade- 
mie von  Dijon  erhielt  und  worin  er  den  Satz  durchführte,  dass 
die  Geistesbildung  die  Menschen  zu  ihrer  Verschlechterung 
führe  und  dass  das  unmittelbare  Naturleben  der  ideale  Zustand 
des  menschlichen  Geschlechtes  sei,  machte  schon  grosses 
Aufsehen,  und  wie  er  mit  einem  Paradoxon  begonnen,  so  haben 
auch  die  meisten  seiner  Werke  einen  paradoxen  Charakter. 
In  seinem    contrat  social  erhebt  er  dasselbe  Thema  in  eine  Art 


Die  Dichter  der  modernen  französischen  Literaturperiode.  67 

systematisch-politische  Theorie  mit  bestimmter  demokratischer 
Tendenz.  Besonders  aber  wurde  diese  neue  Lehre  durch  seinen 
berühmten  Roman  „Die  neue  Heloise"  für  das  grössere  Publi- 
cum vermittelt ,  welches ,  durch  das  romanhafte  Interesse  leb- 
hafter angeregt,  hier  den  naturalistischen  Liberalismus  in  seiner 
Gesellschaft  mit  der  feineren  Weltsitte  sich  um  so  leichter  an- 
eignen mochte,  je  fasslicher  und  eindringlicher  zugleich  der 
Ton  ist,  womit  der  Verfasser  die  Erörterung  der  wichtigsten 
Anoreleocenheiten  und  Beziehungen  des  menschlichen  Lebens  in  die 
zarten  Empfindungen  der  Liebe  zu  verweben  gewusst  hat.  Was 
die  Heloise  in  dieser  verführerischen  Form  mehr  nur  gelegent- 
lich gab ,  sollte  der  einige  Jahre  später  erscheinende  Emil  in 
ernsterer  Darstellung  vortragen.  Es  ist  hier  vorzüglich  die 
Erziehung  und  Keligion,  auf  welche  die  Lieblingsgrundsätze 
des  Verfassers  angewendet  erscheinen.  In  der  Erziehung  sucht 
Rousseau  die  Zwecke  des  physischen  Lebens  und  die  unmittel- 
bare Brauchbarkeit  dem  idealen  Menschenthume  und  der  stren- 
gen Methode  gegenüber  zu  behaupten ;  in  der  Rehgion  weiss 
er  die  natürliche  Berechtigung  des  Gefühls  und  des  gesunden 
Verstandes  der  positiven  Dogmatik  und  dem  Offenbaruugsglau- 
ben,  wie  der  ungläubigen  frivolen  Genialität  gleichmässig  ent- 
geo;enzusetzen. 

Neben  Voltaire  und  Rousseau  ist  noch  Diderot  als  vor- 
nehmster Träger  der  Polemik  gegen  den  Despotismus,  die  Un- 
natur und  die  Unwissenheit  hervorzuheben.  Diderot  war  der 
grosse  Lehrer  der  Franzosen  nicht  nur,  sondern  Europa's,  der 
die  technische  Cultur  durch  die  geistvollen  Artikel  seiner  Ency- 
clopädie,  in  denen  er  die  Gewerbe  vom  Standpunkte  des  Fort- 
schritts der  Menschheit  schilderte,  bei  der  Aristokratie  der 
Bildung  zur  Anerkennung  brachte;  der  in  der  Kunst  dem 
steifen  akademischen  Modell  gegenüber  die  Naturwahrheit 
empfahl;  der  im  Drama  den  Triumph  des  natürlichen  Gefühls 
über  die  Schranken  der  Convenienz  feierte.  Diderot  ist  nicht 
ohne  hohen  Einfluss  auf  Deutschland  geblieben.  Denn  als  sich 
hier  jene  grosse  classische  Periode  der  Literatur,  die  in  der 
Geschichte  ihresgleichen  nicht  hat,  vorbereitete,  war  es  Diderot, 
dem  sich  Leasing  anschloss,  waren  es  die  Griechen  und  Rö- 
mer,   aus  deren    Studium  Klopstock  seinen  Formensinn  erkräf- 


68  Die  Dichter  der  modernen  französischen  Literaturperiode. 

tigte,  waren  es  die  Griechen,  Franzosen  und  Italiener,  denen 
Wieland  nacheiferte ;  waren  es  die  Bibel  und  Shakespeare,  de- 
nen Herder  und  die  Jünger  der  Sturm-  und  Drangperiode  hul- 
digten ;  allein  alle  diese  fremden  Ausgangspunkte  wurden  in  ein 
Ideal  der  Humanität  aufgelöst,  welches  dem  deutschen  Geiste 
eigenthümlich  geblieben  ist  und  seine  höchste  Vollendung  in 
dem  Dichter  gefunden  hat,  der  von  seinem  erhabenen  Berufe 
und  der  Macht  der  Poesie  hoch,  wie  kein  anderer,  gedacht  hat. 
„Der  Dichter,  sagt  Göthe,  fiihlt  das  Traurige  und  das  Freu- 
dige jedes  Menschenschicksals  mit.  Seine  empfängliche,  leicht 
bewegliche  Seele  schreitet  wie  die  wandelnde  Sonne  von  Nacht 
zu  Tage  fort,  und  mit  leisen  Uebergängen  stimmt  seine  Harfe 
zu  Freud  und  Leid.  Eingeboren  auf  dem  Grunde  seines  Her- 
zens,  wächst  die  schöne  Blume  der  Weisheit  hervor  —  er  lebt 
den  Traum  des  Lebens  als  ein  Wachender.  Er  ist  zugleich 
Lehrer,  Wahrsager,  Freund  der  Götter  und  der  Menschen." 


Das   Leben    der   heiligen   Brigitta. 


Mitgetheilt  von 

Dr.  A.  Tobias  in  Zittau. 


Die  Stadtbibliothek  in  Zittau  besitzt  unter  den  Handschriften 
(Litt.  B.  nr.  216)  das  Leben  der  heiligen  Brigitta  in  deutschen 
Versen  von  WolfF  Grün  Hiltmar  genannt  aus  Nürnberg,  aus 
dem  Jahre  1611.  Das  Gedicht  ist  auf  Pergament  sehr  sauber, 
zum  Theil  mit  rothen  Buchstaben  geschrieben,  auf  30  Blatt, 
die  10 V2  Centimeter  hoch  und  OVa  Centimeter  breit  sind.  Wie 
diese  Handschrift  hieher  gekommen,  lasst  sich  nicht  mehr  be- 
stimmen, jedenfalls  rührt  sie  von  einem  Exulanten  aus  Böhmen 
her,  deren  viele  hier  ihren  Aufenthalt  im  17.  Jahrhundert  nah- 
men und  ihre  literarischen  Schätze  der  hiesigen  Stadtbibliothek 
widmeten.  Wir  lassen  eine  getreue  Copie  der  Handschrift 
folgen : 

Zu  sonderlichem  wolgefallen  der  Edlen  vnd  VilEhrntugentreichen 
Frauen  Brigitam  von  Wirschberg  gebornen  Stiberin  von 
Butten  he  im  Frauen  auf  Mehrn  etc.  Wittib  auf  den  heutigen  die- 
ser Wolgenanten  Frauen  Ehrlöblichen  geburtstag  der  Heih'gen  Sanct 
Brigita,  zu  Lobwürdigem  gedechtnuss  dedicirt  vnd  in  Reimen  gebracht 
durch  Wolffen  Grün  Hiltmar  genant,  an  der  zum  Gosstenhof 
bei  der  Kayserlichen  Reichs  Stat  Nürnberg,  Im  lar  1611.  (Color. 
Zeichnung  der  H.  Brigitta.) 

Sanct  Brigitta  Auss  Schweden  landt, 
Geboren  ward  in  Edlem  standt, 
Ihr  Anherr  vnd  vr  Anherr  wisst, 
Eins  grossen  Gschlechts  gewessen  ist. 
An  Ehr  vnd  Gut  allsambt  gar  mechtig, 
Gottsförchtig,  fromb,  keusch  vnd  einträchtig, 
Wie  dann  Sanct  Brigitta  zuhandt, 
selbst  hat  besucht  das  heilig  Landt, 
Als  ein  Pilgrin  zu  Gottes  Lob, 
gewallet  ist,  zu  Sanct  Jacob 


70  Das  Leben  der  heiligen  Brigitta. 

Darumb  Gott  sie  in  Lieb  erkhennt, 

Behüettet  hat,  biss  an  Ihr  endt, 

Darfür  kein  müeh  noch  fleiss  thut  sparen, 

Wollt  vebers  wilde  Möer  auch  fahren, 

Zubesuchen  das  heilig  Grab, 

Dauon  hielt  sie  gross  vrsach  ab, 

Das  der  Babst  vnd  vil  BischofF  gleich, 

Ein  Samblung  betten  in  dem"  Reich, 

von  des  Christlichen  glauben  wegn, 

Ihr  Vatter  thet  gewöhnlich  pflegn, 

sambt  seinem  Sohn  vnd  Brigitta, 

Mit  grosser  Rew  vnd  Andacht  da, 

zu  Hayll  vnd  Trost  Ihrs  gwissens  Leichtn, 

All  Freytags  Ire  Sündt  zu  beichtn, 

Demütig  fridlich  sich  vertrugn, 

Heimblich  Ihr  Leib  mit  Geissein  schlugn, 

Brigitta  Mutter  war  mit  Namen, 

Ein  Edle  Fraw  von  hohem  Stammen, 

Auss  einem  Königlichem  Gschlecht, 

Gottsförchtig,  Tugentsamb  gerecht, 

Vil  Gottsheusser  vnd  Clöster  Neu, 

Schulen  vnd  dergleichen  gebew 

hat  sie  gestifft  vnd  begabt  Reich, 

vngeacht  dessen,  ob  Ir  gleich, 

Nach  Ihrem  Adell,  Ehr  vnd  Standt 

gebürt  zu  tragen  köstlich  gwandt, 

Hat  siess  vnd  Brigitta  vrlacht, 

sich  stets  beflissen  schlechter  tracht, 

Allss  Nun  Sanct  Brigitta  drey  Jahr, 

von  Mütterlichen  Brüsten  war. 

Freudenreich  Tugentlich  erhalltn, 

Da  Thette  Gottes  wunder  walltn, 

Das  dises  heillig  Zweiglein  frumb, 

Wurd  drey  Jahr  nacheinander  Stumb, 

Aber  zu  vnd  des  dritten  Jahr 

Fieng  es  recht  an  zureden  gar, 

mit  verstandt  deutlich  ganzen  wortten 

Das  alle  wundert  dieser  orttn, 

Ob  dieser  rainen  sprach  so  Pur, 

Wider  die  gewonheit  der  Natur, 

Do  Nun  Brigitta  Muter  eben, 

volstrecken  wollt  Ir  Zeitlichs  Lehn, 

Da  fiell   sie  in  grosse  schwacheit, 

verschied  selig  bey  kurtzer  Zeit, 

Sanct  Brigitta  Ir  Tochter  frumb 


Das  Leben  der  heiligen  Brigitta.  71 

Befahl  sie  Irer  Lieben  Mumb, 

solche  fürbass  an  diesem  Ort, 

Zu  ziehen  auf  nach  Gottes  worlt, 

Allss  aber  Sanct  Brigitta  wahr, 

Irs  Allters  im  Siebenden  Jar, 

Das  Christlich  zweig  vnd  Edle  Frucht, 

Zu  aller  Jungkfreulichen  Zucht, 

vnd  grosser  Andacht  ward  geneigt, 

Einstmalss  ein  gsicht  zu  nachts  sich  zeigt 

vor  Ireni  Bettlein  in  vertrauen 

Gestaltsam  einer  schön  Junckfrawen 

Mit  leichten  klaidern  sizent  ganz, 

vmbgeben  mit  sehr  hellem  glänz. 

Gebildet  vnd  gezieret  schon 

habend  in  Irer  band  ein  krön. 

Die  Schön  Jungkfraw  Nun  sprach  zu  Ihr 

Brigitta,  komb  du  her  zu  mir, 

Das  Maidlein  sich  nicht  saummen  thett, 

Mit  freuden  sprang  aus  Ihrem  Bett, 

Die  Junckfraw  redt  Brigitta  an, 

Brigitta  wilst  du  habn  die  krön. 

Auf  Ihr  Jawortt  ganz  vnuerlezt 

Hat  siess  Sanct  Brigitt  aufgesezt. 

Mit  hellem  glänz  gar  liechtem  schein. 

Bald  ward  entzückt  diess  Junckfreulein, 

in  starcker  lieb  durch  Gottes  k rafft 

AVie  Nun  Sanct  Brigitt  TugenthafFt, 

Ir  Allter  in  das  Zehent  Jar 

Erraicht,  vnd  wol  aufgehen  war, 

Alss  ein  Schön  Lyllg  vnd  Edler  Stamb, 

in  allen  Tugenten  zunamb, 

Ihr  Junckfreuliche  rainigkeit 

Bewahret  hertzlich  allezeit, 

vnstrefflich  in  dem  gwissen  rein. 

Mit  höchster  demut  geziert  fein, 

Biss  entlichen  vnd  darnach  baldt 

S :  Brigita  war  zwölfF  Jar  allt, 

Da  sie  bey  Ihrer  lieben  Mummen, 

Zu  eim  hochen  verstandt  ist  kummen, 

Nicht  allain  in  Geistlichen  Sachen, 

Sie  khundt  zwar  auch  vil  schönss  dings  machon, 

Von  Nehwerck  würcken,  wiess  hat  Namb, 

Alssdann  ein  Engel  zu  Ihr  kamb, 

Einer  Jungkfreulichen  Persohn, 

Welchen  die  Mumb  Ins  Hauss  sah  gohn, 


72  Das  Leben  der  heiligen  Brigitta. 

Der  sich  alssbalden  vnuerletzt, 
Zu  S.  Brigittam  dargesetzt, 
vnd  hat  mit  Ihr  durch  Gottes  krafft, 
gearbeit  Künstlich  Maisterschafft 
Darob  von  Menniglich  besunder, 
All  Menschen  ghabt  ein  grosses  wunder, 
Aber  die  Ehallten  im  hauss 
haben  nicht  gsehen  gar  durch  auss 
Den  Engel  Nur  die  Mumb  allein, 
denselbigen  sah  gehen  ein, 
Da  Nun  die  Mumb  solch  schön  gewandt 
genummen  hat  in  Ire  handt 
vnd  es  beschaut  mit  allem  fleiss 
so  wars  gewürckht  in  solche  weiss 
Das  Jederman  bekennet  frey 
Wiess  von  Gott  selbst  gewürcket  sey, 
DaraufF  behielt  Ir  liebe  Mumb, 
solchs  forthan  für  gross  heiligt humb 
Nachdem  die  Selig  Junckfraw  zart 
Züchtig  erwuchss,  bald  Manbar  wardt 
Namb  an  Geistlicher  Zierung  zu, 
Da  liess  der  vatter  Ir  kein  Ruh, 
Ernstlichen  von  Ir  haben  wollt 
Das  sie  den  Ehstandt  zieren  sollt 
Allen  Ehfrawen  züchtig  rein 
vnd  den  Mannen  ein  Spiegel  sein. 
Der  Tugent  ein  vorleuchte  wem, 
Auf  solchen  beuelch  vnd  begern, 
Sie  Irem  Vater  ghorsamb  war. 
Zu  eim  Gemahl  Ir  gstellet  dar, 
Ein  Edler  Tugenthaffte  Man 
Mit  Gottsförchtigkeit  angethan, 
Darzu  vermüfftig  (sie)  Schön  vnd  Millt, 
S  Brigitam  gleichmässigs  Billdt, 
Also  kamen  löblich  zu  handt, 
Diss  Junge  Volck  in  Ehling  Standt, 
Lebten  beysamb  im  gewissen  rein, 
Fridsamb  Gottsfürchtig,  Still  gar  fein, 
Demüttig  gegen  Arm,  vnd  reich, 
.    Das  man  nit  fand  bald  Ires  gleich. 
Der  Junge  Man  vnd  Christiichs  Weib, 
Geiselt  vnd  schlagen  Ire  Leib, 
Beichten  vnd  Büesten  Ire  Sündt 
vilfältigmal,  wie  man  den  findt, 
Geschrieben,  das  die  Beicht  mit  fleiss. 


Das  Leben  der  heiligen  Brigitta.  73 

Auffschleuss  das  heilig  Paradeiss, 
vnd  Schleust  dargegen  zu  die  Höll, 
Erlediget  von  Angst  vnd  Quoll, 
Wiewoll  die  Ehleut  baide  ander, 
Ein  Strenges  Leben  mit  einander, 
Fiirtten,  so  thet  doch  dises  weib, 
Vil  mehrers  Quöllen  Iren  Leib, 
vngeacht  all  Irs  grossen  Guts, 
het  sie  darbey  gar  Wenig  Muts 
So  Pflag  sie  sonderlich  darnebn, 
Gross  AUmoss  täglich  ausszugebn 
Enthielt  sich  auch  mit  allem  fleiss. 
Köstlich  gedrannk  vnd  theurer  speiss, 
vnvi'issent  Ires  herrn  zwar 
Heimblich  souil  Ir  Möglich  war, 
Zu  dem,  diss  heilig  Edl  w^eib. 
Mehr  Peinigt  Iren  zarten  Leib, 
Mit  geissein  Fasten  vnd  Cassteyen, 
Auf  Erd,  nichts  mehr  sie  thet  erfreuen, 
Dann  Predig  hören  Gottes  wortt, 
Ir  hauss  war  Stets  ein  offne  Pfortt, 
Den  Armen  krancken  überall, 
nit  änderst,  dann  wie  im  Spittal, 
Denen  sie  zwug,  kleidet  vnd  speist 
allensambt  Christlich  fraw  beweist, 
Aber,  wie  heilig  Keusch  sie  was, 
mit  schmertzen  gross,  Ihr  khinder  gnass, 
Wie  dann  hierauff  geschah  geschwindt, 
Das  sie  Arbeitet  zu  eine  kindt, 
Daran  sie  hart  lag,  biss  an  Thodt, 
vnd  als  sie  war  in  höchster  Nott, 
Das  man  verzweiflfelt  Ires  leben, 
So  thet  Gott  Ir  in  Sinne  gebn, 
Das  sie  ganz  Inniglich  zu  handt, 
AnrufFt  zu  Trost,  HülfF  vnd  Beystandt, 
Die  Muter  vnsers  herrn  Christ, 
welche  Ir  drauff  erscbinnen  ist, 
In  der  Nacht,  als  die  Hebamb  war, 
vor  Müdigkeit  entschlaffen  gar, 
In  einem  weissen  Seiden  gewandt, 
Namb  Brigitam  bey  Irer  handt, 
vmbgriefF  Im  Leib  vnd  alle  glidr, 
Zuband  kamen  all  krefFten  widr, 
Sobald  das  gross  heilthumb  verschwandt, 
S:  Brigitta  sich  wol  befandt. 


7'1  Das  Leben  der  heiligen  Brigitta. 

Gebar  aus  lieb  frölichem  hertzn, 

Ein  Tochter  Schön  on  allen  schmerzen, 

Ihr  Junger  herr  vnd  Ehlich  Man, 

sich  gar  weisslich  thet  nemen  an, 

Dem  Vatterlande  zu  Ehr  vnd  Preise, 

Zu  diennen  stets  mit  grosem  fleise, 

Inraassen  zu  Rom  in  der  Statt, 

Dem  Senat,  vnd  dem  ganzen  Rath, 

Er  vnu  erdrossen  beigestanden, 

Alles,  was  im  kummen  zu  banden, 

vernünfftiglich  hat  helffen  richten, 

Nun  thet  S.  Brigitta  draufF  dichtn. 

Wie  sie  mit  lieb  beschaidenlich 

Könt  Iren  Man  vernünfftiglich, 

von  dieser  wellt  Irrdischen  Sachen 

Abwendig,  vnd  in  selig  machn, 

Zu  dem  Gott  würcket  sein  gedeyen, 

vnd  thet  darzu  genad  verleihen 

Dann  sie  sprach  hertzen  Lieber  Herr, 

Welltlich  geschafft  bringt  gross  beschwer, 

Ist  misslich  an  der  Seligkeit, 

Das  Ewig  aber  bringet  Freudt, 

Folgt  mir  durch  Gott,  meim  blöden  Rath, 

Weill  er  vns  hoch  begnadet  hat, 

Mit  Ehr,  vnd  Gut,  gesundem  leib, 

Drumb  bitt  ich  auch  als  euer  Weib, 

Lasst  Gott  vns  darfür  danckbar  sein, 

vnd  ist  Jetzt  das  begeren  mein, 

Das  baide  wir  nemen  vor  gut, 

Geben  vns  willig  in  Armut, 

vmb  der  Lieb  Jesu  Christi  willen 

sein  heilligs  Gebot  zuerfüllen, 

Darauff  sie  dann  baide  behendt, 

verliessen  allss,  giengen  elend. 

Mit  schlechter  Wath  vnd  Zerung  schnell, 

kamen  dahin  gen  Compastell 

Die  frommen  ehleut  baide  sandt 

Widerumb  in  S.  Jacobs  Landt, 

Alss  sie  auch  viel  heiliger  Stett, 

Besucht  vnd  als  vollendet  het. 

In  dem  kein  müeh  noch  fleiss  gespart. 

Da  fiellm  solcher  widerfart 

Zu  Atribato  mit  herzleidt, 

Brigita  heir  in  gross  Kranckheit, 

Bettriess  am  Thodt  er  ligen  was. 


Das  Leben  der  heiligen  Brigitta.  75 

Biss  ira  verkündet  wurde  das 
Durch  den  würdigen  Bischoff  frumb 
Willigen  Dionisium, 
Das  er  auch  nit  sollt  lassen  ab, 
hinrayssen  zum  heiligen  Grab, 
Mit  Brigitam  seim  lieben  Weib 
Bald  er  das  globt,  da  wurd  sein  Leib, 
Alssbalden  in  derselben  stund 
Wideriimb  starck,  frisch  vnd  gesund, 
Wie  sie  das  auch  vollenden  thetten, 
Allss  gar  verriebt,  vnd  gsehen  betten, 
Körtten  sie  wider  heimb  zu  Landt, 
Frölich:  vnd  wurden  baide  sandt 
Bey  gsundem  Leib  noch  zu  betrachtn 
Das  gar  nichts  höchers  wer  zuachtn. 
Nach  dem  Spruch  Salomonis  holdf, 
Das  weder  Edelgstain  noch  Gollt, 
Berlein,  Silber,  vom  höchsten  Werth, 
Nichts  sey  zu  schetzen  auf  der  Erdt, 
gegen  ainer  Seel  keusch  vnd  rein, 
Die  Dortt  hat  Ewig  freud,  ohn  Pein, 
Darumb  sie  kürzlich  diesen  Rath, 
Beschlossen,  das  sie  Gottes  gnad, 
vnd  sein  Millte  Barmhertzigkeit, 
Welltlicher  Ehr,  vnd  Eytelkeit, 
Fürziehen,  das  sie  billich  sollten, 
auch  alle  beede  willig  wollten 
Sich  Jedes  bey  gesundem  leben. 
In  Geistlichen  Stande  vnd  Orden  gebn, 
Drauff  Spendtens  Ir  haab  Gut  vnd  gellt, 
Den  Armen  auss,  wol  in  der  Wellt, 
Schickten  sich  darzu  allebaidn, 
Willig  von  einandr  zu  schaidn 
Das  also  Nimmerraer  hernach 
Eins,  das  ander  mit  äugen  sacb, 
Alss  Nun  der  Edel  Fürst  vnd  Herr, 
All  Ding  geschickt,  dann  zog  er  ferr. 
Mit  wenig  Gut  gen  Alustra 
Ward  Geistlich  in  dem  Orden  da. 
Dienet  vil  Jahr  Gott  an  dem  endt, 
Biss  die  Seel  Fuhr  in  seine  hendt, 
S :  Brigitta,  das  Christlich  Weib, 
Gedultig,  Still,  Ainmüttig  bleib, 
Mit  Bitten  Fassten  grossem  Traurn 
Alss  wie  ein  Turtteltaub  thut  Dauern, 


76  Das  Leben  der  heiligen  Brigitta. 

Ihra  Gatten  vnd  gesellen  trew, 
Trug  wahre  Buss  vnd  grosse  Rew, 
Nach  Ihres  Ehmans  Thot  der  Zeit, 
So  Iheillt  sie  vnter  Arme  Leut 
vnd  Ihr  kinder,  alls  haab  vnd  Gut, 
Namb  an  sich  gar  betrübten  muth 
verwandelt  auch  Ir  Leibgewandt, 
Zog  Arm  gen  Rom  Ins  wälische  landt, 
Alss  sie  hinkamb  in  Armer  Nott, 
Trieben  mit  Ir  den  höhn  vnd  Spot, 
Die  vebermüttig  grossen  Frauen, 
kuntens  nit  gnug  dadlen  noch  schauen, 
hieltens  für  vnsinnig  on  mass, 
Allain  der  vrsach,  vnd  vmb  das, 
Sie  ein  Gross  Fürstin  war  zuuorn, 
vnd  Jetzt  so  Gähling  elend  worn, 
Denen  sie  antwort  bschaidenlich, 
von  eurentwegen  nicht  hab  ich. 
Mein  gwandt  vnd  mein  verworffen  Lehn, 
verwandelt,  also  will  ich  ebn, 
von  eurentwillen  solcher  massen, 
Mein  vornemen  nicht  vnterlassen, 
Nach  dem  S.  Brigitta  all  tag, 
Irs  Leibs,  mit  grosser  Martter  Mag, 
vnd  diss  Andächtig  Edel  Weib, 
BetraifFt  offt  Iren  Zarten  Leib, 
mit  hizigen  wachstropfFen  baldt 
Macht  in  verwundt  sehr  vngestalt, 
Ob  gleich  die  wunden  heulten  zu, 
het  sie  doch  weder  Rasst  noch  Ruh, 
Grumbts  mit  scharpfF  Nägeln  wider  ab. 
Damit  sie  im  gedechtnuss  hab, 
Das  Bitter  leiden  Jesu  Christ, 
Der  für  sy  vnd  vns  gstorben  ist, 
Dise  histori  ist  fürwar 
Als  man  gezelet  1000  Jar 
Dreihundert  Siebentzig  vnd  Siebn, 
Do  zumal  an  der  Zal  ist  bliebn, 
Zu  Rom  vnd  sonst  warhafll  ergangen, 
Gott  helfF,  das  wir  die  gnad  erlangen, 
Zubessern,  vnser  Sündlichs  lehn, 
vns  Christum  ganz  vnd  gar  erheben, 
Wie  solche  baide  Ehleut  frumb. 
Das  Jedes  glaubig  Mensch  hinkumb, 
Ins  höchstgelobte  heiligthumb,  Amen: 


Ungedruckte 

politische   Gedichte  aus  dem  XVII.    Jahrhundert. 


Von 

Dr.  H.  Bieling  in  Berlin. 


1.  Das  folgende  Gedicht  auf  den  Tod  des  Königs  Gustav  Adolf 
befindet  sich  zu  Oxford  in  der  Bodleian  Library,  Cod.  Thom.  Tanneri 
Nro.  306.  Fol.  267.  Es  gehört  einer  Sammlung  an,  welche  Corre- 
spondenzen,  Berichte  u.dgl.  meist  lokaler  Art  enthält,  die  aber  derselben 
Zeit  zu  entstammen  scheinen,  nämlich  den  dreissiger  Jahren  des  17. 
Jahrhunderts,  und  wohl  alle  in  Oxford  ihren  Ursprung  haben.  Das 
Gedicht  ist  anonym.  Der  unbekannte  Verfasser  schildert  in  lebhafter 
Weise  den  Eindruck,  welchen  die  Nachricht  von  der  Schlacht  bei 
Lützen  und  dem  Tode  des  Königs  in  England,  speciell  in  London  her- 
vorrief. Es  scheint  unmittelbar  nach  dem  Eintreffen  derselben  geschrieben 
zu  sein;  darauf  deutet,  ausser  dem  Gesammteindruck  des  Gedichtes, 
der  Schluss  desselben:  „.  .  .  for  none  can  sav  ther  euer  went  two 
kinges  of  Sued  this  way."  Es  scheint  hieraus  hervorzugehen,  dass 
dem  Verfasser  die  Art  der  Thronfolge  in  Schweden  und  die  Fortsetzung 
des  Krieges  noch  nicht  bekannt  waren.  Das  Gedicht  ist  in  gothischer 
Currentschrift,  deren  alterthümliche  Zeichen,  den  bei  uns  noch  üblichen 
verwandt,  jetzt  bekanntlich  in  England  ganz  ausgestorben  sind,  ge- 
schrieben und  durch  viele  Schnörkel  oft  schwer  lesbar.  Eine  spätere 
Hand,  die  wir  durch  eckige  Klammer  bezeichnen,  hat  einige  Zusätze 
gemacht. 

[on  Gustavus  Adolphus  death] 

Th'exchange  where  sadde  truthes,  finde  lesse  faith, 
and  wheare  no  freind  or  alley  euer  dyes, 
which  mightier  farr  then  fate  keepes  men  aliue 
past  there  iust  days  and  kills  those  that  surviue: 


78  Ungedruckte  politische  Gedichte  aus  dem  XVII.  Jahrh. 

Hath  yet  confest  him  dead,  and  in  mens  cloathes, 

wee  See  enough,  to  saue  th'expence  of  oathes, 

and  further  proofe,  eaeh  countenance  betrayes 

moie  than  the  common  robbers,  one  highwayes. 

and  the  whole  towne  doeth  looke  farr  more  vndone 

then  in  a  plague,  er  longo  vacation. 

The  clergie  hath  the  very  face  putt  on 

That  it  did  weare,  at  the  great  disolution 

of  all  the  abbyes,  and  the  tradesman  lookes 

as  if  [hee]  had  lost  the  debts  in  his  shopp  bookes. 

the  Puritan  that  loue[d]  no  Crosse  before 

for  this  Crosse  fate,  doth  hate  it  now  much  more. 

the  vserer  [is]  turnd  vnthrift,  and  his  greefe 

is  such,  as  if  some  Parliament  releefe 

were  come  agayne  for  vse,  no  man  is  free 

lawyers  that  liue  by  mischeife,  mourners  bee 

and  cannot  finde  in  all  there  bookes,  one  case 

80  hard  as  this :  a  prince  slayne  in  the  place 

where  he  did  stand  victorious,  in  the  pride 

of  all  his  glorie,  victory  like  a  bride 

that  court[s]  her  choyce,  smilinge  upon  hira  still 

waytinge  but  night  to  crowne  his  wish  and  will 

and  this  too,   by  a  band  vnknowne,  may  bee 

one  that  had  kild,  his  father,  safer  hee 

and  with  a  better  conscience,  might  haue  done 

on  him  then  here  the  exequution 

But  oh  what  will  become  of  all,  hees  dead 

and  left  behinde  an  army  without  head. 

a  cause  a  iust  one  too,  and  heauen  does  know 

whither  it  shalbe  foUowd  soe  or  noe. 

Hees  gone,  and  all  the  good  intents  he  hadd 

haue  the  same  fate,  as  if  they  had  beene  badd. 

Here  each  man  weeps*  and  greefe  beginns  to  rage 

and  would  it  seife  in  showers  of  tears  asswage 

Butt  letts  denie  him  passage  through  our  eyes 

Lett  sorrowe  once  be  passionate  and  wise. 

for  shold  it  know  but  this  one  way  of  bent 

what  would  become  of  any  continent. 

This  is  no  common  losse  for  none  can  say 

ther  euer  went  two  kinges  of  Swed  this  way. 

2.     Wir  schliessen   hieran  ein,    so  viel   uns   bekannt,   noch  unge- 
drucktes französisches  Gedicht  von  Gumbauld,  das  denselben  Gegen- 

*  Ms.  meets. 


Ungedruckte  politische  Gedichte  aus  dem  XVII.  Jahrh.  79 

stand  behandelt,  wie  das  vorhei'gehenJe  englische.  Dasselbe  befindet 
sich  im  British  Museum,  Sloane  Collection  895.  Fol.  55.  1.  in  einer 
Papierhandschrift  des  XVII.  Jahrhunderts ,  die  durchaus  von  einer 
und  derselben  scharf  markirten  Hand  geschrieben,  französische 
Sonnette  meist  politischen  Inhalts,  von  verschiedener,  zum  Theil 
hugenottischer  Färbung  enthält ;  die  Gedichte  sind  theils  anonym, 
theils  von  Theophile,  Colletet,  Gumbauld ,  manche  bereits  ge- 
druckt. Im  Ganzen  enthält  die  Handschrift  60  Blätter  in  8.,  auf 
jedem  Blatte  2  Sonnette;  der  Schreiber  hat  sich  nicht  genannt;  eine 
auf  dem  ersten  Blatte  befindliche  Notiz:  "In  Northgate  Street  at  Mr. 
Dennis  walkers"  ist  von  späterer  Hand  und  augenscheinlich  nichts  als 
Buchhändlernotiz.  Wir  haben  hier  von  den  interessanteren  einige 
ausgewählt,  und  lassen  zunächst  das  auf  Gustav  Adolfs  Tod  folgen. 

Sonnet  par  Gumbauld. 

II  est  mort  ce  grand  Roy,  dans  le  champ  de  Bellone, 

ce  guerrier  qui  for^ant  bataillons,  et  remparts, 

Du  nid  des  Aquilons  portoit  ses  estendarts 

oü  le  bruit  de  son  trosne  ä  grand  peine  resonne. 

C'et  exces  de  valeur,  qui  les  peuples  estonne, 
alloit  enfin  borner  la  gloire  des  Caesars 
Et  mettre  sur  son  front  viue  image  de  mars, 
De  l'Empire  Du  nord  la  preniiere  couronne. 

Mais  son  astre  fatal  le  tire  dans  les  cieux 

Quand  sa  foudre  ecrasant  les  plus  audacieux, 

De  ses  propres*  ardeurs  luy-mesme  il  se  consomme. 

On  l'admire,  on  le  pleure  en  tant  de  lieux  divers, 

Que  d'un  deiiil  sans  exemple  en  la  mort  d'un  seul  homine, 

11  semble  que  Dieu  veüille  affliger  l'uuivers. 

3.     Es  reiht  sich  hieran  ein  zweites  Gedicht  derselben  Sammlung 
auf  den  Tod  Gustav  Adolfs,  von  anonymem  Verfasser. 

Sonnet 
Sur  la  mort  de  Gustave  Adolphe,  Roy  de  Suede. 

Lorsque  par  des  exploits  que  la  foy  ne  peut  croire, 

ie  terrasse  l'orgueil  des  plus  ambitieux, 

la  sacriledge  main  du  sort  audacieux, 

vient  borner  de  ma  vie  et  le  cours  et  l'histoire. 

*  Ms.  propre. 


80  Ungedruckte  politische  Gediclite  aus  dem  XVII.  Jahrb. 

une  si  belle  fin  eternize  ma  gloire, 
ie  m'eleue  en  tombant  iusqu'au  plus  haut  des  cieux. 
ie  cueille  en  mes  cipres  des  lauriers  precieux. 
Et  de  mon  propre  sang  i'acchette  la  victoire. 

Apres  Ie  coup  fatal  dont  ie  fus  mis  a  bas, 

mon  nom  faisoit  encore  l'office  de  mon  bras, 

Et  combattoit  pour  moy  qui  n'estoit  plus  que  terre, 

Alexandre  viuant  submit  tout*  a  sa  loy, 

Et  Ccesar  en  ses  iours  fut  un  foudre  de  Guerre, 

mais  nul  apres  sa  mort  ne  s^eut  vaincre  que  moy. 

4.  In  derselben  Sammlung  befindet  sich  ein  anonymes  Gedicht 
auf  den  Tod  eines  anderen  berühmten  Vorkämpfers  des  Protestantis- 
mus und  jüngeren  Zeitgenossen  des  grossen  Schwedenkönigs,  Oliver 
Cromwells.  Abscheu  und  Bewunderung  mischen  sich  auf  eigenthüm- 
liche  Weise  in  diesem  Gedichte.  Es  ist  abgedruckt  in:  Poesies  Gail- 
lardes  et  Heroiques  de  ce  temps.  12.  o.  D.  p.  92.  Diese  Samm- 
lung dürfte  jedoch  ziemlich  selten  sein ,  und  wir  lassen  deshalb  das 
kleine  Gedicht,  welches  ein  nicht  uninteressantes  Spiegelbild  der  Volks- 
meinung über  diese  hervorragende  Erscheinung  ist,  hier  folgen. 

Sonnet 
Sur  la  Mort  de  Cromwel. 

que  contre  mon  pouuoir  toute  la  terre  gronde, 
que  tous  les  potentats  m'attaquent  ä  la  fois, 
Et  que  ie  sois  blasmee  d'une  commune  voix, 
ma  gloire  durera  tout  autant  que  Ie  monde. 

i'ay  fait  voir  mon  pouuoir  sur  la  terre  et  sur  l'onde, 
au  seul  bruit  de  mon  nom  i'ay  fait  trembler  des  Rois, 
de  mon  propre  pays  i'ay  renverse  les  loix, 
Et  enfin  ie  suis  mort  dans  une  paix  profonde. 

De  **  mes  propres  amis  ie  me  suis  defie, 

a  mon  ambition  i'ay  tout  sacrifie, 

Et  mesme  de  mon  Roy,  i'ay  fait  une  victime, 

il  est  vray  que  ie  suis  criminel  en  effet, 

mais  iamais  un  mortel  n'a  sQeu  pousser  Ie  crime, 

auec  plus  de  succez  et  plus  loin  que  i'ay  fait. 

5.  Auch  auf  den  Tod  Karls  I.,  des  Königs,  der  Cromwells  Opfer 
wurde,  befindet  sich  in  unserer  Sammlung  ein  Sonnet,  Fol.  1.1,  eben- 
falls ohne  Namensangabe. 

*  Ms.  toute.        **  Ms.  Des. 


Üngedruckte  politische  Gedichte  aus  dem  XVII.  Jahrh.  81 

Sonnet 
Sur  la  Mort  Du  Roy  D'Angleterre. 

Brutaux  que*  l'ocean  separe  Des  humains, 
k  qui  le  sang  Des  Rois  rend  le  visage  blesme, 
vos  Boureaux  ont  ils  droit  de  battre  un**  diademe, 
vos  Rois  sont  ils  suiets,  ***  estes  vous  souuerains, 

Themis  ne  le  veut  pas,  mais  ses  efforts  sont  vains, 
a  conseruer  son  temple  et  la  raison  qu'elle  aime, 
Et  si  iadis  les  iuifFs  s'en  prindrentf  a  Dieu  mesme, 
faut  il  que  son  image  ensanglanta  vos  mains. 

cruells  imitateurs  du  ff  plus  noire  de  leursfff  crimes, 
vos  Rois*f  passent  pour  dieux,  et  souuent  des  victimes, 
Selon  que  vous  changez  l'usage  des  autels, 
en  un  mot  leur  destin,  depend  de  vostre  enuie. 
Et  de  peur  qu'on  crut  qu'ils  fussent  immortels, 
vous  avez  trouvez  l'art  de  leur  oster  la  vie. 

6.  Ein  anonymes  Gedicht  Fol.  11.  1  der  genannten  Sammlung 
bebandelt  die  traurigen  Umstände,  unter  denen  die  einst  so  mächtige 
Königin  Maria  von  Medicis  das  Ende  ihres  vielbewegten  Lebens  er- 
reichte. 

Sonnet 
Sur  la  Mort  de  Marie  Medicis. 

Le  palais  florentin  m'a  donne  le  berceau, 
le  Louvre  de  Paris  a  veu  briller  ma  gloire, 
le  nom  de  mon  espous  d'immortelle  memoire, 
reluit  dedans  les  cieux  comme  un  astre  nouveau. 

i'eus  pour  gendres**f  trois  Rois,  pour  fils  un  clair  flambeau, 

de  qui  le  nom  fameux  reluira  dans  l'histoire, 

apres  tant  de  grandeur  le  pourra***f  t'on  bien  croire, 

ie  suis  morte  en  exil,  Coloigne  est  mon  tombeau. 

Coloigne  oeil  de  citez  de  la  terre  Alemande, 
si  iaraais  le  passant  curieux  te  demande, 
le  funeste  recit  des  maux  que  i'ay  soufFerts, 
disf*  ce  triste  cercueil  fatalement  enserre, 
La  Reine  dont  le  sang  regit  tout  ff*  l'univers, 
qui  n'eut  en  mourant  un  seul  pousse  de  terre. 


*  Ms.  qui.        **  Ms.  un.        ***  Ms.  suiet.        f  Ms.  priadra. 
ft  Ms.  de.        ftt  Ms.  leur. 
*f  Ms.  Roys;  sonst  immer  im  Pluriel  Rois. 
**t  Ms.  gendre.        ***f  Ms.  poura. 

t*  Ms.  dit,  mit  starkem  <,  unter  dem  ein  früheres  s  zu  stecken  scheint, 
ff*  Als.  toute,  offenbar  nur  Schreibfehler. 
Archiv  f.  n.  Sprachen.   XLVIIL  6 


82  Ungedruckte  politische  Gedichte  aus  dem  XVII.  Jahrh. 

7.  Noch  ein  Gedicht,  anonym  wie  alle  noch  übrigen,  welche  uns 
geeignet  erschienen,  an  dieser  Stelle  abgedruckt  zu  werden,  hat  das  Ab- 
leben eines  berühmten  Zeitgenossen  zum  Gegenstaude,  Heinrichs  von 
Lothringen,  des  letzten  Herzogs  von  Guise.     Es  steht  Fol.  5.  1. 

Sonnet 
Sur  la  Mort  de  Monsieur  de  Guise. 

Sans  fleches  et  sans  carquois,  sans  arc  et  sans  flambeau, 
Amour  tout  en  desordre  et  Bellone  enchaisnee, 
Accusent  hautement  l'aueugle  destinee, 
Et  poussent  de  longs  cris  aupres  d'un  grand  tombeau. 

La  venus  vranie,  se  fondant  tout  en  eau. 
Et  la  france  k  ses  pieds  de  cipres  couronnee. 
s'arrache  les*  cheueux  comme  une  forcenee, 
de  perdre  en  un  matin  ce  qu'elle  a  de  plus  beau. 

le  grand  De  Guise  est  mort  et  cette  ame  si  belle. 
Des  princes  le  miroir  et  des  Rois  le  modelle, 
ne  regne  plus  icy,  eile  est  dedans  les  cieux. 
ce  heros  plein  d'honneur  ennuye  de  la  terre, 
Charge  de  mille  exploits  et  de  paix  et  de  Guerre, 
tient  a  present  son  rang  dans  le  nombre  Des  Dieux. 

8.  Die  rothe  Eminenz  und  ihr  selbstgewählter  Nachfolger  wer- 
den in  einem  Fol.  14.  2  befindlichen  Sonnet  verglichen;  Veranlassung 
ist  der  berühmte  Friedensschluss  von  1659. 

Sonnet. 

Sur  deux  grands  Cardinaux  qu'on  vante  egalement, 
Et  dont  l'on  met  tousiours  le  merite  en  balance; 
Qui  tous  deux  ont  tenu  le  timon  de  la  France, 
heureux  qui  pourroit  faire  un  iuste  iugement! 

L'un  n'entreprenoit  rien  qu'il  ne  fit  hautement; 
il  ne  pouuoit  soufFrir  la  moindre  resistance; 
Et  lautre  se  conduit  auec  tant  de  prudence, 
Que  Selon  le  besoin  il  relasche  aisement. 

Richelieu  pour  regner  broüilla  toute**  la  ferre, 
pour  estre  craint  par  tout,  ietta  par  tout  la  guerre, 
Et  mesme  aux  plus  puissans  il  s^eut  donner  la  loy: 
au  lieu  que  Mazarin  voyant  perir  le  monde, 
pour  estre  aime  par  tout  comme  il  Test  de  son  Roy, 
a  mis  tout  l'univers  dans  une  paix  profonde. 

*  Ms.  le.         **  Ms.  tout. 


Ungedi'uckte  politische  Gedichte  aus  dem  XVII.  Jahrh.  83 

9.  10.  11.  Auch  die  nachfolgenden  drei  Sonnette  sollen  nach 
einer  im  Specialkatalog  befindlichen  Notiz  sich  auf  den  Frieden  von 
1659  beziehen,  das  erste  (Fol.  15,  1)  die  Rückkehr  des  grossen  Conde, 
das  zweite  (Fol.  16,  1)  die  spanische  Heirat  angehen;  es  erscheint 
dies  durch  den  Inhalt  der  Sonnette  als  unzweifelhaft;  bei  dem  dritten 
Sonnet  (Fol.  16,  2)  ist  die  politische  Beziehung  schwer  erkennbar. 

9.  Sonnet 

au  retour  de  Monsieur  le  Prince. 

prince  miracouleux  dont  les  faits  heroiques, 
de  leurs  *  fruits  eclatans  estonnent  l'univers, 
vous  qui  passez  l'efFort  de  la  prose  et  des  vers 
Et  rendez  iraparfaits  tous  les  panegyriques. 

vos  desseins  ont  trompe  les  plus  fins  politiques; 
vostre  bras  indomptable  en  cent  combats  divers 
y  fait  voir  que  du  sort  les  plus  fameux  revers 
ne  sont  pour  ses  vaillans  que  d'heureux  pronostiques. 

L'Espagne  en  vous  rendant,  nous  rend  tout  nöstre  bien ; 
ce  que  nous  luy  rendons  au  prix  de  vous  n'est  rien, 
puisque  vous  n'avez  point  de  pareil  sur  la  terre; 
Et  quand  vous  revenez  pour  combler  nos  souhaits 
on**  dit  que  le  retour  du  grand  Dieu  de  la  guerre 
Est***  un  des  raeilleurs  fruits  que  produise  la  paix. 

10.  Sonnet. 

iaraais  en  deux  Amans  on  ne  vit  tant  de  charraes, 
et  rien  de  si  parfait  ne  s'est  veu  sous  les  cieux: 
Daphnis  par  cent  exploits  s'est  rendu  glorieux, 
Et  Diane  par  tout  a  fait  rendre  les  armes. 

Sa  fierte  redoutable  a  bien  couste  des  larmes, 
Quand  sa  beaute  s'est  faite  adorer  en  tous  lieux, 
Et  Ton  a  veu  Daphnis  d'un  front  audacieux 
Demeurer  intrepide  au  milieu  des  alarmes. 

Cepeudant  ce  grand  coeur  se  soumet  ä  l'amour. 
cependant  cette  fiere  est  vaincüe  a  son  tour : 
tous  deux  se  sont  rendus  Tun  ä  l'autre  sans  guerre : 
ils  se  trouuent  cent  fois  plus  heureux  dans  leurs  fers, 
Que  si  Tun  par  son  bras  domptoit  toute  la  terre, 
Ou  l'autre  par  ses  yeux  surmontoit  l'univers. 


*  Ms.  leur.        **  Ms.  ont.        ***  ils.  Et. 


84  üngedruckte  politische  Gedichte  aus  dem  XVII.  Jahrh. 

11.     Sonnet. 

Vous  allez  donc  quitter  Paris. 

Seiour,  oü  le  plaisir  abonde, 

Ou  Bacchus,  l'amour,  et  les  Eis, 

Se  plaisent  mieux  qu'en  lieu  du  monde. 

tous  les  passe-temps  sont  taris 
pour  celuy  qui  va  dessus  l'onde 
l'on  ne  voit  la  point  de  Cloris 
DJ  noire,  ny  brune,  ny  blonde. 

icy  l'on  goute  entierement 
ce  qui  se  trouue  de  charmant 
Dans  les  delices  de  la  vie: 
l'on  contente  ses  appetits, 
Et  l'on  dort  avecque  Siluie 
plus  seurement  qu'avec  Thetis. 

12.  Zum  Schlüsse  geben  wir  noch  ein  Sonnet,  das  einen  ganz 
anderen  Geist  athmet,  als  die  letzten,  die  einen  höfischen  Ton  zeigen; 
es  liegt  etwas  von  dem  Geiste  der  alten  hugenottischen  Prediger  darin ; 
die  harte  Herrschaft  des  Roy  Dieu-Donne  führt  zu  einem  Vergleich 
mit  Saul,  dem  Könige,  welchen  der  Herr  seinem  undankbaren  Volke 
im  Zorne  gab,  einer  alttestamentarischen  Erinnerung,  wie  sie  in  den 
religiös-politischen  Kämpfen  des  17.  Jahrhunderts  in  Frankreich  so- 
wohl, als  besonders  in  England  sehr  zahlreich  sich  vorfinden. 

Le  peuple  que  iadis  Dieu  conserua  luy  meme, 
Lasse  de  son  bon-heur  vouleut  auoir  un  Roy. 
he  bien  dit  le  seigneur  peuple  ingrat,  et  sans  foy, 
tu  sentiras  bien  tost  le  ioug  du  Diademe. 

celuy  que  ie  mettray  sur  ce  degre  supreme, 
comme  un  cruel  vautour  viendra  foudre  sur  toy, 
ses  seules  volontez  luy  seruiront  de  loy. 
Et  rien  n'assouuira  son  auarice  extreme. 

il  trouuera  touiours  mille  nouveaux  moyens, 
pour  te  rauir  l'honneur,  la  fortune,  et  les  biens, 
en  vain  tu  te  plaindras  de  sa  toute  puissance, 
ce  peuple  en  vit  l'eßet  il  en  fut  estonne. 
ainsi  regne  auiourd'hui,  par  les  voeux  de  la  France 
le  monarque  absolu  qu'on  nomme  Dieu  Donne. 


Chatten  und  Hessen. 

Eine   Untersuchung  über  die  Herleitung  des  Nanaens  der  Hessen  aus  dem 
der  Chatten,  vorzüglich  an  der  Hand  der  Ortsnamen-Erforschung. 

Von 

Dr.  Wilhelm  Kellner  in  Hanau, 


1.    Einleitung. 

Die  ursprünglichen  drei  ersten  Capitel  dieser  Untersuchung  als 
1.  Einleitung.  Kurze  Geschichte  der  Untersuchung;  2.  Die  Schrei- 
bung des  Namens  der  Chatten  und  Hessen;  3.  Gewicht  der  Ueber- 
lieferung  des  Tacitus,  Annal.  I,  56,  57,  und  die  Beschaffenheit  der 
hier  vorausgesetzten  Landschaft  als  geeignet  für  einen  Volksmittel- 
punkt —  finden  sich  im  Juliheft  1870  der  Zeitschrift  für  Preuss.  Ge- 
schichte und  Landeskunde  (herausgegeben  von  Dr.  Paul  Hassel) 
S.  425,  ff.*  Es  ist  daselbst  dargestellt,  wie  schon  seit  Beginn  des 
18.  Jahrhunderts  von  bedeutenden  Gelehrten,  deren  Meinungen  aufge- 
führt sind,  die  hier  von  Neuem  aufgenommene  Untersuchung  ventilirt 
und  von  den  hervorragendsten,  namentlich  von  Wenck,  Hessische  Lan- 
desgeschichte 1783.  1789,  ff.  und  Jacob  Grimm,  die  Ansicht  festge- 
halten worden  ist,  dass  der  Name  Hessen  aus  dem  Namen  Chatten 
erwachsen  sei,  bis  Zenss  (die  Deutschen  und  die  Nachbarstämme  1837) 
und  Vilmar  (hessisches  Idiotikon  1866)  aus  dem  Gesetz  der  Lautver- 
schiebung und  dem  Mangel  der  Schreibung  Hazzi  den  Schluss  zogen, 
dass  der  Name  Hessen  aus  dem  Namen  Chatten  nicht  abgeleitet  wer- 
den könne.  Dem  gegenüber  wird  nun  hier  versucht,  "Wenck's  und 
J.  Grimm's  Ansicht   als  richtig    aufrecht  zu  erhalten  und  zunächst  in 


*  Der  vollständige  Abdruck  der  Abhandlung  in  der  hier  genannten  Zeit- 
schrift wurde  von  der  neuen  Redaction  derselben  als  mit  dem  neuen  Pro- 
granam  der  Zeitschrift  unvereinbar  abgelehnt. 


86  Chatten  und  Hessen. 

dem  oben  angeführten  zweiten  Capitel  die  alte  Schreibung  des  Na- 
mens der  Chatten  von  Livius  bis  Sidonius  ApoUinaris  (ca.  455  p.  Chr.), 
so  wie  die  des  Namens  der  Hessen  oder  Hassen  von  720  bzw.  738 
an  bis  gegen  das  Ende  des  13.  Jahrhunderts  verfolgt  und  festgestellt, 
dass  die  im  Oberland  vorherrschende  Aussprache  und  Schreibung  des 
Namens  des  Volksstammes  wie  des  Landes  Hassi  und  Hassia,  nicht 
wie  Vilmar  will,  Hessi  etc.  war,  welche  letztere  allerdings  mehr  nach 
Niedersachsen  hin ,  wo  das  a  so  häufig  zu  e  verquetscht  wird,  vor- 
kommt, und  dass,  worauf  grosser  Nachdruck  zu  legen  ist,  noch  heut 
zu  Tage,  wie  aus  einer  Frankfurter  Mundartenquelle  neuesten  Datums 
nachgewiesen  wird,]  im  Fuldaer  Oberlande  Hassen  (mit  a)  gesprochen 
wird.  Im  folgenden  Capitel  wird  sodann  in  Anknüpfung  an  die  Ta- 
citeische  Erzählung,  wonach  Germanicus  den  Hauptort  der  Chatten, 
Mattium ,  jetzt  Maden  bei  Gudensberg  im  alten  Chattenmittelpunkte, 
einäscherte,  nachgewiesen,  wie  diese  Landschaft  noch  heutigen  Tages 
sowohl  in  landschaftlicher  zum  Theil  romantischer  Schönheit  als  land- 
wirthschaftlichen  Vorzügen  einen  hervorragenden  Rang  einzunehmen 
berechtigt  ist  und  schon  in  alter  Zeit  würdig  befunden  werden  konnte, 
zum  Mittelpunkt  eines  alten  germanischen  Volksstammes  auserkoren 
zu  werden.  Am  Schluss  des  Capitels  ist  die  Ansicht  ausgesprochen, 
dass  die  Chatten  zum  Frühesten  wenigstens  eine  Colonie  der  nahe 
wohnenden  Cherusker  gewesen  und  deshalb  das  nächste  hier  folgende 
Capitel  der  Widerlegung  der  ebenfalls  schon  frühe  und  bis  auf  den 
heutigen  Tag  festgehaltenen,  aber  ebenso  früh  auch  schon  bekämpften 
Ansicht  gewidmet,  dass  die  Chatten  Sueben  gewesen  seien.  Auf  die- 
ses Capitel  folgt ,  wie  unsere  Leser  unten  sehen ,  die  Untersuchung 
über  das  Gewicht  des  Einwandes,  welchen  die  germanistischen  Sprachge- 
lehrten aus  der  Lautverschiebung  gegen  die  hier  festgehaltene  Na- 
mensherleitung erheben,  sodann  der  Nachweis,  wie  die  meisten  Völ- 
kernamen aus  Landschafts-  und  Städtenamen  entstehen,  endlich  der 
Schluss  mit  der  hier  versuchten  Erklärung  des  Namens  Chatten  und 
Hassen  oder  Hessen. 

2. 

Die  Schreibung  des  Namens  Chatten  und  Hessen. 

Wie  in  den  in  der  Zeitschrift  für  preuss.  Landeskunde,  Juliheft 
1870,  S.  435  gegebenen  Sprachproben  der  heutigen  Zeit  und  aus  dem 
Munde  von  Bergländern  das  kehlige  a  für  das  von  den  Niederländern 


Chatten  und  Hessen.  87 

vorn  im  Munde  gepresste  e  zu  erkennen  ist  —  man  betrachte  nur  die 
Formen  sachs  für  sechs,  Massr  für  Messer,  ahr  für  eher,  gepatz  für 
petzen  und  namentlich  das  für  unsere  Untersuchung  maassgebende 
„Korhasee"  für  das  gewöhnliche  Kurhesse  —  so  ist  noch  viel 
mehr  in  den  altern  Zeiten  das  a  bei  den  Oberländern  vielfach  statt  des 
e  maassgebend  gew^esen.  Der  Bewohner  der  Tiefebene  spricht  aber 
überhaupt,  auch  aus  physiologischen  Gründen ,  die  Laute  scharf  zwi- 
schen den  Zähnen  herausstossend,  das  e  mehr  als  der  Hochländer,  der 
die  Kehllaute  vorherrschen  lässt,  und  das  beobachtet  man  in  alter  und 
neuer  Zeit.  Was  der  auf  und  in  den  Bergen  wohnende  Norweger 
Odal  nennt  und  der  alte  Normann  von  audh  (Eigen)  herleitete,  nennt 
der  Angelsachse  im  Niederland  von  alt  eath,  modern  edel  (eatheling). 
Odalman  oder  gar  Udalman  ist  unser  Edelmann  (Adel  mitteldeutsch) 
in  der  ursprünglichen  Bedeutung  des  Wortes  so  viel  als  Eigenmann, 
Freier  Mann.  Auster  Oster  wird  bei  dem  Angelsachsen  East  u.  s.  f. 
Man  vergleiche  dazu  das  e  ausgesprochene  a  des  Englischen ,  wie  die 
parallelgehende  Neigung  des  a  im  süddeutschen  Munde  nach  dem  o, 
ao  hin:  we  were,  you  were,  wir  waren,  ihr  wäret,  oberdeutsch  wo- 
ren,  woret:  thou  hast,  du  hast,  dou  host  (oberdeutsch),  I  can,  ich 
kann,  Eich  kaonn  (oberdeutsch). 

So  erklärt  sich  auch  am  einfachsten  das  Vorkommen  der  Formen 
Hassi  und  Hessi  neben  einander,  das  Vorwiegen  der  Form  Hessi  bei 
den  Niedersachsen,  wie  auch  der  Angelsachse  Winfried  (Bonifacius) 
den  Namen  gesprochen  zuerst  nach  Rom  brachte,  so  dass  er  ebenso  in 
dem  Empfehlungsbriefe  des  Papstes  geschrieben  ward,  so  wie  endlich 
der  Umstand,  dass  in  der  nächsten  päpstlichen  Urkunde  für  Hersfeld, 
also  im  „Fuld'schen"  von  774,  wahrscheinlich  von  einem  Hersfelder 
Oberländer  Mönch  entworfen,  die  breitere  Form  Hassia  zu  lesen  ist. 

Einen  Mittellaut  zwischen  a  und  e  mögen  die  Hessen  im  eigenen 
Hessenlande  eingehalten  haben,  wie  man  an  der  Form  Haesi  sieht, 
welche  Willibald  gleich  mit  der  Form  Hessi  gebraucht.  Obwohl  jetzt 
im  Mittelpunkte  des  Hessenlandes  im  alten  Landgericht  Maden,  um  Gu- 
densberg,  der  Bauer  selbst  nicht  mehr  anders  wie  auch  der  Gebildete, 
Hesse  mit  geschärftem  e,  nicht  aber  Hasse  spricht,  so  ist  das  doch  le- 
diglich Ergebniss  des  amtlichen  und  geschäftlichen  Verkehrs,  dessen 
Einfluss  nicht  bedeutend  genug  anzuschlagen  ist,  wie  denn  auch  die  ge- 
bildeten Fulder  jetzt  nicht  anders  als  „Hessen"  sprechen ,  und  ein  Be- 
weis dafür,  dass  früher  Haesi  gerade  im  Gudensberger  Lande  gespro' 


88  Chatten  und  Hessen. 

chen  worden  sein  mag,  der  Umstand,  dass  noch  heute  der  Name  des  etwas 
seitab  liegenden  Dorfes  Besse  (alt  Passahe)  von  seinen  Bewohnern  mit 
breitem  nach  e  hinklingendem  ä  gesprochen  wird:  Bässe.  Wie  leicht 
das  a  nach  dem  e  hinübergleiten  kann,  sieht  man  auch  in  einer  Spi'ach- 
probe  aus  dem  8.  Jahrhundert,  in  einem  Vater-Unser  mit  Auslegung, 
in  welchem  sich  der  Ausdruck  des  mezzes  für  unser  „des  Maasses" 
findet.  *  So  haben  wir  also  sicher  einstweilen  wenigstens  das  Vor- 
herrschen des  a  in  der  ältesten  Namenform  für  Hessen ,  also  Hassen 
imd  auch  die  innere  Erklärung  dazu  gegeben;  Hassen  liegt  natürlich 
der  Namenform  Chatti  Chatten  näher  als  Hessen.  Damit  kommen  wir 
nun  zunächst  wieder  auf  die  Chatten. 


3. 

Gewicht     der    Ueberlieferung  des     Tacitus     (Anna). 

I,  56,   57)  und  die  Beschaffenheit   der  in  derselben 

Vorausgesetz  teil    Landschaft    als    geeignet  für 

einen  Volksmittelpunkt. 

Wir  stellen  an  die  Spitze  dieses  Capitels  die  Thatsache,  die  Taci- 
tus in  seinen  Annalen  I,  56,  57  von  dem  Zuge  des  Germanicus  gegen 
die  Chatten  wie  folgt  erzählt  ....  dadurch  kam  er  (Germanicus)  den 
Chatten  so  unerwartet ,  dass  die  durch  Alter  und  Geschlecht  Wehrlo- 
sen sogleich  gefangen  oder  getödtet  wurden.  Nur  die  waffenfähige 
Mannschaft  war  über  den  Adranafluss  gesetzt  und  suchte  die  Römer, 
die  sich  anschickten,  eine  Brücke  zu  schlagen,  zurückzuhalten,  liess 
aber,  als  sie  durch  das  Geschütz  der  Römer  vertrieben  wurde,  vergeb- 
lich Friedensunterhandlungen  versucht  hatte,  und  auch  Einige  zu  den 
Römern  übergegangen  waren ,  Gauen  und  Dörfer  im  Stich  und  zer- 
streute sich  in  die  Wälder.  Germanicus  aber  steckte  Mattium,  den 
Hauptort  des  Stammes,  in  Brand,  verwüstete  das  offene  Land  und 
wandte  sich  ....  nach  dem  Rhein. 

Es  besteht  jetzt  unter  den  Gelehrten  kein  Streit  mehr  darüber, 
dass  unter  dem  hier  genannten  Mattium  kein  anderer  Ort  als  das  heutige 


*)  Man  vergleiche  Wülcker  Dr.  E. ,  Beobachtungen  auf  dem  Gebiete 
der  Vocalschwächung  im  Mittelbinnen-Deutschen ,  besonders  im  Hessischen 
und  Thüringischen.     Frankf.  a.  M.  1868. 


Chatten  und  Hessen.  89 

Dorf  Maden,  der  frühere  Hanptort  des  nach  ihm  genannten  Landgerich- 
tes, mit  einem  alten  Centhofe  (jetzt  Domaine) ,  zu  verstehen  sei,* 
auch  die  Adrana  wird  allgemein  als  der  Fluss  Eder  betrachtet,  in  wel- 
chen der  Bach  Ems,  an  welchem  Maden  liegt,  nicht  gar  Aveit  von  letz- 
terem einmündet  und  den  man,  von  Süden  herkommend,  bei  Fritzlar  oder 
in  dessen  Gegend  überschreitet,  um  nach  Ucbersteigung  einer  massigen 
"Wasserscheide  in  das  Emsthal  zu  gelangen.  Dass  der  alte  Hauptort 
jetzt  keine  Bedeutung  mehr  hat,  ergiebt  sich  einfach  aus  der  geschicht- 
lichen Entwickelung  der  mittelalterlichen  Staatszustände,  nach  welcher 
mit  der  Entstehung  der  Ritterzeit  der  offene  Hauptort  Maden ,  Avelcher 
den  freien  Bauern  ausgereicht  hatte ,  keinen  genügenden  Schutz  mehr 
gewährte  und  den  Sitz  der  Regierung  nach  der  Feste  Gudensberg,  eine 
Viertelstunde  davon,  zu  verlegen  zur  Nothwendigkeit  ward.  Dieses 
Gudensberg  wurde  von  da  an  bis  zur  Uebersiedlung  des  Regierungs- 
sitzes der  neuen  hessischen  Landgrafen  nach  Cassel  im  13.  Jahrhun- 
dert, Mittelpunkt  des  Landes  und  dieses  nach  Wenck,  Hessische  Lan- 
desgeschichte, IL  ürkundenbuch,  S.  294,  295  benannt  als  „das  Nie- 
derland" zu  Hessen,  darin  Gudensberg  liegt;  woneben  jedoch  die  Be- 
nennung „das  Landgericht  Maden"  bis  in's  H.Jahrhundert  fortbesteht. 
Wir  nehmen  also  an,  dass  nach  dem  Zeugniss  des  Tacitus  Maden  im 
1.  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung  (der  Zug  des  Germanicus  fällt  in 
das  Jahr  15.  nach  Christus)  bereits  der  Hauptort  der  Chatten,  wie  im 
Anfang  der  Ritterzeit  Sitz  des  Landgerichtes  zu  Hessen  war. 

Betrachten  wir  nun  die  Landschaft ,  in  welcher  dieser  Hauptort 
liegt.  Die  folgende  Schilderung  enthält  den  Eindruck ,  den  das  Gebiet 
des  alten  Chattenmittelpunktes  bei  wiederholten  Durchwanderungen  zu 
Fuss  und  zu  Wagen  auf  den  Verfasser  dieses  gemacht  hat. 

Geographisch  und  geologisch  zunächst  kennzeichnet  sich  die  Land- 
schaft als  eine  Hochfläche  mit  mehreren  Bergreihen  zwisclien  den  Fluss- 
läufen der  Eder  und  Fulda  auf  der  Süd-  und  Ost-Seite  und  den  im 
Westen  von  Nord  nach  Süd  verlaufenden  Berghöhen  des  Habichtswal- 
des mit  seinen  südlichen  Ausläufern ,  des  Baune-  und  Langenberges, 
und  den  dahinter  im  Westen  verlaufenden  Ostausläufern  des  Kölnischen 
Sauerlandes.  **  Es  ist  ein  von  Bergzügen  und  Flussläufen  eingeschlosse- 


*  Vgl.  u.  A.  Nipperdey,  Com.  Tacitus  I,  Annal.  S.  57.     4.  Aufl. 

**  Einen  sehr  wohl  orientirenden  Blick  auf  die  Landschaftsentwickelung 
gewährt  E.  v.  Sydow's  Method.  Hand -Atlas,  Supplementheft  Karte  IX, 
Mittel-Gruppe  des  Norddeutschen  Berglandes. 


90  Cbatten  und  Hessen. 

nes  Landschaftsviereck,  im  Süden  und  Osten  von  der  aus  dem  Wal- 
deckischen kommenden  und  unterhalb  Fritzlar  bei  Nieder-Möllrich  um 
die  Südostecke  biegenden  Eder,  von  deren  Einmündung  bei  Gunters- 
hausen in  die  Fulda  an,  von  dieser  weiter  im  Osten  umflossen,  ange- 
lehnt im  Norden  an  die  Südabhänge  des  Reinhardswaldes  und  im  We- 
sten, wie  schon  erwähnt,  an  die  Ostverläufer  des  niederrheinischen 
Schiefergebirges,  hier  im  Theile  des  Kölnischen  Sauerlandes.  Denken 
wir  uns  in  einen  Zeitabschnitt  zurück,  in  welchem  die  Flussthäler  der 
Eder  und  Fulda  bis  an  den  Rand  noch  mit  Wasser  gefällt  waren,  so 
haben  wir  das  chattische  Landschaftsviereck  als  eine  im  Westen  an 
höhere  Berge  angelehnte  Fläche  mit  baubarem  Boden  und  dazwischen 
liegenden  Bergen.  So  fällt  denn  auch  jetzt,  wo  die  Wasser  mehr  ver- 
laufen sind,  nach  den  Flussgrenzen  hin  die  Hochebene  in  meistentheils 
steil  abfallendem  Rande  in  tiefer  liegende  Thäler  ab;  der  Rand  ist  nur 
regelmässig  durchrissen  durch  die  Ausmündung  der  Wasserrinnen, 
welche  die  Hochfläche  entwässern.  Diese  Wasserrinnen  sind  vom  Sü- 
den angefangen  1)  als  der  bedeutendste  die  Ems,  deren  oberes  und 
mittleres  Thal  hinter  dem  Höhenzuge  des  Habichtswaldes ,  Baune-  u. 
Langenberges  in  einem  mit  Eder  und  Fulda  in  deren  unterem  Laufe 
parallel  gehenden  Längenthaie  verläuft  und  im  untern  Laufe  abwärts 
Dorla  den  vorliegenden  Höhenzug  durchbricht,  um  unterhalb  Felsberg 
in  die  Eder  zu  münden.  Dann  folgt  2)  der  Deuter-Bach,  3)  der  Bes- 
ser-Bach,  4)  die  Baune,  5)  der  Zwehrenbach,  6)  die  Druse  und  7)  die 
Ahna,  letztere  beiden  Bachthäler  südl.  und  nördl.  Cassel  umfliessend 
lind  zugleich  mit  ihrem  Wasser  speisend.  An  den  Ausflüssen  dieser 
Bäche  aus  dem  dahinter  liegenden  Hochlande  liegen  immer  mehr  oder 
minder  geschichtlich  merkwürdig  gewordene  menschliche  Anlagen;  so 
diesmal  von  Norden  gerechnet,  an  der  Mündung  der  Ahna  einer  der 
merkwürdigsten  Entstehungsanfänge  der  Stadt  Cassel,  das  Kloster 
Ahnaberg  mit  dem  Meierhof  Cassela;  an  der  Ausmündung  des  Zweh- 
renbaches  das  alte  Dorf  Zwehren  (Tuerun ,  niederdeutsch  Twe- 
ren);  an  der  Baune-Mündung  der  Bahnhof  Guntershausen  ;  an  der 
Ausraündung  des  Besser-Baches  aus  dem  Hochlande  neben  dem  Dorf 
Grifte  die  Höhe ,  auf  der  noch  jetzt  4  Höfe  sich  finden ,  genannt  die 
Heystatt,  ein  alter  Burgsitz  mit  die  Gegend  weithin  beherrschender 
Aussicht  (die  Ritter  von  Grifte  spielen  in  der  ältesten  hessischen  Ge- 
schichte eine  Rolle) ;  am  Ausfluss  der  Ems  das  Dorf  Böddigern  (alt 
Buthigern  mit  echt  niedersächsischer  Namensform,  vgl.  Bevergern)  mit 


Chatten  und  Hessen.  91 

einer  Flur ,  die  den  Namen  „Burg"  führt.  Der  kirchengeschichtlich 
wichtigste  Punkt  aber  findet  sich  in  dem  Bachgebiet  der  Elbe,  das 
schon  nicht  mehr  ganz  dem  Chattenlande  angehört  und  hinter  der  Berg- 
region verlaufend,  welche  die  Grenze  des  Chattenmittelpunktes  nach 
Westen  ausmacht,  im  obern  Laufe  und  Quellgebiet  bei  Wolfhagen  die 
Verbindung  mit  dem  niedersächsischen  Bevölkernngsgebiete  herstellt 
Im  Thal  dieser  Elbe  liegt,  nahe  dem  Ausfluss  derselben  in  das  Eder- 
thal,  hinter  Fritzlar,  Geis  mar  mit  dem  bis  in  die  neuere  Zeit  als 
hessischer  Gesundbrunnen  besuchten  Sauerbrunnen,  das  alte  Dorf,  in 
dessen  Nähe  Bonifacius  die  heilige  Eiche  niederhieb,  aus  deren  Holz  er 
sodann  eine  Zelle,  vermuthlich  auf  der  Anhöhe,  errichtete,  auf  welcher 
noch  jetzt  der  Dom  von  Fritzlar  steht. 

Da,  wo  nun  aufwärts  nach  seiner  Quelle  hin  der  Elbebach  zu  der 
flachen  Wasserscheide  zwischen  Eder-  und  Diemel-Gebiet  bei  Wolfha- 
gen führt,  berühren  sich  die  Sprachgrenzen  der  hessischen  und  platt- 
deutschen Mundart,  wie  fast  in  der  Ebne ;  Wolfhagen,  die  Dörfer  Isthe, 
Brundersen ,  Ippinghausen  reden  plattdeutsch  —  gegenüber  dem  Main- 
zer Gebiet  von  Naumburg  bis  Fritzlar  mit  den  Dörfern  Altenstädt, 
Balhorn,  in  welchem  die  Mundart  süddeutsch  influirt  worden  ist.  Hier 
finden  wir  auch  die  natürliche  Nordgrenze  des  Chattenlandes  sich  süd- 
wärts Wolfhagen  auf  der  Höhe  des  Habichtswaldes  und  des  nach  Nord- 
ost damit  zusammenhängenden  Dörnberges  hinziehen  bis  nach  Wolfs- 
anger unterhalb  Cassel,  wo  zur  Zeit  Karls  des  Grossen  Franken  und 
Sachsen  mit  einander  wohnten  und  die  Fulda  in  eine  enge  Bergspalte 
tritt,  in  der  ebenfalls  schon  niedersächsisches  Sprachgebiet  beginnt,  und 
auf  den  Höhen  rechts  der  Fulda  auch  das  Gebiet  des  ehemal.  König- 
reichs Hannover  seinen  Anfang  nahm.  Nach  Osten  zu  ist  die  Grenze 
des  Chattenlandes  dann  mehr  eine  offene,  streitige,  zwischen  Cherus- 
kern und  Hermunduren  oder  Thüringern.  Sie  hat  schon  zu  der  Zeit, 
wo  Tacitus  die  Germania  niederschrieb,  sich  über  Cheruskerlandschaf- 
ten hinausgeschoben  gehabt. 

Nach  vorstehender  Feststellung  der  äusserlichen  Umgrenzung  des 
Chattenlandes  bleibt  uns  noch  die  Aufgabe,  einen  Blick  auf  das  Innere 
und  dessen  Gestaltung  zu  werfen.  Ausser  der  Ems,  welche,  wie  be- 
reits ausgeführt,  in  einem  längern  Laufe  zuerst  ein  Eder  und  Fulda  pa- 
rallelgehendes Längenthal  hinter  der  ersten  Bergreihe  des  Hessenlandes 
entwickelt  und  dann  erst  im  rechten  Winkel  auf  die  Eder  zufliesst,  die 
vor  ihr  liegenden  Höhen  durchbrechend,  haben  die  vorher  aufgeführten 


92  Chatten  und  Hessen. 

Bäche  sämmtllch  in  ihrem  obern  Laufe  eine  sehr  leichte  Muldenbildung, 
so  dass  die  Wasserscheiden  zwischen  ihnen  nur  massige  Bodenerhebun- 
gen darstellen,  und  das  ist  am  meisten  der  Fall  im  Gudensberger 
Lande,  das  zwischen  dem  untern  Lauf  der  mitten  im  Sommer  mit  reich- 
lichem und  klarem  "Wasser  und  in  munterem  Fall  einherstürzenden 
Ems  und  dem  Zwehrenbache  verläuft,  während  das  Gebiet  des  Zweh- 
renbaches  weiter  von  Druse  und  Ahna  wieder  durch  bedeutendere  Berg- 
rücken geschieden  ist.  In  dem  Gudensberger  Lande  nun  bilden  die 
oberen  Bachrinnen  und  ihre  "Wasserscheiden  eine  an  die  hohe  und  dun- 
kel bewaldete  Bergreihe  des  Bauns-  und  Langenberges  angelehnte 
Ebene ,  aus  der  wiederum  in  fortwährender  Abwechslung  basaltische 
Bergkegel  schroff  aufragen.  Diese  meist  kahlen  Berghäupter  geben, 
inmitten  einer  reichen  Feldflur,  abwechselnd  mit  den  saftigsten,  frisch- 
grünen Wiesen  in  der  nächsten  Nähe  der  Bäche,  mit  dem  Hintergrunde 
der  dunkelen  Waldberge  und  der  weitem  Ausschau  von  der  Hochebene 
aus  auf  die  jenseit  dieser  Landschaft,  jenseit  der  Flussthäler  der  Fulda 
und  Eder  verlaufenden  Bergreihen ,  an  einem  heitern  Sommermorgen 
oder  Abend  das  Bild  einer  reizenden ,  malerischen  und  von  romanti- 
schem Hauche  umwobenen  Landschaft. 

Bei  der  noch  heute  vorhandenen ,  sofort  empfundenen  Abgeschie- 
denheit derselben  macht  sich  zugleich  bei  jenem  Eindruck  der  andere 
geltend,  dass  die  Natur  hier  ein  natürliches  Festungsviereck  geschaffen, 
innerhalb  dessen  ein  deutscher  Volksstaram  sich  sicher  wähnen  mochte. 
Die  hohen  Thalränder  nach  Eder  und  Fulda  hin  verstecken  dies  frucht- 
bare Wiesen-  und  Bauland  mit  seinen  malerischen  Berggruppen  und 
Kuppen  und  den  üppigen  Wäldern  in  vorsorglicher  Weise.  So  wie 
man  noch  jetzt  von  der  neuen  Eisenstrasse  (Main- Weserbahn  im  Ge- 
gensatz zu  der  älteren  durch  Gudensberg  führenden  Frankfurter  Land- 
strasse), die  im  Eder-  und  Fuldathale  hinläuft,  aus  keine  Vorstellung 
von  der  hinter  den  Thalrändern  versteckten  Herrlichkeit  erhält,  so  noch 
vielmehr  mag  in  grauer  Vorzeit  erst  recht  Niemand  diese  natürliche 
Volkszufluchtsstätte  von  aussen  her  wahrgenommen  haben,  da  damals 
der  Blick  von  den  umliegenden  Bergeshöhen  aus  durch  die  dichte  Be- 
waldung unthunlich  gemacht  war.  Aber  während  man  draussen  von 
dem  Innern,  so  zu  sagen  Heiligthum,  keine  Ahnung  erhält,  hat  dieses, 
namentlich  zwischen  Eder  und  Baune  die  Eigenthümlichkeit,  dass  man 
von  vielen  wohl  ursprünglich  nicht  bewaldeten  Basaltkuppen  aus  immer 
weit  hinaus  über  die  umliegenden  Landschaften  den  Blick  schweifen 


Chatten  und  Hessen.  93 

lassen  konnte  und  die  fernem,  den  Horizont  umgrenzenden  Bergreihen 
zum  Hinausspähen  in  die  Weite  herausforderten.  Es  mag  sich  so  jener 
durch  die  Ausschau  von  hochher  geschärfte  Habichts-Späher-Blick  ent- 
wickelt haben ,  zufolge  dessen  die  Chatten  gierig  nach  der  vor  ihnen 
liegenden  Landschaft  griffen  und  u.  A.  um  das  Jahr  100  nach  Chri. 
stus  die  Herren  der  Cherusker  und  Foser  waren.  Es  erklärt  sich  aus 
der  geschilderten  Lage  und  Beschaffenheit  der  Landschaft  auch,  wie  der 
römische  Kriegsherr  Germanicus  im  J.  15  n.  Chr.  so  bald  in  dersel- 
ben Halt  und  linksura  nach  dem  Rheine  zu  machte.  Es  musste  ihm, 
nachdem  er  den  steilen  Uferrand  an  der  linken  Seite  der  Eder  zwischen 
Fritzlar  und  Nieder-Möllrich  erzwungen  und  Maden  (Mattiura),  das 
jenseits  dieses  Bergrandes  an  einem  Seitenbache  der  Ems,  etwas  zurück 
von  dieser,  liegt,  eingeäschert  hatte,  nach  der  ersten  ßecognoscirung 
vor  der  schaurigen  Stille  der  dunkeln  Bergschluchten,  in  welche  sich 
die  Bewohner  geflüchtet  hatten,  unheimlich  zu  Muthe  werden  ;  er  konnte 
doch  zu  leicht  in  die  Lage  kommen ,  in  welcher  Varus  untergegan- 
gen war. 

Der  Eindruck,  den  die  Landschaft  mit  ihren  durch  Form  und  Fär- 
bung mitunter  auch  gespenstisch  auf  den  Sinn  drückenden  Basaltke- 
geln macht,  erklärt  aber  zugleich,  wie  ein  alter,  germanischer  Volks- 
staram, der  diese  fruchtbare,  wiesenreiche,  für  Viehzucht  und  Ackerbau 
gleich  günstige,  vom  grossen  Verkehr  abgeschlossene  Landschaft,  eine 
gleichzeitig  für  den  Anbau  so  geeignete  Naturfeste,  aufsuchte,  dieselbe 
zu  seinem  Mittelpunkt  machte  und  in  einer  Gegend,  in  der  die  Natur- 
kräfte in  ihrer  unheimlichen  Gewalt  dunkle,  gespenstige,  hohe  Berges- 
gestalten in  reicher  Fülle  aufgeworfen  hatten,  den  Hauptsitz  eines  heid- 
nischen Götterkultus  errichtete ;  denn  es  wird  sich  jedem  Wanderer  in 
jener  Gegend  die  unwillkürliche  Empfindung  aufdrängen ,  die  basalti- 
schen Durchbrüche  der  Erde  ragen  hier  geisterhaft ,  Götterfurcht  er- 
weckend, empor  und  haben  sicher  in  alter  Zeit  noch  mehr  wie  jetzt  in 
den  Gemüthern  die  Stimmung  heimlichen  Grauens  erzeugt.  Darum 
auch  wandte  sich  Bonifacius  gerade  hierher,  als  er  den  Hessen  das 
Licht  des  Christenthums  bringen  wollte,  und  errichtete  an  der  Grenze 
des  alten  Chatten-Götterheerdes  den  Altar  seines  Gottes,  gegenüber 
den  Wodansbergen  (Gudensberg  und  Odinberg)  und  der  alten  G°erichts- 
stätte  zu  Maden  die  aus  der  heiligen  Eiche  gezimmerte  Zelle. 

Solche  Gestaltungen  der  hier  gezeichneten  und  schon  von  Tacitus 
als   chattisch  genannten  Landschaft  macht   es   durchaus  einleuchtend, 


9^  Chatten  und  Hessen. 

dass  sie  das  Herz,  der  Culmlnirungspunkt   eines  germanischen  Stam- 
mes gewesen,  der  von  hier  aus    sich  ausbreitete  und  wieder  dahin  zu- 
rückwich,  seitdem  die  Römer  durch  die  Siege  des  Drusus  die  germani- 
schen Stämme  überhaupt  vom  Rheine  landeinwärts  zurücktrieben.    Es 
ist  eine   Verstärkung  dieser   Aufstellung,    dass   man    den  Mittelpunkt 
z   B.  der  Marser  am  sichersten  in  der  Nähe  der  Chatten,  in  dem  heuti- 
gen westfälisch-waldeckisch-preussisch- (hessischen)  Gebiet  an  der  obern 
Diemel,   namentlich  bei   den  Orten  Volkmarsen  und  Marsberg, 
dem    unter    Karl   dem    Grossen    als  Eresburg    hervorragenden    Orte, 
sucht.    Erklärt  es  sich  so  doch  am  besten,    wenn  Tacitus  zu   dem  er- 
wähnten Zuge   des  Germanicus   gegen  die  Chatten   erzählt,   dass  des 
Germanicus   Untergeneral   Caecina   mit    einem  Hilfscorps   die    Marser 
durch  eine  Niederlage  verhinderte,   den  Chatten  zu  Hilfe  zu  kommen, 
wonach  die  Marser   nicht    eben    weit  entfernt  wohnen  konnten;    und 
wenn  ebenso  Caecina  durch  Hin-   und  Herziehen   die  Cherusker  vom 
Beistande  der  Chatten  abhielt,  so  müssen  auch  diese  mehr  in  der  Nahe 
gesucht  werden,  wie  auch  bereits  eine  Ableitung  des  Namens  der  Che- 
rusker von  dem  Dorfe  Heerse,   südlich  Paderborn,  versucht  worden  ist 
(wie  Thüringer  von  Anwohnern  der  Tyra  und  Bataver  von  Batuwe), 
und  hat  vielleicht  Segest  in  der  Nähe  seinen  Wohnsitz  auf  der  Hohen 
Siburg  hei  Carlshafen  gehabt. 

Abgesehen  nun  davon,  ob  wir  der  vorstehenden  Ableitung  des 
Namens  der  Cherusker  beipflichten,  der  Name  lässt  auch  noch  eine  an- 
dere Ableitung  zu,  ist  es  doch  das  einfachste,  die  Mittelpunkte  der 
Chatten,  Marser  und  Cherusker  ziemlich  nahe  beieinander  zu  suchen, 
ein  Verhältniss,  das  uns  auch  auf  dem  Wege  nach  der  richtigen  Er- 
klärung des  Namens  Chatten  eher  fördern  als  seitab  führen  wird. 
Nehmen  wir  den  Mittelpunkt  der  alten  Chatten  in  dem  späteren  ei- 
gentlichen Hessenlande  an,  so  wird  damit  nicht  nur  der  Identität  der 
beiden  Namensformen  eine  nicht  leicht  abzuweisende  sichere  Unterlage 
ge-eben,  sondern  auch  die  Annahme  einer  ursprünglichen  nahen  Stam- 
me^sverwandtschaft  zwischen  Marsern,  Cheruskern  und  Chatten  nahe 
gelegt,  eine  Annahme,  die  dann  wieder  die  Nöthigung  auferlegt,  die 
Sondernamen  der  Stämme  zufälligen  ausser  ihrer  Stammeseigenthum- 
lichkeit  liegenden  Ursachen  zuzuschreiben. 

Vielfach  steht  dem  nun  die  bis  in  die  neueste  Zeit  unbesehens  als 
richtig  immer  von  Neuem  verbreitete  Annahme  entgegen,  dass  die 
Chatten  Sueben  gewesen  und  vom  Rheine  her  in  das  Binnenland  gezogen 


Chatten  uud  Hessen. 


95 


seien ,  wie  denn  allerdings  die  Chatten  zu  Drusus  Zeit  (12—9  vor 
Christus)  nach  der  Darstellung  des  Dio  Cassius  ihre  Sitze  bis  am  Rheine 
hatten,  so  dass  Drusus  sogar  in  ihrem  Gebiete,  hart  am  Rheine, 
ein  Fort  anlegte,  das  Germanicus  auf  seinem  Zuge  15  p.  Chr.  wieder 
erneuerte,  auch  ihnen  vorübergehend  Land  anwies,  bis  sie  entschieden 
auf  Seite  der  Feinde  der  Römer  traten  und  in  das  Innere  zurückge- 
drängt wurden. 

Wenn  sich  dies  nun  aber  damit  erklären  lässt,  dass  die  Chatten 
von  ihrem  Mittelpunkt  um  Maden  aus  sich  ausbreitend  bis  an  den 
Rhein  vordrangen,  so  ist  es  doch  angezeigt,  auf  die  Einreihung  der 
Chatten  unter  die  Sueben  einen  kritisch-prüfenden  Blick  zu  werfen. 
Eine  Verwandtschaft  der  Chatten  mit  den  Sueben  würde  eine  Stam-* 
mesgleichheit  mit  Cheruskern  ausschliessen. 

Indem  wir  aber  zu  dieser  Frage  übergehen,  constatiren  wir  noch 
einmal  als  das  Ergebniss  der  hier  schliessenden  Betrachtung,  dass  nach 
Tacitus  Bericht  die  alten  Chatten  ihren  Mittelpunkt  im  spätem  Hes- 
senlande hatten  und  diese  Hessenlandschaft  noch  heute  alle  Eigenscliaf- 
ten  aufweist,  welche  sie  befähigten,  zum  Mittelpunkte  und  Heiligthum 
eines  alten  germanischen  Volksstammes  auserkoren  zu  werden. 

4. 

Ob  die   Chatten    Sueben   gewesen? 

Aehnlich  wie  sich  eine  vorgefasste  Meinung  verschiedener  Gelehr- 
ten  für  die  Unmöglichkeit  entschieden,  den  Namen  Hessen  von  der  Na- 
mensform Chatten  abzuleiten  (siehe  oben),   hat  sich  eine  andere  vorge- 
fasste Meinung  dafür  gebildet,  dass   die  Chatten  Sueben  gewesen  wä- 
ren.   Selbst  der  für  die  hessische  Landesgeschichte  so  verdiente  Wenck 
a.  a.  O.  II,  S.  14,  besteht  mit  einer  für  seine  sonstige  so  unbefangene 
Würdigung  der  Chattengeschichte  schwer  erklärlichen  Befangenheit°auf 
jener  Meinung,  namentlich  der,  dass  Cäsar,   als  er  den  Zug  gegen  die 
Sueben  unternommen,  die  Chatten  vor  sich  gehabt  habe.    Auch  Justus 
Moser  in  seiner  Osnabrückischen  Geschichte  I,  S.  136   meint  wenig- 
stens,  dass  die  Chatten  (in  Hessen)  oft  freie,  aber  keine  untergeordne'te 
Bundesgenossen  der  Sueben   gewesen   zu  sein   schienen.     Diese  Mei- 
nung setzt  sich  dann,   obwohl  schon  der    Pfarrer  Kraus    von  Idstein 
im  Hanauer  Magazin  1785,  St.  51,  S.  477  [Beweis,  dass  die  Chatten 


96  Chatten  und  Hessen. 

keine  Sueben  und  keine  Sueben  jemals  Chatten  gewesen  sind]  ,  die 
triftigsten  Gründe  dagegen  angeführt  hat,  bis  in  die  neueste  Zeit  fort. 
Es  folgen  ihr  unter  Andei-n,  umnichtAlle  zu  erwähnen,  Rommel,  Ge- 
schichte von  Hessen,  I,  S.  10  u.  Anm.  21;  Mommsen  in  seiner  röra. 
Geschichte  III,  S.  238,  zu  vergleichen  Kraner,  zu  Cäsar  de  belle  Gal- 
ileo 409 ,  Cäsars  Sueben  sind  wahrscheinlich  die  Chatten ;  Landau, 
Hessengau,  Essellen,  Geschichte  der  Sigambern,  Einleitung  S.  3.,  Anm, 
Auch  Endemann  im  Januarheft  1870  der  Zeitschrift  für  Preuss. 
Gesch.  u.  Landeskunde  „Ueber  Markenverfassung",  hält  noch  an  dieser 
Auffassung  fest,  wie  sie  auch  Dr.  Henning's,  über  die  agrarische  Ver- 
fassung der  alten  Deutschen  nach  Tacitus  und  Cäsar,  Osterprogramm 
1869  der  Gelehrten-Schule  zu  Husum,  S.  59  und  sonst,  als  selbstver- 
ständlich betrachtet. 

Eine  erste  unbestreitbare  Thatsache  ist  jedoch :  Cäsar  hat  in  sei- 
nen Commentarien  des  Gallischen  Krieges  die  Chatten  nicht  ge- 
nannt, und  Tacitus  hat  ^150  Jahr  später  ausdrücklich  die  Sueben 
und  Chatten  als  ganz  verschiedene  germanische  gentes*  dargestellt. 
Gegen  diese  Thatsache  lässt  sich,  wie  hier  nachgewiesen  werden  wird, 
mit  unnöthigen  Voraussetzungen,  wie  sie  eben  die  meisten  Anhänger 
der  Meinung,  dass  die  Chatten  Sueben  gewesen,  aufstellen  ,  nicht  auf- 
kommen. Von  den  zwischen  Cäsar  und  Tacitus  nach  dem  Zeitalter 
stehenden  Schriftstellern  nennt  auch  Strabo  Geogr.  V  p.  445  Amelov. 
die  Chatten  nicht  unter  den  Sueben,  sondern  vielmehr  unter  „andern 
kleineren  Stämmen;"  Plinius  i.  d.  Hist.  Natui". IV,  28  nennt  die  Chat- 
ten neben  den  Sueben  als  einen  Theil  der  Hermionen,  also  nicht  als 
zu  den  Sueben  gehörig.  Von  Vellejus  Paterculus  wird  ferner  II,  108 
ausdrücklich  berichtet,  dass  die  Sueben  unter  dem  Namen  Marco- 
mannen und  der  Anführung  des  Marbod  um  das  Jahr  9  vor  Christus 
nach  Böhmen  zurückwichen,  und  demgemäss  lässt  Tacitus  eben  auch 
ihre  Sitze  erst  neben  den  Hermunduren  nach  Osten  zu  beginnen ,  am 
obern  Main  um  den  Thüringer  Wald,  Fichtelgebirge,  Bayr.  und  Böhm. 


*  Germania  cap.  38  :  Nunc  de  Suebis  dicendum  est,  quorum  non  una, 
ut  Chattorum  Tencterorumve  gens:  majorem  enim  Germaniae  partem  obti- 
nent,  propriis  adhuc  nationibus  nominibusque  discreti;  quamquam  in  com- 
mune Suebi  Tocantur.  Hätte  Tacitus  die  Chatten  und  Tencterer  zu  den 
Sueben  gerechnet,  so  würde  er  sie  nicht  schon  vorher,  sondern  erst  jetzt 
unter  den  einzelnen  nationibus  der  Sueben  aufgeführt  haben.  Vgl.  noch 
die  Stelle  German.  Cp.  38:  Sic  Suebi  a  ceteris  Germanis  ....  sepa- 
rantur. 


Chatten  und  Hessen.  97 

Wald  bis  zur  Donau,  während  Germanicus  15  nach  Christus  vorzugs- 
weise mit  den  Chatten  zu  thun  hat  und  zu  den  Sueben  gar  nicht  ge- 
langt. Nach  Tacilus  Zeit  erwähnt  Julius  Capitolin.  a.  M.  Antonin.  22 
unter  den  vielen  zum  marcomannischen  Bunde  getretenen  Völkern  (vgl, 
Wenck's  Hess.  Landesgesch.  II,  lOl)  die  Chatten  gar  nicht;  dage- 
gen führt  Wenck  II,  p.  117  selbst  aus,  dass  die  Chatten  den  Aleman- 
nen (ehemals  Sueben)  nicht  angehörten. 

Denen  gegenüber,  welche  Sueben  und  Chatten  so  gern  vermen- 
gen, müssen  wir  uns  genauer  ansehen ,  was  Tacitus  in  der  Germania, 
Cp.  29 ,  30  und  38  über  die  Sitze  der  Chatten  und  Sueben  sagt. 
Die  Chatten  wohnten  zu  seiner  Zeit  und  nach  seinen  Quellen  nördlich 
von  den  Decumatischen  Aeckern ,  also  von  dem  Zehentlande  der  rö- 
mischen Grenzler,  und  zwar  giebt  Tacitus  zur  genaueren  Zeichnung 
ihrer  Südgrenze  Cp.  29,  Ende,  nachdem  von  den  agri  decumates  die 
Rede  gewesen,  an  :  mox  limite  acto  promotisque  praesidiis  sinus  Im- 
perii  et  -pars  provinciae  habentur.  (Cp.  30.)  Ultra  hos  Chatti  initium 
sedis  ab  Hercynio  saltu  inchoant.  Also  erst  nördlich  vom  limes  der 
Römer,  wo  der  Wald  anfing,  begannen  auch  die  Sitze  der  Chatten, 
d.  h.  nördlich  von  dem  Winkel,  welcher ,  durch  den  römischen  Grenz- 
wall nördlich  des  Maines  bis  an  die  Buchonia  und  den  Voselsberir 
gebildet,  zu  Tacitus  Zeit  noch  zum  Gienzlande  und  zur  Provinz  ge- 
hörte. Dass  dies  Verhältniss  schon  früher  bestand  (mox  limite  acto, 
Tacitus;*  nachdem  der  Grenzwall  sehr  bald  errichtet  war),  d.  h.  bald 
nach  Drusus  Ankunft  am  Niederrhein ,  unter  Drusus  schon  und  noch 
mehr  unter  Tiberius,  wird  von  einzelnen  Notizen  in  den  alten  Schrift- 
stellern bezeugt:  wie  (Dio  Cass.  LIV,  33)  Drusus  im  Lande  der 
Chatten,  unmittelbar  am  Rhein,  das  Castell  anlegt,  das  Germanicus  15 
p.  Chr.  wieder  herstellt,  Tacit.  Annal.  I,  56  (positoque  castello  super 
vestigia  paterni  praesidii  in  monte  Tauno) ;  wie  Vellejus  II,  120, 
sagt ,  penetrat  interius ,  aperit  limites ,  was  von  Erweiterung  der 
Grenzwehren  durch  Tiberius  zeugt ,  um  von  andern  Andeutungen  zu 
schweigen.  Von  den  so  gezeichneten  Sitzen  der  Chatten  nun ,  von  da 
an,  wo  der  Hercynische  Wald,  nördlich  vom  Main,  beginnt,  bis  dahin, 
wo  dieser  Wald  sich  zur  Ebene  (norddeutsche  Tiefebene)  senkt,    setzt 


*  Vgl.   hier   namentlich   Dederich,    die  Feldzüge   des  Drusus  und  Ger- 
tnanicus  in  dem  nordwestlichen  Germanien,  Köln  u.  Neuss.  1869.  L.  Schwan  ; 

S.  77. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.   XLVIII.  7 


98  Chatten  und  Hessen. 

Tacitus  die  Hermunduren  als  einen  Zweig  der  Sueben  östlich  cf.  Taci- 
tus  Annal.  XIII.  57,  nach  welcher  Quelle  um  das  Jahr  58  nach  Chr. 
sich  die  Hermunduren  und  Chatten  um  Salzquellen  streiten.  Die  Her- 
munduren sind  zu  jener  Zeit  der  westlichst  wohnende  Theil  der  Sueben, 
welche  sich  nach  Osten  zu  über  die  heutigen  Landschaften  von  Thü- 
ringen, Böhmen,  Prov.  Sachsen,  Schlesien,  Posen,  Polen,  West- 
und  Ostpreuseen ,  Pommern,  die  dänischen  Inseln  und  Skandinavien 
erstreckten. 

Tacitus  scheidet  zudem  in  seiner  Germania  deutlich  die  nord- 
westdeutschen  Germanen  von  den  nordöstlichen  Sueben; 
die  Elbe  ist  die  natürliche  Grenze  im  Norden,  die  obere  Werra  im  Sü- 
den ;  dass  die  Scheidung  in  natürlichen  Ortsverhältnissen  ihren  Ur- 
sprung gehabt  haben  kann,  ergiebt  sich  aus  dem  Umstände,  dass  in 
der  Gegend  der  Mündung  der  Hörsei  in  die  Werra  über  die  Nesse 
nach  der  Unstrut,  bei  Gräfentonna,  fast  keine  Wasserscheide  erkenn- 
bar ist  und  hier  in  ältester  Zeit,  in  Verbindung  mit  den  Naturbollwer- 
ken der  Bergmassen  des  Harzes  und  des  Thüringer  Waldes,  undurch- 
dringliche Sümpfe  zwischen  Weser  und  Elbe  auf  der  genannten  Linie, 
also  über  Hörsei,  Nesse,  Unstrut,  Saale  bis  zur  Elbe,  das  Vordringen 
der  Völkerstämme  sehr  erschwert  haben  müssen.*  Dieser  Umstand  er- 
klärt auch  das  Vorherrschen  der  Verbindung  des  Nordosten 
Deutschlands  mit  dem  Südwesten  über  |die  niedrige  Wasserscheide 
des  Frankenwaldes,  des  Mittelgliedes  zwischen  Thüringer  Wald  auf 
der  einen  und  Fichtelgebirge  mit  Erzgebirge  (Hercynia)  auf  der  an- 
dern Seite,  von  welcher  Kutzen,  das  deutsche  Land,  I,  S.  357  f.  sagt: 
„So  sind  denn  gerade  in  der  Nähe  der  höchsten  einschliessenden  Ge- 
birge von  der  Natur  Verbindungsbahnen  nach  und  aus  der  Mitte 
Deutschlands  angelegt,  auf  denen  von  jeher  ebenso  ganzen  Völkern  und 
Heereszügen,  wie  den  Waarenzügen  der  Uebergang  ermöglicht  wurde. 
Durch  das  Werrathal  und  unfern  den  Quellen  der  Saale  über  den 
Frankenwald  drangen  in  den  Zeiten  der  Römer  mehr  als  einmal 


*  Finde  ich  doch  zufällig  in  der  besonderen  Beilage  des  K.  Pr.  Staats- 
anzeigers  vom  5.  März  1870  No.  9  nach  einem  Aufsatze  Carl  Meyer's  in 
der  Harzzeitung  ausgezogen,  wie  sich  bis  zur  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  zu 
beiden  Seiten  der  Helme  von  Kleinwerther  bis  zu  ihrem  Einfluss  in  die 
Unstrut  und  an  den  Ufern  der  letzteren  von  Sachsenburg  bis  nach  Memle- 
ben  unabsehbare  Sümpfe  und  Moräste  ausdehnten,  welche  durch  die  all- 
jährlich wiederkehrenden  Ueberschwemmungen  dieser  beiden  Gewässer  ent- 
standen waren. 


Chatten  und  Hessen.  99 

germanische  Völker  —  denn  der  Germanen  Hauptmacht  war  im  Nor- 
den Deutschlands  —  in  das  Mainland  vor.  Ueber  den  Frankenwald 
hin  gelang  es  später  den  Thüringern,  ihrem  grossen  Reiche  das  Main- 
gebiet, mit  Ausnahme  des  Untermains,  einzuverleiben.  Und  als  mit 
ihnen  und  den  Alemannen  die  Franken  im  Kampfe  lagen,  setzten  sich 
theils,  wie  es  scheint,  gleich  den  Thüringern  über  den  Frankenwald, 
theils  aus  dem  Egerthale  hinauf  über  die  Pässe  des  Fichtelgebirges, 
Slaven  an  dem  obern  Main  und  an  der  Rednitz,  bis  zu  beider  Zusam- 
menfluss ,  fest.  .  .  .  Im  15.  Jahrhundert  brachen  die  Hussiten  von 
Böhmen  aus  verwüstend  auf  denselben  Wegen  ins  Mainland  ein  .... 
und  in  verschiedenen  Kriegen  der  neuesten  Zeit  bedienten  sich  die 
Heere  derselben  Passagen.  Endlich,  in  Rücksicht  auf  Verkehr  und 
Handel,  ward  der  Verbindungsweg  [zwischen  dem  Süden  und  Norden 
über  den  Frankenwald,  seit  frühen  Zeiten  als  eine  Haupthandelsstrasse 
vom  Main-  ins  Eibgebiet,  namentlich  zu  dem  grossen  Markte  von  Leip. 
zig,  gepflegt.  Jetzt  wird  in  derselben  Richtung  eine  Eisenbahn  (die 
Bairische  Nord-  und  die  Sächs.-Bairische  Staatsbahn)  befahren." 

Es  ist  diese  natürliche  Völkerstrasse ,  auf  welcher  sicher  diejeni- 
gen Schaaren  der  Sueben  ,  die  unter  Ariovist  bis  nach  dem  Oberrhein 
zu  den  Sequanern  kamen,  gezogen  sind,  auf  welcher  mit  ihrem  Neben- 
wege den  Main  hinauf  denn  auch  die  vom  Oberrhein  nach  dem  Nie- 
derrhein herunter  gedrückten  Marcomannen  im  Jahre  9  vor  Christus 
sich  wieder  zurückzogen.  Die  Sueben  aber,  die  58  vor  Christus  von 
Cäsar  beiMümpelgard  geschlagen  wurden  und  sich  dann  auf  den  Nie- 
derrhein warfen,  hier  zunächst  die  Ubier  bedrängten,  sind  zunächst 
vom  Süden  hergekommen,  und  brauchen  keine  Chatten  gewesen  zu 
sein ;  sie  dehnten  sich  überschwemmend  in  der  Ebene  um  den  Tau- 
nus herum  aus  und  kamen  so  im  Rheingau  mit  den  Ubiern  in  Berüh- 
rung, wie  sie  die  Usipier  und  Tencterer  ebenfalls  vor  sich  hergetrieben 
hatten ,  Caes.  d.  b.  Gallico,  IV.  1  ff.  Es  stimmt'ganz  und  gar  zu  der 
Zeitrechnung,  welche  Cäsar  aufstellt,  was  er  von  den  Usipetern  oder 
Usipern  und  Tencterern  da  erzählt,  dass  nämlich  die  Ursache  ihres 
Ueberganges  über  den  Rhein  der  Umstand  gewesen,  dass  sie,  von  den 
Sueben  aufgescheucht,  mehrere  Jahre  mit  Krieg  bedrängt  und  am  Acker- 
bau verhindert  wurden;  wie  es  genauer  zu  Cap.  4  heisst,  nachdem  von 
der  civitas  der  Ubier  auf  der  andern  Seite  des  Rheins  die  Rede  gewe- 
sen ist ,  dass  wie  die  Ubier  von  den  Sueben  tributpflichtig  gemacht 
worden  seien,  in  derselben  Lage  die  Usipeter  und   Tencterer  sich  be- 

7* 


100  Chatten  und  Hessen. 

funden  hätten ,  welche  mehrere  Jahre  lang  den  Andrang  der  Sueben 
aushielten,  zuletzt  aber  aus  ihren  Aeckern  vertrieben  und  nach  dreijäh- 
rigem Umherirren  in  vielen  Gegenden  Germaniens  an  den  Rhein ,  da, 
wo  die  Menapier  wohnten  und  an  beiden  Seiten  des  Flusses  Lände- 
reien bebauten ,  angekommen  waren.  Bekanntlich  schlug  Cäsar  den 
Ariovist  im  Jahre  58  und  traf  3  Jahre  später,  von  den  Ubiern  um 
Hülfe  angerufen,  die  Sueben  wiederum  als  Feinde  dieser  wie  der  Usi- 
peter  und  Tencterer  am  Niederrhein. 

Könnten  wir  hier  nun  unsere  Beweisführung  sofort  durch  eine  sehr 
interessante  Untersuchung  über  die  Herstammung  des  Volksnaraens  der 
Usipeter  und  Tencterer  stützen,  so  müssen  wir  doch  vorläufig  darauf 
verzichten,  um  die  Frage,  die  vorliegt,  nicht  zu  sehr  auseinander  zu 
dehnen.  Es  ist  hier  bei  so  detaillirter  Schilderung  der  niederrheini- 
schen Völkerverhältnisse,  wie  sie  schon  Cäsar  giebt,  der  Beweis  ex  ei- 
lentio,  die  Nichtnennung  der  Chatten,  ein  vollständig  schlagender. 
Cäsar  hatte  es  mit  den  Chatten  nicht  und  diese  nichts  mit  den  Sueben 
zu  thun.  Die  Sueben  aber,  einmal  in  Bewegung,  ergossen  sich  natür- 
lich über  das  ganze  ihnen  von  Süden  her  offenstehende ,  durch  Thäler 
geöffnete  Gebiet.  Noch  heute  bezeichnet  die  Sprachgrenze  des  Sü- 
dens und  Nordens,  längs  der  Wasserscheide  zwischen  Rhein  und  We- 
ser ,  die  Wasserscheide  abwärts  hin  nach  dem  Main  u.  s.  w. ,  schwä- 
belnde Mundart,  und  die  Wasserscheide  nach  dem  Norden  abwärts ,  mit 
Ausnahme  einzelner  schwäbischer  Einbuchtungen,  der  Grundzug  nie- 
dersächsischer Mundart  und  diese  selbst.  Wer  z.  B.  die  Ruhr-Sieg- 
bahn von  Hagen  nach  Betzdorf  über  Siegen  fährt,  nimmt  nach  der 
Uebersteigung  der  Wasserscheide  zwischen  Lenne  und  Sieg,  in  dem 
Thal  der  letzteren,  sofort  die  schwäbelnde  Mundart  wahr;  sie  ist  von 
der  Wetterau  das  Dillthal  hinauf  in  das  Siegthal  gedrungen;  ebenso 
das  Lahnthal  hinauf  bis  über  Marburg  in  Hessen  hinaus ;  ebenso  das 
Kinzigthal  hinauf  bis  in  den  obern  Theil  der  Fulda.  Die  schwäbelnde 
Sprache  beherrscht  Nassau  bis  in  den  Westerwald,  wo  sich  neben  ein- 
ander Sachsen  und  Schwaben  scheiden.  Essellen  in  seiner  Geschichte 
der  Sigamberer,  S.  12,  zeichnet  ebenfalls  ganz  genau  die  Sprach- 
grenze: „Die  Sigambrer,  nach  allen  Seiten,  die  südliche  allein  ausge- 
nommen ,  von  Niederdeutschen  umgeben ,  können  sich  auch  nur  der 
niederdeutschen  (plattdeutschen)  Sprache  bedient  haben.  Diese  hören 
wir  noch  in  dem  eben  bezeichneten  Gebirgslande  bis  zu  den  Quellen 
der  Ruhr  und  Lenne  und  der  in  diese  Flüsse  sich  ergiessenden  grosse- 


Chatten  und  Hessen.  101 

ren  und  kleineren  Bäche,  kurz  in  dem  Gebiete  der  genannten  Flüsse. 
Nur  einige  Tausend  Schritte  über  die  Quellen  der  genannten  Flüsse 
hinaus,  von  jeder  Quelle  an,  die  ihr  Wasser  der  Eder  (?) ,  Lahn  oder 
Sieg  zusendet,  herrscht  eine  hochdeutsche  Mundart.  Wir  stehen  da  an 
einer  Wasserscheide  und  zugleich  an  einer  Sprachgrenze,  die  unzweifel- 
haft von  den  ältesten  Zeiten  her  bestanden  hat."  Essellen  führt  auch 
an,  dass  ein  Theil  des  Kothaar-Gebirgs-Kammes  noch  „die  Grenze" 
heis?t,  und  bei  den  Bewohnern  der  Länder  an  der  einen  und  andern 
Seite  des  Gebirges  sich  eine  auffallende  Verschiedenheit  nicht  blos  hin- 
sichtlich der  Sprache,  sondern  auch  derKörpergrösse,  Lebensweise  u.  s.  w., 
zeige,  die  Bewohner  namentlich  in  der  Brodbereitung  ganz  und  gar, 
im  Häuserbau  erheblich  von  einander  abweichen.  Nimmt  man  in  die- 
ser Darlegung  die  Eder  aus,  so  hat  man  das  ganz  richtige  Verhältniss ; 
die  Eder  aber  muss  ausgenommen  werden,  weil  sie  sich  nach  der  We- 
ser hin  öffnet  und  namentlich  in  ihrem  obern  Theile  unzweifelhaft  nie- 
dersächsische Bevölkerung  enthält. 

So  weit  also,  wie  wir  gezeichnet  haben,  ergossen  sich  die  Sueben 
auch  zu  Cäsars  Zeit.  Nun  kam  er  bei  seinem  ersten  Rheinübergang 
nur  mit  den  Sigambern ,  die  sich  jedoch  sammt  den  Tencterern  und 
Usipetern  in  die  Wildniss  zurückzogen  und  denen  er  nur  einige  Dör- 
fer und  Ilöfe  verwüstete,  in  Berührung.  Weiter  wird  dann  De  b.  G. 
VI,  9  erzählt,  dass  die  Germanen  vom  jenseitigen  Rhein,  also  die  Sue- 
ben, die  damals  die  Ubier  zins-  und  kriegspflichtig  gemacht  hatten 
den  Tencterern  Hülfstruppen  geschickt  hatten  und  deshalb  Cäsar  zum 
zweiten  Male  über  den  Rhein  zu  gehen  beschloss,  diesmal  paulum  supra 
eum  locum,  quo  ante  exercitum  traduserat. 

Er  deutet  hier  ihre  Wohnsitze  noch  durch  eine  genauere  Bestim- 
mung an;  denn  da  er  die  Zugänge  und  Wege  der  Sueben  ausforschen 
liess,  erfuhr  er  durch  die  Ubischen  Kundschafter,  dass  die  Sueben  alle 
ihre  Truppen  und  Habe  bis  tief  ins  Land  hinein  an  die  Grenzen  des- 
selben geflüchtet  hätten,  wo  ein  Bacenis  genannter  Wald  von  un- 
endlicher Ausdehnung  sei,  der  weit  landeinwärts  sich  erstrecke  und 
wie  eine  natürliche  Mauer  die  Cherusker  von  den  Sueben  und  die  Sue- 
ben von  den  Cheruskern  scheide  bezw.  vor  ihren  Eingriffen  und  Ein- 
fällen schütze.  Am  Beginne  dieses  Waldes,  also  mit  der  Front  nach 
dem  Rheine  hin,  hatten  die  Stieben  die  Ankunft  der  Römer  zu  erwar- 
ten beschlossen. 

Ist  nun  noch  immer  Streit  unter  den  Gelehrten  darüber,  was  un- 


102  Chatten  und  Hessen. 

ter  dem  Walde  Bacenis  zu  verstehen  sei ,  so  liegt  doch  nichts  näher, 
als  dass  es  der  meist  Buchonia  im  Mittelalter  genannte  "Wald  ist. 
Wenck  in  seiner  Hess.  Landesgeschichte  verbreitet  sich  an  verschiede- 
nen vStellen  über  die  Ausdehnung  des  unter  diesem  Namen  begriffenen 
Gebietes;  II,  S.  489  rechnet  er  mit  CroUius  das  westliche  Grabfeld 
mit  zur  Buchonia,  S.  492  führt  er  aus,  dass  als  Waldnamen  Bu- 
chonia ausser  dem  Fuldischen  auch  den  grössten  Theil  des  Oberlahn- 
gaues sammt  einem  Stück  des  Hessengaues  begriff,  bis  an  die  fränki- 
sche Saale  und  über  einen  Theil  des  Spessartes  reichte.  Nach  Eberh. 
Monach.  VI.  n.  25  heisst  es:  Ruthard  tradidit  capturam  unam  in 
silva  B  ocon  ia  juxta  fluvium  Anatrafa  in  Pago  Hassiae  Provinciae  etc.- 
nach  Urkunden  81 3  bei  Falke  Trad.  Corbej.  p.  377  ist  Havukebrun 
in  silva  Bochonia  gelegen ,  das  ist  also  zwischen  Cassel  und  Münden, 
wenn  es  sich  nicht  um  Hachborn  bei  Marburg  handelt.  Fulda  lag  in 
der  Buchonia  und  Hersfeld  sogar  noch,  wie  Wenck  dann  weiter  sagt: 
eigentliche  Grenzen  lassen  sich  von  einem  Walde  nicht  bestimmen,  und 
der  Name  verschwand  allmälig  unter  den  verschiedenen  politischen 
Abtheilungen,  welche  innerhalb  seiner  weitern  Ausdehnung  allmälig 
eintraten ,  selbst  die  verschiedenen  Unterabtheilungen  des  Waldes 
(S.  460)  Salzforst,  Branforst,  Zunderhardt  treten  in  den  Vordergrund, 
doch  ist  unter  den  Gebirgsgegenden  des  Oberlahngaus  sicher  der  Vo- 
gelsberg (Fugalisberc)  im  Amt  Ulrichstein  diejenige  Abtheilung, 
welche  ihren  Namen  bis  in  die  alte  Zeit  zurückführen  kann.  So  weist 
denn  auch  bereits  Gatterer  synchron.  Universal-Gesch.',  S.  703,  den 
Namen  Boconia  dem  Bacenis  Cäsars  zu.  Anklingende  Schreibungen 
des  Mittelalters  sind  Bochenne,  8,  Laur.  sec.  8  n.  36,  30  p.  Gozfeld; 
Baconia,  Pertz.  Monum.  Germ.  XII,  371  gest.  abb.  Trad. ;  woneben  noch 
vorkommen  die  Schreibungen  Boconia  aus  dem  6.  Jahrhundert;  Boko- 
nia  Dr.  a.  838,  n.  524;  Bocconia,  Pochonia,  Buconia,  Buchonia, 
Buochonia,  Buochunna,  Puohunna  etc.;  vgl.  Förstemann,  Altd.  Orts- 
namen, S.  258. 

Die  vorstehenden  Schreibungen  Bochenne  und  Baconia  stehen  der 
Lesart  des  Jul.  Cäsar  möglichst  nahe;  wir  haben  es  offenbar  mit  dem 
weit  ausgedehnten  Buchenwald  zu  thun ,  welcher ,  vom  Sigamberland 
beginnend,  die  Wetterau  im  Norden  umsäumend,  sich  nach  Osten  zu 
zog  und  von  welchem  der  heutige  Vogelsberg  wahrscheinlich  die  Höhe 
ist,  an  der  sich  die  Sueben  sammelten,  um  Cäsar's  Herannahen  zu  er- 
warten.   Der  Buchwald,  in  der  möglichsten  Ausdehnung  gedacht,  er- 


Chatten  und  Hessen.  103 

klärt  auch  am  besten  die  Ueberlieferung,  dass  der  König  Siegbert  von 
Ripuarien  von  Köln  aus  sich  zur  Jagd  in  die  Buchonia  begab,  wie  denn 
auch  Justus  Moser  Osnabr.  Gesch.  I,  d.  137,  Anm.  6  wieder  ganz 
richtig  bemerkt:  Man  muss  aber  sylvam  Bacenem  infinitae  magnitu- 
dinis  Caes.  d.  b.  G.  VI  für  Alles  nehmen,  wofür  er  genommen  werden 
kann,  und  sich  vorstellen,  dass  man  oft  von  einer  Seite  alles  Schwarz- 
wald und  von  der  andern  alles  Harzwald  nenne!  Wenn  er  aber  weiter 
meint:  Die  Chatten,  quos  Saltus  Hercynius  prosequebatur  et  depone- 
bat  Tac.  Germ.  30  müssen  es  ihrer  Lage  wegen  mit  den  Sueben  oder 
mit  den  Sachsen  halten,  so  ist  doch  da  ein  Drittes  möglich,  nämlich, 
dass  sie  noch  gar  nicht  im  Gange  waren,  d.  h.  noch  keinen  besonders 
hervortretenden  Stamm  darstellten  und  von  den  Sueben  so  zu  sagen 
angefasst  und  herausgefordert  waren.  Ganz  verständig  macht  in  einem 
in  Cassel  erscheinenden  belletristischen  Blatte  aber  im  März  1870  ein 
Herr  K.  H.  die  Bemerkung,  dass  die  Cherusker  in  einer  von  ihm  ange- 
nommenen vorchattischen  Zeit  sich  den  Mittelpunkt  um  Maden  ausge- 
sucht und  hierhin  von  Alten-Heerse  bei  Willebadessen  aus  ihr  Macht- 
gebiet ausgedehnt  hätten ;  denn  Maden  sei  friesisch ;  der  Oberdeutsche 
sagt  Matten.  In  Dronke  trad.  Fuld.  S.  48  n.  168  a.  heisst  es:  Ego 
Orbalt  prbr.  Ratbraht  et  Liuteger  fratres  mei  donavimus  ad  Sem. 
Bonifacium  in  fuidensi  monasterio  in  pago  wertingewe  in  villa  que  di- 
citur  Astolfesheim  parteni  pratorum,  quod  lingua  nostra  dici- 
tur  Macla.  Es  ist  da  von  den  Besitzungen  des  Fulder  Klosters  in 
Friesland  die  Rede.  Man  vergleiche  hierzu,  was  Hermann  Meyer 
in  dem  Buche:  Ostfriesland  in  Bildern  und  Skizzen  etc.,  Leer  1868, 
Bock,  S.  85,  von  dem  wildromantischen  Charakter  der  Meeden, 
Grasflächen  im  Haidelande,  sagt.  Für  vom  deutschen  Niederland 
ausgehende  Besiedlung  der  Gudensberger,  also  echt  hessischen  Gegend, 
sprechen  noch  die  Namen  andrer  noch  bestehender  und  ausgegangener 
Ortschaften  jenes  Bezirks,  so  die  ausgegangenen  Dörfer  Fenne,  bei 
Gudensberg,   vgl.   z.  B.  Venne  bei  Lüdinghausen,*    ein  Name,  der 


•  Man  braucht  hier  nur  die  zu  J.  Möser's  Osnabrück.  Geschichte  gege- 
benen Noten  und  Documente  auf  die  vorkommenden  Ortsnamen  anzusehen 
und  zu  vergleichen,  Venne  I,  S.  117,  Ander  venne  II  Docum.  S.  80;  zu 
Deute  Rotholfus  de  Thuite  II  .Docum.,  S.  71,  de  Thuthe  S.  73;  zuDissen: 
Disna  I,  S.  56,  Anm.  f.  Eckhart  de  Dissene  II.  Doc,  S.  112  öfter;  Dissen 
kommt  übrigens  auch  in  den  Niederlanden,  südl.  Osterwijk  zw,  Nordbrabant 
und  Kempenland,  vor;  zu  Haldorf,  Holtorpe  II.  Doc,  S.  119  ff.;  zu  Lahie, 
villa   Lare  II.  Doc,  81 :  hierbei  findet  sich  die  Bemerkung  ad  fluvium  Emese 


104  Chatten  und  Hessen. 

im  Niederland  so  häufig  für  Niederlassungen  ist,  der  noch  bestehenden 
Deute,  Dissen,  Ilaldorf,  Holzhausen,  Dorla,  Castorf,  Wabern,  Zenuern 
Lohre  (alt  Lar),  Lohne  (alt  Lone),  Balhorn  u.  s.  w. 

Es  werden  später  noch  mehr  Gründe  entwickelt  werden ,  aus  de- 
nen sich  ergibt,  dass  die  ersten  germanischen  Besiedlungen  chattischer 
Landschaft  durch  einen  Stamm  geschah ,  der  früher  an  der  Ems ,  in 
Friesland  u.  s.  w.  sass,  einstweilen  muss  hier  dahin  abgeschlossen 
werden,  dass,  was  die  äussern  geschichtlichen  Zeugnisse  be- 
trifft, Cäsar  noch  nichts  von  den  Chatten  wusste.  Wenn  er  an  der 
angegebenen  Stelle  im  VI.  Buche  sagt:  exploratores  nuntiant:  Suebos 
omnes  posteaquam  certiores  nuntii  de  exercitu  Romanorura  venerint 
cum  oiTinibus  suis  sociorumque  copiis ,  quas  coegissent,  penitus  ad 
extreraos  fines  se  recepisse,  so  folgt  daraus  noch  gar  nicht,  dass  unter 
den  Sociis  die  Chatten  gewesen,  und  wären  sie  darunter  gewesen,  so 
folgt  höchstens  auch  hieraus  wieder,  dass  sie  dann  keine  Sueben  wa- 


sita,  und  eine  Ems  fliesst  auch  im  Gudensberger  Lande;  zu  Holzhausen, 
Holtzhusen  H.  Doc,  S.  42,  Holthusen  sehr  oft .  Zu  dem  westfälischen  Lies- 
born L  Poe.  p.  10  vergleiche  man  noch  den  Namen  eines  am  Odinberge  bei 
Gudensberg  entspringenden  Brunnens  Gliesborn,  dessen  weiches  Wasser  in 
den  umliegenden  Dörfern  einen  so  ausgezeichneten  Ruf  genlesst ,  dass  die 
Bauernweiber  derselben  an  dem  Brunnen  ihre  sjrossen  Wäschen  besorgen. 
Zu  Dorla  (alt  Thourisloon)  vergleiche  man  die  Wüstung  Uorslon  im  Al- 
niengau  bei  Brilon  (Becker,  Beiträge  zur  Geschichte  von  Brilon.  Osterbe- 
richt  des  Gymnas.  Petrin,  zu  Bril.  1869,  S.  30);  zu  Balhorn  das  westfä- 
lische Balhorn  bei  Sendenhorst,  südöstl.  von  Münster  und  die  sogenannte 
Wüstung  bei  Paderborn;  zu  Castorf  Castrop  westl.  Dortmund;  zu  Wabern 
nur  das  durch  die  Schlacht  von  Waterloo  berühmt  gewordene  Wavre  ;  zu 
Zennern  zu  dem  im  Saallande  Prov.  Ober-Yssel  (Holland)  vorhandenen. 
Andere  im  Hessenlande  im  weitern  Sinne  und  in  Westfalen  gleich  vorkom- 
mende Ortsnamen  sind  noch:  Hesslar  bei  Felsberg  —  Kesslar  zwischen 
Lippstadt  und  Hamm;  Beuern,  Amt  Felsberg  —  Buer,  Buren,  Moser  Os- 
nab.  Gesch.  H.  Doc,  S.  122;  Berge,  bei  Homburg  —  Berge,  Moser  a.  a. 
O.  H,  S.  122;  Isthe  bei  Wolf  hagen  —  Esethe  Moser  H.  Doc,  S.  57;  Ip- 
pinghausen  bei  Wolf  hagen —  Evinckhusen,  Mos.  IL  Doc,  64;  Malsburg  — 
Maltbergen,  H.  Doc,,  S.  71  Auch  sonst  vergleiche  man  noch  Affbldern 
im  Waldeckischen,  nahe  der  hess.  Grenze,  mit  Apeldorn,  Amt  Meppen,  Ma- 
den mit  Tbacmade  (Vorwerck)  bei  Moser  a.  a.  O.,  Waltersbrück  bei  Dorheim 
mit  WalJenbruck,  Kappel  bei  Fritzlar  mit  Capele,  den  Namen  der  Land- 
schaft Hessen  mit  dem  Namen  des  Dorfes  Hesnon,  Mos,  Osnabr.  Gesch.  II, 
S.  12,  Hessum,  Bauerschaft  im  Kirchspiel  Holte,  hinter  Löningen  und  dem  heu- 
tigen Heessen  bei  Hamm ;  MöUrich  bei  Fritzlar  mit  Mellrich  bei  Soest ;  Verne 
bei  Homberg  mit  Verne  bei  Lippstadt;  Dörnhagen  bei  Cassel  mit  Dören- 
hagen  bei  Paderborn;  Holzheim  hess.  Amt  Niederaula  mit  Holtheim  bei 
Paderborn;  Velmede  in  Hessen  mit  Velmede  Herrsch.  Meschede  in  Brilon; 
Zusehen  an  der  waldeck-hess.  Grenze  mit  Zusehen  bei  Winterberg;  Dalwig 
im  Waldeckischen  mit  Dellwig  bei  Unna,  zu  welchem  Namen  auch  wahr^. 
scheinlich  das  verkürzte  Dillich  bei  Homberg  gehört. 


Chatten  und  Hessen.  105 

ren,  sondern  socii  Sueborura.  Von  den  Chatten  ist  noch  nicht  einmal 
die  Rede,  als  im  Jahre  25  vor  Chr.  römische  Kaufleute ,  die  über  den 
Rhein  gekommen  waren ,  von  den  Germanen  ermordet  wurden ,  wofür 
sie  M.  Vinicius  Dio  Cass.  LIII,  26,  züchtigte;  ebenso  wenig  werden 
sie  aufgeführt,  als  nach  Dio  Cass.  LIV,  20,  Scholiast  Acron.  zu  Ho- 
rat.  Od.  IV,  2,  Römer  oder  gar  römische  Centurionen  von  Sigambrern, 
Usipetern  und  Tencterern  gekreuzigt  wurden,  worauf  diese  sogar  über 
den  Rhein  gingen  und  Gallien  verwüsteten.  Auch  nach  Strabo  VII, 
waren  es  die  Sigambrer,  welche  dergleichen  stifteten.  Lollius,  der  die 
Rache  dafür  zu  nehmen  hatte  (Jul.  Obseq.  de  Prod.  131),  verlor  da- 
mals den  Adler  der  5.  Legion,  Vell.  II,  97,  Sueton.  Oct.  23.  Tacit. 
Ann.  1.  10,  worauf  Kaiser  Augustus  selbst  an  den  Rhein  kam  und 
nach  Dio  LIV.  20  die  Germanen  Frieden  schlössen  und  Geissein  stell- 
ten, 16  vor  Christus.  Im  Jahre  13  kehrte  dann  Augustus  Dio  LIV, 
25,  nach  Rom  zurück  und  überliess  seinem  Stiefsohne  Drusus  den 
Oberbefehl  am  Niederrhein.  Auch  dieser  kommt  auf  seinem  ersten 
Feldzuge  nach  Germanien  im  Jahre  12  nur  mit  den  Usipetern  und  Si- 
gambrer in  Berührung,  zieht  (Dio  LIV,  32)  durch  das  Land  der 
Chauken  und  besiegt  nach  Strabo  VII  die  Bructerer.  Erst  im  Jahre 
11,  wo  er  durch  das  Land  der  Cherusker  bis  zur  Weser  vordringt 
und  die  Germanen  durch  die  Anstalten  des  Drusus  aufs  äusserste  arg- 
wöhnisch gemacht  worden  waren  und  sich  zu  gemeinsamer  Abwehr 
vereinigten  ,  traten  Sigambrer,  Cherusker  und  Sueben  zusammen  und 
die  Sigambrer  versuchten  da  ,  auch  die  Chatten  zum  Bündniss  zu 
zwingen;  bei  dieser  Gelegenheit  also  werden  die  Chatten  zum  er- 
stenraale  ei'wähnt,  sie  gehörten  auch  nach  dieser  Ueberlieferung 
nicht  zu  den  Sueben ,  sonst  wären  sie  nicht  abgesondert  neben  den 
Sueben  genannt  worden,  und  waren  nach  den  Andeutungen  einer  an- 
dern Stelle  Dio  LIV,  36,  wie  man  annimmt,  durch  Landanweisung 
im  rechtsrheinischen  ehemaligen  Ubierlande,  also  gerade  gegen  die 
Sueben,  für  Drusus  gewonnen.  Damals  zog  Drusus  vom  Rhein  aus 
durch  das  Land  der  Usipeter,  fiel,  über  die  Lippe  gehend,  verwüstend 
in  das  Land  der  im  Kriege  gegen  die  Chatten  ausgezogenen  Sigambrer 
ein,  drang  durch  das  Land  der  Cherusker  zur  Weser  vor  und  erlitt 
von  den  Cheruskern ,  Sueben  und  Sigambrern  auf  dem  Rückzuge 
empfindliche  Verluste,  nach  Plinius  H.  n.  XL  17.  Jul.  Obseq.  de  Pro- 
dig.  L  132  bei  Arbalo  (vielleicht  Erpenlrup  am  Hambach  im  Egge- 
gebirge).     Im  Jahre   10  zog  dann  Drusus  auch  geradezu  gegen  die 


106  Chatten  und  Hessen. 

Chatten  in  ihrem  eigenen  Lande,  d.  h.  vertrieb  sie  wahrscheinlich  wie- 
der vom  Rhein  weg,  wo  er  das  Castell  gegen  sie  im  Taunus  anlegte. 

Also  fällt  nach  den  äusseren  Zeugnissen  das  erste  Auftreten  der 
Chatten  als  eigner  Germanenstamm  in  das  Jahr  11  vor  Christus, 
44  Jahr  nach  dem  ersten  Zuge  Julius  Cäsars  über  den  Rhein ;  es  ist 
das  ein  Zeitraum,  lang  genug,  um  einen  Auswanderungszweig  der 
Cherusker  im  Chattenlande  zu  einem  selbstständigen  Auftreten  heran- 
reifen zu  lassen.  So  erklärt  es  sich  auch  ganz  gut,  wenn  Cäsar  d.  b. 
Gall.  VI.  den  Wald  Bacenis,  also  den  weit  ausgedehnten  Buchenwald 
um  die  Nordgrenze  der  Wetterau  herum  bis  ins  heutige  Fulder  Land, 
die  Grenze  zwischen  Sueben  und  Cheruskern  sein  lässt.  Ein  ähnliches 
Verhältniss,  wie  mit  den  Chatten,  besteht  auch  mit  den  Marsen. 
Strabo  VII,  1,  heisst  es  von  dem  Oberbefehl  des  Tiberius  in  Germa- 
nien vom  Jahre  7  vor  Christus  ab:  Von  den  dortigen  Stämmen  (von 
denen  an  der  Ostseite  des  Rheines)  haben  die  Römer  einige  nach  Gal- 
lien versetzt,  andere,  wie'die  Marsen,  zogen  weiter  in  das  Land 
hinein,  einige  wenige  blieben,  darunter  ein  Theil  dep  Sigambrer. 
Der  grössere  Theil  der  letzteren  wurde  bekanntlich  von  Tiberius  im 
Linksrheinischen,  Strabo  IV,  3 ,  im  noch  unbebauten  Landgebiete  der 
Menapier  angesiedelt. 

Wie  hier  die  Marsen  weiter  ins  Binnenland  hineinziehen,  so  zie- 
hen sich  die  Chatten  wieder  vom  Rhein  zurück,  wie  die  Chatten  im 
Jahre  10  zuerst  als  eigner  Stamm  auftreten,  so  die  Marsen  zuerst  7 
vor  Christus;  sie  waren  auch  ursprünglich  wohl  nichts  als  ein  Theil 
der  Bructerer  oder  Sigambrer  und  es  ist  S.  94  bereits  ihr  vermuthlicher 
Nationalmittelpunkt  in  dem  heutigen  Stadtberg  oder  Marsberg  neben 
Volkmarsen  angegeben.  Wie  bei  den  Hessen  sich  neben  dem  alten 
Landgericht  Maden  das  Landgericht  Dietmelle,  jetzt  Kirch-Ditmold  bei 
Cassel,  ein  viel  älterer  Volksmittelpunkt  als  eben  das  daneben  liegende 
Cassel,  findet,  wie  sich  dann  von  Maden  der  Mittelpunkt  nach  Gu- 
densberg,  später  der  Mittelpunkt  von  Maden  sowohl  als  von  Dietmellen 
nach  Cassel  zieht,  so  findet  sich  im  Lande  der  Marsen  Volkmarsen 
neben  Eresburg,  und  darf  man  wohl  dieses  Volkmarsen  in  Analogie  zu 
Dietmarsen  in  Holstein  betrachten.  Hierzu  dienen  zu  Anhaltspunkten 
Orts-  und  Flurbezeichnungen  in  der  Umgegend  von  Volkmarsen.  So 
findet  sich  zwischen  Welda  und  Volkmarsen  an  der  Twiste  eine  Flur, 
genannt  „In  der  Marsch;"  oberhalb  Volkmarsen  der  grosse  Stadtbruch, 
darüber  Wiesen,  die  „Alern"  genannt;  man  hat  es  hier  also  mit  einer 


Chatten  und  Hessen.  107 

Gegend  zu  thun,  in  welcher  der  niederdeutsche  Ausdruck  „Marsch" 
geläufig  und  passend  war  und  noch  ist.  Nehmen  wir  nun  an,  dass 
sich  die  Marser  von  Volkmarsen  aus  noch  weiter  die  Diemel  und 
deren  Seitenzufliisse  aufwärts  in  das  heutige  Waldeckische  hineinzo- 
gen, so  haben  wir,  da  Arolsen  oberhalb  Volkmarsen  an  der  Twiste, 
Volkmarsen  selbst  am  Zusammenfluss  von  Twiste  und  Erpe,  und  an 
letzterm  Bache  oberhalb  Volkmarsen  wieder  Wolfhagen  liegt,  die  Mar- 
sen als  nächste  Nachbarn  der  Chatten  im  Alterthum ,  wie  die  heute 
noch  niederdeutsche  Mundart  redenden  Waldecker  als  nächste  Nach- 
barn der  Hessen,  deren  Mundart  später  von  der  Mainzer  und  Thüringer- 
landherrschaft inficirt  worden  ist  und  zwar  so,  dass,  wer  sich  heute 
noch  in  dem  hessischen  Grenzort  Ungedanken  eines  Sonntag  Nachmit- 
tags ins  Wirthshaus  unter  die  Bauern  setzen  will,  sofort  die  hessischen 
Bauern  an  der  Mundart  unterscheiden  kann  von  der  Mundart  der  eben 
aus  dem  nächsten  waldeckischen  Grenzort  Mandern  anwesenden  Gäste. 
Die  heutige  Mundart  entscheidet  natürlich  nicht  mehr  über  die  Mund- 
art der  alten  Zeit,  welche  unter  den  verschiedenen  germanischen  Stäm- 
men sehr  wenig  unterschieden  gewesen  sein  wird ,  aber  sie  bezeichnet 
heute  noch  die  Spur  alter  natürlicher,  durch  die  geographische  Lage 
vorgezeichneter  Stammesgrenzen. 

Damit  ist  wohl  zur  Genüge  dargethan ,  dass  nach  äussern  Zeug- 
nissen die  Chatten  keine  Sueben  gewesen  sind  und  nach  dem  Innern 
Gange  der  Dinge  es  nicht  wohl  haben  sein  können ;  wären  sie  Sueben 
gewesen,  so  wären  sie  vor  Drusus  nicht  nach  Norden  zu  den  Cherus- 
kern, sondern  nach  Süden  zu  den  Sueben  zurückgewichen. 

Nun  untersuchen  wir  noch  die  betr.  der  Chatten  und  Sueben  über- 
lieferten Sitten-  und  Gewohnheitsschilderungen,  bezw.  die  sachlichen 
Unterschiede,  welche  namentlich  nach  Tacitus  Bericht  zwischen  Sueben 
und  Chatten  bestanden.  Die  Sueben  sind  nach  Tacitus  wie  nach  Cä- 
sar gute  Reiter,  und  die  Chatten  nach  Tacitus  vorzugsweise  Fussgän- 
ger,  wie  das  ihr  Wohnen  in  den  Waldbergen  mit  sich  brachte,  wäh- 
rend den  aus  der  Ebene  kommenden  Sueben  die  Reiterei  näher  lag.  Von 
der  Kriegskunst  der  Chatten  macht  Tacitus  German.  31  eine  Beschrei- 
bung, welche  sie  in  einem  besonders  vorgerückten  Stadium  erscheinen 
lässt.  Sie  wählen  sich  Offiziere,  hören  auf  deren  Commando,  kennen 
Marschiren  in  Zügen,  verstehen  es,  passende  Gelegenheiten  zu  benutzen, 
den  Angriff  auf  eine  günstige  Zeit  zu  verschieben,  den  Tag  einzuthei- 
len.  Nachts  sich  zu  verschanzen,  mehr  Gewicht  auf  die  Führer  als  auf 


108  Chatten  und  Hessen. 

das  Heer  zu  legen.  Omne  robur  in  pedite,  quem  supra  arma  ferra- 
mentis  quoque  et  copiis  onerant,  ganz  wie  es  die  Römer  machen.  Die 
Chatten  zogen  in  den  Krieg,  rühmt  Taritus ,  nicht  wie  die  andern 
Völkerstämme  in  Scharmützel.  Den  Gegensatz  zur  Kampfesart  der- 
selben schildert  Tacitus  Annal.  II,  14  non  loricam  Germano,  non  ga- 
leam,  ne  scuta  quidera  ferro  nervove  firmata  ....  primam  utcunque 
aciem  hastatam ;  caeteris  praeusta  aut  brevia  tela  .  .  .  sine  pudore  fla- 
gitii  sine  cura  ducum  abire,  fugere.  Den  Sueben  freilich  rühmt  Taci- 
tus auch  nach :  „Freilich  ist  es  eine  Eigenthümlichkeit  der  Reiter- 
kräfte, schnell  den  Sieg  zu  bereiten  und  schnell  zu  weichen  (wie  die 
Nomadenstämme  es  machten);"  aber,  Avendet  er  selbst  ein,  wie  die 
Schnelligkeit  neben  der  Flucht  und  Furcht  wohnt,  so  steht  die  zau- 
dernde Langsamkeit  der  Beharrlichkeit  nahe. 

Wie  nun  Cäsar  de  b.  Gall.  IV ,  2  von  den  Sueben  ihre  Stärke 
in  der  Reiterei  rühmt,  so  jedoch,  dass  sie  auf  eingebornen ,  schlechten 
und  missgestalteten  Rossen  ritten,  die  nur  gut  eingeübt  seien ,  so  ent- 
spricht das  ihrem  damals  vorherrschenden  Nomadenleben ,  ihrer  Nach- 
barschaft mit  slavischen  Stämmen  und  ihrer  damaligen  Agrarverfas- 
sung,  welche  selbst  nach  Cäsars  Schilderung  1.  1.  IV,  1  mit  der  sla- 
vischen, grossrussischen,  serbischen  u.  s.  w.  übereinstimmt:  Sed  pri- 
vati  ac  separat!  agri  apud  eos  nihil  est  neque  longius  anno  remanere 
uno  in  loco  incolendi  causa  licet.  Neque  multura  frumento,  sed  maxi- 
mam  partem  lacte  atque  pecore  vivunt  multumque  sunt  in  venationi- 
bus  etc.  Hierzu  sagt  v.  Haxthausen,  die  ländliche  Verfassung  Russ- 
lands, Leipzig  1866,  Brockhaus,  S.  416,  Anmerk. :  „Man  glaube  übri- 
gens nicht,  dass  diese  Ackerverfassung  bloss  den  Russen  (die  Russen 
vom  Stamme  Ros  stammen  aus  Schweden,  dem  alten  Suebenlande  des 
Tacitus,  Anm.  d.  Verf.)  eigenthümlich  ist ,  sie  bestand  auch  bei  den 
Germanen.  Cäsar  beschreibt  sie  ganz  deutlich,  aber  was  mehr  ist, 
sie  hat  noch  bis  in  die  neuesten  Zeiten  in  einzelnen  Theilen  Deutsch- 
lands bestanden.  Ich  fand  noch  1834  auf  dem  Hochwakle  von  Trier 
die  sogenannten  Geheberschaftsgemeinden,  wo  alle  1 3  Jahre  aller  Grund 
und  Boden  von  Neuem  unter  alle  Gemeindeglieder  vertheilt  ward  etc.  " 
Diesen  Zustand  der  Agrarverfassung  bei  den  Sueben  scheint  auch  Ta- 
citus im  Auge  gehabt  zu  Ihaben ,  wenn  er  Germania  c.  26  sagt:  Die 
Aeeker  werden  nach  der  Zahl  der  Bebauer  von  Allen  insgesammt  wech- 
selsweise besetzt;  und  sie  theilen  dieselben  dann  unter  sich  je  nach  der 
Würde,     Die  Leichtigkeit  der  Theilung  wird  durch  die  weite  Ausdeh- 


Chatten  und  Hessen.  109 

nung  der  Felder  bedingt.     Sie  wechseln   die  Gefilde  alle  Jahr  und  im- 
mer ist  dann  noch  Land  übrig.     Hiernach  sehen  wir  selbst  zu  Tacitus 
Zeit  noch  nomadenhafte  Gewohnheiten   bei  den   Sueben   vor  uns     und 
es  ist   bezeichnend   für    die  vorher  geschilderten   agrarischen  Zustände 
der  eigentlichen   Germanen,  wenn  Tacit.  Germ.  16  sagt:  „Es  ist  hin- 
länglich bekannt,  dass  die  Völker  der  Germanen   keine  Städte  bewoh- 
nen, ja  dass  sie  nicht    einmal   untereinander  verbundene  Sitze  dulden. 
Sie  bauen  sich  getrennt  und  verstreut,  wo  eine  Quelle,   ein  Feld  oder 
ein  Hain  ihnen  gefällt,  an,      Sie  errichten  Weiler,   nicht   nach  unserer 
Sitte   durch   aneinander  gehängte    und   verbundene   Gebäude,    sondern 
jeder  umgiebt  sein  Haus  mit  einem  leeren  Räume,   entweder  als  Mittel 
gegen  Feuersgefahr  oder   aus   Unkenntniss   anderer   Bauart."      Justus 
Moser  verweist  schon  in   seiner  Osnabrück.  Geschichte  auf  diese  auf 
altsächsische  Art  der  Niederlassung  hinweisende  germanische  Sitte  im 
Gegensatz  zu  der  im  Süden   noch  gewöhnlicheren  nomadenhaften  Sitte 
der  Sueben.      Dass    die  Chatten  hierin   dem   alten  sächsischen  System 
näher  gestanden  haben,  als  dem  suebischen,  ergiebt  sich  aus  dem  heute 
noch  erkennbaren  Vorherrschen  der  Anlagen  von  Einzelsitzen  in  ihrem 
Lande.      Ich  habe  an  einem  andern  Orte*  ausgeführt,    wie  in  ganz 
Hessen   die   Ortsnamenbildung  auf  —   Hausen    den    bedeutendsten 
Prozentsatz  bildet;  für  Niederhessen  allein  ist  der  Satz  noch   viel  be- 
deutender:   zu  verweisen  ist    hier  auch  noch   auf  Endemann's  Vortrag 
im  Januarheft   1870  der  Zeitschrift  für  Preuss.  Gesch.  und  Landes- 
kunde,  S.    7,  wo  er  das   eine  System   der   Einzelhöfe  als   u.  A. 
auch    besonders    in   Niederhessen   verbreitet    angiebt,    womit   nur 
nicht  gut  zu  reimen  ist,    dass  er   S.  9  kurz  darauf  das  andere  System 
der  Dorfverfassung  durchweg  als  in  Althessen  herrschend  auffuhrt, 
worin  sich  Hessen  von  Niedersachsen  geschieden.      Es  ist  auch  nicht 
gerechtfertigt,   dass   Endemann  ohne   Weiteres  die  Chatten  zu  Sueben 
macht,    da   die  auch   von  ihm  als  ursprünglich  angenommene  Mark- 
verfassung   bei  den  Westfalen,   also  den  Niedersachsen,  so  alt  ist, 
als  die  Einzelhofverfassung.    Beide  decken  sich  gerade ;  wie  denn  auch 
wieder  die  Dorfverfassung  in  Niedersachsen  anzutreffen  ist,  wo  die  ber- 
gige Oertlichkeit  oder  die  Nothwendigkeit,  hinter  Dorfraauern  vor  dem 
Fehdewesen  Schutz  zu  suchen,   die  Zusammensiedlung  zu  Dörfern  er- 


*  Etymologische   Spaziergänge  durch  Hessen;    Zeitschrift    des  Vereins 
rur  hessische  (iesch.  und  Landeskunde.     Neue  Folge,  Bd.  II,   S.  87. 


jj(j  Chatten  und  Hessen. 

zwangen  hat.  So  kommen  Vlietberge  im  Holländischen,  Heuberge  im 
Eider°tädtischen ,  die  trup ,  dorps,  terpen  u.  s.  w.  gerade  so  gut  im 
niedersächsischen  Tiefland  wie  im  Hochland  vor;  die  Terpen  im 
Meergebiet  sind  sogar  so  viel  als  die  Houks  oder  Wurts,  Warpen  oder 
Wurden  im  Chauken-  und  Friesenlande,  welche  künstlich  erhöhte  Erd- 
aufwürfe sind ,  auf  denen  die  Höfe  sich  vor  der  Meeresfluth  des  Tief- 
landes schützen.  (Kampen,  Gesch.  d.  Niederlande,  I,  6  ,  Terpen  oder 
Vlietberge,  wo  sie  ihre  gemeinschaftlichen  Zufluchtsörter  fanden,  welche 
davon  den  Namen  dorp  (Dorf)  erhielten.)  Also  suebisch  ist  die  Mark- 
oder Dorfverfassung  ebenso  wenig  ausschliesslich,  wie  etwa  die  eine 
niedersächsisch;  sie  haben  sich  auseinander  oder  ursprünglich  entwi- 
ckelt, je  nach  gegebenen  Verhältnissen  im  hohen  Norden  wie  im  Sü- 
den ;  so  ist  auch  aus  dem  Vorkommniss  der  Dorfverfassung  bei  den 
Chatten  kein  Schluss  auf  ihr  Suebenthum  zu  machen;  die  Nieder- 
hessen, also  die  ursprünglichen  Chatten,  hatten  aber  vorzugsweise  das 
niedersächsische  Einzelhofsystem. 

Sie  unterschieden  sich  auch  in  einzelnen  Sittenzügen  von  den  Sue- 
ben, welche  letztere  Tacitus  etwas  wilder  in  ihrem  Aeusseren  schildert, 
als  die  Chatten  sich  darstellten.    Germ.  38  sagt  er :  „Besonders  eigen 
ist  es  diesem  Stamme  (genti),  das  Haar  in  einem  Knoten  zusammenzu- 
binden.     So    unterscheiden    sich    die    Sueben    von    den    übrigen 
Germanen   (unter  welchen  letzteren   er  auch  die  Chatten  aufgeführt 
hatte)  und  die  Freien  unter  den  Sueben  von  den  Sklaven.   Bei  andern 
Stämmen  ist,  sei  es  durch  irgend  eine  Verwandtschaft  mit  den  Sueben 
oder,  was  oft  geschieht,  in  Folge  Nachahmung,  diese  Sitte  wohl,   aber 
selten,  und  nur  bei  der  Jugend  zu  finden ;    bei  den  Sueben  aber  kämmt 
man  bis   ins    graue  Alter  das  starrende  Haar  rückwärts    und   bindet 
es  oft  in   einen  einzigen  Scheitelknoten.     Die  Vornehmen  haben  die- 
sen  auch  wohl  mehr  geschmückt;  das   ist  ihre  Sorge  für  Schönheit, 
aber  eine  unschuldige,  denn    weder  um  zu   lieben   noch   um  Liebe  zu 
erregen  schmücken  sie  sich,  sondern  kämmen  sich  eher  zu  einer  beson- 
dern Höhe  und  zum  Schrecken,   wenn  sie  in  den  Krieg  ziehen  wollen, 
für  die  Augen  ihrer  Feinde  auf."     Das  ist,   wie  schon  Wenck,   Hess. 
Landesgesch.  H,  p.    108,  ganz  richtig  vergleicht,   als    wenn  man  die 
Irokesen  oder  irgend  einen  andern  Indianerstamm  schildern  hört.     An 
die  Sitten  der  Indianer  erinnern  die  Sueben  sehr  und  die  Aehnlichkeit 
wird  noch  dringender,  wenn  man  bei  Amraian.  Marcellin.  XXI,  cp.  2, 
also  noch  im   4.  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung  von  den  Alanen 


Chatten  und  Hessen.  111 

liest,  dass  sie  den  Erschlagenen  die  Kopfhaut  abzogen  und  ihren  Pfer- 
den als  Schmuck  anhingen,  wie  die  Indianer  die  Skalpe  benutzen.  Und 
zwar  werden  auch  die  Alanen  geschildert  als  Germanen,  von  langem 
Wüchse,  schöner  Gestalt  mit  gelbem  Haar,  den  Feinden  fürchterlich 
durch  den  zornigen  Blick  ihrer  Augen.  *  Eine  andere  Schilderung 
von  Sueben  erinnert  an  die  Kanoefahrten  und  das  persönliche  Gebah- 
ren  von  Indianern  bezw.  deren  Häuptlingen.  Vellej.  Patercul.  erzählt 
II,  107:  Als  wir  das  diesseitige  Ufer  des  vorgenannten  Flusses  (der 
Elbe)  mit  unsrem  Lager  besetzt  hielten  und  das  jenseitige  Ufer  von 
der  bewaffneten  Mannschaft  der  Feinde  (Semnonen  und  nach  Tacitus 
Germ.  39  doch  auch  Sueben) ,  welche  auf  jede  Bewegung  unserer 
Schiffe  sofort  zurückflohen,  blitzte,  bestieg  einer  von  den  Barbaren,  von 
vorgeschrittenem  Alter,  ein  körperlich  hervorragender  Mann,  eine  aus 
einem  Baumstamm  gehöhlte  Wanne,  wie  es  bei  ihnen  Sitte  ist,  und 
kam,  allein  jenes  Art  Fahrzeug  lenkend ,  bis  in  die  Mitte  des  Flusses ; 
er  erbat  sich,  es  möchte  ihm  erlaubt  sein,  ohne  Gefahr  an  jenem  Ufer, 
das  wir  mit  unsern  Waffen  besetzt  hielten,  zu  landen  und  den  Cäsar 
zu  sehen.  Seine  Bitte  ward  ihm  gewährt.  Dann  sprach  er,  nachdem 
er  den  Kahn  gelandet  und  lange  schweigsam  den  Cäsar  betrachtet 
hatte:  „Unsere  Jugend  tobt,  die,  da  sie  doch  Euren  Wink  in  Eurer 
Abwesenheit  ehrt,  wenn  ihr  da  seid,  lieber  Eure  Waffen  fürchtet,  als 
dass  sie  Treue  hält.  Aber  ich  habe  mit  Deiner  Wohlthat  und  Er- 
laubniss,  o  Cäsar,  die  Götter,  von  denen  ich  vorher  hörte,  heute  gese- 
hen, und  ich  habe  mir  keinen  glücklicheren  Tag  meines  Lebens  ge- 
wünscht und  gedacht. "  Nachdem  er  es  noch  erlangt  hatte,  dass  er  je- 
nem die  Hand  anrühren  durfte,  kehrte  er  in  sein  Schifflein,  unverwandt 
auf  den  Cäsar  rurückblickend,  zurück  und  landete  wieder  am  Ufer 
der  Seinigen.  So  hatten  also  die  suebischen  Semnonen  an  der  Elbe, 
die  Gegenwohner  der  Hermunduren ,  auch  die  Kanoefahrten  der 
Indianer.  Von  diesen  haben  sich  die  Germanen  freilich  gründlich 
dadurch  unterschieden,  dass  sie  sich  so  ausgezeichnet  für  den  sesshaf- 
ten  Ackerbau  eigneten,  dessen  Uebung  sie  übrigens  schon  aus  dem 
Osten  mitbrachten  und  wahrscheinlich  auf  der  langen  Wanderung  mehr 


*  So  sagt  auch  DIodor.  Sicul.,  ein  Zeitgenosse  Cäsars,  V,  28,  von  den 
Galliern  zu  beiden  Seiten  des  Rheins:  „Den  gefallenen  Gegnern  nehmen  sie 
die  Köpfe  und  hängen  sie  an  die  Hälse  ihrer  Pferde."  Unter  diesen  Gal- 
liern (KsXtcov  des  Dio  Cass.)  waren  auch  die  german,  Sueben,  mit  weisser, 
durchsichtiger  Haut  und  goldgelbem  Haar. 


^^2  Cbatten  und  Hessen. 

oder  wenio-er  ausser  üebung  hatten  kommen  lassen.  So  erklärt  sich 
am  besten  auch  jene  Stelle  bei  Cäsar  de  b.  Gall.  IV,  2  ,  wo  Ariovist 
erzählt  dass  er  mit  seinen  Eeitern  seit  14  Jahren  nicht  vom  Kriegs- 
pfad und  von  den  Rossen  gekommen  sei. 

Viel  sesshaftere  Anlagen  scheinen  bereits  die  Chatten  zu  haben. 
Von  ihrem  Haarschmuck  sagt  im    Gegensatz  zu  dem  der  Sueben  Taci- 
tus  Germ.  31:   „Bei  den  Chatten  herrscht  die  übereinstimmende  Sitte, 
so  wie  sie  erwachsen  sind,   Haar  und  Bart  lang  wachsen  zu   lassen, 
und  bevor  ein  Feind  getödtet  ist,  diesen  angelobten  und  der  Tapferkeit 
geschuldeten   Gesichtsschmuck  nicht  abzulegen.     Erst  über  Blut  und 
Beute  enthüllen  sie  die  Stirn  (die  Sueben  also  kämmten  die  Haare  zu 
einem  Knoten  zurück)  und  glauben  dann  erst  den  Preis  für  ihre  Ge- 
burt bezahlt  und  sich  des  Vaterlandes  und  ihrer  Eltern  würdig  gemacht 
zu  haben."     An  diese   Sitte    erinnert  auch   die  Erzählung  des  Tacitus 
Hist.  IV,  61,  von  Claudius  Civilis,  dem  Führer  der  Bataver,   welche 
ja  aus  dem  Stamme  der  Chatten  von  Tacitus  hergeleitet  werden.    Er 
Hess,  einem  Gelübde  zufolge,  sein  Haupthaar  wachsen,  bis  er  eine  hin- 
reichende Anzahl  Feinde  getödtet  hatte.    Das  ist  ganz  chattisch.    Dass 
Tacitus  Germ.  29  von  dem  chattischen  Ursprung  der  Bataver  berich- 
tet, ist  so  plausibel,   wie  nur  etwas  und  wird  bestätigt   dadurch,  dass 
er  es  an   zwei   verschiedenen  Stellen  seiner  Werke   betont  und  zwar 
Hist.  IV,  12  sagt:   seditione  domestica  pulsi  (Batavi  pars  Chattorum) 
extrema  Gallicae   orae  vacua  cultoribus  simulque  insulam  Batavam  a 
se  dictam  occupavere ,  quam  mare  Oceanus  in  fronte,    Rhenus  amnis 
tergum  ac  latera  circumluit.     Hierin  ist  nur  falsch ,   dass  die  Bataver 
der  Insel   den  Namen    gegeben;  die  Insel  hat    den    sie    besiedelnden 
f    Chatten  den  Namen  gegeben;    denn  noch  heute  heisst  die  Insel  zwi- 
schen Waal  und  Rhein  die  Batuwa  und  ihr  Name  entspringt  aus  der 
Zusammensetzung  von  dem  holländischen  bat  — .  gut,  fruchtbar  von  ba- 
ten, fördern,  helfen  (vgl.  Kampen,  Geschichte  der  Niederlande,  Heeren 
Ukertsch.  Sammlung  1831,  I,  p.  3)*    und  ist  die  gut  baubare  Aue  im 
Gegensatz  zu  Meeruwe  oder  gar  Veluwe,  welche  ihr  anliegt.     In  Vel 
oder  Fei  steckt  der  Begriff  Fels  wie  in  dem  schwedischen  Worte  Fiel- 

*  Jetzt  spaltet  er  (der  Rhein)  sich  in  zwei  Arme,  i^ie  Waal  und  den 
Rhein,  welche  die  reiche  fruchtbare  Landschaft  Batuwe  (Bat-aue)  umfassen. 
Im  Norden  erhebt  sich  der  Boden  wieder  in  malerischen  Höhen,  hinter 
welchen  ein  dürrer  Sandboden,  die  Fortsetzung  der  Haideländer,  die  sich 
von  der  Spitze  von  Jütland  bis  an  den  Ausfluss  der  Scheide  erstrecken, 
den  Namen  Vel-uwe  (schlechte  Aue)  trägt. 


Chatten  und  Hessen.  113 

fräs  der  Felsbewohner,  wie  denn  auch  heute  noch  der  felsige  sandige 
Boden  der  Veliiwe  in  dem  Grade  wenig  fruchtbar,  wie  der  Marschbo- 
den der  Batuwa  fruchtbar  ist.  Man  vergleiche  hierzu  die  Ortsnaraen- 
form  Velmar  bei  Cassel  zu  dem  nahe  liegenden  Weimar,  das  eine  ist 
der  schlechte  Moor,  das  andere  das  weiche  ackerkrunu-eiche.  Wir  ha- 
ben dann  auch  den  Beweis  dafür,  dass  die  Insel  Batuwa  so  hiess,  ehe 
von  Chatten  die  Rede  ist,  an  der  Stelle  bei  Cäs.  d,  bell.  Gall.  IV,  10, 
wo  Cäsar  sagt,  dass  die  aus  dem  Wasgau  (Vosegus)  kommende  Maas 
nach  Aufnahme  eines  Theiles  vom  Rheine,  der  Vacalus  (Waal)  genannt 
werde,  die  Insel  der  Batavi  bewirke.  Wir  haben  hier  zwei  Beispiele 
zugleich,  an  denen  wir  sehen ,  wie  die  Namen ,  welche  die  römischen 
Geschichtsschreiber  aus  Germanien  und  Gallien  anführen ,  germani- 
schen Ursprungs  sind.  Vosegus  ist  nichts  als  die  lateinisirte  Form  vom 
altdeutschen  Wasgau  und  Batavi  die  latinisirte  Form  des  altdeutschen 
Wortes  Batuwer.  Von  der  Landschaft  oder  einem  Wohnmittelpunkte 
rühren  auch  die  meisten  Volksnamen  her,  wie  wir  weiter  unten  sehen 
werden.  Für  die  Auswanderung  der  Chatten  nach  Batavien  sprechen 
aber  die  natürlichen  Verhältnisse.  Schon  Wenck  a.  a.  0.  II,  S.  11 3, 
sagt:  „Die  Kriege  der  alten  Deutschen  waren,  so  oft  sie  nicht  gerade  in 
ihrem  Lande  angegriffen  wurden,  doch  immer  nur  eine  Art  von  Streif- 
zügen; bei  dem  Allen  (nämlich  wenn  man  auch  an  Heere  der  Deut- 
schen denken  konnte)  war  die  Bevölkerung  immer  noch  gross  genug, 
um  sich  wundern  zu  können,  wie  die  deutschen  Wildnisse  für  ihre  Er- 
nährung hinreichten  .  .  .  die  einfache  Lebensart  macht's  allein  nicht 
aus;  man  kann  vielmehr  weit  richtiger  sagen,  das  sie  wirklich  nicht 
hinreichten,  und  dass  bei  den  Chatten  und  andern  deutschen  Völkern 
das  Plündern  feindlicher  Provinzen  ,  noch  mehr  aber  die  häufige  Aus- 
sendung von  Colonien,  nicht  blosse  Raubgier  oder  Wanderungssucht, 
sondern  ein  nothwendiges  Uebel  waren,  das  den  Plunger  oder  die 
Furcht  davor  zur  ersten  Quelle  hatte."  Es  geht  durch  die  ältesten  Ge- 
schichtsschreiber das  Motiv  für  die  Auswanderungen  der  Volksstämme, 
dass  die  seitherigen  Wohnsitze  nach  der  damaligen  Kunst,  den  Boden 
auszunutzen,  für  die  üeberschüsse  der  Bevölkerung  nicht  ausgereicht 
oder  zu  üppig  gemacht  hätten ;  so  berührt  dieses  Thema ,  um  nicht  zu 
weit  zu  greifen,  Thukydides  in  der  Einleitung  zu  seinem  Geschichts- 
werk und  ebenso  Livius  bei  Gelegenheit  der  Auswanderung  der  Bojer 
aus  Gallien  theils  nach  der  Donau ,  theils  nach  dem  Po  (abundans 
multitido  Liv.V,  33,  34).     Natürlich  wirkte,  wie  Livius  auch  angiebt, 

Archiv  f.  n.  Sprachen.   XL.VIU.  S 


114  Chatten  und  Hessen. 

die  Anlockung  cultivirterer  Landschaften  mit,  und  zu  der  Germanen 
Zeiten  namenth'ch  die  Cultur  der  römischen  und  römisch -gallischen 
Landschaften,  weil  die  „Barbaren"  lieber  in  ein  fertiges  Werk  als  Ei- 
genthümer  hineintraten,  als  sich  mühsamer  Urbarmachung  noch  wüster 
Striche  unterzogen. 

In  solche  aber  müssen  die  Chatten  eingezogen  sein,  als  sie  die  Li- 
sel  Batuwa  besetzten,  wie  auch  von  der  Uebersiedlung  der  Sigambrer 
erzählt  wird,  Strabo  IV,  3:  Zuletzt  kommen  die  Menapier  an  beiden 
Seiten  der  Mündung  (des  Rheins) ,  wo  sie  ein  sumplSges  und  waldiges 
Land  bewohnen.  Der  Wald  ist  zwar  nicht  hoch  (kein  Hochwald), 
aber  dicht  und  dornig.  Dort  sind  die  Sigambrer  aus  Germanien  angesie- 
delt. Nach  Sueton.  Oct.  21,  Tiberius  Nero  9,  Eutrop  VII,  9,  versetzte 
Tiberius  nämlich  40,000  Sigambern  nach  dem  Menapierlande ;  noch 
heute  findet  man  ihrem  Volksnamen  entsprechende  Ortsnamen  in  jener 
Gegend.  Auch  stammt  wohl  der  Frankenkönig  Chlodwig,  den  der 
taufende  Bischof  mit  Sicamber  anredet,  aus  dieser  Sucambern-Colonie. 
Aehnlich  aber  werden  die  Chatten  in  die  Batuwe  gekommen  sein,  als 
Ansiedler  einer  von  Natur  fruchtbaren,  aber  wegen  ihrer  sumpfigen 
Beschaffenheit  nicht  allzu  sehr  gesuchten  Landschaft;  Kampen,  siehe 
oben,  nimmt  an,  dass  sie  nach  dem  Vorüberbrauseu  des  Cimbern-  und 
Teutonen-Sturmes  in  die  menschenleer  gewordenen  Gegenden  gewan- 
dert seien.  Natürlich  war  es,  dass  die  Chatten  leicht  Mangel  in  ihren 
Bergen  fanden ,  wie  die  Hessen  noch  heutigen  Tages  sehr  stark,  na- 
mentlich periodisch  ins  Bergische,  ins  Münsterland  und  auch  nach  dem 
Holländischen  auswandern.  Dass  sie  aber  ihren  Zug  ins  Niederland 
haben,  ist  ein  deutlicher  Fingerzeig  dafür,  dass  sie  ursprünglich  aus 
dem  Niederlande  kamen. 

Endlich  führen  wir  für  die  anzunehmende  grössere  Wildheit  der 
Sueben  noch  an,  dass  von  Ariovist  erzählt  wird,  er  habe  zwei  Frauen 
gehabt,  Caes.  de  b.  G.  1,  53,  eine  suebische  und  eine  norische,  Schwe- 
ster des  Königs  Vocio.  Sonst  ist  von  den  Germanen  immer  die  Monoga- 
mie hervorgehoben.  Dass  aber  Ariovist  auch  eine  norische  Prinzessin 
zur  Frau  hatte,  beweist,  wie  weit  östlich  er  hergewandert  kam,  und  dass 
Tacitus  Germ.  44  die  Gothen  und  Suionen  in  Schweden  auch  noch 
zu  den  Sueben  rechnet,  und  Adam  von  Bremen  in  seiner  Hamburg. 
Kirchengeschichte  IV,  21  von  den  Schweden  sagt:  „Nur  in  dem  Ver- 
hältniss  zu  den  Weibern  kennen  sie  kein  Maass ;  Jeder  hat  nach  der 
Grösse  seines  Vermögens  deren  zwei  oder  drei   oder  mehrere  zugleich, 


Chatten  und  Hessen.  H5 

die  Reichen  und  Fürsten  aber  unzählige  u.  s.  w.,"  beweist  weiter,  wie 
wenig  die  Sueben  des  Ariovist  mit  den  Chatten  zusammenzubringen  sind. 

Diese  Ausführung  hat  sich  nun  etwas  weiter  ausgedehnt,  als  auf 
den  ersten  Anblick  angemessen  erscheinen  möchte,  allein  es  gehört 
mit  in  den  ganzen  hier  eingehaltenen  Beweisgang,  möglichst  festzu- 
stellen, dass  die  Chatten  kein  von  Süden  nach  dem  Norden  bewander- 
ter germanischer  Volksstamm  sind  und  vielmehr  zu  den  nordwest- 
deutschen Germanen  gerechnet  werden  müssen.  Es  kommt  auch  gar 
nichts  dabei  heraus,  wenn  man  eigensinnig  an  dem  Suebenthum  fest- 
hält ;  es  liegt  weder  etwas  Schmeichelhaftes  noch  für  das  Verständniss 
irgend  einer  Erscheinung  Beweiskräftiges  in  der  Identifizirung  der 
Chatten  mit  den  Sueben  ,  so  dass  man  der  Ueberlieferung  der  Alten 
einen  Zwang  anthun  müsste. 

Es  kommt  aber  für  die  Herleitung  des  Namens  Hessen  aus  dem 
Namen  Chatten  ausserordentlich  viel  darauf  an ,  den  Zusammenhang 
der  Chatten  mit  den  Cheruskern  festzuhalten. 

ßecapituliren  wir  also  die  seither  gewonnenen  Ergebnisse,  so  ha- 
ben wir  festgestellt,  1)  dass  die  Ueberlieferung  der  alten  Schriftsteller 
dahin  geht,  es  sei  der  Mittelpunkt  der  alten  Chatten  im  heutigen  Nie- 
derhessen, um  Gudensberg  und  Maden  zu  suchen,  2)  dass  die  Land- 
schaft um  ]\Iaden  sich  ganz  ausserordentlich  zu  einem  altheidnischen 
Mitt%unkt  eignet,  3)  dass  die  Chatten  keine  Sueben,  sondern  eher  ein 
mit  den  Cheruskern  in  der  niederdeutschen  Ebene  verwandter  Stamm 
gewesen  sind.  Kommen  wir  nun  zu  den  von  den  Germanisten  aus 
sprachlichen  Gründen,  namentlich  dem  Gesetz  der  Lautverschiebung 
hergeleiteten  Einwänden  gegen  die  Identität  der  Namenformen  Chatten 
und  Hessen. 

5. 

Das   Gewicht   der    gegen    die    Identität   der    Namen 
Chatten   und    Hes  s  en  namentlich   aus   dem  Laut- 
verschiebungsgesetz erhobenen   Einwände. 

Erörtern  wir  auch  hier  wieder  zuerst  Thatsachen!  Allgemein 
zugestanden  ist,  dass  die  lateinische  Sprache  kein  z  kennt.  So 
schrieb  der  päpstliche  Secretair,  welcher  Bonifacius  das  Empfeh- 
lungsschreiben an  die  Grossen  der  verschiedenen  Landschaften  in 
Germanien  ausfertigte,   nach  dem   Gehör  Winfried's  mit  lateinischen 

8* 


116  Chatten  und  Hessen. 

Lettern  Hessi,  dagegen  der  Mönch,  welcher  die  päpstliche  Urkunde  für 
Hersfeld  vom  Jahre  774  aufsetzte  (vgl.  oben)  lateinisch  Hassi.  So 
haben  alle  die  lateinisch  geschriebeneu  Urkunden  und  andere,  deutsche 
haben  wir  bis  zum  Ende  des  13,  Jahrhunderts  nicht,  Hassi,  Hassia,  Hessi 
oder  Hessen.  Seit  wann  dagegen  kennen  wir  diejenige  Rechtschrei- 
bung, welche  das  z  und  zz  in  die  deutsche  Sprache  brachte  ?  Noch 
der  842  gesprochene  Eidschwur  Karls  des  Kahlen  hat  die  Schreibung 
gewisci,  wo  die  regelrechte  wäre  gewizzi.  Ueberhaupt  war  auch  in 
diesen  und  in  andern  Punkten  die  Rechtschreibung  der  Gelehrten  des 
8.  und  9.  Jahrhunderts  noch  sehr  verschieden:  pist  neben  bist;  cot 
neben  got(t);  thaz  neben  daz;  paum  u.  bäum  u.  s.  w.  Wenn  aber 
die  Orthographie ,  welche  von  den  damaligen  Gelehrten-Schulen  zu 
St.  Gallen,  Weissenburg,  Wessobrunn,  Fulda,  Hersfeld  ausging,  für 
Hessen  namentlich  doch  erst  nach  der  Gründung  dieser  Schulen  in  Fulda 
nnd  Hersfeld,  seit  Bonifacius  Einwirken  in  diesen  Gegenden ,  maassge- 
bend  werden  konnte,  so  war  ihre  Anwendung  sicherlich  nicht  voraus- 
zusetzen vor  oder  gleichzeitig  mit  Bonifacius  Eintreten  als  Missionar. 
War  aber  einmal  für  die  Missionare  eine  Landschaft  in  einer  maassge- 
benden  Urkunde  in  ihrem  Namen  festgestellt,  was  konnten  sie  noch 
für  einen  Grund  haben,  den  Namen  anders  zu  gestalten  ?  Gewiss  kei- 
nen, wie  wir  ja  auch  heute  noch  die  Eigennamen  nach  ihrer  einmal 
festgestellten  Form,  nicht  nach  den  Regeln  der  Rechtschreibung,  schrift- 
lich wiedergeben.  Hiernach  einmal  kann  nicht  wohl  ein  Einwand  daraus 
genommen  werden,  dass  Hassi  sich  keinmal  mit  Hazzi  geschrieben  findet. 
Das  wird  sich  aber  sofort  aus  einem  weiteren  Beispiel  ergeben. 

Ganz  abgesehen  für's  Erste  von  der  Frage,  ob  es  nöthig  sein 
wird,  für  die  etymologische  Herleitung  des  Namens  Hessen  aus  dem 
Namen  Chatten  auf  das  Gesetz  der  Lautverschiebung  zurückzukommen, 
betrachten  wir  einmal  einen  Eigennamen ,  in  welchem  die  Lautver- 
schiebung ähnliche  Erfordernisse  erheischt  und  ihr  die  historisch  ge- 
wordene Schreibung  doch  nicht  gerecht  geworden  ist,  den  Namen  der 
Landschaft  Nassau,  wie  doch  auch  Vilmar  den  Namen  in  seiner 
Hess.  Chronik  schreibt.  Obwohl  die  Etymologie  dieses  Namens  in 
höchst  natürlicher  Weise  auf  den  Begriff  Nasze  Au  zurückweist,  wird 
er  fast  durchgängig  in  allen  Urkunden  bis  zum  14.  Jahrhundert  nicht 
nach  dem  Gesetz  der  Lautverschiebung  Nazzau,  sondern  Nassau  wie 
Hessen  geschrieben.  Ja,  obwohl  ein  Anhänger  Vilmar's  in  der  Frage, 
dass  wegen  Mangels  der    Schreibung   Hazzi  Hessen   nicht  von  Chatti 


Chatten  und  Hessen.  117 

stamme  (H.  Pfister,  über  den  chattischen  und  hessischen  Namen,  Luck- 
hardt,  Cassel  1868,  S.  17  u.  43),  auf  die  richtige  Ableitung  des  Na- 
mens Naszau  kommt,  nimmt  er  doch  keinen  Anstoss  an  der  Schreibung 
Nassau.  Die  Etymologie  von  Nassau  aber,  die  wir  aufstellen,  ist  be- 
reits im  Antiquarius  der  Neckar-,  Main-,  Mosel-  und  Lahnströme,  von 
J.  H.  Diethelm,  II,  S.  780,  *  in  folgender  Argumentation  zu  lesen : 
Dass  ein  Graf  von  Laurenburg  auf  dem  Berge  (Stein-Nassau)  sich 
eine  Burg  erbaute,  und  es  Nassau  nannte ,  und  das  aus  der  Ursache, 
weil  der  Berg  umher  mit  lauter  naszen  Auen  und  Wiesen  um- 
geben gewesen,  wozu  hernach  der  Flecken  angelegt  wurde."  Die  in 
älteren  Zeiten  sicher  viel  mehr  als  jetzt  hervorgetretene  Nässe  der 
Oertlichkeit  ergiebt  sich  ja  schon  aus  der  Menge  von  Gesundbrunnen, 
die  hier  quellen.  Auch  an  Schloss  Nassau  entspringt  ein  Sauerbrun- 
nen. Zudem  liegt  Nassau  gegenüber  die  Landschaft  mit  dem  Namen 
Gudenau,  d.  h.  wohl  Gute  Au  im  Gegensatz  zu  der  ursprünglich  nicht 
baubaren  nassen  Au.** 

Trotzdem  wird  bereits  im  10.  Jahrhundert  der  Name  nicht  Nas- 
zau oder  Nazzau,  wie  doch  nach  den  Regeln  der  Lautverschiebung 
stehen  raüsste,  sondern  915  Cortem  Nassowe  (in  utroque  latere  flumi- 
nis  Logene  in  duobus  comitatibus  Sconenberg  et  Marvelis),  in  einer  Ur- 
kunde, in  welcher  Graf  Konrad  den  gen.  Hof  dem  Stifte  Weilburg 
schenkt,  geschrieben  und  wie  gesagt ,  so  lautet  es  fast  durchgängig  in 
allen  alten  Urkunden  bis  zum  14.  Jahrhundert.  Nur  einmal  in  einer 
Urkunde  vom  11.  Januar  1276,  kraft  welcher  Gerhard  von  Eppenstein, 
Graf  Eberhard  von  Katzenelnbogen  u.  A.  bezeugen ,  dass  Heinemann 
von  Katzenelnbogen  den  obern  Hof  von  Klingelbach  an  den  Abt 
Einolf  in  Bleidenstadt  verkauft  habe,  wird  als  einer  der  Zeugen  auch 
Adolphus  comes  de  Naszau***  (mit  dem  |]- Zeichen  geschrieben) 
aufgeführt.  Eine  Urkunde  von  1289  hat  aber  sofort  wieder  Adolphus 
de  Nassauwe  und  erst  im  Jahre  1314,  in  einer  deutschen  Urkunde 
vom  9.  October,  wird  eine  Grevin ,  Heinrichs  Dochter  von  Naszowe, 
ein  Gerlach  von  Naszowe,  wieder  in  dieser  Orthographie  des  Namens 


*  Frankfurt  a.  M.     Esslinger;    1781. 

**  Es  mag'  zur  Bestätigung  der  Erklärung  des  Namens  Nassau,  wie  'sie 
hier  aufgestellt  ist,  beiläufig  angeführt  werden,  dass  in  einem  für  den 
Schulunterricht  bestimmten  Buche,  F.  Hermes  „Unsere  Muttersprache," 
5.  Auflage,  1867,  Guttenberg,  BerHn,  S.  120,  ganz  selbstverständlich  der 
Name  Nassau  ebenfalls  auf  nasze  Au  zurückgeführt  wird. 

***  AVenck   H.  L.   I.  Urkundenbuch,  S.   42. 


118  Cbatten  und  Hessen. 

genannt.  Ja  unter  dem  19./28.  Febr.  1359*  wird  ein  Testament 
Graf  Emych's  von  Nassau  erwähnt,  worüber  Schultheis  und  Schöffen 
zu  Nürnberg  ein  Instrument  ausfertigen,  darin  herrscht  dann  durchge- 
hend die  Rechtschreibung  mit  zz  in  Heinrich  Grozz,  Schultaizz;  daz, 
Her  Emche  Graf  zu  N  a  z  z  a  w  ;  Eymiz  =  Ems  ,  alz  =  als  ,  unser 
Kastner  Ulrich  wol  waizz  (weiss),  di'uzzig  (dreissig) ,  dez  Geschätz, 
Gericht'z,  **  vor.  Auch  in  einer  Urkunde  vom  5.  Mai  1429  steht 
die  Schreibung  Naszawe  einzeln  zwischen  der  Schreibung  Nassau. 

Wie  nun  diese  Schreibung  sz  u.  zz  die  Etymologie  von  Nasze 
Au  (Nat  niederdeutsch;  natz  althochdeutsch;  nasz  neuhochdeutsch) 
bestätigt  und  befestigt ,  so  thut  aber  auch  die  zuerst  allein  vorkom- 
mende und  später  vorherrschend  bleibende  Schreibung  Nassau  dar, 
dass  dieselbe  keinen  Beweis  gegen  die  Etymologie  abgiebt  und  es  sich 
hier  ebenso  verhält  wie  mit  der  Schreibung  Hessen. 

Wendet  man  bei  dieser  ein,  dass  bei  derselben  gar  keine,  bei 
Nassau  doch  wenigstens  einige  Schreibungen  nach  dem  Gesetze  der 
Lautverschiebung  vorliegen,  so  ist  auch  dieser  Einwand  nichtig.  Denn 
etwa  gleichzeitig  mit  der  Schreibung  Naszau  findet  sich  auch  eine 
Schreibung  Heszen  in  einer  Urkunde  von  1303,***  wornach  Land- 
graf Heinrich  mit  Ritter  Johann  Ryetesel  Güter  und  Rechte  vertauscht 
und  in  der  es  heisst:  Wir  Heinrich  von  Gottes  Gnaden  Landgrave 
und  Herre  Heszenlandes  etc.  Der  Schreiber  schreibt  auch  Brunsz- 
lar  für  Brunslar,  besetzen  =  besessen,  ditz  =  diesz,  wiszentlich.  In 
einer  Urkunde  von  1305  f  heisst  es:  „Landgrave  Heyeriche  von 
Heszin"  und  finden  sich  die  Schreibungen:  ez,  gelazzin,  lazzin  (ge- 
lassen, lassen),  wazzere  für  Waszer,  dez ,  fluzit ,  dezhalb,  daz  =  das, 
vz  =  aus ,  vorbaz ,  genyzen  (genieszen) ,  Haszungen  für  Hasungen 
u.  s.  w.  In  einer  Urkunde  von  1311,  ff  nach  welcher  sich  Land- 
graf Otto  erbietet,  alle  Schulden  seines  Bruders ,  Bischof  Ludwig  zu 
Münster,  zu  bezahlen,  heisst  es :  Wir  Otto  etc.  Herre  Heszin  Landis, 
ferner   Bischovisz,   nochmals    Heszin,   gelazin  für  gelassen ,  daz  für 


*  Wenck  I.  U.,  S.  171.  **  Warum  schreibt  denn  Vilmar  (vgl.  s.  hess. 
Chronik,  S.  6)  nicht  Naszau  statt  Nassau  ?  Kremer  hat  sein  Buch  doch 
auch  Origenes  Nassoicae  betitelt. 

•**  Wenck,  H.  L.  II,  U.  S.  507  (Anhang").  Ja  in  dem  Extract  einer  "Ur- 
kunde von  1265,  Wenck,  S.  107,  heisst  es  bereits  Landttgrawe  Henrichen 
zu  Heszen e;  es  ist  nur  nicht  ersichtlich,  wann  dieser  Auszug  gemacht  ist 
und  wahrscheinlich,  dass  die  Urkunde  ursprünglich  in  lateinischer  Sprache 
abgefasst  war. 

t  Wenck,  S.  258.     tt  Wenck,  S.  270. 


Chatten  und  Hessen.  119 

das,  und  in  einer  Urkunde  von  1325,  Wenck  11,  U.  S.  299,  in  wel- 
cher Ulrich  von  Bickenbach  das  Urtheil  eines  zwischen  Erzbischof' 
Matthias  zu  Mainz  und  Landgraf  Otto  von  Hessen  wegen  der  Mainzi- 
schen Leben  des  verstorbenen  Landgrafen  Johann  niedergesetzten  Mann- 
geriehts  bekannt  macht,  kommt  die  Schreibung  Heszen  neben  ver- 
schiedenmals  genanntem  Naszow  vor,  ferner  die  Schreibung  wyszcn 
liir  weisen,  daz  =  das ,  vorbaz  (ferner) ,  Sloz  für  Schloss ,  latzet  für 
laszet,  Biszdums  u.  s.  w.  neben  andern  alterthümlichen  Ausdrücken, 
wie  erkobern  (erobern^?) ,  entphan.  So  findet  sich  die  Schreibung 
Heszen  noch  in  einer  ganzen  Reihe  von  Urkunden  neben  andern 
in  dasselbe  System  gehörenden  Schreibungen,  *  woraus  sich  unter 
allen  Umständen  des  Weitem  ergiebt,  dass  der  Mangel  der  Schreibung 
Häzzen  keinen  Beweis  gegen  die  Ableitung  des  Namens  Hessen  von 
Chatti ,  der  Lautverschiebung  wegen ,  liefern  kann ,  weil  eben  die 
Schreibung  schliesslich  nicht  mangelt.  So  wie  nämlich 
die  Orthographie  der  gelehrten  Theologen  von  St.  Gallen ,  Fulda 
u.  s.  w.  in  die  endlich  deutsch  gewordene  Sprache  der  Urkundenschrei- 
ber des  Mittelalters  einzudringen  begann ,  finden  wir  auch  sofort  das 
Bewusstsein  der  eigentlich  richtigen  Schreibung  auch  der  Eigennamen, 
Dabei  ist  aber  wohl  zu  beachten,  dass  die  Sprache  der 
Geschichtsschreiber  wie  der  Urkundenschreiber  sehr 
lange  lateinisch  geblieben  ist,  und  als  sie  deutsch  zu  Aver- 
den  anfing,  sich  diese  weitlich  und  praktisch  gesinnten  Herren  oflen- 
bar  ebenso  massig  um  die  regelrechte  Rechtschreibung  der  Theologen 
und  Dichter  bekümmerten,  wie  sich  heute  unsere  Geschichtsschreiber  und 
Diplomaten ,  überhaupt  die  amtliche  Regierungssprache ,  um  die 
Grimm'sche  Rechtschreibung  und  die  Schreibung  unserer  gelehrten 
Sprachverbesserer  überhaupt  Sorge  machen.  Es  ist  bei  wichtigen 
Geschichtsdarstellungen  und  Staatsakten  die  Orthographie  eben 
nicht  die  Hauptsache.** 

*  Urkunde  von  1334,  Wenck,  II,  S.  337,  deme  Landtgrebin  Heinriche 
von  Heszin.  Husz  =  Haus;  ez,  dez  ==  des.  —  v.  1350,  Wenck,  S.  357, 
wo  es  bei  fast  ganz  plattdeutscher  Mundart  des  Schreibers  heisst :  Hern 
Henrieke  Landgrafen  tho  Heszen;  sonst  noch  isz  =  ist,  desze  =  diese; 
laszen ;  weszen  =  sein.  —  v.  1359,  AVenck,  S.  399,  Landgrafe  zu  Heszne, 
dieszem  z::  diesem ,  uszgenommen ;  usz;  Masze.  —  v.  137S,  Wenck,  S.  455, 
Herman  Lantgrave  zu  Heszen  neben  Wiszem  =  Wissen ;  daz ,  diz  Briefes 
=  dieses  Briefes.  —  v.  1385,  Wenck,  485  (zwei  Urkunden),  v.  1398,  und 
wahrscheinlich  finden  sich  noch  mehr  Urkunden  dieser  Art. 

**  Per  Landfriedc    zu    Würzburg  1287    ist  der  Erste  in  deutscher 


120  Chatten  und  Hessen. 

Ohne  diese  Bemerkung  bleibt  uns  die  ganze  Geschichte  der  deut- 
schen Rechtschreibung  unklar  und  verführt  sie  uns  zu  ganz  von  dem 
We"-e  der  Wahrheit  leitenden  voreiligen  Schlüssen.  Man  darf  den 
"Wirrwarr  unsrer  deutschen  Rechtschreibung  *  namentlich  nicht  ausser 
Acht  lassen  bei  der  Anwendung  des  Laut  verschieb  ungsge- 
setzes,  auf  welches  wir  hier  ebenfalls  noch  einen  kritischen  Blick 
werfen  müssen. 

Vergleichen  wir  die  gewöhnliche  Aufstellung  des  Lautverschie- 
bungsgesetzes:  1)  Urverwandt  indogermanisch ,  griechisch  lateinisch, 
2)  gothisch,  3)  hochdeutsch: 

1)  b  p     bh  9        g  k  gh         d    t  dh  i? 

2)  p  f      b  k  h    g         t  th       d 

3)  ph,  f,  pf  fv  p  b  ch,  hh,  k    h  kg  zz  d  t 

mit  der  wirklichen  Wortforraentwicklung ,  so  finden  sich  sofort  so  viel 
Ausnahmen  —  es  unterblieb  im  Hochdeutschen  die  zweite  Lautver- 
schiebung des  p  und  b;  es  findet  sich  gothisch  b,  k,  g  nur  in  dem 
sogen.  Streng- Althochdeutschen  regelrecht  in  p ,  ch ,  k ,  verschoben, 
während  Gemein- Althochdeutsch ,  Mittel-  und  Neuhochdeutsch  dafür, 
besonders  im  Anlaut  b,  k,  g,  also  ebenfalls  die  Mutae  des  Gothischen 
behalten,  und  haben  die  letztern  nur  für  T-laute  und  b  die  zweite 
Lautverschiebung  im  Anlaut  durchgeführt  —  dass  das  erste  Gesetz 
fast  einem  zweiten  Platz  machen  muss. 

Dazu  kommt,  dass  jede  Sprache  in  sich  selbst  die  Lautverschie- 
bung durchmacht  und  dass  sich  entsprechende  Stufen  der  Verschiebung 
in  allen  Sprachen  gleich  wieder  finden.      Nehmen   wir  z.  B.  das  Grie- 


Sprache  und  sonst  noch  merkwürdig,  weil  er  zugleich  die  Andeutung  von 
Landständen  enthält:  „Was  auch  die  Fürsten  in  ihrem  Lande  mit  des  Lan- 
desherren Rate  setzent  und  machent  diesem  Landfrieden  zu  Besserunge  — 
das  müssen  sie  tun."  Pfeffing  Vitriar.  M.  I,  p.  163  u.  415.  Souchay  3,  63. 
*  In  dem  eben  erscheinenden  Glossar  der  Volksmundarten  von  Nord- 
und  Mittelfrankreich  von  J.  Baumgarten,  Coblenz  u.  Paris,  1870  sind  S.  9 
auch  die  verschiedenen  Rechtschreibungen  für  das  Französische  und  Eng- 
lische nach  Diez  und  Webster  angegeben  und  die  passende  Beobachtung 
gemacht,  dass  erst  mit  der  Ausbildung  der  Buchdruckei-ei  die  Schreibun- 
gen sich  mehr  und  mehr  fixirten.  1316  gab  Landgraf  Otto  von  Hessen 
den  Herrn  von  Schonenberg  partem  nostram  judicii  super  curiam  dictam 
Cathwinkel  (lag  unter  dem  ßastholze)  etc.  Landau  Wüstungen,  S.  22; 
1554  heisst  der  Ort  Katzenwinkel.  Streng  nach  dem  Gesetz  der_  Lautver- 
schiebung müsste  hier  Kadwinkel  stehen,  allein  die  Orthographie  jener  Zeit 
.schrieb  wie  sie  sprach,  ohne  Rücksicht  auf  Lautverschiebungsgesetze.  Der 
Niedersachse  sagte  Cat  und  schrieb  Kath.  Der  Hesse  sprach  und  schrieb 
Katze. 


Chatten  und  Hessen. 


121 


chische  nnd  zwar  erst  die  Zahnlaute   als  die  charakteristischesten  und 
auch  im  Deutschen  am  regelmässigsten  veränderten. 

Aeolisch    ^    wird   jonisch   d,  attisch  o    o&[^ij    oS^rj   oG/^oj-idfiev 
ia(JL£v ; 

Dorisch  Jsvg^  (lat.  deus),  attisch  Zsvg,  (auch  äolisch  u.  dorisch  ^öfu?), 
[ladöa,  „       [lä^a,  (Matte  in  Käsematte,    Mazzen, 

jüdisch  Osterbrot), 
ciQidtßog,  „       aQi'^tßog, 

bvoyov,  „       ^vyov,  latein.  jugum,  deutsch  Joch, 

umgekehrt  äolisch  ^a,  „       d(d, 

Cd^fog  sehr  göttlich  =;  Stdüsog. 
Jonier  und  Dorier  sprechen  dv&^i/j  ßa&iiog,  Attiker  dvGfi/]  ßaafiog, 

»        •>■>         n  «         oQxy&i-iogj  „      0QX>jGfi6g, 

Böotier  und  Aeolier  rv,  „       <yv, 

»  »         5,  te,  „       as. 


Umgekehrt  alt 


Ilotidav  Tlotiddcav,  „      Tloaeidtav, 

cpati,  „      q)aGi, 

nXovtiog,  „      nlovaiog  etc., 
TiQdooM,         attisch  TiQdrroo, 

»»  n       n  iJggcjV,  „  i^TtCOV, 

n  j;      „  ß-dXaaaa,  „  &dXatra. 

Man  vergleiche  hiermit  das  Niederdeutsche  im  Verhältniss  zum 
Neuhochdeutschen.  Wo  die  Niederdeutschen  t,  sprechen  die  Hochdeut- 
schen s  und  z ;  wo  der  Angelsachse  und  Bremer  th,  hat  der  Hoch- 
und  Mitteldeutsche  d.  Es  ist  im  Griechischen  entsprechend  dem  Deut- 
schen ebenso  mit  den  andern  Gaumen-,  Hauch-  und  Lippelauten. 
Makedonisch  war  Bilmnog,  attisch  (Inhnnog, 

n  „    BQvyeg,  „        <liQvyeg,  BQvyoi,  Yi.^i.NI[,lZ, 

«  „    BsQsvixij,        „         (psQen'xt],  vergleiche  ungekehrt 

das  Neualtgriechische  BdQQcov,  BiQyiXiog  für  das  lateinische  Varro  und 
Virgilius. 

Die  alten  Jonier  hatten  qxutQa,  die  Attiker  tzutiIq,  Vater. 
Umgekehrt  Aeolier, 

Dorier,  Jonier  navög^  „        „       cpavög,  die  Fackel, 

Aeltere  Attiker  -Avoog,  „        „       xvoog^ 

Jonier  -Aid-tbv,  „        „       litcöv, 

Herod.  öi'y.oiiai,        „        „        dtjo^ca, 

„  ßdd-na-Aog,     „        „       ßdzQaxog, 


122  Chatten  und  Hessen. 

Herod.  oi^'x/',  die  Attlker  ov'it, 

„  atQEXt'g,      „         „        axQBxig. 

Man  vergleiche  hiermit  das  niederdeutsche  biunde  Bünde,  Bunte 
mit  dem  bayrischen  piunt,  eingehegtes  Feld ;  das  niederdeutsche  up  mit 
dem  hochdeutschen  auf;  das  niedersächsische  Garden  mit  dem  im  heu- 
tigen Sachsen  gesprochenen  Carte;  maken  niederdeutsch  mit  hoch- 
deutsch machen  u.  s.  w.  Diese  Beispiele  müssen  hier  genügen,*  um 
auf  eine  Gesetzmässigkeit  in  der  Sprachentwicklung  hinzuweisen,  ohne 
welche  das  Gesetz  der  Lautverschiebung  doch  immer  nur  zum  Chaos 
zurückführen  wird:  es  ist  dies  die  Gesetzmässigkeit  in  dem  Ueber- 
gang  niederländischer  Mundarten  in  den  Mund  der  Hochländer. 

Dabei  kommen  drei  Haupteinflüsse  in  Betracht. 

1)  Das  natürliche  Gesetz  des  Gegensatzes:  ein  Volk,  das  eine 
neue  Sprache,  z,  B.  von  seinen  Eroberern  erhält,  spricht  gewöhnlich 
die  Laute  umgekehrt. 

2)  Der  natürliche  Einfluss  des  Berglandes  auf  eine  rauhere,  här- 
tere Aussprache. 

3)  Das  unvollkommene  Verständniss  der  neuen  Sprache  von 
Seiten  Derjenigen,  welche  sie  aufnehmen. 

Zu  dem  ersten  Punkte  ist  an  die  eben  schon  berührte  Verände- 
rung zu  erinnern,  welche  die  niedersächsische  Mundart  in  Obersachsen 
im  Munde  der  Bewohner  der  preuss.  Provinz  und  des  Königrefichs 
Sachsen  erlitten  hat.  Man  lese  nach ,  was  darüber  richtig  in  einem 
neuestens  erschienenen  schätzenswerthen  Beitrag  zur  Kenntniss  der 
deutschen  Mundarten,  Schatzmayr,  Dr.  E.,  Nord  und  Süd  u.  s.  w., 
1869,  Braunschweig  u.  Wien,  S.  96  ff.,  gesagt  ist,  wo  folgende  Pro- 
ben „Daitsch"  aufgeführt  werden:  Ter  Dorf  licht  in  t'n  Torf  (der 
Torf,  eigentlich  Braunkohle,  liegt  in  dem  Dorf),  dräche  te  prieb  uf  de 
Bast.      Bekleider  =  Begleiter.      Fleeze   tich  toch  nich  so  hin ,  Essl, 


*  Man  vergleiche  hierzu  noch  die  folgenden  Beispiele : 
ahd.     pluot  neuhochdeutsch     Blut,  englisch     blood, 

„       pruoder  „  Bruder,  „  brother, 

„       pidenchan  „  bedenken, 

„       prot  „  Brod  u.  Brot,        „  bread, 

„       stunta  „  Stunde. 

Zum  Lateinischen  vergleiche  man  nur  das  Harte  des  auf  den  Eugubini. 
sehen  Tafeln  vorhandenen,  augenscheinlich  mit  fremden  Elementen  gemisch- 
ten Latein  mit  dem  Aveichern  Latein  der  lateinischen  und  campanischen  EbnC' 


Chatten  und  Hessen.  123 

tnramer.  S.  113  :  Ja  häre  Sc,  sahn  Se,  mei  kutster  Harre,  des  kenn 
ich  se  kanz  kenau  Sache,  das  wecsz  ich  selber  niche.     Säre  kut.  * 

Wir  haben  hier  ein  sehr  lehrsanies  Beispiel  von  Lautverschiebung 
innerhalb  der  neudeutschen  Sprache  vor  uns :  das  Niedersächsische 
kam  in  den  Mund  von  mit  Wenden ,  Slaven  vermischter  Bevölke- 
rung, wurde  nach  dem  natürlichen  Gegensatz  in  entgegengesetzter  An- 
wendung der  Sprachorgane  ausgesprochen,  kam  2)  in's  höher  gelegene 
Bergland  (Lausitz  z.  B.)  und  [3)  in  den  Mund  unvollkommener,  weil 
nicht  ihre  angestammte  Sprache  redender  Leute. 

Das  ist  auch,  um  zum  zweiten  Punkte  zu  gelangen,  der  Entwick- 
lungsgang des  Deutschen ,  welches  aus  der  Niederung  in  die  süd- 
deutschen Berge  gekommen  ist.  Nach  dem  natürlichen  Gesetze,  wel- 
ches in  der  Bequemlichkeit,  der  Trägheit  des  Beharrens,  liegt,  nahmen 
die  germanischen  Einwanderer  natürlich  zuerst  die  Ebnen  und  frucht- 
bareren flachen  Landstriche  ein,  vertrieben  die  schon  vorgefundenen 
Bewohner  derselben  zum  Theil  in  die  Berge  und  Wälder  und  folgten 
den  Vertriebenen  dann  bei  durch  das  Wachsen  der  Bevölkerung  spärlich 
werdendem  Flachlande  auch  in  das  Hochland  nach.  So  musste  sich 
zum  Dritten  allmälig  das  Niederländische  im  Munde  der  Hochländer 
in  sein  Gegentheil  verkehren  und  auch  an  Reichthum  der  Formen  im 
Munde  der  unvollkommener  Redenden  einbüssen. 

Daher  hat  das  niederländische  Gothische,  das  indess  schon  in 
seiner  Rückwanderung  von  den  Gestaden  der  Ostsee  an  die  Gelände 
der  Donau  an  Ursprünglichkeit  eingebüsst  haben  mag,  noch  mehr  ver- 
loren im  Munde  der  Oberländer  in  den  Alpen  und  benachbarten  Mit- 
telberglandschaften und  Hochebnen,  namentlich  im  Munde  der  schon 
stark  romanisirten  Bewohner  des  von  den  Schwaben  wiedergenommenen 
Zehntlandes.  So  fand  die  Sprache  der  Sueben ,  ursprünglich  wie  die 
der  Gothen  eine  niederländische,  ebenfalls  entlang  der  Donau  und  am 
obern  Rhein  ihre  Umwandlung  in  das  Althochdeutsche ;  so  fand  end- 
lich das  Niedersächsische  die  Elbe,  die  Weser  mit  Werra  und  Fulda, 
den  Rhein  aufwärts  seine  Umwandlung,  dieses  aber  im  Verhältniss, 
wie  man  an  dem  mitteldeutschen  Misch-Charakter  der  hessischen  und 
thüringischen  Mundart  erkennt,  am  wenigsten. 


*  Ich  selbst  pflegte  scherzweise  bei  meinem  Aufenthalte  hi  Leipzig  mit 
meinen  Bekannten  zu  sagen,  dass  ich  in  Gupier's  Gaffeekarten  (Kupfer's 
Kaff'eegarteu)  speise. 


124  Chatten  und  Hessen. 

So  hat  die  ursprünglich  niederländische  Mundart  der  Aeolier  in 
Illyrien  und  Italien,  die  der  niederländischen  Jonier  in  Attika  und 
Achaja,  der  Dorier  in  Lakonien  u.  s.  w.  ihre  Verwandlung  und  Ver- 
härtung erfahren;  so  die  Sprache  der  Meder  und  Perser  in  den  höher 
gelegenen  Nachbargebieten.  Derselbe  Gang  wiederholt  sich  parallel  in 
allen  Sprachen  und  man  kommt  reichlich  aus,  wenn  man  zwei  Laut- 
verschiebungen annimmt  und  eine  dritte  nur  in  so  fern  constatirt,  als 
ziemlich  regelmässig  bei  der  Entwickelung  der  Literatur  eines  Volkes 
schliesslich  die  Einwirkung  des  Niederlandes  auf  die  zuerst  im  Hoch- 
lande vorgeschrittene  Schriftsprache  wieder  eintritt;  wie  in  der  deut- 
schen Sprache  das  Neuhochdeutsche  durch  die  Niederländer  Gotsched 
(aus  Königsberg  in  Preussen)  und  Adelung  (aus  Pommern)  von  der 
harten  Aussprache  und  der  entsprechenden  Rechtschreibung  des  Luthe- 
rischen bezw.  Meissnischen  Hochdeutsch  vielfach  zur  weichern  Form 
des  Niederdeutschen  zurückgeführt  worden  ist. 

Dieses  Verhältniss*  ist  auch  in  Betracht  zu  ziehen  bei  der  hier 
vorliegenden  Untersuchung  und  bei  den  allein  in  Frage  kommenden 
Formen  Chatti  und  Hassi,  jener  als  niederdeutschen,  dieser  als  ober- 
deutschen Form. 

Da  wäre  also,  um  wieder  zu  recapituliren ,  von  den  erhobenen 
Einwänden  zuerst  als  irrelevant  derjenige  zu  bezeichnen,  welcher  sich 
nach  Gründen  der  Lautverschiebung  auf  den  Mangel  der  Form  Hazzi 
beruft  (Zeuss,  Vilmar),  weil  a)  die  altdeutsche  Orthographie  mit  z  bei 


J  *  Vergl.  hierzu  die  sehr  lehrreiche  Abhandlung:  lieber  die  nieder- 
deutschen Elemente  in  unserer  Schriftsprache  vom  Oberlehrer  Dr.  Oskar 
Jänicke.  Jahresbericht  Ostern  1869  der  höheren  Bürgerschule  zu  Wriezen. 
S.  6  heisst  es  da  u.  A.  :  Die  gesammten  germanischen  Sprachen  zerfallen 
der  Lautstufe  nach  in  zwei  Klassen:  1)  niederdeutsche,  zu  der  das  Go- 
thische,  Angelsächsische,  Altsächsische,  Altnordische  und  von  lebenden  Spra- 
chen das  EngUsche,  Holländische,  Schwedische,  Dänische  gehören  (doch 
wohl  auch  das  Plattdeutsche!  Kelln.)  ;  2)  die  Hochdeutsche.  In  der  hoch- 
deutschen Sprache  sind  die  stummen  Consonanten  um  eine  Stufe  weiter  ge- 
schoben; ein  paar  Beispiele  werden  diese  hochdeutsche  Lautverschiebung 
anschaulich  machen  : 


Gothisch:                gaifs, 

boka, 

thaurnus,      taggo,       vato,          greipan. 

Angelsächsisch :     gät, 

böc. 

thorn,            tunge,       väter,         gripan, 

Englisch:                goat, 

book, 

thorn,            tongue,     water,        gripe, 

Hochdeutsch :        Geiss, 

Buch, 

Dorn,            Zunge,      Wasser,     greifen, 

Gothisch : 

thik, 

laufs,       airtha,       fotus,       suts, 

Angelsächsisch: 

thec. 

leaf,        eordhe,     föt,          svete. 

Englisch  : 

thee, 

leaf,        earth,       foot,        sweat, 

Hochdeutsch: 

Dich, 

[Laub,     Erde,        Fuss,       süss. 

Chatten  und  Hessen.  125 

der  ersten  Schreibung  des  Namens  Hassi,  Hessi  noch  nicht  vorhanden 
oder  nicht  über  die  Mauern  einzelner  Klöster  hinausgekommen  war; 
b)  die  einmal  in  päpstlichen  und  kaiserlichen  lateinisch  geschriebenen 
Urkunden  angenommene  Schreibung  für  alle  spätem  lateinischen  Ur- 
kunden, namentlich  bei  einem  solchen  Eigennamen ,  maassgebend  sein 
musste;  c)  die  für  die  Ableitung  des  Namens  Hassi  aus  Chatti  nach 
der  Lautverschiebung  nothwendige  Mittelform  von  dem  Zeitpunkt  an, 
wo  es  deutschgeschriebene  Urkunden  für  die  betreffende  Landschaft 
gab,  in  der  Form  Heszen  wirklich  vorhanden  ist;  d)  das  Lautver- 
schiebungsgesetz überhaupt  bis  jetzt  in  ungeeigneter  Weise  gestaltet 
und  angewendet  worden  ist. 

Gegen  Vilmai''s  in  seinem  Idiotikon  ausgesprochene  Gründe 
kommt  hier  noch  hinzu,  dass  die  von  ihm  angeführte  Thatsache,  die 
Form  Hessi  überwiege  bedeutend  im  Gebrauch  der  ersten  Zeit  die 
Form  Hassi,  falsch  ist,  und  es  ist  hier  ausserdem  nunmehr  noch 
folgender  Grund  Vilmar's  zu  entkräften:  Er  sagt,  die  Annal.  Bertin. 
hätten  zum  Jahre  839  noch  den  Namen  Chattuarii,  welcher  in  seinem 
Haupttheile  nach  allgemeinem  Einverständniss  mit  dem  Namen  Chatti 
identisch  sei,  in  der  Form  Hatoarii,  die  Annal.  Fuldens.  noch  zum 
J.  715  als  Hazzoarii  beide  Male  dicht  neben  dem  Namen  Hessi,  Hes- 
sli,  Hessiones.  Hiernach  wäre  ihm,  wenn  man  nicht  das  ganze  ur- 
kundlich feststehende  Lautverhältniss  umstossen  wolle  (siehe  S.85),  die 
Annahme  der  Identität  Chatti  und  Hessi  eine  sprachliche  Unmög- 
lichkeit. 

Dieser  Einwand  ist  geradezu  in  einen  Beweis  für  die  Identi]- 
tät  umzuwandeln.  Die  Landschaft  der  Chattuarier  liegt  bekannt- 
lich im  niederdeutschen  Gebiet;  der  Hattergau,  wie  er  noch  im  Mit- 
telalter heisst  (vgl.  Rettberg,  Deutschlands  Kirchengeschichte,  II, 
S.  379;  zum  Jahre  870  werden  neben  einander  aufgeführt  die  Co- 
mitatus  Testrabant,  Batua,  Hattuarias),  liegt  nach  dieses  Kirchenge- 
schichtsschreibers Angabe  am  rechten  Ufer  der  Ruhr,  dem  Borocktera- 
gau  am  linken  Ufer  dieses  Wassers  gegenüber.  Zum  Jahre  715  wird, 
um  besonders]  auf  die  von  Vilmar  hervorgehobene  Schreibung  zu  kom- 
men, in  verschiedenen  Quellen  erzählt:  von  den  Annal.  Fuldens. 
Pertz  M.  9,  I,  343,  Dogobertus  rex  mortuus  est  et  Saxones  devasta- 
verunt  terram  (B)  Hazzoariorum.  Annal.  Petav.  (Bouquet  Tom.  II), 
Dagobertus  rex  mortuus  est  Et  Saxones  devastaverunt  terram  Hattua- 
riorum  ;  Annal.  Tilian.  P.  I,  67.   Saxones  devastaverunt  terram    Ha- 


126  Chatten  und  Hessen. 

tuariorum  (Hattuarii),  *  Chron.  Fontan.  P.  I,  7.  Eodem  anno  (715) 
Dc^obertus  Rex  mortuus  est.  Quo  tempore  terra  Hattuariorum  a 
Saxonibus  depopulata  est.  Sed  ipsi  non  multo  post  dignas  a  Franco- 
rum  populo  poenas  perpessi  sunt  eorumque  terra  usque  Wiseram  flu- 
vium  incendiis,  rapinis,  interfectionibus  attrita  est;  Annal.  Met.  P.  I, 
323.  Saxones  terram  Hattariorum  vastaverunt.  Es  ist  das  heute  die 
Gegend,  wo  Schloss  Broich  mit  der  alten  Bauerschaft,  gegenüber  die 
Orte  Kettwig  a.  R.,  Hattingen ,  Hasslinghausen ,  Wetter  u.  s.  w.  lie- 
gen. Schon  Veliej.  Paterculus  2,  105  berichtet  von  der  Zeit  des  Ober- 
commandos  Tiberius  am  Niederrhein  von  diesem:  intrata  protinus 
(a  Tiberio)  Germania,  subacti  Caninefates,  Attuarii,  Eructeri,  re- 
cepti  Cherusci,  und  Strabo  führt  sodann  unter  den  Völkern,  den  Gefan- 
genen, welche  Germanicus  im  Triumphe  den  Römern  zeigt,  unter  Ka- 
thylkern,  Ampsanern,  Bructerern,  Nusipern,  Cheruskern,  Chatten  auch 
die  Chattuarier  auf,  worauf  noch  die  Lander  und   Subattier  folgen. 

Was  hat  man  nun  hieraus  zu  folgern  ?  Die  Chattuarier,  vorausge- 
setzt, dass  ihr  Name  vom  Namen  der  Chatti  gebildet  ist,  behielten  auf 
niederdeutschem  Sprachgebiet  ihren  niederdeutschen  Namenklang  und 
die  Chatten  verloren  im  hochdeutschen  Sprachgebiet  ihren  niederdeut- 
schen Naraenklang,  da  sie  als  niederdeutscher  Stamm  später  nicht 
mehr  in  Betracht  kamen.  Dass  der  Mönch,  welcher  die  Annales  Ful- 
denses  schrieb,  den  oberdeutschen  Namenklang  Hassi  —  wie  er  nach 
der  gelehrten  Orthographie  würde  geschrieben  haben  der  Hazzi  —  auf 
die  Chattuarier  übertrug,  ist  lediglich  ein  Beweis  dafür,  dass,  wenn  die 
althochdeutschen  Chronikenschreiber  mit  voller  Ueberlegung  nach 
ihrer  Schreibweise  an  den  Namen  Hessen  herangetreten  wären  ,  sie 
Hazzi  würden  geschrieben  haben.  Also  leistet  die  vereinzelte  Schrei- 
bung Hazzoarii  gerade  den  Ersatz  der  Schreibung  Hazzi.  Zum  we- 
nigsten beweist  sie  das  Vorhandensein  des  Bewusstseins,  dass  eigent- 
lich nach  Hassi  Hazzi  wäre  zu  schreiben  gewesen. 

Weiter  beweist  auch  das  gleichzeitige  Vorkoramniss  der  Schrei- 
bungen Chattuarii,  Hazzoarii,  Hessi ,  Hessiones  nur  die  auch  zu  jener 
Zeit  herrschende  Verwirrung  in  der  deutschen  Rechtschreibung,  welche 
bis  auf  den  heutigen  Tag  einen  der  Nation  unwürdigen  Wirrwarr  auf- 
weist. Wer  Urkunden  liest,  kennt  diese  Verwirrung  nicht  bloss  bei 
den  Personen-,  Volks-,  und  Ortsnamen,  sondern  auch  in  der  gewöhnli- 


*  An  derselben  Stelle  die  Annal.  S.  Amandi  Chatuarü. 


Chatten  nml  Hessen.  127 

clien  Schreibung,  Man  sehe  nur  das  Verwitterte  und  Verderbte  in 
der  lateinischen  Sprache  der  mittelalterlichen  Urkunden !  Ad  montibus 
z=  Bergen  Wagner,  Wüstungen  u.  Grossh.  Rhein-Hessen,  S.  48 
(Darmst.  1865),  und  in  sonstigen  vielfältigen  Beispielen.  Da  wir  nun 
nach  allem  bisher  Betrachteten  die  Identität  der  Namenforraen  Chatten 
und  Hessen  glauben  festhalten  zu  dürfen,  kommen  wir  auf  die  Erklä- 
rung des  Namens,  zu  der  wir  indess ,  um  eine  möglichst  breite  Grund- 
lage zu  gewinnen ,  zuvörderst  eine  Anzahl  andrer  Volksnamen  aus 
ihrer  natürlichsten  Entstehungsweise  abzuleiten  versuchen  wollen. 


6. 

Ueber   die   Entstehung   alter  gallischer  und   ger- 
manischer Volksnamen   überhaupt. 

Zur  Lösung  dieser  Aufgabe  ist  es  zunächst  nöthig,  die  am  si- 
chersten nachzuweisenden  Volksstamm-Naraen,  namentlich  der  germani- 
schen, festzustellen. 

Gehen  wir  auf  den  ersten  römischen  Schriftsteller  zurück,  welcher 
uns  ausführliche  Ueberlieferungen  über  gallische  und  germanische 
Volksstämme  gegeben  hat ,  auf  Julius  Cäsar ,  so  ist  bei  den  von  ihm 
angegebenen  Stammnamen  bei  den  meisten  zugleich  eine  gleichna- 
mige Lau  dschaft  oder  Ha  up  tvolks  Stätte  nachzuweisen.  Ge- 
hen wir  einfach  in  alphabetischer  Reihenfolge  vor,  so  haben  wir  zu 
Ambiani  heute  Amiens  ;  zu  Ambibarii  in  der  heutigen  Normandie  Stadt 
Ambieres ;  zu  Ambivariti  auf  dem  linken  Ufer  der  Maas  Anvers  (öst- 
lich Antwerpen) ;  zu  Andecavi  Anjou ;  zu  Arverni  Auvergne ;  zu 
Atrebates  Arras  in  der  Provinz  Artois;  zu  Aulerci  Brannovices  Brien- 
nois,  Aulerci  Eburovices  Evreux  in  der  heutigen  Landschaft  Perche ; 
zu  Bellovaci  Beauvais  ;  zu  Bigerriones  Bigorre  an  den  Pyrenäen ;  zu 
Bituriges  Berry;  zu  Cadurci  heutiges  Quercy  im  alten  Aquitanien, 
mittelalterlichem  Guienne ;  zu  Caeroesi  im  belgischen  Gallien  wahr- 
scheinlich Gau  Caros  an  der  Eifel,  nördlich  Bitburg;  zu  Caleti  Land- 
schaft Caux  (Normandie) ;  zu  Caturiges  Chorges  in  der  Dauphine ; 
zu  Ceutrones  jetziges  Centron  im  Thale  Tarantaise  in  Savoyen,  sowie 
in  der  Nähe  des  jetzigen  Courtray;  zu  Cocosates  in  Guienne  Cocos; 
zu  Condrusi  Dorf  und  Landschaft  Condroz ;  zu  Curiosolites  Courseult, 
in  der  Nähe  von  St.  Malo  (Normandie);    zu    Elusates  in  Aquitanien 


128  Chatten  und  Hessen. 

Eauze  (woselbst  Ruinen,  der  Name  der  alten  Stadt  war  Elusa);  zu 
Gabali  heutiges  Gevaudan  in  den  Cevennen ;  zu  Helvii  in  den  Ceven- 
nen  Alps ,  alt  Alba  Augusta ;  zu  Lemovices  Limousin  mit  Limoges ; 
zu  Leväci  Löwen  (Louvain);  zu  Lexovii  Lisieux  in  der  Normandie; 
zu  Lingönes,  in  den  Vogesen  um  heutiges  Langres,  Ligny;  zu  Medio- 
matrici  Landschaft  Messin  um  Metz  (mittelalterlich  Metis,  Metzerwiese)  ; 
zu  Meldi  Meaux  und  Melun  (Melodunum) ;  zu  Namnetes  Nantes;  zu 
Paemani  bei  Lüttich  heutige  Landschaft  Famene;  zu  Petrocorii  Peri- 
gord  mit  der  Hauptstadt  Vesunna  (Perigueux^;  zu  Pictönes  Poitou; 
zu  Redönes  Rennes  in  der  Bretagne ;  zu  Remi  Rheims ;  zu  Ruteni 
Roanne  an  Loire;  zu  Santones  Santonge;  zu  Senönes  Sens  an  der  obern 
Seine  in  Champagne ;  Sequani  von  der  Sequana  oder  Sauconna  her ; 
zu  Sibuzates  das  jetzige  Sobusse  oder  Saubusse  an  den  Pyrenäen;  zu 
Suessiones  Soissons;  zu  Tarusates  Tartas  Dep.  des  Landes;  zu  Tolo- 
sates  Bewohner  von  Tolosa ;  zu  Turones  Touraine ;  zu  Vellavi  Velay 
in  den  Cevennen;  zu  Veliocasses  Landschaft  Vexin  um  Rouen;  zu 
Veneti  Vannes  ;   zu  Viromandui  Vermandois. 

Dies  sind  alte  gallische  und  belgische  Stammesnamen  nach  Haupt- 
orten oder  Landschaften  entstanden,  wie  denn  noch  heutigen  Tages  die 
Völker  nach  Landschaften  oder  Hauptstädten  benannt  werden,  als  Nas- 
sauer, Holländer,  Engländer  Pommern,  fSchlesier,  Esthländer,  Kurlän- 
der, Oesterreicher,  Pfälzer,  Thüringer,  Jütländer,  Amerikaner,  Braun- 
schweiger, Hannoveraner,  Mecklenburger,  Würtemberger ,  Badener, 
Schleswiger,  Brandenburger,  Oldenburger  u.  s.  w. 

Ein  höchst  bezeichnendes  und  beweisendes  Beispiel  nun ,  wie  ur- 
alte belgische  oder  germanische  Ortsnamen  von  den  Römern  latinisirt 
worden  sind,  giebt  Wattrich  „Der  deutsche  Namen  Germanen",  Pa- 
derborn 1870,  Schöningh,  S.  95,  Anm. ,  in  einem  Namen  bei  Am- 
mian.  Marcellin.  XVII,  8,  wo  es  zu  Jahr  358  heisst:  dass  Kaiser  Ju- 
lian zuerst  gegen  die  gewöhnlich  Salier  genannten  Franken  zu  Felde 
gezogen  sei,  ausos  olim  in  Romano  solo,  apud  Toxandriam-lo- 
cum  (Lesart  des  Codex  Vaticanus,  früher  Fuldensis)  habitacula  sibi 
figere  praelicenter.  Cui  cum  Tungros  venisset  occurrit  legatio  etc. 
Die  Sprache  der  „Taxandri"  war  nach  Nicolaus  can.  Leod.,  gesta  s. 
Lambert!  (Chapeaville  I.  389)  deutsch:  Tunc  beatus  Lambertus, 
qui  teutonicae  linguae  peritus  erat  et  sine  interprete  sermo  infereba- 
tur,  coepit  eis  (Taxandris)  retexere  etc.  Schon  Wendelinus  (Legea 
Salicae  illustratae,  Antwerpiae  1649,  S.  82,  herausgegeb.  von  ChifFletii 


Chatten  und  Hessen.  129 

opp.  politico-historica ,  Antw.  1650)  hat  richtig  gesagt:  Et  sonat 
quidem  nomen  hoc  Taxandricam  silvam  (Loo  enim  silva  est); 
sed  Romani  ad  suae  linguae  adfinitatem  omnia  trahentes, 
ex  Loo  fecerunt  Locum.  *  So  ist  also  Toxandria- locus,  ganz 
äusserlich  latinisirt,  der  noch  heute  nördlich  von  Tongern  im  Bezirk 
Hasselt,  in  der  belgischen  Provinz  Limburg  liegende  Flecken 
(von  2 — 3000  Einw.)  Tessenderloo,  dessen  Name  ebenso  zu  er- 
klären ist,  wie  die  der  benachbarten  Tongerloo ,  Westerloo,  Beverloo 
(jetzt  das  Uebungslager  der  belgischen  Armee),  dann  bei  Lö- 
wen Corbeekloo,  Kesselloo  u.  s.  w.,  namentlich  als  eine  in  jener  Ge- 
gend so  häufige  Zusammensetzung  aus  dem  Namen  des  alten  Gau 
Taxandria  und  loo  =  Gehölz,  Busch,  unseren  dei;tschen  Loh  in 
Hohenlohe  etc. 

Wenden  wir  das  hier  herausgefundene  Prinzip  auf  die  Stammes- 
namen der  Germanen  an  und  zwar  zunächst  auf  die  von  Jul.  Cäsar 
genannten.  Dieser  erwähnt  De  b.  Gall.  II,  4  ausdrücklich  die  oben 
schon  genannten  Condrusi  in  der  Landschaft  Condroz,  Eburones,  Pae- 
mani  in  der  'Landschaft  Famene  und  Caerosi  im  Caros  an  der  Eifel, 
als  Germanen ;  aber  es  wird  von  ihm  auch  auseinandergesetzt,  dass  die 
meisten  Belgier  von  den  Germanen  herstammten  und  in  alter  Zeit 
über  den  Rhein  gezogen,  wegen  der  Fruchtbarkeit  des  Bodens  sich  da  nie- 
dergelassen und  die  Gallier ,  welche  dortselbst  gewohnt .  vertrieben 
hätten.  Sie  allein  hätten  dann  auch  die  Teutonen  und  Cimbern  vom 
Eindringen  in  ihr  Gebiet  zurückgehalten.  I,  51  wei-den  vorher  schon 
neben  den  Sueben  des  Ariovist  als  dessen  germanische  Hilfsvölker  ge- 
nannt die  Haruder,  Marcomanen,  Tribocer,  Wangionen,  Nemeter,  Se- 
dusier.  So  gehören  ferner  die  Ubier  zu  den  Germanen  rechts  des  Rhei- 
nes, von  deren  civitas  schon  Cäsar  spricht,  als  von  einer  nach  dem  Bil- 
dungsstand der  Germanen  ansehnlichen  und  blühenden,  Buch  IV. 
Dann  werden  die  Tencterer  und  üsipeter  genannt  und  die  Sugambern, 
zu  welchen  sich  die  geschlagenen  Tencterer  i;nd  üsipeter  zurückziehen. 
Diese  Namen  werden  auch  nach  der  Analogie  von  Tessenderloo  alle 
deutsch  sein.  Im  Buch  IV,  10  braucht  ferner,  wie  oben  schon  berührt 
ward,  Cäsar  zwei  unzweifelhaft  deutsche  Namen  in  lateinischem  Ge- 
wände:   den    Wasgau  und  die  Batuwa.     Mosa  profluit  ex  monte  Vo- 


*  Hätte,  wären  die  Römer  iler  Sprachvergleichung  schon  mächtig  gewe- 
sen, lucus  (Hain,  Loh)  helssen  müssen. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XLVIII.  9 


130  Chatten  unil  Hessen. 

sego,  qui  est  in  finibus  Lingonum,  sagt  wörtlich  Cäsar.  Bis  heute 
heisst  der  Gau  der  Wasgau ;  im  Mittelalter  finden  wir  die  Schrei- 
bungen Wosega  Silva,  "Wenck  Hess.  Landesgesch.,  III,  n.  18,  Jahr 
802;  in  nemore  Wessigen  Annal.  academ.  Theodor.  Palat.  VI, 
263  zum  Jahre  987;  die  Formen  Vosagus  (Latein  Vosacus)^  Wosago, 
Uosago,  Vosogo,  Wosogo,  Wosoco,  Vosecus,  Wasagus,  Wasacus,  Wa- 
sagon,  Uosgo,  Fosagus,  siehe  Förstemann,  „Altdeutsche  Ortsnamen," 
S.  1567,  sie  finden  sich  von  Eginhard's  Annalen  im  8-  Jahrhundert 
bis  ins  10.  Jahrhundert.  Es  ist  hiernach  kein  wesentlicher  Unter- 
schied zwischen  der  Schreibung  des  Lateiners  und  der  deutschen  mit- 
telalterlichen Urkunden;  der  Name  ist  nach  dem  alten  Wort  Wassem 
für  Rasen,  Wiese  gebildet  und  bedeutet  Wiesengau;  die  Hügel  darin 
haben  entweder  nach  einer  öfter  vorkommenden  Lautumstellung  von 
ihm  den  Namen  Vogesen  erhalten,  wie  schon  zu  Caes.  IV,  10  die 
Variante  Vogesus  vorliegt  und  hernach  wiederholt  der  Name  gestaltet 
ist,  oder  durch  schon  bei  den  alten  Galliern  wie  bei  den  heutigen 
Franzosen  maassgebende  Verschluckung  des  s  vor  Consonanten ,  wie 
in  Basle  von  Basel,  Pdques  von  Pascha  (Ostern),  gäter  von  vastare, 
pacage  von  pascua,  bouquet  von  Busch,  mesquin,  fagot  von  fascicul  etc. 
Die  heutige  Benennung  Departement  des  Vosges  spricht  für  die  letz- 
tere Annahme  und  mit  dieser  ist  das  esus  an  Vogesus  zu  erklären,  wie 
in  den  Namen  der  Berge  von  Lyonnais,  Vivarais,  Charolais,  Forez,  Ni- 
vernais  etc.,  das  ais  oder  ez  mit  der  lat.  Endung  us.  In  allen  Hand- 
büchern der  Erdbeschreibung  lesen  wir ,  dass  der  Wasgau ,  der  obere 
Theil  des  jetzigen  Departements  der  Vogesen  mit  den  trefflichsten 
Wiesen  bedeckt  ist  und  demnach  auch  viel  Butter  und  Käse  erzeugt. 
Auf  den  Grasebenen  oberhalb  der  AValdregion  (vgl.  den  hessischen 
Wissener  oder  Meissner  mit  seinen  Bergwiesen)  weiden  zahlreiche 
Heerden  von  Kühen ,  in  den  Sennhütten  bereitet  man  Käse,  ähnlich 
dem  Greyerzer  der  Schweiz. 

Zu  der  oben  S.  112  schon  erwähnten  Etymologie  des  deutschen 
Wortes  Batuwe  ist  hier  nun  noch  hinzuzufügen  die  Thatsache,  dass 
auch  in  Hessen  die  Redensart ,  es  bat'  nichts  =  es  hilft  nichts ,  vor- 
kommt und  das  Wort  Pathe  —  Gothe  für  Stellvertreter  des  Vaters, 
Guter  oder  Gutsprecher  bei  Täuflingen  denselben  Ursprung  hat.  Ver- 
suchen wir  jetzt,  den  Namen  der  Ubier  festzustellen.  Da  von  civitas 
Ubiorum  bei  Cäsar  bereits  die  Rede  ist,  so  muss  es  sich  um  eine  Art 
städtischer  Gemeinde  handeln,  und  diese  findet  sich  in  jener  Gegend  in 


Chatten  und  Hessen.  131 

dem  auch  sonst  historisch  gewordenen  Städtchen  Caub  am  Rhein  mit 
der  am  Rhein  liegenden  Pfalz.    Bei  Guden,  Codex  diploraat.  I,   13,   z. 
Jahr  983  findet  sich  die  Schreibung  Cuba,   welche  die  Naraenbildung 
Ubier  dann  hinlänglioh  rechtfertigt;  denn  das. C  vor  dem  u  hier  ist  nicht 
ausschliessender  als  k  in  kaymen,  littauisch  für  heim,    was   nicht  aus- 
schliesst,  dass  es  derselbe  Stamm  mit  heim  oder  ham,  oder  cham,  hamen  ist. 
So  heissen  die  Ghattuarii  oder  Hattuarii  auch  Attuarii  (Ammian,  Mar- 
ceil. XX,  10,*   wozu  man  vergleiche  Dederich,    der  Gau  der  Attua- 
rier,    Mittheilungen  an  d.  Mitglied,  d.  Ver.  für  Gesch.  u.  Alterth.   in 
Frankf.  a.  M. ,  Bd.  II,  Nro.'3),  die  Kampsaner  auch  Ampsaner.     So 
nennt  Strabo  VII  bei  einer  Aufzählung  der  Völker  zwischen  Rhein  und 
Elbe:    Cherusker,    Chatten,     Gamabrivier,     Chattuarier,     Sigambern, 
Chauber  (unser  Caub?),  Bructerer,  Cnnbern,  Kauker.   Für  Xd/iaßoi. 
und  Kdfiaßoi  findet  sich    auch  Amabia.     Es   ist  ebenso  mit  dem  c  in 
der  Mitte  der  Wörter :   Vacalus  zu  Cäsars  Zeit  ist  jetzt^Waal ;  und  am 
Ende  vergleiche  man  die  alte   Schreibung   Hoenloch   zu  dem  modernen 
Hohenlohe  wie   das  lateinische  lucus  zu  dem  deutschen  Loh   für  Ge- 
hölz.**    Die  Beispiele  finden  sich  in  allen  Sprachen.     Es  handelt  sich 
um  den  gurgelnd  oder  kehlig  anlautenden    Vocal,    der  im  Niederlande 
heute  eben  noch  so  zu  hören  ist,  wie  in  der  Schweiz  ;   er  jkommt  selbst 
vor   Consonanten   vor,    wie    bei  Chlodwig  für   Ludwig,    Chlotar  für 
Lothar,  Luther,  Hrutanstein  (Moser,  Osnabr.  Gesch.),  für  Rothenstein 
u.  s.  w.       Als   ein  hessisches  Beispiel  sei  noch  aufgezählt   die  Schrei- 
bung Hundesbüren ,    z.  Jahr  1088,   für  Gundesbüren ,    Landau,  Wü- 
stungen   1,  woraus   dann  (S.  17)    wieder    1596   Gotzbeurn   geworden 
ist.     Für  die  in  der  Mitte  der   Wörter  vorkommende   Gutturalvermeh- 
rung vergl.   noch  die   Schreibung  Meygerhoue  für  Meierhof,  Landau 
a.  a.  O.,  S.  26,  Sugerland  für  Suerland,  Egger  für  Eier  etc.     Endlich 
denke  man  hier  noch  an  Sassen  für  Sachsen.      Es   werden   uns  noch 
mehrere  schlagende  Beweisbeispiele  vorkommen ! 

Also  die  Ubier  können  die  Einwohner  von  Caub,  alt  Cuba,  sein; 
der  Begriff  ist  entweder  das  alte  Kufe,  die  Hohle,  dessen  Stamm  auch 
in  Kübel  vorkommt,  oder  Haube,  Kuppe,  vgl.  Kuffstein  weiter  oben 
am  Rhein.  Dass  das  C  nicht  zu  hart  gesprochen  ward,  ergiebt  sich 
aus  einer  Urkunde  von    1294    (Wenck,  Hess.  Landesgesch. ,  I.  Ur- 


*  Vgl.  noch  oben  S.  126. 

**  Vgl.  die   Form  Ka7Äneluf/hogen ,  Wenck,  Hess.   Landesgesch.    I,   Ur- 
kundenb.  z.  Jahr  1294,  S.  G2,  "für  Katzenelnbogen. 

9* 


132  Chatten  und  Hessen. 

kund.,  S.  60),  wo  Chuba  für  das  castrum  des  Pfalzgrafen  Ludwig  ge- 
schrieben ist,  und  aus  einer  andern  Urkunde  von  1333,  wo  ehenfalls 
Chuba  geschrieben  ist.* 

Kommen  wir  nun  zu  den  Sugarabern,  eine  Schreibung,  welche 
die  neuesten  Texte  der  Editoren  Jul.  Cäsars  vor  der  Lesart  Sigam- 
bern  festhalten.  Was  bedeutet  dieser  Name?  Jacob  Grimm  in  seiner 
Geschichte  der  deutschen  Sprache  hat  an  gambar  der  Streiter  und  Sigi 
der  Sieg,  also  an  das  Volk  der  sieghaften  Streiter  wie  GrafF  und  Zeuss 
gedacht;  allein  welches  Volk  dürfte  sich  so  nennen  nach  der  gewöhnli- 
chen Erfahrung,  welches  andre  Volk  würde  einen  so  prahlenden  Na- 
men dem  sich  selbst  so  rühmenden  Stamme  nachgesprochen  haben? 
Andere  haben  an  die  Bewohner  der  Sieg  gedacht,  allein  sie  wohnten 
nicht  lediglich  an  der  Sieg  (vgl.  Essellen,  die  Sigambrer),  auch  passt 
hierauf  die  Schreibung  /S'wgambri  schlecht.  Die  Frage  ist :  Wo  wohn- 
ten zu  Cäsar's  Zeit  die  Sugambrer  ?  Und  da  ist  die  einfachste  Ant- 
wort: Im  heutigen  sogenannten  Kölnischen  Sauerland,**  dessen 
Name  heute  überall  von  den  besten  Erklärern  als  Süder-  bezw.  modern 
Südland  verstanden  wird,  wie  auch  die  mittelalterlichen  Schreibungen 
Sunderland,  Sounderland  anzeigen  und  entsprechende  Ortsnaraenbil- 
dungen  im  höheren  Norden  erhärten  z.  B.  Nörre,  Sonder;  Nörrehald, 
Sönderhald,  Orte  im  jütischen  Amte  Rauders,  Nörlyng,  Sönderlyng 
im  Amte  Viborg.  So  heisst  von  Schweden  wiederum  der  südliche 
Theil  Gothaland  oder  Gotha-Rike.  der  Mittlere  Swea  Rike,  wozu  man 
Suithiod  alte  Form  für  Schweden,  die  Suiones  des  Tacitus  Germ.  44 
und  Sueonen  des  Adam  v.  Bremen,  Hamburg.  Kirchengesch.  IV,  21, 


*  Dass  die  Ubier  früh  auf's  linke  Rheinufer  neben  dem  heutigen  Köln 
übergesiedelt  wurden,  hindert  nicht,  dass  das  Chuba  bestehen  blieb  und  in 
suebisch-alemanischer  Hand  weiter  lebte. 

**  Der  Name  ist,  sagt  E.  Keller,  der  Norddeutsche  Bund,  Berlin,  Gut- 
tentag  1870,  S.  64,  Anmerk. ,  falsch  in's  Hochdeutsche  übertragen:  er 
sollte  nicht  Sauerland,  sondern  Süderland,  im  Gegensetze  zu  dem  Mün- 
ster'schen  Nordlande,  heissen:  Becker,  Beiträge  zur  Geschichte  von  Bri- 
lon (im  Buchhandel  bei  M.  Friedländer  in  Brilon  erschienen)  im  Oster-Be- 
richt des  Gymnas.  Petrinum  zu  Brilon  18G9  sagt  S.  20  Anmerk.:  Sauer- 
land ist  eine  verkürzte  Form  von  Sugerland,  Sugambrer-  oder  Sigambrer- 
land  und  bezeichnet  das  Land ,  worin  die  alten  Sigambrer  wohnten.  Die 
Bezeichnung  Suerlandia  kommt  im  11.  Jahrhundert  vor.  Vgl.  Seibertz  Ur- 
kunden III,  Nr.  1063,  Anm.  Wir  sollten  das  Suer  nicht  in  Sauer  überge- 
ben lassen,  sondern  einfach  auch  im  Hochdeutschen  sagen:  Suerland.  — 
Welche  Rolle  die  Bezeichnung  der  Himmelsgegenden  bei  den  Oertlichkeits- 
namen  spielt,  ergiebt  sich  auch  aus  dem  Umstände,  das  die  Normannen  die 
Nordsee  Vestersalt,  die  Ostsee  Oestersalt  nannten  und  die  Dänen  heute 
noch  die  Nordsee  Westsee  oder  Westmeer  nennen  (Keller). 


Chatten  und  Hessen.  133 

der  dabei  auch  an  die  Sueben  denkt,  vergleichen  muss,  der  nördliche 
Theil  Nordhmd,  Norrige,  Dänisch  Norge.  So  trennt  Adam  v.  Bre- 
men (|.  c.  1070)  auch  die  Gothen  von  den  Nordmannen  (IV,  23)  und 
theilt  die  Gothen  in  West-  und  Ostgothen  zwischen  Sconen  (da- 
mals dänisch)  südwärts  und  Sueonen  nordwärts.  In  Ostgothland',  das 
jetzt  Dalland  heisst,  lag  Scaraborg.  Dies  alles  sind  Analogien  zu  dem 
Verhältniss  auf  dem  Festland  und  zwar  im  Gebiet  der  Sachsen,  welche 
nach  der  nordischen  Mythen  Überlieferung  wiederum  als  Suormenn 
dem  Stamme  der  Normen  entgegengestellt  werden ,  in  welchen  zwei 
Stämmen  Odin  die  Gothen  vorfand. 

Im  Sachsenland  selbst  haben  wir  nun  später  Westfalen,  Engern 
und  Ostfalen;  es  fehlen  dazu  noch  die  Nordfalen  und  Südfalen,  um 
uns  einmal  dieses  nachgebildeten  Namens  zu  bedienen.  Sind  die  En- 
gern schon  zu  Zeiten  des  Tacitus  in  den  Angrivarii  vorhanden,  so  kann 
man  die  Südländer  in  den  Sugambri  finden.  Dass  die  Namen  West- 
falen und  Ostfeien  nun  appellativisch  sind  und  erst  im  Lauf  der  Zei- 
ten sich  festgesetzt  haben,  ergiebt  sich  aus  folgenden  Stellen:  Widu- 
kind  R.  G.  Sax.  I.  c,  12,  Pertz  m.  V,  425  werden  die  Ostfali  Orientales 
genannt,  Poeta  Saxo  ad  ann.  772  f^agt,  Westfales  vocitant  in  parte 
manentes  Occidua  —  regionem  solis  ad  ortum  inhabitant  Osterliudi, 
quos  nomine  quidam  Ostvalos  alio  vocitant.  Annal.  Einh.  ad  a. 
775  ist  die  Rede  von  den  Ostfalais  unter  Hessi;  Annal.  Laur.  von 
den  Austreleudi  unter  Hassione  (zu  derselben  Begebenheit :  die  Ostfa- 
len stellen  sich  Karl  dem  Grossen  zur  Unterwerfung  unter  Anführung 
des  Hessi) ;  Reg.  Chron.  von  den  Orientales  Saxones  unter  Hassino, 
Ann.  Laur.  an  e.  and.  Stelle  von  d.  Austrasii.  Hierzu  kommen  dann 
auch  noch  die  Nor  diente,  Ann.  Laur.  ad  ann.  780:  ites  peragens 
partibus  Albiae  fluvii  et  in  ipso  itinere  oranes  Bardengauenses  et  multi 
de  Nortleudis  baptizati  sunt  in  loco,  qui  dicitur  Orhaim  ultra 
Obacro  fluvio.  Diese  Nordleute  wohnten  also  an  der  Ocker  und  wa- 
ren ebenfalls  Sachsen.  Die  Ocker  entspringt  im  Harz  und  fliesst  über 
Braunschweig  in  die  Aller. 

Bei  Tacitus  in  der  Germania  treten  übrigens  neben  den  Angriva-' 
riern  noch  keine  nach  Himmelsgegenden  bezeichnete  Stämme  der  Sach- 
sen ein,  selbst  die  Sugambern  fehlen  bei  Tacitus'  Aufzählung  der  ger- 
manischen Stämme,  eben  weil  sie  von  Tiberius  so  massenweise  über 
den  Rhein  verpflanzt  worden  waren  und  zu  jener  Zeit  hier  mit  ihrem 
Sondernamen'  um    so   weniger   auftreten  konnten,  als  ihre  Sitze  nicht 


134  Chatten  und  Hessen. 

mehr  im  Süden  im  Gegentatz  zu  verwandten  Landschaften  lagen. 
Tacitus  nennt  an  rechtsrheinischen  Stämmen  im  altsächsischen  Gebiete 
nur  Usiper,  Tencterer,  die  nach  seiner  Ansicht  aber  damals  ausgetilg- 
ten Bructerer,  Chamaver,  Angrivarier,  Dulgubiner,  Chasuarier,  Friesen, 
Chauken,  Cherusker,  Foser,  Chatten  und  Cimbern,  also  die  einzelnen 
kleineren  Stämme,  die  erst  später  zu  grösseren  Ganzen  zusammenflös- 
sen. Dann  folgen  bei  ihm  von  Cap.  38  an  die  Sueben.  Dass  die 
Namen  aber  wechselten,  ergiebt  sich  eben  daraus,  dass  weder  die  Bruc- 
terer noch  auch  die  Marser,  die  er  ebenfalls  nicht  nennt,  für  immer 
verschwunden  waren.  Kehren  wir  jetzt  zu  unsern  Sugambern  zurück, 
so  ist  im  Allgemeinen  der  "Weg  dahin  geebnet,  dass  es  erlaubt  ist,  in 
den  Sugambern  Süderländer,  Südheimer  zu  suchen  im  Gegensatz  zu 
den  Nordländern  im  Münsterlande.  Da  finden  wir  denn  auch  sofort 
an  der  Nordgrenze  des  Sugambernlandes ,  da  wo  die  Liese  in  die 
Glenne  mündet,  eine  Bauerschaft  Suerlage,  nach  Essellen  Gesch.  der 
Sugambern  S.  76  soviel  als  Süderlage.  Dieses  Su*  mit  Ausstos- 
sung  des  d-th-Lauts  fanden  wir  nun  schon  in  dem  schwedischen  Su- 
thiod  angedeutet;  es  findet  sich  auch  in  andern  dem  Altsächsischen  ent- 
sprossenen Mundarten  noch  heute,  wie  in  Suflfolk,  Gegensatz  von  Nor- 


*  Zu  dem  Su  finden  sich  in  Kuhn's  Zeitschrift  f.  vgl.  Sprachforschung 
XX,  1.  Heft,  S.  34  f.  in  einer  Abhandlung  von  Sophus  Bugge  schätzens- 
werthe  Andeutungen.  Su  =  gut  steht  dem  dus  (^i;s)=  tadelnd  gegenüber, 
so  wie  im  Altirischen  su,  so  im  Gegensatz  zu  du,  do  Zeuss  Kelt.  Gramm. 
1.  Ausg.,  17,  832,  86ö  f;  so  in  andern  Sprachen:  goth.  svikns  Stamm 
svikna  =  ayvog,  altnord.  sykn,  griechisch  =  evayi^s  opp.  Svsnyijg,  mit  schwe- 
rer Schuld  beladen,  gottlos.  Bugge  hat  nun  die  Ansicht,  dass  sudus  latein. 
=  serenus  ai&Qios,  svSios  heiter,  |aus  su-diva-s  hervorgegangen  sei,  und 
führt  aus  der  Vedasprache  sünrta,  sünari  (altbaktrisch  hu  cf.  huzvaresch) 
an.  Wie  wenn  das  su  nun  auf  Sonne  geht?  Wo  die  Sonne  hoch  steht, 
woher  der  heitre  Himmel  kommt,  das  ist  im  Norden  und  in  der  gemässig- 
ten Zone  der  nördlichen  Halbkugel  der  Süden,  wie  auch  die  alte  deutsche 
Form  Sund  lautet.  Also  wo  Sonne  ist,  da  ist  es  heiter  a'i&Qio?  (ätherisch), 
Plat.  Legg.  XII,  96,  E:  k'vye  xEii-iwoi  -y.al  sv  svSiais.  In  dieser  Stelle  haben 
wir  auch  den  Gegensatz  von  Winter  und  heiterer,  d.  h.  Sonnenzeit;  wie 
auch  Sommer  die  Sonnenzeit  ist.  Hiervon  leiten  sich  in  L'ebertragung  die 
andern  Bedeutungen  ab,  Pott.  etym.  Forschung,  2.  Ausg.  I,  p.  747,  nach 
Wilkins  Sanscr.  Gramm,  p.  93,  sanskr.  sudiva  =  happy,  daily,  sudio  —  having 
a  fine  sky  (epithet  of  a  fine  day);  davon  auch  suavis  süss,  d.  h.  lieblich, 
angenehm,  i]8vs,  suadeo  u.  Corssen,  sanskr.  ^udh,  Qundh,  purificare,  lustrare; 
wo  die  Sonne  am  Himmel  steht  ist  es  heiter,  rein  von  Wolken  etc. 

Der  ältere  Begrifi'  Süd  steckt  nun  meist  in  dem  Su  der  Volksstammna- 
men Suormen,  Suthiod  in  Suerlage,  Suerland  —  noch  nicht  der  abgeleitete 
angenehm,  gut.  Es  mag  hier  anzudeuten  erlaubt  sein,  dass  er  auch  in  dem 
Namen  der  Sueben,  als  Sudaner  (vgl.  den  betreffenden  Stamm  der  alten 
Freussen)  enthalten  ist,  wovon  weiter  unten. 


Chatten  und  Hessen.  135 

folk,  Sussex  Gegensatz  von  Wessex,  im  letztern  Fall  mit  Assimilirung. 
Ein  Beispiel  für  die  Ausstossung  des  d  in  sud,  süd  findet  sich  auch 
auf  niederhessischem  Sprachgebiet,  Landau  Wüstungen  34,  Süberg  = 
Südberg;  wozu  vergleiche  Zeitschrift  für  Hess.  Geschichte,  I,  Fal- 
ckenheimer:  lieber  die  ältesten  Grenzen  der  Diöcesen  Mainz  und  Pa- 
derborn, S.  152,  ff.,  die  Schreibungen  Sutberg  1254,  Suthberg  1258 
neben  Suberg  in  ders.  Urk.  Süberg,  Süggeberg,  Sauberg.  Es  wird 
auch  die  Möglichkeit  offen  bleiben,  den  Namen  der  uralten  Stadt  Soest 
Sosatium  auf  den  Begriff  Südsassen  zurückzufüren;  ausserdem  wim- 
melt das  bergige  Land  südwärts  Soest  von  Ortsbezeichnungen  mit  dem 
Zusatz  Süd ,  so  liegt  ein  Sundhelle  bei  Gummersbach,  ein  anderes  bei 
Altena,  ein  Sundewig  in  jener  Gegend,  ein  Süggerath  bei  Geilen- 
kirchen, Südheramern  (Summern)  neben  Hemmern,  ferner  14  Orte  mit 
dem  Namen  Sundern  in  Westfalen  überhaupt,  ein  Sundern  mitten 
im  Sunderland  oder  Kölnischen  Sauerland.  Das  eigentliche  Süder- 
land  liegt  nach  Klöden  Polit.  Geogr.  v.  Europa,  II,  1035  um  die 
bergige  Hochfläche,  welche  das  steil  eingeschnittene  Thal  der  Lenne 
durchfurcht  und  das  ganze  obere  Ruhr-  und  Diemel-Gebiet ,  worin  in 
cigenthümlichem  Namenanklang  an  den  zweiten  Theil  des  Namens  Su- 
gamber  auch  das  Hommert-Gebirge  zwischen  Allendorf  und  Graven- 
stein  liegt.  Dabei  ist  das  Süderland  der  südliche  Theil  der  Grafschaft 
Mark,  deren  nördlicher  Theil  der  Hellweg  genannt  wird,  und  welche 
also  für  das  Süderland  umfasst  die  Kreise  Hagen,  Altena,  Iserlohn, 
Arnsberg,  Meschede,  Brilon,  Olpe,  Sieg  und  Wittgenstein.  Im  letzte- 
ren liegt  ferner  der  Ort  Gamborn  mit  entschiedenem  Anklang  an 
gambri  in  Sugambri ,  im  Kreis  Sieg,  Postdistributionsort  Stolzenbach, 
Gommersbach  mit  Mühle;  während  an  der  Südwestgrenze  des 
Sugamberngebiets  nach  den  Ubiern  hin  die  alte  Grafschaft  Gim  bor n- 
Neustadt  ebenfalls  wieder  an  den  Namen  Gamborn  im  Wittgenstein- 
schen  erinnert.  Ebenso  liegt  zwischen  Eder  und  Diemel  der  Ort  Hem- 
merveldun ,  vgl.  noch  Hammorbikie  in  Westfalen  in  der  Nähe  von 
Ennigerloh. 

Entsprechende  Ortsnamenbildungen  finden  sich  dann  wieder  vor 
in  dem  Gebiete,  in  welchem  die  von  Tiberius  versetzten  Sugambern 
angesiedelt  wurden;  so  findet  sich  ein  Ort  Gommersbach  bei  Crefeld. 
ein  Garaeren,  alt  geschrieben  Gamberen,  Urkunde  von  1031,  M.  Germ. 
205,  auch  Gamberera  bei  Bommel  zwischen  Waal  und  Maas, 
Conimern  noch  heute  südwestlich  Bonn  bei  Euskirchen;    ein  Hemmerfc 


J36  Chatten  und  Hessen. 

(Op-  und  Neer-)  an  der  Waal  zwischen  Tiel  und  Bommel  (als  Hamma- 
ritda  Ann.  Laur.  n.  106  zum  9.  Jahrhundert,  auch   Hammerethe,  Ha- 
merthe  und  Hemerthe  wie  Hemraerde   bei  Unna  S.  v.  Hamm   alt  Ha- 
marithi  Pertz  (vita  S.  Liudgeri)  H,  418.     Was   liegt  da  näher  als.  a» 
den  Geo-ensatz  des    alten  Hammerlandes  Hammer  marca  Laur.  see  8, 
n.  1451;   Hamarlant  Pertz  I,    435    (Prud.  Trec.  ann.)  H,  139  (ann. 
Bertin.)   HI,    373  (Hlud.  I.  capit.)  an  die  südlich  wohnenden  Hameri 
zu  denken  mit  der  Verdichtung  des  h  zu  g  oder  c,    wie  denn  auch  die 
Schreibung  Sicambri  vorliegt,  und  der  wohllautlichen  Einschiebung  des 
b  zwischen   m  und   r,    wozu   die   Analogie    dfiß^orog   a^ißQOGia,    der 
Name  der  in  den  Ammersee  fliessenden  Ammer,  bekannt  aus  dem  Na- 
men des  Oberammergaues,   welche  unterhalb    des   Sees   Ämper  heisst; 
der    Name    Cimbri    für    Cimmerii    wahrscheinlich    von    Kinnemer  = 
Sumpfmeerbewohner  =    KififitQioi.*      Die    Emmer,   welche  bei  Pyr- 
mont vorbei  in  die  Weser  fllesst,  wird  alt  Ambra,  Gommern  bei  Mag- 
deburg alt  Gumbre,  Emmerken  bei  Hildesheim   alt  Ambrichi,  Emme- 
rich alt  Ambreki  geschrieben.     Finden  wir  nun   die  Lieblingsortsna- 
men der    Sugambrer   im   linksrheinischen  Colonielande  wieder,   so  fin> 
den  wir  dasselbe  in   der   Gegend  im  Osten,  wohin  ebenfalls  eine  su- 
o-ambrische   Cohorte  verlegt  ward,   wir  finden   ein  Gamern  im  Juden- 
burger  Kreise  in  Steiermark,  und  auf  den  Namen  Chamerauer  ist  auch 
wahrscheinlich  der  Name  des  alten  Stammes  zurückzuführen ,  auf  wel- 
chen Tacitus  Germ.  2  zurückverweist,  der  Name  der  Gambrivii,  welche 
schon  Zeuss  S.  83  für  identisch   mit  den  Sugambern   hält,  was   aber 
nicht  nothwendig  ist,    und   Strabo  VH  raf.ißQiovnoi  nennt,    während 
eine   Handschrift  des    Tacitus    Gambruni  aufweist.    Es  können  diese 
Gambrivii  in  früherer  Zeit  zuerst  entdeckte  Bewohner  von  Gamber em 
an  der  Waal  sein.      Dass   diese    Namen  sehr  verschieden  ausfielen,  je 
nachdem  sie  ein  Schriftsteller  vorfand,  ergiebt  sich  auch  aus  den  ver- 
schiedenen    Namensformen  für  die   Chamaver:  Chamavi  Tacit.  Ann. 
Xin,  55;  Germ.  33,  Amm.  Marceil.  XVJI,  8,  9,  tab.  Peuting.  Grego. 
Tur.  II,  9;  Chamäves  Auson.  Mosell.  434;  Xßjwavo/ Ptolem.  Xdfiaßoi 
Julian ;  Eunap.  exe.  legatt.  ed.  Bonn  p.  42.    Man  vergleiche  nur  hierzu 
die     mittelalterlichen    Namensformen    für    unsere   heutige    Wetterau: 


*  Das  Hollandsdeep  hat  ehemals  das  Wijve-Keen  geheissen.  Zum 
Kennemerland  gehören  Orte  wie  Alkmaar,  Scbermer,  \yormer,  Waterland, 
Beverwyk,  Oterleek,  Brug,  Zaandaui ,  Edam ,  alles  JSIamen ,  die  auf  die  Be- 
schaffenheit des  Landes  deuten. 


Chatten  und  Hessen.  137 

Pagus  wetrabensis  ürkde.  v.  782,  Wenck  II,  Urkundenb.  11;  We- 
drevi,  im  Schreiben  des  Papstes  an  St.  Bonifacius;  Wettereibe  (häu- 
figste Form)  und  Wedrebe  zum  Jahr  1057,  Wagner,  Wüstungen  im 
Grossh.  Hessen,  Prov.  Oberhessen,  Nachträge  S.  462,  oder  die  ver- 
schiedenen Schreibungen  von  Suebi,  Suevi  bei  Cäsar,  Tacitus  u.  s.  w. 
Jovijßoi  Ptol.,  Strabo  VII,  p.  290,  Dlo  Cass.  LI,  22,  Suaevi  PertzII, 
13  (vit.  St.  Galli);  Suabi  P.  I,  3C8  (ßuod.  Fuld.  ann.)  Sovdßoi  Pro- 
cop.,  Suavi  öfters  beiPertz,  man  vergleiche  auch  noch  die  Nordosquavi 
an  der  Bode  (Pertz  I,  330.  ann.  Mett.).* 

Da  wir  nun  für  den  Namem  Sugambern  auch  verschiedene  For- 
men haben,  als  Sugambri  bei  Cäsar  de  b.  Gall.,  J^ovyafißqoi  Strabo  VII, 
p.  291,  294,  Sugambri  Tacitus  Ann.  II,  26,  IV,  47,  XII,  39.  Si- 
cambri  Martial.  de  spect.  3,  9  ;  Flor.  IV,  12;  Suet.  Aug.  c.  21 ,  Pro- 
pert.  IV,  6;  Greg.  Tur.  II,  31;  Sigambri  Ovid.  consol.  ad  Liv.  13, 
311:  Juvenal.  4,  147;  Sygambri  Hör.  Od.  IV,  2,  14.  Claudian. 
IV.  cons.  Hon.  446  ;  Syamber  (!)  Venant.  Fortun.  6,  4,  IvyaiißQoi m\i 
Var.  ^ovyaftßQoi  PtoL,  Dio  Cass.  LIV,  32 ;  ^vy,diA,ßQoi  und  ^ovxa^ißQoi 
Appian.,  Sicambri  =  Franci  Pertz.  IX  mehrmals,  so  wird  es  mit  dem 


*  Zum  Namen  der  Sueben,  von  Strabo  (zw.  19  u.  24p.  Chr.  schrei- 
bend) als  das  grösste  im  Hereynischen  Walde  wohnende  Volk  zwischen 
Elbe  und  Rhein  und  über  die  Elbe  hinaus  bis  zum  Ocean  genannt  (die 
Chatten  aber  ausdrücklich  neben  ihnen  genannt),  giebt  Dilthey,  das  Ge- 
biet des  Grossherzogthums  Hessen  in  den  Zeiten  der  Völkerwanderung  im 
Archiv  für  hess.  Gesch.  und  Alterthumskunde  VI,  1851,  S.  187  eine  Ueber- 
sicht  der  bis  dahin  versuchten  Erklärungen  :  Schwaben  von  Schweifen; 
die  Friedfertigen  (Grimm) ;  die  Schläfrigen  (Wackernagel) ;  die  Freien 
(wieder  Grimm);  von  See,  mare  suevicum;  Suiones,  Suethiod  Schweden, 
Schwyz.  Schweiz,  Tellsage  (Duncker  lässt  die  Sueben  die  Elbe  hinaufzie- 
hen); Sueben  =  Sabiner  (Müller)  u.  s.  w.  Dilthey  selbst  erinnert  an  die 
Orte  Pfafienschwabenheim,  Suaboheim  776,  Sauerschwabenheim,  Schwaben- 
rod,  Schwabsburg  u.  s.  w.  Alle  versuchten  Erklärungen  reichen  nicht  aus. 
Man  wird  aber  auf  die  Analogie  mit  andern  von  allgemeinen  Landschafts- 
nanien  entstandenen  Volksnamen  zurückkommen  müssen.  Im  Gegensatz  zu 
Normen,  Norwegen.  Norrige  lag  dem  germanischen  Altorthum  im  hohen 
Norden  das  Südland,  die  Südau,  Sundau,  Sonnenau.  Was  darin  wohnte, 
waren  Suaben ,  Sueben,  Suaven,  je  nach  den  verschiedenen  Formen  für 
Aue,  die  oben  entwickelt  sind  für  Wetterau  wie  für  Suabia.  Die  Sueben 
beginnen  im  Norden  mit  dem  Suethiod  in  Schweden,  dessen  heutiger  Theil 
Südermannland  genug  besagt.  Da  es  unstreitig  Schwaben,  Sueben  sind, 
welche  die  deutsche  Schweiz  besetzt  haben ,  so  ergeben  sich  aus  ihrem  ur- 
sprünglichen Heranreichen  bis  an  Norwegen  hinlänglich  die  Bezüge  zwischen 
Schweizern  und  Schweden  auch  u.  A.  in  der  Teilsage.  Sind  Sueben  nach 
Spanien  gezogen,  warum  sollten  sie  nicht  auch  aus  Schweden  nach  der 
Schweiz  gekommen  sein.  Sind  doch  auch  die  später  weiter  südlich  wohnen- 
den Normannen  bis  nach  Süditalien  gezogen  und  haben  hier  das  Reich  des 
Robert  Guiscard  gegründet! 


138  Chatten  und  Hessen. 

Theil  yafxßQOi  gambri,  xafjißQoi  und  cambri  nicht  eben  anders  wie  mit 
den  verschiedenen  Schreibungen  des  Namens  Chamavi  sein. 

Im  nördlichen  Theil  der  Grafschaft  Mark,  welche  ihren  Namen 
trägt  von  dem  bei  Hamm  und  beim  alten  Dorfs  Mark  gelegenen 
Schlosse  Mark  ,  war  offenbar  die  hervorragendste  Landschaft  die  um 
Hamm,  das  Gebiet  eben  der  Chamavi.  Die  ältere  Form  für  Hamm 
findet  sich  dabei  in  dem  Namen  des  Ortes  Camen  an  der  Sesike,  für 
den  auch  vielleicht  die  Schreibung  Gamen  (curtis  an  der  Lippe,  vgl. 
Erhard  regesta  historiae  Westfaliae,  Münster  1847  n.  870  zum  Jahr 
1016)  angenommen  werden  darf;  denn  die  Sprachvergleichung  weist 
fiir  den  appellativischen  Begriff  Dorf,  Heim  nach  die  Entwickelung : 
griech.  ycofit],*  littauisch  (kaymen)  kemas,  gothisch  haims,  altnordisch 
heimr,  angelsächsisch  ham,  wie  es  auch  einfach  im  Oberdeutschen  lau- 
tet, und  im  niedersächsischen  Sprachgebiet.  Die  Hamm's  sind  sehr 
häufig  vorhanden.  Denken  wir  uns  nun  die  Gamabrivi  des  Tacitus 
neben  den  Marsern  in  der  untern  Grafschaft  Mark  und  Hamm,  die  sich 
dann  bei  der  allgemeinen  Weiterschiebung  der  östlichen  Stämme  nach 
Westen  zu  bis  zum  Orte  Emmerich  am  Rhein**  hinziehen,  also  in  den 
Kreisen  Hamm,  Soest,  Amt  Hemer,  Bochum,  Dortmund,  Lippstadt  etc., 
so  haben  wir  südwärts  davon  im  Süderlande  die  Sudgamerer,  Sugam- 
brer  oder  Sügambrer,  d.  h.  die  Sudheimer,  Sundheimer  in  ältester  Na- 
mensform und  ältester  Bedeutung  des  Wortstammes  cham.  Ihr  Stamm 
und  Name  breitet  sich  ebenso  nach  Südwesten  aus  bis  zum  Ubier- 
lande, wie  die  der  Gambrivi  bis  nach  Emmerich.  Hieraus  erklärt  sich 
auch,  wie  die  Usipeter  und  Tencterer  nach  ihrer  Zurückdrängung  durch 
Cäsar  im  Gebiete  der  Sygambrer  Wohnsitze  fanden. 

Wie  nun  hiemach  der  Name  der  Sügambrer  auf  einen  Land- 


*  Fick,  Wörterb.  der  indogerm.  Sprache ;  Götting.  1868,  S.  40,  zu 
käma  von  Sanskrit  (jam  =  ruhen.  Es  ist  aber  auch  altpreussisch  kaymen 
hierherzuziehen.  Der  Lappländer  nennt  seine  Wohnung  Gamen  und  das 
nordische  heim-r  findet  sich  wohl  in  dem  norwegischen  Ortsnamen  Hammer, 
Fredericshammer  wieder.  Auch  der  Flecken  Gemen,  Kreis  Tecklenburg-Lingen 
ist  mit  seinem  Namen  herbeizuziehen;  wie  der  Namen  Gamm  in  dem  Vier- 
lande bei  Hamburg.     Die   Burg  Hamburg  wurde  beim  Dorfe  Ham  angelegt. 

**  Hamaland  um  Emmerich  heisst  auch  Amorland.  Dedericb,  die  Feld- 
züge des  Drusus  und  Tiberius  in  den  nordwestlichen  Germanien.  Köln  und 
Neuss,  1869,  Schwan,  S.  118:  „Ueberdies  gehörte  das  Gebiet  von  Emme- 
rich als  Untergau  unter  dem  Namen  Amabia  zum  Comitat  von  Hama- 
land" wozu  der  Verfasser  dieses  Werks  verweist  auf  seine  Geschichte  der 
Römer,  S.  193  f.  und  seine  Abhandlung  über  den  Gau  der  Attuarier.  ]^ 


Chatten  und  Hessen.  139 

schaf'tsnamen  zurückgeht,  so  findet  sich  auch  der  Sitz  der  alten 
Chattuarii,  Hattuarii,  Attuarii  und  der  Hozzoarii  noch  heute 
angedeutet  durch  eine  Landschaft,  welche  jetzt  noch  die  Hetter  (von 
Spaen  Jul.  Bd,  I,  p.  152  u.  193)  geheissen ,  im  Mittelalter  als  pagus 
Hattera  zwischen  Emmerich  und  Rees  erscheint  und  ostwärts  weiter 
zu  suchen  ist  in  dem  Hatteragau  an  der  Ruhr,  welcher  dem  Boroctera- 
gau  gegenüber  lag,  Rettberg,  Deutschi.  Kirchengeschichte  wie  oben  II, 
379.  Man  vergleiche  auch  hierzu  noch  den  Namen  des  Dorfes  Brack- 
wede-Brock  im  Kreise  Bielefeld,  welcher  das  t  im  Namen  der  Bruc- 
terer  erklärt. 

Ebenso  erscheinen  die  Tubantes  des  Tacitus  als  Bewohner  der 
heutigen  Landschaft  Twenthe,  der  Name  der  Bructerer,  ursprünglich 
im  Borocteragau  um  die  uralte  Landschaft  Broich  mit  Schloss  angesie- 
delt, repräsentirt  durch  die  unzähligen  Broich's,  Broek's ,  Bruchs 
u.  s.  w.,  welche  sich  als  simplicia  wie  als  Composita,  Grevenbroich, 
Imgenbroich  u.  s.  w.  bis  nach  Niederland  und  Belgien   hinein  finden. 

Man  findet  auch  zum  Namen  der  Usipeter  eine  genügende 
Ortsnachweisung.  Es  liegt  südlich  von  Arnhem  der  Ort  Huys- 
sen  und  im  Kreis  Rees  der  Ort  Huisberden.  Im  letzteren  Namen 
liegt  das  niederdeutsche  Börde  für  fruchtbarer,  tragbarer  Strich  [Lan- 
des, wie  wir  die  Namen  der  Soester,  Warburger,  Magdeburger  Börde, 
verschiedener  Börde's  im  Lüneburger  Lande  der  Longobarden  haben 
und  in  einzelnen  Gegenden  an  der  Weser  (vgl.  Wippermann  Buckigai:) 
denselben  Namen  verschiedentlich  für  kleinere  Striche  wiederholt  fin- 
den. Es  steckt  darin  das  niederdeutsche  boren,  tragen,  englisch  to 
bear,  lateinisch  fero  (tuli  latum),  ferre  und  das  griechische  cptQsiv ,  wie 
unser  neuhochdeutsches  Bahre  (das  deutsche  Wort  Börde  ohne  d  findet 
sich  in  der  schwäbischen  Baar  bei  Tutttlingen,  Spaichingen  u.  s.  w. 
sowohl  wie  in  dem  Barrois  in  Frankreich  mit  Bar  le  Duc,  Bar  sur 
Aube,  Bar  sur  Seine  etc.).  Bürde,  Gebären,  Geburt  u.  s.  w.  Zu  die- 
sem Zusatz  berden  bleibt  also  in  Huisberden  der  Vorsatz  Huis  als 
Glied  des  Namens  Usipetes,  worin  der  Zusatz  petes  auch  wieder  nie- 
derdeutsch zu  erklären  ist.  Was  wir  hochdeutsch  treten,  betreten, 
nennet  der  Niedersachse  petten;  es  ist  das  Griechische  ;T«Tfri'  u.  ßai'veiv 
mit  den  nahestehenden  Formen  ßddfjv  schrittweise,  ßadog ,  ßdCoj  und 
ßißd^co ,  vielleicht  das  lateinische  petere,  und  findet  sich  weiter  in  den 
Völkernaraen  Atrebates,  Caninefates,  denn  p  erweicht  sich  in  diesem 
Wortstamra  auch   zu   b  und  f  wie  die    Lautverschiebung  novs  noSog^ 


140  Chatten  und  Hessen. 

pes,  Pfote,  foot,  Fuss  mit  dem  mundartliche^  Pote,  Pfote,  Patze  dar- 
thut.  Die  Atrebates  wohnten  um  das  heutige  Arras.  Dazu  das  noch 
heute  in  Schweden  gebräuchliche  Wort  päd  für  Land,  Medelpad  die 
Landschaft  zwischen  Angermannland  und  Helsingland,  wozu  das  grie- 
chische mdov  Boden,  Ort,  ßädog  Gang,  ndtog  =  deutsch  Pfad,  narsTv 
ein  Land  bewohnen,  das  französische  Patois,  Bauernsprache  und  pas  = 
Schritt,  passer  wandern,  patte  die  Pfote,  das  englische  path  Pfad,  to 
päd  wandern,  padder  Strassenräuber  zu  Fuss ;  to  pedle  Hausirengehen 
u.  s.  w.  Es  führen  sich  diese  Bedeutungen  bis  auf  das  Sanskrit  zu- 
rück, wo  päd  gehen,  päd  und  päda  der  Fuss  und  pada  Standort,  Bo- 
den, Land  bedeutet ;  wie  ebenfalls  im  Zend  päd  und  pädha  der 
Fuss,  pada  das  Land.  Frage  ist  auch  noch,  ob  das  Sundevede  (Sunde- 
witt) nicht  so  seinen  Namen  erhalten.*  Wir  hätten  in  den  Usipetes 
also  Bewohner  des  Uselandes  vor  uns,  wie  eine  Use  auch  bei  Usin- 
gen im  heutigen  Nassauischen  vorbeifliesst  und  in  die  Wetter  in  der 
heutigen  Wetterau  einmündet.  Dort  giebt  es  auch  Orte  wie  Espe, 
Utphe  u,  s.  w.  und  mit  diesem  früheren  Sitze  der  üsipeter  stimmt 
nicht  nur  ihre  Angabe,  dass  sie  von  den  Sueben  aus  ihren  früheren 
Sitzen  vertrieben  worden  seien  zu  Cäsar's  Zeit ,  sondern  auch  die 
Ueberlieferung  des  Tacitus,  Histor.  IV,  37,  dass  sie  im  Aufstande  des 
Bataver  Civilis  zusammen  mit  den  Chatten  und  Mattiakern  Mainz  be- 
lagern, was  auf  ihr  damals  noch  fortdauerndes  Wohnen  um  Usingen  mit 
Nothwendfgkeit  hinführt.  Dass  sie  also  fast  gleichzeitig  in  so  weit 
getrennten  Gebieten  wohnen,  erklärt  sich  einfach  daraus,  dass  die 
Sueben  ursprünglich  nicht  alle  Anwohner  des  Usethales  in  der  Wet- 
terau austrieben,  sondern  nur  die  mit  der  Herrschaft  der  Eroberer  Un- 
zufriedenen ,  und  dass  diese  nach  Sjährigem  Umherziehen  mit  den 
Tencterern  einen  neuen  Wohnsitz  im  Lande  der  Sugambern  am 
Niederrhein  erwarben ,  wohin  sie  dann  ihren  alten  Namen  trugen, 
wahrscheinlich  auch  der  Yssel  Ussala  den  Namen  gegeben  haben. 
Dass  sie  hier  eine  gute  Gegend  getrofien ,  bemerkt  Dederich  a.  a.  O. 
S.  134,  wo  er  von  den  gesegneten  Fluren  um  Rees,  Grinthausen, 
Warbeye,  Kellen,  Huisberden,  Wissel  u,  s.  w.,  und  ihrer  sprich- 


*  Es  wird  festzustellen  sein,  ob  nicht  auch  der  Namen  der  Helvetii 
vom  Niederrhein  stammt ;  wie  denn  die  Maas  (Kampen,  Gesch.  d.  Nieder- 
lande I.,  S.  4)  in  einem  stundenbreiten  Bette  (Helium)  dem  Meere  zu- 
fliesst  und  hier  Helvoetsluis  liegt.  Die  Helvetier  waren  ja  ehedem  Bewoh- 
ner des  ganzen  Rheingebietes. 


Chatten  und  Hessen.  141 

wörtlichen  Fruchtbarkeit  spricht.  Dass  es  sich  bei  der  Erwähnung  der 
Usipher  in  dieser  Gegend  um  die  Bewohner  einer  ordentlichen  Civitas 
handelt,  beweist  noch  das  von  Th,  Mommsen  (Abhandl.  der  phil.  hist. 
Klasse  der  k.  Acaderaie  der  Wissensch.  zu  Berlin,  Jahrg.  62,  S.  489) 
veröffentlichte  Verzeichniss  der  römischen  Provinzen  aus  dem  Jahre 
297  p.  Chr.,  wo  unter  den  nomina  civitatum  trans  renum  fluvium  zu- 
erst Usiphorum  genannt  wird,  wie  es  dann  bei  Tacitus  Hist.  IV,  37 
auch  heisst  nicht  Usipetes  sondern  Usipii,  woraus  man  sieht,  dass  Use 
der  Hauptstamm  des  Wortes  und  der  Zusatz  petes  oder  ipii ,  iphi  gleich- 
gültiger ist. 

Diese  Auslassung  über  Usipetes  und  die  Zurückführung  auch 
ihres  Namens  auf  einen  Landschafts-  oder  Gemeindenamen  mag  uns 
nun  noch  auf  zwei  andere  nach  demselben  Prinzip  zu  erklärende  wich- 
tige Namen  führen ,  um  durch  die  Analogie  unsere  Beweisführung 
möglichst  zu  kräftigen,  auf  die  natürlichste  Erklärung  des  Namens  der 
Germanen  und  der  Preussen. 

Was  den  Namen  Germanen  betrifft,  so  hat  noch  einmal  Schacht 
Dr.  C.  über  Geschichte  der  deutschen  Sprache  von  der  ältesten  Zeit 
bis  zum  Althochdeutschen  (Herbstprogramra  der  Realschule  I.  0.  zu 
Elberfekl  1868)  die  Ansichten  über  die  Entstehung  des  Namens  zu- 
sammengestellt als:  Jak.  Grimm's  Ansicht  kelt.  gairm  wyn  =  schreien- 
der Krieger;  Garman  =  Nachbar  (Mahn,  Ursprung  der  Bedeutung 
des  Namens  Germanen,  Berlin  1864,  ähnlich  wie  Leo,  Waitz,  Zeuss) ; 
Germani  =  leibliche  Brüder,  oder  Wehrmänner,  Spiessmänner.  Alle 
diese  Deutungen  leiden  an  etwas  Unvereinbarem.  Das  Schreien  der 
Krieger  passt  nicht  bloss  auf  die  Germanen,  auch  die  Gallier  hatten 
dieselbe.  Gewohnheit  des  Schlachtenrufes ;  der  Begriff  Nachbar  ist  erst 
später  entstanden  durch  das  Nebeneinanderwohnen  eines  sesshaften 
ackerbautreibenden  Volkes;  die  Erklärung  leiblich,  Bruder  ist  nur  ein 
Wortspiel  und  von  Ger,  Speer,  Spiess  u.  s.  w.  konnten  die  Mannen 
nicht  wohl  genannt  werden,  weil  die  alte  gotli.  Form  gaisa  für  Speer 
ist,  und  auch  diese  Bewaffnung  nichts  besonderes  Germanisches  Avar.  Die 
erstgenannte  Erklärung  Grimm's  aber  hapert  an  der  noch  unvollkom- 
menen Aufdeckung  der  keltischen  Sprache. 

Schacht  hebt  nun  selbst  schon  hervor,  dass  die  germanischen 
Stämme  sich  ursprünglich  selbst  nicht  Germanen  nannten ,  sondern 
jeder  Stamm  mit  dem  ihm  eigenthümlichen  Stammes-,  meist  von  einer 
Oertlichkeit  hergenommenen  Namen.     Li  den  Augen  der  Römer,  des 


142  Chatten  und  Hessen. 

Jul.  Cäsar  waren  die  Usipeter  und  Tenctercr  ebenso  gut  Germanen 
wie  die  Sueben,  aber  jene  nannten  diese  eben  nur  Sueben,  auch  traten 
die  Sueben  gleich  feindlich  gegen  Römer  wie  gegen  dte  stammesver- 
wandten Usipeter  und  Tencterer  auf.  Cäs.  nennt  De  b,  Gall.  2,  4 
die  Condruser,  Eburonen,  Caeroser  und  Paeraaner  Germanen ,  schätzt 
ihre  Mannschaft  auf  40000;  schon  Tacitus  nennt  ihre  Namen  nicht 
mehr  und  an  ihrer  Stelle  die  Tungern  (Germ.  2,  Hist.  II,  28,  IV,  16, 
55,  66,  79,  cf.Plin.  IV,  17,  XXI,  28,  Sil.  Ital.  VII,  681,  not.  dign. 
occid.  c.  38,  Amm.  Marcell.  XV,  11.  Tab.  Peut.  Advaca  Tungrorum). 
Ebenso  verschwinden  die  Cäs.  d.  b.  G.  2.  4.  16.  29.  31  ;  5,  27.  38. 
39.  56;  6,  2.  33  genannten  Aduatuci,  wie  es  scheint,  unter  dem  Na- 
men der  Tungri,  und  doch  erzählt  auch  von  ihnen  schon  Cäsar,  dass 
sie  eigentlich  von  den  Cimbern  und  Teutonen  zur  Bewachung  hier  zu- 
rückgelassenen Gepäckes  aufgestellte  Germanen  gewesen.  Alle  diese 
einzelnen  Stämme  nahmen  daher  ihre  Namen  nicht  nach  der  allgemei- 
nen Herkunft  von  den  Germanen,  sondern  nach  der  Ortschaft  oder  Land- 
schaft, in  welcher  sie  sassen,  oder  von  dem  Volke,  welchem  sie  sich  unter- 
warfen. Wenn  Cäsar,  wie  oben  schon  erwähnt  worden,  über  die  Beigen 
erzählt  bekam,  dass  es  von  den  Germanen  jenseits  des  Rheins  herüberge- 
kommene Stämme  seien,  so  erhielt  er  diese  Kunde  von  den  Galliern,  nicht 
von  den  Beigen  selbst,  und  auch  ihre  Namen,  wie  die  der  Atrebaten 
lassen  sich  aus  niederdeutschen  Wortstämmen  erklären.  Z.  B.  ge- 
hört der  Name  Bellovaci  zu  der  Bildung  waag,  vagen ,  wie  wir  es  in 
Norwegen,  Hückeswagen  im  Bergischen,  Ost-  und  Vestvaagen,  In- 
selmann im  Nord-Drontheimschen  Gebirge,  Honningvaagfjeld,  Klöden, 
pol.  Geogr.  v.  Europa,  S.  779  u.  788,  Nymvegen  ,  Unter-  und  Ober- 
Schön- Matten  waag  im  Odenwald  an  den  von  einander  entlegensten 
Orten  wieder  finden.  Wie  schön  von  scheinen ,  so  kommt  das  hello  in 
Bellovaag  —  Bellovaci  von  sanskrit  bhäla  Glanz,  griechisch  qialog, 
licht,  hell,  altnord.  bäl,  angels.  bael,  kirchenslav.  bela  weisses  Kleid, 
belü  weiss ;  wovon  bei  beau  französisch ,  jetzt  die  Gegend  der  Bello- 
vaci Beauvais  heisst.  So  ist  es  auch  mit  dem  Namen  der  Veroman- 
dui,  jetzt  der  Bewohner  von  Vermandois.  Es  liegt  in  Vermandois  ein 
Vermand  am  Omigeon.  Entweder  ist  dieser  Name  gebildet  nach  der 
Analogie  des  Namens  Normandie,  Normannenland,  denn  „man"  heisst 
im  Zend  „bleiben,"  griechisch  fitvsiv,  lateinisch  manere,  davon  mansus 
das  Bauerngut,  davon  auch  noch  der  durch  ganz  Deutschland  vor- 
kommende Zusatz  in  Ortsnamen  wie  in  Bodman  am  Bodensee,  Mett- 


Chatten  und  Hessen.  143 

mann  *  bei  Elberfeld,  Rodeman  im  Hessischen,  Todemann  bei  Rinteln. 
So  vermacht  ein  Arcgoz  Dronke  trad.  Fuld.  S.  34  n.  12  Güter  in 
Witmane  (Lohngau);  ibid.  S.  66,  Cap.  36,  wird  unter  den  Gütern  des 
Klosters  Fulda  Rotenmannen  aufgeführt  (Pahmannun,  Frienmannun  ? 
Westarmann, Leizmann,  Förstemann  II,  978).  Auch  mit  mand  kommt 
es'  vor,  z.  B.  in  Flamand,  (Flamengrie,  ein  Ort  in  Belgien,  östlich 
Valenciennes),  also  dass  Vläminger,  Flamland  neben  Flandern  steht,  ** 
wie  denn  sanskr.  mandira  Haus,  raandurä  Stall,  Hürde,  griechisch 
fiavÖQa  ebenfalls  Stall,  Hürde  bezeichnet  und  im  Waldeckischen,  im 
alten  Marserlande  der  Ort  Mandern  ***  nahe  der  hessischen  Grenze 
liegt,  wo  auch  das  Appellativum  Wega  für  Waag  vorkommt.  Oder 
es  führt  sich  der  Name  Vermand  auf  das  holländische  mond  und  mand 
für  Mündung  zurück,  zu  vergleichen  Dendermonde,  und  wirklich  liegt 
Vermand  an  der  Mündung  des  Wassers  in  einen  der  vielen  Seen, 
welche  in  der  Landschaft  vorhanden  sind.  So  kommt  für  Dortmund 
die  Schreibung  Trothmanne  vor. 

Nehmen  wir  zu  Germani,  f    das  niemals   Gerraamii   geschrieben 


*  Schwäbisch-Alemannisch,  Kuhn's  Zeitschrift  XV,  257  aus  der  Zimmer- 
schen  Chronik  :  wie  der  hirt  vilmals  fürgeben  hette,  wellte  er  den  hosten 
ochsen  in  seiner  rindermänni  daran  zu  bawstewr  geben.  Im  Zend  heisst 
maetbman  Vereinigung;    maethana  Wohnung. 

**  Vergl    zu  dein  eingeschobenen  d  das  nieder!.  Hendrik  zu  Heinrich. 

***  Derselbe  Ortsname  kommt  auch  im  Depart.  Moselle  zwischen  Perl 
und  Büdingen  vor. 

f  Was  z.  ß.  auch  ferner  den  Namen  der  Chauken  betrifit,  ein  Volks- 
stamm, der  nach  Tacit.  Germ,  sich  über  den  ganzen  Nordseestrand  von  den 
Friesen  im  Westen  ab  bis  östlich  im  Bogen  herum  zu  den  Chatten  erstreckte, 
so  sind  seine  Wohnsitze  zu  Tacitus  Zeit  heute  deshalb  nicht  leicht  an  Oert- 
lichkeiten  wieder  zu  erkennen,  weil  die  Küste  der  Nordsee  seit  der  Zeit 
durch  grosse  Sturmfluthen  zerrissen ,  um  den  Zuydersee,  den  Dollart 
u.  s.  w.  vermindert  worden  ist.  Doch  erinnert  an  den  Namen  z.  B.  im 
Osten  des  bezeichneten  Gebiets,  was  über  die  HaUigen  im  Amte  Husum 
gesagt  wird  v.  Klöden,  a.  a.  O.  S.  1050:  die  Halligen  sind  neuangedeichte 
Inseln,  auf  denen  die  Häuser  auf  erhöhten  Warfen  stehen ;  bei  hohen  Sturm- 
fluthen  geht  das  Wasser  aber  dennoch  in  die  Häuser  oder  nimmt  diese 
ganz  fort.  Hooge  hat  100 Häuser,  Langenes  und  Nordmarsch  haben  90.  —  In 
Hooge  haben  wir  das  Appellativum  zu  dem  Namen  der  Chauken  wieder, 
wie  sich  denn  im  Holländischen  der  Name  in  der  Form  t'Hoek,  Hoek,  Lief- 
kenshoek,  Futtershoek  an  Oude-Maas  wiederfindet.  Man  vergleiche  hierzu 
nun  die  Heuberge  im  Eiderstädtischen ,  Gebäude,  welche  auf  den  Warlen 
oder  Wurthen  stehen,  die  doch  wohl  ihren  Namen  von  Hochberge  haben, 
wie  denn  der  Name  hoch  in  manchen  Gegenden  zu  höe,  hoe  (Itzehoe)  oder 
zu  Huy  bei  Maestricht  und  der  Huy  bei  Halberstadt  oder  Hoya  eine  Hoch- 
landschaft verkürzt  wird.  Auf  der  andern  Seite  ist  wieder  das  H  zu  K  ver- 
dichtet, wie  im  Namen  des  Dorfes  Koog  in  Nordholland  bei  Zaandam.  So 
nennt  man  in  den  dänischen  Marschen  und  Dünen  erhöhte    Watten,    wenn 


^44  Chatten  und  Hessen 

wird,  noch  die  Namen  Marcomani,Alemania  (französ.  Allemagne;  davon 
allemand  der  Deutsche,  wie  er  hier  dem  Franzosen  zunächst  im  Elsass 
u.  s.  w.  sich  darstellte,  wie  der  Deutsche  in  Holland  zunächst  dem  Eng- 
länder stand  und  daher  den  Namen  the  Dutch  allein  auch  für  die  Eng- 
länder behalten  hat,  während  für  uns  eigentliche  Deutsche  der  gelehrte 
Name  Germans  aufgekommen  ist),  Cenomani  in  Maine  mit  dem  Ort 
Le  Mans,  die  französischen  Landschaften  Lomagne  im  Herzogthum 
Gascogne,  eine  weite  Ebne,  Limagne  eine  fruchtbare  Ebne  des  AUier- 
thales  von  Brioude  bis  Vichy,  Pacmani  verglichen  mit  den  KaQfidvioi, 
persisch,  Strabo,  Ptolem.  6,  8,  12,  KaQfiavia  am  indischen  Meere, 
Ol  KaQfiavoi  Bion.  P.  1083,  KaQfidnog  Steph.  Byz.,  als  bes.  Form 
KuQfiavig  Bion.  606,  die ^Qixtviot.  am  Ararat,  Herodot.  I,  194,  reQ^dvtoi 
Herod.  I,  125,  welche  zu  den  Ackerpflügern  unter  den  persischen  Stäm- 
men zählen,  lA&afiävEg  in  Idd^ufinvia  der  Landschaft  in  Epirus,  ein  von 
denLapithen  vertriebener  thessalischer  Völkerstamm,  der  sich  dann  am 
Pindus  niederliess  (Strabo,  Polybius) ,  so  haben  wir  eine  ansehnliche 
Sammlung  von  Orts-  und  Volksnamen ,  in  welchen  der  Zusatz  mania 
wohl  auf  den  Begriff  Wohnstätte ,  Land  u.  s.  w.,  zurückgefürt  werden 
kann;  es  ist  nun  noch  der  Vorsatz  ger  zu  erklären.  Da  haben  wir 
denn  zunächst  das  altpersische  (Zend)  gairi,  Sanskrit  giri  (Dawalagiri 

sie  mit  dem  Festland  noch  zusammenhängen  Vorland;  wenn  sie  zur  Insel 
geworden  sind,  Hallig  ;  sichern  sich  Anwohner  derselben  gegen  die  Sturm- 
fluthen  durch  ringsumlaufende  Deiche,  Koog.  Hiermit  vergleiche  man  nun 
die  Beschreibung  des  PHnius  von  den  Wohnsitzen  der  Chauken,  ob  sie  nicht 
auf  die  Friesen  passen.  Dass  der  Name  Koog  noch  allerlei  lautlichen  Ver- 
änderuno-en  ausgesetzt  gewesen,  beweist  der  Name  des  Gudskougsees  in 
Danemark  und  des  Ortes  Blaeskoeg  in  Island.  Are  Frodi,  3,  Geschichts- 
Schreiber  der  deutsch.  Vorzeit,  Ad.  v.  Bremen,  S.  222,  Anmerk.  3.  Was 
die  oben  angedeuteten  Sturmßuthen  betrifft,  so  wird  z.  B.  allein  für  das 
Amt  Tondern  daran  erinnert,  dass  vor  dem  Jahre  1240  der  nordfriesische 
Inselcomplex  sich  20  Meilen  in  der  Länge  und  12  Meilen  in  der  Breite, 
von  der  Ostseite  des  Dreiinsellandes  (Eiderstedt)  bis  zu  dem  untergegange- 
nen  Ameringer  Barren  ausdehnte.  1634,  in  der  Nacht  zum  12.  October, 
verloren  allein  in  dieser  Sturmlluth  15000  Nordfriesen  ihr  Leben.  Die 
Frao-e  ist  noch,  ob  nicht  auch  die  Namen  der  Inseln  Wangerooge,  Spicker- 
Oo<?e,  Rottumer-Oog,  Schiermannik-Oog  etc.  hierher  zu  ziehen  sind,  als 
Reste  des  nun  zu  Inseln  zerrissenen  Chaukenlandes ,  das  sich  die  ganze 
Kiiste  der  Nordsee  entlang  erstreckte.  Hier  ist  noch  anzuführen,  was  Van 
den  Bergh  (Verdeeling  van  Neederland  in  het  Eomeinsche  tijdvak,  S.  14, 
Biidrao-en  voor  Vaderl.  geschiedenis  en  oudheidkunde  deel  X,  von  dem 
alten  Orte  Hugmerchi  sagt :  „mark  of  district  der  Chauken  die  dus  hier 
midden  onder  de  Friezen  enne  Kolonie  gesticht  hedden.«  Man  denke  auch 
noch  an  den  Strich  Landes  nördlich  von  der  Mündung  der  alten  und  neuen 
Maas,  o-enannt  der  Hoek  von  Holland.  Ob  auch  der  Name  der  Insel  Kaa,- 
gen  bei  Drontheim  hierher  zu  ziehen  ist? 


Chatten  und  Hessen.  145 

Montblanc)  für  Berg;  kirchenslaviscli  gora,  littau.  gira,  gire  für    Wald, 
Forst;   denselben    Bggriff  in  dem    Namen  der  Berggruppe  der  Hercy- 
nia  in  dem  niederdeutschen  Haar  in  Harstrang,  Rothäargebirge,  so  dass 
Hermania  mit  dem  verdichteten  Gaumenlaute  G  statt  H  Germania  das 
Bergland  wäre,  aus    welchem   die  Germani   in  immer  neuen  Stämmen 
hervor  wanderten,  um  die  besser  bebauten   Gefilde  der  Gallier  und  Rö- 
7iier  zu  besetzen.     Zum  Namen  Germania  passt  der  Begriff  Hercynia 
Haardt-  oder  Harzgebirge,  denn  überall  längs  des  Eheines  stossen  uns 
die  Haardten  auf;    sowohl  in  der  pfälzischen,   linksrheinischen  Haardt, 
wie  in  dem  rechtsrheinischen   Spesshardt,  den   Haardten   im  Schwarz- 
wakl,  im  Schwäbischen  u.  s.  w.  bis  zum  obengenannten  Haarstrang  und 
zum  ostniederdeutschen  Harz,   nicht  zu   gedenken   der  un«ähligen  klei- 
nen Berge  und  Wälder,   welche  mit    diesen   Namen   im   lieben  Vater- 
terlande  bezeichnet  sind.     Man  denke  dabei  auch  an  das  mit  dem  mo- 
dernen   Namen    „das    Bergische"    bezeichneten    Bergland    rechts    des 
Rheins.     Der  Wortstamm  kar,   gar,   ker,  ger,  gir  u.  s.  w.  ist  offenbar 
eine  Verschleifung  von  dem   ursprünglichen  skar,   der  den  ursprüngli- 
chen  Begriff  des   Empor-  und  Hervorspringenden  in  sich  enthält.     So 
heisst    Sanskrit    (jri    kochen ,     ^irra    flammend ;    Zend    9kar    springen, 
9kaira  der  Wälzeplatz  der  Pferde,  griechisch    axaiQO},  axiQtäv-Hv  sprin- 
gen,   hüpfen,   gothisch    skreitan ;    altnordisch    skardh;    althochdeutsch 
scera    der    Maulwurf     (Muilaufwerfer) ;    man    vergleiche    hierzu     das 
griech.    anÖQÖa'i  = '/.öoSa^ ,    das    skandinavische   skära  für  die  hervor- 
springenden Klippen  der  norwegischen  Küste,   unsere   Worte   Scharte, 
Scheere ;   ferner  das  littauische  szirdis  für  Herz,  welches  das  ursprüng- 
liche s  noch  bewahrt,   w^o   es    das    Sanskrit  bereits   verloren  hat,    ssk. 
hrd,  hardi  Herz,  lateinisch  cord-is  (cor),  der  Hüpferim  thierischen  Körper. 
Hierzu  gehören  die  Formen  y,aQÖtd,  aÖQ&vg,  Erhebung,    Haufen,  cornu 
latein.;,  haurn  gothisch;  Hörn  neuhochdeutsch ;  cervus  der  Hirsch,  Ge- 
hörnte; äol.  KSQuFog-,   angelsäch.   heorot ;    althochdeutsch  hiruz;    engl, 
hart,   unser   Hirzebock,    Hirsch;    Sanskr.  9iras  Herr,  zend.  9ara,  rus- 
sisch Czar,  griech.  y.aq  Haupt,  latein.  cerus ,    Schöpfer,   wovon   creare, 
xaQuvog,  HOtQavoig ,  Aqscov  ,   altnordisch    harri,    herra,   angelsächsisch 
herra,  gothisch    harja,    althochdeutsch   herro,  unser   Herr.      Littauisch 
szeras ,     szerys    Borste ,     griech.     xan     Haar ,    latein.     crinis ,    angels. 
althochd.     hfir    Haar,     sanskr.     kesara     Haupthaar,     Mähne,    latein. 
caesaries    das    Lockenhaar,    littau.    kasa    Flechte,    kirchenslav.  kosa 
Haar;    sanskrit.    khara   eine    Art    Dorn,    griech.  wie     oben    naQÖia 

Archiv  f.  n.  Siiiaclieii.  XLVIU.  10 


146  Chatten  und  Hessen. 

Erhebung,  deutsch  Haardt,  abgekürzt  in  Haar,  Rothaar-Gebirgc, 
Haarstrang.  « 

Die  Entwickelungsreihen  lassen  sich  noch  weiter  ausführen,  so 
z.  B.  von  ghars  starren ,  rauh  sein  ans  sanskrit  harsh ,  davon  unser 
„Gerste,"  latein.  hordeuni  von  horrere,  starren;  so  heisst  gharmen, 
germen  auch  der  Schössling,  Keim.  —  Doch  vi'ir  kehren  zu  unserem 
Ger  für  gairi ,  Berg  ,  zurück  und  erklären  den  Namen  Germania  als 
Bergland,  in  welchem  die  Hercynia  liegt  und  die  Germani  als 
B  erg-H  ochläuder  wohnen.  Die  Heicynia  hat  natürlich  ihren  Na- 
men ebenfalls  von  demselben  Stamme  wie  die  Menschenwohnstätte  Ger- 
mania, so  heisst  bei  Erich,  ann.  Pertz.  I,  192  die  Hercynia,  nämlich 
der  Böhmerwald  nahe  dem  Erzgebirge,  ganz  bezeichnend  Hircanus  sal- 
tus.  wie  hircus  der  Bock  (Hirzebock)  vom  Springen  den  Namen  hat, 
wiesaltus,  die  Waldschlucht,  ebenfalls  von  salire,  springen,  tanzen 
entwickelt  ist.  In  transl.  S.  Dionys.  Pertz.  XHI,  352  heisst  Hercy- 
nia Hircania  u.  s.  w. 

Hätten  wir  nun  so  den  Gesammtnamen  der  Stämme,  welche  aus 
den  rechtsrheinischen  Berglandschaften  heraus  auf  die  gallischen  und 
römischen  Gebiete  losbrachen ,  näher  zu  bestimmen  gesucht  und  wie- 
der gefunden,  dass  wir  auf  einen  Namen  gekommen  sind,  welcher  der 
natürlichen  Bodenbeschaffenheit  entsprungen  ist ,  so  wollen  wir  nun 
das  Exempel  auch  noch  an  dem  Namen  der  Preussen  zu  machen 
versuchen. 

Wo  das  Volk  der  Preussen  zum  ersten  Male,  so  zu  sagen, 
in  die  geschriebene  Geschichte  eintritt,  wohnt  es  um  die  Mündung 
der  Weichsel;  der  Erzbischof  von  Gnesen ,  Adalbert,  wird  hier  von 
einer  Schaar  Preussen  997  erschlagen;  in  der  999  geschriebenen  Vita 
S.  Adalb.  Canapar.  Pertz  VI,  593,  9G.  97  wird  das  Volk  genannt 
Pruzzi  mit  der  Variante  Prusi ,  das  Land  Pruzzia  oder  Pruzia.  Als 
der  deutsche  Orden  die  Bekehrung  der  heidnischen  Preussen  unter- 
nimmt, beginnt  er  sie  von  Cuhn  aus;  in  den  in  jener  Zeit  ergange- 
nen päpstlichen  Schreiben  wird  das  Land  einmal  nach  lateinischer 
Aussprache  Epist.  Honori  III,  Cod.  dipl.  Pruss.  I,  Ni.  1217,  Prus- 
sia  und  1218  epist.  Honor.  daselbst  No.  2  das  Volk  in  plattdeut- 
scher Mundart  Pruteni  genannt ;  das  Land  aber  hier  wieder  Prussia, 
wie  auch  in  Urkunden  von  1222,  1226,  w^o  der  Volksname  platt- 
deutsch geschrieben  ist.  Das  Land  nun  ,  das  hier  ins  Auge  gefasst 
ist,  wird  in  der  Abhandlung:  Land  und  Leute  von  Preussen,  v.  F.W. 


Chatten  und  Hessen.  147 

Schmidt  Dr.  phil.  Zeitschrift  für  prcuss.  Gesch.  u.  Landeskunde,  1870, 
Junnarheft  S.  41,  42  in  Betreff  seiner  Naturbeschaffenheit  also  geschil- 
dert: „Da  die  westpreussische  Platte  — ■  auch  im  Ganzen  genommen  — 
die  höchste  Erhebung  des  Bodens  auf  dem  Gebiete  des  norduralischen 
Höhenganges  ist,  so  wird  begreiflich,  dass  die  beiden  Strömungen, 
welche  um  den  Besitz  der  Lüfte  beständig  im  Kampfe  liegen,  hier  vor- 
zugsweise hart  aneinander  stossen.  Westpreussen  wird  von 
Winden  mehr  als  ein  anderes  Land  gepeitscht.  Zu  jeder 
Jahres-  und  zu  jeder  Tageszeit  kann  man  in  "Westpreussen  das  Ge- 
räusch des  Windes  hören;  und  wie  man  von  England  sagen  kann,  dass 
„der  Hegen  dort  regnet  jegliclien  Tag,"  so  kann  man  von  Westpreus- 
sen mit  Recht  behaupten,  dass  „der  Wind  dort  alle  Tage  pfeift''  etc. 
Hr.  Schmidt  führt  noch  an,  dass  ein  Reisender  das  Land  Wind- 
preussen   genannt  habe. 

Betrachten  wir  nun  zunächst  eine  Anzahl  Ortsnamen,  welche  im 
Bereich  des  zuerst  als  solchen  bekannt  gevvoidcnen  preussischen  Kul- 
mer-Landes liegen  und  deren  Namen  auf  den  ursprünglichen  Stamm 
im  Namen  Preussen  sich  zurückführen  lässt:  Gr.  Brudzaw,  Prussy 
oder  Pruszy  im  Kreis  Kuhn,  Brosowken  bei  Stulim,  südl.  Marienburg, 
Prussy  auch  in  den  Kreisen  Konitz  und  Pleschen  ;  Pruski,  Prust  in 
Kr.  Seh  wetz;  Prust  auch  in  den  Kreisen  Konitz  und  Greiffenberg; 
Praust  an  der  Radaune,  südl.  Danzig;  Prothanien  (vgl.  die  Form  Pru- 
theni)  in  Kr.  Mohrungen ,  Prüssau  ,  Kr.  Neustadt  (Cassuben),  Pritz- 
nau  daselbst;  Prusnalonka,  Kr.  Thorn ;  Prussewice ,  Kr.  Schroda ; 
Pruszinowa,  Kr.  Neidenburg;  Briesen  zwischen  zwei  Seen  (Briesen- 
und  Schlosssec)  südl.  Graudenz ;  Pruszczeck  in  Posen;  Proszysk, 
Kr.  Inowraclaw  ;  Prusiec,  Kr.  Wongrowiec;  Prusira,  Kr.  Birnbaum; 
Prittisch ,  Kr.  Birnbaum;  Prossen  ,  Kr.  Chodziesen;  Preusshof,  Kreis 
Osterode. 

Die  Namen  aller  der  hier  aufgezählten  Orte  scheinen  auf  einen  ge- 
meinsamen Wortstamm  zurück  zu  gehen ,  der  sich  im  Neuhochdeut- 
schen in  Brausen  (vom  AVinde),  Windsbraut ;  Briese  (Schifferausdruck 
für  Wind),  Brust,  das  Luft  holende  und  ausschnaubende  Körperorgan, 
preisen  ::=  laut  loben ,  prusten  wiederfindet ;  aus  dem  Alt-  und  Mit- 
telhochdeutschen gehört  hierher:  prädam,  bradem ,  brödem  Hauch, 
Brodem ,  angels.  braedh  Hauch,  engl,  breath;  auch  briezen  =  dem 
englischen  to  breeze  wehen,  to  breath  athmen ;  brisk  englisch  für 
frisch  vom  Winde,  to  brustle  rauschen,   knirschen.      Im  Französischen 

10* 


148  Chatten  und  Hessen. 

entspricht  bniir  brausen,  bruit  das  Geräusch  (particip.  bruissant).  Im 
Lateinischen  scheint  der  Wortstamm  nur  sehr  vereinzelt  aufzutreten, 
"Wohl  führt  sich  darauf  fretum,  das  Brausen,  Wallen  (Hitze)  die  gegen 
das  Gestade  antobende  Fluth  (eine  Meerenge) ,  der  Stamm  pret  in 
dem  Worte  interpretari  und  vielleicht  auch  der  Name  procella  Sturm, 
und  Name  der  Bruttier  des  auf  der  schmalen  Landzunge  zwischen 
zwei  Meeren  wohnenden  Volksstammes  in  Süditalien  zurück,  womit 
wir  denn  auch  zu  dem  Namen  der  zu  beiden  Seiten  des  äusserst  stürmi- 
schen Canals  von  La  Manche  liegenden  Küsten  Britannien  und  Bretagne,* 
kämen,  wie  denn  das  lateinische  Bruttii  griech.  BQtTtiot,  wie  ihr  Land 
BQsrrid  lautet.  Es  wäre  auch  dieses  Land  wie  eine  Art  Brauseland 
aufzufassen.  Heisst  doch  auch  Hibernia,  lerne,  Ireland  wahrscheinlich 
nach  hiems,L'hiver(  Winter-Regenzeit),  imber,  hibernia(Winterquartierc), 
nichts  anderes  als  Regenland.  Im  Griechischen  entsprächen  dem  ange- 
führten Wortstamrae  die  Worte  ?r(j(jöT/J()  =  heftiger  Sturmwind,  nQiarig 
der  Sprüh-  oder  Wallfisch,  TlQovaa  der  Name  eines  Ortes  mit  warmen 
Quellen,  IlQojtEvg  der  Meergott, /7^cot<V  eine  Plejade,  ßgvaig  (fco?)  das 
Aufquellen,  Hervorcfhellen  (Suid.,  Eust.  etc.) 

Es  muss  erlaubt  sein,  auf  gleiche  Entstehung  zu  schliessen,  wenn 
man  die  Namen  für  hochgelegene  oder  dem  Meersturm  ausgesetzte 
Orte  an  den  entlegensten  Enden  ebenso  wiederfindet ,  so  im  russischen 
Gouvernement  Grodno  Am  Muchanez,  an  dem  auch  der  Ort  Prushany 
liegt,  in  Litthauen   die  Festung  Litthauisch  Brest  =  Brzesc-Litowiky 


*)  Findet  sich  doch  auch,  wie  für  den  Namen  Pruthenl  die  Schreibung 
Brnteni,  so  für  Boett-  die  Schreibung  ITosTravixrj^ ,  Diodor.  5,  22  nach  Ti- 
maeus ;  ebenso  Strabo  p.  114  noETTavixMv ;  MüUenhoff",  deutsche  Alter- 
thumskunde  1870,  I,  S.  94,  sagt  zu  der  Lesart  n^sTTnvixni  {in^aoi')  in  der 
Anmerkung :  Denn  dies  scheint  die  ältere  den  Griechen  ehedem  allein  ge- 
läufige Form,  die  erst  durch  spatere  Abschreiber  aus  dem  Texte  des  Strabo, 
Diodor,  Ftolemaeus  u.  A.  verdrängt  wurde.  K.  Müller  G.  M.  I,  CXXXV, 
516,  ff.  vgl.  wälsch  ynys  Frydein  insula  britannia  Zeuss  Gramm.  S.  46,  793. 
Ein  Zeugniss  zu  einer  hier  durchaus  passenden  Analogie,  aber  auf  einem 
ganz  unverfänglichen  Gebiete,  giebt  der  Name  des  Ortes  Bretzeuheim  bei 
Mainz.  Es  heisst  Scriba,  liegesten  der  Urkunden  des  Grossh.  Hessen,  IL  Ab- 
theil., Rheinhessen  S.  1,  villa  Prittonorum  in  einer  Urkunde  von  753  ;  a.  a.  O. 
S.  9  Brittenheimer  marca  und  Britcenheim  neben  einander  in  767  :  weiter 
770  Brizenheim;  772  wieder  Brittenheim;  773  in  monte  Prittonorum  neben 
vil.  Brittanorum ;  775  Brizzenheim;  777  in  marca  ßrettonorum;  778  Brez- 
zenheim;  bei  Eberh.  Monach.  Brisenheim;  779  Brezzenheim;  782  Britten- 
heim; 1056,  1073  Brizcenheim;  114U  Brieenheim;  1151  Brizzenheim; 
1200  Britzenheim;  1290  Bretzenheim  u.  s,  w.  Diese  Wandlung  thut  zur 
Genüge  dar,  dass  es  erlaubt  ist,  gemeinsame  Wortstammentwickelung  vor- 
auszusetzen. 


Chatten  und  Hessen.  149 

und  der  Hauptort  in  der  Bretagne,  der  erste  Kriegshafen  Frankreichs 
Brest  mit  dem  Fort  Brethume. 

Kommen  wir  hiermit  nun  auf  weitere  Wortanklänge  im  Preus- 
senlande  an  der  Weichselmündung.  So  haben  wir  nahe  Elbing  das 
frische  Haff  und  die  frische  Nehrung,  das  aus  dem  Frietzener  Forste 
kommende  Gewässer  Frisching ;  an  der  Spitze  der  Halbinsel,  welche 
das  frische  Haff  von  dem  Kurischen  Haff  scheidet,  das  Cap  B  r  ü  s  t  e  r 
0  r  t.  Da  Ort  nach  der  Analogie  des  Schuhmacher- Werkzeuges  so  viel 
als  Spitze  bedeutet,  was  also  gleichbedeutend  wäre  mit  Vorgebirge, 
Nase  (Skudesnäs)  und  andern  bildlichen  Ausdrücken  für  Küstenvor- 
sprünge,  so  wird  der  Ausdruck  Brüster  nicht  unthunlich  zurückzufüh- 
ren sein  auf  den  Wortstamm  Brust  (prusten)  und  der  Name  frisch  in 
Frisching,  Frisches  Haff  etc.  auf  das  englische  brisk,  vom  Winde  = 
brausig,  preussisch,  d.  h.  ursprünglich  windisch,  stürmisch. 

Dass  Ortsbezeichnuugen  dieser  Entstehung  eine  INIenge  vorhanden 
sind,  braucht  keines  schwierigen  Beweises.  Um  sofort  an  dem  hier 
vorliegenden  Namenanklang  anzuknüpfen,  wird  jetzt  im  vormaligen 
Herzogthum  Nassau,  in  der  alten  Grafschaft  Katzenelnbogen ,  ein  Hof 
Priester  bach  aufgeführt,  der  sich  zwischen  den  Jahren  1142  und 
1197  im  Besitze  des  nahe  gelegenen  Klosters  Arnstein  befand.  Wäh- 
rend sich  in  einer  Lebensbeschreibung  des  Grafen  v.  Arnstein ,  der  das 
Kloster  gestiftet,  Wenck,  hess.  Landesgesch.  H.,  S.  112,  Anm.  aufge- 
führt findet:  silva,  quae  Brustingesbach  dicitur,  steht  dafür  1197  in 
einer  Bestätigungsurkunde  des  Trier.  Erzbischofes  ipsam  etiam  villam 
Brustenbach,  wozu  Wenck  bemerkt:  der  jetzige  Hof  Priesterbach  oder 
Sprieferbach ,  von  dem  vorher  nur  der  Wald  angegeben  wurde.  In 
einer  Urkunde  von  lo2G,  Wenck  a.  a.  0.  Urkunde  S.  109  heisst  der 
Hof  dann  Brustelspach.  Wahrscheinlich  ist  doch  hier  aus  einem  Brause- 
bach ein  Priesterbach  geworden.  Ferner  haben  wir  zwischen  Escb- 
wegö  und  Treffurt  an  der  Werra  einen  Ort  Burschla,  Borschel,  zu 
welchem  die  alten  Schreibungen  Brustlohun  aus  dem  9.  Jahrhun- 
dert und  dem  Jahre  874,  und  Bruslaha  z.  Jahre  1061  (vgl.  Förste- 
mann,  altd.  Ortsnamen,  S.  309)  vorhanden  sind.  Die  Oertlichkeit  be- 
findet sich  im  Einklang  mit  dem  Namen ;  es  handelt  sich  um  ein  durch 
vorspringende  Felsen  (Heldrastein)  eingeengtes  Flussbett,  in  welchem 
das  Wasser  namentlich  in  alter  Zeit  bei  noch  viel  grösserem  Schwalle 
sich  rauschend  durchzwängte. 

Der  Wortstamm  briez  findet  sich    nun   noch  in  zahlreichen  Orts- 


150  ehalten  und  Hessen. 

namen  und  Wassernaraen  in  allen,  entfernt  voneinander  liegenden  Ge- 
genden wieder.  So  folgt  auf  das  Gebiet  der  alten  Rauraker  vom 
Bodensee  bis  Basel  (Rohrschach  bisAugusta  Rauracorum  =  Angst  bei 
Basel)  ,  der  Bris-  oder  modern  Breisgau  mit  dem  Ort  Alt-  und  Neu- 
Breisach.  Erinnert  schon  der  Name  Rorach  an  das  englische  to  roar, 
brüllen  und  das  mecklenburger  Platt  rören  für  das  Brüllen  der  Kin- 
der (latein.  rudere,  davon  auch  wahrscheinlich  der  Name  Rotten,  Rlio- 
danus,  Rhone,  rugire),  wie  denn  das  Land  der  Rauraker  auch  um  den 
donnernden  und  brausenden  Rheinfall  bei  Schaffhauseh  zu  suchen  ist, 
so  wird  auch  der  Name  Brisach  am  besten  zurückgeführt  auf  das  Brie- 
zen,  Brausen  des  Stromes.  So  fliesst  ferner  etwas  weiter  rheinabwarts 
im  Elsass  die  Brausche,  alt  ßrusca ,  in  den  Rhein ;  so  entspringt  ein 
im  Mittelalter  Briznach  geschriebener  Bach  in  Baden  auf  dem  Berge 
Britzenberg;  ein  Brusch,  alt  Brisiche ,  liegt  südwärts  von  Luxemburg 
bei  Frisange  und  Nieder-  und  Ober-Brisich,  zwischen  Sinzig  und  An- 
dernach am  Rhein.  Die  Lautveränderung  zwischen  briezen,  mittel- 
hochdeutsch, und  brausen,  neuhochdeutsch,  ist  aber  nicht  grösser  als 
zwischen  diezen  und  tosen,  Getöse  (latein.  dicere,  sanskr,  tus,  tosati). 
Die  Entstehung  aber  der  mit  bris  etc.  gebildeten  Oertlichkeitsnamen  fin- 
det ihre  Analogie  in  den  Brausebachs,  Braubachs,  Rauschenberg, 
Windeberg,  Windeck,  Bulderbach  (zwischen  Borcholt  und  Bcverungen, 
unser  Polterbach),  Billerbeck,  Soresberg  jetzt  Soisberg,  Sorge  von  Su- 
racha  (von  surren  für  rauschen),  Rohrbach  (Rarbecke),  Liederbach  von 
hleodor  =  helltönend,  Diezbach,Dissna,  Deissebach,  Kernbach  und  Keh- 
renbach vom  Althochdeutsch,  kerran,  cherran  rauschen,  wie  griechisch 
yrjQog Stimme,  Ruf,  ycigyao  Lärm,  sanskr.  gar,  jar  rauschen,  Pfieffe,  alt. 
phiopfe,  die  Pfeiffende  u.  s.  w. 

Für  das  Windland  Preussen,  alt  Pruzien,  Pruthenien,  kommt  nun 
noch  in  Betracht,  dass  die  Ortsnamen  mit  dem  Wortstamm  bris  etc. 
sich  vorzüglich  entlang  und  auf  der  ganzen  Höhenplatte  finden,  die 
sich  von  Litthauen  übei;  die  ostpreussische  Seenplatte ,  das  westpreus- 
sische  Oberland,  die  pommersche  Seenplatte,  die  mecklenburgische 
Seenplatte  bis  in  den  holsteinischen  Landrücken  hineinzieht.  Von 
Priessenau  im  Kr.  Neustadt  im  Cassubenlande  am  Nordostende  der 
pommerschen  Seenplatte  an  citiren  wir  beispielsweise  zwei  Pritzigs 
im  Kr.  Rummelsburg,  Pritten  Kr.  Dramburg,  daselbst  auch  Pritzen- 
gut,  Brüssow  an  einem  See  Kr.  Prenzlau,  Prützen  Kr.  Demmin,  Brie- 
seberg  bei  Königsberg  in  Neumark,    Güter  Briesz  in  Brüz  und  Neu- 


Chatten  uml  Hessen.  151 

Briez,  Priizen,  Breesen  in  Mecklenb. -Schwerin;  Protzen  Kr.  Ruppin, 
Preseke  auf  Rügen  zweimal ,  Prictzen  Westhavelland,  Kloster  Preetz 
in  Holstein  au  der  Schwentine;  13  Briesen  giebt  es  allein  in  unserm 
heutigen  Königreich  Preussen, 

Damit  erübrigt  uns  nun  noch  in  das  ostpreussische  Gebiet  einen 
Blick  zu  Averfen.  Von  den  hier  heute  noch  genannten  Landschaften, 
die  im  Mittelalter  später  als  Theile  des  alten  Prussiens  auftreten, 
nennt  Ptolemäus  die  Galinder  und  Südauer,  wo  also  noch  von  keinem 
Preussen  die  Rede  war.  Damals  herrschten  von  der  Weichsel  bis  zu 
den  Finnen  hier  die  Gutten,  wie  Ptolemäus  ebenfalls  anmerkt,  und  vor 
ihm  schon  Plinius  Guttones  genannt  hatte.  Bei  Tacitus,  der  zwi- 
schen beiden  schreibt,  wohnen  die  Aestier  in  dieser  Richtung,  und 
ist  dieser  Name  —  ich  folge  hier  den  Auseinandersetzungen  von 
Dr.  W.  Pierson,  Elektron  oder  über  die  Vorfahren,  Verwandtschaft 
und  den  Namen  der  alten  Preussen.  Berlin  18G9.  W.  Peiser  —  wie- 
der zu  finden  in  Osti  Alfred  des  Grossen ,  den  Eistir,  Eistland  der 
Snorre  Edda  nach  Zeuss,  S.  267;  den  Osterlings,  wie  die  Engländer, 
nach  Hartknoch  Alt-  und  Neu-Preussen,  1864,  S.  43,  noch  1G84  die 
Preussen  nannten  ;  ein  Name,  der  dann  mit  Adam  von  Bremen,  Pertz 
IX,  374  in  der  Form  Aestland  vornehmlich  auf  dem  heutigen  Esth- 
land  haften  bleibt. 

Aestier  wäre  hiernach  ein  allgemeiner,  wiederum  der  Himmels- 
gegend entnommener  Name  für  alle  Volksstämme,  welche  von  einer 
gewissen  Grenze  ab  nach  Osten  zu  wohnten  ,  darunter  begriffen  sich 
darm  Avieder  einzelne  Stämme  mit  andei-n  Namen,  u.  A.  auch  die  Go- 
Ihen,  welche  bekannter  Weise  zu  Tacitus  Zeit  bis  an  die  Weichsel 
reichen  und  ebenfalls  von  einer  Anzahl  Stimmen  in's  Preussenland 
gesetzt  werden.  So  also,  wie  schon  erwähnt,  nicht  bloss  Plinius  und 
Ptolemäus,  sondern  auch  c.  1200  noch  heisst  es  in  Vincent.  Kadlub- 
koiiis  Chron.  Polon  ed.  Przezd.  dzieck.  Cracov.  1862,  p.  201,  Gete 
dicuntur  omnes  Littuani,  Pruteni  et  alie  ibidem  genfes. 

Die  Skandinavier  des  Mittelalters  nannten  das  Festland  östlich, 
von  Polen,  von  der  Mündung  der  Weichsel  an  Gotaland,  cf.  Fornmanna 
Sögnr  XI ,  414  en  austr  fra  Polena  es  Reidhgothaland  (festes  Goth- 
land  im  Gegensatz  zu  Ey-Gothland  =  Insel-Gothland).  Die  russische 
Literatur  enthält  folgende  Citate:  Igorlied  c.  1150  ed.  Hanka  p.  20: 
Gotskyja  krasnyja  etc.  =  die    schönen   gothischen    Mädchen   am    Ufer 


152  Chatlen  und  Hessen. 

des  blauen  Meeres.*  Die  Preussen  selbst  hatten  bis  in's  17,  Jahrhun- 
dert für  diejenigen  ihrer  Landsleute,  die  am  kurischen  Haff  wohnten, 
wo  das  altpreusssische  Volksthum  sich  noch  erhalten  hatte,  so  wie 
für  die  Litthauer  das  Wort  Gudden,  der  Begriff  ist  aber,  was  man 
bei  uns  „altfränkisch"  nennt,  geworden  ,  und  hat  eine  geringschätzige 
Nebenbedeutung  erhalten  ;  zuletzt  heissen  den  nordwestlichen  Preussen 
alle  südwestlichen,  auch  die  Polen  und  Eussen,  Gudden.  Sodann  giebt 
es  eine  ganze  Anzahl  Ortsnamen ,  welche  an  den  Namen  der  Gothen 
erinnern,  wie  Dorf  Gutland  im  Danziger  Werder,  Gudendorf  östlich 
von  Elbing;  Gudnik  bei  Liebstadt  (wahrscheinlich  ursprünglich  Gu- 
denwik),  die  Stadt  Guttstadt,  im  Gründungsprivileg  vom  Jahre  1329 
f.  Cod.  Diplom.  Warmiens.  ed.  Wölke,  Saage  I,  S.  37,  Guthinstat 
genannt;  bei  Dusburch  III,  353  Guthstat;  die  Dörfer  Guttenfeld  bei 
Melsack,  Königsberg  und  Balga;  Juditten  bei  Königsberg  u.  A. 
Noch  zahlreicher  sind  solche  Ortsnamen  in  Samogitien  (Semb-Gothien?): 
Gudi,  Gudiski,  Gudajce  u.  A. ,  Schafarik  slav.  Alterthümer ,  übers. 
V.  Wuttke,  Leipz.  1843,  L  456. 

Und  wie  sahen  diese  offenbar  ehemals  gothischen  Preussen  aus  ? 
Darüber  sagt  Adam  von  Bremen  in  der  Hamburg.  Kirchengesch., 
Pertz  IX,  374:  „Es  sind  (die  Preussen)  blauäugige  Menschen,  mit 
rothem  Gesicht,  stark  behaart.  Hinter  ihren  unzugänglichen 
Sümpfen  halten  sie  sich  frei  von  fremdem  Joche."  Sie  sahen  also  aus 
wie  Germanen  und  sprachen  endlich  eine  Sprache,  deren  Reste  oft  noch 
ursprünglichere  Formen  enthalten ,  als  das  verwandte  Sanskrit,  oder 
wenigstens  oft  einen  dieser  alten  Sprachform  nähern  Stand  aufweisen, 
als  die  germanischen  Mundarten.  Fremde  Gelehrte  (vgl.  Dlugosz 
bist.  Polon.  I,  2,  ad  a.  997  1.  c.  p.  114,  ff.,  Miecho  Chron.  Polon. 
ed.  Cririus  Cracow.  1521,  II,  8)  fanden  an  der  preussischen 
Sprache  eine  auffallende  Aehnlichkeit  mit  dem  Griechischen ,  und 
schon  Ovid.  Trist  V,  151  spricht  von  Spuren  des  Griechischen  bei 
den  Geten.  v.  Bohlen  behauptet,  er  sei  im  Stande,  sich  den  littaui- 
schen  Bauern  mit  Hülfe  des  Sanskrit  verständlich  zu  machen,  während 
Adalbert  v.  Gnesen    sich    als  Slave  aus  Böhmen  wohl  den  slavischen 


*  Boleslaus  I.  wird  auf  seiner  Grnbsclirift  Herrscher  über  Gothen  ge- 
nannt, weil  er  littauische  und  preussische  Stämme  besiegt  hatte.  Im  Chron. 
Polon.  ap.  Stenzel  Scriptor.  rer.  Siles.  I,  11  werden  die  Pruteui  Getae, 
8.  9  Getas  i.  e.  Lithwanos  genannt,  und  diese  Chron.  stammt  aus  dem 
14.   Jahrhundert. 


Chatten  und  Hessen.  153 

Liutizi  an  der  Peene,  aber  nicht  den  Preussen  verständlich  zu  machen 
vermochte.  Vita  Bruni.  Pertz  VI,  607.  Ebenso  stimmt  die  Glau- 
bensform der  Preussen  und  Geten. 

Dies  mag  genügen,  um  uns  anschaulich  zu  machen,  wie  dieselben 
Gegenden  ,  welche  zu  einer  Zeit  die  Preussen  bewohnen ,  zu  anderer 
die  Gothen  inne  haben,  d.  h.  wie  die  Wanderung  der  Hauptmasse  der 
Gothen  nach  dem  Süden,  nach  dem  Don  und  Dnieper,  die  zurückge- 
bliebene gothische  Bevölkerung  ihren  Hauptnamen  vergessen  und  ein- 
zelne Landschaftsnamen  für  einzelne  Stämme  in  denselben  aufkommen 
lässt,  wie  denn  die  im  Lande  Preussen  von  Neuem  zu  Macht  und 
Bedeutung  heranwachsende,  ursprünglich  gothische,  aber  jetzt  auch  in 
Sprache  mehr  mit  der  finnischen  Urbevölkerung  gemischte  Bevölkerung 
Herr  der  andern  Stämme  wird  und  Herrschaft  und  Namen  von 
Preussen,  Westpreussen ,  von  Danzigs  Lande  und  dem  frischen  Haff 
aus  auch  über  Galindier  und  Südauer,  die  schon  Ptoleraäus  als  ein- 
zelne Stämme  nennt ,  und  die  andern  Landschaften  ausdehnen ,  wie 
denn  das  dänische  Lagerbuch  von  1231  Tiber,  cens.  Dan.  apud  Lan- 
zebeck Scr.  rer.  Dan.  VH,  543,  sagt:  Hec  sant  nomina  terrarum 
Pruzie:  Pomizania,  Lanlenia,  Ermelandia,  Notangia,  Barcia,  Pera- 
godia,  Nadrauia,  Galindo,  Syllonis  in  Zudua,  Littonia.  Hec  sunt 
terre  ex  una  parte  ejusdem :  Zambia,  Scalewo,  Lammato,  Curlandia, 
Semigallia.  So  weit  scheint  das  Herrschergebiet  der  Preussenländer 
indess  zur  Zeit  Adalberts  v.  Gnesen  und  selbst  des  Adam  von  Bremen 
(t  1075)  noch  nicht  gegangen  zu  sein,  *  denn  der  letztere  nennt  Sembi 
und  Pruzzi  als  gleichbedeutend,  z.  B.  Pertz  IX,  374:  Sembi  vel 
Pruzzi  homines  humanissimi,  qui  obviam  tendunt  ad  auxiliandum  bis, 
qui  in  mari  periclitantur ,  vel  qui  a  piratis  infestantur ,  als  Avenn  das 
Gebiet  der   Preussen   nicht  über  Samland  hinausgegangen   wäre.     So 


*  Je  mehr  nach  Osten  zu,  desto  mehr  nehmen  die  Namen  der  Orte, 
welche  den  Wortstamm  prus  etc.  in  sich  enthalten,  littauische  Form  oder 
die  Bildung  von  Colonienamen  an:  Prensswäldcheu,  Pieuscbhof  Kr.  Heili- 
genbeil, Preusslauken  Kr.  Weblau:  rrusihkehmen  oder  ^^u^kehmen  (gleich 
Preusseubeim  auf  Deutsch)  Gr.  u.  Klein-  im  Kr.  Insterburg;  Pruschillen  und 
Pruszisken  Kr.  Gumbinnen;  Pristanipn  Kr.  Angerburg;  Prositt  Fabr., 
Vorwerk  Kr.  Gerdauen:  Prositten  Kr.  Rössel;  Pressberg  Kr.  Goldap;  Pru- 
schinowen  und  Pruscliinowen-Wolka  Kr.  Sensburg;  am  weitesten  im  Osten: 
2  Dominien  Preussen  im  Kr.  Tilsit  und  Ragnit :  Pmspirra  (=  Prussberg) 
Kr.  Ragnit;  Prusellen  (:=  Neu-Preussen)  Kr.  Tilsit  bei  Pitupönen,  Hrot- 
niszken,  Prussen- Martin  u.  Michel:  Prus:^isken  im  Kr.  Memel;  —  längs 
der  polnischen  Grenze  Dominium  Preussen  Kr.  Neidenburg;  Prussowborrek 
Kr.  Ortelsburg;   Prostken  Kr.  Lyk  u.  s.  w. 


154  Chatten  uml  Hessen. 

viel  o-eht  aber  mit  aller  Sicherheit  aus  dieser  und  anderen  Notizen  her- 
vor,  dass,  so  gut  wie  die  Preussen  von  Samland  her  Senibi  genannt 
werden  konnten,  sie  auch  den  Namen  Pruzzi  von  einer  vorzugsweise 
Pruzzia  o-enannten  Landschaft  erhalten  haben  können;  und  dass  Sem- 
gallen nicht  zu  aller  Zeit  preussisch  gewesen,  ergiebt  sich  wohl  aus 
foliiender  Notiz  Annal.  ßyens.,  gegen  Ende  des  13  Jahrh.  in  Schles- 
wig aufgezeichnet,  Pertz  M.  G.  XVI,  398:  hujus  Lothonoknuti  regis 
Danorum  anno  911  —  923  tempore  quilibet  tertius  de  servis  et  plurali- 
bus  exivit  de  regno  et  venientes  lolani  Pruciam,  Semigalliam 
et  terram  Carelorum  (Karalien)  subjugaverunt  sibi  et  ibi  remanent 
usque  in  praesentem  dieni.  Im  9.  und  10.  Jahrhundert  nämlich  litten 
Dänemark  und  Norwegen  an  Uebervölkerung  und  innerer  Zwietracht 
und  entsandten  so  (man  füge  dieses  Beispiel  den  oben  S.  113  entwickel- 
en  hinzu)  ihre  Unzufriedenen  oder  Bedürftigen  in  die  Fremde.  Ja 
um  das  Jahr  1200  werden  die  Sembi  nicht  einmal  Pruzzi  genannt.* 
Saxo  Grammaticus  (c.  1200)  schrieb  Hist.  Dan.  ed.  Paris  1314  Lib. 
X.  fol.  98 :  Haquino  Haraldi  regis  filius  Sembos  aggressus.  Potiti 
Sembia  Dani  necatis  maribus  feminas  sibi  nubere  coegerunt  etc.  Auch 
die  Kuren  oder  Kurländer,  welche  1231  als  Theil  Pruziens  im  deut- 
lichen Lagerbuch  genannt  werden,  sind  c.  870  noch  keine  Preussen. 
In  Rimberts  Lebensbeschreibung  des  Ansgarius,  Pertz  M.  G.  II,  714 
lieisst  es:  gens  quaedam  longe  ab  iis  Sueonibus  posita  Chori  (al.  Cori 
Chor)  Sueonum  principatui  olim  subjecta  fuerat,  sed  jam  tum  (anno  850) 
diu  erat  quod  rebellando  iis  subjici  dedignabatur.  So  sehen  wir  also 
um  diese  Zeit  der  Herrschaft  der  Suiones  desTacitus  die  Sueonier  des 
Adam  von  Bremen  in  Schweden  als  Herrn  des  später  preussischen 
Landes.  Seeburg  und  selbst  Welau,  Apulia  alt,  scheinen  damals  noch 
in  Kurland  gelegen  zu  haben ,  wozu  man  übrigens  die  vielen  Ortsna- 
men ,  welche  den  Theil  kuren  enthalten ,  vergleiche ,  wie :  kui-isches 
Haff,  kurische  Nehrung,  Dörfer  Kranzkuren,  Neukuren,  Grosskuren, 
Kleinkuren;  auf  der  Nordküste  Samlands  der  P'luss  Corene  jetzt  Cor- 
reinen  im  nordöstlichen  Samland.  Waren  doch  auch  die  Russen  Skan- 
dinavier,** welche  seit  I\Iitte  des  8.  Jahrhunderts  die  Ostküsten  des 
baltischen  Meeres  besiedelten   und   von    denen  ein    Schwärm  auch  sich 


*  Adam    von    Bremen    sagt    Pertz    IX,  373:   in    provinciam    Semland, 
quam  Pruzzi  possident. 

**  Kach  russischen  Annalen  ed.  Schlözer  III,  280,  II,  193,  ff. 


Chatten  und  Hessen.  155 

auf  der  preussischen  und  kuriscben  Küste  niederliess,  Saxo  Gramnmt. 
Pertz  XVI,  398,  Avoher  ebenfalls  der  Name  desMemelarmesRus  undder 
Name  Rusna  für  das  kurische  Haff  bei  den  Polen.  Von  dieser  Anwob- 
nerschaft  am  Rus  baben  denn  auch  wobl  alle  dahinter  wohnenden 
Stämme  den  gemeinsamen  Namen  Russen  bekommen,  wie  hinwiederum 
der  Name  sich  auch  in  Norwegen  als  ursprünglicher  Ausgangspunkt 
wiederfindet  im  Russee  und  der  Name  der  Ruriks  sich  vielleicht  zurück- 
führen  lässt  auf  Rik's,  Reiks  =  reges  des  Stammes  Russ. 

Es  ist  ohne  Zweifel  mit  den  Pruzzi  wie  Pierson  a.  a.  0.  S.  84 
sagt:  „Seit  den  erwähnten  Missionsversuchen  stand  der  Name  Pruz- 
zen  für  die  Bewohner  des  Landes,  wo  Adalbert  und  Brun  umgekommen 
waren,  in  der  römischen  Kirche  fest;  andere  Bezeichnungen  mussten 
ihm  daher  weichen."  So  führt  auch  R.  Boeckh  in  dorn  eben  erschie- 
nenen Buche:  Deutsche  Volkszahl  und  Sprachgebiete  in  den  europäi- 
schen Staaten,  Berlin  1870,  S.  58  aus,  dass  es  nach  Bergbaus  Stati- 
stik 1845,  kein  preussisches  Volk  gebe  und  wenn  auch  mit  vollem 
Rechte  den  littauisclien  Einwohnern  der  betreffenden  Landschaften  der 
Name  der  Preussen  beigelegt  werde,  da  sie  im  Preussenlande  und  so- 
gar buchstäblich  „am  Russ*'  wohnhaft ,  offenbar  gleicher  Nationalität 
wie  der  Stamm  der  Preussen  angehören,  man  doch  die  richtige  Be- 
zeichnung Preussenländer, *  wie  man  auch  Kurländer,  Lievländer,  Esth- 
länder  richtig  sage,  einführen  solle;  wie  es  denn  (S.  65)  jetzt  gleich- 
gültig sei,  ob  die  Bezeichnung  Preusse  nach  der  altern  Ansicht  einen 
Russanwohner  oder  ob  sie  nach  H.  Berghaus  Darlegung  einen  Wald- 
menschen  bedeute. 

In  alter  wie  neuer  Zeit  dürfte  der  Name  Preusse  nichts  anderes 
zu  bedeuten  haben,  als  die  Bewohner  einer  bestimmten  Landschaft,  die 
ihr  Gebiet  über  benachbarte,  anders  benannte  Landschaften  ausdehn- 
ten. Es  waren  in  alter  Zeit  den  Gothen  entstammende  Littaucr  (die 
Sprache  der  Altpreussen  ist  nach  allen  Zeugnissen  eine  Mundart  der 
littauischen  Sprache) ,  also  mit  Slaven  gemischte  Germanen ,  welche 
jene  Gegenden  besiedelten  wie  heut  zu  Tage  nach  der  blutigen  Aus- 
rottung der  heidnischen  Preussen  mit  Polen  gemischte  deutsche  Be- 
völkerung, welche  das  Land  von  Neuem  colonisirt  bat. 


*  Nikol  V.  Zeroscliin  8cr.  rcr.  Pruss.  I,  303,  ff.  sagt  auch  Pruziulant. 
AusserJem  findet  sich  der  Name  des  Landes  fast  regelniiissig  neben  dem 
Stanunesnanien  aufgeführt :  Pruzzia,  Pruzia,  Prucia,  Pruscie,  Prutie  u.  s.  w. 


156  Chatten  uml  Hessen. 

Alle  Erklärungen  des  Namens  Prussien  von  Po  und  Russ  = 
am  Russ  wohnende,  von  prut  Teich,  Land  der  Teiche  und  Seen  (man 
zählte  1684  nach  Hartknoch,  Alt-  und  Neu-Preuss.,  2037  Seeen 
im  alten  Preussenland),  von  prustwa  Sanskrit  Regen ,  prush  sprühen, 
vom  altpreussischen  pruta  klug  sein,  also  Pruteni  die  Klugen,  Ver- 
ständigen, kommen  nicht  auf  gegen  die  Anheimelung  einer  Erklärung 
des  Namens  von  einer  Landschaft  an  stürmischer  Meeresküste  und 
auf  der  Höhe,  welche  daher  den  Namen  Brauseland,  Windpreussen  be- 
kommen. 

Und  so  kommen  wir  denn  zum  Schluss  auch  für  die  Chatten. 


7.     Schluss. 
Die  Entstehung  des  Namens  der  Chatten  und  Hessen. 

Recapituliren  wir  noch  einmal  die  gesuchten  Ergebnisse.  Bis  auf 
Jakob  Grimm  haben  die  Forscher  auf  diesem  Gebiete  nicht  anders  an- 
genommen, als  dass  der  Name  Hessen,  in  älterer  Form  Hassen,  auf 
den  Namen  der  Chatti,  die  nach  Tacitus  Bericht  ihren  Mittelpunkt  im 
heutigen  Hauptland  zu  Niederhessen  um  Maden  und  Gudensberg  hatten, 
zurückzuführen  sei;  wir  sahen  an  der  natürlichen  Beschaffenheit  der 
hier  in  Betracht  kommenden  Landschaft  auch,  dass  sie  ^.Ue  zu  einem 
Volksmittelpunkt  nöthigen Eigenschaften  ursprünglich  in  sich  vereinigte; 
die  dann  an  der  Identität  der  Namen  Chatten  und  Hessen  zweifelnden 
Forscher  fanden  wir  weiter  aber  zum  Theil  auf  einer  zu  knechtischen 
Ausdeutung  des  von  ihrem  Meister  J.  Grimm,  der  selbst  die  Zweifel 
an  jener  Identität  zurücknahm,  entdeckten  Lautverschiebungsgesetzes, 
zum  Theil  auf  nicht  genügend  erforschter  Thatsache  fussen ,  auch  der 
Mangelhaftigkeit  der  alten  Orthographie  nicht  gehörig  Rechnimg  tragen. 
Die  Form  Hassen  ist  nach  Wiederentdeckung  des  alten  Chattenmittel- 
punktes  durch  Winfried  Bonifacius  die  vorwaltende,  die  Form  Hessen 
die  seltenere,  umgekehrt  wie  Vilmar  es  behauptet. 

Die  Nothwendigkeit  der  Schreibung  Hazzi  für  Hessen  zur  Her- 
leitung des  Namens  aus  Chatten  lehnen  wir  ferner  ab,  weil  die  durch 
päpstliche  Urkunden  einmal  beliebte  lateinische  Form  mit  dem  doppel- 
ten s,  also  Hassi,  Hessi  etc.  für  die  Urkundenschreiber  niaassgebend 
gewesen  sein  muss,  wie  denn  auch  der  Name  Nassau,  dessen  Etymo- 
logie die   Schreibung  mit    zz  eigentlich   ganz   nothwendig   macht,  erst 


Chatten  und  Hessen.  157 

Ende  des  13.  Jahrhunderts  einmal   mit  sz  geschrieben   auftritt,   vorher 
aber  wie  der  Name  Hessen  immer  mit  ss.     Ausserdem  findet  sich  von 
da  an,  wo   in  der   Schreibung  mit   zz  geübte   deutsche   Rechtschreiber 
deutsche  Urkunden  abfassen  (vorher  sind  alle  Urkunden  lateinisch  ge- 
fasst),  die  Form  Heszen  mit  dem    der  Ableitung   aus  dem  zz  entspre- 
chenden sz   genug,   wie  mit  diesem  Zeitpunkt   ebenso   die  deutsch   ge- 
schriebene Form  Nazzau  vorkommt.     Endlich  tritt,   was   diesen  Punkt 
betrifft,  die  Rechtschreibung  der  alten  Urkundenschreiber  namentlich  in 
Eigennamen   zu   verwirrt  auf,   als  dass   wir  auf  die  von  Vilmar   und 
Zeuss  erhobenen  Einwände  uns   zl^   weit   einlassen  dürften.     Wurden 
doch  selbst  J.  Grimm  von  neuesten,   mehr  in  das  Einzelne  eingedrun- 
genen Forschern  auf  unserem  Gebiete    abwehrende  Bemerkungen   ent- 
gegengestellt,   wie  z.  B.  in  Lübke's  Pädagog.  Jahrbüchern,    1868.     V. 
S.  421:    „Es   lässt   sich   nicht  läugnen,   dass   Grimm   zuweilen   Laut 
und  Buchstaben   arg    verwechselte   und   für    eine   der  Hauptseiten 
der  Lautlehre,  die  physiologisch-phonetische,  ein  sehr  schwaches  Auge 
hatte."     Diese  Bemerkung  kommt  bei  dieser  Untersuchung  sehr  in 
Betracht,  mit  wie  verschiedenen  Buchstaben  sind  noch  jetzt  die  Namen 
nach  den  Mundarten  verschiedener  Landschaften  zu  schreiben!  und  wie 
verschieden  hat  sie  gar  das  Alterthum  geschrieben !     So  bemerkt  denn 
auch  bereits  Wenck,  Hess.  Landesgesch.   IL   p.  670,   Anmerk.  a,   sehr 
richtig:   „Es  ist  bekannt,   wie  wenig   sich  die  alten  Geschichtschreiber 
sowohl  als  die  Urkundensteller   in  die  Rechtschreibung   der  Namen   zu 
finden  wussten,  die  sie  bald  nach  der  Aussprache  des  gemeinen  Lebens 
auszudrücken,  bald   in   mancherlei,    ihrer  Meinung   nach    lateinischen 
Formen  einzuschmelzen  suchten."      Dabei  wollen   wir  ein  anderes  Ur- 
theil  über  J.  Grimm,  K.  G.  Andresen,  J.  Grimm's  Orthographie,  Göt- 
tingen, Diedrich.      1867,  S.  8,   Avonach  des  Meisters  Orthographie  ein 
Muster  von  Schwankung   und  Inconsequenz  genannt   wird,   als,  nach- 
dem Columbus  das  Ei  aufgestutzt  hat,  wohlfeil  zu  geben  zur  Seite  lie- 
gen lassen;  aber  hier  noch  sofort  hervorheben,  wer  wohl,  da  der  Name 
Preussen   von    demselben   Schriftsteller    einmal   Prussi,    das   andermal 
Pruteni,   dann  von  andern  verschiedenen  wieder  Pruzzi,  Prusi,   Pruzi, 
Pruci,  Prutzi,  Pruszenses,   Prutones,  Prutenses,   Prutheni,  Prusci    — 
nach  1250  deutsch  Pruzen,  Ende  des  13.  Jahrhunderts  Preussen,  1339 
Prussen,    1350  Pruzin,   Ende  des  14.  Jahrhunderts  Prusen  und  Prus- 
sen ;  1410  Prüssen,    1413  Prusen   —  aber    auch   verschiedentlich  mit 
dem  B,  Bruitii,  Bruci,  Bruteni,  geschrieben  wird,  wer  wohl,  wenn  ihm 


158  Chatten  und  Hessen. 

zufällig  nur  die  Form  Bruci  vorgelegen  hätte,  den  Schluss  hätte  machen 
wollen,  dass  diese  Bruci  nicht  die  später  Preuszen  genannten  sein 
könnten,  wegen  des  Lautverschiebungsgesetzes ! 

Von  der  Orthographie  der  althochdeutschen  Schriftsteller  führen 
wir  ausserdem  noch  an ,  dass  Otfried  selbst  über  die  ünbiegsamkeit 
und  Armuth  seiner  Sprache  klagte  und  sie  bäurisch  nennt,  wozu  kommt, 
dass  in  der  althochdeutschen  Periode  die  Schreibungen  auch  schon 
schwanken :  wie  mäht  und  mahd  =  Macht,  got  und  cot  für  Gott  — 
und  wie  sollte,  wenn  alle  anderen  Anzeichen  für  eine  Herleitung 
sprechen,  sie  darum  falsch  sein,  weil  eine  bäurische  Mundart  das  aus 
dem  Niederländischen  hergekommene  Wort  bäurisch  aussprach  und 
nach  der  Aussprache  mit  einem  Buchstaben  schrieb,  der  nach  dem 
Lautverschiebungsgesetz  nicht  passt? 

Es  bleibt  wirklich  in  Betreff  dieses  Gesetzes  für  unsere  Un- 
tersuchung auch  nichts  Anderes  maassgebend,  als  was  wir  oben  S.  120, 
in  diesem  Punkte  festgestellt  haben,  dass  nämlich  jede  Sprache  in 
sich  die  Lautverschiebung  durchmacht,  dass  die  niederländische  Mund- 
art im  Munde  der  Bergländer  verhärtet,  verkehrt  wird  und  dann  bei 
dem  häufigen  Heranwachsen  der  bergländischen  Landschaften  eines 
Volkes  zur  Herrschaft  über  das  Niederland  die  Sprache  des  letzteren 
doch  wieder  mildernd  für  die  schliesslich  classische  Form  einer  Sprache 
auf  den  bergischen  Dialect  wirkt.  Für  das  Deutsche  ist  ja  doch  auch 
das  Colonialdeutsch  des  meissnischen  Landes  Ausgangspunkt  des 
Hochdeutschen,  gemildert  durch  die  spätere  Einwirkung  von  Nieder- 
ländern, geworden!  Bringen  wir  nun  zu  den  oben  schon  entwickelten 
Beispielen  der  Verhärtung  des  Gothischen  im  Althochdeutschen  noch 
einige  andere  bei:  wie  Chorunka  für  Gerunge  =  Versuchung  (und 
führe  uns  nicht  in  Versuchung) ,  princ  =  bring ,  kanoss  =:  Genoss, 
forkip  =  vergib,  pifanken  =  befangen,  kavihit  =  geheiligt,  ge- 
weihet. Du  pist  für  Du  bist,  käst  für  goth.  gast.  Umgekehrt  wie  wir 
hier  die  verhärtende  Eigenheit  des  Hochländers  wahrnehmen ,  finden 
wir  nun  wieder  die  Quetschung  von  Lauten,  die  der  Niederländer  wegen 
seines  Sprechens  mit  geschlossenen  Zähnen  und  Mundkiefern  nicht 
quetscht ,  wie  z.  B.  des  t  zu  s,  das  der  Bremer  wie  der  Engländer, 
aber  noch  mehr  als  dieser  fast  nach  Einer  Weise  wie  th  spricht.  Da- 
her Wasser  für  Water,  dass  für  thaf,  Nuss  für  nut  u.  s.  w. ;  daher 
auch  Pruzzi  für  niederländisch  Pruteni,  Chassen ,  Hassen  für  alt-  und 
niederländiscii  Chatti. 


Chatten  iiml  Hessen.  159 

Recapituliren  wir  nun  weiter.  Wir  fanden  die  Chatten  nicht  als 
Sueben  und  betonten  diesen  Umstand,  weil  wir  die  alten  Chatten  als 
nicht  von  dem  Süden  her,  sondern  von  den  Cheruskern  her  eingewan- 
dert festhalten,  als  eine  niedersächsische  Colonie,  welche  die  Fluss- 
thäler  der  Weser,  Dierael  mit  Nebenbächen,  Fulda,  Eder  hinaufging, 
nach  der  Analogie  aller  Wanderung  ackerbautreibender  Völker  der  bes- 
sern Ackerkrume  nach,  vom  bequemen  Niederland  die  Thäler  der  Berge 
hinauf.  Endlich  führten  wir  eine  Anzahl  Beispiele  auf,  wonach  Namen 
von  Volksstämmen  am  natürlichsten  von  den  Landschaften  hergeleitet 
werden,  welche  sie  bewohnen.  Damit  wird  für  uns  die  Untersuchung 
über  den  Namen  Chatti  wesentlich  erleichtert,  wie  wir  nunmehr 
sehen  wollen. 

Dabei  können  wir  noch  vorausschicken,  dass  nach  Schacht  a.  a.  0. 
Programm  der  Realschule  zu  Elberfeld,  1868,  und  Andern  auch  der 
Name  der  Inder  von  Sindhia,  India,  was  so  viel  als  Flussland  vonSindhu 
Fluss  bedeutet,  stammt,  woraus  denn  wie  aus  Sindhu  Sind  Griechisch 
Vvöo?,  so  persisch  Hindus,  griechisch  'IvSoi  unser  Inder  geworden  ist. 
Es  ist  das  im  Grossen  eine  Entwickelung,  wie  der  bei  Tacitus  vor- 
kommende Name  der  Foser,  Nachbarn  der  Cherusker,  von  dem  Ge- 
wässer Fose  oder  Fuse  stammt,  an  welchem  dieser  Stamm,  zeitweilig 
den  Chatten  uuterthan,  cf.  Tacit.  Genn.  36,  wohnte. 

Bisher  hat  man  nun  für  den  Namen  Chatten  am  meisten  gegriffen 
nach  der  Etymologie  vom  Wortstamme  cat  oder  kat.  Bei  Ersch  und 
Huber,  Realencyclopädie,  findet  sich  zu  Artikel  Chatti  die  Hinweisung 
auf  den  Begriff  Jäger  imd  Häscher,  welcher  sowohl  in  dem  Thiernamen 
niederdeutsch  Katte  hochdeutsch  Katze  und  Kater,  wie  in  dem  franzö- 
sischen Ausdrucke  Chasseur,  dem  englischen  to  catch,  dem  deutschen 
hetzen  haschen  stecke.  Der  Bewohner  des  Waldes  sei  vorzugsweise 
als  Jäger  bezeichnet  worden.  Wir  zeigten  in  der  ursprünglichen  ^Ein- 
leitung, dass  schon  früher  auf  diese  Ableitung  zurückgegriffen  ward, 
Marquard  Freher  macht  sich  darüber  lustig;  auch  J.  Grimm  in  seiner 
Geschichte  der  deutschon  Sprache  erwägt  sie,  entscheidet  sich  aber  zu- 
letzt S.  577  für  die  Ableitung  aus  angelsächs.  hat,  englisch  hat,  altn. 
hattr,  Hut,  wovon  der  Beinamen  des  Odin  hättr  pileatus,  der  violleicht 
zugleich  den  Stammheros  der  Chatten  bezeichne.  Ebenso  entschied 
sich  Zeuss,  S.  96,   und  Förstemann,   Altdeutsche  Ortsnamen,    S.  695. 

Die  zuletzt  genannte  Ableitung  erscheint  indessen  unter  allen  Um- 
ständen künstlich  und  durch  kein  äusseres  Moment  gestützt;  eher  würde 


160  Chatten  und  Hessen. 

man  noch  Vilmar's  IMcinung  gelten  lassen  können,  der  für  den  Namen 
Hessen  auf  einen  Mannsnamen  Hesso,  also  auf  einen  patrony mischen 
Namen  zurückkommt ,  wie  Weifen  von  Weif  herstammt.  Indessen 
diese  Vermuthung  bekämpfen  wir  schon  deshalb,  weil  wir  die  Identität 
von  Chatten  und  Hassen  festhalten  nach  Tacitus  Annal.  I,  57;  auch 
ist  der  Partei-  und  spätere  Familiennamen  Weifen  nicht  mit  dem  Namen 
eines  Volksstammes  in  Parallele  zu  bringen.  Die  Fortsetzer  von 
Grimm's  Wörterbuch  der  deutschen  Sprache  haben  ferner  die  Etymo- 
logie von  Katze  für  Catte  wieder  in  Betracht  gezogen.  V,  S.  281: 
„Als  niederländisch  giebt  Kil.  hesse,  catus,  felis;  vgl.  kaschen,  das  im 
östlichen  Thüringen  noch  herrscht,  nachträglich  bemerkt  gleich  haschen 
wie  heuern  =  kauern  u.  a.  Hätte  denn  wirklich  der  Volksnamen  der 
Hessen  (s.  Grimm,  Geschichte  der  deutschen  Sprache,  567  alt  Chatti, 
Chattae)  eine  Beziehung  zu  dem  Katzennamen?  Der  hessische  Wap- 
penlöwe wird  noch  im  16.  Jahrhundert,  freilich  spottweise,  Katze  ge- 
nannt (Zeitschrift  des  Vereins  f.  Hess.  Geschichte.  4,  13  B.  Waldis' 
Klagelied  Herzogs  Heinrichs  von  Braunschweig ,  herausgegeben  von 
Mittler.  Str.  17,7).  War  er  doch  etwa  ursprünglich  eine  Katze?  Das 
Thier  war  ja  der  Frouwa  heilig  (II,  4  c.  p.  287)."  Nach  der  Schrei- 
bung der  Niederländer  für  hesse  =  Katze  wäre  hier  auch  die  Laut- 
verschiebung* kein  Hinderniss,  wie  denn  auch  schwedisch  Kiss  für  Kater 
und  Kissa  für  Katze,  isländisch  Kisa  und  finnisch  Kissa  für  Katze 
vorkommt. 

Auch  diese  Ableitung  hat  indess  nur  Sinn,  wenn  man  auf  den 
gemeinschaftlichen  Begriff  des  Wortstammes  in  Katze  und  Chatte  zu- 
rückgeht, nämlich  hetzen,  jagen,  haschen.  Geht  man  einmal  so  weit, 
so  ist  kein  Grund  vorhanden,  nicht  noch  einen  Schritt  weiter  zu 
gehen.  Die  neuere  vergleichende  Sprachforschung  muss  dazu  die  Mit- 
tel bieten. 

Auffallend  ist  allen  Beobachtern  ein  besonderer  Stamm  von  Be- 
wohnern im  Schwarzwalde,  welcher  die  „Hotzen"  genannt  wird.  Er 
wohnt  im  Hauensteiner  Grunde  und  wird  auch  mit  dem  Namen  der 
Wäldler  bezeichnet.  So  brachte  die  Badische  Landeszeitung  1869  einen 
Artikel  unter  Waldshut  und  Salpetrer,  worin   gesagt  ist:   Die  genann- 


*  Die  neuesten  Grammatiker  scheinen  überhaupt  nicht  allzu  ängstlich 
in  dieser  Frage  zu  sein.  So  sagt  ein  Herr  Casper  Frisch  (Die  deutsche 
Rechtschreibung.  K.  J.  Häfele.  Leipzig,  1868)  zu  Hessen:  „yro  kaum 
lateinisch  Chatti  herzuziehen." 


Chatten  und  Hessen.  161 

ten  Salpetrer  „gehören  zu  denjenigen  Bewohnern  des  Schwarzwildes^ 
welche  als  Wäldler  oder  Hotzen  bekannt,  den  badischen  Hauenstein, 
die  gegen  den  Rhein  abfallende  Hochebene  zwischen  Wehra  und  Alb 
inne  haben."  Hier  führte  der  Name  Hetzen  also  auch  auf  den  Be- 
griff Wald,  worauf  indessen  eine  ganze  indogermanische  Wurzel-  und 
Stammfamilie  hinweist,  durch  deren  Bedeutung  eine  ganze  Menge  an 
den  entgegengesetzten  Enden  Europas  auftretender  fast  gleichnamiger 
Orfsnamen  allein  eine  hinreichende  Erklärung  finden  kann. 

Nehmen  wir  z.  B.  das  neuestens  durch  einen  Raubmordanfall  be- 
kannt   gewordene    Antogast    im     Renchthale     bei    Rippoldsau     im 
Schwarzwald,   Hohengöst   auf  den  Vogesen,    nördlich    Wassselnheim, 
das  Dorf  Trebgast  bei  Culmbach,  Radegast  in  Mecklenburg  und  die 
vielen  anderen  mit  gast  zusammengesetzten  Ortsnamen   auf  slavischem 
Sprachgebiet,   so  haben    wir   für   Gast  die  Bedeutung   „Wald."     Wie 
kommt  das   Slavische  nach   Baden?     Es  ist  möglich,  dass  die  Sueben, 
welche  aus  dem  slavischen  Nordosten  Europas    nach  dem   Südwesten 
kamen,    auch   diese  slavische  Bezeichnung  mitbrachten;  allein  es  kann 
doch  auch   ein  gemeinschaftlicher  Grundstamm   vorhanden    sein.     Wir 
finden  den  Ausdruck  Kate  (Katte,  davon  Käthner,  Köttner,  Kötter  für 
Häusler,  d.  h.  den  kleinen  Bauer  oder  Tagelöhner   in  der  Hütte  neben 
dem   Hofe,   für  den   er  arbeitet),  Käthe,   Kotte,    Cotta  italienisch,   für 
die  doch  wahrscheinlich  aus  Holz  aufgeführte  Hütte  des  Hüttner,   wie 
er  auch  genannt  wird,  weit  verbreitet,   im    lateinischen  Sprachgebiet  in 
der  Form   casa,    im  oberdeutschen  Sprachgebiet    in    der  Foi"m   Haus. 
Wir  finden  den  Ausdruck  Kastanie  aaoTava  für  die  Baumnuss,  englisch 
ciiestnut.      Im  Sanskrit  heisst  khadira  Akazie  (Fick,  Wörterbuch   der 
indogermanischen  Grundsprache.     Göttingen,  1868,  S.  20j,  griechisch 
•AtöQog  die  Ceder  (heisst  auch  Wachholder),  -AtÖQcoaTig  Weinrebe.    Wir 
sagen  Kasten,  Kiste  ausschliesslich  von  einem  hölzernen  Behälter.    Wir 
sagen  Gaden,  Kaden  für  einen  Holzbau  zum  Wohnen.     Wir  sagen  Ast 
oder  bäuerisch  Host   von  einem   dem   ursprünglichen    Baumstamm   ent- 
wachsenen Arm;   der  Lateiner   sagte   hasta   vom  Speer,   der  doch  von 
einem  Baumaste,  Hoste  (hastae  de  vitibus  Thyrsussläbe)  gemacht  war. 
So  heisst  auch  sanskrit   asta  das  Geschoss,    gothisch   gaisa  der  Speer, 
gazda   der  Stachel,    kirchenslavisch   goozdi  der  Haken   (Fick   a.  a.    O. 
S.  67),   sanskrit  käshtha  Holzstück;   bei  Hesychius   näaro-v  soviel  als 
^vlov.      So  heisst  Gatt   englisch  die  halbe  Raa.      Gatter,    Gitter,   gate 
das  Thor,    ursprünglich   immer  von  Holz  —  all   das   dürfte   wohl   auf 

Archiv  f.  n.  Sprachen.   XLVIII.  1 1 


162  Chatten  und  Hessen. 

den  Begriff  Baum  und  Holz  zurückführen.     Die  Beispiele  Hessen  sich 
noch  sehr  vermehren,  aber  schreiten  wir  vorerst  zu  der  nach  Sprachen 
geordneten  Zusammenstellung  der  aus  dem  Wortstamm 
kat,  kas,  kad  (th) 
cat,  cas,  cad  (th), 
Chat,  chas,  chad  (th) 
gat,  gas,  gad  (th)  etc. 
anscheinend  herzuleitenden  Wörter: 

Sanskrit  ist:  käshtha  =  Holzstück,  casa  der  Holzheher. 

Littauisch:  szeksta  -s  =  Baumstumpf. 

Slavisch:  gast  =  Wald. 

Griechisch:  y.aaro-v  nach  Hesych  =  ^vXov;  •Aaciog  ein  Strauch; 
xaaravta  dieKastanie,  j'^rcroj' Vorsprung  an  einem  Gebäude,  Gesims  etc., 
itadog  Eimer,  Gefäss,  aiGztj  die  Kiste,  Kasten,  aiarig  das  Kistchen,  nonvog 
der  Oelbaum,  ai'g  der  Holzwurm  im  Gegensatz  zu  Gtjg  der  Wurm  in 
der  Wolle  ::=  Motte;  yüoGa  oder  -/.nza  der  Holzheher;  maadg  oder 
xiTTog  der  Epheu,  xdataQ  der  Biber  (als  Holzbaumfäller  ?),  irta  die 
Weide,  itsav  Weidigt  (cf.  goth.  witu  Holz,  latein.  vitis  das  Reb- 
holz). 

Lateinisch :  hasta  ursprünglich  die  Holzstange  (deutsch  Ast,  mund- 
artlich Host)  hastae  de  vitibus  Thyrsusstäbe ,  hastile  ein  Schaft, 
Stütze  beim  Weinstock,  hastula  ein  kleiner  Zweig,  hostus  ein  Maass 
des  Baumöls,  hostorium  ein  Streichholz,  hedera  Epheu,  attagen  das 
Haselhuhn,  catena  die  Kette,  ursprünglich  Holzklammer,  catinalio  Klam- 
mer, Pflock,  casa  eine  Holzhütte,  Haus,  Baracke,  castrum,  castellum 
Blockhaus,  ursprünglich  ein  mit  hölzernen  Pallisaden  umzäunter  Platz, 
castrare  Bäume  beschneiden,  schneuseln,  castigare  geisein,  mit  Ruthen 
(Hölzer)  hauen,  catinum  ein  Napf,  ursprünglich  wohl  aus  Holz,  wie 
auch  unser  Teller  aus  til  (cf.  unser  Diele  =  flaches  Holzstück),  catu- 
lus  eine  Fessel,  codex  der  Stamm  eines  Baumes  von  caudex  der  Block, 
woran  die  Sklaven  geschmiedet  waren;  auch  das  Buch,  weil  die  Alten 
auf  hölzerne  Tafeln  schrieben,  die  mit  Wachs  überzogen  waren,  wie 
unser  Buch  von  Buchenholztafeln  (womit  die  Bücher  früher  meist  ein- 
gebunden wurden?)  Seneca  brev.  vit.  13  spricht  von  der  provincia 
caudicalis  dem  Geschäft  des  Holzhackers  bei  den  Komikern,  caudiceus 
aus  Holzstämmen  gemacht,  caudeus  hölzern,  costa  die  Rippe,  Seiten- 
wand. Man  nehme  hierzu  cadere  fallen  vom  Baum  ?  und  caedere 
holzhauen,  fällen  (silvas  caedere). 


Chatten  und  Hessen.  163 

Germanisch:  Gothisch  gaisa  der  Speer,*  ursprünglich  die  hölzerne 
Stange;  noch  jetzt  spielen  unsere  Bauernjungen  mit  der  Geis  =  gerte, 
indem  sie  mit  Ruthen  nach  einem  Ziele  hinwerfen  (Geisspiel) ;  die  Wa- 
gendeichsel heisst  mundartlich  auch  Wagengischel,  wie  die  Langstange 
unter  dem  Wagen  nach  goth.  vitu  Holz,  die  Langwett  (vgl.  Weide  = 
gemeines  Holz).  Goth.  hethjon  ist  unser  Gaden,  Kammer,  Holzge- 
mach, althochdeutsch  chazo  Speicher,  Scheune,  kotawich  das  heilige 
Haus?  Davon  unser  niederländisches  Kotte, **  Käthe  =  Hütte,  Koth- 
sasse,  Kossäte,  Kötner,  Käthner,  Kötter,  Kottmeier  (J.  Moser,  Osnabr. 
Gesch.  6=8  oder  16  Kotten  auf  einem  Erbe.),  Hüttner,  Häusner, 
Häusler.  Vergleiche  auch  noch  die  Ortsnamen  Berchthtoldsgaden,  Me- 
nosgada  etc. ;  die  Erweichung  in  haithi  Feld,  Gebüsch,  Gehölz  ;  angel- 
sächsisch hese,  hyse  eine  mit  Gestrüpp,  Buschwerk  bewachsene  Ge- 
gend, P"'ornhese  ein  Wald,  umweit  der  Eem  im  Süden  vom  Zuidersee 
(mittellateinisch  heisst  das  hese,  hesia,  heisa,  aisia,  daher  caesia  silva 
bei  Tacit.  ann.  I.  50,  der  Heserwald,  S.W.  von  Coesfeld),  Heissi  a.  d. 
Ruhr  bei  Essen.  Unser  Hasel,  Haselstrauch,  Haselhuhn  etc.  ist  wohl 
ein   Diminutiv  zu   einem   aussegangenen   hase    für  Holz.       Gizzen  = 

Do  D 

Schösslinge  abschneiden  vgl.  zu  geis  die  Ruthe,  zu  Kasten  (hölzernes 
Gefäss)  Cassa,  Casse  und  auch  selbst  Katze,  Geldkatze  (vgl.  Lenneper 
Kreisblatt  vom  6.  Mai  1868  und  Kladderatsch,  Nr.  23  vom  17.  Mai 
1868),  nach  welchen  Quellen  in  einer  amtlichen  Bekanntmachung  die 
Schulgelder  zur  Communalkatze  erhoben  werden,  eine  alterthümliche 
aber  durchaus  berechtigte  Wortform ;  man  vergleiche  noch  weiter  Gat- 
ter, Gitter,  Kette,  Kauz,  Baumeule  u.  s.  w.  Woher  das  Keltische  coti 
Wald,  wie  es  Mone,  Gallische  Sprache,  aufstellt,  entstanden  sein 
kann,  ergibt  sich  vielleicht  aus  folgender  Betrachtung.  Die  Holländer 
schreiben  und  sprechen  statt  holt  (niederdeutsch)  hout,  als  Turnhout, 
ten  Hout,  Oosterhout  in  Nord-Brabant,  Ulvenhout  südl.  Breda  u.  s.w. 
u.  s.  w.,  und  dieses  hout  mit  einem  stärker  aspirirten  h  als  chout  (Ge- 
hölz, Holz)  gesprochen,  würde  sofort  jene  Form  coti  nahe  legen.  So 
finden  wir  südwärts  von  Holland  bei  Compiegne  die  Silva  Cotia,  wie 
sie  alt  genannt  wird,  jetzt  Foret    de  Cuise.     Gest.   Franc,  Cap.  51. 


*  yuTaos  ein  Speer  oder  Spiess,  den  barbarische  Völker  als  KriegswafFe 
gebrauchten.  Polyb.  6,  39,  3.  18,  1,  4.  Diod.  13,  57.  Ath.  6,  p.  273.  F. 
u.  LXX.  raiodrca  oder  raiaäroi  eine  gallische  Völkerschaft  au  der  Rlione, 
welche  im  Ki-iege  Söldnerdienste  that,  wahrscheinlich  benannt  nach  jener 
Waffe.     Polyb.  2,  22,  1. 

**  Mittelhochdeutsch  kote,  in  anderen  Dialecten  käte,  cot. 

11* 


164  Chatten  und  Hessen. 

Lesart  Coatia.  Alf.  Jacobi,  Geographie  de  Fredegaire.  Paris  1859. 
cf.  Chronic.  Moissiac.  Pertz,  M.  G.  I.  p.  280.  Cotia  silva.  So  fin- 
det sich  auch  die  Stadt  Gouda  im  Niederlande.  Wie  leicht  kann  hier 
silva  Cotia  ein  Pleonasmus  sein,  wie  er  sich  auch  wohl  in  den  Namen 
Cottenforst,  Cottenwald  u.  s.  w.  wiederfindet. 

Wie  sich  durch  Aneinanderschleifen  der  Laute  koude  für  Wald 
entwickelt,  ergibt  der  Name  Abkoude,  Ort  bei  Utrecht,  ursprünglich 
Abekenwoude  =  Abicowalde.  *  Man  kann  hier  fragen,  was  ist  eigent- 
lich Keltisch  oder  Gallisch?**  dies  aber  in  die  Anmerkung  verweisend, 
verfolgen  wir  unsere  Sprachen. 

Englisch  heisst  cadelamb  das  Hauslamm ,  cadeworm  der  Holz- 
wurm, case  das  Gehäuse,  Gestell,  cade  Fässchen,  chassy  der  Rahmen, 
chat  das  Reis,  Aestchen,  Kätzchen  am  Baum,  ehest  die  Kiste,  casement 
der  hölzerne  Fensterrahmen,  cot,  kat  die  Hütte,  Kotte,  Käthe,  cote  die 
Schafliürde,  coltage,  cotton  die  Baum-,  Holz- Wolle,  gatt  die  halbe  Rau 
(stange),  hedge  die  Hecke,  house  das  freie  Reparatur h o  1  z  oder 
Brennholz  aus  den  Waldungen  des  Grundherrn,  kit  der  Milcheimer, 
Zuber  u.  s.  w. 

Französisch :  chatrer  Bäume  beschneiden ,  chaussee  wenn  nicht 
vom  Kalksteinbelag,  ursprünglich  wohl  hölzerner  Dammweg,  Knüppel- 
weg, chatron  Koffer,  ciseler  schnitzen,  cotterets  die  Hausgenossen,  Hof- 
hörigen, chat-huant  (catus  ululans)  Baumeule,  Kauz,  welches  letztere 
Wort  im  Französischen  geradezu  auf  chat  Katze  zurückgeht,  auf  den 
Namen  des  Raubthiers,   welches  auf  die  Bäume  geht,   wie  der  Luchs, 


*  Wie  mit  hont  für  Holz,  so  gei-ade  ist  es  überhaupt  mit  woud  für 
Wald,  wofür  doch  auch  Holz  gesetzt  wird.  Nicht  seltner  wie  die  hout's 
sind  im  Niederlande  die  woude's,  engl.  wood.  Aber  diese  Form  findet  sich 
auch  bereits  im  Cheruskerhinde.  Wippermann,  Buckigau  S.  29  führt  eine 
Urkunde  von  ]151  an,  wonach  im  Amt  Wölpe  (Wilippa)  ein  Grinder  Wald 
liegt,  ausserdem  1215,  1270,  1301  genannt  in  uemore  dicto  Grinder?™?,  1399, 
in  unsem  gryndelwolt.  Diese  niedersächsische  Form  wot  kann  ebensogut  in 
cot  umgelautet  sein,  wie  gater  aus  vastare,  gaie  keltisch  =  V\'ahre  (Dich), 
gaine  aus  vagina,  gucrite  Wartetlüirmchen,  gue  vadum,  Guillaume  \\'ilhelm, 
garant  =  warant,  gai  wach,  munter,  Guernard  Werner,  Guido  =  Wido  etc. 

**  Es  ist  überhaupt  nothwendig,  bei  solchen  Untersuchungen  nicht  mehr 
Unterscliied  zwischen  Galliern,  Galatern,  Kelten  einerseits  und  Germanen 
andrerseits  zu  machen,  als  durchaus  begründet  ist.  Es  ist  auch  ein  Beweis 
dafür,  dass  die  Germanen  jenseit  des  Rheins,  von  den  Römern  aus  gerecli- 
net,  ihren  Namen  dem  Wohnplatze  zu  verdanken  haben,  dass  Dio  Cassius 
sie  nicht  anders  als  Kelten  nennt,  Kelten,  welche  in  Germanien  wohnten. 
Abgesehen  davon,  dass  die  Sprachvergleichung  bereits  festgestellt  hat,  dass 
die  Kelten,  von  demselben  Spraohstamm  wie  die  Germanen  nur  zu  einer 
früheren  Zeit  vom  Ausgangspunkt  sich  ablösend  ,   nach  Europa  ziehen,    und 


Chatten  und  Hessen.  165 

auch  die  Hirschkatze  genannt,  vom  Baum   herunter  seine   Beute  an- 
fällt. 

Hiermit  kommen  wir  auf  die  Worten  twickelungsreihe,  welche  uns  zum 
Ziele  führen  soll.  Gehen  wir  von  dem  Stamme  k,  c,  ch,  g —  (Vokal)  — 
t,  tli,  d,  s,  z,  tz  aus  für  unser  oberdeutsches  Holz,  niederdeutsch  holt, 
holländisch  hout,  schwedisch  hult  oder  wold,  woud,  wood,  Avot;  viel- 
leicht in  der  angeblich  keltischen  Form  cot,  goat  entstanden  dadurch, 
dass  das  niederländische  hout  oder  wot  im  gälischen  Munde  zu  cout, 
cot  sich  verdichtete,  während  es  doch  im  Sanskrit  schon  erkennbar  ist 
auch   in   anderer  Consonantenentwickelung;   so  haben  wir   den   Begriff 


so  eine  im  Munde  der  vorgefundenen  Urbevölkerung  mehr  verstümmelte 
indogermanische  Sprache  entwickeln  lassen,  schildern  auch  alle  alten  Schrift- 
si eller  die  GaUier  und  Germanen  in  ihrem  Aeussern  und  Auftreten 
gleich.  Nach  Livius  38,  17  setzt  Consul  Gn.  Manlius  in  Gallosfraecia  (c.  189 
ante  Christ.)  seinen  Soldaten  vor  dem  Kampfe  mit  den  Galliern  auseinan- 
der: Procera  Corpora,  promissae  et  rutilatae  coraae ,  vasta  scuta,  praelongi 
gludii ;  ad  hoc  cantus  ineuntium  proelium  et  ululatus  et  tripodia  etc.  Jam 
usu  hoc  cognitum  est,  si  primum  impetum,  quem  fervido  ingenio  et  caeca 
ira  effundimt,  sustinueris,  fluunt  sudore  et  lassitudine  membra,  labant  arma ; 
mollia  Corpora,  molles  ubi  ira  consedit,  animos  sol,  pulvis,  sitis,  ut  ferrum 
non  admoveas.  prosternunt.  Livius  10,  28  heisst  es  von  den  Galliern  um 
295  a.  Chr.  :  Gallorum  quidem  etiam  corpora  intolerantissima  laboris  atque 
aestus  fluere;  auch  zu  Hannibal's  Zeit  (212):  maxime  Gallos,  si  taedio  labo- 
ris ,  longaeque  viae  (ut  est  moUis  ad  talia  gens)  dilaberentur  aut  subsiste- 
rent,  cohibentem  (Magonem).  Ebenso  s;igt  Caesar  B.  G,  II,  30:  nam  plerum- 
que  hominibus  Gallis  prae  magnitudine  corporum  suorum  brevitas  nostra 
contemptui  est.  Es  ist  das  so,  als  wenn  man  ebenfalls  im  Jul.  Caes.  B.  G.  I. 
39  liest:  ....  ingenti  magnitudine  corporum  Germanos,  incredibili  virtute 
atque  exercitatione  in  armis  esse  praedicabant  (mercatores) ,  saepenumero 
sese  cum  his  congressos  ne  vultum  quidem  atque  aciem  oculorum  dicebant 
ferre  potuisse  oder  in  Tacitus  Germ.  4:  Unde  habitus  quoque  corporum, 
quanquam  in  tanto  hominum  numero  idem  omnibus ;  truces  et  caerulei  oculi, 
rutilae  comae,  magna  corpora  et  tantum  ad  impetum  vahda;  laboris  atque 
operum  non  eadem  patientia,  minimeque  sitim  aestumque  tolerai'e,  frigora 
atque  inediam  caelo  solove  assuerunt.  —  Diodorus  Siculus  5,  28  unterschei- 
det gar  nicht  zwischen  Galliern  und  Germanen;  die  letzteren  nennt  er  auf 
der  rechten  Seite  des  Rheins  wohnende  Gallier,  die  er  denn  gleichfalls 
als  mit  sehr  langen  Leibern ,  weisser  durchsichtiger  Haut  und  goldgelben 
1  laaren  ausgestattet  schildert.  Natürlich  wird  man  immer  annehmen  müs- 
sen, dass  die  länger  in  Europa  eingewanderten  Gallier  schon  durch  den 
Ackerbau  und  Verkehr  mit  der  Civilisation  entnervter  und  auch  mit  anderen 
Nationen,  z.  B.  Iberern,  gemischt  waren,  als  die  Germanen  sie  erreichten. 
Wie  denn  auch  J.  Caesar  6,  24  von  den  um  die  Hercynia  angesiedelten 
Tectosages  sagt:  Bei  höchstem  Lob  der  Gerechtigkeit  und  Kriegsruhm  hätten 
die  Gallier  durch  die  Nähe  römischer  Provinzen ,  das  Kennenlernen  über- 
seeischer Verhältni'^se,  die  ■vieles  zu  Besitz  und  Gebrauch  darbieten,  allmäUg 
sich  gewöhnt,  sich  von  den  Germanen  überwinden  zu  lassen,  welche  immer  bei 
demselben  Mangel,  Dürftigkeit  und  Entbehrung  beharren  und  derselben  Le- 
bensart und  Körperpflege  sich  bedienten.  Hält  man  nun  die  ursprüngliche 
Identität  der  Gallier  und  Germanen  fest,  so  kommt  man  eher  zu  einem  Er- 
gebniss  über  die  Namen  der  Stämme. 


166  Chatten  und  Hessen. 

Holz  (Begriff  zugleich  für  das  einzelne  Stück  Holz,  wie  für  Ge- 
hölz, Wald,  wie  auch  Loh  latein.  lucus  Hain  zugleich  für  Baumrinde 
und  Gehölz  gebraucht  wird)  in  den  beiden  Reihen: 

Holz  am  einzelnen  Baum,  holzen,  Holz  für  Gehölz,  Wald,  davon 
fällen,  lat.  caedere.  Davon  z.  B.  Wild,  davon  Wildenaere,  mit- 
Kate  die  Hütte  =  Holzhäuschen,  telhochdeutsch  der  Jäger,  und 
casa,  Kasten,  Geis,  Geisel,  gothisch  zwar  der  ordnungsmässige,  nicht 
gaisa  Speer,  Host,  hasta,  Ast,  wie  bei  uns  der  Begriff  jetzt 
Katze  für  Holzkasten  und  Baum-  ist,  der  Wilderer,  also  =  der 
blüthe  u.  s.  w.  Hetzer,  d.  h.  der  im  Walde  nach 

Wild  geht  von  Hatzen,  hetzen,* 
franz.  chasseur  von  chasser  Wild 
treiben,  wie  noch  jetzt  im  Nie- 
derländischen das  Pferd,  welches 
die  Trekschuiten  an  dem  Kanäle 
zieht,  der  Jäger  (Treiber)  ge- 
nannt wird.  Die  alte  Jagd  war 
Treibjagd. 

So  liegen  die  Namen  und  der  Begriff  Wäldler  als  Chatten  (vgl.  unseren 
Provinzialismus  ergattern  ==  erjagen),  Hatzer,  Katze  nahe  bei  einan- 
der, wenn  man  den  Grundbegriff  Wald,  Gehölz  festhält,  und  waren 
die  Chatten  =  Wäldler,  wie  noch  jetzt  die  Hot zen  im  Hauensteiner 
Grund  im  Schwarzwald.  So  stellt  denn  auch  Just.  Moser,  Osnabr. 
Geschichte.  I.  126,  schon  die  durchaus  annehmbare  Vermuthung 
auf:  „Beiläufig  bemerke  ich  hier,  dass  diese  Volcae  Tectosages  (Caes. 
B.  G.  VI),  weichein  der  Folge  H  och  1  ander  oder  Chatten  genannt 
werden,  blos  nach  griechischen  Begriffen ,  welchen  Cäsar  hier  folgt, 
aus  Gallien  geholt  werden."  Statt  Hochländer,  welcher  Begriff  eher 
auf  den  Namen  Germanen  passt,  muss  man  nur  sagen  Wäldler.  Was 
aus  diesen  Wäldern  herauskam,  waren  den  angrenzenden  Bewoh- 
nern der  Ebene  oder  Niederländern  Chatten,  Wäldler,  und  dieser  Name, 
der  im  plattdeutsch  redenden  Niederlande  mit  t  gesprochen  wurde, 
wurde  dann  im  das  t  quetschenden  Walde  selbst  Hatzen  oder  Hassen 


*  Man  vergleiche  hierzu  noch  die  Begrifisreihe  mit  to  hunt  (englisch) 
jagen,  hound  der  Hund,  cauis,  chien.  Ilindc.  die  Hirschin,  die  h'icht  da- 
von jagt,  gejagt  wird,  und  petzen,  beizen,  die  Falkenbeize,  Falkenjaf^d ;  aus- 
führlicher entwickelt  in  Kellner,  Ortsnamen  des  Ki'eises  Hanau.  Gr.  Prior, 
1871,  S.  27  f. 


Chatten  und  Hessen.  167 

gesprochen ;  hat  diese  Quetschung  doch  auch  selbst  im  Niederlande 
stattgefunden,  wie  in  hissen  holländisch  für  hetzen.  Auf  diese  Weise 
erklärt  sich  am  besten  die  Ueberlieferung  des  Die  Cassius,  dass  Drusus 
gleich  hinter  den  Sugambern*  die  Chatten  traf,  dass  sie  sogar  am 
Rheine  angrenzten,  dass  Tacitus  dann  von  ihnen  sagt  Germ.  30 :  Dass 
sie  nördlich  von  den  agri  decumates  und  dem  sie  einschliessenden  limes 
Romanus  die  Schluchten  des  Herc}-nischen  Waldes  bevpohnten,  bis  da, 
wo  dieser  in  die  Ebene  absetzt;  alles,  was  den  Wald  bewohnte, 
waren  diesen  Darstellern  Chatten.  Sowie  man  aber  in  die- 
sem Waldlande  genauer  bekannt  wurde  und  einzelne  besondere  Land- 
schaften und  Stämme  mit  weiteren  besonderen  Namen  benennen  lernte,** 
schrumpfte  der  Begriff  Chatte  zusammen,  wie  denn  auch 
Germanicus  einen  Mittelpunkt  dieser  Wäldler  um  Maden  entdeckte,  der 
hernach  übrig  geblieben  ist  als  Chattien,  Hassia,  Hassen  oder 
vielleicht  richtiger  geschrieben  Heszen,  d.  h.  Waldland,  dessen  Eck- 
winkel die  Eider  hinauf  noch  heisst  Waldeck.  Damit  löst  sich  auch 
die  Frage  nach  dem  eigentlichen  Stamme  der  Chatten.  Es  braucht  im 
Laufe  der  Jahrhunderte  gar  nicht  Ein  Stamm  gewesen  zu  sein, 
vielmehr  spricht  die  heutige  hessische  Mundart  dafür,  dass  wir  es  in 
Hessen,  wie  eben  wohl  schon  im  alten  Chattien,  mit  einer  ursprüng- 
lichen natürlichen  Sprachgrenze  wie  Stammesgrenze  zu  thun  haben, 
wo  verschiedene  Mundarten  auf  einander  gestossen  sind  und  sich  in 
einander  eingeschoben  haben.  Vom  Norden  her  kamen  cheruskische, 
angrivarische ,  amsivarische  Einwanderer,  Amsivarische  sind  durch 
ein  bestimmtes  Zeugniss  nachgewiesen.  Tacitus  Ann,  XIII,  55  f,  er- 
zählt zum  Jahre  58  nach  Christus:  Die  Ampsivarier  kamen,  von  den 
Chaukern  aus  ihren  Sitzen  vertrieben,  zu  Dubius  Avitus ,  dem  von 
Paullinus  eingesetzten  Präfecten  und  baten  um  das  Land,  das  eben  von 
den  Friesen  zwangsweise  hatte  geräumt  Averden  müssen  und  das,  wie 
ihr  Anführer  Bojocalus  sagte,  einst  von  den  Chamaven,  dann  von  den 
Tubanten,  endlich  von  den  üsipetern  besessen  worden  und  jetzt  herren- 
los sei.  Als  dem  Bojocalus  dann  das  Land  unter  der  Bedingung,  die  er 
.«teilte,  abgeschlagen  wurde  und  der  römische  Statthalter  die  benach- 
barten Stämme  abhielt ,  mit  den  Waffen    den   Ansibariern  zu    helfen, 


*  Es  ist  oben  zu  3.  auseinandergesetzt,  dass  die  natürliche  Westgrenze 
der  alten  Chatten-Landschaft  die  östlichen  Ausläufer  des  Suerlandes(Sugam- 
briae)  waren  und  noch  die  der  Hessen  sind. 

**  »So  kannte  Drusus  und  Germanicus  die  Mattiaker  noch  nicht,  die  Ta- 
citus nennt. 


168  Chatten  unil  Hessen. 

zogen  diese  vereinsamt  zurück  zu  den  Usipetern  und  Tubanten  und 
von  diesen  vertrieben  zu  den  Chatten  und  zuletzt  zu  den  Cheruskern, 
bis  sie  auf  langem  Irrzuge  als  Gastfreunde,  Bettler  und  Feinde  in  ihrer 
^vaffenfähigen  Mannschaft  im  fremden  Lande  niedergehauen,  im  un- 
kriegerischen Alter  aber  als  Beute  vertheilt  waren.  Dies  waren  also 
Emsbewohner,  welche  Iwahrscheinlich  ihre  Namen  auf  ihrer  Wande- 
rung auch  nach  dem  heutigen  Nassau  ,  dem  alten  Lande  der  Usipeter " 
an  der  dort  fliessenden  Ems  (mit  Badeort  Ems),  von  da  in's  Madener 
Land,  wo  auch  eine  Ems  fliesst,  getragen  und  bei  Marburg  im  Namen 
des  Ortes  Anzenfahr,  wie  es  in  alten  Urkunden  heisst  und  in  dessen 
Nähe  auch  ein  Emsdorf  liegt,  eine  Spur  von  sich  hinterlassen  haben; 
ich  kann  wenigstens  für  den  Namen  des  Dorfes  Anzenfahr  keine  ver- 
nünftigere Ableitung  finden.  So  wie  hier  die  Ansibarier,  so  kamen  auch 
gewiss  andere  germanische  Einwanderer  vom  Norden  in  die  Wälder  an 
Fulda,  Eder,  Schwalm  und  den  Nebengewässern,  in  deren  Thälern 
zahlreiche  Orte  liegen,  die  in  ihren  Namen  an  niederdeutsche  Herkunft 
erinnern.  Ebenso  werden  über  die  niedere  Wasserscheide  zwischen 
Wetterau  auf  der  einen  Seite  und  Lahn-  und  Schwalmgegend  auf  der 
andern  Seite  Einwanderungen  in  die  letztere  vom  Süden  her  stattge- 
funden haben,  nur  ohne  dass  bei  der  in  dieser  Zeit  noch  sehr  verwand- 
ten Mundart  der  verschiedenen  germanischen  Stämme  in  der  Sprache 
grosse  Verschiedenheiten  vorgewaltet  haben.  Die  heutige  süddeutsche 
Volksmundart  ist  ja  erst  ein  Gewächs  späterer  Zeit,  ganz  so  wie  auch 
der  heutige  hessische  Dialect. 

Von  der  in  den  Wäldern  durch  Einwanderung  und  natürliche  Ur- 
sachen anwachsenden  Bevölkerung  war  es  nun  selbstverständlich ,  dass 
sie  bald  wieder  aus  den  Wäldern  hinauswanderte  in  weitere  urbar  zu 
machende  oder  gemachte  Gegenden  und  so  finden  Avir  denn  vor  Tacitus 
Zeit  schon  die  Bewohner  Chattiens  theils  hinausschwärmend  nach  der 
Wetterau  bis  in  das  Rheinthal,  theils  nach  dem  Osten  in  das  Gebiet 
der  Hermunduren  hinüber,  mit  denen  sie  sich  um  Salzquellen  streiten 
imd  dabei  auch  einmal  unterliegen,  viel  früher  schon  nach  der  Batuva 
wandern,  um  hier  unter  einem  neuen  Landschaftsnamen  der  Batuver 
weiter  zu  blühen,  und  zu  Tacitus  Zeit  selbst  ihr  Gebot  auch  über  Che- 
rusker und  Foser,  wahrscheinlich  ihre  Mutterstämme,  bis  zur  Aller  hin 
ausdehnen,  so  dass  die  Chauken  im  Osten  im  Bogen  herum  mit  den 
Chatten  grenzten. 

Bei  dem  Erobevungszuge  der  Franken,  zu  deren  Gesaramtheit  auch 


Chatten  und  Hessen.  169 

die  Landschaften  gehören,  in  denen  die  Chatten  wohnen ,  haben  diese 
unzweil'elhaft  ein  bedeutendes  Coutingent  zu  den  in  Gallien  vor- 
dringenden Schaaren  gegeben,  wie  ja  162  schon  Chatten  bis  nach  Gal- 
lien und  Rhätien  schwärmten,  und  einen  andern  grossen  Theil  scheinen 
im  6.  Jahrhundert  die  Thüringen  besiegenden  Frankenkönige  Chlotar 
und  Siegbert  in  Thüringen  angesiedelt  zu  haben,  wo  sie  dem  Hasse- 
gau  den  Namen  gegeben,  hier  also  schon  das  gequetschte  t  und  das 
erweichte  Ch  in  ihrem  Namen  aufweisend  ,  welche  Form  sich  in  den 
Waldern  wahrscheinlich  von  dem  cheruskisch  mundartlichen  „Chatten" 
aus  sehr  bald  entwickelt  hat. 

Es  sind  auch  wahrscheinlich  Nachkommen  der  hessischen  Ansied- 
ler, die  in  den  Ostfalen  Karl  dem  Grossen  unter  Anführung  des  Hessi 
oder  Hassio  sich  bald  unterwerfend  entgegentraten  ;  haben  doch  gewiss 
die  Cherusker  ebenso  gut  Hessen  als  Rückwanderer  unter  sich  auf- 
nehmen müssen,  als  sie  früher  Auswanderer  nach  Hessen  geschickt 
hatten  und  werden  also  auch  die  Ostsachsen  hessische  Niederlassungen 
unter  sich  gehabt  haben  ! 

Mit  der  Uebersiedlung  von  Hassen  nach  Thüringen  und  der 
Rückwirkung  Thüringens  auf  den  alten  Hessen -Mittelpunkt  hängt 
denn  auch  vorziifrlich  die  heutige  Beschaffenheit  der  hessischen  Mund- 
art  zusammen,*  es  kommt  aber  noch  hinzu,  dass  gerade  da,  wo  das 
alte  Marsenvolk  im  heutigen  Waldeckischen  und  um  Wolfhagen  mit 
den  Hessen  zusammenstösst ,  in  Fritzlar  und  Naumburg  bis  in  die 
neueste  Zeit  Mainzer  (süddeutsche)  Herrschaft  gewesen  ist,  so  dass, 
wie  sich  regelmässig  die  Mundart  des  Volkes  modulirt  nach  der  INIund- 
art  der  Herrschaft,  namentlich  in  geistlichen  Landeslierrschaften ,  sich 
die  Sprachgrenze  zwischen  Ungedanken  und  Mandern,  zwischen  Naum- 
burg und  Wolfhagen  so  scharf  absondert.  Weiter  nach  Osten  zu,  von 
Kassel  ab,  hat  dann  der  Thüringische  Dialect  eingewirkt,  wie  denn 
mit  1130  auch  das  Landgericht  Maden  thüringisch  wurde,  mit  der 
thüringischen  Herrschaft  Kassel  aufkam,  und  die  thüringische  Herr- 
schaft nach  kurzer  Unterbrechung  mit  dem  Tode  Heinrich's  Raspe 
und  dem   Aussterben  des   Mannesstammes  in  Thüringen    sich  in  den 


*  Die  hessischen  und  thüringischen  Kelensarten  entsprechen  und  decken 
fich  geradezu  bedeutend.  So  hört  man  bei  den  hessischen  Bauern  „etwas 
aus  Hassart,  aus  Bosheit,  Hassherz  thun"  ebenso  wie  in  der  RuLla.  cf.  K. 
Kegel,  die  Ruhl.  Muntlart.     ^Yeimar,  I«68. 


170  Chatten  und  Hessen. 

Nachkommen  des  weiblichen  Stammes  im  Brabanter  Hause  selbstän- 
dig in  Kassel  und  Hessen  von  1265  ab  einrichtete. 

Niederdeutsch  ist  im  hessischen  Dialect  geblieben,  nach  Leineweber- 
art zu  reden,  der  Aufzug;  die  Erzählung  durch  das Praeteritum  wie  im 
Englischen  ist  niederdeutsch  —  der  Oberdeutsche  erzählt  im  sogenann- 
ten Perfectum :  Da  hab  ich  gedacht  u.  s.  w.  Der  Hesse  sagt,  da 
dachte  ich  u.  s.  w.  Der  Hesse  verschluckt  nicht  die  Endsilben  der 
Wörter  wie  der  Schwabe,  er  sagt  haben,  wollen,  nicht  hab',  wolle' 
u.  s.  w.,  und  der  Schwaben  und  Schwäbelnden  Grenze  beginnt  erst  an 
der  Laiin  und  deren  Zuflüssen  ,  im  oberen  Thale  der  Fulda,  Hersfeld 
aufwärts.  Und  hierher  haben  die  Schwabeneinwanderung  gebracht  die 
vom  Osten  auf  den  zwischen  Rhein  und  Donau  liegenden  römischen 
Grenzwall  südlich  von  den  Franken  losdringenden  Alemannen,  die  bei 
dem  einstweiligen  Vordringen  jener  Concurrenten  nach  dem  mittleren 
und  südlichen  Gallien  Raum  erhielten,  bis  in  alle  nach  dem  Rheine  zu 
mündenden  Fluss-  und  Bachthäler:  Main,  Kinzig,  Wetterau  aufwärts 
bis  in's  alte  Chattenland.  Sie  haben  den  Einschlag  mit  zur  hessischen 
Mundart  geliefert.  Hier  in  der  "Wetterau,  im  Thal  der  Lahn,  haben 
denn  auch  die  besondern  errichteten  Gaugrafschaften  Ober-  und  Nieder- 
Lahngau,  wie  im  Thal  der  Fulda  die  priesterlichen  Anlagen  der  Abteien 
Hersfeld  und  Fulda  den  Namen  Chatten  weiterhin  auf  lange  Zeit  be- 
.-chränkt,  wie  die  Thüringer  von  Osten  her.  Als  Bonifacius  vom 
Papst  die  erwähnte  Vollmacht  erhielt ,  das  Christenthum  in  den  be- 
treffenden Gegenden  zu  lehren,  waren  schon  die  Nirteranwohner  (Ni- 
stresi),  Lahnbewohner  (Lognai),  Wetterauer  (Wedravi),  Grabfelder, 
Thüringer  von  den  Hessen  abgesondert.  Sie  haben  eben  Jahrhun- 
derte lang  eine  untergeordnete  Rolle  gespielt,  aber  dann  unter  Phi- 
lipp dem  Gros sraüth  igen  jedenfalls  den  Ruhm  davon  ge- 
tragen, dass  an  ihren  Namen  vorzugsweise  die  Sicher- 
stellung der  Reformation  sich  anknüpft. 

In  der  ISIundai't  aber  repräsentiren  sie  das  eigentliche  Mittel- 
deutsch, das  mit  der  Reformation  und  Luther's  Bibelübersetzung  als 
classisch-deutsche  Mundart  die  Herrschaft  über  die  andern  Mundarten 
davongetragen  hat.  In  so  fern  schon  im  6.  Jahrhundert  die  Hassen 
durch  ihre  bis  nach  Merseburg,  Saiigerhausen,  in's  Mannsfeld'sche,  wo 
Luther  geboren  ist,*   reichende  Ansiedelung   in  Thüringen,   im  Hasse- 

*  Vgl.  Wenck,   Hess.  Landesgesch.   II,     Urkunde   z.  J.  979,   worin    die 
Aut.dehnung  des  Hassegaues  angegeben  ist,  S.  31. 


Chatten  und  Hessen.  171 

gau  mitgewirkt  haben,  die  thüringische  Mundart  zu  gestalten, 
haben  die  Thüringer  hernach  den  Hessen  gewissermaassen  ihr  eigenes 
Werk  zurückgegeben,  ohne  indess  den  slavischen  Singeton,  der  dem 
Thüringischen  Volksdeutsch  innewohnt. 

Gehen  wir  nun  für  unseren  Namen  Chatten  auf  das  Etymolo- 
gische zurück,  so  haben  wir  bei  der  Voraussetzung,  dass  die  hier  an- 
genommene Ableitung  aus  dem  alten  Wortstamm  für  den  Begriff  Holz 
und  Wald  richtig  ist,  1)  die  alte  niedersächsische  Form  Chatti  =  Xdttoi, 
2)  im  Namen  der  Wäldler  im  Hauenstein  im  Schwarzwald  die  mittlere 
Form  Holzen  mit  der  Quetschung  des  t  zunächst  in  tz  und  3)  Hassi  als 
neuere  Form,  Gerade  so  finden  wir  iraNamenPr  eu  ssen  die  alte  Form 
Pruteni,  Niederdeutsch  ;  Prutzi  vermittelnde  Form  mit  der  Quetschung  des 
t,  und  die  Form  Prussi,  Pruissen,  Preussen  als  neuere.  Eine  Analogie 
hierzu  finden  wir  noch  in  dem  Namen  der  Grafschaft  Katzenelnbogen, 
welcher,  wie  in  der  Einleitung  auseinandeigesetzt  war,  auch  zur  Herlei- 
tung von  dem  Namen  Cattorum  oder  Catti  Melibocus  Veranlassung 
gegeben  hat.  Wenck  in  seiner  Hessischen  Landesgeschichte  hat  nun 
zwar  mit  Recht  diese  Ableitung  ausführlich  zurückgewiesen  und  die 
Herkunft  des  Grafen  von  Nieder-Katzenelnbogen  an  der  Durst,  an  der 
das  später  erst  gebaute  so  benamsete  Schloss  Katzenelnbogen  in  Nassau 
auf  einem  Hügel  liegt,  aus  der  Obergrafschaft  Katzenelnbogen,  das  den 
Ausgangspunct  für  das  heutige  Hessen-Darmstadt  geworden,  zu  be- 
weisen gesucht,  wonach  denn  der  betreffende  in  Nieder-Katzenelnbogen 
sich  anbauende  Herr  möglicher  Weise  seinen  Namen  von  dem  im  Süden 
des  Odenwaldes  liegenden  Berge  Katzenbuckel,  in  dessen  Nähe  Erbach 
liegt  und  auch  ein  Ort  Einbogen  vorkommt,  haben  kann. 

Für  uns  kommen  indess  nur  die  verschiedenartigen,  aber  zu  unserer 
Ansicht  über  die  Anwendung  des  Lautverschiebungsgesetzes  auf  den 
Namen  Chatten  höchst  passenden  Schreibungen  des  Namens  in  Be- 
tracht. Es  finden  sich  bei  Wenck  (Hess.  Landesgeschichte  an  ver- 
schiedenen Orten)  geschrieben  1102  Kazcnellebogen,  1144 — 47  Cacen- 
elenboge,  1219  Katzinellinbogen,  1287  Catzenelenbogen,  1259  Katen- 
elnbogen  (niederdeutsch),  1260  Cffcce?2ellenbogen ,  1267  C/uitzeneln- 
bogen  (vgl.  Cliatti),  1299  Catzeneln^'o»,  loOl  Katzenelembogen,  1316 
C/^atzonelnbogen,  1326  Catzenelcn/^ogen,  ]329  KatzenelinbocÄin.  Die 
häufigste  Schreibung  ist  Cazzenelnbogen.  Einmal  aber  schreibt  ein 
Caesarius,    ehemals  Abt  des   Klosters  Prüm   und   hernach  Mönch  im 


172  Chatten  und  Hessen. 

Cölner  Kloster  Heisterbach  1222  (Hontheira,  Hist.  Trev.  T.  I,  p.  690, 
606  und  698  wiederholt  comites  de  Cassenelhogen  (et  Hoynsten  = 
Hühenstein).     Wenck   a.  a.  O.   I.  p.   257. 

Wieder  eine  absonderliche  Schreibung  ist  in  der  Urkunde  von  1216 
Zazzenchihogen.  Und  endlich  in  zwei  von  einem  englischen  König 
ausgehenden  Urkunden  1294  heisst  es  in  der  einen :  datum  apud  turrim 
Londin  (dem  Londoner  Tower)  Kazin^M^^bogen  —  in  beiden  lässt  näm- 
licli  König  Eduard  von  England  den  Grafen  von  Katzenelnbogen  den 
Vasalleneid  schwören  —  in  der  andern  datum  apud  Westminster  Kazin- 
eliighogejx.  Der  Graf,  der  darauf  antwortete ,  wie  es  scheint  in  einer 
eigenhändig  geschriebenen  Urkunde,  schreibt  seinen  Namen  selbst 
Kazinlenbogen. 

Wir  haben  hier  ganz  deutlich  vor  uns:  1.  die  niederdeutsche  Aus- 
sprache des  Wortes  in  Katenelnbogen  ;  2.  die  mitteldeutsche  gewöhn- 
liche in  Katzenelnbogen  und  3.  die  fränkisch-deutsche  oder  romanisch 
gemodelte  in  Kassenelnbogen ,  ganz  wie  etwa  Chatti,  Hatzen,  chasser. 
Eben  der  Abt  Caesarius  schrieb  auch,  wie  er  sprach,  Casseneln- 
bogen  mit  ss,  wo  es  doch  hätte  mit  zz  geschrieben  werden  müssen 
nach  der  strengen  Anwendung  des  Lautverschiebungsgesetzes  auf  den 
Namen.  Um  so  weniger  darf  auch  die  Schreibung  Hassi  oder  Hessi 
die  Ableitung  aus  Chatti  beeinträchtigen. 

Betrachten  wir  uns  nun  noch  etwas  genauer,  auf  welchem  Sprach- 
gebiet der  alte  Name  Chatti  entstanden  ist,  so  finden  wir  einmal  noch 
lieut  zu  Tage  von  der  Bevölkerung  an  der  Weser  von  Hannoversch- 
Miinden  abwärts  das  K  so  sehr  nach  dem  Ch  hin  sprechen,  dass  man 
immer  heraushört  chonnte  für  konnte,  Chunst  für  Kunst,  Chönig  für 
König  im  Anlaut;  ebenso  das  plattdeutsche  t  für  s  und  z  des  Hoch- 
deutschen, also  Katte  statt  Katze  (cf.  Kattenbühel ,  Hügel  oberhalb 
Münden)  u.  s.  w.  Dabei  findet  sich  ein  Zusammenfliessen  auch 
wieder  des  G- Lautes  mit  dem  Ch,  dieses  Ch  statt  K  dann  aber 
auch  wieder  im  Niedersächsischen  gestellt  vor  Consonanten,  wo  wir 
diese  im  Hochdeutschen  allein  sprechen:  Chlodwig  alt  statt  Ludwig, 
Chlotar  statt  Lothar,  Luther;  Hrutansten  in  einer  Urkunde  bei 
J.  Moser,  0.  Gesch.  H,  p.  23,  16,  14*  für  Rotenstein.  Im  Sauer- 
liindischen,   also  im  Sugambernlande  ferner  finden   sich  Verdichtungen 


*  In  einer  Urkunde  Karl's    des  Grossen    von  804   steht  einfach  Rutan- 
stein!     Vgl.  S.  131  zu  Meygerhoun. 


Chatton  und  Hessen.  173 

der  Tocalischen  Laute,  wie  Egger  statt  Eier,  mögen  statt  mähen, 
Riege  staft  Reihe,  holländisch  reek,  Höchte  statt  Höhe,  liehen  (Geld) 
statt  leihen,  wichen  statt  weihen  u.  s.  w.  Ein  auch  für  die  Etymolo- 
gie im  Allgemeinen  sehr  interessantes  Beispiel  ist  das  Vorkommen  des 
Wortes  Queke  in  Westfalen  für  Vieh,  volksmässig  Vieh,  oder  Vaih, 
wie  gothisch  vaihu,  lateinisch  pecus  u.  s.  w.  (siehe  Moser,  Osnabr. 
Gesch.  I.  S.  72,  Anmerk.  e:  „Und  wanne  die  stervet,  so  gebet  sie  in 
Maternian's  Ehre  öre  beste  weisse  Kleed  und  öre  beste  Hofet  Queke  s."* 
wo  nebenbei  festzustellen  ist,  dass  das  Wort  Vieh  =  Lebendes,  lebende 
Sache  im  Gegensatz  zur  todten  Sache,  also  zusammenhängt  mit  dem 
Stamm  queck,  quick  lebhaft,  Leben  von  sich  gebend,  lebendig,  vivo, 
vixi,  vic-tum,  vivere  leben  (Latein)  und  sich  so  mitten  im  Osnabrück'- 
schen  Lande  eine  sehr  alte  Foi'm  unserer  indogermanischen  Sprachfamilie 
findet.  Man  vergleiche  nun  hierzu,  was  sich  in  Liebenauer  Urkunden 
(Zeitschr.  f.  hess.  Geschichte  und  Landeskunde,  Heft  1  u.  2,  1868, 
S.  33  ff.)  geschrieben  findet:  Vigcnt  =  Feind  (auch  eine  ganz  richtige 
ältere  Form  des  Wortes),  unverhogen  für  unverhauen,  verzigen  = 
verziehen,  geschieht  =  geschieht,  und  man  sieht,  wie  dieselbe  Mund- 
art im  plattdeutschen  Sprachgebiet  rings  um  Hessen  entweder  das  ur- 
sprüngliche Katten  zu  Chatten  erweichen  oder  das  ,H'  (Hessen)  zu  Ch 
verdichten  konnte.  Von  Personennamen  vergleiche  man  in  dieser  Rich- 
tung noch  Mechtild  für  Mathilde,  Wittechind  und  Wittekind,  Eginhard 
und  Einhard,  und  von  Volksnamen  die  Form  Chunni  statt  Hunni  bei 
Auson.  Claud.  Eutrop.  2,  330  und  Chuni  bei  Sidon.  Apoll.  Gregor. 
Turon.  und  F'redegar. 

Auf  der  nord-östlichen  Seite  der  Hessen  bei  Göttingen  findet  man 
die  Eigenheit  der  dortigen  Bewohner ,  dass  sie  kein  K,  sondern  für  K 
regelmässig  G  sprechen,  woraus  sich  ebenfalls  eigenthümliche  Conse- 
quenzen  für  die  nicht  zu  strenge  Anwendbarkeit  des  Lautverschiebungs- 
gesetzes ergeben.  Wie  würden  die  Göttinger  Chatten  gesprochen 
haben?  vielleicht  Gadden.  Wie  geneigt  man  aber  im  Osnabrück'schen 
für  Verdichtung  des  h  war,  geht  aus  einer  Urkunde  hervor,  in  der 
Moser,  Osnabr.  Gesch.  §  3,  das  lateinische  mihi  michi  geschrieben  ist. 
liier  kann  möglicher  Weise  auch,  wie  eine  kleine  Abhandlung:  „Zur 
altern  Geschichte  der  Stadt  Marburg."  Cass.  Feierstunden,  Beibl.  zur 
Hess.  Volksz.     1870.     Nr.  51  (sonst  Vilmarisch  für  die  Nichtidentität 

*  Vgl.  Kryetende  tiende  (kreischender  Zehnte  [Vieh]).     Kämpen,   Ge- 
schichte der  Niederlande.     I,  120. 


174  Chatten  und  Hessen. 

von  Chatten  und  Hessen)  ganz  vernünftig  ausführt,  der  Nan^  der  Che- 
rusker aus  dem  alten  Namen  des  Dorfes  Heerse  bei  Willibadessen, 
Altenheerse,  entstanden  sein,  von  wo  aus  sich  dann  das  Gebiet  der 
Cherusker  bis  zu  den  Bückebergen  am  rechten  Ufer  der  Weser  und  bis 
zum  Harze  ausbreitete ;  man  denke  sich  nur  den  alten  Namen  Cherusi 
geschrieben.  Liegt  doch  auch  Herssebrok,  Hertzebroek,  Kerssenbroich 
in  der  Nähe. 

Hiermit  schliessen  wir  diese  Untersuchung,  um  nicht  das  Material 
sich  in's  Unendliche  ausdehnen  zu  lassen.  Nach  allen  Gründen  wird 
gewiss  die  Erklärung  des  Namens  Chatten  und  Hassen  oder  Hessen 
durch  „  Waldländer,"  Wäldler,  „Hotzen"  eine  genügende  für 
viele  Erscheinungen,  welche  bisher  nicht  wohl  eingereiht  werden  konn- 
ten, und  ein  Licht  auf  noch  andere  dunkle  Partieen  der  Namenerklärung 
zu  werfen  geeignet  sein. 

Wir  haben  es  also  mit  ursprünglich  niedersächsischen  Stammes- 
theilen  zu  thun,  die  colonisirend  in  die  Wälder  vordrangen  und  hier 
wohl  auch  mit  suevischen ,  vom  Süden  her  kommenden  Stämmen  zu- 
sammenstiessen,  die  alle  nach  dem  gemeinsamen  Wohnen  im  WalJlandc 
ihren  gemeinsamen  Namen  hatten,  bis  sich  der  Wald  vor  genauerer 
Kunde  in  seine  einzelnen  Sonderbestandtheile  auflöste  und  der  Name 
Chatten  (nach  platter  Mundart)  in  der  modernen  hochdeutschen  Form 
Hessen  (nach  der  Form  hese  fiir  Gebüsch,  Gestrüpp,  Caesia  silva, 
Ileissi  a.  Ruhr,  Heserwald  [es  gibt  ja  auch  einzelne  hochdeutsche  In- 
seln im  Niederland,  wie  der  fränkische  Harz  eine  solche  aufweist])  auf 
dem  Mittelpunkte  hängen  blieb. 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 


Die   Sprache    als    Kunst    von    Gustav    Gerber.      Erster    Band. 
Bromberg  1871,  Mittler'sche  Buchhandlung.    H.  Heyfelder. 

Die  Lehrbücher  <ler  Poetik  leiden  an  verschiedenen  Mängehi,  welche 
nicht  nur.  wie  wir  jrlauben,  von  den  meisten  Lesern  mehr  oder  weniger 
klar  empfunden  werden ,  sondern  auch  von  der  Kritik  ausdrücklich  als 
solche  bezeichnet  worden  sind;  ja,  welche  manche  Verfasser  selbst  ziemlieh 
naiv  anerkennen,  ohne  doch  den  Versuch  gemacht  zu  haben  sie  zu  beseiti- 
gen. Wir  heben  hier  zwei  besonders  hervor.  Wenn  es  wahr  ist,  dass,  wie 
Schiller  sagt,  „der  Begriff  der  Poesie  kein  andrer  sei,  als  der  Menschheit 
ihren  möglichst  vollständigen  Austlruck  zu  geben,"  oder,  wie  H.  Gerber 
sich  ausdruckt  (S.  53 — 54),  „die  Poesie  die  Kunst  des  Gedankens  sei,  so 
dass  sie  Gedanken  darstelle  im  Gedanken  als  ihrem  Material;"  so  erschei- 
nen gewisse  Dichtungsgattungen,  als  da  sind:  Epigramme,  Rathsel,  Para- 
beln, Gnomen,  Volkslieder,  nicht  als  ebenbürtige  Erzeugnisse  mit  dem  Epos 
und  dem  Drama.  Sind  doch  strengere  Theoretiker  (Aristoteles,  Lessing, 
Gervinus)  selbst  geneigt,  die  gesammte  Lyrik  bei  Seite  zu  schieben!  Wenn 
zweitens  Vischer  die  Sprache  mit  Recht  das  „blosse  Vehikel"  der  Poesie 
nennt,  als  für  welche  nur  „die  Phantasie"  selbst  das  Material  sei,  so  er- 
scheint die  Annahme  einer  besonderen  poeti-chen  Sprache,  deren  Gesetze 
die  Poetiken  in  der  Lehre  von  den  Kedetiguren  zusammenfassen,  ungerecht- 
fertigt, wie  denn  auch  in  der  That  nicht  allein  jede  effectvolle,  feierliche, 
gehobene,  scherzende  Rede,  sondern  überhaupt  jede  menschliche  Rede,  selbst 
die  nüchternste  Prosa  und  die  tägliche  Unterhaltung  sich  dieser  Figuren  be- 
dienen. Der  Verfasser  des  vorliegenden  Buches  hat  diese  angedeuteten 
Mängel  klar  herausgestellt  und  gefunden,  dass  sowohl  jene  zweifelhaften 
Dichtungsarten  als  auch  diese  Redefiguren  von  der  Poesie  abzusondern  und 
einer  besonderen  Kunst,  der  Sprachkunst,  zuzuweisen  seien.  Die  natürliche 
Frage,  wie  eine  solche  Kunst  habe  übersehen  und  erst  von  ihm  entdeckt 
werden  können,  beantwortet  H.  Gerber  in  der  Vorrede  (S.  IV.)  dadurch, 
dass  er  auf  die  schwierige  Abgränzung  derselben  und  auf  das  weniger  Auf- 
fallende ihrer  Werke,  die  mehr  der  flüchtig  vorüberrauschenden  Rede,  als 
der  Literatur  angehören,  aufmerksam  macht.  (Siehe  auch  S.  43  und  44.) 
Er  zeigt  ferner  (S.  79 — 97),  dass  trübere  Forscher  nicht  allein  das  künstle- 
rische Element  in  der  Sprache  geahnt  und  auch  hervorgehoben  haben ,  son- 
dern sogar  geradezu  bis  zu  einer  Anerkennung  der  Sprachkunst  fortgeschrit- 
ten sind.  Hier  sind  besonders  Aristoteles,  Lessing,  Herder,  Hegel,  Vischer, 
Solger,  Thiersch,  Thrandorff,  Kahlert  zu  nennen.  Keiner  von  diesen  hat 
es  aber  zu   einer    vollständigen   Klarheit  und   Sonderung  gebracht,    keiner 


176  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

bat  den  letzten,  entscheidenden  Schritt  gewagt.  Diesen  Schritt  hat  H.  Gerber, 
nach  unserer  Ueberzeugung  mit  vollem  Recht,  gethan  und  seine  schwierige 
Aufgabe  mit  grossem  Scharfsinn  und  mit  der  Benutzung  eines  reichen  Ma- 
terials, welches  il)m  seine  ausgedehnte  Belesenheit  an  die  Hand  gab,  glück- 
lich gflöst. 

Wir  geben  nach  diesen  einleitenden  Bemerkungen  eine  gedrängte  Ueber- 
sicht  über  den  Inhalt  des  Buchs  —  freilich  bloss  Bruchstücke  aus  dem 
Ganzen,  und  hauptsächlich  in  der  Absicht,  dem  Leser  einen  Vorgeschmack 
zu  geben  und,  um  in  dem  trivialen  Bil.Je  zu  bleiben,  seinen  Appetit  auf  das 
Buch  selbst  zu  reizen.  Dasselbe  beginnt  mit  einem  allgemeinen  Theile,  der 
in  zwei  Unterabtheilungen  „von  dem  System  der  Künste"  und  „von  der 
Sprachkunst  im  Besonderen"  zerfällt.  Das  W  esen  der  Kunst  findet  H.  Ger- 
ber im  Anschluss  an  Kant's  Kritik  der  Urtheilskraft  in  einer  Freude  brin- 
genden Thätigkeit,  welche  eben  nur  dies  will:  Freude  bringen,  weshalb 
die  Kunst  auch  nicht  mit  Unrecht  als  ein  Spiel  bezeichnet  worden  ist.  Un- 
ser Verlangen  nach  Freude  beruht  aber  darauf,  dass  das  Leben  an  sich 
selbst  der  Schmerz  ist.  In  der  Kunst  lösen  sich  die  Disharmonien  der  Er- 
scheinungswelt; sie  erfasst  das  Dasein  als  ein  dem  Menschen  analoges. 
Freilich  ist  diese  Freude  nur  die  Freude  an  der  Form,  am  Schein  der  Er- 
scheinung (Schönheit);  aber  dieser  Schein  ist  das  einzige  Licht,  aus  wel- 
chem uns  die  Wahrheit  entgegenleuchtet  ohne  uns  zu  blenden.  Hiermit 
sind  diu  Gränzen  der  Kunst  bezeichnet.  Die  Seele  des  Menschen  kann 
nichts  Höheres  hervorbringen ,  als  sich  selbst ;  sie  findet  auch  in  der  Er- 
scheinungswelt nur  das  ihr  Entsprechende  und  entnimmt  aus  deiselben  daher 
nur  wieder  sich  selbst  in  Gestalt  eines  Materiellen.  Dennoch  ist  sie  kein 
leeres  Gaukelspiel  im  Vergleich  zu  den  anderen  Ideen ;  denn  auch  die 
Wahrheit  ist  nur  eine  menschliche,  und  auch  das  Gute  ist  das  Gute  nur  für 
uns.  Wenn  so  die  Kunst  für  Alle  ist,  wie  das  Gute  und  das  Wahre,  so 
sind  auch  Alle  Künstler,  freilich  in  verschiedenem  Grade.  Das  Geniessen 
eines  Kunstwerkes  ist  ebenso  wenig  ein  rein  passives  Verhalten ,  wie  das 
Schaffen  ein  rein  aktives.  Wenn  aber  Alle  Künstler  sind,  so  kann  der  Ein- 
zelne als  solcher  die  Kunst  nicht  hervorbringen  ,  sie  besteht  und  gewinnt 
Form  nur  durch  die  Beiheiligung  Aller.  So  wenig  aber  das  vollendetste 
Kunstwerk  die  Idee  der  Kunst  •vollständig  enthält,  so  wenig  ist  der  Eintritt 
in  die  Sphäre  der  Kunst  da  zu  verkennen,  wo  von  den  höchsten  oder  reinen 
Kunstforderungen  nicht  die  Rede  sein  kann.  Was  den  Ursprung  des  Kunst- 
werkes näher  angeht,  so  ist  es,  wie  schon  angedeutet,  der  von  dem  Thiere 
nicht  gefühlte  Schmerz  über  die  Inkongruenz  der  Natur,  welcher  uns  zur 
Darstellung  einer  kongruenten  Natur  treibt.  Jener  Schmerz  und  seine  Be- 
friedigung tritt  aber  erst  ein,  wenn  das  Individuum  sein  sinnliches  Bestehn 
als  solches  der  Aussenwelt  gegenüber  gesichert  hat.  Ebenso  ist  es  mit  den 
andren  Bethätigungen  der  Freiheit  des  Menschen  in  Wissenschaft,  Gesetz, 
Religion ;  sie  entspringen  aus  der  Entzweiung  und  treten  erst  später  im 
Bewusstsein  hervor.  Damit  die  Seele  sich  ausspreche,  bekleidet  sie 
sich  mit  einem  Leibe,  einem  Stoffe,  und  diesen  entnimmt  sie  der  Natur. 
.Sie  schafft  sich  eine  vermenschlichte  Welt,  welche  mit  ihr  sympathisirt. 
Hier  übernimmt  nun  das  Genie,  der  schaffende  Künstler,  die  Interpretation. 
Man  kann  sich  vorstellen,  die  Natur  reize  zur  Nachahmung,  und  so  entstehe 
die  Kunst;  man  kann  aber  ebensowohl  sagen,  dass  ein  Kunsttrieb  der  Seele 
iunewjhne,  welcher  sie  nöthige ,  zu  schaffen.  Eine  Gliederung  der  Künste 
gewinnt  der  Verfasser  durch  gleichzeitige  Berücksichtigung  der  Thätigkeit 
der  Seele  und  des  Materials.  Da  die  Künste  nur  für  die  beiden  Sinne  des 
Aui^es  und  iles  Ohres  vorhanden  sind,  so  ergeben  sich  zwei  Gruppen  von 
Künsten.  Die  erste  umfasst  die  Künste  für  das  Auge,  die  Künste  des  Rau- 
mes, in  denen  die  äussere  Welt  durch  das  Licht  verinnerlicht  wird.  Es 
sind:  1)  die  Architektur,  in  der  die  Seele  als  zusammenfassende  Einheit, 
die  Natur   als    Vielheit  der  Massen  sich  kund  giebt.     2)   Die  Skulptur,  in 


Beurtheilungen   und  kurze  Anzeigen.  177 

der  die  Seele  als  gliedernde  Einheit,  die  Natur   als   organisirte  Masse  er- 
scheint.    3)  Die  Malerei,  in  der  die  Seele  als  wesentliche  Einheit,  die  Natur 
als  Schein  der  Masse  auftritt.     Die  zweite  Gruppe  enthält  die  den  obenge- 
nannten parallelen  drei  Künste  für  das  Ohr,    in  denen  die  innere  Natur  der 
Welt,  wie  des  Menschen   sich    in   der  Zeit   durch  den  Schall  veräusserlicht. 
Es  sind:    1)  Die  Tonkunst,  deren  Gestaltungen  die  Zahl  beherrscht;    2)  die 
Sprachkunst,  in  der  durch  das  Wort  eine  Gliederung  des  Tonmaterials  ein- 
tritt;   3)   die  Dichtkunst,  in  der  die  Sinnlichkeit,    wie   in   der  Malerei,   nur 
noch  Schein,  das  Wort  nur  noch  Zeichen  ist,  welches  bedeutet.   Die  Aehn- 
lichkeit  zwischen  Baukunst  und  Tonkunst,  zwischen  Malerei  und  Dichtkunst 
ist  auch  sonst  schon  bemerkt   worden;   die  Kunst  des  Bildhauers   blieb  aber 
ohne  eine  entsprechende  Kunst.     Diese  Lücke  ist  jetzt  ausgefüllt.     Im  Fol- 
genden wird  dann  das   Gebiet  der  Sprachkunst  näher  begränzt:    1)    Durch 
Unterscheidung  von  der  gewöhnlichen   Rede   der  Bedürfnisse,    so  zu  sagen, 
der  Prosa  der  Sprachkunst,  wie  man  in  der  Literatur  die  Prosa  (in  engerer 
Bedeutung:   ungebundene  Rede)    in    weiterer   Bedeutung    als  Gegensatz  zur 
Kunst  der  Poesie  gegenüberstellt.     2)  Durch  Unterscheidung  von  der  Poe- 
sie.    „Es  fällt  bei  der  Dichtkunst  das  ganze  Gewicht  auf  die  Dichtung,  Er- 
dichtung, Verwandlung,  Umschaflung   der   Erscheinungswelt,   die   Gedanken- 
verschlingung,  den  Gedankenkampf;   bei   der   Sprachkunst  auf  die  Vollkom- 
menheit der  Darstellung  eines  Seelenmoments  durch  die  Sprache;   der  Dich- 
ter erfindet  Verwicklungen,  Lösungen,  Umstände,   Lagen,    giebt  eine  Welt- 
anschauung;  der  Sprachkünstler  erfindet  Wörter,   Satzformationen,    Figura- 
tionen,   Sprüche,    giebt    das   Abbild  eines   Lebensmoments  der  Seele."  „Bei 
der  Poesie   ist  die   Sprache  nur  die  zweite    nach   Aussen    gekehrte   Hälfte 
des  Materials,  der  Stoif,   in  welchen  sich  das  bestimmte  Denken  nothwendig 
kleidet,   um  vollständig    zu  sein  und  zu   erscheinen  —  bei  der  Sprachkunst 
dagegen  ist  die  Sprache  das  ganze  Material."     „Was    bisher   zur  Lyrik  ge- 
rechnet wurde  ohne   doch  mehr  zu    geben ,    als  Abbildung  eines    einzelnen 
Lebensmomentes  der  Seele,    ziehen    wir   zur  Sprachkunst.     Diejenige  Lyrik 
hingegen,  welche  eine  Vielheit  von  Empfindungen   und   Gedanken  behandelt 
und  diese  Mannichfaltigkeit  zur  Einheit  eines  Gedankens  oder  einer  Empfin- 
dung abschliesst,  halten  wir   für   eine  der  Epik   und  Dramatik  gleichberech- 
tigte Dichtungsgattung."     Aus   der  didaktischen  Poesie,  welche  der  Verfas- 
ser, wie  man  schon  aus  einem  der  früheren  Sätze  schliessen  kann,  in  Schutz 
nimmt,   ist   Spruch,    Epigramm,    Gnome,    Sprüchwort   und    Aehnliches    zur 
Sprachkunst  zu  ziehen.      3)  Durch  Unterscheidung  von  der  Redekunst,  die 
der  Verfasser  aus  der  Reihe  der  schönen   Künste  ausschliesst.     Die  Bered- 
samkeit ist  ein  Geschäft,  welches,  wie  jedes   andre,   mit  mehr  oder  weniger 
Strenge   und   Gewissenhaftigkeit    getrieben   wird.      Die   Werke   der    Sprach- 
kunst   (die  Redefiguren)   werden  von  ihr   in    ähnlicher  Weise  verwandt  und 
benutzt,    wie    bei    der    Darstellung  von  Werken   der  Dichtkunst  geschieht. 
Nachdem  der   Verfasser  noch  über  die   Anerkennung  der   Sprachkunst  bei 
früheren  Forschern  gesprochen  (siehe  oben),    sondert  er  die  Sprachkunst  in 
drei  Gruppen,  welche  den  drei  Gattungen  der  verwandten  Kunst,    der  Pla- 
stik, entsprechen:  Die  Werke,   welche  innerhalb  der    Sprache  selbst  zu  er- 
kennen sind,   obwold  sie    als  Werke  der  Kunst  dort  nicht  mehr  hervortre- 
ten  (die    Sprache  als  Kunst);    die  selbstständigen   Werke    der    Sprachkunst 
(Sprachkunst  in  ihrer  Selbstständigkeit) ;   die  Werke  der  Sprachkunst,  welche 
der  Künstler    mit   grösserer  oder  geringerer    Absichtlichkeit   und   Reflexion 
als  Schmuck  verwendet  (die  Werke  der  Sprachkunst  im  Dienste  der  Sprache). 
Die   UnSelbstständigkeit  ist  der  ersten   und    dritten  Abtheilung   gemeinsam; 
doch  ist  dort  die  Vereinigung  von  Sprachkunst    und  Sprache  eine  unmittel- 
bare,  naive,   hier  eine  vermittelte,    reflektirte;  dort  ist  die  Kunst  aus  einer 
bisherigen   Verkennung   hervorzuziehen,    hier    haben   wir  es  mit  einem  be- 
wussten  Schaffen  zu  thun,  welches  deshalb  auch  schon  immer  als  ein  künstle- 
risches  bemerkt  worden   ist.      Diesen    allgemeinen  Theil    schliessen   einige 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XLVIII.  12 


178  Beurtheilungea  und  kurze  Anzeigen. 

Andeutungen  über  die  Geschichte  der  Sprachkunst.  Die  Sprache  "als  Kunst 
gehört  der  vorhistorischen  Zeit  an;  die  Stätte  der  selbstständigen  Werke 
der  Sprachkunst  ist  besonders  der  Orient.  Erst  eine  reifere  Weltanschau- 
ung führt  zur  Poesie.  Nach  den  sogenannten  klassischen  Perioden  der  Li- 
teratur tritt  eine  Erschlaffung  ein,  in  der  die  Sprachkünstler  die  Gedanken- 
eroberungen der  Dichter  als  Sprachstücke  in  den  allgemeinen  Sprachschatz 
hineintragen.  Sprachkunst  endet  so,  wie  sie  begann,  als  Indifferenz  zwischen 
Prosa  und  Poesie. 

Von  dem  besonderen  Thell  enthält  der  vorliegende  erste  Band  den  er- 
sten Abschnitt:  Die  Sprache  als  Kunst.  Zunächst  wird  von  dem  Ursprung 
und  Wesen  der  Sprache  gehandelt.  Die  neuere  Sprachforschung  (W.  v.  Hum- 
bold, Heyse,  Lazarus,  Steiuthal,  Max  Müllei") ,  von  der  Ansicht  ausgehend, 
dass  der  Ursprung  der  bestimmten,  zeitlich  gegebenen  Sprache  ebenso  unbe- 
greiflich sei,  wie  der  des  bestimmten  Menschen,  sucht  dje  Sprache  aus  den- 
jenigen Bedingungen  und  im  Einklänge  mit  ihnen,  welche  uns  sonst  über 
die  Natur  des  Menschen  bekannt  sind,  zu  begreifen,  während  die  ältere  For- 
schung (Plato,  Cicero,  Rousseau,  Süssmilch,  Herder,  Lessing,  Fichte)  von 
der  Ansicht  ausging,  dass  ein  bestimmter  zeitlicher  Anfang  einer  als  fertig 
zu  denkenden  Sprache  anzunehmen  sei.  Die  Frage  wurde  so  eine  Frage 
nach  dem  übernatürlichen  (Offenbarung  Gottes)  oder  natürlichen  (Erfindung 
des  Menschen)  Ursprünge  der  Sprache.  Wurde  der  letztere  angenommen, 
so  entstand  wieder  die  Frage ,  ob  sie  eine  nothwendige  Entwicklung  der 
Menschennatur  ((pvaei)  oder  ein  Product  der  menschlichen  Freiheit  (ß'easi) 
sei.  Diese  letztere  Frage  ist  nach  dem  Verfasser  dahin  zu  beantworten,  dass 
sie  durch  die  Wechselwirkung  beider  entstanden  ist,  und  dass  deshalb  auch 
nichts  hindert,  sie  als  göttliches  Geschenk  zu  fassen.  Wie  durch  den  Pro- 
cess  der  Wechselwirkung  die  Entwicklung  des  Menschen  überhaupt  zur 
Reife  gebracht  wird,  so  vollzieht  sich  durch  eben  diesen  Process  auch  die 
Entwicklung  des  Menschen  von  der  Natursprache,  in  welcher  ein  Minimum 
des  Ich  sich  betheiligt,  bis  zur  Sprache  als  Kunst,  welche  den  Menschen 
wesentlich  ausspricht.  Denn  alles,  was  vom  ganzen  Menschen  ohne  Nöthi- 
gung  von  aussen  her  geschaffen  wird,  ist  Kunst;  daher  entspringt  also  die 
Sprache  dem  Kunsttriebe  des  Menschen;  dadurch,  dass  unser  Geist  sich 
erschafft  in  der  Sprache,  wird  er  selbst  erst  in  Wirklichkeit.  Da  alle  Thä- 
tigkeit  des  Geistes  durch  das  Medium  der  Sinnlichkeit  hindurchgeht,  so  be- 
darf es  der  Sprache  nicht  nur  zur  Darstellung',  sondern  auch  zur  Bildung 
des  Innern.  Als  natürliche  Vorstufen  der  Sprache  erscheinen  Gesten  und 
unartikulirte  Töne.  Der  Ton  ist  aber  nur  im  Stande,  den  Seelenakt  in  all- 
gemeiner Weise  und  in  einem  andren  Material  wiederzugeben;  er  ist  nur 
ein  Bild.  Wir  fassen  also  nicht  Dinge  auf  oder  Vorgänge,  sondern  Reize; 
wir  geben  nicht  Empfindungen  wieder,  sondern  Bilder  von  Empfindungen. 
Wir  kommen  durch  die  Wechselwirkung  unsres  Geistes  mit  unsren  Lautäus- 
serungen  zu  einer  Entwicklung,  die  uns  von  dem  Naturleben  entfernt  und 
in  eine  künstliche  Welt  versetzt,  welche  Wahrheit  und  Gültigkeit  nur  für 
uns  beanspruchen  kann.  So  entwickelt  die  Sprache  den  Menschen  nicht 
nur,  sondern  sie  begränzt  ihn  auch.  Bei  den  Empfindungslauten,  welche 
Gehörswahrnehmungen  betreffen,  kann  von  einer  Schallnachahmung  (Ono- 
matopoeie)  die  Rede  sein,  bei  denen,  welche  Eindrücke  der  übrigen  Sinne 
wiedergeben,  nicht,  —  hier  wird  nur  ein  Analogen  des  Natürhchen  (nach 
Humboldt  ein  Symbol)  geschaffen.  Weil  die  wahre  Natur  des  Wortes  als 
eines  Kunstwerkes  (dies  erst  im  Symbol)  nicht  erkannt  wurde,  liess  man 
häufig  die  artikulirte  Sprache  unmittelbar  aus  diesen  Lauten  hei-vorgehn ; 
man  liess  die  Freiheit,  die  bei  der  Bildung  des  Wortes  thätig  ist,  ausser 
Acht,  eine  Freiheit,  die  den  Naturlauten  abgesprochen  werden  muss.  Wäh- 
rend die  Seele  bei  der  Hervorbringung  derselben  an  das  einzelne  Objekt 
gebunden  war,  welches  sie  wahrnahm  und  von  dem  sie  ein  Merkmal  auf- 
fasste  (Wahrnehmung),    empfängt   sie  an  dem  hervorgebrachten  Laute  eine 


BeurtheiluDgen  und  kurze  Anzeigen.  179 

neue  Wahrnehmung,  welche  allgemeiner  ist.     Sie    stellt  das  Object  sich  auf 
ihre  AYeise  hin  und  lernt  es   in  dieser  Form  kennen  (Vorstellung),  wodurch 
für  das    Bewusstsein   der   Gegensatz   des   Subjects  zu  der    objectiven   Welt 
sich  herausbildet.     Wenn  so  der  Mensch  die  Individuen  in  Genera  verwan- 
delt,   so    muss  er  seine    Unfähigkeit   zugestchn,   das   Individuum,    d.  h.  die 
Wirklichkeit    zu    erkennen.     Das   Vorstellungsbild   ist   verschieden  von  dem 
Lautbil'le  des  Empfindungslautes,   es   ist   eine  Ausführung,    an  welcher  sich 
die  Seele  mit  eigener  Kraft  betheiligt,   das  Material    des   Empfindungslautes 
wird  geformt,  aitikulirt,  es  ist  ein  Bild,   wie  die   Seele    sich  es   eingebildet 
hat.     Es  wird  ein  Innenbild   dargestellt   durch   ein  Aussenbild,   d.  h.  ein  an 
sich  Allgemeines,    welches  doch  als  besonderes  gemeint  wurde,  wird  darge- 
stellt durch  ein  anderes  besondere,  welches  doch  an  sich  ein  Allgemeines  be- 
zeichnet.    Der  so  gebildete  Laut  ist   demnach  Symbol,  und  der  Mensch  be- 
tritt, indem  er  ihn  hervorbringt,    das   Gebiet   der  Kunst   auf  der  Stufe  der 
unbewussten  Symbolik.     Die  Sprachwissenschaft  nennt  diese  Laute  Wurzeln. 
Wir  haben   bis   hierher,    bis   zum    Nachweis    des    Kunstcharakters    der 
Sprache,  die  Gedankenentwicklung  selbst  anzudeuten  versucht  und  beschrän- 
ken uns  von  nun  an  auf  die  Angabe   der  Kapitelüberschriften,  der  Themata 
der  Entwicklung.     Es  folgen  zunächst  Untersuchungen   über  Gestalt,   Laut- 
material der  Wurzeln,  über  ihre  Fähigkeit   der  Mittheilung  zu  dienen  (Fro- 
nominalwurzeln);   über   die    Symbolik    der    Laute   mit  Berücksichtigung  und 
Kritik  der  Ansichten  von  Curtius,  M.  Müller,  Renan,  Pott,  Steinthal,  Schlei- 
cher, Bopp,  Humboldt,  Grimm,  Heyse,  Vernalekcn,  Bernhardi,  Götzinger  und 
Andren.    Es  wird  sodann  die  Bedeutung  der  AVurzel   als   Satz  und  Bild  ent- 
wickelt,  die   Erzeugung    der  Wörterklassen    und    der   Beziehungsausdrücke 
und    die    wahrscheinliche  Reihenfolge    in    der    Bildung    dieser   Formationen 
nach  Steinthal  und  Curtius,   der  Fortschritt  in  der  Entwicklung  der  Seelen- 
thätigkeit  zum  Urtheilen  und  zur  Begriffsbildung  durch   die   Formirung  des 
Satzes,    ferner  die  Bezeichnung  des   Unsinnlichen   besprochen  und  nachge- 
wiesen,   dass  die   Bedeutung  der  Worte  weder  individuell,    noch    allgemein, 
sondern  bildlich    ist.      Im   sechsten    Kapitel     wird   unter    Andrem    von    der 
Sprache  als  Mittel,  von  der  sogenannten  inneren  Sprachform,  von  der  Sprache 
des  Bedürfnisses,  der  Mittheilung,  der   Prosa,    der  Poesie  gehandelt.     Die 
Sprache  an  sich  ist  Verwirklichung  des  menschlichen  Erkennens  durch  fort- 
gesetzte   Kunstschöpfungen;   als    Bild    des   Menschen    vereinigt   sie    in   sich 
sinnliche  und  geistige   Natur,    stellt   nur    eben   dieses    Mittlere   dar  und  hat 
hieran  ihre  Gränze;    sie  bezeichnet   ungenügend   das  Sinnliche,  wie  das  ab- 
strakt  Geistige.     Der  Kunstcharakter  der   Sprache    bedingt    die    gesammte 
Entwicklung   des    Menschengeistes,    namentlich    in    der   Wissenschaft.      Im 
siebenten  Kapitel  wird  erörtert,   wiefern  Lexikon    und   Grammatik  als  Dar- 
stellung der  Technik    der  Sprache    zu  betrachten  sind,    und   inwiefern  die 
Verwirklichung  der  Sprachkunst  durch  die  Natur  (Verschiedenheit  der  Spra- 
chen), ihre  Entwicklung  durch    die  Geschichte    der  Sprachen  und  ihre  Ent- 
faltung durch  den  usus    bedingt  ist.     Im    achten  und  letzten  Kapitel  folgt 
die  Betrachtung  des  Wortes:  A.   Nach  seiner  Bedeutung  und  deren  .Wandel, 
d.  h.  von  den  Tropen.     Möglichkeit  einer  Bedeutungslehre,  der  Wandel  der 
Bedeutung;    alle  Wörter    sind    von    Anfang    an    Tropen;    die    Tropen  als 
ästhetische   Figuren;    die    sogenannte    eigentliche    Bedeutung    der   Wörter; 
die  Synekdoche  in  der  Sprache;   die  Metapher  bei  dem  Nomen,  in  der  Be- 
zeichnung des  Geschlechts,    bei  den  Formwörtern;    die  Metonymie  im  Ge- 
biete des  Unsinnlichen,  die  Katachrese.  —  Wir  bemerken,  dass  der  Verfas- 
ser   diese  Ausdrücke   hier   natürlich   nicht   in   dem    gewöhnlichen   Sinne   ge- 
braucht, wonach  sie  zu  den    absichtlichen  Kunstschöpfungen  gehören  (von 
diesen  wird  im  dritten  Abschnitt,   die  Sprachkunst    im  Dienst   der  Sprache, 
die  Rede  sein),   sondern    in   einem   erweiterten.    Denn  nach  seiner  Theorie 
sind   alle    Wörter   Tropen,    entweder     Synekdochen    oder    Metaphern    oder 
Metonymieen.     So  nennen  wir  z.  B.  den    Ausdruck  „Haar  der  Bäume"    bei 

12* 


180  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Schubert  einen  bildlichen  für  den  eigentlichen:  „Laub  der  Bäume,"  obwohl 
Laub  von  linban,  tegere  nicht  weniger  bildlich  ist.  —  B.  Nach  seinem 
Lautkörper,  von  den  grammatischen  Figuren  phonetischer  Art.  Die  Kunst- 
technik der  Sprache  vom  Standpunkt  der  vergleichenden  Sprachwissen- 
schaft, der  historischen  Grammatik,  eines  als  feststehend  angenommenen 
usus  aus.  Die  grammatischen  Figuren;  vitium  et  virtus  orationis,  Euphonie 
und  Kakophonie,  Hiatus,  Gleichklange,  Mundarten,  Idiotismus,  Fremdwör- 
ter, Lehnwörter,  Archaismen  und  Neologismen;  Terminologie  und  Betrach- 
tung der  etymologisch-grammatischen  Figuren.  —  C.  Nach  seinen  Bezie- 
hungen; von  den  syntaktisch-grammatischen  Figuren.  Analogie  der  Sprach- 
formationen in  der  Etymologie  und  Syntax.  Begriff  und  Terminologie  der 
syntaktischen  Figuren,  Pleonasmus,  Ellipse,  Enallage  mit  ihren  Unterarten. 

So  weit  der  Inhalt  des  Buches.  Wir  erachten  es  als  ein  nicht  unbe- 
deutendes Verdienst  desselben,  dass  es  in  einen  bestrittenen  und  unklaren 
Punkt  der  Aesthetik  Klarheit  gebracht  hat.  Die  Untersuchung  über  die 
Anfänge  der  Sprache  gehört  gewiss  zu  den  schwierigsten  wissenschaftlichen 
Problemen,  und  es  hat  uns  hier  die  Methode  des  Verfassers  besonders  an- 
gesprochen, welche,  weit  entfernt  einen  falschen  Schein  der  Originalität  zu 
erregen,  sich  im  Gegentheil  mit  Interesse,  man  möchte  sagen,  mit  Liebe  in 
die  Ansichten  der  früheren  Forscher  von  den  Griechen  an  bis  in  die 
neueste  Zeit  vertieft  und  überall  das  Körnchen  Wahrheit ,  welches  sie  nach 
der  Ansicht  des  Verfassers  beigetragen  haben ,  hervorsucht.  Dabei  weiss 
Hr.  Gerber  mit  grosser  Schärfe  überall  den  schwachen  Punkt  herauszu- 
finden, um  zuletzt  seine  eigene  Ansicht  zu  begründen,  welche  nach  des  Re- 
ferenten Meinung  als  eine  für  den  heutigen  Standpunkt  der  Wissenschaft 
gewissermassen  abschliessende  und  definitive  betrachtet  werden  kann.  Die 
neuere  Philosophie  ist,  nachdem  sie  eine  Weile  sich  in  dem  von  Hegel  ge- 
gebenen Abschlüsse  befriedigt  und  an  dem  Ausbau  seines  Systems  gearbei- 
tet hatte,  zu  Kant's  Ausgangspunkte  zurückgekehrt  und  hat  die  Subjectivi- 
tät  alles  menschlichen  Denkens  wieder  stark  betont  (vergleiche  Lange's 
Geschichte  des  Materialismus).  Der  Verfasser  hat  sich  dieser  Entwicklung, 
an  welcher  die  Fortschritte  in  den  Naturwissenschaften  den  gewichtigsten 
Antheil  haben,  angeschlossen,  und  er  bezeichnet  nach  unserem  Gefühle  mit 
vollem  Recht  den  Prachtbau  der  Hegel'schen  Logik  als  ein  Werk  der  Poe- 
sie. Nachdem  die  Sprachwissenschaft  aus  einer  bloss  den  usus  fixirenden 
zu  einer  vergleichenden  und  historischen  sich  emporgeschwungen  hat,  ist 
heut  statt  einer  Kritik  der  reinen  Vernunft  eine  Kritik  der  Sprache  zu 
schreiben,  und  das  vorliegende  Werk  ist  ein  werthvoller  Beitrag  zur  Lö- 
sung dieser  Aufgabe.  Ein  andres  Verdienst  des  Buches  ist  sodann,  dass  es 
(der  zweite  Theil  soll  einen  Index  enthalten)  ein  bequemes  Nachschlage- 
buch für  die  Bedefiguren  zu  werden  verspricht,  ein  Buch,  in  welchem  die- 
selben mit  einer  unsres  Wissens  nach  noch  nicht  vorhandenen  Vollständig- 
keit behandelt  werden,  wobei  ausser  dem  Griechischen,  Lateinischen  und 
Deutschen,  auch  namentlich  das  Französische  und  Englische  —  aber  auch 
Sanskrit,  Hebräisch,  Spanisch,  Italienisch  und  noch  andre  Sprachen  Be- 
rücksichtigung gefunden  haben.  „Man  wird  sich  vielleicht  wundern,"  sagt 
H.  Gerber  in  der  Vorrede  S.  V,  „dass  wir  auch  bei  vielleicht  schwachen 
und  dürftigen  Figuren-  und  Tropensammlern,  ßhetoren  u.  s.  w.  uns  aufhal- 
ten. Zunächst  ist  darüber  zu  bemerken,  dass  im  Ganzen  doch  viel  mehr 
Genauigkeit,  Scharfsinn ,  Liebe  in  der  Betrachtung  der  Sprache  von  jenen 
Alten  bewiesen  wird,  als  man  nach  den  geringschätzigen  Reden  mancher 
Neuerer  erwarten  sollte.  Ferner  ist  zu  bedenken,  dass  nur  ein  möglichst 
genauer  Anschluss  an  die  alte  Ueberlieferung  uns  vor  völliger  Verwirrung  in 
diesen  Dingen  bewahren  kann.  —  Dass  eine  Menge  des  U eberlieferten  in  Weg- 
fall kommen  kann,  dass  Andres  genauer  zu  bestimmen  ist,  versteht  sich  von 
selbst  —  aber  auch  das  wird  erwünscht  sein,  dass  sich  in  genügender  Vollständig- 
keit bei  einander  findet,  was  festzuhalten  und  was  aufzugeben  räthlich  scheint." 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  181 

Sollen  wir  nun  von  Desideraten  sprechen,  so  hat  es  uns  der  Verfasser 
allerdings  nicht  gerede  leicht  gemacht,  indem  er,  wie  er  selbst  erklärt,  frei 
von  dem  Aberglauben  an  die  Kraft  von  Titeln,  Rubriken  und  wissenschaft- 
lichen Kunstausdrücken  und  allen  absoluten' Abmachungen  und  logisch  zuge- 
spitzten Definitionen  abhold  ist.  Dieselben  sind  allerdings  nur  in  der  Ma- 
thematik an  ihrer  Stelle  und  haben  zwar  auch  in  der  Wissenschaft  des 
freien  Geistes  für  den  sondernden  Verstand  ihren  Werth,  können  aber  nie 
erschöpfend  sein,  da,  wo  es  sich  um  organische  Gebilde  und  um  Kunst- 
schöpfungen handelt.  Der  Verfasser  verzichtet  daher  auf  die  Abrundung 
des  Systems,  wo  er  den  Dingen  Gewalt  anthun  müsste.  Es  scheint  uns, 
als  habe  er  sich  die  vorsichtige,  zarte  Weise  Wilhelm  von  Humboldt's  zum 
Muster  genommen,  der  nie  mehr  sagt,  als  er  verantworten  kann,  und  sich  so 
in  seineu  Behauptungen  verclausulirt,  dass  er  das,  was  ihm,  wie  er  vermu- 
thet,  entgegnet  werden  könnte,  irgendwie  auch  schon  in  den  Kreis  der  Be- 
trachtung gezogen  hat.  So  könnten  wir,  z.  B.  bei  dem  Vergleich  der 
Stellen,  wo  die  Sprachkunst  von  der  Poesie  so  unterschieden  wird,  dass  die 
erstere  nur  einen  Seelenmoment  darstellt,  und  wo  die  Sprachkunst  der  Pla- 
stik, die  Malerei  der  Poesie  als  analog  bezeichnet  werden,  das  Bedenken 
erbeben,  dass  sowohl  die  Plastik  als  die  Malerei  nur  einen  Moment  darzustellen 
scheinen:  wir  müssen  aber,  wenn  einmal  parallelisirt  werden  soll,  die  gege- 
bene Parallele  in  der  That  als  die  beste  anerkennen.  So  lässt  sich  ferner  die 
Grenze  zwischen  der  Sprache  als  Kunst  und  der  Kunst  der  Sprache  in  dem 
Abschnitt  über  die  Figuren  und  Tropen  oft  sehr  schwer  ziehn,  da  sich  beide 
Gebiete  nicht  nur  berühren,  sondern  das  eine  so  zu  sagen  über  das  andre 
hinübergreift  —  der  Verfasser  weiss  das  natürlich  am  Allerbesten,  —  und 
man  könnte  in  manchen  Punkten  andrer  Meinung  sein,  wird  aber  anerken- 
nen müssen,  dass  der  Verfasser  in  jedem  einzelnen  Falle  für  seine  Annahme 
triftige  Gründe  gehabt  hat.  Dass  die  Darstellung  eine  gewisse  Breite  hat, 
fühlt  der  Verfasser  selbst,  und  er  erklärt  dieselbe  daraus,  dass  seine  amt- 
liche Tliätigkeit  ein  stetiges  Arbeiten  nicht  erlaubte,  so  dass  Spuren  des 
öfteren  Wiederanfangens  und  Sich-Hineinlebens  entstehen  mussten. 

Wir  scheiden  von  dem  Verfasser  mit  dem  Gefühl  des  Dankes ,  welchen 
wir  ihm  für  die  anregende  Leetüre  seines  Buchs  schulden,  und  mit  dem 
AVunsche,  dass  es  ihm,  wie  er  versprochen,  vergönnt  sein  möge,  in  Jahres- 
frist den  zweiten  Band  zu  liefern,  welcher  die  selbstständigen  Werke  der 
Sprachkunst  und  die  rhetorischen  Figuren  behandeln  soll,  und  wollen  zum 
Schluss  nur  noch  ein  paar  flüclitige  Bemerkungen  über  Einzelnheiten  hinzu- 
fügen, welche  dem  Verfasser  als  Beweis  dienen  mögen,  mit  welcher  Theil- 
nahme  wir  seine  Erörterungen  verfolgt  haben. 

Auf  S.  95  ist  uns  die  Frage  „Wer  ist  der  Es?"  nach  der  Anführung 
der  Worte  von  Thiersch:  „Es  hat  sich  in  den  Worten  gleichsam  ein  Vor- 
rath  von  Formen  und  in  der  Rede  ein  Instrument  gebildet,  dessen  Tasten 
der  Geist  berührt,  und  auf  dem  er  die  Melodien  seiner  Gedanken  spielt," 
nicht  recht  verständlich.  „Es"  ist  grammatisches  Subject,  also  hier  „ein 
Vorrath  von  Formen,  ein  Instrument."  Oder  steht  bei  Thiersch:  „einen 
Vorrath,"  so  dass  „sich"  Dativ  wäre?  —  S.  405  steht  zum  Belege,  dass 
Griechen  und  Römer  nicht  gern  dieselben  Consonanten  in  zwei  aufeinander 
folgenden  Silben  lassen:  „Im  Lateinischen  heisst  es  so  plura/is  (obwohl  sin- 
gularis)."  Wir  würden  die  beiden  Worte  ihre  Stelle  vertauschen  lassen,  da 
wir  wegen  dualis  die  Endung  lls  für  die  gesetzmassige  halten.  —  Auf  S.  43 
führt  H.  Gerber  als  Neologismus  das  Wort  „wohlig"  aus  Göthe's  Fischer 
an.  „Ach  wüsstest  du,  wie's  Fischlein  ist  so  wohlig  auf  dem  Grund."  Wir 
bemerken  beiläufig,  dass  Schäfer  (Göthe's  ausgewählte  Gedichte)  Fischlein 
als  Nominativ  erklärt.  Die  Analogie  von  „wohl"  scheint  uns  für  den  Dativ 
zu  sprechen.  —  S.  452  lesen  wir,  dass  guere  bei  Dichtern  für  gueres 
stehe.  Es  verhält  sich  damit  umgekehrt,  (jueres  ist  die  alte,  von  Dichtern 
noch  gebrauchte,  Form,  und  das  Wort  musste  zu  avecques  gestellt  werden,  — 


182  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

S.  471  werden  niveus  videri  (Hör.  od.  IV,  2)  und  h.vy.bs  t^«*' (Plat.  Phaedr. 
p.  253)  mit  „il  fait  beau  voir  es  ist  schön  anzusehn"  zusammengestellt  als 
pleonastische  Ausdrücke.  Da  die  weisse  Farbe  mit  den  Augen  wahrgenom- 
men wird,  so  ist  keine  Frage,  dass  videri  und  iSelv  Pleonasmen  sind.  An- 
ders aber  scheint  es  sich  mit  dem  französischen  Ausdruck  zu  verhalten,  da 
beau  ein  allgemeines  ürtheil  ist,  welches  auch  auf  andere  Eindrücke,  z.  B. 
des  Ohres  bezogen  werden  kann.  Schlagen  wir  das  Lexikon  der  Akademie 
nach,  so  steht  unter  „beau"  il  fait  beau  voir  erklärt  durch:  il  est  agreable 
de  voir.  In  den  angeführten  Beispielen:  il  fait  beau  voir  deux  armees  se 
disposer  au  combat ;  il  vous  fait  beau  voir  =  vous  avez  bien  mauvaise 
gräce  a;  il  ferait  beau  voir  (=  il  serait  bien  etrange,  bien  extraordinaire 
de  voir)  cet  homme,  repute  si  sage,  se  livrer  a  une  pareille  folie,  ist  das 
voir  nicht  pleonastisch;  auch  nicht,  wie  uns  bedünkt,  in  dem  Beispiele  des 
Verfassers:  il  me  fait  beau  voir  aller  ä  la  fontaine  des  fees,  was  doch  nur 
heissen  kann :  il  serait  etrange  de  me  voir  aller  h  la  fontaine  des  fees.  — 
S.  473  ist  aus  Mätzner's  Grammatik  s'y  prendre  d'avance  angeführt,  um  ein 
pleonastisehes  y  zu  belegen.  Wir  vermuthen  einen  Druckfehler  bei  Mätz- 
ner, da  es  uns  nicht  möglich  gewesen  ist,  diese  Redensart  aufzufinden,  und 
auch  deren  Bedeutung  unklar  ist.  Bei  s'y  prendre  bien,  s'y  prendre  mal 
lässt  sich  von  einem  Pleonasmus  des  y  reden.  Mit  avance  verbindet  sich 
prendre  in  der  Redensart :  prendre  l'avance.  —  S.  474  wird  aus  Lamartine 
das  „zum  usus  gewordene:"  Ministre  d'une  monarchie  en  retraite,  sa  re- 
traite  a  liii  avait  ete  une  deroute  als  Beispiel  des  dat.  eth.  aufgeführt. 
Zum  usus  ist  diese  Redeweise  allerdings  geworden;  sie  dient  aber  einem  an- 
dren Zwecke  als  der  dat.  eth.  Im  Französischen  sind  die  pronoms  person- 
nels  conjoints  und  die  adjectifs  possessifs  wesentlich  atona,  und  der  Fran- 
zose kann  nicht,  wie  der  Deutsche,  mein  Vater  und  mein  Vater  durch 
den  Ton  unterscheiden.  Der  letzten  Ausdrucksweise  dient  die  Wiederho- 
lung des  entsprechenden  pronom  personnel  absolu  im  Dativ,  so  dass  mein 
Vater  durch  mon  pere  und  mein  Vater  durch  mon  pere  a  moi  zu  über- 
setzen ist.  Will  man  den  zweiten  Ausdruck  pleonastisch  nennen,  so  ist 
nichts  dagegen  zu  erinnern ,  einen  ethischen  Dativ  vermögen  wir  aber  hier 
nicht  zu  erkennen.  —  Auf  derselben  und  auf  der  folgenden  Seite  wird  von 
dem  Pleonasmus  gehandelt,  welcher  sich  zeigt,  wenn  Substantiva  durch  ein 
folgendes  Pronomen  wieder  aufgenommen  und  von  Neuem  bezeichnet  wer- 
den. Hier  werden  als  Beleg  die  Verse  Voltaire's  angeführt: 
Louis,  en  ce  moment  prenant  son  diademe, 
Sur  le  front  du  vainqueur  il  le  posa  lui-meme. 
Es  liegt  hier  nahe,  neben  dieser  Wiederholung  des  Subjects,  welche 
die  Grammatiker  als  einen  Fehler  ansehn,  an  den  usus  zu  erinnern,  welcher 
den  hervorzuhebenden  Accusativ  des  Substantivs,  der  in  dem  neueren  Fran- 
zösisch nicht  ohne  Weiteres  dem  Verb  vorangehen  darf,  wie  im  Deutschen 
und  Englischen,  zwar  voransetzen  kann,  ihn  aber  durch  das  entsprechende 
pron.  conj.  nochmals  andeuten  muss,  z.  B.  ta  lettre,  je  l"ai  re^ue.  —  Auf 
S.  482  ist  Einiges  von  dem  epitheton  ornans  erwähnt,  welches  mehr  der 
Kunst  der  Sprache,  als  der  Sprache  als  Kunst  angehört.  Das  Französische 
bietet  hier,  wie  wii'  beiläufig  bemerken,  die  interessante  Erscheinung,  dass 
das  ep.  ornans  von  den  andern  durch  die  Stellung  unterschieden  wii'd. 
Dasselbe  steht  nämlich  vor  dem  Substantiv.  Dies  ist  nach  unsrem  Dafür- 
halten der  richtige  Schlüssel  zu  der  schwierigen  Lehre  von  der  Stellung 
des  Adjectif  —  S.  522  ist  als  Beispiel  von  concreten  Verben  ,  welche  zu 
abstracten  wurden,  lat.  stare,  fr.  etre  erwähnt.  Da  so  .das  Missverständ- 
niss  entstehen  kann,  als  ob  die  Form  etre  (essere)  selbst  von  stare  abzulei- 
ten sei,  so  hätten  wir  lieber  etais,  etant,  ete  angeführt  gesehn.  —  S.  553  wird 
aus  Le  Sage  als  Beleg  für  den  Gebrauch  des  Futurums  statt  des  Präsens 
angeführt:  Vous  saurez  que  je  suis  fils  unique  d'un  riche  ,bourgeois.  Wir 
möchten  das  saurez  lieber   durch:  »il  faut  que  vous  sachiez"   erklären.  — 


Beurtholluugen  und  kurze  Anzeigen.  183 

S.  568  wird  für  das  oxrifia  ttoös  to  aijfiaij'ofievov  aus  Chamfort  angeführt : 
on  a  repetc  que,  si  Moliere  donnait  ses  ouvrages  de  nos  jours,  la  plupart 
ne  reussiraiont  pas.  Der  Plural  des  Verb  nach  plupart,  allein  oder  von 
einem  gen.  du  pluriel  begleitet,  ist  unverbrüchliche  Regel  im  Französischen, 
und  wir  würden  in  solchen  Fällen,  um  sie  von  den  selteneren  und  mehr 
ausnahms  weisen  zu  unterscheiden,  wenn  eine  Autorstelle  angeführt  wird,  eine 
Andeutung  darüber  oder  nur  ein  kurzes  Beispiel  ohne  Citat  zu  geben 
empfehlen.  Dieselbe  Bemerkung  gilt  z.  B.  auch  für  S.  536,  wo  Racine  ci- 
tirt  wird,  um  ein  Beispiel  von  der  Verbindung  eines  pluralis  majestatis  (vous) 
mit  dem  Singular  des  Adjectiv  (elevee)  zu  geben.  Diese  Verbindung,  welche 
eine  nothwendige  ist,  erscheint  durch  das  Citat  als  auf  gleicher  Stufe  ste- 
hend mit  dem  von  dem  Verfasser  selbst  als  unsinnig  bezeichneten:  „der 
Herr  Geheimerath  sind  nicht  zu  sprechen"  und  dem  der  Umgangssprache 
angehörigen  nachlassigen  you  was  statt  you  were.  Für  den  mit  der  betref- 
fenden Sprache  nicht  genau  Bekannten  können  so  leicht  schiefe  Vorstellun- 
gen entstehn. 

Die  tj'pographische  Ausstattung  des  Buches  ist  schön  und  der  Druck 
correct.  Von  sinnentstellenden  Druckfehlern  ist  uns  nur  S.  IV  „Kind" 
statt  „Kunst"  begegnet.  In  den  griechischen  Citaten  stehen  einige  '  statt  ' 
in  der  Mitte  der  Wörter,  so  S.  79  fisr^otg,  Atl/s,  Xsyfo.  Wir  bemerken 
ausserdem:  S.  44  küntlerischen ;  S.  49  Phercydes ;  S.  54  fivd'os;  S.  76  zuge- 
schiebeneu;  S.  82  olot^;  S.  86  sont  statt  son;  te  statt  the;  S.  106  Totali- 
lät;  S.  113  Elemnet;  S.  119  personel;  S.  120  leur  'qualites;  S.  121  lan- 
guage  statt  langage;  S.  186  impositions  statt  imposition;  S.  196  Oi8ntov\ 
S.  198  addoucissent;  S.  262  steht  in  einem  Citat  aus  Leibnitz:  quoique 
je  crois  ;  S.  317  milles  formes;  S.  469  chargcs  des  mots  inutiles  statt  char- 
ges  de  mots  inutiles;    S.  570  Narm  statt  Harm. 

G.  Weigand. 


Schwab  und  Klüpfel,  Wegweiser  durch  die  Literatur  der  Deut- 
schen.    4.  Aufl.     Leipzig,  1870. 

Ein  sehr  brauchbares  Buch,  das  die  deutsche  Prosaliteratur  und  die 
eingebürgerten  Uebersetzungen  prosaischer  Schriften  fremder  Völker  nicht 
nur  dem  Titel  und  dem  Preise  nach  einzeln  aufiuhrt,  sondern  zugleich  durch 
eine  kurze  Kritik  jedes  Buches  dem  Leser  einen  allgemeinen  Fingerzeig 
über  Inhalt,  Form  und  Werth  giebt.  Bei  Werken ,  die  den  Verfassern  nur 
als  empfehlenswerth,  aber  nicht  aus  eigener  Leetüre  bekannt  waren,  ist  die 
orientirende  Bemerkung  weggelassen.  Aufgenommen  sind  Werke  über  Phi- 
losophie, Theologie,  Staatswissenschaften,  Geschichte,  Geographie,  Natur- 
wissenschaften, Literaturgeschichte,  Kunst,  ferner  Biographien,  Romane, 
Zeitschriften,  Atlanten  u.  s.  w.  Alle  rein  wissenschaftlichen  Bücher,  die 
Fachkenntnisse  voraussetzen,  sind  übergangen,  da  die  Verfasser  nur  dem 
gebildeten  Laien,  Beamten,  Lehrer,  Arzte  etc.  einen  Wegweiser  bieten  woll- 
ten. Ein  solches  Werk  konnte  nur  von  einem  Bibliothekar  verfasst  wer- 
den, dem  fast  jede  Erscheinung  durch  die  Hände  geht.  Jeder  Gebildete, 
namentlich  in  kleineren  Städten  und  auf  dem  Lande,  wird  wohl  thun,  sich 
diesen  Rathgeber  anzuschaffen. 


184  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Hermann  Oesterley,   Die  Dichtkunst  und  ihre  Gattungen.     Mit 
einem  Vorworte  von  Karl  Goedeke.    Breslau,  1870.    1  Thlr. 

Das  Buch  zeichnet  sich  vor  anderen  Schriften  über  Poetik  durch  die 
feinsinnige,  selbständig  durchdachte  Einleitung  über  das  Wesen  der  Poesie 
und  durch  die  reiche  Sammlung  von  Beispielen  aus,  die  in  bequemer  Weise 
gleich  hinter  jede  einleitende  Bemerkung  über  die  einzelne  Gattung  gesetzt 
sind.  In  der  vorzüglichen  Poetik  von  Kleinpaul  sind  die  Beispiele  zu  dem 
ersten  Theile  über  die  Dichtungsformen  am  Ende  zusammengestellt;  der 
zweite  Theil  über  die  Dichtungsarten  entbehrt  der  Beispiele  ganz.  Für  den 
Lehrer  ist  es  oft  unbequem,  sich  die  Proben  aus  vielen  Büchern  zusammen 
zu  suchen.  Diesem  Mangel  hilft  Oesterley  vollständig  ab ,  da  er  nicht  nur 
weniger  bekannte  Gedichte,  sondern  auch  die  gewöhnlichsten  Volkslieder 
aufführt.  Indessen  steht  das  Buch  dem  von  Kleinpaul  entschieden  in  der 
Behandlung  des  Metrums,  der  Versarten  und  des  Reimes  nach,  die  mit  we- 
nigen Bemerkungen  abgefertigt  werden. 

Cottbus.  Dr.  Rothenbücher. 


Deutsche  Gedichte  zur  deutschen  Sage  und  Geschichte.  Von 
H.  A.  Niemeyer.  2.  verbesserte  und  sehr  vermehrte  Auf- 
lage. Bielefeld  und  Leipzig.  Verlag  von  Velhagen  & 
Klasing.     1871.     8. 

Die  erste  Auflage  dieses  Buches  erschien  1844  und  enthielt  auf  250  Sei- 
ten 182  Gedichte,  die  vorliegende  dagegen  286  Gedichte  auf  4.^2  Seiten; 
die  Vermehrung  ist  also  eine  höchst  bedeutende.  Aber  das  Buch  ist  nicht 
bloss  bedeutend  vermehrt,  sondern  auch  vielfach  verbessert  und  verdient 
vollkommen  die  Empfehlung,  die  ihm  im  Vorwort  Professor  Jünst  zu  Theil 
werden  lässt. 

Die  Wichtigkeit  historischer  Dichtungen  liegt  auf  der  Hand.  Die  mei- 
sten Menschen  lernen  von  dem  betreffenden  Theile  der  englischen  Geschichte 
mehr  aus  Shakespeare's  Dramen  als  aus  Geschichtsbüchern;  wenn  von  Don 
Carlos,  Jeanne  d'Arc,  der  Königin  Maria  Stuart  die  Rede  ist,  so  steht  bei 
weitem  mehr  Menschen  die  Person  vor  Augen,  wie  sie  Schiller  vorfuhrt,  als 
wie  sie  in  der  Geschichte  aufgetreten  ist;  wie  viele  giebt  es,  die  bis  an 
ihren  Tod  für  Don  Carlos  schwärmen  werden.  Wollte  aber  da  der  Rigorist 
einwerfen,  da  sieht  man  ja  gerade  die  Verkehrtheit,  möchten  nur  nicht  die 
Dichter  historische  Stoffe  sich  wählen,  damit  sie  nicht  falsche  Bilder  erzeu- 
gen, so  darf  man  darauf  antworten,  dass ,  wenn  sie  es  nicht  thäten,  Unzäh- 
lige mit  der  Geschichte  ganz  unbekannt  blieben  und  dass  sie  das  unbestrit- 
tene Verdienst  haben,  nicht  bloss  die  Leser  und  Hörer  überhaupt  zu  erwär- 
men und  zu  erheben,  sondern  auch  wieder  in  sehr,  sehr  vielen  Menschen 
erst  den  Sinn  für  Geschichte,  für  grosse  Personen  und  Begebenheiten  der 
Vergangenheit  zu  erwecken.  Die  historischen  Dramen  stehen  da  oben  an; 
aber  die  Ballade  ist  auch  von  ganz  besonderer  Wichtigkeit.  Eine  Dichtung, 
wie  Schiller's  Graf  von  Habsburg,  prägt,  sagt  mit  Recht  das  Vorwort,  dem 
jungen  Gemüth  eine  unvergängliche  Theilnahme  für  den  Kaiser  Rudolf  ein, 
und  das  ist  gewiss  zu  schätzen,  selbst  wenn  der  geschichtliche  Rudolf  auch 
kein  solcher  Verehrer  der  Sänger  gewesen  sein  sollte,  wie  es  der  Rudolf 
des  Dichters  ist.  Gewiss,  kleine  Abweichungen  von  der  wirklichen  Ge- 
schichte nimmt  man  gern  von  dem  Dichter  an,  die  Erkenntniss  solcher  Irr- 
thümer  wird  ja  gerade  der  Jugend  unserer  höheren  Schule  leicht;  nur  muss 
nicht  geradezu  in  den  wichtigsten  Punkten  die  geschichtliche  Wahrheit  um- 
gestossen  werden,  da  wird  die  oppositionelle  Kritik  bei  ihr  zu  laut  und  stört 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  185 

allen  poetischen  Genuss.  Sonst  aber,  wie  lebensvoll  tritt  uns  die  gescbicht- 
liche  Person  in  der  Ballade  entgegen,  um  wieviel  anschaulicher  als  sie  der 
geschichtliche  Unterricht  der  Jugend  darstellen  kann.  Dann  ist  auch  das 
geschichtliche  Lied  von  grosser  Wichtigkeit.  Von  der  mächtigen  Empfin- 
dung, welche  eine  grosse  That  oder  Zeit  in  dem  empfanglichen  Gemüth 
des  Dichters  erregte,  geht  ein  guter  Theil  in  das  Gemüth  des  Lesers  über; 
dies  historische  oder,  wenn  man  will,  politische  Lied  weckt  nicht  bloss  den 
vaterländischen  Sinn,  sondern  fördert  überhaupt  die  ideale  Richtung. 

Die  Zusammenstellung  von  Balladen  also  und  verwandten  Dichtungen, 
welche  Bezug  auf  die  deutsche  Geschichte  haben,  ist  ein  verdienstliches, 
nützliches  Werk  und  hat  für  die  Schule  den  besonderen  Werth,  dass  der 
Unterricht  in  der  deutschen  Geschichte  durch  die  Benutzung  desselben  be- 
lebter wird  und  es  einen  reichen  Stoff  für  die  Recitation  im  Wechsel  mit 
nichtgeschichtlichen  Poesien  bietet.  In  diesem  Sinne  ist  auch  diese  Samm- 
lung ein  Schulbuch  zu  nennen  und  bei  dem  Fleisse  des  Herausgebers  in 
der  Herbeischaffung  des  IMaterials,  der  Richtigkeit  des  Urtheils  in  der  Sich- 
tung und  Zweckmässigkeit  der  Anordnung  den  Schulen  zu  empfehlen.  Ge- 
rade jetzt  aber  wird  diese  Sammlung  geschichtlicher  Gedichte  auf  Anerken- 
nung rechnen  dürfen,  wo  durch  den  mächtigen  nationalen  Aufschwung,  die 
staunenerregenden  Errungenschaften  auf  dem  politischen  Gebiete  der  Mehr- 
heit die  historische  Welt  anschaulicher  und  theurer  geworden  ist,  wo  in  dem 
deutschen  Reiche  dem  deutschen  Volke  das  historische  Leben  in  dem  Reich- 
thum  seiner  Blüte  verkörpert  entgegentritt. 

Die  Vorzüge  des  Buches  im  Allgemeinen  sind  schon  vom  Ref.  angegeben; 
auf  die  besonderen  Vorzüge  der  zweiten  vor  der  ersten  Auflage  wird  weiter- 
hin einige  Male  hingewiesen  werden.  Da  nicht  zu  bezweifeln  ist,  dass  eine 
dritte  Ausgabe  nicht  lange  wird  auf  sich  warten  lassen,  so  erlaubt  sich  Ref. 
dem  Herausgeber  seine  Ansicht  über  einige  Punkte  vorzulegen;  der  Her- 
ausgeber wird  daraus  das  Interesse,  welches  Ref.  für  seine  Arbeit  hat,  er- 
kennen. Das  ganze  Material  ist  nach  vier  Eingangsliedern ,  die  das 
deutsche  Volk  und  die  deutsche  Sprache  feiern,  in  vier  Abschnitte  getheilt, 
ältere  Zuit,  Mittelalter,  neuere  und  neueste  Zeit;  die  neueste  beginnt  mit 
dem  Juli  1870;  aber  warum  beginnt  das  Mittelalter  mit  Karl  dem  Grossen? 
Unter  der  deuts^chen  Geschichte  begreift  der  Verf  nur  die  politische  Ge- 
schichte. Mancher  Leser  hätte  es  vielleicht  gern  gesehen,  wenn  der  Begrift 
weiter  gefasst,  auch  ein  Stück  Culturgeschichte  hereingezogen  wäre.  Das 
richtige  Maass  zu  treffen,  ist  freilich  schwierig,  alle  die  deutschen  Helden 
auf  dem  geistigen  Gebiete  lassen  sich  nicht  vorführen;  aber  die  Dichter- 
heroen, die  eigentlichen  Repräsentanten  des  Innern  Volkslebens,  vermisst 
vielleicht  Mancher.  Nicht  störend  würde  z.  B.  in  der  Sammlung  Goibel's 
schönes  Gedicht  Sanssouci  sein.  Und  ganz  consequent  ist  sich  der  Heraus- 
geber auch  nicht  geblieben.  Gedichte  auf  Berthold  Schwarz  und  Gutenberg 
sind  aufgenommen.  Allerdings  lässt  sich  dafür  sagen,  dass  ihre  Erfindungen 
auf  die  politische  Geschichte  den  sichtbarsten  Einfluss  haben.  Aber  Nr.  104 
führt  uns  auch  Heinrich  Frauenlob  vor.  —  Die  erste  Ausgabe  hatte  nur 
den  Titel:  Dichtungen  zur  deutschen  Geschichte;  der  Begriff  der  deutschen 
Sage,  welches  Wort  die  zweite  Ausgabe  in  den  Titel  aufgenommen  hat,  ist 
hier  nicht  in  dem  gewöhnlichen  Sinne  genommen;  das,  was  wir  meist  unter 
deutscher  Sage  verstehen,  ist  nicht  berührt;  von  Sigfrid,  dem  Burgunden, 
dem  deutschen  Etzel,  dem  sagenhaften  Theodrich,  ist  keine  Rede.  Dagegen 
sind  bei  Karl  dem  Grossen  Uhland's  beide  Rolandslieder  aufgenommen; 
Ref.  hätte  gern  gesehen,  wenn  Karl's  Meerfahrt  von  Uhland,  welches  die 
erste  Ausgabe  enthält,  nicht  ausgelassen  wäre  :  es  gibt  ein  so  schönes  Bild 
von  der  majestätischen  Grösse  des  Kaisers.  "Was  gar  keine  Beziehung  auf 
Deutschland  hat,  ist  ausgeschlossen;  demnach  würde  Ref  rathen,  in  der 
neuen  Ausgabe  Nr.  11,  eine  Legende  von  St.  Alban,  zu  übergehen. 


186  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Das  Arndt'sche  Vaterlandslied  (1.  Ausg.  Nr.  2)  und  Schenkendorfs 
Muttersprache  (Nr.  5)  fehlen  in  der  neuen  Auflage;  Ref.  verniisst  sie  un- 
gern, weniger  das  Fischer'sche  Lied  „Die  alten  Deutschen"  (Nr.  6).  Das 
Klopstock'sche  Bardiet  „Siegesgesang  nach  der  Hermannsschlacht"  bringen 
beide  Ausgaben;  es  würde  schwerlich  von  Jemandem  vermisst  werden.  Das 
Gedicht  Nr.  ]5  1.  a,  „Schlacht  bei  Zülpich"  von  Schier,  hat  viele  ästhe- 
tische Mängel,  die  Vertauschung  mit  dem  Simrock'schen  Gedichte  (2.  Asg. 
Nr.  19)  ist  nur  zu  billigen;  weshalb  dagegen  statt  des  Streckfuss'schen  Ge- 
dichtes (Nr.  19)  „Pipin  der  Kurze,"  welches  volksthiiralich  geworden  ist, 
das  von  Baur  (Nr.  25)  aufgenommen,  sieht  Ref.  nicht  ein,  höheren  dich- 
terischen Werth  kann  er  ihm  nicht  beilegen.  Statt  des  Gedichtes  von 
F.  Schlegel  „Karl  der  Grosse"  (Nr.  20)  finden  wir  jetzt  ein  Gedicht  von 
Ortlepp  (Nr.  25),  dessen  fortlaufende  Anaphora  nicht  gefällig  klingt.  Der 
Auslassung  des  Fouque'schen  Aufrufes  der  Sachsen  (Nr.  21")  wird  jeder  Leser 
seine  Zustimmung  geben.  „Der  Stab  des  heiligen  Bonifacius"  findet  sich 
in  beiden  Ausgaben;  dies  Ferrand'sche  Gedicht  ist  eine  reine  Legende,  und 
da  diese  dem  Zwecke  des  Buches  fern  liegt,  würde  Ref.  zur  Streichung 
rathen.  —  In  die  zweite  Ausg.  ist  aus  der  ersten  Nr.  26  „Karl's  Krönung" 
von  Oebeke  mit  Recht  nicht  übergegangen,  ebenso  Nr.  28:  „Heinrich  der 
Vogler"  von  Conz,  für  dies  ist  das  Gedicht  von  Vogl  Nr.  43  aufgenommen. 
Diese  reine  Fabel  von  Heinrich's  Vogelläng  kann  doch  für  die  Jugend  keinen 
poetischen  Werth  haben,  und  da  Vogl  noch  dazu  Heinrich  von  den  fränki- 
schen Gesandten  als  Kaiser  proclamiren  lässt,  ist  es  gerathen,  auch  dies 
Gedicht  auszulassen;  die  Aufnahme  des  folgenden  Gedichts  Nr.  44  genügt. 
Die  erste  Ausgabe  enthielt  die  Gedichte  „Kaiser  Otto  I.  in  Italien"  von 
Kuhn  (Nr.  30)  und  „Markgraf  Leopold  der  Erlauchte"  von  Pichier; 
beide  fehlen  jetzt,  das  letzte  wohl,  weil  es  einen  zu  speziellen  Gegenstand 
behandelt,  das  erstere,  weil  es  wenig  poetischen  Gehalt,  aber  viel  Schwulst 
enthält;  dagegen  konnte  Nr.  32  „Willegis"  von  Kopisch  erhalten  bleiben. 
Ist  das  Gedicht  von  Schirmer  Nr.  33:  „Der  Zweikampf  Heinrich's  III."  aus 
historischen  Bedenken  ausgelassen?  Die  Uebergehung  des  Gedichtes  von 
Milo  Nr.  38:  „Heinrich  IV.  und  Friedrich  von  Hohenstaufen,"  von  geringem 
poetischen  Werth,  ist  zu  billigen,  ebenso  des  nichtssagenden  Gedichtes  von 
Seidel:  „Gebet  der  Wenden"  (Nr.  42),  ferner  eine  Scene  aus  Grabbe's 
Kaiser  Heinrich  VI.:  „Barbarossa's  Tod  (Nr.  51);  mit  demselben  Rechte 
konnte  aber  auch  Nr.  49  aus  Grabbe's  Barbarossa:  „Des  Löwen  Abfall" 
gestrichen  werden,  die  Sprache  ist  doch  stellenweise  sehr  bombastisch  und 
dem  Charakter  der  Personen,  wie  sie  uns  sonst  bekannt  sind  (nicht,  wie 
dieselben  die  excentrische  Phantasie  Grabbe's  sich  ausmalt),  nicht  entspre- 
chend ;  von  der  geschichtlichen  Wahrheit  der  Thatsache  will  Ref.  ganz 
schweigen.  Riickert's  alten  Barbarossa,  den  die  erste  Ausgabe  enthält,  ver- 
misst ungern  Ref  in  der  zweiten,  das  dafür  gebrachte  GeibeFsche  Gedicht 
ist  allerdings  auch  schön;  der Kyffhäuser  ist  aber  so  populär,  dass  er  immer- 
hin in  zwei  schönen  Gedichten  gefeiert  werden  konnte,  ja  Ref.  hätte  auch 
gegen  ein  drittes,  das  Heine'sche,  das  auch  nicht  gering  zu  schätzen  ist, 
nichts  einzuwenden.  Mit  vollem  Rechte  hat  jetzt  der  Herausgeber  ausge- 
schlossen das  Gedicht  von  M.  Carriere:  ..Richard  Löwenherz  gefangen;"  es 
geht  Deutschland  wenig  an  und  fasst  den  schlimmen  König  gar  zu  senti- 
mental auf.  Das  Gedicht  Nr.  59 :  „Enzio's  Lied  im  Gefängniss"  ist  mit 
dem  bessern  von  Zimmermann :  „Enzio's  Tod"  vertauscht.  Auch  dass  Nr.  73 
„Die  Sühne"  von  Schön  nicht  in  die  2.  Auss;.  aufgenommen  ist,  wird  Bei- 
fall finden.  Ref.  würde  auch  das  folgende  Nr.  74:  „Heinrich's  VII.  Tod" 
von  Assing  streichen,  weil  der  Inhalt  unwahr,  eine  Verleumdung  ist.  Das 
Volkslied:  „Huss  in  Kostnitz"  Nr.  84  vermisst  wohl  Niemand  in  der  2. Auf- 
lage, noch  weniger  Nr.  86:  „Huss"  von  Conz,  schon  wegen  der  metrischen 
Mängel ;  von  diesem  Verdammungsurtheil  mag  Ref.  auch  Nr.  87  „Ziska" 
von  Frankl  nicht   ausnehmen ,   diese  hussitische  Geschichte  liegt  uns  etwas 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  187 

fern.  Das  Collin'sche  Gedicht  „Kaiser  Max  auf  der  Martinswand"  ist  so 
populär  geworden,  dass  es  auch  wohl  noch  nehen  dem  von  A.  Grün  (2  Afl.) 
eine  Aufnahme  verdiente.  Der  Grund,  weshalb  Nr.  101:  „Hutten's  Wort," 
von  Herwegh,  und  104:  „Luther's  Bibel"  von  Hagenbncb,  ausgelassen  sind, 
ist  dem  Ref.  nicht  klar.  Dage^ren  findet  er  an  dem  in  beiden  Ausgaben 
stehenden  Gedichte  von  Axt:  „Der  Zweikampf  in  Worms"  (Luther)  keinen 
Gefallen,  die  ganze  Auflassung  soll  pikant  sein,  ist  aber  gesucht.  Platen's 
„Pilgrim  von  St.  Just"  Nr.  117  hat  einem  Gedichte  von  Bürde  „Karl  der 
Fünfte  im  Kloster"  weichen  müssen;  warum?  gegen  die  historische  Wahr- 
heit verstösst  das  eine  wie  das  andere.  Ein  Gedicht  von  Kopisch  aber  „In 
Ketten  aufhängen"  Nr.  115  fehlt,  als  zu  weit  von  der  Ileerstrasse  abführend, 
mit  Recht  jetzt.  Dem  in  beide  Ausgaben  aufgenommenen  Gedichte  von 
Dieter:  „Die  Pforzheimer"  ist  Ref.  geneigt  das  denselben  Stoff  behandelnde 
Gedicht  von  Bube  vorzuziehen.  Gut  ist  die  Vertauschmig  von  Nr.  124 
„Wallenstein  vor  Stralsund"  mit  dem  Liede  von  Günther  (Nr.  170.  i*.  Afl.), 
obschon  die  Worte:  „Doch  mit  des  Schicksals  Mächten  führt  Friedland 
nimmer  Krieg"  eine  störende  Reminiscenz  wecken.  Statt  des  Gedichtes 
von  Weber  (Nr.  126):  „Magdeburgs  Zerstörung  finden  wir  jetzt  ein  Gedicht 
(Nr.  172)  von  Prabenker,  dem  Ref.  keinen  höheren  Schwung  beizulegen 
vermag.  Sehr  zu  loben  ist  die  Aufnahme  des  Gedichts  von  Hesekiel  (Nr. 
189)  auf  die  Krönung  Friedrich's  I.  statt  des  Gedichtes  von  Neukirch  (Nr. 
134);  das  Gedicht  von  Gleim  (Nr.  139):  „Bei  Eröfiiiung  des  Feldzugs  175G" 
hätte  Ref  beibehalten,  auch  Klopstock's  „Wir  und  Sie"  (Nr.  14G),  während 
er  der  Auslassung  des  Gedichtes  von  Victor  Strauss  (Nr.  179),  welches  doch 
dem  Helden  unwahre  Empfindungen  beilegt,  aus  voller  Seele  zustimmt." 

Der  Reichthum  des  Neuen  ist  ausserordentlich  gross  und  wer,  wie  Ref, 
beide  Ausgaben  genau  verglichen  hat,  muss  den  Fleiss  des  Herausgebers 
loben.  Bei  weitem  das  Meiste  darf  auf  allgemeinen  Anklang  rechnen;  nur 
über  das  eine  und  andere  wird  man  anderer  Meinung  sein  dürfen.  Ref. 
freut  sich  über  die  Aufnahme  des  schönen  Liedes  von  Gerok  (S.  3),  des 
Preisliedes  CNr.  4,  S.  8),  des  Elsässers  Stöber,  der  Gedichte  von  Schlön- 
bach  (Nr.  9)  und  von  Kopisch  'Nr.  10),  von  Lingg  (Nr.  27),  Kopisch  (Nr. 
21,  22),  Tschabuschnig  (Nr.  20);  die  beiden  Gedichte  auf  Attila  (Nr.  14 
von  Stieglitz  und  Nr.  16  von  Kopisch)  aber  behandeln  einen  der  deutschen 
Geschichte  etwas  fern  liegenden  Stofl.  Gegen  Nr.  28:  „Der  eiserne  Karl" 
von  Simrock,  Nr.  29  „Bullerborn"  von  Brass,  Nr.  32  „Das  weisse  Sachsen- 
ross"  von  M.  von  0er,  Nr.  34:  „Der  Sachsen  Untergang"  von  Lindner 
wird  wohl  kein  Leser  Einwendungen  erheben,  das  letzte  Gedicht  muss  vor 
Nr.  33  stehen.  Zu  loben  ist  auch  die  Aufnahme  der  Gedichte  von  Vincke 
und  Gerok,  Nr.  35  und  36;  gegen  Nr.  42:  „Ludwig  des  Frommen  Tod" 
wendet  Ref.  nur  ein,  dass  es  eine  Stimmung  hervorruft,  die  der  strenge 
Historiker  verwerfen  muss.  Zu  Nr.  46  konnte  der  Namen  des  bekannten 
Verfassers  vollständicr  ausgesclirieben  werden ;  übrigens  fiel  die  Begebenheit 
in  Frankfurt  vor.  Neu  sind  ferner  aufgenommen:  Nr.  47,  48,  49  (schön 
für  unsere  Zeit),  50,  54,  57,  alles  erfreulich,  es  muss  nur  Nr.  51  vor  50 
stehen.  Neu  is^t  auch  Nr.  59  „Gregor  VIL"  von  Zeune,  das  Gedioht  hat 
aber  einige  ästhetische  Mängel,  der  Schluss  ist  tiivial.  Beistimmen  wird 
Jeder  der  Aufnahme  von  Nr.  68  von  Strachwitz,  Nr.  69  von  Döring,  Nr.  71 
von  Rob.  John;  neu  ist  auch  Nr.  72  von  Raupach,  Nr.  74  (mit  einigen 
Härten)  von  Conz,  Nr.  79  von  Parncker;  schön  Nr.  80  von  Gerok.  Nr.  82 
von  Lingg,  Nr.  83  von  Bechstein:  Bedenken  erregt  Nr.  86  von  K.  Hahn 
wegen  mancher  poetischen  Schwächen;  Nr.  88  muss  sich  an  Nr.  85  schlies- 
sen.  Neu  sind  ferner  Nr.  89  von  G.  Schwab,  Nr.  100,  101  von  Platen,  102 
von  Wolfgang  Müller,  106  von  Oelkers  (Nr.  107  besingt  Berthold  Schwarz), 
108  von  Haltaus,  109  von  Geibel,  (Nr.  116  ist  aus  der  ersten  Ausgabe  her- 
übergenommen ;  weshalb  in  beiden  die  Schreibart  Rhense?),  117  von  Geibel, 
alle  zu  billigen';  Nr.  125  konnte  fehlen,    es   behandelt  eine  etwas  entlegene 


188  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Thatsache.  Neu  und  zu  billigen  sind  ferner  Nr.  130  von  Vogl,  Nr.  140  u. 
141  von  Hagenbach,  144  von  Gerok,  145  von  Böttger,  146  von  Hagenbach, 
147,  148  von  Hoffmann,  152  von  Haug,  153  von  Vincke,  176  von  Fontane, 
178  von  P.  Gerhardt.  Der  grosse  Kurfürst  nimmt  darauf  mit  Recht  nicht 
zu  wenig  Raum  ein ;  hier  tritt  die  Vermehrung  bedeutend  hervor,  die  Aus- 
wahl ist  lobenswerth.  Gegen  die  Aufnahme  des  bekannten  Gedichts  von 
Schmidt  von  Lübeck:  Paul  Gerhardt  (Nr.  184)  legt  Ref  Protest  ein;  der 
Inhalt  widerstreitet  durch  und  durch  der  geschichtliehen  Wahrheit,  schon 
das  über  die  Entstehung  des  Liedes:  „Befiehl  Du  Deine  Wege"  Erzählte 
ist  falsch;  nach  dem  Zeugniss  der  Geschichte  benahm  sich  der  Kurfürst  in 
der  Ancelegenheit  mit  Gerhardt  nicht  blos  höchst  verständig,  sondern  auch 
sehr  milde  und  nachgiebig,  P.  Gerhardt  aber  verharrte  so  taub  gegen  jeden 
ruhigen  Vorschlag  bei  seiner  vorgefassten  Meinung  und  Absicht,  dass  man 
sich  bedenken  muss,  hier  von  Gewissenhaftigkeit  zu  reden;  das  Schmidt'sche 
Gedicht  ist  eine  totale  Verkennung  des  Kurfürsten;  würde  heutiges  Tages 
ein  Dichter  die  Thatsache  ebenso  darstellen,  so  würde  man  das  Verleum- 
dung nennen.  —  Neu  aufgenommen  ist  Nr.  190  von  Meinhold  (ein  komischer 
Druckfehler  Z.  2),  auch  Nr.  197  von  Sternberg,  welches  Gedicht  aber  meh- 
rere metrische  Härten  hat,  210  von  Geibel,  213  von  Rückert;  nur  Nr.  214: 
„Josephine"  von  Gaudy  scheint  dem  Ref.  nicht  in  die  Sammlung  zu  passen. 

Was  nun  über  die  vierziger  Jahre  hinausliegt,  das  ist  alles  natürlich  neu 
und  der  Herausg.  hat  in  Bezug  auf  die  neueste  Zeit  eine  sehr  gute  Aus- 
wahl getroffen.  Vielleicht  Hesse  sich,  freilich  muss  jedes  Buch  sein  Ende 
finden,  aus  den  Liedern  zu  Schutz  und  Trutz  noch  Einiges  zusetzen;  z.  B. 
scheinen  dem  Ref.  Wolfg.  Müller's:  „Zum  heiligen  Krieg, "■  und  Edm.  Höfer's 
„Marschlied"  beachtenswerth,  wie  nicht  minder  die  „Vaterlandslieder  eines 
Elsässers"  von  W.  Hackenschmidt.  Für  die  ältere  Zeit  aber  ist  für  eine 
neue  und  vermehrte  Ausgabe  auf  die  Historischen  Volkslieder  von  Liliencron 
aufmerksam  zu  machen.  Von  lyrischen  Gedichten  wünschte  Ref.  das  schöne 
Lied  von  F.  Schlegel:  „Es  sei  mein  Herz  und  Blut  geweiht"  aufgenommen 
zu  sehen.  Empfehlenswerth  sind  ferner  noch:  von  Walther  von  der  Vogel- 
weide „Deutscher  Brauch,"  von  Hans  Sachs  „Die  Wittenberger  Nachtigal," 
Fischart's  „Ermahnung  an  die  lieben  Deutschen,"  für  die  Geschichte  Fried- 
rich's  des  Grossen:  „Der  Preusse  in  Lissabon,"  für  unser  Jahrhundert: 
„Germania  an  ihre  Kinder"  von  H.  v.  Kleist,  „Die  drei  Gesellen"  von 
Rückert,  SchenkondorFs  „Lied  vom  Rhein,"  dies  und  das  von  Rückert's  ge- 
harnischten Sonetten,  „Deutschlands  Heldentod  (passend  gegen  die  Epigonen 
des  Particularismus),  das  Lied  von  Bercht  „Drei  Heldennamen,"  Einzelnes 
aus  Geibel's  Juniusliedern. 

Doch  es  sei  hiermit  genug  mit  den  Wünschen!  Der  Herausgeber  wird 
aus  dem  Referat  das  Interesse  erkennen,  mit  dem  Ref.  seine  schöne  Samm- 
lung durchgelesen  hat,  die  Leser  des  Archivs,  wie  werthvoll  dieselbe  ist 
und  besonders  in  die  Hände  der  Jugend  unserer  höheren  Lehranstalten  zu 
kommen  verdient. 

Herford.  Hölscher. 


F.    W.    Culemann,    Schlüssel    zum    Studium    des    Deutschen. 
Leipzig  bei  F.  Fleischer.     1868. 

Der   glückliche    Erfinder  dieses  Buches  hat,   wie   er    in    der   Einleitung 
sagt,   „seit  Ostern  vorigen   Jahres  (1867)    einer  lieben  Pflegetochter  nebst 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  189 

mehreren  ihrer  Freundinnen  auf  ihre  Bitte  einige  Stunden  Unterrieht  im 
Deutschen  gegeben.  Aliein  indem  er,  dieser  Bitte  entsprechend,  anfing 
etwas  zu  lehren,  was  er  glaubte  hinlänglich  von  seiner  Mutter,  schon  vor 
mehr  als  70  Jahren,  erlernt  zu  haben,  siehe,  da  begann  doch  für  ihn  selbst 
erst  die  Zeit  des  rechten  Lernens  auf  diesem  Gebiete." 

Von  vorn  herein  muss  es  Bedenken  erregen,  wenn  ein  Mann  von  70 
Jahren,  der  nach  eigenem  Geständniss  sich  früher  um  Sprachforschung  nicht 
gekümmert  hat,  sich  als  Entdecker  auf  dieses  Gebiet  wagen  will;  mehr 
aber  noch,  wenn  er  in  seinem  anerkenuenswertbem  Fleisse  nach  Verlauf 
eines  einzigen  Jahres  aus  der  deutschen  Sprache  selbst  heraus  ein  vollstän- 
dig neues  System  ihrer  Organisation  construirt  und  dasselbe,  bis  in  die 
letzten  Elemente  zergliedert,  fertig  hingestellt. 

Einige  Grundsätze  des  Verfassers  mögen  seinen  —  wenigstens  für  unsere 
Zeit  —  originellen  Standpunkt  zeigen; 

„Alle  \Vurzeln  deutscher  Wörter  tragen  das  Gepräge  unerborgter,  na- 
turwüchsiger Gebilde  und  bestehen  in  ihrer  Urform  aus  zwei  Elementen, 
einem  seelischen  und  einem  leiblichen,  d.  h.  aus  einem  anlautenden  Vocal 
und  einem  auslautenden  Consonanten."  Nach  diesem  Grundsatze,  der  sich 
natürlich  historisch  nicht  erweisen  lässt,  der  aber  trotzdem  im  Bewusstsein 
des  Verfassers  mit  unantastbarer  Gewissheit  feststeht,  werden  nun  von  ihm 
selbst  die  Wurzeln  deutscher  Wörter  gebildet. 

„Jeder  einzelne  Laut,  sowohl  in  der  Classe  der  consonalen  als  in  der 
der  vocahschen  Wortelemente,  hat  seine  besondere,  eigenthümlich  seelische 
Bedeutung;  auch  ist  daher  die  ursprüngliche  und  wesentliche  Bedeutung 
eines  Wortes  nichts  anderes,  als  die  Gesammtbedeutung  der  verschiedenen 
Laute,  welche  ursprünglich  bei  der  Bildung  desselben  thätig  gewesen."  Von 
den  Wurzeln  werden  neue  Wurzeln  2.,  3.  u.  s.  w.  Instanz  gebildet;  jede 
Instanz  umfasst  Ableitungen  1.,  2.  u.  s.  w.  Potenz.  Alle  Ableitungsmittel 
sind  aus  der  specitisch  germanischen  Anlage  zur  Sprachbildung  mit  einer 
ihrer  Natur  entsprechenden  seelischen  Bedeutung  ursprünglich  geschaf- 
fen. Das  erste  Beispiel  des  Verfassers  wird  uns  ihn  verstehen  lehren,  seine 
Ableitungen  aus  der  Wurzel  ä,  „dem  einlachen  Lebenslaute  a,  d.  h.  ah, 
welcher  die  vom  frischen  a  beseelte  und  vom  zarten  h  beleibte  Urwurzel 
des  Wortes  baren  bildet."     Von  diesem  ah,  Inf.  ahen  abgeleitet: 

I.  Instanz. 

1.  Potenz:  ahen,  ajen,  agen,  aken,  angen,  anken,  acken,  achen,  aschen ; 

2.  Potenz:  mit  dem  begehrlichen  h,  haben;  hierzu  hajen,  hagen,  haken, 
hangen,  hanken,  hacken,  hachen,  haschen; 

3.  Potenz:  Ableitungen  aus  den  Bildungen  2.  Potenz  vermittelst  des 
„die  Handlung  auf  ein  übject  überleitenden  b:  bhahen  =  phahen  oder 
fahen,  fajen,  fagen,  faken,  fangen,  fanken,  tacken,  fachen,  faschen. 

IL  Instanz. 

1.  Potenz:  Ableitungen  mit  dem  impulsiven  jen:  hahjen  =  häjen,  hägen 
u.  s.  w. 

2.  Potenz:  Bildungen  mit  dem  imitativen  oder  formbildlichen  oder  in- 
strumentalen len:  hählen  =  hälen  u.  s.  w. 

Darauf  Formen  mit  den  appropriativen  men,  mit  den  intensiven  nen, 
mit  dem  iterativen  ren  u.  s.  w. 

In  den  Ableitungen  III.  Instanz  treten  diese  ableitenden  Silben  jen, 
len,  men  etc.  wieder  an  Wurzelverben  II.  Instanz  heran,  z.  B.  aus  häjen 
das  propulsive  häjnen. 

Natürlich  hat  der  Verfasser  nicht  Belege  für  alle  diese  imaginären 
Wurzelformen.      Aber    nichts    ist  leichter,  als   nach  seiner  Methode   diese 


190  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

nachzuweisen :  hären  m'it  dem  verstärkten  oder  convergirenden  Anlaut  g  gab 
ghären  =  kären,  dieses  aspirirt :  skären  =  schären.    Wer  möchte  zweifeln? 

Verbalformen. 

„Die  Hauptformen,  in  welchen  das  deutsche  Verbum  seine  Kraft  zu 
sprossen,  Stämme  zu  bilden  und  neue  Wörter  abzusetzen,  ofienbart,  sind 
folgende,  5  an  der  Zahl: 

1)  Die  dritte  Person  des  Präsens  im  Indicativ,  anlautend  in  t.  Es 
ist  dies  die  erste  und  einfachste  Sprossform,  so  erst  und  einfach, 
dass  schon  jedes  Kind,  ohne  etwas  von  faktitiven  Verben  zu  wis- 
sen, bloss  dem  organischen  Winke  jenes  t  folgend,  ganz  instinkt- 
mässig  sein  Wortmachen  damit  beginnt." 
Eine '  unglaubliche  Naivetät,  mit  welcher  der  Verfasser  die  Resultate 
der  historischen  Sprachforschung  zu  ignoriren  geruht. 


Cap.  11. 

Bedeutung  der  einfachen  Consonanten. 

(Pag.  57,  Abschnitt  2):  „So  gestaltet  sich  z.  B.  aus  der  einfachen 
Wurzel  ab,  durch  successiven  Vorschlag  und  Anschluss  neuer  Laute,  zuletzt 
der  sechslautige  Name  von  jenem  zarten  Schmelze  der  Blumen,  der  nicht 
selten  an  einem  sonnigen  Frühhngsmorgen  unserer  Bewunderung  ein  eben 
so  zartes  ah!  entlockt.  Jenes  ah,  durch  Anschluss  von  en  zum  Verbum 
erhoben,  bildet  nämlich  zunächst  ahen ,  soviel  als  frisch  und  lebenskräftig 
sich  regen,  und  mit  Vorschlag  des  appropriativen  m,  mähen,  soviel  als  Lebens- 
elemente sich  aneignen  und  in  dem  Munde  klein  machen,  sodann  durch  An- 
schluss des  instrumentalen  Hülfsverbums  len,  mahlen,  soviel  als,  dieses 
Kleinmachen  durch  Instrumente,  wie  Steine  oder  Mühlen  und  dergleichen, 
betreiben;  durch  Anschluss  des  faktitiven  ten,  malten  =  mälzen  =  mehlig 
machen,  hiervon  smälten,  ablautend  schmelzen,  nicht  nur  flüssig,  weich  und 
zart,  sondern  auch  glatt  und  glänzend  machen,  was  denn  zuletzt  jenen 
Schmelz  oder  Glanz  absetzt,  mit  dem  die  Natur  wie  die  Kunst  gewohnt  ist, 
ihre  Gebilde  auszustatten." 

„„Das  Gefühl  der  Unsicherheit  der  Etymologie,  das  gerade  ihren  gröss- 
ten  Kennern  am  Lebhaftesten  zu  werden  pflegt  (während  Dilettanten  aller- 
dings zuweilen  mit  beneidenswerther  Sicherheit  merkwürdige  Dinge  behaup- 
ten), hat  seine  Ursache  nicht  in  mangelhafter  Forschung.""  (L.  Geiger, 
Ursprung  der  Sprache,  pag.  XIII  f.) 

Prenzlau.  Dr.  K.  Böddeker. 


Baensch's   Pocket   Miscellany.     25  Volumes.      Leipzig,   W. 
Baensch. 

Die  vorliegende  Sammlung,  von  welcher  seit  der  kurzen  Zeit  ihrer  Be- 
gründung in  ziemhch  schneller  Folge  bereits  25  Bände  erschienen  sind,  hat 
sich,  wie  wir  nach  den  wiederholten  Auflagen  schliessen  dürfen,  bereits  eine 
grosse  Zahl  von  Freunden  erworben,  und  nach  genauer  Durchsicht  der  ver- 
schiedenen Hefte  kann  auch  Ref.  dem  weiteren  Fortgange  dieses  Unter- 
nehmens den  besten  Erfolg  wünschen.  Jedes  Bändchen  ;  enthält  eine 
ansehnliche  Reihe  höchst  interessanter  Aufsätze,  welche  vermöge  ihrer  Rein- 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  191 

lieit  und  Schönheit  den  besten  Erscheinungen  der  englischen  Literatur  bei- 
gezählt zu  werden  verdienen;  in  äusserst  anschauhchen,  mannichfaltigen 
iiildern  wird  uns  das  Leben  in  England  und  Amerika  geschildert,  und  ob- 
wohl die  vei'schicdenen  Abschnitte  nicht  von  ganz  gleichem  Werthe  sind, 
so  findet  sich  doch  eigentlich  nicht  ein  einziger  in  der  ganzen  Sammlung, 
welchen  der  Leser  entbehren  möchte.  Die  Ausstattung  ist  ebenso  schön 
als  die  Auswahl,  und  wenn  die  Herausgeber  und  die  Verlagshandlung  in 
gleicher  Weise  das  Unternehmen  fortsetzen,  so  wird  es  sich  neben  den 
Tauchnitz'schen  Ausgaben  mit  Ruhm  behauptun  können,  und  zwar  um  so 
leichter,  da  es  durch  Mannichfaltigkeit  des  Inhalts,  Vorziiglichkeit  von  Druck 
und  Papier,  sowie  durch  Billigkeit  des  Preises  die  Tauchnitz'schen  Bändchen 
(jedes  lieft  einzeln  zu  10  Sgr.)  bei  weitem  übertriilt. 

Allen  Freunden  der  englischen  Literatur  sei  Baensch's  Pocket  Miscellany, 
das  sich  auch  beim  Unterrichte  sehr  gut  benutzen  lässt,  bestens  empfohlen. 


Programmenschau. 


Grundsätze  zur  regelung  unserer  deutschen  Orthographie.  Von 
Dr.  Paul  Wessel.  Programm  des  Gymnasiums  zu  Merse- 
burg.    1870. 

Der  Verf.  verlangt  entschieden  eine  Vereinfachung  unserer  Schrift,  und 
zwar  vom  phonetischen  Princip  aus,  schon  um  in  der  Schule  mehr  Zeit  für 
bessere  Zwecke  zu  gewinnen.  Die  Sätze,  welche  er  aber  aufstellt,  machen 
gegen  den  bisherigen  Gebrauch  so  entschieden  Front,  dass  er  schwerlich 
leichter  als  die  entschiedensten  Verfechter  der  Etymologie  durchdringen 
wird.  Nur  da  schreibt  er  dem  etymologischen  Princip  Berechtigung  zu,  wo 
Aussprache  und  Schreibung  schwanken.  Für  den  Doppelconsonanten,  der 
nicht  auszusprechen  ist  und  bisher  zur  Bezeichnung  des  vorausgehenden 
kurzen  Vocals  gebraucht  wurde,  soll  der  einfache  Consonant  gesetzt  wer- 
den; „sol  die  quantität  ausgedrükt  werden,  so  kan  dis  vernünftiger  weise 
nur  am  vocal  selbst  geschehen."  Die  üblichen  Bezeichnungen  des  langen 
Vocals  durch  h,  durch  das  e  beim  i,  durch  Verdoppelung  bei  a,  e,  o  werden 
alle  verworfen.  Ferner  jedes  h  nach  t,  das  „wol  von  nimand  mer  verteidigt 
wird  und  gegen  das  ein  allmäUcher  vertilgungskrig  bereits  begonnen  hat," 
muss  fortfallen.  Es  gilt  zur  Bezeichnung  der  Quantität  die  Kegel:  a.  der 
Vocal,  dem  zwei  oder  mehr  Consonanten  folgen,  ist  kurz:  hart,  werk  (die 
wenigen  Ausnahmen:  Mond,  Sprache,  Buch  u.  a.  kommen  nicht  in  Betracht), 

b.  in  mehrsilbigen  Wörtern  ist  der  Vocal  der  Stammsilbe  lang,  wenn  auf 
denselben  einfache  Consonanz  folgt  (vgl.  guter  und  Mutter,  inen  und  innen), 

c.  beim  Verbum  erkennt  man  die  Quantität  des  Vocals,  dem  zwei  ungleiche 
Consonanten  folgen,  aus  der  Infinitivform  (vgl.  wonte,  holt,  gewolt),  d.  in 
einsilbigen  Wörtern,  in  denen  nach  dem  Stammvocal  nur  ein  Consonant 
steht,  zeigt  sich  die  Quantität  an  einer  verlängerten  Form,  besonders  am 
Casus  obliquus  (gut  an  guter,  schut  an  Schuttes  u.  a.);  ausserdem  steht  vor 
gewissen  Consonanten  bestimmte  Quantität;  aa.  vor  jeder  Media  und  vor  s 
steht  ein  langer  Vocal  z.  B.  gab,  krig,  rad,  las;  bb.  vor  den  Tenues  p  und 
k  und  vor  z  "steht  ein  kurzer  Vocal  (vgl.  knap,  schrek,  bliz),  e.  im  Com- 
positum wird  die  Quantität  nach  dem  Simplex  bestimmt.  Die  weichen  und 
die  harten  s-Laute  will  der  Verf.  durch  besondere  Zeichen  unterschieden 
wissen,  wenn  das  aber  nicht  geht,  will  er  das  harte  s  nach  kurzem  Vocal  in 
der  Mitte  eines  Wortes  mit  ss  und  nach  langem  Vocal  mit  fs  schreiben. 
Mit  der  Reform  der  Orthographie  soll  die  Schule  und  zwar  die  Secunda, 
in  der  die  Bekanntschaft  mit  dem  Mittelhochdeutschen  zur  Erkenntniss  der 


Prograramenschau.  193 

Unwissenschaftlichkeit  der  jetzigen  Orthographie  führt,  beginnen.     Die  Ab- 
handlung ist  selbst  schon  in  der  gewünschten  Orthographie  geschrieben. 


Das  Sprachbewusstsein   unserer   Tage.      Von  Dr.  Kohl.      Pro- 
gramm des  Gymnasiums  zu  Quedlinburg.     1869. 

Der  Zweck  der  Abhandlung  ist,  nicht  den  Organismus  der  Sprache 
selbst,  nicht  die  einzelnen  Gebilde  der  Sprache  in  ihrer  Entstehung  und 
Besonderheit,  sondern  die  Schicksale,  die  sie  erfahren,  und  vor  allem  Ihre 
gegenwärtige  Lebenskraft  zu  betrachten.  Das  Sprachbewusstsein,  sagt  der 
Verf.,  zeigt  sich  historisch  als  ein  Gefühl  für  Zusammengehörigkeit  und 
Werth  der  sprachlichen  Formen.  Die  älteste  Periode,  die  Zeit  der  Wurzel- 
schöpfung, zeichnet  sich  vor  allen  durch  Lebendigkeit  des  Sprachbewusst- 
seins  aus.  Die  Reihenfolge  der  sprachschöpferischen  Stufen  von:  Wurzel- 
bildung, W^urzelableitung,  Flexion,  Ableitung  im  engeren  Sinne,  Zusammen- 
setzung. Mit  jeder  Stufe  verliert  sich  (die  instinktive  Herrschaft  über  den 
Sprachschatz.  Die  Kraft  zu  neuen  Bildungen  besitzen  wir  nur  noch  in 
geringem  Grade,  weshalb  man  füglich  nicht  sagen  kann,  dass  wir  noch  in 
einer  der  schöpferischen  Perioden  stehen.  Die  Umgestaltung  auf  dem  Ge- 
biete der  Flexion  machte  sich  früh  geltend,  sie  noch  umfassender  zu  machen, 
kommt  dazu  das  Streben  nach  Abschleifung  der  Endungen.  Dazu  gesellt 
sich  das  allgemeine  Streben  nach  Kürzen,  wie  auch  die  Bequemlichkeit  stö- 
rend in  das  Leben  der  Sprache  eingreift.  Das  Sprachbewusstsein  in  der 
historischen  Zeit  ist  so  viel  schwächer  geworden.  Verdunkelt  ist  es  auch 
durch  die  künstliche  Einführung  einer  künstlichen  Orthographie,  die  sich 
vom  mittelhochdeutschen  Gebrauch  losriss.  Dazu  kommt,  dass  unsere  neu- 
hochdeutsche Sprache  nie  Volkssprache  gewesen  ist.  Von  den  Wurzeln 
weiss  das  heutige  Sprachbewusstsein  nichts  mehr.  Gegen  diese  Abschwä- 
chung  reagirt  wohlthätig  die  neuere  deutsche  Sprachwissenschaft,  und  diese 
wird  immer  mehr  Boden  gewinnen.  Besonders  hat  sie  schon  durch  ihre  or- 
thographischen Bestrebungen  zur  Hebung  des  Sprachbewusstseins  gewirkt. 
Das  noch  fortlebende  Sprachbewusstsein  zeigt  sich  in  etymologischen  Be- 
schäftigungen, das  Streben  nach  Etymologie  kommt  nirgends  stärker  zum 
Ausdruck  als  in  der  sog.  Volksetymologie.  Auch  Fremdwörter  erleiden 
eine  gewaltsame  Umbildung,  das  Volk  ändert  das  fremde  Wort  in  ein  be- 
kannt klingendes  um,  man  denke  an  die  Bergamottknöpfe ,  an  die  Magen- 
marseille, Armbrust,  Eichhorn,  an  die  Städtebenennungen  Mainz,  Mailand. 
Auch  deutsche  Benennungen  sind  entstellt:  SündÜut,  Sauerland;  zu  den  or- 
thographischen Volksetymologien  gehört  die  Schreibart  Satyre  (aber  wenn 
hier  der  Verf.  eifert  gegen  die  Schreibung  Landsknecht,  und  Lanzknecht 
nach  der  Art  der  Bewaffnung  schreiben  will  [übrigens  wäre  das  eine  ab- 
scheuliche Zusammensetzung],  so  irrt  er  sehr,  denn  die  deutschen  Lands- 
knechte haben  bekanntlich  ihren  Namen  von  dem  Gegensatze  gegen  die 
schweizerischen  Alpensöhne).  Die  alten  und  neueren  Sprachen  haben  eben- 
so ihre  Volksetymologien  gehabt. 


Zur  Geschichte  der  Wortbedeutungen  in  der  deutschen  Sprache. 
Von  Dir.  Dr.  Ed.  Cauer.  Programm  des  Gymnasiums 
zu  Hamm.     1870.     25  S.     4. 

Der  Verf.  bezeichnet  seine  Arbeit  als  Beitrag  zur  Praxis  des  deutschen 
Unterrichts,   aus  der    sie  auch  hervorgegangen  sei.     Bei   der  Vergleichung 
Archiv  f.  n.  Sprachen.  XLVIII.  13 


1 94        "^  Programmenschau. 

der  älteren  mit  der  neuhochdeutschen  Sprache   liege    für  die  Schüler    eine 
besonders   anregende  Kraft   in   der  Verfolgung  der  Umwandlungen  ,   welche 
die  Bedeutungen  der  Wörter  seit   dem  13.  Jahrh.    erfahren.      Hier  brauche 
man   nicht,   wie   bei   der   Vergleichung    der  grammatischen   Seite,    nur    von 
Schmerz  über  Verluste  erfüllt  zu  sein,   hier  werde  das   Vermögen   des   Ur- 
theilens,  Uuterscheidens,  Combinirens,  überhaupt  des  Denkens  besonders  ge- 
übt.    Einen  Ersatz  für  solche  Uebungen  biete  weder  die  lateinische  noch  die 
griechische  Sprache.     Das  Material  hat  der  Verf.  grösstentheils  dem  Mittel- 
hochdeutschen und  dem  Grimm'schen  "Wörterbuche    entlehnt.      Es    vertheilt 
seinen  Stoff'  unter  4  Rubriken.     I.     Die  Bedeutung  der  Wörter  wird  gestei- 
gert, vergeistigt,  vertieft:  „Tugend,  tugendhaft."     Die  moralische  Bedeutung 
ist  schon  dem  12.  Jahrb.  nicht  fremd,    aber   viel   öfterer   findet  es   sich    im 
Sinne  von  Tauglichkeit,  Kraft,  Macht;  diese  Bedeutung  findet  sich  noch  bei 
Burker's  Waldis  und  im  Reineke  Vos.     „Laster,"  früher  Gegensatz  zu  Ehre, 
Schimpf,  Kränkung,   so   noch  im  15.  Jahrh.    (zu    vergl.   über  die    Ableitung 
Leo  Meyer,    Zeitschr.j  f.  vergleichende  Sprachforschung  8,    251  ff'.)    „Klug," 
„Weisheit"  in  alter  Zeit  mehr  =  peritia,  doch  auch  schon  in  der  Bedeutung 
von  sapientia  (man  denke  hier  auch  an  Guiscarl).     „Dumm,"    früher,   uner- 
fahren, ungelahrt  (man  denke  an  den  jungen  Parzival;  über  das  Wort  auch 
zu  vgl.  Grimm,    Gesch.  der  deutschen  Sprache,   S.  336).     IL     Die  Bedeu- 
tung der  Wörter  wird    abgeschwächt  oder   verflacht.     Fast  alle   Ausdrücke, 
die  einen  Stand,  eine  Würde  bezeichnen,   verlieren    mit   der  Zeit  an  Inhalt 
und  Gewicht.     So  „Herr  und  Frau,"  Frau  früher  nur  in  stolzer  Bedeutung: 
Herrin,  jetzt   ganz   abgeschwächt,   auch    „Herr"   sehr    geschwächt.      „Reich" 
eig.  vornehm,   herrschend,   mächtig,   welche   stärkere   Bedeutung   auch,    ob- 
schon  früh  die  jetzige  sich  geltend  macht,  noch  länger  fortlebt,  so  im  Nibe- 
lungenliede, Freidank  108,  7.  —  Von   den    zur   Steigerung    dienenden  Wör- 
tern wird  „viel"  fast  gar  nicht  mehr  in  der  alten  Weise  gebraucht,   „recht" 
allerdings  noch,  aber  es  kommt  darauf  an,  ob  das  Adverb  oder  das  Adjectiv 
betont  wird,  „wunder"  kommt  in  Zusammensetzungen  nicht  mehr  so  oft  vor, 
„hart"  ist  seit  Jahrhunderten  nicht  mehr  im  Gebrauch;  „gar"  eig.  vollkom- 
men, ganz,  ist  in  seiner  Geltung  sehr  beeinträchtigt;  „sehr"  eig.  =  schmerz- 
lich und  sonst  nur  in  Verbindung  mit  Verben,   die   einen   schmerzlichen  Zu- 
stand ausdrücken,  ist  jetzt  farblos  geworden;  „fast"  vergl.  Grimm's  Wörter- 
buch. —  Unsere  neueren  Steigei-ungswörter:  höchst,  ungemein,  äusserst,  un- 
endlich u.  a.  stehen  weit  hinter  der  sinnlichen  Lebendigkeit   und  Kraft    der 
alten   zurück.      III.     Die   Bedeutung   der  Wörter    verengt   sich,    spitzt   sich 
nach  irgend  einer  Seite  zu,   so  dass   der  heutige  Gebrauch  wie  ein  Bruch- 
stück des  alten  erscheint.     „Muth,  Gemüth"  die  alte  Bedeutung:  das  Innere 
des  Menschen,  Gesinnung,  Sinn,  Seele  (auch  synonym  mit  Freude,  s.  Zarncke 
zum  Narrenschiff'  S.  305)  hat  sich,  jetzt  ganz  verloren,    bis   in's    17.  Jahrh. 
erhalten ,   aber   Reminiscenzen    finden    sich   in   den  zahlreichen   Zusammen- 
setzungen mit  Muth.     „Witz"  eig.  Verstand   und   Einsicht   im   Allgemeinen, 
es  finden  sich  noch  im  18.  Jahrhundert  Spuren   dieses   umfassenden  Sinnes. 
„Neid,"  eig.  Eifer,   dann  Feindschaft  im  Aligemeinen,    doch   kommt   unsere 
Bedeutung  schon  bei  Walther  und  Freidank  vor,    bei  Luther  ist  sie  durch- 
gedrungen.    „Reue"  hat  im  Mhd.  nur  die  allgemeine  Bedeutung  des  Seelen- 
schmerzes, die  jetzige   entwickelte    sich    erst    in   der  geistlichen   Literatur. 
„Busse,"  die  ältere   allgemeine  Bedeutung  von  Besserung,  hat  sich    nur   in 
Ableitungen  (Zubusse,  Lückenbüsser  u.  a.)  erhalten.     „Keusch,"   sonst  all- 
gemein besonnen,  „Kosen"  eig.  sprechen.     „Ehe,"  „Hochzeit"   vgl.   Grimm, 
Geschichte   der    deutschen  Spr.,    S.  71.  —  IV.  Die  Bedeutung  der  Wörter 
erweitert,  verallgemeinert  sich.     „Elend,"  „Milde,"  „Ergetzen"  als:  vergessen 
machen  im  13.  Jahrhundert  vorherrschend. 


Programmenschau.  195 

Die  neuhochdeutsche  Substantiv-Declinatlon.  Dritter  Abschnitt. 
Vom  Oberlehrer  W.  O.  Gortzitza.  Programm  des  Gym- 
nasiums zu  Lyck. 

Im  Programme  des  Jahres  1843  veröffentlichte  der  Verf.  den  1.  Theil 
der  Abhandlung  über  die  neuhochdeutsche  Substantiv-Declination,  über  die 
starke  Declination  handelnd.  Der  2.  Theil,  über  die  schwache,  erschien  im 
Archiv  XVI,  408—431.  Diejenigen  Forscher,  welchen  der  ].  Theil  nicht  zu 
Gesicht  gekommen  ist,  kennen  aus  dem  letzteren  Aufsatz  die  Behandlungs- 
weise  des  Verf.  Sind  nun  schon  in  den  älteren  Dialekten  einzelne  Wörter, 
die  zwischen  starker  und  schwacher  Declination  schwanken,  so  kommen  im 
Nhd.  viele  vor,  die  zum  Theil  starke,  zum  Theil  schwache  Declination  noth- 
wendig  verlangen;  diese  besonderen  Declinationen  nennt  der  Verf.  gemischte. 
Und  sie  behandelt  er  in  diesem  Programme  und  schliesst  daran  die  unregel- 
mässige und  die  Declination  der  Eigennamen,  womit  die  ganze  Darstellung 
der  nhd.  Substantiv-Declination  ihren  Abschluss  findet.  Es  ist  nicht  mög- 
lieb, aus  dieser  Uebersicht  einen  Auszug  zu  geben.  Die  Scheidung  der 
verschiedenen  Formen  der  gemischten  Declination  ist  eine  sehr  sorgfältige. 
Auch  dieser  dritte  Theil  hat  dieselben  Vorzüge,  wie  die  beiden  ersten;  zu 
jenem  nämlich  eine  ungewöhnliche  Fülle  von  BeweisstofT,  die  von  einer 
ausserordentlichen  Belesenheit  zeugt.  Man  könnte  den  Einwurf  machen,  es 
sei  ein  grosser  Theil  des  Materials  Schriftstellern  des  zweiten  und  dritten 
Ranges,  Tagesschriftstellern  entlehnt;  indess  machen  diese  nicht  die  Mehi'- 
z.thl  aus  und  stellen  ja  selbst  auch  den  Volksgebrauch  dar.  Auch  aus  die- 
ser Abhandlung  wird  Mancher  «lie  Lehre  entnehinen  können,  dass  es  vor- 
eilig ist,  von  vornherein  über  das  Gesetz  von  Formen  ein  Urtheil  fällen  zu 
wollen,  dass  man  in  allen  Dingen  sich  bescheiden,  dem  Gebrauche  nach- 
gehen, seine  Geschichte  verfolgen  und  über  seine  Berechtigung  nachdenken 
muss.  Möge  keiner  unserer  Grammatiker  die  fleissige  Abhandlung  über- 
sehen! 


Darstellung  der  Form  und  des  Gebrauchs  der  appellatlven  De- 
minutiva  in  der  neuhochdeutschen  Sprache  mit  Berücksich- 
tigung des  Mittel-  und  Althochdeutschen.  Von  Dr.  Gustav 
Müller.     Programm  des  Gymnasiums  zu  Lissa.     1870. 

Der  Hauptzweck  und  das  Hauptergebniss  der  vorliegenden  Abhandlung 
ist  der  Beweis,  dass  die  Bezeichnung  der  Deminutiva  für  die  betr.  deutschen 
Wörter  schlecht  gewählt,  dass  der  griechische  Name  dem  lateinischen  vor- 
zuziehen sei.  Aber  nicht  darauf  beschränkt  sich  die  Arbeit,  sie  untersucht 
die  Deminutiva  nach  Form  und  Gehalt  nach  allen  Beziehungen  und  giebt 
wichtige  Verbesserungen  zu  den  bedeutendsten  grammatischen  Werken, 
selbst  Grimm  werden  manche  Irrthümer  nachgewiesen.  Von  dem  ungemein 
reichhaltigen  Inhalt  muss  sich  Ref.  begnügen   eine   Uebersicht  zu  geben. 

Die  zwei  Abschnitte  der  Arbeit  handeln  von  der  Form  und  dem  Ge- 
brauch der  Deminutiva.  Die  Endungen  der  nhd.  Deminutiva  sind  lein,  el, 
eben,  eichen.  —  lein  aus  mhd.  elin*hat  den  gewöhnlichen  Vocalwechsel  er- 
fahren, im  17.  Jahrhundert  steht  er  fest,  ferner  die  Synkope  des  Vocals 
vor  1  (Wörtlein  =  Wörtelin),  stösst  bei  Wörtern  auf  e  selbst  dies  e  aus 
(Häslem),  namentlich  bei  den  auf  Liquiden  endigenden  Wörtern  zeigt  sich 
der  Unterschied  gegen  die  alten  Formen.  —  el  ist  im  Nhd.  in  der  Schrift- 
sprache fast  ganz  verschwunden,  zeigt  sich  aber  noch  in  oberdeutschen  Dia- 
lekten, dafür  auch  — 1,  — li,  — le.  — chen;  der  Gebrauch  des  k  ist  im  Ahd. 
und  Mhd.  seltener,  aber  häufig  in  niederdeutschen  Mundarten;  im  Nhd.  kommt 

13* 


196  Programmenschau. 

es  in  der  Umgangssprache  schon  bei  Luther,  in  der  Schriftsprache  nicht 
vor  dem  17.  Jahrn.  vor;  e  am  Schluss  der  einfachen  Wörter  fällt  auch  hier 
fort,  wie  auch  en  (Täubchen,  Gärtchen).  —  eichen  kommt  im  Khd.  nur  als 
Aushilfe  vor,  wo  die  einfache  Deminutio  schwierig  war,  nach  g  und  ch  (Jiin- 
gelchen,  Sächelchenj,  oder  in  launiger  Weise  (Mädelchen),  besonders  bei 
Eigennamen  (Gusteichen).  —  Der  Umlaut  findet  im  Mhd.  fast  überall  statt, 
im  Nhd.  eigentlich  durchgängig,  aber  die  Vernachlässigung  nimmt  zu,  nicht 
bei  denen  auf  — lein,  aber  bei  — chen  (Mannchen),  besonders  in  der  kosen- 
den Umgangssprache  (Frauchen,  Trudehen,  Uhrchen),  auch  fremde  Wörter 
(Onkelchen,  Mamachen).  Die  Deminutiva  auf  — lein  und  — chen  haben  die 
Declination  der  starken  Neutra,  das  — e  der  Flexion  fällt  fort,  wie  die  Da- 
tivendung — en  im  Plural;  die  auf  —  el  hängen  im  Dativ  PL  ein  s  an.  Der 
primitive  Theil  der  Deminutivform  hat  im  PI.  die  Gestalt  des  Sing.,  nur 
wenn  das  Stammwort  des  Deminutivs  den  Plur.  auf  — er  bildet,  kann  die 
Epenthesis  des  — er  stattfinden  und  unterbleiben  (die  Lämmchen  und  Läm- 
merchen),  der  Gebrauch  ist  verbreiteter  als  Grimm  annimmt,  bei  der  Endung 
— chen  wenigstens  (die  Kinderchen,  nicht  Kindchen,  Dächerchen;  Mäderchen 
aber  sohlecht  gebildet).  Ein  Deminutiv  an  ein  Substantiv  anzuhängen,  ist 
unbedenklich  (Gartenhäuschen,  Waldvögelein),  ihm  vorzusetzen  (Gärtchen- 
haus)  ungebräuchlich,  ausser  wenn  das  Dem.  verhärtet  ist  (Fräuleinstift), 
von-  so  zusammengesetzten  Adjectiven  kommt  nur  mäuschenstill  vor.  Das 
Geschlecht  der  Dtminutiva  ist  wie  im  Griechischen  ausschliesslich  neutral. 
Synesis  im  Genus  ist  nach  Demin.  weiblicher  Personen  häufig  (das  Fräulein, 
die),  männlicher  (das  Knäbchen)  selten.  Bei  üblicheren  Fremdwörtern  ist 
die  Deminution  gestattet  (Traktätchen) ;  von  deutschen  Wörtern  sträuben 
sich  manche  dagegen  (nicht  z.  B.  Häuptchen),  besonders  die  Abstracta 
(wohl:  sein  Müthchen  kühlen,  Gedänkchen  bei  Rückert,  im  Mhd.  geschmäck- 
lin,  sinnelin  u.  a.)  Die  Subst.  auf  — ling,  den  Demin.  verwandt,  sind  alle 
männlich  und  bezeichnen  ursprünglich  eine   Person;   sie   sind   fehlerhaft   aus 

—  ing  entstanden.     Die   von    Verben   abgeleiteten    haben   passiven   (die   auf 

—  er  activen)  Sinn  (Lehrling),  nur  die  von  intransitiven  aktiven  (Flüchtling); 
auch  viele  von  Subst.  und  Adj.  drücken  das  Unthätige  aus  (Liebling,  Höf- 
ling), auch  das  Verächtliche;  — ling  hängt  sich  besonders  gern  an  Worte 
geringschätziger  Bedeutung  (Weichling,  Feigling,  Wüstling,  Römling),  um 
die  Unselbständigkeit  zu  bezeichnen;  in  einigen  dient  es  nur  dazu,  das  Adj. 
zum  Subst.  zu  machen  (Jüngling,  Fremdling),  in  anderen  bestimmt  es  das 
Kleine  (Zwilling,  Nestling) ;  die  mecklenburg.  Demin.  auf  — ing  sind  Neutra. 
Adjectiva  von  demin.  Form  sind  dem  Deutschen  fremd:  die  wenigen  ver- 
kleinerten Adj.  werden  Subst.  (Liebchen,  Trautchen).  Die  Adj.  auf  — lieh 
drücken  in  den  Gestalt,  Farbe,  Geschmack  anzeigenden  Adj.  den  Begriff  der 
Annäherung  aus  (länglich,  grünlich ,  süsslich),  was  in  der  alten  Sprache 
nicht  der  Fall  ist.  Noch  weniger  als  Adj.  werden  Pronomina  oder  Adver- 
bia  deminuirt  (stillchen),  die  ostpreussische  Umgangssprache  ist  jedoch  in 
dieser  Deminution  masslos  (hierchen  u.  a.).  Die  Verba  auf  — ein  drücken 
etwas  mit  der  Deminution  der  Subst.  Verwandtes  aus  (tändeln,  lächeln),  ge- 
nauer einzelne,  den  Grundbegriff"  nur  annähernd  erreichende  Phasen  oder 
Momente  desselben  (lächeln,  frömmeln,  liebeln),  auch  das  Verächtliche  (witzeln, 
künsteln),  die  Hinneigung  (näseln,  jüdeln),  das  Aflfectirte  (deutschthümeln, 
emptindeln),  das  Faktitive  (hänseln,  verzärteln).  —  Was  nun  2)  den  Ge- 
brauch der  Deminutiva  betrifft,  so  kommt  man,  da  sie  nicht  einer  ausgestor- 
benen Bildung  angehören,  sondern  man  noch  fortwährend  bei  ihnen  selbst- 
schöpferisch ist,  dadurch  auf  ihren  eigenen  Sinn,  wenn  man  nicht,  wie  ge- 
schehen ist,  unwesentliche  Merkmale  als  Hauptmerkmale  ansieht,  sondern 
ihrer  eigentlichen  Heimath  nachgeht.  Und  diese  finden  wir  in  dem  Verkehr 
mit  Kindern.  Den  Kindern  gegenüber  gebraucht,  sollen  sie  das  liebevolle 
Gemüth  ausdrücken.  Sie  sollen  also,  und  deshalb  würden  sie"  besser  Kose- 
formen heissen,  nicht  einen  Begrifisunterschied,    sondern  eine  Gemüthsstim- 


Programmenschau.  197 

muncr  angeben.      Der  Reichthum     an  Demlnutivbildungen,    bei  Deutseben, 
Italienern,  Polen,    lässt    auf  einen   gewissen   Sinn   für    zutrauhches    Wesen 
schiiessen.     Der  Gebrauch  muss  demnach  auch   seme   bchranken   haben,   es 
muss  einerseits  der  Redende  zum  Tändeln  aufgelegt,  andererseits  der  Gegen- 
stand dazu  geeignet  sein.     Das  Deminutiv  gedeiht  am  besten  in  der  frischen 
Naturluft  des  Naiven  und  Volksthümlichen,   die   Kultur   ist  ihm   abhold     es 
kommt  im  Gespräch   mehr  vor    als   in   der   Schrift,    die   strengwissenschaft- 
liche  und   die  lalt  amtliche   Sprache    entbehrt   der  Demmutiva;   der   ideale 
Schiller  gebraucht  sie  weit  seltener  als  Göthe.     Das  Gefühl  also  erfand  die 
Deminutiva,  der  Verstand  benutzte  sie  dann,  um  die  Beschaflenheit  des  Ge- 
genstandes auszudrücken ;    er  machte    den  ursprünglichen  Zweck  zum  Mittel 
die  Kleinheit  zu  bezeichnen.     Aber  der  eigentliche  Zweck  war  die  ^Virkung 
wiederzugeben,    das   geht  daraus  hervor,    dass   die    Deminutiva   oft   dieselbe 
Wirkung  bei  ganz  anderer  Ursache  abspiegeln,  ein  Väterchen  ist  doch  nicht 
ein  kleiner  Vater.     Der  Begriff  der  Kleinheit  kommt   theils   durch  das  De- 
minutiv erst  hinein  (Kästchen  opp.  grosser  Kasten),    theils  wird  er  dadurch 
blos    veranschaulicht  (ISläuschen   opp.    grosse  Thiere).     Die   stimmungslosen 
Demin.  sind  theils  todter  theils  lebendiger  Bildung;  jener  Art  sind  Fraulein, 
Mädchen,  Fähnlein,  Märchen,   Grübchen,   Kanmchen ,    Eichhornchen     Küch- 
lein   Quentchen  u.  a.;  bei  diesen  unterscheiden  wir  alltäghche  (Bruderchen, 
Blümlein,    Röslein)  von   solchen,    für    die   der    Einzelne    einen   besonderen 
Drancr  hat  (Vetterchen,  Gräslein.  Tülpchen).     In  den  Begriffen  hegt  etwas, 
was  ^ie   unbedingt  oder   gar  nicht  zur    Deminution   eignet,    es    heisst    nur 
Heimchen,  Küchlein,  aber  nicht  Tigerchen,  Wänzchen.     Das  Erhabene,  Ge- 
fährliche,  Hässliche   ist  zur   Deminution    nicht  geeignet     wohl  das   Cxrosse, 
wenn  es  ^onst  zärtlich  stimmen  kann.     Wir  sagen  :  Mäuschen,  nicht  Krotchen, 
Täubchen,   nicht  Gänschen,   der    kluge   Fuchs    heimelt  uns   an    wir   sagen: 
Füchslein,  „Männchen"  lässt  sich  der  Mann  von  seiner  Frau  gefallen,    sonst 
bezeichnet   das   Mitleid   damit   die  Gebrechlichkeit   des    Alters   (anders    der 
Gebrauch   von   Männchen    und   Weibchen   als    mas   und    femina  animahum), 
Kindlein"  die  Betheiligung  des  Gemüths,  ebenso  „Mütterchen"  im  Verkehr 
mit  Kindern.     Wenn   die  im  Deminutiv    ausgeprägte   Stimmung  verschieden 
gefärbt  sein   kann,    so   kann   es  auch   dazu   dienen,   Spott   und    Verachtung 
auszudrücken  (Dichterlein,  Schulmeisterlein,  Pftiff-lein  Herrchen),  wie  es  ura- 
eekebrt  auch  mildern  kann  (Närrchen,  Aeßbhen).     Die  Kosebedeutung  zeigt 
lieh  besonders   in  Eigennamen,   weibliche  Namen    werden   arglos   deminmrt, 
männliche  seltener   (Hannchen,  Dorchen),    m   den    durch  Verkürzungen   ent- 
standenen Kosenamen    (Fritz)    fühlt  man  noch   das   Hypokoristische   heraus, 
man  sagt:  der  alte  Fritz,  aber  nicht  Fritz  der  Grosse.     Bei  den  Dmgen  der 
unbelebten  Welt  tritt  die  Bezeichnung  einer  Geinüthsstinimung   zurück,   die 
verkleinernde  Bedeutung  hervor;    doch   wird   auch   hier   die  Bedeutung   des 
Wohlgefallens  an  der  mit   der  Kleinheit  verbundenen  Zierlichkeit   oder    der 
Geringschätzung  nicht  zu  verkennen  sein   (Tischchen  und    kleiner  Tisch). 
Körpertheile  werden    meist  in     schmeichelnder   Absicht    mit    dem    Tandel- 
wolte  bezeichnet  (Händchen,  Aeuglein,  Bäuchlein    Beinchen)       Wohnungen 
Tis  Deminutiva  bezeichnen  das  Nette,  aber  bescheidene  (Stadtchen,  Hauschen, 
Stübchen,  aber  nicht  Aeckerchen,  Kellerchen).     Wohlbehagen  drucken  aus: 
Pfeifchen    Lämpchen,  Tässcben,  Räuschlein,  Geschäfichen,  Stimmchen,  Lied- 
chen, Spielchen^  Lüftchen,  Stündchen.     Der  Begriff"  der  meinheit  wird  ver- 
anschaulicht in  den  Demin.  Bischen,  Restchen,  Tröpfchen,   Kornchen,   Här- 
chen; besonders  kommen  sie  mit  der  Negation  vor     Andere  haben  .ironische 
Bedeutung.     Oefters  lautet  das  Primitivum  grob,   das  Deminutiv  fein  (Pfot- 
chen gebln,    in's  Fäustchen  lachen);    Bezeichnungen    für    kindliche    Spiele 
(Kämmerchen  vermiethen)  Ueben  die  deminutive  Gestalt  der  Worter. 


198  Programmenscbau, 

Geschichte  und  Bedeutung  des  reimlosen  fünfFiissIgen  jambischen 
Verses  in  der  deutschen  Dichtung.  Von  Dr.  Dannehl. 
Programm  des  Gymnasiums  zu  Kudolstadt.  1870. 
Der  Verf.  giebt  hier  nur  den  ersten  Theil  einer  ausführlicheren  Abhand- 
lung, deren  zweiter  und  dritter  bald  nachfolgen  sollen;  schon  dieser  erste 
Theil,  welcher  sich  an  Zarncke's  bekannte  Abhandlung  anschliesst,  ist  an- 
ziehend genug',  um  den  Leser  mit  Spannung  das  Ganze  erwarten  zu  lassen. 
Der  Fünffüssler  ist  eine  Erfindung  der  neueren  Zeit,  er  ist  der  Vers 
des  volksthümlichen  altronianischen  Heldengesauges,  er  hat  hier  bald  10, 
bald  mit  weiblichem  Ausgange  11  Silben:  beide  Versarten  haben  die  Cäsur 
nach  der  zweiten  Hebung,  so  dass  der  Vers  in  zwei  Hemistichien  zerfallt, 
von  denen  das  erste  männlich  oder  weiblich  schliessen,  das  zweite  mit  oder 
ohne  Anakruse  beginnen  kann.  Seit  dem  12.  Jahrh.  dui'ch  den  Alexandriner 
innner  mehr  verdrängt,  erhielt  er  sich  nur  in  der  Lyrik  in  etwas  raodificirter 
Form,  indem  die  Cäsur  nach  der  4.  Silbe  eintrat,  aber  den  Vers  nicht  mehr 
in  zwei  Hemistlche  theilte.  Wieder  modificirt  verbreitete  er  sich  nocli 
einmal  im  16.  Jahrhundert  als  vers  commun,  wurde  aber  dann  ganz  durch 
den  Alexandriner  beseitigt.  In  Deutschland  kommt  der  FünflÜssler  schon 
im  Anfang  des  13.  Jahrh.,  wenn  auch  nur  als  Schlussvers  der  Strophe  vor, 
hier  unabhängig  vom  französischen  Einfluss.  Dieser  Einfluss  zoiot  sich  aber 
im  16.  und  17.  Jahrb.,  die  Verse  sind  da  sämmtlich  gereimt  und  überwiegend 
in  Gedichten  strophischen  Baues.  Opitz  setzte  die  Cäsur  auf  die  4.  Silbe. 
Dies  Gesetz  halten  Faul  Flemming,  Andreas  Gryph,  Hoffmanns -Waldau, 
Lohenstein,  Haller,  Hagedorn  fest.  Reimlos  wandten  Pyra,  Lange,  Bodmer 
den  Vers  an.  —  Noch  früher  als  in  Deutschland  fand  der  altfranzösische 
Vers  in  Italien  Aufnahme  und  zwar  für  fast  alle  grösseren  Dichtungen;  hier 
haben  aber  die  Versauszüge  fast  durchgängig  die  weibliche  Form,  ferner 
wurde  die  Cäsur  nicht  mehr  an  einen  bestimmten  Fuss  gebunden,  endlich 
die  Erhöhung  einer  Senkung  in  allen  Füssen ,  namentlich  in  der  siebenten 
Silbe  zugelassen.  Diese  Freiheiten  benutzte  auch  die  englische  Literatur, 
die  den  Vers  zuerst  reimlos  gebrauchte,  die  vorherrschend  männlichen  Aus- 
gänge haben  ihren  Grund  im  Wesen  der  englischen  Sprache.  Den  Vers 
hat  Chaucer  eingeführt ,  der  seine  Stoffe  auch  aus  der  französischen  und 
italienischen  Literatur  entnahm.  Seitdem  war  der  jambische  Fünffüssler  der 
heroische  Vers  der  Engländer  und  wurde  auch  bald  für's  Drama  üblich,  so 
bestimmt  1562;  doch  besteht  schon  der  Ralph  Roystcr  Doyster  des  Nicolaus 
Udall  1552  zum  grössten  Theile  aus  diesen  Versen.  Das  Versmaass  erhielt 
später  auch  den  Namen  des  Miltonischen  und  wanderte  nun  in  die  deutsche 
Poesie  über.  Hier  besonders  in  der  Epopöe  bei  Bodmer,  Ewald  von  Kleist, 
Zacharias,  Haller,  Giseke;  hauptsächlich  ist  Zacharias  zu  nennen  in  dem 
„Cortes"  und  in  den  „Unterhaltungen  mit  seiner  Seele,"  der  das  Enjambe- 
ment mit  grosser  Eleganz  behandelt  und  durch  die  kühne  Brechung  des 
Rhythmus,  indem  grössere  Interpunctionen  in  der  Mitte  des  Verses  statt- 
finden, einen  lebendigen  Antagonismus  zwischen  Sinn  und  Rhythmus  erzeugt, 
durch  den  das  Versmaass  für  das  Drama  sehr  geeignet  wird.  Indess  war 
Klopstock's  Messias  Ursache,  dass  für  das  Epos  der  Hexameter  lange  den 
Vorzug  erhielt,  Andere  behielten  noch  den  Alexandriner  bei;  AVieland  ge- 
brauchte die  unregelmässige  Stanze.  Klopstock  sprach  sich  deshalb  gegen 
den  Fünff"üssler  aus,  weil  er  ihm  in  Bezug  auf  die  Messung  der  Silben  zu 
strenge  Gesetze  aufdrängen  wollte;  er  übersah,  dass  das  Gefühl  für  Quan- 
tität in  unserer  Sprache  bedeutend  abgenommen  hat,  dass  in  derselben  der 
Accent  maassgebend  geworden  ist.  —  Die  ältesten  deutschen  Dramen  sind 
in  dem  Verse  von  4  Hebungen  geschrieben;  doch  laufen  in  den  sog.  Reihen 
Fünff'ussler  mit  unter,  so  bei  Paul  Rebhuhn;  das  älteste  in  Fünffüsslern  ver- 
fasste  deutsche  Drama  ist  TirollTs  Uebersetzung  des  Pammachius  von  Tho- 
mas Naognory   1540.      Doch  blieb  der   vierfüssige  Jambus    bis  auf  Jacob 


Programmenschau.  199 

Ayrer  im  Gebrauch;  dann  kam  die  Prosaform,  dann  die  Alexandriner;  stel- 
lenweise kommen  neben  diesem  Fünffüssler  vor  bei  Andreas  Grj-ph  und 
Lohenstein.  Daneben  wechseln  in  den  Dramen  des  17.  und  18.  Jahrhun- 
derts jambische  Verse  von  zwei  bis  sechs  und  mehr  Hebungen;  viele  Fünf- 
füssler finden  sich  in  .1.  N.  König's  getreuer  Alceste  1719  und  Fredegunde 
1720,  in  Bressand's  Plejades  und  Hercules  1693,  im  Beständigen  Orpheus 
1684  u.  a.  Joh.  Elias  Schlegel,  dessen  eigene  Stücke  meist  in  gereimten 
Alexandrinern  abgefasst  sind,  übertrug  zuerst  ein  englisches  Stück,  Congreve's 
Braut  in  Trauer,  im  Versmaass  des  Originals  :  er  hinterhess  es  bei  seinem 
Tode  1749  unvollendet.  Sein  Bruder  aber  Joh.  Heinr.  Schlegel  verpflanzte 
das  enghscbe  Versmaass  mit  allen  Freiheiten  in  der  Uebersetzung  von 
Thomson's  Sophonisbe  lübS  auf  deutschen  Boden  und  übte  dadurch  den 
grössten  Einfluss,  denn  die  frühern  Versuche  Kronegks  in  seinem  Lust- 
spiel „Der  ehrliche  Mann,  der  sich  schämt  es  zu  sein"  (1756)  und  J.  W. 
von  ßrawe's  in  dem  Trauerspiel  „Brutus"  {1758)  wurden  bei  dem  frühen 
Tode  beider  Dichter  erst  später  bekannt.  J.  H.  Schlegel  stellte  zuerst  den 
Satz  auf,  dass  auch  ein  Vers  ohne  Cäsur  zulässig  sei.  1764  vollendete  er 
die  Uebersetzung  der  Trauerspiele  Thomson's  und  der  „Brüder"  Young's. 
Das  erste  Originalstück  in  Fünffüsslern,  welches  auf  die  Bühne  kam,  ist 
Wieland's  Jugenddichtuns  Johanna  Gray,  die  vor  1751  in  Zürich  aufgeführt 
wurde  und  nach  dem  Verf.  mit  Unrecht  von  Zarncke  als  Nachbildung  des 
gleichnamigen  Stückes  von  Nie.  Rowe  bezeichnet  wird.  Genauere  Prüfung 
fanden  die  Gesetze  'des  Fünffüsslers  durch  Meinhard's  (1763)  Bearbeitung 
der  geistvollen  Aesthetik  Home's  (elements  of  criticism).  1759  dichtete 
Gleim  Lessing's  Philotas  und  1766  Klopstock'sTod  Adam's  in  stumpfe  fünf- 
füssige  Jamben  um.  Noch  in  Leipzig  dichtete  Göthe  ein  Trauerspiel  Bel- 
sazar  in  demselben  Versmaasse,  welches  er  vor  seinem  Abgange  nach 
Strassburg  vernichtete.  Herder  in  den  Fragmenten  zur  deutschen  Literatur 
1768  empfiihl  aufs  wärmste  das  Miltonische  Versmaass  und  verwarf  den 
Alexandriner.  Am  einflussreichsten  aber  wurde  Lessing  durch  den  Nathan; 
seitdem  ist  der  jambische  Fünffüssler  in  seiner  reim.losen  Gestalt  der  herr- 
schende Vers  im  deutschen  Drama.  Das  Lustspiel  blieb  dagegen  mehr  bei 
der  Prosa.  Mit  Recht  beklagt  es  schliesslich  der  Vf ,  dass  Platen's  gross- 
artiges Bestreben,  die  Aristophanische  Komödie  mit  dem  Zauber  ihrer 
Rhythmen  einzuführen,  keine  Nachahmer  gefunden  hat. 


Eeimbrecliung   und   Dreireim   im  Drama   des  Hans  Sachs    und 

anderer    gleichzeitiger    Dramatiker.      Vom    Oberlehrer  Dr. 

Rachel.    "Programm  des  Gymnasiums  zu  Freiberg.     1870. 

30  S.     4. 

Göthe  hat  das  Verdienst,    Hans  Sachs   wieder  aus  dem  Dunkel  hervor- 

gezoo-en  zu  haben,  Gervinus,  von  seiner  Persönlichkeit  und  Wirksamkeit  ein 

treffendes  Bild   zu   geben.      Noch    aber    bleibt    vieles    zu   seiner   genaueren 

Erkenntniss  übrig.     Vorliegende  Abhandlung   ist  dazu  ein  werthvoUer  Bei- 

^'Mehr  als  alle  seine  Vorgänger,  auch  als  seine  Nachfolger,  leistete 
Hans  Sachs  im  Fastnachtsspieh  Er  ging  aber  weiter  und  benutzte  alle  die 
Stoffe,  die  bisher  nur  für  die  Erzählung  verwerthet  waren,  auch  für  das 
Drama  Aber  auch  in  Bezug  auf  die  Form,  auf  Sprache  und  Vers  zeigt  er 
sich  als  einen  denkenden  Kopf  Die  Versart  seiner  Dramen  sind  die  vier- 
mal gehobenen  Reimpaare,  bei  denen  die  stumpf  gebundenen  acht,  die  klin- 
genden neun  Silben  zählen,  wie  bei  den  Meistersängern;  bei  gleitenden  Rei- 
men  zählt  der  Vers  zehn  Silben.     Andere  Dichter  jener  Zeit,  z.  B.  Paul 


200  Programmenschau. 

Rebhuhn,  meinen,  der  dramatische  Vers  müsse  immer  stumpf  auslaufen  und 
erlauben  sich  daher  ungebührliche  Zusammenziehungen  am  Schluss,  andere 
zählen  auch  bei  klingenden  Versen  nur  acht  Silben.  Die  Reimkunst  jener 
Zeit  war  nicht  scrupulös,  um  Reimwörter  zu  gewinnen,  verändert  auch  Hans 
Sachs  den  Vocal  durch  provinzielle  Formen,  er  reimt  darvon  und  Ehmonn 
(Ehemann),  Rom  und  Nom  (Name),  dran  und  darvan  (davon),  Sön  und 
kön  (kühn).  P.  Rebhuhn  ist  noch  freier  und  bedient  sich  der  Assonanz 
statt  des  Reims,  z.  ß.  klagen  und  haben,  leben  und  pflegen,  boden  und 
oben,  trage  und  aufgelade.  Den  Zwang  des  Reimpaares  zu  vermeiden,  schal- 
tete Hans  Sachs  öfters  kurze  Ausrufungen  ein,  ohne  sie  metrisch  mit  den 
übrigen  Reden  zu  verbinden,  so  namentlich  in  der  Komödie  Henno.  An 
anderen  Stellen  lässt  er  diese  Einschaltungen  selbst  sich  auf  einander  rei- 
men; ja  das  natiirliche  Gefühl  für  den  Reim  zwingt  ihn  dazu,  paarweise 
auftretende  untergeordnete  Figuren,  im  Stück  oft  gar  nicht  genannt,  im 
Personenverzeichniss  am  Ende  mit  gereimten  Namen  aufzuführen.  Wo  aber 
jede  Person  ihr  Reimpaar  spricht,  entsteht  oft  eine  tödtliche  Einförmig- 
keit; das  ist  der  Fall  in  des  Dichters  erstem  Stück,  dem  Hoflgesindt  Ve- 
neris  1517;  ein  Fortschritt  zeigt  sich  schon  im  nächsten  Drama  „von  der 
Eygenschafft  der  Lieb,"  wo  das  letzte  Reimpaar  zwischen  zwei  der  Reden- 
den getheilt  ist.  Dies  sog.  Reirabrechen ,  wodurch  erst  der  vorangehende 
Gedanke  auch  formell  mit  dem  nachfolgenden  verbunden  wird ,  findet  sich 
schon  bei  Wolfram  von  Eschenbach,  am  genauesten  aber  bei  Konrad  von 
Würzburg.  Auch  das  Drama  konnte  diesen  Gebrauch  nicht  verschmähen, 
der  lebendiger  entwickelte  Dialog  führte  darauf.  So  findet  er  sich  zahlreich 
in  Keller's  Fastnachtsspielen  des  15.  Jahrhunderts,  die  aber  nicht  alle  von 
Hans  Folz  sind,  bezüglich  dessen  die  aufgestellte  Behauptung,  dass  er  sich 
durchgehends  dieses  Kunstmittels  bedient  habe,  irrig  ist.  Hat  er  sie  ange- 
wandt, so  bemerkt  er  es  ausdrücklich.  In  einem  niederdeutschen  Stücke 
N.  113,  das  vielleicht  in's  16.  Jahrhundert  gehört,  ist  die  Bindung  voll- 
ständig durchgeführt,  es  ist  ein  Reimpaar  getheilt  oder  es  finden  sich  an 
der  Binduugsstelle  drei  gleiche  Reime  zusammen.  Sonst  aber  kommt  fast 
bei  keinem  der  Dramatiker  vor  Hans  Sachs  dies  Bindungsgesetz  vor,  nicht 
bei  Pamphilus  Gengenbach,  noch  bei  Nicolaus  Manuel;  sein  Vorgänger  war 
sein  Landsmann  Hans  Folz ;  aber  was  dieser  planlos  und  unregelmässig  an- 
gewandt, hat  Hans  Sachs  mit  Bewusstsein  durchgeführt.  Die  Bindung 
durch  Reimtheilung  wird  nur  unterbrochen  beim  Auftreten  und  Abgehen 
der  handelnden  Personen.  Nicht  angewendet  ist  sie  z.  B.  in  der  Comödie, 
dass  Christus  der  wahre  iVIessias  sei  1530,  weil  dies  eigentlich  kein  drama- 
tischer Dialog,  sondern  ein  auf  unnatürliche  Weise  dramatisirter  lehrhafter 
Stoff,  gleichsam  ein  Zeugenverhör  ist.  Aehnlich  in  der  Tragödie:  Der 
Caron  mit  den  abgeschiedenen  Geistern,  nach  Lucian  bearbeitet,  in  allen 
Uebertragungen,  den  Eunuchus  ausgenommen,  in  denen  er  sich  nicht  frei 
bewegt,  wie  im  Henno,  Pluto,  Menaechmi.  Am  regelmässigsten  ist  die  Bin- 
dung in  den  Fastnachtsspielen,  worin  es  ihm  kein  Andrer  gleich  thut,  ganz 
ähnlich  nur  das  niederdeutsche  Stück  Nr.  114  in  der  Kellerschen  Sammlung. 
Wie  nun  der  Bindung  durch  den  Reim  gegenüber  ein  volles  Reimpaar  auf- 
fäüig  Auftreten  oder  Abgehen  einer  Person,  eine  Pause  bezeichnete,  somusste 
der  grössere  Abschnitt,  der  Aktschluss,  noch  schärfer  markirt  werden.  Das  that 
Hans  Sachs  zuerst  durch  den  Dreireim.  So  schliesst  jeder  Akt,  auch  der 
Prolog.  In  den  einaktigen  Stücken,  also  besonders  in  den  Fastnachtsspie- 
len, fehlt  dagegen  der  Dreireim  fast  gänzlich,  auch  am  Schluss,  den  in  der 
Regel  Hans  Sachs  mit  seinem  Namen  zeichnet,  da  man  das  Reimwort  der 
letzten  Zeile  gibt.  Von  den  Dramatikern  dieser  Zeit  kennen  nur  zwei  den 
Dreireim  als  Abschluss  des  Aktes,  der  Augsburger  Meistersinger  Sebastian 
Wild  und  Jacob  Ayrer,  beide  von  jenem  abhängig.  Der  letztere  hat  das 
Bindungsgesetz  noch  regelmässiger  als  Hans  Sachs  durchgeführt,  weil  er  alle 
seine  Stücke  für  die  Auffuhrung  schrieb,  auch  hat  er  durchaus  den  Dreireim 


Programmenschau.  201 

beim  Aktschluss  verwendet,  doch  nicht  regelmässig  im  Prolog  und  Besclilnss. 
Der  Dreireim  zur  Hervorhebung  grösserer  Abschnitte  findet  sich  schon  im 
13.  Jahrh.  mehrfach  in  Gedichten,  z.  B.  in  Wiret  von  Gravenberg's  Wiga- 
lois,  auch  schon  früher  im  Drama,  mitten  im  Text  ohne  Zweck,  wo  er  aber 
nur  als  Verirrung  anzusehen  ist,  z.  B.  auch  in  Hnns  Sachs'  Fastnachtsspiel 
„Der  farendt  Schüler  im  Paradeiss,"  in  Petrus  Meckel's  schön  Gesprech, 
darin  der  Sathan  u.  s.  w,"  vielfach  bei  Pamphilus  Genzenbach  im  „Noll- 
hard"  und  in  der  Gouchmat.  —  Fanden  wir  nun  die  Keimbrechung,  so  wie 
den  Dreireim  in  älterer  Poesie  schon  vor,  so  ist  wohl  anzunehmen,  dass  sie 
durch  den  Meistergesang,  der  ja  die  alten  Traditionen  pflegte,  fortgepflanzt 
waren,  die  Dramatiker,  welche  beide  Gesetze  beobachten,  sind  aus  den 
Meistersingern  hervorgegangen.  In  neuerer  Zeit  hat  Schiller  den  Reim  in 
Wallenstein's  Lager  mit  Glück  verwendet.  Schon  das  Metrum,  das  viermal 
gehobene  Reimpaar,  erinnert  trotz  einzelner  Abweichungen  an  das  alte 
Drama.  Ganz  ähnlich  wie  bei  Hans  Sachs  dient  die  Benutzung  des  Reims 
zur  Verknüpfung  der  Reden,  so  die  einfache  Theilung  des  Reimpaares  in 
Sc.  1,  die  Anknüpfung  an  das  schliessende  Reimpaar  der  voraufgehenden 
Rede  durch  einen  dritten  Reim  in  Sc.  11  (Wachtmeister  und  Dragoner), 
Anschluss  eines  vollen  Reimpaares  an  eine  einzelne  Reimzeile  der  folgen- 
dnn  Rede  Sc.  11  (1.  Arkebusier  und  1.  Kürassier)  oder  Verschlingung  der 
Reime  Sc.  6  (Wachtmeister  und  1.  Jäger).  Eben  in  dieser  Verknüpfung 
beruht  die  Lebendigkeit  und  Einheit. 


Der  deutsche  Michel.     Vom  Oberl.  Dr.  AI.  Muncke.     Programm 


des  Gymnasiums  zu  Gütersloh.     1870. 


S3' 


Der  deutsche  Michel  spielt  nicht  blos  in  unserer  Culturge&chichte,  son- 
dern auch  in  unserer  Literatur,  wir  brauchen  nur  an  Göthe's  Musen  und 
Grazien  in  der  Mark  zu  denken,  eine  Rolle,  so  dass  es  passend  erscheint, 
auch  im  .Archiv  auf  die  eingehende  Behandlung  des  Gegenstandes  aufmerk- 
sam zu  machen.  In  der  Göthe'schen  Zeit  lächelte  man  über  den  unpoliti- 
schen Michel,  das  Abbild  des  eigenen  Volkes,  aber  später,  als  der  National- 
geist erwacht  war,  ärgerte  man  sich  über  sich  selbst  und  ging  mit  Spott 
und  Bitterkeit  dem  Michel  zu  Leibe.  Im  17.  Jahrhundert  heisst  der  tapfere, 
kühne  Reiteranführer  im  SOjährigen  Kriege  Hans  Michel  Elias  von  Oben- 
traut der  deutsche  Michel,  da  war  also  der  Name  ein  Ehrenname,  gleich- 
zeitig aber  und  noch  früher  bezeichnet  dasselbs  Wort  einen  biedern,  aber 
unbeholfenen  und  beschränkten  Menschen.  Unser  Michel  aber  stammt  von 
dem  alten  Schutzpatron  Deutschlands,  dem  Erzengel  Michael.  Der  Michael 
der  Bibel  ist  Hüter  und  Vorkämpfer  des  Volkes  und  der  Sache  Gottes 
gegenüber  den  infernalischen  Mächten.  Im  5.  Jahrhundert  wird  zuerst  die 
Verehrung  des  Erzengels  in  der  abendländischen  Kirche  erwähnt  Seit  der- 
selbe in  Rom  am  Mausoleum  Hadrians  am  29.  Sept.  zur  Abwehr  der  Pest 
erschienen  war,  heisst  jenes  Denkmal  die  Engelsburg  und  wurde  von  da  an 
am  29.  Sept.  ein  Michaelisfest  gefeiert,  welches  sich  zu  einem  Engelfest 
verallgemeinerte.  Aus  Carls  d.  Gr.  Zeit  haben  wir  lat.  Hymnen  auf  Michael. 
Wallfahrten ,  namentlich  aus  Deutschland ,  wurden  zu  fernen  Stätten  des 
Michaelcults,  nach  Italien  und  Frankreich,  gemacht.  Der  Michael  des  Mit- 
telalters ist  schon  ein  ganz  anderer  als  der  biblische.  Das  kam  daher,  weil 
auf  ihn  viele  charakteristische  Züge  des  höchsten  heidnischen  Gottes,  des 
Wuotan,  übertragen  sind.  Wuotan  ist  der  Schlachten-  und  Siegesgott,  so 
berührt  er  sich  mit  dem  streitbaren  Erzengel,  der  nun  als  Kriegsengel  er- 
scheint, reitend,  mit  geschwungenem  Schwert ;  so  ist  sein  Bild  auf  des 
Reiches  Sturmfahne.  Wie  Wuotan,  ist  auch  Michael  Führer  der  Seelen  der 
Abgeschiedenen.    Der  Michaelistag,  der  29.  Sept.,  war  die  Zeit  des  altger- 


202  Programmenschau, 

manischen  Neujahrs,  um  welche  Zeit  Wuotan  als  Schutzgott  des  neuen  Jah- 
res seinen  Einzug  in's  Land  hielt.  Opferfeste  wurden  dann  gefeiert,  und 
diese  Laben  sich  noch  hier  und  da  als  Volksfeste  erhalten. 


Bemerkungen  zu  Shakespeare's  Julius  Caesar.  Vom  Oberl.  Dr. 
Wiarda.  Programm  des  Gymnasiums  zu  Emden.  1870. 
25  S.     4. 

Der  Vf.  neigt  sich  in  seiner  Betrachtung  der  Shakespeare'schen  Dramen 
dem  Standpunkte  Rünielin's  zu.  Er  hat  auch,  ohne  die  wunderbare  Schön- 
heit des  Gedichtes  zu  verkennen,  für  den  Julius  Caesar  hervorzuheben, 
dass  manches  sich  nur  als  schwach  motiviert  herausstelle  und  dass  der  Dich- 
ter bei  seinem  Schaffen  vor  Allem  auf  die  scenische  Darstellung  sein  Augen- 
merk gerichtet  habe,  dass  die  Geschöpfe  seines  Genies  zum  echten  wahren 
Leben  erst  auf  der  Bühne  und  im  Spiele  eines  grossen  Künstlers  erwachen. 
Indessen  lassen  sich  gegen  manche  Einwürfe,  die  in  Bezug  auf  ]VIoti\'irung 
und  selbst  Charakteristik  erhoben  worden,  Einwendungen  machen.  Der  Vf. 
sieht  öfters  da  eine  Flüchtigkeit,  wo  der  Dichter  nicht  vollständig  seine 
Quellen  abschreibt  und  die  Motivirung,  welche  jene  bieten,  nicht  angibt. 
Es  ist  ihm  auflallend,  dass  von  den  Republikanern  so  wenig  Anstalten  ge- 
troffen sind  gegen  einen  Widerstand  der  imperialistischen  Partei  oder  gegen 
einen  Auflauf  der  vielen  Veteranen,  die  sich  in  Rom  befanden.  Dieser 
Mangel  liegt  aber  doch  wohl  in  dem  idealistischen  Charakter  derselben, 
die  ja  überhaupt  die  vielen  Verhältnisse  zu  wenig  erwägen,  nur  ihrer  Idee 
nachgehen,  und  zwar  nicht  blos  Brutus,  sondern  auch  Cassius.  Der  Vf.  be- 
wundert mit  Jedermann  die  "Windungen,  durch  welche  Antonius  sich  durch 
das  Labyrinth  der  Situation  hindurchwindet,  er  findet  es  aber  auffallend, 
dass  dem  Brutus  in  seiner  Unterredung  mit  Antonius  gar  kein  Zweifel 
kommt,  ob  dessen  schönen  Worten  die  wirkliche  herzliche  Ueberzeu^ung 
von  der  Gerechtigkeit  der  That  zu  Grunde  liege,  ehe  dafür  die  Gründe 
entwickelt  sind.  Aber  eben  darum  kommt  dem  Brutus  kein  Zweifel,  weil 
ihm  selbst  diese  Gerechtigkeit  so  unzweifelhaft  ist,  er  auch  bei  anderen 
ehrlichen  Leuten,  und  dazu  gehört  ihm  doch  Antonius,  dieselbe  Ansicht  als 
eine  sich  leicht  ergebende  voraussetzen  muss.  Dass  nachher  der  Streit 
in  Sardes  zwischen  Brutus  und  Cassius  so  rasch  endet,  dazu  müssen  wir 
wohl  den  Grund  in  Brutus  weichem  Gemüth  suchen.  Der  Vf  hätte  das 
Drama  lieber  „Caesars  Tod"  betitelt;  da  erschien  der  Dictator  doch  zu  pas- 
siv; seine  historische  Grösse  war  nicht  zu  begründen,  die  Begründung  liegt 
vor  dem  Dr.ama;  im  Drama  wirkt  er  doch,  so  wenig  er  sich  auch  bewegt, 
nach  allen  Seiten  auf  alle  Geniüther,  und  sein  Geist  d.  h.  seine  Gedanken 
sind  fortdauernd  mächtig  auch  im  zweiten  Theile.  Das  aber  ist  richtig, 
dass  die  Hauptperson  des  Gedichtes  Antonius  ist.  Brutus  ist  trotz  des 
Lobes,  welches  ihm  aus  feindlichem  Munde  zu  Theil  wird,  nicht  der  echte 
Römer.  Trotz  einzelner  Ausstellungen  kann  aber  der  Vf.  nicht  genug  die 
Fülle  der  Schönheiten  unseres  Gedichtes  loben;  die  Begeisterung,  mit  der 
er  darüber  spricht,  widerlegt  genug  die  Meinung,  wir  hätten  es  hier  nur 
mit  einem  kalten  Kritiker  zu  thun;  die  Vereinigung  des  poetischen  Gefühls 
und  besonnener  Prüfung  macht  die  Arbeit  zu  einem  würdigen  Gegenstande 
genauerer  Beschäftigung, 


Programmenschau.  203 

Bild  und  Gleichniss  in  ihrer  Bedeutung  für  Lessing's  Stil. 
Von  Dr.  Cosack.  Programm  der  Realschule  I.  O.  zu 
Danzig.     1869.     16  S.     4. 

Das  Treffende  der  Schreibweise  Lessing's,  sagt  mit  Recht  der  Vf.,  ist 
auf  den  lautern  Quell  des  Ganz-Verstehens  und  Ganz-Wissens  zurückzu- 
führen; daraus  schöpfte  er  das  jedesmal  dem  Begriffe  ganz  entsprechende 
Wort.  Daher  seine  Kraft  ausdrücke  und  der  vielfache  Gebrauch  der  Sprich- 
wörter. Aber  Bild  und  Gleichniss  ziehen  sich  dergestalt  durch  Lessing's 
Prosa  hin,  dass  sie  nicht  etwa  einen  möglicher  Weise  auch  überflüssigen 
Zierrath  bilden,  sondern  dass  sie  derselben  ihr  eigentliches  Gepräge  zu 
geben  bestimmt  sind.  Diese  Bilder  und  Gleichnisse  hat  der  Vf.  nun  sämmt- 
lich  aufgesucht  und  ein  Inhaltsverzeichniss  nach  den  Bänden  gegeben.  Am 
liebsten  und  häufigsten  gebraucht  Lessing  das  Bild  in  seinen  polemischen 
Schriften,  und  es  entspricht  immer  dem  Charakter  der  Schrift,  immer  gibt 
es  die  Quintessenz  seiner  Gedanken  mit  überraschender  Aehnliclikeit.  Als 
er  sich  einmal  dem  Pastor  Göze  zu  Gefallen  auf  einem  Bogen  aller  Bilder 
sorgfältig  enthalten  hatte,  sah  er  es  selbst  für  eine  aussergewöhnliehe  Lei- 
stung an,  so  wenig  ist  ihm  das  Gleichniss  etwas  Nebensächliches.  Nicht 
der  Zufall,  nicht  ein  glückliches  Talent  bietet  ihm  diesen  BiMerreichthum, 
er  ist  die  Frucht  ernster  Arbeit,  seine  Prosa  hat  ihn  von  jeher  mehr  Zeit 
gekostet  als  seine  Poesie.  Sie  bilden  theils  den  Gipfel,  auf  den  er  lossteuert, 
theils  den  Ausgangspunkt,  bei  dem  er  dann  nachher  die  Beziehungen  her- 
vorhebt. Er  schafft  nicht  blos  eigene  Bilder,  er  entnimmt  Zweckentspre- 
chendes auch  aus  fremden  Quellen,  aber  gestaltet  es  zu  seinem  eigenen  Be- 
sitz um. 


Lessing's  Verhältniss  zu  Shakspeare.     Von  Dr.  L.  Rovenhagen. 
Programm  der  Realschule  I.  O.  zu  Aachen.    1870.  28  S.  4. 

In  Lessing's  Sarah  Sampson  haben,  wenn  auch  beschränkt,  die  Freiheiten 
der  englischen  Bühne  zuerst  Eingang  gefunden ,  ist  die  enge  Begi-enzung 
der  drei  Einheiten  aufgegeben.  In  der  Vorrede  zu  Tliomson's  Trauerspie- 
len stellt  er  die  Kunst  des  Dichtens,  die  Leidenschaften  vor  unseren  Augen 
sich  entwickeln  zu  lassen,  der  starren  äussernn  Schönheit  voran.  Er  fing 
an,  sich  mit  Shakespeare  eingehend  zu  beschäftigen  (vgl.  Brief  vom  28.  Juli 
1756").  In  Folge  davon  machte  er  sich  an  einen  nationalen  Stoff,  den  Dortor 
Faust.  In  dem  17.  Literaturbriefe  (\7f>9)  verwirft  er  entschieden  die  geist- 
lose Nachahmung  der  Franzosen  und  erkennt  Shakespeare  und  die  Noth  wen- 
digkeit des  Natürlichen  im  Drama  an.  Die  concise  klare  Prosa  in  Philotas 
ist  Folge  der  Einwirkung  des  englischen  Dramas.  Vielfache  Einwirkungen 
Shakespeare's  zeigen  sich  auch  in  INIinna  von  Barnhelm.  In  der  Dramaturgie 
zieht  L.  Sh.  immer  nur  zum  Vergleich  heran,  aber  gebraucht  ihn  als  Maass- 
stab,  woran  die  anderen  Dichter  gemessen  werden.  In  der  Naturwahrheit, 
in  der  Kunst  der  Charakterzeichnung,  in  der  Sprache,  in  der  Bühnenkennt- 
niss  zeigt  L.  in  seinen  eigenen  Dramen  den  Einfluss  Shakespeare's.  Die  Ge- 
gensätze des  Tragischen  und  Komischen  in  demselben  Drama  vereinigt 
treffen  wir  bei  L.  nicht  an ,  wie  bei  Sh.,  aber  die  Einwürfe,  die  man  gegen 
diese  Weise  Shakespeare's  gemacht,  hat  er  gut  widerlefrt.  Er  beweist, 
dass  Sh.,  wenn  auch  unbekannt  mit  Aristoteles,  doch  mit  ihm  mehr  überein- 
stimme als  die  Franzosen,  welche  sich  immer  auf  ihn  beriefen.  In  Emilia 
Galotti  zeigt  sich  in  der  Anlage  und  in  den  Charakteren,  auch  darin,  dass 
das  Gedicht  in  die  Reihe  der  grossen  Stnatsactionen  eintritt,  der  Einfluss 
Shakespeare's,  während  er  zugleich  an  den  Regeln  der  Alten  festhält  und  die 
Einheit  der  Zeit  nicht  aufgibt. 


204  Programmenschau. 

Lessing   als    Lustspieldichter.      Von  Franz  Graul.     Programm 
des  Gymnasiums  zu  Soest.     1869.     31  S.     4. 

Der  Vf.  bespricht  sämmtliche  Lustspiele  des  Dichters,  über  einige  der 
Jupendgedichte  mit  den  Ansichten ,  die  vor  langen  Jahren  Ref.  ausgespro- 
chen hat,  übereinstimmend,  bezüglich  anderer  abweichend.  Seit  Ref.  sich 
über  Lessing  hat  vernehmen  lassen,  sind  die  bedeutenden  Arbeiten  von 
Danzel,  Guhrauer,  Stahr,  Koberstein,  Hettner  erschienen,  so  dass  alles  wie- 
derum zu  besprechen  zu  viel  Raum  beanspruchen  würde.  Zu  seiner  mit 
Liebe  zu  Lessing  geschriebenen  Arbeit  will  Ref.  dem  Verf.  nur  einige  kleine 
Beiträge  geben,  die  vielleicht  interessant  für  ihn  sind.  Lessing's  Juden 
hatten  1781  die  Ehre,  von  Ebert  übersetzt  zu  werden:  Les  Juifs,  comedie 
en  un  acte  par  Lessing,  traduite  de  l'allemand  par  J.  H.  E.,  nach  der  Allg. 
deutschen  Bibl.  Anhangr  zum  37 — 52.  Bd.  S.  368  etc.  ist  die  Uebersetzung 
schlecht.  Lessing's  Freigeist  wurde  noch  1766  in  Berlin  mit  vielem  Beifall 
aufgeführt,  vgl.  Mendelsohn  an  Abbt  in  Abbt's  freundschaftlicher  Corre- 
spondenz  1771,  S.  396,  und  eine  neue  Bearbeitung  des  Gedichts  besitzen 
wir  von  F.  W.  Gubitz,  1865.  lieber  den  Schatz  handelt  ein  besonderes 
Programm  von  Theodor  Lazar:  DerTrinummus  des  Plautus  und  seine  Nach- 
bildung durch  Lessing.  Znaim  1865;  ferner:  Eug.  Sierki :  Lessing  als  an- 
gehender Dramatiker,  geschildert  nach  einer  Vergleichung  seines  Schatzes 
mit  dem  Trinummus  des  Plautus,  eine  ästhetisch-literarhistorische  Abhand- 
lung. Königsberg  1869.  In's  Französische  übersetzt  erschien  der  Schatz 
mit  Sarah  Sampson,  dem  Freigeist,  dem  Juden  im  Theätre  allemand  par 
Junker  et  Liebault.  T.  L  IL  Paris  1772.  Zu  vergleichen  ist  auch,  was 
VoUbehr  de  Trinummo  fabula  Plautina.  Programm.  Rendsburg  1861,  p.  16. 
über  Vorzüge  und  Schwächen  des  Schatzes  urtheilt,  und  nicht  uninteressant 
die  Notiz,  dass  in  Königsberg  der  Schatz  zuerst  1755  auf  dem  Ackermann- 
schen  Theater  aufgeführt  wurde  und  deshalb  Novbr.  1855  noch  eine  Wie- 
derholung dort  stattfand,  vgl.  Nationalzeitung  9.  Decbr.  1855  Nr.  576.  — 
Schliesslich  spricht  der  Verf.  noch  kurz  von  Minna  von  Barnhelm.  Da  er 
einmal  Göthe's  Urtheile  erwähnt,  hätte  er  namentlich  die  ältesten  Urtheile 
nicht  übergehen  sollen,  s.  den  Brief  von  1768  in  Göthe's  Briefen  an  Leip- 
ziger Freunde,  S.  74,  75,  152;  anziehend  ist  auch  aus  1770  Herder's  Pane- 
gyricus  in  den  Briefen  an  seine  Braut,  s.  Herder's  Lebensbild  HL  I,  135  bis 
137;  aus  1771  ist  auch  auf  Ramier's  wackeres  Wort  zu  verweisen,  in  dem 
Briefe  an  Knebel  (s.  Knebel's  Nacblass  II,  33).  Von  den  Uebersetzungen 
der  Minna  erwähnt  der  Vf.  S.  28  mehrere;  die  italienische  wurde  nicht  zu- 
erst 1791  in  Neapel  aufgeführt,  sondern  1790  sah  sie  dort  F.  L.  W.Meyer, 
vgl.  Zur  Erinnerung  an  Meyer  I,  295.  Eine  französische  erschien  zu  Berlin 
1772,  vgl.  Allg.  deutsche  Bibl.  23,  249.  Irrthümlich  sind  die  Angaben  S.  27. 
Vollendet  ist  die  Minna  erst  1765.  Die  erste  Aufführung  war  in  Hamburg 
28.  Sept.  1767  (nicht  68),  vgl.  den  interessanten  Bericht  in  Schütz,  Flam- 
burger  Theatergesch.  S.  372,  344,  347.  Die  erste  Aufführung  in  Berlin  war 
1768  und  zwar  21.  März,  die  Jubelaufführung  21.  März  1868,  bis  dahin  in 
Berlin  168  mal  aufgeführt,  vgl.  die  Beschreibung  in  der  Beilage  des  Preuss. 
Staatsanzeigers  1868.  Nr.  76.  Die  neueren  Schriften  über  Minna  sind  all- 
gemein bekannt. 


Göthe's  Stellung  zu  den  Naturwissenschaften.  I.  Theil.  Von 
Dr.  Eduard  Krüger.  Programm  des  Gymnasiums  zu  Ma- 
rienwerder.    1869. 

Dasselbe   Thema  behandelte    ausser    Virchow's   bekannter  Schrift    der 
allerdings  sehr  unvollständige  Aufsatz  von  A.  Clemens  im  Morgenblatt  1847, 


Programmenschau.  205 

Xr.  34.  35,  Oscar  Schmidt,  Göthe's  Verhältniss  zu  den  organischen  Natur- 
wissenschaften. Berlin,  1853,  Helmholtz  in  der  AUgem.  Monatsschr.  f. 
Wissenschaft  und  Literatur.  Mai  1853,  Ü.  Schade  in  der  Vorrede  zu  den 
Briefen  des  Grossh.  Carl  August's  und  Göthe's  an  Döbereiner;  —  aber  mit 
allen  genannten  Aufsätzen  kann  an  GründHchkeit  die  vorliegende  sich  in 
einen  Rangstreit  dreist  einlassen;  auf  alle  Momente  eingehend,  zeigt  sie  ge- 
nau, was  auf  Göthe's  Stellung  zu  den  Naturwissenschaften  einwirkte  und 
wie  diese  sich  in  den  besonderen  Lebensverhältnissen  gestalteten.  In  dem 
ersten,  allgemeinen  Theile  bespricht  der  Verf  Göthe's  Vorbereitung  für  die 
Naturforschung.  Seine  Naturanlage  eignete  Götbe  vorzüglich  zur  Naturfor- 
schung: seine  scharfen  Sinne,  seine  Körperkraft,  EmpfängHchkeit  für  Siu- 
neseindrücke,  Neigung  die  verschiedensten  Erscheinungen  in  Zusammenhang 
zu  bringen,  seine  Phantasie  und  Combinationsgabe.  Dazu  kam  die  bewegte 
Umgebung,  der  vielseitige  Unterricht,  die  frühen  Zeichenübungen,  Verkehr 
mit  Handwerkern,  häutiger  Aufenthalt  in  freier  Natur,  Excursionen  und 
Reisen.  Auf  der  Reise  nach  Leipzig  sieht  er  ein  eig»  nthümliehes  Natur- 
phänomen, dessen  genauere  Betrachtung  den  denkenden  Naturforscher  ver- 
räth.  In  Leipzig  wird  er  durch  Hofrath  Ludwig  zuerst  in  die  scbulgerechte 
Naturbetracbtung  hineingeführt.  Auf  seinen  btreifereien  wird  er  auf  das 
Kleinleben  der  Natur  aufmerksam,  der  Besuch  der  Dresdener  Bildergallerio 
war  von  Einfluss  auf  sein  künstlerisches  Anschauen,  nicht  die  Antiken  reizten 
ihn,  sondern  die  Landschaftsgemälde;  er  wollte  immer  unmittelbar  an  der 
Natur  arbeiten.  Zurückgekehrt  wird  er  von  der  einseitigen  Betrachtung  der 
Gestalt  durch  Fräulein  von  Klettenberg  eiuigermaasssen  abgezogen;  er  macht 
chemische  Versuche,  aber  ohne  Methode.  Bald  wurde  die  Gestalt  wieder 
immer  wichtiger  für  ihn.  Strassburg  regte  seinen  Künstlersinn  von  neuem 
an;  an  dem  Münster  begann  er  die  Gestalt  in  ihren  Einzelheiten  zu  be- 
greifen, auf  seinen  Excursionen  achtet  er  auf  die  Bodenverhältnisse  und  den 
Lauf  der  Wasser;  sein  Umgang  führte  ihn  zu  medicinischen  Beschäftigun- 
gen; aber  er  benutzte  sie  mehr  dazu,  um  sich  selbst  von  aller  Apprehension 
gegen  widerwärtige  Dinge  zu  befreien.  Seine  naturhistorischen  Studien 
waren  lückenhaft,  aber  sie  dienten  doch  dazu,  seinen  auf  lebendiges  Wissen 
und  Erfahren  gerichteten  Sinn  zu  stärken.  Nach  Frankfurt  zurückgekehrt, 
wird  er  durch  seine  Stimmung  und  seinen  Umgang  zu  einer  krankhaft  sen- 
timentalen Naturanschauung  geführt  (vgl.  das  Gedicht :  Der  W^ anderer),  diese 
Richtung  erhält  reiche  Nahrung  durch  das  bewegte  Gefühlsleben  in  Wetzlar; 
aber  eben  durch  den  Werther  macht  er  sich  davon  los.  Heitere  Naturbilder 
machen  wieder  sein  grösstes  Glück  aus ;  die  Rheinreise  mit  Merck  führt  sei- 
nen Blick  wieder  auf  die  Kunstbeschauung.  Er  studiert  die  Werke  der 
Niederländer,  wendet  sich  zur  Oelmalerei;  durch  Lavater  erhält  die  Betrach- 
tung der  Gestalten  neue  Bedeutsamkeit.  Der  Umgang  mit  Fritz  Jacobi 
und  das  Studium  Spinoza's  zog  ihn  zu  philosophischer  Betrachtung  der 
Natur,  aber  die  Liebe  zu  Lili  rasch  wieder  zu  halb  lebenslustigem  halb 
künstlerischem  Naturgenuss.  Der  lyrischen  Stimmung  wirkte  heilsam  die 
Schweizer  Reise  entgegen  und  der  Verkehr  mit  Lavater;  aber  dass  der 
Naturerkenntniss  erst  Naturkeuntniss  vorausgehen  müsse,  kam  Göthe  noch 
nicht  zur  vollen  Klarheit.  Er  suchte  überall  nach  einem  Leitfaden.  Wo  er 
das  Ganze  aus  der  genauesten  Erkenntniss  des  Einzelnen  zu  begreifen 
suchte,  seine  Methode  die  genetische  war,  ist  er  auch  als  Naturforscher  be- 
deutend; wo  aber  diese  Methode  sich  seinem  Schauen  nicht  selbst  darbot, 
wie  bei  der  Behandlung  physikalischer  Fragen,  irrt  er. 

So  wendet  sich  der  Verf.  nun  im  2.  Abschnitt  zu  Göthe's  Forschungen 
in  der  organischen  Natur.  In  Weimar  nahm  er  seine  naturhistorischen 
Studien  wieder  auf,  die  osteologischen  und  zoologischen  Sammlungen  inter- 
essiren  ihn,  unter  Loder  beschäftigt  er  sich  wieder  viel  mit  Anatomie.  Die 
naturhistorischen  Schriften  Göthe's,  soweit  sie  die  organische  Natur  behan- 
deln, theilt  der  Verf.  in  drei  Classen:  1)  solche,   in  denen  G.  die  Resultate 


206  Programmenschau. 

seiner  Forschungen  niedergelegt  hat,  besonders  seine  Metamorphose  der 
Pflanzen,  2)  in  denen  G.  die  Geschichte  seiner  Studien  erzählt;  3)  solche, 
ineist  aphoi'istisch ,  die  theils  die  Aufnahme  und  weitere  Entwicklung  von 
Göthe's  Ideen  bei  seinen  Zeitgenossen,  theils  die  fernere  Ausführung  seiner 
angebahnten  Untersuchungen  von  seiner  Seite  betreffen,  Dass  G.  mit  Un- 
recht ein  eifriger  Parteigänger  Darwin'scher  Theorien  genannt  sei,  weist  der 
Verf.  niioli ;  nur  eine  gewisse  Verwandtschaft  sei  unverkennbar.  Die  weitere 
Untersuchung  der  in  den  naturhistorischen  Schriften  niedergelegten  Sätze 
liegt  den  Zwecken  dieses  Archivs  ferner. 


Zu   Göthe's  Iphigenle.      Vom   Oberl.    Dr.   Köpke.      Programm 
des  Gymnasiums  zu  Charlotten  bürg.     1870. 

Der  Vf.  behandelt  die  Frage,  welche  besonders  O.  Jahn  In  seiner  be- 
kannten anziehenden  Schrift  berührt  hat,  nämhch  wo  und  aus  welchen  Grün- 
den Göthe  den  dem  Schauspiele  zu  Grunde  liegenden  Mythus  geändert  hat. 
Auch  er  kommt  in  der  eingehenden  Untersuchung  zu  dem  Ergebniss,  dass 
in  dem,  was  nebensächhch  war,  Göthe  die  Griechen  nachgeahmt  hat,  im 
Wesentlichen,  Charakteristischen  nicht,  dass  das  innere  Seelenleben  seiner 
Personen  modern  ist.  Wie  die  Anlage  des  Dramas  christlich  gedacht,  die 
Handlung  von  christlichen  Elementen  ganz  und  gar  durchzogen  ist,  so  sind 
auch  die  Charaktere  modern,  vor  Allem  Iphigenie,  was  sich  bei  ihr  nicht 
erst  bei  der  Katastrophe  zeigt,  sondern  schon  von  Anfrug  an;  keine  Gestalt 
der  Sage  ist  aher  unter  Göthe's  Hand  so  verändert  wie  der  König.  Und 
auch  alle  anderen  Verhältnisse  im  Drama,  auch  die  Motive  der  Thaten  in 
der  Vorfabel  sind  veredelt  durch  die  reine  menschliche  oder  besser  christ- 
liche Liebe,  das  wilde  Tantalidengeschlecht  trägt  nicht  mehr  das  Kainszeichen 
liebloser  Selbstsucht  und  roher  Rachgier,  ihre  schwersten  Thaten  erfüllen 
uns  nicht  sowohl  mit  Entsetzen  als  vielmehr  mit  innigem  Mitleid  für  die 
Unglücklichen,  welche  die  verletzte  Liebe  zu  ihrem  Thun  treibt.  Alle  diese 
Punkte  hat  der  Verf.  in  feiner  Weise  in  warmer  Darstellung  besprochen, 
die  Abhandlung  ist  als  ein  werthvoUer  Beitrag  zur  Götheliteratur  zu  bezeich- 
nen. Dieselben  Fragen,  die  hier  behandelt  sind,  hat  aber  nicht  bloss  Jahn 
berührt;  abgesehen  von  der  Schrift  Rinne's:  Göthe's  Iphigenie  und  das 
griechische  Alterthum  (1849),  die  allerdings  auffallende  Sätze  aufstellt,  sind 
dem  Kef.  noch  bekannt  das  Lingener  Programm  von  Reibstein,  zwei  Offen- 
burger Programme  von  Trunk  (1864  und  18G8),  zwei  Geraer  von  Meyer 
(1850  und  1852),  die  Schrift  von  Schwarz:  Die  Iphigeniensage  und  ihre  dra- 
matischen Bearbeitungen  (1869),  wozu  auch  noch  Zelter's  Bemerkungen  über 
den  antiken  Charakter  des  Gedichts  (Briefwechsel  mit  Göthe  IV,  141)  ver- 
glichen werden  können;  über  die  eigenthümliche  Darstellung  der  Furien,  die 
trotz  ihrer  Verinnerlichung  auch  bei  G.  noch  ihren  objektiven  Charakter  be- 
halten, ist  der  ausführliche  Aufsatz  von  Sievers  im  Archiv  sehr  lesenswerth. 


Ueber  Göthe's  Elpenor  und  Achilleus.  Vom  Dir.  Dr.  Fr. 
Strehlke.  Programm  des  Gymn.  zu  Marienburg.  1870. 
16  S.     4. 

Die  noch  immer  ziemlich  verbreitete  Meinung,  als  ob  Göthe  vor  seiner 
italienischen  Reise  dem  classischen  Alterthum  fern  gestanden  habe ,  wider- 
legt der  Verf.  auf's  bündigste  mit  brieflichen  Aeusserungen  Göthe's  und 
vielfachen  Arbeiten,  die   eine    sehr  genaue   und  fortdauernde  Beschäftigung 


Programmenschau.  207 

mit  dem  Alterthum  lange  vor  der  Versificirung  der  Iphigenie  beweisen. 
Indem  er  sich  dann  zu  dem  Elpenor  wendet,  in  dem  der  Dichter  einen  Stoß 
im  Sinne  des  Alterthiims  zu  behandehi  unternalim,  theilt  er  zunächst  sänuiit- 
liche  Stellen  aus  den  Briefwechseln  und  aus  Riemer's  Mittheilungen  mit, 
welche  über  das  Entstehen  des  Gedichts  handeln.  Er  gibt  nun  den  Inhalt 
des  Fragments  an,  und  bespricht  die  Versuche  der  Ausführung  des  Plans. 
Am  bekanntesten  ist  der  von  Viehofi  im  Archiv  1844,  121 — 126  aufgestellte, 
gegen  den  aber  von  anderen  Seiten  Einwendungen  gemacht  sind.  Gegen 
die  von  Biedermann  allerdings  mit  vielen  Gründen  behauptete  Ansicht,  als 
ob  Göthe  einer  chinesischen  Quelle  gefolgt  sei,  hat  er  das  gerechte  Beden- 
ken, es  müsste  irgendwo  eine  solche  Quelle  von  dem  Dichter  selbst  ange- 
deutet sein.  Alle  jene  Fortsetzungen  schienen  ihm  aber  mit  Recht  grossen 
Schwierigkeiten  zu  unterliegen;  keinen  Plan,  meint  er,  habe  Göthe  befolgen 
können,  und  was  er  auch  ursprünglich  im  Sinne  gehabt,  es  habe  ihm 
nachher  fehlerhaft  geschienen  und  deshalb  sei  der  Elpenor  als  Torso 
hinterlassen.  Die  alte  Vorliebe,  was  dem  Verf.  unbekannt  geblieben  zu 
sein  scheint,  scheint  Viehoft'  für  das  Fragment  bewahrt  zu  haben,  indem  er 
in  seiner  Verskunst  einen  Abschnitt  daraus  zu  metrischen  Uebungen  benutzt. 
Unter  ganz  anderen  Bedingungen  nahm  16  Jahre  später  Göthe  die  Achilleis 
vor,  zu  der  ihn  die  fortgesetzte  Beschäftigung  mit  Homer  führte;  die  Ge- 
schichte des  Gedichts  erläutert  er  wiederum  auf  das  sorgfältigste.  Er  kommt 
dann  zu  dem  Resultat,  dass  In  der  Achilleis  nicht  ein  verfehlter  Versuch 
vorliege,  sondern  vielmehr  ein  solcher,  zu  dessen  weiterer  Durchführung 
er  nicht  die  Kraft  in  sieb  gefühlt,  dass  Göthe  bald  zu  der  Ueberzeugung 
gekommen  sei,  auch  das  höchste  Ziel,  welches  er  auf  dem  eingeschlagenen 
Wege  erreichen  könnte,  stehe  weit  hinter  den  anderen  zurück,  welche  die  mo- 
derne Dichtung  zu  erstreben  habe.  Zum  Dank  für  die  anziehende  Abhand- 
lung erlaubt  ^ch  Ref.  den  Verf.  auf  eine ,  wie  es  scheint ,  Ihm  unbekannt 
gebliebene  treffliche  Schrift  aufmerksam  zu  machen,  des  Dr.  Klein  Ab- 
handlung über  die  Achilleis  im  Programm  des  Gymnasiums  zu  Emmerich, 
1850.     19  S.     4. 


Schiller  und  die  praktischen  Ideen.     Vom  Conrector  Dr.  Tepe. 
Programm  des  Gymnasiums  zu  Aurich.     1870.     24  S.  4  . 

Es  sind  die  praktischen  Ideen  der  Innern  Freiheit,  der  Vollkommenheit, 
des  Wohlwollens,  des  Rechts  und  der  Billigkeit,  wie  voll  warmer  Begeiste- 
rung für  den  edlen  Dichter  der  Verf.  sagt,  in  Schiller  von  früh  an  in  seinem 
Leben,  in  seinem  Empfinden,  in  seinem  Dichten  zur  Offenbarung  gekommen. 
Eben  deshalb  Ist  Schiller  der  Lieblingsdichter  seines  Volkes  geworden;  es 
liebt  seine  Werke  wegen  Ihres  Gehaltes,  den  es  auch  In  seinem  Innern  ent- 
deckt, wegen  ihrer  seiner  verständigen  und  schwungvollen  Natur  zusagen- 
den Form ;  je  mehr  sie  In  ihm  in  Fleisch  und  Blut  übergehen,  scheiden  sie 
alles  Ungesunde  und  Fremde  aus  seinem  eigenen  Wesen  aus.  Es  liebt  aber 
noch  mehr  den  Menschen,  es  bewundert  den  Adel  seiner  Seele;  der  Grund 
dieser  allgemeinen  Verehrung  Ist  Schiller's  sittliche  Vollendung,  die  gross- 
artige Ausprägung  aller  sittlichen  Ideen  und  ihre  harmonische  Vereinigung 
in  seiner  Person.  Ueberall  tritt  uns  seine  Grösse  entgegen.  In  ihr  richtet 
uns  zunächst  die  Idee  der  Vollkommenheit  auf.  Sie  hat  Ihn  erhoben,  immer 
auf  ein  höheres  Ziel  hingewiesen,  sein  Ernst,  sein  Muth,  seine  Ausdauer 
feuern  auch  uns  an  und  verbannen  allen  Leichtsinn  und  allen  Kleinmuth. 
Er  liebte  die  Arbeit,  aber  nur  die,  bei  der  sich  sein  Gemüth  betheiligen 
konnte;  daher  waren  der  Mensch,  des  Menschen  Loos,  sein  Empfinden, 
Denken  und  Wollen  die  Hauptgegenstände  seines  Nachdenkens.  Er  drang 
vor  bis  an's  AUerheillgste ;  aber  die  Innere  Stimme  hielt  ihn  davon  ab,   den 


208  Programmenschau. 

Schleier  wegzuziehen.  Er  war  ein  besonnener  Denker  und  wusste  zu  re- 
signieren; das  sichere  Gebiet  der  Aesthetik,  —  der  praktischen  Vernunft 
und  der  Urtheilskraft  —  war  sein  liebster  Aufenthalt;  Kant's  starrer  kate- 
gorischer Imperativ  löst  sich  ihm  in  sittliche  Ideen  auf,  denen  unter  allen 
ästhetischen  Ideen  die  Oberhoheit  gebührt.  Vor  allen  durchdringt  die  Idee 
der  Vollkommenheit  seine  Kunstwerke  und  verleiht  ihnen  das  Gepräge  der 
Grossheit,  allen,  den  kleinsten  wie  den  umfassendsten.  Diese  Idee  spiegelt 
sich  auch  in  seinem  Leben  ab  in  seiner  Ergebung,  Mässigung,  Entschlos- 
senheit. Diese  Idee  der  Vollkommenheit  ist  innig  vereinigt  mit  der  Idee 
des  Wohlwollens.  Er  war  ungemein  liebevoll  und  wohlwollend;  er  war  der 
liebevollste  Sohn,  Bruder,  Gatte,  Vater,  Freund.  Aber  sein  Herz  schlug 
der  ganzen  Menschheit;  doch  zu  denen  konnte  er  kein  Herz  fassen,  die 
selbst  herzlos  waren.  Sein  Wohlwollen  erstreckte  sich  über  einen  weiten 
Kreis ;  er  suchte  die  negative  Freiheit  von  unwürdigen  und  unnöthigen  Fes- 
seln und  die  positive  Freiheit  der  vernünftigen  Selbstbestimmung  zum  Ge- 
meingut zu  machen.  Ebenso  lebendig  war  in  ihm  die  Idee  des  Rechtes. 
Häufig  und  besonders  in  seinen  ersten  Dramen  nimmt  sein  Rechtsbegrift  die 
Gestalt  des  Gegensatzes  gegen  unvernünftige  Gesetze  an.  Die  Staatsver- 
fassung als  solche  ist  ihm  nicht  absolut  wichtig  und  wesentlich,  er  ist  weder 
Demokrat  noch  Aristokrat.  Indem  er  aber  nicht  den  höchsten  Maassstab 
an  die  Gesetzgeber  li'gt,  erscheinen  sie  ihm  in  ihrer  Gesammtheit  als  Wohl- 
thäter  der  Menschheit,  als  Gesandte  des  Himmels.  Das  Missfallen  am 
Streit,  das  allgemeine  Menschengefühl,  ist  der  erste  Entstehungsgrund  der 
Ordnung,  der  vernünftigen  Gesetze  (vgl.  Braut  von  Messina:  Ende  des  Bru- 
derzwistes, Preislied  des  Friedens).  Der  Hauptgrund  der  Macht  der  Idee 
des  Rechts  in  Schiller  lag  in  seiner  Sympathie  für  die  Menschheit.  Die 
Idee  der  Billigkeit  spricht  sich  bei  ihm  schon  aus  in  seiner  Stärke  gegen 
seine  neidischen  Gegner  (vgl.  die  Xenien)  und  in  dem  Beistände ,  den  er 
Leidenden  lieh,  sie  spricht  sich  aus  in  seiner  Scheu  vor  Verbindlichkeiten, 
aber  auch  in  seiner  innigen  Dankbarkeit,  in  seiner  Pietät,  in  seinem  leben- 
dif^en  Interesse  bei  Betrachtung  der  moralischen  Welt,  demgemäss  in  seiner 
Darstellung  der  göttlichen  Gerechtigkeit.  Besonders  Hess  ihn  die  Idee  der 
innern  Freiheit  ein  klares  Weltregiment  erkennen  und  glauben.  Diese  Idee 
verlangte  von  ihm  Entschiedenheit  des  ästhetischen  Geschmacks,  Sicherheit 
im  logischen  Denken  und  Erkennen,  Wahrheit  und  Wahrhaftigkeit,  Beharr- 
lichkeit und  Entschlossenheit  in  seinen  Arbeiten.  Aber  wo  der  Einklang 
seines  Selbst  fehlte,  gab  er  das  ihm  nicht  mehr  Homogene  gern  auf;  so 
wandte  er  sich  von  der  Jurisprudenz  zur  Medicin,  von  der  Medicin  zur 
Poesie,  von  der  Poesie  zur  Geschichte,  von  der  Geschichte  zur  Philosophie, 
von  der  Philosophie  zur  Poesie;  aber  trotzdem  zeigt  sein  Leben  eine  schöne 
Continuität;  denn  stets  waren  die  praktischen  Ideen  in  ihrer  Gesammtheit 
in  ihm  lebendig,  er  suchte  seine  Menschen-Ehre  darin  der  Vernunft  gemäss 
zu  leben.  Im  Kampfe  der  Gedanken  und  Gefühle  wusste  er  seine  innere 
Freiheit  zu  behaupten.  Entschlossene  Charaktere,  die  nach  dem  Gesammt- 
urtheile  aller  sittlichen  Ideen  Recht  haben,  stellt  er  mit  besonderer  Begei- 
sterung dar,  die  Jungfrau  von  Orleans  scheint  die  in  Schiller's  bewegter 
Seele  sich  erhebende  Idee  der  inneren  Freiheit  selbst  zu  sein. 


Schiller's  Jungfrau  von  Orleans,  neu  erklärt  und  nach  ihrem 
christlichen  Gehalte  gewürdigt.  Erster  Theil.  Von  Dir. 
Dr.  G.  Fr.  Eysell.  Programm  des  Gymnasiums  zu  Hers- 
feld.    1870.     p.  25-103. 

Es  ist  mit  grossem  Danke  anzuerkennen,  dass  zur  Jubelfeier  des  Gym- 
nasiums zu  Hersfeld  der  gründlichste  Kenner  der  Geschichte  der  Jungfrau 


Programmenscbau.  209 

von  Orleans  eine  Interpretation  des  Schiller'schen  Dramas  sich  zum  Thema 
wählte.  Zur  gelehrtesten  Kenntniss  des  geschichtlichen  Thatbestandes  ge- 
sellt sich  hier  das  sorgfältigste  Studium  des  Gedichts.  Den  tiefen  religiösen 
Gehalt  desselben  hervorzuheben,  ist  die  Hauptaufgabe  des  Verf.  gewesen 
und  daher  geht  er  besonders  genau  in  die  Entwickelung  des  Charakters  Jo- 
hanna's  ein.  Aber  dabei  ist  auch  sonst  nichts  übersehen,  und  wenn  Ref.  be- 
merkt, dass  die  umf;mgreiche  Abhandlung  sich  nur  ausdehnt  bis  auf  der 
Jungfrau  Ankunft  in  Chinon,  so  werden  die  Leser  daraus  folgern  können, 
dass  auf  die  psychologische  Entwickelung  der  Verf.  den  grössten  Fleiss  ver- 
wandt hat. 

Zuerst  erzählt  der  Verf.  die  der  Handlung  des  Stückes  vorausliegenden 
Begebenheiten,  er  geht  aber  nur  auf  die  genauer  ein,  auf  welche  im  Ge- 
dichte angespielt  wird,  die  uns  Aufschluss  geben  über  den  Charakter  der 
bei  Schiller  vorkommenden  Pei-sonen;  daher  wird  Isabeau's  Theilnahme  an 
den  politischen  Kämpfen,  die  Tödtung  des  Herzogs  von  Burguud,  die  Hei- 
rath  Heinrich's  V.  genauer  besprochen;  von  Karl's  VI.  Tode  an  aber  über- 
geht der  Verf.  die  sonstigen  geschichtlichen  Berichte  und  hält  sich  allein 
an  Schiller.  Der  Charakter  des  Königs  Karl  VII.  ist  der  Art,  dass  trotz 
seiner  Privattugenden  er  für  die  bewegte  Zeit  nicht  geeignet  war ;  trotz 
aller  Sanftmuth  fehlte  ihm  der  starke  Glaube,  die  ihm  gewordenen  Prophe- 
zeiungen deutete  er  falsch;  gegen  Orleans  that  er  nicht  seine  Pflicht,  sein 
Pflichtgefühl  wurde  übertäubt  durch  den  Gedanken,  dass  Gott  die  Sünden 
seines  Hauses  an  ihm  heimsuchen  wolle  bis  zum  vollständigen  Verluste  des 
Reiches.  Und  doch  sollte  ihm  von  einer  Frau  die  Hülfe  wirklich,  wie  ihm 
geweissagt  war,  kommen,  aber  von  einer  andern,  als  er  dachte,  die  ange- 
than  war  mit  der  Macht  des  Glaubens,  woran  es  Frankreich  bisher  gebrach. 

Somit  wendet  sich  der  Verf.  zum  zweiten  Punkte,  der  Jugendgeschichte 
Johanna's  bis  zum  Abschied  von  dem  Vaterhause.  Er  führt  uns  erst  Vater 
und  Schwestern  vor.  Mit  ihrer  ganzen  Familie  stand  Johanna  auf  dem 
Glaubensboden  ihrer  Kii-che.  Ihre  Beschäftigungsweise  entwickelte  die 
Kräfte  des  Leibes  und  der  Seele  auf  das  glücklichste ;  ihre  hohen  Wunder- 
gaben wurden  von  den  Ihrigen  anerkannt.  Nun  erfolgte  die  Berufung.  Die 
sinnlichen  Formen,  in  denen  ihr  ihre  Glaubensidee  in's  Bevvusstsein  traten, 
sind  Erzeugnisse  des  Zeitalters,  die  Ideen  selbst  aber  als  Geburten  der 
vom  Geiste  Gottes  im  Tiefsten  bewegten  Menschenseele  zu  denken.  In 
diesen  Visionen  ist,  wie  ausführlich  der  Verf.  nachweist,  ein  stufenmässiger 
Fortschritt  wahrnehmbar,  sowohl  äusserlich  als  in  Bezug  auf  den  Inhalt; 
den  sich  so  oipfelnden  drei  Marienvisionen  schliesst  sich  die  Offenbarung 
des  Herrn  seihst  an;  durch  diese  letztere  wird  die  Erfüllung  der  Aufgabe 
Johanna's  unter  die  unverbrüchliche  Garantie  seines  allmächtigen  Willens  ge- 
stellt. Und  dennoch  wird  das  ideale  Wort  der  Offenbarung  noch  durch 
einen  realen  Gegenstand,  den  Helm,  überboten.  Ihr  Glaube  steht  fest,  aber 
schwere  Bedingungen  sind  ihr  auferlegt;  sie  hat  sich  zu  bewähren.  Ihr 
Charnkter  ist  nicht  fertig,  sondern  ein  wenlender,  bis  zu  völliger  Durch- 
drungenheit des  Menschlichen  von  dem  Göttlichen.  So,  sagt  der  Verf., 
wird  ihre  Geschiclüe  zum  universellen  Symbol  <ler  christlichen  Glaubens- 
und Heihgunfisidee.  —  Der  Verf.  geht  nun  genau  den  Prolog  durch ;  die 
Vorgänge  in  Johanna's  Seele  werden  klar  dargelegt,  der  innere  Zusammen- 
hang der  Scenen  unter  einander  aufs  sorgfältigste  nachgewiesen,  selbst  die 
etwaigen  Bedenken,  Einwürfe,  Erwartungen,  die  von  Seiten  der  Zuschauer 
ausgesprochen  werden  könnten,  besprochen,  nicht  blos  also  referiert,  son- 
dern auch  nach  allen  Seiten  erwogen.  Hier  ist  nichts  mehr  hinzuzufügen. 
Auf  die  Fortsetzung  haben  wir  hoffentlich  nicht  zu  lange  zu  warten. 


Archiv  f.  n.  Sprachen.   XLVIII.  14 


210  Programmenschau. 

Ueber  den  Charakter  des  Schicksals  in  Schiller's  Tragödie 
Von  Dr.  Theodor  Nölting.  Programm  der  grossen  Stadt- 
schule zu  Wismar..    1370. 

Manche  der  hier  ausgesprochenen  Ansichten   geben   zu  Bedenken  Ver- 
anlassung     Die  Schicksalsidee  der  Alten  sei  in  der  Oedipussage  ausgedrückt- 
Oedipus  habe  ja  in  Aiem/reien  Willen  gehabt  und  er  macht  den  grausamen 
Spruch  nur  wahr,    weil  sein  Herz   ihn   dazu  treibt.     Er   tödte   leidenschaft- 
hch    den  Alten,    er   sei    dadurch    nicht   beunruhigt,    er  heirathe   die  V\ittwe 
sofor  ,  denn  spater  zeige  er  sich  in  dem  Fluche   über   den  Mörder,   in   dem 
Benehmen  gegen  Tiresias  höchst  leidenschaftlich,  so  verschulde  er  sein  Ver- 
hangniss      Gegen  diese  Auffassung  aber  sträubt  sich  das  Gefühl.     Was  spä- 
ter geschieht    kümmert  uns  nicht,  es  dient  nur  zur  Charakteristik  des  Oedipus. 
.Plif  •      !,   ^^^'-r^'^  das  tragische  Geschick,    dazu   ist  schon   der  Grund 
gelegt    in    dcT  Todtung   und   der  Heirath;  ist  aber  diese   Tödtung    ein   so 
schweres  Verbrechen    che  Hast,  mit  welcher  der   ehrgeizige  Jünding^ch 
a,fI.iT      Q^l-  ^^'f   den    Thron    sichert,   so    verd^mimeliswerth,    Ls    sie 
auf  gleicher  Stufe    steht   mit   dem   furchtbaren   Schicksal?    Ist  dies   Schick- 
sal d,e  naturhche  Folge  des  leidenschaftlichen  Handelns   des   Helden  Avo 
ist  je  eine  durch  de^n  Drang  der  Umstände  herbeigeführte  Tödtung,  wo  eine 
unbesonnene  Heirath  die  Ursache  eines  solchen  Endes  gewesen?   Des  antike 
Schicksal,    wie   es   der   Verf.    aufiasst,     erscheint   ihm    auch    als    bewegende 
FnSL-1    Sch.l  er's   Wallen^tein.      Die   Umstände    treiben    Wallensrein  zur 
Entscheidung;    che   Entscheidung  kann   nicht    zweifelhaft   sein:    er   schliessl 
den  Bund  mit  den  Schweden;  aber  wie  er  jetzt  entschieden  handelt,  so  nun 
auch  seme   Gegner.     In  der  That?  handelt   er   so   entschieden?    da    hätten 
wa-  es  nun  zu  thun  mit  dem  äusserlichen  Kampfe  zweier  Parteien,  während 
doch  der  Schwerpunkt    nW;allenstein's  Charakter,  seiner  Unentscho.^enheit, 
mI;  ^f''\^''l^'  doch  sehr  gewagt  das  Schicksal,  die  Wendung,  wie  sie  in 
Mar>a  Stuart  vorkommt,  in  der  Jungfrau  von  Orleans,  mit  dem  antiken  Schick 
sal  zu  vergleichen      In  der  Braut  von  Messina  findet  es  der  Verf  durchaus 

Chlre  "^''''  ^^'''  ^''''  '^^^  ?^^^""^1  ^^«^«^*  ^-teche  (nicht  durch  de" 
I^Xltf  f;  ^n  "'  »^»^=t^e""s  überraschen,  wenn  wir  nicht  bereits  durch 
te,f  W  J-  T^.'^'-'^'-^r  ^'^"'?^  '^^^  bevorstehende  Schicksal  wüss- 
ten  Uier- jene  That  ist  mcht  motiviert  und  überrascht  uns  doch  nicht? 
Und  woher  wissen  wir  denn,  dass  der  Traum  nach  der  bösen  Seite  hin 
sich  erfu  len  muss?  Und  nach  der  That  werde  vollends  Cesar's  Haltung 
erst  recht  unnat^irhch.  Damit  ist  dem  Dichter  der  stärkste  Vorwurf  ge^ 
macht,  der  des  Mangels  an  Einheit  im  Charakter.  Ebenso  unbegreiflTch  !ei 
Beatrices  Benehmen,  ihre  regungslose  Haltung:  ebenso  IsabeHa  Das 
alles  nennt  der  Verf.  schwache  Punkte  in  der  F.'Tbel  und  hi  der  Schicksals 
Idee ;    nein,  es  wären  vielmehr  die  ärgsten  Schwächen  in  der  Charakteristik. 


Schicksal  und  Schuld  in  Schiller's  Braut  von  Messina.  Vom 
Subrector  Julms  Drenckmann.  Programm  des  Gymnasiums 
zu  Königsberg  in  d.  N.     1870.     20  S.     4. 

Mit  dem  Urtheile  des  Verf.  über  das  Walten  des  Schicksals   im  Könicr 
Oedipus    mit  dem  die  Braut  von  Messina  gewöhnlich  verglichen  wird,   mSsl 
man  sich  durchaus  einverstanden   erklären^    Eben  so  zu^  bilhaen    st  aTles 
was  er  über  Schiller's  Gedicht  sagt,  über  die  Motivierung  der  Handlung   dfe 
Charaktere    die  Schuld  der  Personen,  so  dass  allen  denjenigen,  welch!' bi! 

sfnd^e'r  ;/     '1   °°.^^  "^'n*  "^^''    ^^"  '^^"'^    "^'^  Stückes^kr   geword  n 
sind,  die  Lesung  der  Abhandlung  anzurathen  ist.     In  Schillers  Gedicht   ist 


Programmenschau.  211 

für  uns  alles  weit  verständlicher  motiviert  als  in  dem  griechischen  Gedichte, 
dass  für  uns  immer  etwas  Fremdartiges  behält;  es  ist  schwer  zu  begreifen, 
wie  diese  Wahrheit  auch  jetzt  noch  vielfach  verkannt  wird.  Man  hat  sich 
die  Nachbildung  der  griechischen  Tragödie,  die  Schiller  allerdings  bezweckt, 
viel  zu  weit  ausgedehnt  gedacht,  sie  liegt  nur  in  der  äusseren  Oekonomie, 
in  der  Darstellungs-  und  Ausdrucksweise,  in  dem  Gange  der  Handlung ;  aber 
die  Weltanschauung  ist  durchaus  nicht  die  antike;  die  höchste  Macht  ist 
nicht  das  Fatum  der  Alten,  wie  es  in  König  Oedipus  erscheint,  sondern  der 
Gott,  der  die  Sünden  der  Väter  heimsucht  an  den  Kindern,  aber  nur  weil 
die  Kinder  mit  ihren  Freveln  die  Frevel  der  Väter  fortgesetzt  haben. 

Herford.  Kölscher. 


W 


Miscellen. 


Mittheilungen    über    eine   Handschrift    zu   Nymegen    bezüglich 
des  Schwanenritters  von  L.  Sloet.  * 

De  _  Reiffenberg  hat  im  4.  und  5.  Theil  der  Collection  de  Chroniques 
Beiges  inedites  die  Sage  vom  Schwanenritter  herausgegeben  und  derselben 
mit  vieler  Gelehrsamkeit  und  grosser  Ausführlichkeit  Alles  beigetüot,  was 
er  mit  nicht  geringer  Mühe  von  Nahe  und  Fern  zusammengebracht  hatte. 
So  freute  er  sich  auch,  eine  lateinische  Uebersetzung  hiervon  niittheilen  zu 
können,  die  unter  Nr.  5  in  den  Appendices  des  vierten  Bandes  aufgenom- 
men ist. 

In  den  Archiven  der  Stadt  Nymegen  befindet  sich  eine  merkwürdige 
Sammlung  lateinischer  Handschriften  aus  der  Mitte  der  letzten  Hälfte  des 
15.  Jahrhunderts,  die  in  einen  Band  zusammengebunden  sind. 

Das  erste  Stück  aus  dem  Ende  des  15.  .Jahrhunderts  ist  eine  der  von 
de  ReifTenberg  herausgegebenen  ähnliche  Uebersetzung  und  so  weit  ich 
dies  nachgehen  konnte,  bis  jetzt  nicht  veröffentlicht.  Die  Geschichte  des 
Schwanenritters  wird  darin  sehr  einfach  dargestellt  und  unterscheidet 
sich  eben  dadurch  in  vieler  Hinsicht  von  den  gewöhnlichen  Formen,  in  de- 
nen dieser  Volksroman  auf  uns  gekommen  ist  und  mitgetheilt  werden  von 
Veldenaer,  Fasciculus  temporum,  p.  422  j  v.  d.  Schüren,  Chronik  v.  Cleve, 
77;  Teschenmacher,  Annales  Cliviae ,  ed.  Dethmar,  123;  Histoire  miracu- 
leuse  du  Chevalier  au  cygne,  fils  du  puissant  roy  Oriant,  in  „Melanges  tires 
d'une  grande  bibliotheque,  111,  col.  4;  Eene  schoone  historie  en  miraculeuse 
geschiedenis  van  den  ridder  met  de  zwaan,  die  te  Nijmegen  in  Gelderland 
te  scheep  kwam  enz. ,  Amsterdam ,  by  Koene.  4.  —  Hierüber  s.  van  den 
Bergh,  Volksromans,  S.  23  und  Volksoverleveringen,  S.  96.  Ferner  de  Reif- 
fenberg,  1.  c.  und  Jonckbloet,  Geschiedenis  der  Nederlandsche  letterkunde, 
I,  p.  27.  ** 

Nach  vorgenannter  Hs.  ist  die  Ehe  des  Königs  Oriant,  der  nach  seines 
Vaters  Tode  mit  seiner  Mutter  regiert,  dessen  Land  jedoch  nicht  genannt 
wird,  von  etwas  Aussergewöhnlichem  nicht  vergesellt.  Da  er  von  hoher 
Abkunft  war  —  ex  alto  sanguine,  —  nahm  er  —  ut  dignum  fuit,  — Beatrix 
zu  „generosam  uxorem."      Diese    zog    sich  den  Hass  ihrer  Schwiegermutter 


*  Nach  „Verslagen  en  mededeelingen  der  Kon.  Akademie  van  weten- 
schappen.     Letterkunde.     XH,  2.  p.  253  ff.  frei  übersetzt. 

*"  W.  Müller,  „Die  Sage  vom  Schwanenritter"  In  „Germania"  Heft  4, 
S._  418,  hatte  ich  nicht  zur  Einsicht  und  konnte  deshalb  nicht  nachsehen, 
wie  er  die  Formen  auffasste. 


Miscellen.  213 

nicht  wie  andere  Lesarten  lauton,  wegen  ihrer  niedrigen  Herkunft  zu,_  son- 
dern'weil  sie  sowohl  von  E eichen  und  Vornehmen,  als  auch  von  Geringen 
und  Armen  geachtet  und  geliebt  wurde. 

Von  dem  Gespräch  zwischen  dem  Ehepaar  über  das  Gebähren  mehrerer 
Kinder  zugleich  wird  ebenso  wenig  etwas  mitgctheilt,  als  von  einer  Laste- 
rung  einer  Frau,  die  Zwillinge  geboren  hatte  ,  von  Beatrix  ausgesprochen, 
in  Fol"-e  dessen  sie  selbst  zur  Strafe  in  Abwesenheit  ihres  Mannes  von 
7  Kindern  soll  entbunden  worden  sein.  Nach  unserer  Hs.  waren  es  6  Kna- 
ben und  1  Mädchen,  mit  goldenen  Halsbändern,  während  andere  Lesar- 
ten von  7  Söhnen  und  silbernen  Halsbändern  sprechen;  dagegen  stimnit 
sie  mit  anderen  Lesarten  überein,  was  bezüglich  des  Verwechselns  der  Kin- 
der mit  Hunden  und  der  ferneren  Tliaten  Matabruna's  mitgetheilt  wird. 
Bemerkcnswerth  ist,  dass  der  Name  Liliefort  hier  der  Hebamme  beigelegt 
wird  während  er  sonst  für  den  Namen  des  Reiches  Oriants  gilt.  Uie  Kin- 
der 'von  Marques  nicht  getödet,  wie  ihn  Metabruna  beauftragt,  sondern_  als 
Findlincre  ausgesetzt,  werden  nach  unserer  Hs.  nicht  von  dem  Eremiten 
Elias  selbst,  sondern  von  dessen  Ziege  gefunden,  die  sie  auf  ihrem  Kucken 
zur  Klause  brachte. 

Als  König  Oriant  nach  seiner  Rückkunft  von  seiner  Mutter  vernimmt, 
dass  seine  Frau  von  7  Hunden  entbunden  sei,  lässt  er  die  Astronomen  und 
Weisen  seines  Landes  zusammenkommen  und  legt  ihnen  die  Frage  vor,  ob 
eine  Frau  auch  Hunde  zur  Welt  bringen  könne,  was  sie  verneinen;  wohl 
■iber  könne  eine  Frau  mehrere  Kinder  zugleich  gebären.  Dass  Beatrix  zur 
Kerkerhaft  verurtheilt  sei,  während  Metabruna  die  Todesstrafe  über  sie 
verhängt  wissen  wollte,  sagt  die  Hs.  nicht. 

Matabruna  die  von  Jägern  vernommen  hat,  dass  die  Kinder  bei  dem 
Eremiten  seien,  lässt  Marques  durch  RLanquare  umbringen  und  beauftragt 
die  Jäger  die  Kinder  aufzusuchen  und  zu  tödten.  Aber  auch  diese  fuhren 
den  Auftra<r  nicht  aus,  sondern  nehmen  sechs  Kindern  (das  siebente  war  ab- 
wesend) ihre  Halsbänder,  in  Folge  dessen  sie  in  Schwäne  verwandelt  werden. 
Metabruna  lässt  aus  den  Bändern  einen  Becher  macheu.  Da  aber  ems 
dieser  Bänder  im  Schmelztiegel  schon  einen  solchen  Umfang  annimmt,  dass 
er  für  einen  grossen  Becher  ausreicht,  so  eignen  sich  die  Goldschmiede  die 
übrigen  fünf  zu.  Hierin  kömmt  dieHs.  mit  andern  Lesarten  überein,  wah- 
rend sie  im  Folgenden  wieder  abweicht. 

Nachdem  der  Eremit  den  Knaben,  der  das  Halsband  behalten,  erzogen, 
getauft  und  ihm  seinen  Namen  gegeben  hat,  wird  ihm  durch  einen  Engel 
mitgetheilt,  dass  Oriant  der  Vater  dieses  Knaben  sei;  zugleich  verordnet 
der  Enc-el,  dass  der  Knabe  zu  seines  Vater  Schloss  reise.  Elias,  von  dem 
Eremiteii  hierüber  genau  unterrichtet,  kommt  in  Baumblättern  gekleidet  bei 
Hofe  an  wo  er  seiner  Grossmutter  deren  Missethat  vorwirft.  Diese  leug- 
net Elias  fordert  Marquare  zum  Zweikampf  auf,  der  ihn  annimmt.  _  Beide 
ziehen  in  Waftenrüstung  zum  Kampfplatz  und  Elias  haut  Marquare  mit  dem 
ersten  Schlage  einen  Arm  ab,  worauf  letzterer  Alles  bekennt.  Matabruna 
(lieht  in  Mannskleidern  in  eine  feste  Burg,  in  der  sie  durch  Elias  verbrannt 
wird  —  Dass  die  fünf  ungeschmolzenen  Halsbänder  zurückgegeben  und  da- 
durch die  fünf  Schwäne  wieder  in  Menschen  verwandelt  werden,  erzahlt 
die  Hs.,   wie   die   übrigen  Lesarten.     Der    Scliluss    dagegen  ist  hier  wieder 

°^"^D^urch  eine  göttliche  Eingebung  wird  Elias  berufen ,  die  Herzogin  von 
Bouillon  gegen  den  Grafen  von  Lisebonne  zu  schützen.  Er ,  erhalt  von  sei- 
nem Vater  ein  Hörn,  welches  die  W^underkraft  besitzt,  dassjeder,  der  die 
Töne  desselben  hört,  besiegt  wird.  Mit  diesem  Hörn  reist  er  in  einem  Schifte 
ab  dass  von  d  e  m  Schwane  an  einer  goldenen  Kette  gezogen  wird  der  bis- 
her seine  menschliche  Gestalt  nicht  wieder  erhalten  hat.  Er  kommt  zu 
Nymegen  an,  wo  sich  der  Kaiser   aufhält,  tödtet  in  einem  Zweikampfe  den 


214  Miscellen. 

Grafen  von  Lisebonne,  erhält  die  einzige  Tochter  der  Herzogin-Wittwe  von 
Bouillon  zur  Frau  und  wird  Herzog  und  Herr  des  Landes. 

Eine  weitere  göttliche  Eingebung  lehrt  Elias,  dass  der  Schwan,  der  sein 
Schiff"  gezogen  habe,  ebenfalls  seine  vorige  Gestalt  zurückerhalten  und  er 
deshalb  zu  seinen  Eltern  heimkehren  müsse.  Dies  thut  er  und  lässt  Frau 
und  Kind  unter  der  Obhut  des  Kaisers.  In  sein  Vaterland  auf  einem  Schiff", 
wieder  von  demselben  Schwane  gezogen,  zurückgekehrt ,  wird  der  Schwan 
in  die  Kirche  gebracht  und  unter  Celebriren  und  Beten  vieler  Anwesenden 
ebenfalls  seiner  menschlichen  Gestalt  wieder  theilhaftig. 

Hier  endigt  die  Hs.,  nicht  wie  ein  Fragment,  nicht  als  ob  noch  Etwas 
folgen  müsse,  sordern  wie  ein  abgeschlossenes  Ganzes,  mit  einem  Anruf  zu 
Gott  und  dem  Schlusswort  Amen.  Nichts  wird  von  dem  weiteren  Leben  des 
Elias  gemeldet,  kein  Wort  wird  von  seinem  Verschwinden  erwähnt,  als  Bea- 
trix ihn  trotz  seiner  Bedingung  und  Warnung  bittet,  ihr  seine  Abkunft  mit- 
zutheilen.  Nichts  kommt  darin  vor  von  den  Kindern  und  Enkeln  von  Elias 
und  Beatrix,  welche  der  berühmte  Gottfried  von  Bouillon,  Balduin  und 
Eustachius  gewesen  sein  sollen.  Nichts  hat  sie  mit  der  meist  in  Gelder- 
land und  im  Clevischen  gangbaren  Lesart  gemein,  dass  Elias  zufällig  mit 
seinem  von  einem  Schwane  gezogenen  Schiffe  zu  Nymegen  angekommen  sei 
inid  die  Erbtochter  von  Cleve  geheirathet  habe ,  aus  welcher  Ehe  die  Gra- 
fen von  Cleve  und  Teisterbant  entsprossen  sein  sollen. 

Je  kürzer  und  einfacher  eine  Volksüberlieferung  in  Form  eines  Ge- 
dichtes oder  einer  Erzählung  auf  uns  gekommen  ist,  um  so  näher  steht  sie 
ihrer  Entstehungsperiode.  Die  Poeterei,  —  wie  van  der  Schüren  sich  aus- 
drückt, —  hat  sich  ihrer  noch  nicht  bemächtigt,  sie  noch  nicht  mit  Anderm 
vermengt,  und  sie  noch  nicht  andern  Zuständen  und  Zeiten  angepasst,  als 
denen,  in  welchen  sie  entstand. 

Haben  wir  nun  in  der  Nymeger  Hs.  den  Kern  oder  einen  der  Kerne, 
woraus  sich  später  das  ausgebreitete  Volksepos  von  dem  Schwanenritter 
bildete? 

Ich  will  nichts  entscheiden,  halte  jedoch  die  Hs.,  wovon  ich  nachstehend 
eine  getreue  Copie  gebe,  wohl  werth,  die  Leser  dieser  Zeitschrift  damit  be- 
kannt zu  machen. 

Fuit  quidam  rex  nobilis,  dictus  Oriant,  qui,  patre  orbatus,  cum  matre 
sua,  nomine  Matabruna,  regnum  suum  nobiliter  gubernavit.  Et  quia  dictus 
rex  Oriant  alto  profluxit  ex  sanguine,  generosam,  ut  dignum  fuit,  duxit 
uxorem,  nomine  ßeatris.  Hec  tarn  virtuosa  extitit,  ut  non  solum  magnis  et 
nobilibus,  verum  eciam  parvis  et  pauperibus  amabilis  fuerit,  et  rex  eam  unice 
diligebat.  Mater  vero  considerans,  quod  Beatris  plus  a  rege  et  nobilibus, 
nee  non  totius  regni  incolis,  amaretur,  simulata  ira,  odium  contra  eam 
gerebat. 

Accidit  autem  post  hoc,  ut  rex  Oriant,  propter  causas  arduas  eundem 
concernentes,  ad  alienas  se  transferret  partes,  et  regina  Beatris,  vicina  par- 
tui  Septem  proles,  torques  aureos  in  collo  gestantes,  pareret,  quos  tamen 
Matabruna  minime  considerabat,  inter  quos  tamen  una  tantum  juvencula  fuit, 
ceteri  mares  extiterunt.  Quod  cernens  Matabruna,  doluit  de  tanto  nobilium 
prolium  ortu,  et  egit  cum  obstetrice,  dicta  Liliefort,  ut  Septem  catellos  in 
panniculo  sumeret,  et,  regine  eosdem  ostendens,  diceret,  quod  ipsa  eosdem 
peperisset.  Quod  cum  dicta  Liliefort  faceret,  Beatris,  multum  contristata, 
amarissime  flebat.  Matabruna  deinde  dictos  pueros  cuidam  ex  suis  familiari- 
bus,  nomine  Marques,  obvolutas  in  panniculo,  tradidit,  et  ut  in  desertum  iret 
et  eosdem  interficeret,  mandavit.  Marques  vero  pueros  accipiens,  in  deser- 
tum,  juxta  preceptum  Matrabrune,  et  pannum  aperiens,  septem  pueros  pul- 
cherrimos  vidit.  Tunc  ipse  eosdem  deosculans  et  vivos  relinquens,  se 
eosdem  interfecisse  testabatur. 


Miscellen.  215 

Deindc  rex  nobilis  Oriant  ad  patriam  revcrtitur.  Cui  raater  occurrens, 
saliitavit  et,  inter  cetera,  quoniam  Beatris  Septem  catellos  pepererat,  narra- 
vit.  Quo  audito,  rex  multum  constristatus ,  tocius  reoni  astronomos  et  sa- 
pientes  convocari  fecit.  Quibus  congregatls,  interrogavit,  uterum  eclam  mu- 
lier canes  parere  posset?  Ad  hoc  ipsi  responderunt,  quod  non  canes,  sed 
pueros,  eciam  plures,  parere  posset. 

_  Et  tunc  habitabat  in  eodem  heremo,  ubi  hujusmodi  pueri  portati  fuerunt, 
quidam  heremita,  nomine  Hellas,  habeus  quandam  capram,  de  cujus  lacte 
nutriri  solebat,  que,  exiens  ad  pascua  ad  interiora  deserti,  dictos  pueros  iu- 
veuit,  et  ipsis  inventis,  eosdem  suo  lacte,  Deo  disponente,  nutrivit  et  ad  do- 
munculum  heremite  solito  tempore  non  redibat.  Tandem,  infantulos  in  dorso 
gestans,  domum  revertitur,  et  a  dicto  heremita  hilariter  recipiuntur,  nutriun- 
tur  et  foliis  arborum  vestiuntur. 

Post  hec  Matabruna  ^lercipiens  a  ventoribus,  quod  in  hujusmodi  heremo 
infantuli  apud  heremitam  conservarentur,  cogitans,  quod  Marques  illos  vivos 
reliquisset,  cum  per  quendara  suum  familiärem,  nomine  Manquare,  interfici, 
jussit.  Et  illo  interfecto,  venatores  ad  descrtum  hujusmodi  misit,  ut  dictos 
infantulos  quererent  et  interöcerent.  Venatores  vero,  per  desertum  gradien- 
tes  pueros,  excepto  uno,  invenerunt,  et  videntes,  quod  torques  aureos  in 
cello  habebant,  illos  a  collo  eorum  abstrahentes,  in  cignis  mutati,  continuo 
volantes,  recesserunt  et  in  foveam,  juxta  domicilium  dicti  heremite,  renianse- 
runt.  Venatores  autem,  ad  Matabrunam  redeuntes,  eidem  torques  illos  re- 
presentarunt,  narrantes  eidem  miraculum,  quod  viderunt.  Tunc  illa  aurifabros 
convocari  jussit  et  eisdem,  pro  crusibulo  faciendo,  torques  hujusmodi  tradidit. 
Quibus  acceptis ,  dum  unum  in  ignem  injicerent,  ita  augmentabatur,  ut 
crather  magnus  inde  formabatur.  Quod  videntes  aurifabri,  reliquos  quinque 
furati  sunt  et  cratherem  aureum  Matabrune  reportabant,  de  cujus  magnitu- 
dine  cum  ipsa  admirabatur,  estimabat  enim,  quod  omnes  sex  torques  pre- 
dicti  in  hujusmodi  crathere  fiicti  fuissent. 

Deinde  dictus  heremita  juvenem,  quem  secum  retinuit,  baptisavit,  et 
eum  nomine  suo  Heliam  nuncupavit,  qui  cignos  eosdem  continue  visitavit, 
recognoscens  ex  spirituali  revelacione,  quod  soror  et  fratres  sui  essent. 

Post  aliquantos  igitur  annos,  angelus  Domini  dicto  heremite  nunclavitt 
quod  juvenem  ad  palacium  regis  Oriant,  qui  pater  ejusdem  esset,  mittere,, 
qui  opprobrium  matris  sui,  scilicet  regine  Beatris,  vindicare  et  scelus  Mata- 
brune propalare  deberet.  P^xtunc  Elyas  heremita  Elyam  juvenem  de  singu- 
lis  instruxit  et  eundem,  vestitum  foliis ,  ad  palacium  regis  destinavit.  Qui 
ibidem  veniens  totum  factum  Matabrune  propalavit,  et  quomodo  ipse  cum 
sorore  et  fratribus  in  heremum  delati  essent,  narravit.  Quod  audiens  Mata- 
bruna ipsum  hec  mentiri  dicebat.  Continuo  Elyas,  pro  veritate  percipienda, 
duellum  facere  paratus  erat.  Extunc  Manquare,  ex  parte  Matabrune,  du- 
welluni  cum  Elya  facere  acceptavit.  Deinde  armis  induuntur  et,  ad  campum 
venientes  Elyas  primo  ictu  brachium  sui  adversarii  amputavit.  Tunc  Man- 
quare, ad  genua  provolutus  et  veniam  petens,  totum  factum  Matabrune 
enodavit.  Matabruna  vero  videns,  quod  Manquare  devinctus  fuerat,  relicto 
habitu  muliebri,  in  habitu  virili  fugit,  et  castrum,  quod  ipsa  habebat  fortis- 
simum, intravit.  Quod  Elyas  perclpiens,  eam  insequitur  et  castrum  ipsum 
obsedendo,  incendit  cum  eadem.  Quod  dicti  aurifiibri  videntes,  Elye  hujus- 
modi torques,  quos  ipsi  furati  fuerant,  reportarunt.  Quibus  receptis,  regem 
Oriant,  patrem  suum,  nee  non  Beatrem,  matrem  suam,  usque  ad  locum, 
ubi  cigni  fuerant,  perduxit  et  cuilibet  torquem  apposuit,  excepto  uno,  cujus 
torques  in  cratherem  commutatus  fuit.  Postquam  autem  torquem  in  collibus 
receperunt,  pristinam  eorundem  formam,  scilicet  humanam,  assumpserunt  et 
a  presentibus,  cum  gaudio  enarrabili,  suscipiuntur  et  deosculantur. 

Deinde  dictus  Elyas,  ex  revelacione  et  ammonicione  Divina,  valedicens 
presentibus,  ad  tuendam  ducissimam  de  Bullion,  que  a  comite  de  Lisebonne 
molestabatur,  navigio  recessit,  et  cignus,  nondum  ad  naturam  hominis  redu- 


216  Miscellen. 

ctus,  navem  cum  cathena  aurea  traliebat.  Pater  vero  ejus,  rex  Oriant,  videns 
quod  Elyas  recedere  vellet,  sibi  cornu  quoddam  didit,  'quod  illius  virtutis 
erat,  ut  nullus  souuui  ejus  audiens,  contra  eundem  victor  esse  posset.  Tunc 
Elyas,  cum  navi  progrediens  ad  iuiperatorem,  qui  tunc  in  Novomagio  reside- 
biit,  venit,  et  quomodo,  ad  tueiidam  dictam  viduam  venisset,  enarravit  et 
comitem  de  Lisebonne  ad  duellum  vocavit.  Deinde  venientes  ad  campum, 
ab  imperatore  conürmatum  est  duellum.  Et  Elyas  dictum  comitem  intertecit. 
Tunc  imperator  videns  virtutem  et  constanciam  dicti  Elye,  filiam  unicam, 
quam  dicta  ducissa  habebat,  dicto  Elye  in  matrimoniuni  tradidit,  et  tunc 
cum  processione  et  gaudio  magno  suseipitur  et  dux  ac  terre  dominus  con- 
stituitur. 

Deinde  ex  divina  revelacione  didicit,  quod  cignus  ille,  qui  navem,  qua 
venerat,  trabtbat,  adhuc  pristinam  suam  naturam  recipere  deberet,  et  quod 
propterea  ad  parentes  suos  redire  deberet.  Ipse  uxorem  cum  filia,  quam 
habuit,  exinde  imperatori  commisit,  et  valedicens  eisdem,  cum  navi,  cigno 
trahente,  recessit.  Et  dum  ad  terras  proprias  venit,  fratres  sui  et  parentes 
eidem  oceurrentes  et  salutantes,  cum  leticia  grandi  susceperunt  et  contLnuo 
cignum  hujusmodi  in  ecclesia  statuentes ,  pluribus  celebrantibus  et  aliis 
orantibus,  bumanam  recepit  naturam,  prestante  Domino  nostro,  qui  vivit  et 
regnat  in  seculorum  secula.     Amen. 

München.  Oskar   Verlage. 


Moderne  französische  Schriftsteller  im  Elsass. 

Die  Strassburger  Zeitung  hat  in  einer  längeren  Reihe  von  Aufsätzen 
über  die  neueren  Dichter  und  Prosaiker  des  Elsass  eingehend  berichtet,  aus 
denen  auszugsweise  nachstehende  Mittheilungen  entlohnt  sind. 

In  den  dreissiger  Jahren  bildete  sich  —  auch  im  pittoresken  Oberelsass  — 
ein  dem  Stande  der  Fabrikherren  angehöriger  Mann  zum  eleganten  franzö- 
sischen Versificator,  indem  er  sich  mit  kindlicher  Pietät  an  Pfeffel's  Muse 
dahingab,  und  den  acht  moralischen  deutschen  Volksdichter  auf  den  galli- 
schen Parnass  zu  verpflanzen  unternahm.  Zur  Lebensaufgabe  war  es  für 
Paul  Lehr  geworden,  die  philosophischen  und  politischen  Apologen  des 
blinden  Dichters,  mit  gewissenhafter  Treue  und  doch  in  leichter,  anmuthiger 
Form  dem  französischen  Publicum  mundgerecht  zu  machen.  Mit  unermüd- 
licher Ausdauer  und  einer  Feile,  die  nicht  vor  dem  zehnfachen  Anlegen  an 
die  widerstrebende,  deutsche  Materie  zurückscheute ,  brachte  es  Paul  Lehr 
in  der  That  dahin,  dass  eine  schöne  Auswahl  der  poetischen  Versuche  Pfef- 
fel's in  französischer  Sprache  zu  Stande  kam,  und  sich  wie  Originalgedichte 
dem  Leser  empfahl.  Lehr  hat  den  greisen  Dichter  noch  in  seinen  letzten 
Lebensjahren  in  seiner  Häuslichkeit  gesehen,  und  war  ihm  als  Schüler  nahe- 
gestanden ;  er  wollte  dem  Andenken  des  geliebten  Altvaters  ein  Denkmal 
setzen,  und  unstreitig  erreichte  er  seine  Absicht. 

Nun  dürfte  mich  der  Leser  fragen:  Hat  sich  Pfeffers  getreuer  alterego 
an  keinen  anderen  Repräsentanten  der  deutschen  Dichtung  gewagt  und  ist 
er  unwiderruflich  im  Bezirke  der  Pfeffel'schen  Fabel  und  poetischen  Epistel 
geblieben?  —  Nicht  immer  —  so  hat  er  z.  B.  die  Geisterscenen  von  ßür- 
ger's  Lenore  meisterhaft  reproducirt;  in  eigner  Composition  hat  er  die  Na- 
jade  Niederbronns  gefeiert  und  bei  Sängerfesten,  oder  wenn  es  galt  ein- 
heimische Grössen  zu  verherrlichen,  hat  er  elsässische  Cantaten  mit  lyrischem 
Schwünge  gedichtet;  er  hat  in  Freundeskreisen,  bei  frohem  und  trübem 
Anlass,  seine  Verse  wie  Blumen  hingestreut,  und  sich  begnügen  lassen  mit 
spärlichem  Lobe  in  unserer  prosaischen  Zwittergesellschaft. 

Ungefähr  zur  selben  Zeit,  aber  noch  in  froher  Jugend  prangend,  hielt 
sich  ebenfalls  im  Oberelsass  ein  Sänger  auf,  der  sich  vorerst  ganz  an  fran- 


Miscellen.  217 

zösischen  Mustern  herangebildet.  Unter  seinen  Freunden  und  bald  in  wei- 
teren Zirkeln  erlangte  Th  eodor  I>raun  den  Ruf  eines  liebenswürdigen  ge- 
sellschaftlichen Liederdichters;  er  war  aus  der  Schule  Beranger's  und  Des- 
augiers  hervorgegangen.  Aber  auch  ihn  erfasste  bei  vorrückenden  Jahren 
und  bei  näherem  Eingehen  in  die  deutsche  Dichtung,  der  Gedanke  zum 
vermittelnden  Dollmetscher  zwischen  den  zwei  Literaturen  zu  werden.  Braun 
begann  im  Jahre  1848  mit  der  Herausgabe  einer  TTehersetzung  des  Schiller- 
schen  Don  Carlos  in  Alexandrinern.  Diese  dramatische  Reproduction  legte 
ein  sprechencles  Zeugniss  ab  von  dem  Talente  des  Verfassers;  ein  fliessen- 
der,  leichter  Styl,  ein  den  Zwang  des  Verses  überwältigendes  Anschmiegen 
an  den  Inhalt  des  Originaltextes,  machten  sich  vorerst  bemerkbar.  Allein 
der  üebelstand  des  zwölfsilbigen  monotonen  Alexandriners ,  dem  deutschen 
fünffüssigen,  leichtgeschürzten  Jambus  gegenüber,  hatte  schon  eine  unver- 
meidliche Dehnung  des  Textes  zur  Folge;  die  Zahl  der  deutschen  Verse 
wurde  ebenfalls  nicht  unbedeutend  überschritten ;  somit  erschien  die  drama- 
tische Handlung  gelähmt.  Und  was  dem  Uebersetzer  besonders  hart  zu- 
setzte, das  war  die  Unmöglichkeit  in  der  französischen,  spröden,  hyperde- 
licaten  Sprache  den  Metaphern-Reichthum  und  die  Gedankenfülle  der  Sprache 
des  deutschen  Dichters  neu  zu  schaffen.  Allein ,  all  dieser  unvermeidlichen 
Mängel  unbeschadet,  ward  dem  Uebersetzer  ein  verdientes  Lob  zu  Theil 
und  ermuthigte  ihn,  auf  derselben  Bahn  fortzuschreiten.  —  So  erschienen 
nach  und  nach  die  Uebersetzungen  der  Jungfrau  von  Orleans,  der  Maria 
Stuart,  des  Wilhelm  Teil,  der  Wallensteinschen  Trilogie  und  der  Braut  von 
Messina.  Zum  erstenmale  ward  in  rhythmischem  Gewände  das  ganze  dra- 
matische Vermächtniss  Schiller's,  mit  Ausnahme  der  in  Prosa  geschriebenen 
Stücke,  vor  das  französische  Publikum  gebracht,  und  je  länger  und  je  mehr 
der  Verfasser  in  seiner  Arbeit  voranschritt,  machte  sich,  beinahe  bis  an's 
Ende,  die  progressive  Leichtigkeit  bemerkbar,  womit  er  den  schwierigen 
Stoff  bewältigte. 

TheodorBraun  hat  in  seinen  Mussestunden  beinahe  zwanzigJahre  an 
sein  kühnes  Unternehmen  gewendet;  ihm  blieb  das  Verdienst,  nach  v.  Ba- 
rante's  und  Reiniar's  prosaischen  Uebersetzungen,  *  der  einzige  Franzose  zu 
sein,  der  sich  an  die  Totalität  der  versificirteu  Tragödien  Schiller's  wagte, 
und  ehrenvoll  aus  dem  Kampfe  mit  dem  unerreichbaren  Urbild    hervorging. 

Unter  der  Juliregiorung  begann  in  Strassburg  eine  literarische  Bewe- 
gung, die  wir  nicht  unerörtcrt  lassen ,  obgleich  ihre  Urheber,  jüngere  Pro- 
fessoren des  Lyceums  und  der  Academie,  ihrem  Ursprünge  nach  dem  Elsasse 
nicht  angehörten.  Durch  die  Leetüre  des  Leben  Sophokles'  von  Lessing 
angeregt,  fühlte  sich  Guiard  berufen,  die  sieben  Tragödien  und  sämmtliche 
Fragmente  des  griechischen  Dichters  in  französischen  Versen  mit  möglich- 
ster Kürze  und  Treue  Aviederzugeben.  Die  übertragenen  Trauerspiele  lassen 
ganz  den  Eindruck  von  Originalstücken  in  dem  Geiste  des  Lesers  zurück. 
Ihre  Veröffentlichung  fallt  in  die  dilettirende  eklektische  Epoche,  wülirend 
welcher  in  Berlin  und  Paris  die  Aufführung  griechischer  Tragödien  beinahe 
zur  Modesache  geworden.  Für  Guiard,  den  einfachen,  aber  nichtsdestowe- 
niger ehrgeizigen  Provinzialdichter  war  es  eine  tiefe  Bekümmerniss,  zu  die- 
sem Behufe  andere  Uebersetzer  bevorzugt  zu  sehen.  Die  Lorbeern  von 
Octave  Lacroix  verbitterten  sein  Leben ;  er  starb  jung,  unbefriedigt,  unbe- 
lohnt],  und  doch  legt  seine  Uebersetzung,  besonders  der  Sophokleischen 
Chöre,  ein  Zeugniss  ab  von  der  lyrischen  und  stylistischen  Begabung  des 
Translators. 

In  Strassburg  begann  Gen  in,  ebenfalls  durch  locale  Freunde  in  die 
Schätze  der  poetischen  und  kritischen  Literatur  eingeführt,  seine  ersten  po- 


"Z.*  Der   letztere  hat    sämmtliche  Werke   Schiller's,    v.    Barante  nur    die 
dramatischen  wiedergegeben. 


218  Miscellen. 

lemischen  Angriffe  gegen  mehr  als  einen  Pariser  Tagesgötzen,  vor  allem 
gegen  Victor  Hugo  und  seinen  „Rhein."  Von  hier  aus  erliess  St.  Rene 
Tailaudier  seine  ersten  Manifeste  in  der  Revue  des  deux  mondes  über  die 
Verhältnisse  und  die  Producte  der  modernen  deutschen  Dichtung.  Weder 
der  eine  noch  der  andere  verleugnete  den  Einfluss  der  geistigen  Atmosphäre 
der  Strassburger  Akademie  und  des  nahen  gedankenschweren  Deutschlands. 

Nicht  immer  mit  gleicher  Aufrichtigkeit  verfuhren  andere  ihrer  acade- 
mischen  Genossen.  So  lebte  hier,  fast  zu  gleicher  Zeit  mit  Genin,  der  eben- 
falls an  der  faculte  des  lettres  angestellte  Colli n  ,  der  Uebersetzer  undCom- 
mentator  Pindar's.  Er  benutzte  reichlich  zu  seinem  gediegenen  Werke  die 
deutschen  Hellenisten,  doch  erwähnt  derselben  keineswegs.  —  Die  poetischen 
Aufsätze,  die  Colin  wenig  Jahre  vor  seinem  anno  1865  erfolgten  Tode  der 
literarischen  Gesellschaft  von  Strassburg  mittheilte,  tragen  das  Gepräge  eines 
mit  dem  Naturgenusse  und  den  Leiden  des  Herzens  vertrauten  Charakters. 
Dahin  sind  zu  rechnen:  „Der  Forellenfang  im  Schwarzwald,"  „Ein  Besuch 
auf  der  Petersinsel  im  Bielersee,"  und  die  elegische  „Biographie  eines  fünf- 
zehnjährigen, frühreifen  und  im  Vorfrühling  verstorbenen  Mädchens."  Strenge 
Kritiker  werfen  Colin  die  Incorrectheit  seiner  Verse  vor. 

Ein  Muster  französischer  Correctheit  ist  dagegen  Herr  Delcasso,  aus 
dem  mittäglichen  Frankreich  gebürtig,  aber  während  mehr  denn  vierzig  Jah- 
ren zu  Strassburg  als  Professor  des  Lyceums  und  der  faculte  des  lettres, 
und  zuletzt  als  Rector  der  Academie  fortgesetzt  thätig.  —  Es  ist  eine  durch- 
aus klassisch  gebildete  Natur,  die  sich  dem  Anhauch  des  deutschen  Nach- 
barlandes zwar  nicht  ganz  entziehen  konnte,  und  besonders  als  Philolog  die 
Errungenschaften  der  transrhenanischen  Gelehrten  gelegentlich  nicht  ver- 
schmähte; aber  für  die  Verbreitung,  für  die  alleinige  Herrschaft  der  galli- 
schen Sprache  kämpfte  er  zeitlebens,  gleichsam  pro  aris  et  focis.  Er  hatte 
die  ipstinctive  Ahnung,  dass  hinter  dem  literarischen  Bestreben  vielleicht  ein 
politischer  Feind  lauern  dürfte,  und  suchte,  besondei-s  während  seiner  Rec- 
toratsjahre,  das  Deutsche  nach  und  nach  in  den  Volksschulen  auf  dem 
Lande  zu  vermindern. 

Als  Dichter  bewährte  er  sich  besonders  in  den  poetischen  Episteln,  die 
er  an  locale  Notabilitäten  richtete  und  worin  er  meist  in  anziehender  Ge- 
staltung die  Aufmerksamkeit  zu  fesseln  wusste,  indem  er  die  Sprache  Boileau's 
an  moderne  Bedürfnisse  anpasste  und  mit  modernem  Style  zusammen- 
schweisste. 

In  neuerer  Zeit  siedelte  ebenfalls  ein  französisch  dichtender  Professor 
von  Kolmar  nach  Strassburg.  Sainte-Beuve  hat  in  seinen  „Montagsplaude- 
reien" die  Verdienste  von  Antoine  Campaux,  dem  Biographen  von 
Villon,  so  anerkennend  hervorgehoben,  dass  gegenwärtige  Besprechung  fast 
überflüssig  scheinen  dürfte.  Doch  hat  gerade  in  diesem  letzten  Decennium 
die  poetische  Entwicklung  von  Campaux  wiederholte  Proben  ihrer  Lebens- 
fähigkeit abgelegt.  In  einem  Bändchen  von  lyrischen  Gedichten  (das  Ver- 
mächtniss  von  Mark  Antonio)  geisselt  der  Dichter  die  unzüchtige,  gesetz- 
lose Modepoesie  und  stellt  sie  in  gelungenen,  individualisirten  Portraits  an 
den  Pranger.  Nur  hat  dies  Gebahren  oft  etwas  räthselhaftes  für  den  Leser, 
der  nicht  ganz  in  das  Treiben  der  literarischen  Pariser  Zigeunerbande  (Bo- 
heme) eingeweiht  ist.  Die  poetische  Sprache  von  Campaux;  ist  sehr  gedie- 
gen; wie  denn  überhaupt  die  neuere  Schule  in  Frankreich  und  in  Deutsch- 
land, was  die  Form  betrifft,  untadelhaft  dasteht  und  zu  wahrer  Vortreff'lich- 
keit  gediehen  ist.  Ob  gerade  dieser  materielle  Fortschritt,  diese  Durchbil- 
dung der  Versification ,  nicht  dem  Gedanken  und  der  Erfindung  Eintrag 
thut,  das  ist  eine  andere  Frage.  —  Campaux  ist  nicht  nur  Satyriker;  er  ist 
ein  tieffühlender  und  blendend  malender  Naturfreund.  Mit  der  Scenerie  der 
alsatischen  und  lotharingischen  Vogesen  ist  er  in  jeder  Jahreszeit  vertraut 
und  führt  uns  vor  anmuthige,  durch  Staffage  belebte  Landschaftsgemälde. 
Für  die   einfachen  Freuden  und    erasten  Pflichten  des  Schullehrers  hat  er 


Miscellen.  219 

cranz  eigene  analytische  und  doch  mit  Farben  getränkte  Schilderungen ;  er 
erinnert  wohl  an' die  englischen  Lakisten,  aber  es  ruht  doch  über  dem  Gan- 
zen ein  acht  gallischer  Hauch.  —  Die  Schilderung  abnormer,  einsiedlerischer 
Charaktere  gelingt  ihm  vorzüglich:  er  vertieft  sich  nicht  ungein  in  die  See- 
lenleiden Anderer  und  hat  wohl  selber  eine  herbe  Schule  des  Lebens  durch- 
eemacht.  In  seinem  Talent  sehe  ich  keine  Spuren  des  nahen  intellectuellen 
Deutschlands,  aber  die  Luft  der  deutschen  Berge  hat  ihn  durchdrungen 
und  gesättiget.  .  t>      i 

Unter  den  jüngeren,  rein  elsassischen  Versificatoren  tritt  uns  raui 
Ristelhüber  entgegen.  Sein  Name  spricht  seine  deutsche  Abkunft  aus; 
doch  hat  er  nicht  eine  Silbe  deutsch  geschrieben,  oder  einen  Gedanken 
deutsch  aufgefasst,  obgleich  er  Göthe's  Faust  und  Schlller's  Maria  Stuart 
auf  seine  Art,  nicht  ohne  Geschick,  in  französische  Verse  für  das  -Lheater 
umformte.  Als  Pierre  Lebrun  gerade  vor  einem  halben  Jahrhundert  Maria 
Stuart  für  das  Theater  zustutzte,  und  mit  Talma's  Hülfe  einen  zuerst  be- 
strittenen, dann  enthusiastischen  Success  errang,  brachte  der  franzosische 
Dichter  zu  seinem  Werke  schon  eine  erprobte  Bühnenkenntniss  und  eme 
ausgezeichnete  academisch-stylistische  Begabung  mit.  —  Ristelhuber  musste 
seine  Bearbeitung,  die  bisweilen  willkürlich  mit  der  Originaldichtnng  ver- 
fährt, auf  die  Scene  bringen.  Seine  formelle  Befähigung  ist  bedeutend:  er 
besitzt  die  Factur,  die  poetische  Sprache,  wie  sie  durch  Victor  Hugos 
Schule  befördert  worden,  und  legte  davon  Proben  ab  in  seinem  Bandchen 
phantasiereicher,  capriciöser  Gedichte,  die  er  unter  dem  Titel  Rhythmen 
und  Rund-Reime"  ausgab  (18G4).  Alfred  Musset  hat  ihm  wohl  bisweilen 
als  Muster  vorgeschwebt;  die  individuelle  Laune,  das  Capriccio  lasst  sich 
aber  nicht  nachahmen,  nicht  in  seinem  Schmetterlingsfluge  haschen.  Ristel- 
huber ist  noch  in  jugendh'cher  Entwicklung  begriffen;  er  ist  auch  ein  Ar- 
beiter auf  historisch-alsatischem  Gebiet.  * 

Ich  war  unentschlossen,  ob  ich  Louis  Ratisbonne  unter  die  i^lsas- 
sischen  Dichter  reihen  dürfte.  Er  ist  durch  Geburt  und  verwanfl^tschaftliche 
Bande  an  unsere  Heimat  gekettet;  aber  seine  Erziehung  und  Entwicklung 
gehört  fast  ausschliesslich  in  die  französische  Hauptstadt.  -  Der  Nette  des 
Pater  Ratisbonne  und  des  berühmten  Convertiten  Alphons  Ratisbonne,  der 
crewissenhafte  talentvolle  Uebersetzer  der  „Göttlichen  Komödie,"  der  Be- 
schützer manches  aufstrebenden  elsassischen  Literaten,  steht  noch  in  den 
besten  Mannesjahren.  Seine  ersten  poetischen  Versuche  reichen  um  acht- 
zehn Jahre  aufwärts.  Die  poetische  Bearbeitung  Dante's,  in  sechs  Banden, 
ist  schritt-  und  terzinenweise  mit  allem  Bedacht  vorangefuhrt  worden,  und 
hat  ihrem  Verfasser  zweimal  die  höchste  academische  Belobung  und  Beloh- 
nun<r  ein'^etragen.  Als  Alfred  de  Vignv  seinen  Jüngern  Frgund  testamen- 
tarisch zum  Herausgeber  seines  literarischen  Nachlasses  bezeichnete,  schien 
dies  ebenfalls  der  Fingerzeig  eines  Sterbenden,  der  maassgebend  und  be- 
stimmend für  die  französische  Academie  sein  sollte.  Der  letzte  \\  iUe  des 
Verfassers  von  Chatterton  blieb  unbeachtet;  und  doch  hatte  Louis  Ratis- 
bonne eine  ganze  Reihe  von  poetischen  und  prosaischen  Schriften  als  Rechts- 
titel aufzuweisen,  und  in  all'  seinen  lyrischen  Ergüssen  bewhhrt  sich  ein 
achtes  Talent  in  ausgezeichneter  Form  und  krystallreiner  Begeisterung. 
Was  ihm  vielleicht  geschadet,  ist  sein  verschwenderisches  Auftreten  in 
Tao'esblättern,  er  hat  seine  Begabung  nicht  immer  gehörig  zusammengehal- 
ten'' Doch  möchteich  deshalb  nicht  allzustrenge  sein;  denn  in  der  franzo- 
sischen Academie  sitzt  mehr  denn  einer,  dem  diese  tägliche  politische  oder 
literarische  Improvisation  auch  zur  zweiten  Natur  geworden.  Vielleicht  tand 
man  in    seiner  poetischen   Totalität    nicht   das   Mark    und    die  Kraft  eines 

*  Herausgeber  von  EaquoPs  asiatischem  geographisch-statistischem  Wör- 
terbuch. 


220  Miscellen. 

durchaus  männlichen  Dichters.  Seine  „Komödie  für  Kinder,"  *  das  heisst. 
seine  in  Action  gesetzten  väterlichen  Unterhaltungen  im  Kreise  seiner  klei- 
nen Familie,  diese  naivseinsollenden  Apologe  haben  in  Paris  ein  sehr  gün- 
stiges Publikum  getroffen;  mir  konnten  sie  dagegen  nie  ganz  munden.  Ich 
vermisste  darin  das  franke,  freie,  das  naturgemässe  Sichgehenlassen,  welches 
dem  Dichter  für  die  Kinderwelt  ziemt.  Es  liegt  für  mich  etwas  gezwunpie- 
nes.  maniorirtes  in  dieser  allzugeistreichen  Inscenirung.  Die  vorlauten,  früh- 
reifen, altklugen  Pariserkinder  —  les  enfants  terribles  —  scheinen  vor  mir 
wie  geschniegelte  Drahtpuppen  daher  zu  hüpfen;  sie  sprechen  nicht  zu 
meinem  Gemüthe ;  mithin  kann  ich  selbigen  nicht  von  Herzen  gut  sein,  und 
die  vom  Dichter  gepredigte  Moral  lässt  mich  kalt.  —  „Du  hast  nun  einmal 
die  Antipathie,"  dürfte  mir  ein  Freund  des  Dichters  zurufen,  und  ich  wäre 
geschlagen ;  denn  die  Beobachtungs-  und  Erfindungsgabe  in  diesen  lakoni- 
schen, epigrammatisch  zugespitzten  Apologen  ist  unläugbar.  Es  ist  etwas 
von  Lessing'schem  Verfahren  dahinter;  nur  schrieb  Lessing  seine  Fabeln 
nicht  für  Unmündige. 

Rati  sbonne  hat  sieh  vor  zwölf  Jahren  mit  einer  einactigen  Tragödie 
auf  das  Theätre  francais  gewagt.  —  Sein  „Hero  und  Leander"  wurde  bei- 
fällig {aufgenommen;  und  doch  hat  seitdem  der  Verfasser  nicht  mit  einem 
zweiten  Stücke  den  Versuch  wiederholt.  „Hero  und  Leander"  ist  mit  vieler 
Kunst  angelegt.  Das  kleine  Drama  ist  aus  einem,  wie  es  schien,  unmög- 
lichen, jedenfalls  spröden  Stoff"  herausgemeisselt.  Die  Priesterin  der  Venus 
erwartet  am  sturmgepeitschten  Meeresufer  ihren  Geliebten ;  eine  Sclavin, 
Amylla  (die  unvermeidliche  Confidente  der  französischen  Tragödie)  ihr  zur 
Seite.  —  Von  ferne  kämpft  Leander  mit  den  Wellen ;  er  sinkt,  er  verschwin- 
det. .  .  .  Da  richtet  die  verzweifelnde  Hero  Ihr  Gebet  nicht  an  die  Venus ; 
sie  fleht  zu  Neptun,  dem  Meergott;  sie  schwört  bei  dem  Styx,  ihrem  Ge- 
liebten, ihrer  Liebe  zu  entsagen,  wenn  der  Arme  aus  dieser  Todesgefahr 
sich  rettet.  Kaum  ist  das  Gebet  und  das  Gelübde  ausgesprochen,  da  ist 
auch  der  Sturm  besänftigt: 

Und  das  Meer  lag  still  und  eben 
Einem  reinen  Spiegel  gleich; 
Keines  Windes  leises  Weben 
Regte  das  krystallne  Reich. 

Leander  stürzt  auf  die  Scene;  Amylla  entfernt  sich,  aber  warnt  die  Prieste- 
rin, ihr  Gelübde  nicht  zu  vergessen.  —  Die  Zusammenkunft  der  Liebenden 
ist  mit  vieler  Delicatesse  behandelt,  das  psychologische  Motiv  der  Lage 
fein  entwickelt.  Leander  findet  seine  Geliebte  verlegen,  beinahe  kalt,  ängst- 
lich ausweichend ;  er  kann  sich  diese  Stimmung  nicht  erklären,  er  wird  zu- 
dringlich, heftig;  dann  wieder  in  Zärtlichkeit  sich  auflösend;  die  arme  Prie- 
sterin  Ist  erweicht,  erschüttert,  auf  dem  Punkte  ihn  zu  erhören  .  .  da  er- 
scheint Amylla  warnend,  drohend.  Hero  verlässt  die  Scene  .  .  .  Amylla 
soll  dem  Unglücklichen  das  fürchterliche  Gelübde  offenbaren. 

Die  Unterredung  zwischen  der  Sclavin  und  dem  unseligen  Jüngling  ist 
ergreifend.  Er  versagt  der  Erklärung  jeden  Glauben.  Eine  Untreue,  eine 
räthselhafte  Wandlung  in  den  Gefühlen  der  Hero  ist  für  ihn  die  einzig  an- 
nehmbare Ursache  dieses  Zurückstossens.  —  „Der  erste  Scliwur  galt  der 
Venus,"  ruft  er  aus;  dieser  Schwur  war  bindend  für  die  Gellebte,  nicht  der 
gottlose,  dem  Stys.  hingesagte.  Er  verwünscht  sich  und  sein  Leben,  er  will 
nichts  mehr  hören;  er  stürzt  sich  verzweifelnd  in  das  Meer,  nic'it  nur 
ahnungsvoll,  nein,  mit  der  Ueberzeugung.  er  werde  diesmal  untergehn.  — 
Die  Schlussscene   zwischen  Hero   und   Amylla   ist   vielleicht   etwas   gedehnt, 


La  Comedie  enfantine. 


Miseellen.  221 

aber  docli  tragisch  in  hohem  Grade.  Ilero,  da  sie  den  Geliebten  nicht  mehr 
am  Meeresufer  findet,  bricht  ihrerseits  in  den  Schraerzensschrei^  der  Ver- 
zweiflung aus;  sie  klagt  mit  heftigen  Worten  ihre  Sclavin  der  Verstellung 
an:  „Du  liebtest  ihn,  Du  wolltest  zwischen  uns  eine  Trennung!"  —  Leser 
und  Zuschauer  sehen  leider  das  unvermeidliche  Ende  voraus. 

Die  Wellen 
Schwemmen  ruhig  spielend 
Einen  Leichnam  an  den  Strand  .  .  . 

Hero  stürzt  sich  mit  fliegendem  Gewände  in  die  See. 

Hat  nun  der  dramatische  Dichter  jeden  Anstoss  vermieden?  jede  Schwie- 
rigkeit, die  in  diesem  Sujet  lag,  umgangen?  Ich  möchte  dies  nicht  unbe- 
dingt bejahen.  Schiller's  Hero  und  "Leander  wird  in  ewiger  Jugendfrische 
leben;  wer  könnte  dem  französischen  Dichter  für  sein  Trauerspiel  dasselbe 
versprechen?  —  Nur  pflichtgetreue  Kritiker  werden  in  gar  nicht  ferner  Zeit 
den  Hero  und  Leander  von  Louis  Ratisbonne  lesen.  Und  doch  liegt  in 
dieser  feinen  Skizze  ein  ungemeines  stylistisches  Talent;  die  Verse  sind  ein- 
schmeichelnd; der  Dichter  ist  bald  energisch,  bald  graziös;  mehrere  gut 
vorbereitete  und  kunstreich  durchgeführte  psychologische  Momente  bringen 
Leben  und  Handlung  in  das  Ganze.  Aber  schon  die  ganze  Situation  ist 
etwas  gezwungen.  Der  Jüngling,  der  eigentlich,  der  Wahrscheinlichkeit  ge- 
mäss, von  Seewasser  trielend,  auftreten  sollte;  und  dann  das  Riskirte,  In- 
discrete  in  der  Lage  des  vorgeführten  Paares! 

Ratisbonne  der  Kritiker  steht  höher  als  der  Dichter.  In  seinen 
einfiichsten,  leicbthingegossenen  prosaischen  Auf'Mitzen  liegt  ein  Schatz  gebor- 
gfn  von  neuen  frappanten  Ansichten  über  Welt  und  Menschen,  über  Kunst 
und  Literatur.  Er  hat  diese  zerstreuten  Blätter,  im  Laufe  von  einem  De- 
cennium,  mehrmals  in  Kränze  zusammengebunden  und  sie  glänzen  noch  in 
Jugend-  und  Frühlingsfrische.  Auch  die  Satyre  geht  nicht  leer  aus;  mit 
vernichtendem  Spott  fällt  der  Kritiker  über  die  unheimhchen  Schwächen 
seiner  Zeitgenossen  her;  nicht  ungestraft  lebt  der  gemüthsvoUe  Dichter  in 
der  widerwärtigen  faulen  pariser  Atmosphäre,  mehr  als  einmal  fühlt  er  sich 
berufen  die  Geissei  zu  schwingen.  Wohl  hat  der  iui-olente  Louis  Veuillot 
keine  herberen  Streiche  empfangen,  als  die  von  der  anscheinend  weichen 
Hand  Louis  Ratisbonne's  auf  den  breiten  Rücken  beigebrachten;  wohl  nie 
ist  das  Wettrennen  nach  Ordensbändern  treffender  geschildert  und  verhöhnt 
worden  als  durch  den  Uebersetzer  Dante's.  Er  ist  mithin  vom  Zeitgeiste 
getränkt  und  nicht  in  die  Sphäre  der  elegischen  Naturdichter  gebannt;  mit 
gellendem  Gelächter  begrüsst.  und  verfolgt  er  die  Tagesgötter  hinter  und 
neben  ihren  Triumphwagen,  und  reisst  die  entweihten  Lorbeerblätter  von 
den  gemeinen  Stirnen.  —  Tadeln  kann  er  also:  und  dennoch  ist  er  mit  sei- 
nem "Lobe  noch  viel  zu  sehr  verschwenderisch.  Wer  nicht  zwischen  den 
Zeilen  liest,  mag  oft  für  baare  Münze  nehmen,  was  der  Kritiker  als  erzwun- 
gene Scheideimmze  betastet  wissen  will.  Seine  Aufsätze  kommen  der  psy- 
chologischen, biographischen  Analyse,  worin  Sainte-Beuve  unerreichbare 
Muster  geliefert,  bei  Weitem  nicht  gleich;  aber  ich  gebe  selbigen  entschie- 
denen Vorzug  vor  der  schillernden  phrasenreichen  leeren  Kritik,  wie  sie 
Jules  Janin  seit  vierzig  Jahren  allwöchentlich  in  den  Debats  an  den  Älann 
bringt. 

In  dieser  kurzen  Uebersicht  der  poetischen  Leistungen  französisch  ge- 
bildeter Elsässer  und  im  Elsass  auf  kürzere  oder  längere  Zeit  angesiedelter 
Franzosen,  geschah  bis  jetzt  keine  Erwähnung  der  übrigen  Zweige  der  Belle- 
tristik, der  Romaue  und  Novellen,  der  Touristenliteratur,  der  Phantasie- 
stücke, der  moralisirendeu  Abhandlungen  u.  s.  w.  Es  erübrigt  in  diesen 
Fächern  einige  namhafte  Personalitäten  anzudeuten. 


222  Miscellen. 

Da  stossen  wir  gleich  auf  einen  achtzigjährigen  Greis ,  der  mit  Göthe 
das  Privilegium  eines  hohen  rüstigen  Alters  und  einer  Doppelbeschäftigung 
auf  naturwissenschaftlichem  Gebiete  und  im  blühenden  Garten  der  Dicht- 
kunst theilt.  Fee,  der  Botaniker,  hat  sich  als  Moralist,  Tourist  und  Novel- 
list hervorgethan.  Seine  Erinnerungen  aus  Spanien  und  Korsika  sind  an- 
muthig  und  lesen  sich  leichtweg.  Die  Volkspoesie,  die  Voceri  der  Napoleo- 
nischen Insel  hat  er  eingehend  mit  Vorliebe  und  Sachkenntniss  behandelt: 
auch  einzelne  literarische  Bändchen  geben  Zeugniss  von  seiner  Beobach- 
tungsgabe und  seinem  gefälligen  Wesen;  er  hat  etwas  von  der  Art  des 
Xavier  de  Maistre;  nicht  ohne  Interesse  lässt  er  im  Volke  aufgegriffene 
Typen,  mehr  odei  weniger  hart  heimgesuchte  Charaktere,  vor  uns  auf- 
tauchen. Was  aber  Herrn  Fee  in  den  meisten  seiner  Producte  abgeht, 
das  ist  das  Kernhafte,  Gedrungene;  alles  geräth  und  verläuft  bei  ihm  in's 
Breite,  besonders  wenn  er  zu  moralisiren  anfängt,  Sentenzen  und  Gedanken 
aufzeichnet,  da  möchte  ich  ihm  wohlmeinend  bedeuten,  dass  nach  La  Roche- 
foucauld und  vielen  Denkern  seiner  Nation  die  Gemeinplätze  in  diesem 
Fache  unerlaubt  sind.  Damit  will  ich  nicht  gesagt  haben,  dass  nicht  mit- 
unter gute,  feingedachte  Gedanken  sich  bei  ihm  vorfinden;  aber  der  Haupt- 
stock solcher  Mittbeilungen  ist  der  Art,  wie  sie  in  geistreichen  französischen 
Gesprächen,  am  Kamin  oder  beim  Nachtisch  der  Weltmann  unbeachtet  zum 
Besten  giebt,  ohne  sie  je  der  Druckerpresse  zu  überliefern. 

Von  deutschem  Wesen  ist  Herr  F^e,  wie  die  Mehrzahl  seiner  franzö- 
sischen Collegen  in  Strassburg,  ganz  unberührt  geblieben.  Ueber  deutsche 
Literatur,  die  er  bloss  fragmentarisch  aus  Uebersetzungen  kannte,  war  er 
im  höchsten  Grade  absprechend,  und  unbewusst  für  Fachmänner  beleidigend 
und  herausfordernd.  Hier  verläugnete  er  nicht  die  alte,  engclassische  into- 
lerante Schule:  hors  de  l'eglise  point  de  salut. 

In  dem  vorletzten  Jahre  der  Bourbonenregierung  erschienen  „Die 
Briefe  über  den  Orient,"  von  einem  aus  dem  Elsass  gebürtigen  Ge- 
sandtschaftssecretär,  Baron  Theodo  r  Renouard  de  Bussierre.  Der 
junge  Diplomat  hatte  seine  Reise  von  Wien  aus  nach  Konstantinopel, 
Smyrna  und  Egypten  ohne  zureichende  archäologische  Vorkenntnisse  ange- 
treten, aber  die  anspruchslose  naive  Reisebeschreibung  fand  zuvorkommende 
Leser;  waren  doch  beide  Bändchen  mit  einer  wohlgefüllten  Mappe  litho- 
graphischer Landschaftsgemälde  versehen,  die  jetzt  nach  vierzig  Jahren 
nichts  von  ihrem  ursprünglichen  Reize  verlieren,  v.  Bussierre  war  mehr  als 
Dilettant;  sein  Künstlerauge  war  im  Auffassen  der  Gegenden  und  der  Mo- 
numente sehr  glücklich :  er  verband  Eleganz  und  Anmuth  mit  beinahe  pho- 
tographischer Treue.  Die  Reise  dehnte  sich  bis  an  die  Nubischen  Tempel 
aus  und  war,  in  einigen  Begegnissen,  nicht  ganz  gefahrlos.  So  brachte  er 
im  St.  Katharinenkloster  am  Fusse  des  Sinai  mit  seinem  Freund  und  Be- 
gleiter, Lord  Brabazon,  mehrere  böse  Tage  zu.  Die  Beduinen,  die  er  von 
Kairo  nach  Jerusalem  gemietbet,  wollten  die  ursprünglichen  Bedingungen 
nicht  einhalten  und  zwangen  die  Reisenden  nach  Egypten  zurückzukehren. 
Die  Klostermönche  beschworen  vergebens  ihre  unvorsichtigen  Gäste,  sich 
den  treulosen  Führern  nicht  anzuvertrauen,  und  die  Ankunft  irgend  einer 
Karavane  von  Pilgern  abzuwarten.  Die  Rückreise  war  peinlich  und  durch 
die  Befürchtung  eines  verrätherischen  Ueberfalls  getrübt.  —  Bussierre  ver- 
wand nie  die  fehlgeschlagene  Fahrt  an  das  heilige  Grab.  Schon  damals 
neigte  sich  wohl  seine  lebhafte  Phantasie  zur  katholischen  Kirche.  Als  po- 
lemisirender  Katholik  ist  er  vielfach  aufgetreten.  Eine  Reise  in  das  Innere 
Siciliens  und  auf  den  Etna,  in  Gesellschaft  seines  Bruders ,  lieferten  ihm 
den  Stoff"  zu  einer  Reisebeschreibung,  die  gediegener  als  sein  Erstlingswerk 
ausfiel.  Als  alsatischer  dilettirender  Historiker  ist  er  Verfasser  einer  Bio- 
graphie Karl's  des  Kühnen,  einer  Geschichte  des  Bauernkriegs,  einer  ein- 
seitigen leidenschaftlichen  Geschichte  der  Reformation  in  Strassburg;  für 
die  letztere  benutzte  er  indess  gewissenhaft  die  localen  Archive.  —  Er  war 


Miscellen.  223 

Polygraph  und  fand  als  Convertit  unter  seinen  neuen  Glaubensgenossen 
zahlreiche  wohlwollende  Leser.  Sein  schöner  Landsitz  zu  Reichshoffen, 
früher  ein  Eigenthum  des  unglücklichen  Friedrich  von  Dietrich,  beherbergte 
den  berüchtigten  Louis  Veuillot  und  das  nahe  Kloster  in  Niederbronn 
wurde  der  Ausgangspunkt  einer  thaumaturgischen  Propaganda.  Alphons 
Katisbonne,  der  römische  Convertit,  war  einer  der  näheren  Freunde  ßus- 
sierres. 

Auf  dem  Gebiete  der  Romanliteratur  tritt  am  Anfang  der  Juliregierung 
der  Pseudonyme  Louis  Lavater  auf.  Er  beschränkt  sich  in  seinem  „Henri 
Farel"  auf  bitten-  und  Lamis<chaftsmalerei ,  auf  die  Analyse  der  Gemüths- 
leiden  und  lasst  die  Zeitereignisse  des  ersten  Kaiserreichs  und  der  Restaura- 
tion nur  im  Hintergrund  seines  zweibändigen  Werkes  durchschimmern.  Die 
Pariser  Kritik  warf  dem  Verfasser,  bei  aller  Anerkennung  des  leidenschaft- 
lichen Interesses,  seine  Germanismen  vor  und  witterte  vielleicht  hinter  dem 
Cultus  der  deutschen  Literatur  Tendenzen,  die  ihm  keineswegs  im  Sinne 
lagen.  Im  Elsass  wurde  dem  schüchternen  Pseudonym  das  Zeichnen  unlieb- 
samer Charaktere  vorgeworfen;  er  habe  sich,  so  hiess  es,  an  seinen  Lands- 
leuten durch  diese  unwahre  VerungHnipfung  versündigt;  aber  nichtsdesto- 
weniger spürte  man,  scandalsüchtig,  hinter  dem  Schleier  der  Dichtung,  nach 
unmöglichen  Realitäten.  —  Ein  zweiter  Roman  desselben  Schriftstellers, 
„Der  neue  Candide,"  brachte  keinen  Schluss  und  konnte  somit  nicht 
befriedigen.  Die  Scene  spielt  in  Italien  und  führt  Charaktere  aus  der  da- 
mals wenig  bekannten  römischen  Bürgerwelt  vcr.  —  Rom  und  die  pittoreske 
Campagne  bilden  den  Rahmen.  —  „Manesse,"  der  mittelalterliche  Dichter, 
wurde  für  Louis  Lavater  zum  Gegenstand  einer  Novelle,  welche  in  der 
Neuenburger  Revue  Suisse  an's  Licht  trat.  (1848.J  Sie  versank  in  dem 
Strudel  jener  furchtbaren  Socialisten-Epoche. 

Den  rein  literarischen  Charakter,  der  in  Louis  Lavater's  Romanen  vor- 
herrscht, überwog  in  neuerer  Zeit  das  stoffartige  Interesse,  welches  die 
Producte  von  Erckmann-C  hatr  ian  kennzeichnet.  Es  charakterisirt  ganz 
das  jetzige  Lesepublikum,  dass  eine  den  geschichtlichen  Ereignissen  ent- 
lehnte und  in's  Breite  durchgeführte  Erzählung,  das  künstlerische  Verfahren 
ganz  in  den  Hintergrund  drängt.  —  Erckmann  (Chatrian  greift  bekanntlich 
nur  als  Geschäftsführer  ein\  Erckmann,  in  der  Festung  Pfalzburg,  auf  der 
Grenz-  und  Wasserscheide  Lothringens  und  des  Elsass  geboren,  in  den  Er- 
innerungen an  die  Kaiserzeit  aufgewachsen,  stellte  sich  zur  Aufgabe  seines 
literarischen  Berufs,  den  Krieg  mit  all  seinen  Scheusslichkeiten  zu  brand- 
marken, und  somit  der  AViederholung  einer  langen  unheilvollen  Periode 
(1792 — 1815)  vorzubeugen.  Seine  Romane  geniessen  eines  europäischen 
Rufes;  die  Edinburgh-Review  hielt  den  Erzeugnissen  der  Muse  Erckmann's 
eine  mit  Belegen  ausgestattete  Lobrede;  aber  der  wohlgemeinte  Versuch  des 
philanthropischenRomanschreibers  sollte  der  Mitwelt  leider  keinen  Schuss  Pul- 
vers und  nicht  ein  einziges  Menschenopfer  ersparen;  ein  neuer  Beweis,  wie  ge- 
ring derEinfluss  der  beliebtesten  Schriftsteller,  wenn  solche  nicht  den  Interessen 
und  Leidenschaften  der  Masse  schmeicheln.  Die  zahlreichen  Romane  des  Pfalz- 
burgers sind  selbstverständich  in  Paris  erschienen  und  hätten  —  wären  sie 
in  einer  Provinzialstadt  herausgegeben  —  nun  und  nimmermehr  irgend  eine 
Celebrität  errungen.  Die  ersten  in  den  Democrate  du  Rhin  gelieferten  No- 
vellen bheben  ganz  unbeachtet;  denn  „was  kann  aus  Nazareth  Gutes  kom- 
men?" .  .  .  Die  nicht  talentlosen  „Contes  fantastiques"  scheiterten  eben- 
falls an  der  Indifferenz  des  Pubhkums.  Erst  mit  dem  „Doctor  Matheus" 
(1859)  und  dem  „Juden  Yekof"  (1862)  begann  für  dies  Freundespaar  eine 
günstigere  productive  Periode.  Die  Scenen  der  Campagne  von  1814  sind 
ergreifend  in  diesem  letztern  Romane  geschildert.  Der  Partisanenkrieg  in 
den  Elsassischen  und  Lothringischen  Engpässen  am  Fusse  des  Donon  und 
in  den  Umgebungen  Pfalzburgs  bildet  die  Hauptvorlage.  Nach  der  Natur 
gezeichnet  sind   die  Charaktere ;   die   Realität  ist  photographisch  wiederge- 


224  Miscellen. 

geben ;  keine  Spur,  kein  Anflug  von  Idealisirung.  —  Mit  einem  glücklichen 
Griff"  hatten  so  die  Verfasser  den  öffentlichen  Geist  errathen  und  konnten 
nun  auf  dem  gebahnten  Wege  getrost  vorangehen.  Was  ich  von  der  Cha- 
racter-Zeichnung  sage,  möchte  ich  nicht  immer  von  der  Naturschilderung 
gelten  lassen;  hier  sind  die  Conturen  nicht  überall  und  nicht  immer  mit 
fester  Iland  gezeichnet,  und  es  möchte  der  Einbildungskraft  des  Lesers 
nicht  leicht  werden,  sich  von  jeden  beschriebenen  Localiläten  ein  bestimm- 
tes Bild  zu  entwerfen.  Auch  mit  der  reellen  Topographie  und  mit  dem 
Höhenmaasse  der  Berge  gehen  die  Verfasser  willkürlich  um;  für  die  erstere 
und  für  die  Orthographie  der  deutschen  Benennungen  sind  sie  nicht  verantwort- 
lich; schreiben  sie  doch  für  französische  Augen  und  Ohren;  aber  die  Abgründe 
und  Hochebenen  sind  mit  Zahlen  bezeichnet,  die  etwa  für  die  alpinische 
Schweiz,  nicht  aber  für  die  Vogesen  anwendbar  sein  dürften. 

Ein  unbestreitbarer  Vorzug  bleibt  den  Romanen  E  rckman  n -Cha- 
trians,  vergleicht  man  solche  mit  den  gleichzeitigen  französischen  Erzeug- 
nissen in  diesem  belletristischen  Fachwerk.  Er  ckmann-Chatrian's  Werke 
sind  acht  moralisch,  nicht  mcralisirend.  Die  Verfasser,  ihrer  intensiven  Stärke 
sich  bewusst,  verschmähen  es,  in  der  Schilderung  der  Verhältnisse  beider  Ge- 
schlechter, auf  die  Sinnlichkeit  ihrer  Leser  irgendwie  zu  wirken.  Ihre  weib- 
lichen Gestalten  sind  wahr  und  einfach,  bisweilen  sehr  anmuthig  und  naiv, 
nicht  verführerisch;  es  ist  ihnen  auch  nicht  immer  eine  Hauptrolle  zuge- 
wiesen. 

Mit  den  sechziger  Jahren  (1861 — 1870)  wächst  der  Ruf  Erckmann- 
Chatrian's  in  geometrischer  Progression.  FrauTherese  oder  die  Freiwilligen 
von  1792;  die  Geschichte  eines  jungen  Soldaten  von  1813;  Waterloo  ;  die 
Blokade;  die  Schicksale  eines  Bauern  u.a.  m.  behandeln  insgesammt  Epochen 
aus  den  Revolutionskriegen  oder  den  Jahren  des  zum  Sturze  sich  hinneigen- 
den Kaiserreichs.  Allen  ist  der  Vorzug  lebhafter  Anschaulichkeit  gemein; 
aber  auch  in  allen  stossen  wir  auf  die  weitgedehnteu  Gesprä('he  der  vor- 
geführten Personen.  Walter  Scott  wird  ebenfalls  nicht  lass,  seine  Geschöpfe 
dialogisirend,  und  zwar  nicht  lakonisch  vorzuführen ;  aber  es  belebt  sie  ein 
gewisser  Shakespeare'scher  Geist;  ein  fester  Styl  hebt  sie  immer  etwas  über 
die  platte  Wirklichkeit  empor.  Dass  Erckmann-Ch  atrian  einen  so  unge- 
meinen Einflnss,  wie  durch  Zauberfchlag,  errungen,  ist  ein  unwiderleglicher 
Beweis,  wie  sehr  das  ästhetische  Feingefühl  bei  dem  jetzigen  Lesepublikum 
allmälig  abgestumpft,  und  wie  in  den  Blüthetagen  Walter  Scott's  und  Feni- 
more  Cooper's,  oder,  um  noch  etwas  weiter  chronologisch  hinaufzusteigen, 
in  den  Tagen,  als  Frau  von  Stael  die  Corinne  schrieb,  die  Masse  der  Lese- 
welt sich  durchschnittlich  auf  einem  höheren  Standpunkt,  sei  es  beurtheilend, 
sei  es  passiv  aufnehmend,  oben  hielt. 

Ohnlängst  haben  sich  Erckmann-Chatrian  im  dramatischen  Fache 
versucht  und  ihren  „Polnischen  Juden,"  der  schon  in  den  phantastischen  Er- 
zählungen als  Skizze  vorlag,  auf  eine  der  secundären  Pariser  Bühnen  ge- 
uracht.     Der  Versuch  ist  gelungen. 

Welchen  Einfluss  die  jüngsten  welthistorischen  Begebenheiten  auf  Erck- 
mann-Chatrian wohl  ausüben  werden?  Die  grässlichen  Verheerungen,  die 
schauderhaften  Grausamkeiten,  alle  unausbleiblichen  Folgen  der  einmal  ent- 
fesselten Kriegsfurie,  geben  ihren  patriotischen  Friedenstendenzen  in  vollem 
Maasse  Recht;  an  ihrem  guten  Willen  lag  es  nicht,  dass  kein  lohnendes, 
praktisches  Ziel  erreicht  worden.  Sie  predigten  Gerechtigkeit  auch  gegen 
fremde  Nationalitäten;  sie  wollten  über  den  Rhein  hinaus  die  Hände  der 
Uferbewohner  zusammenlegen,  nicht  die  Schwerter  wetzen.  Auf  ihre  ehren- 
hafte schriftstellerische  Thätigkeit  fussend ,  mögen  sie  jetzt,  mitten  in  den 
Nachwehen  und  im  gährenden  Chaos,  an  irgend  einem  Rettungsufer  ankern, 
und  von  dort  aus  mit  neuen  Schöpfungen  die  bewegten  Gemüther  besänf- 
tigen, vereinigen,  versöhnen. 

Der  Sprung   von  der  kräftigen  Doppelfigur  des  Herrn  Erckmann-Cha- 


Miscellen.  225 

triau  auf  den  einfachen  Moralisten  Adolph  Scliaeffer,  der  einen  religiö- 
sen Eoman  verfasste,  ist  ein  wahrer  salto  mortale.  Das  Büchlein  „un  homme 
heureux"  betitelt,  ist  eine  Fiction  mit  moralischer  Nutzanwendung,  ein  wenig 
nach  Art  gewisser  englischer  Damen-Komane,  die  mit  mehr  ■  oder  weniger 
Talent  eine  These  im  Gewände  der  Erzählung  vortragen  und  vertheidigen. 
Ich  will  solche  ästhetisch-dogmatische  Versuche  gerade  nicht  abweisen,  aber 
für  meinen  Geschmack  sind  sie  nun  einmal  nicht.  „Der  glückliche  Mensch," 
wie  der  Verfasser  ihn  hinstellt,  ist  es  keineswegs  im  Sinne  der  "Weltmen- 
schen; er  lebt  in  sehr  beschränkten,  niedern  Verhältnissen;  aber  durch  ein 
liebendes  weibliches  Wesen,  durch  seine  engelgleiche  Gattin,  ist  er  aus  einem 
Freidenker  nach  und  nach  ein  gläubiger  Christ  geworden,  und  seine  Glau- 
benszuversicht geht  nicht  nur  unversehrt  aus  der  Feuerprobe  des  schwersten 
Hauskreuzes  und  inneru  Leidens  hervor,  nein,  sie  gibt  ihm  Ruhe  und  Zu- 
friedenheit; sie  stempelt  ihn  zum  wahren  Glückskind.  Der  Hehl  des  Romans 
ist  mithin  'ein  christlicher  Hiob  und  nicht  der  sceptische  Raisonneur  des 
alten  Testaments;  die  Personen  alle,  die  sich  in  dem  Kern  der  Erzählung 
siruppireu  und  die  erfundenen  oder  erlebten  Begebenheiten  bezeugen  das 
Talent  des  Verfassers;  allein  —  „man  merkt  die  Absicht  und  man  ist  ver- 
stimmt." T    1        1  •        A 

Herr  Ad.  Schaeffer  hat  unter  dem  Patronate  vonLaboulaye  eine  Apo- 
\oa\e  des  Christenthums  geschrieben,  und  überdies  einen  ausgedehnten  Trac- 
tat  über  die  Toleranz;  er  gehört  unter  die  literarischen  Notabilitäten  des 
Elsasses,  versieht  noch  eine  Seelsorgerstelle  in  Kolmar.  In  derselben  Stadt 
lebt  oder  lebte  ein  Rath  beim  Appellhof,  Namens  Huot,  der  in  letzter 
Zeit  durch  einige  historische  Monographieen  (z.  B.  „Beaumarchais  in  Deutsch- 
land«) und  Aufsätze  über  locale  Geschichte  in  der  Revue  d'Alsace  vergangne 
Schuld  abzubüssen  trachtete.  —  Herr  Huot  hatte  nämlich  vor  einigen  Jah- 
ren bei  Berger-Levrault  ein  archäologisch-historisch-belletristisches  Bändchen 
unter  dem  Titel  „Von  den  Vogesen  zum  Rhein"*  veröffenthcht.  Das 
„Berliner  Magazin  für  die  Literatur  des  Auslands"  nimmt  dieses  Mischmasch 
sehr  hart  mit,  —  und  uns  dünkt,  nicht  einmal  strenge  genug.  In  dem 
höchst  oberflächlichen  Product  sind  auf  jeder  Seite  mehrfache  Ungenauig- 
keiten  und  Verstösse  gegen  den  wahren  Sachverhalt,  und  was  noch  schhm- 
mer,  wo  etwas  annehmbares  angebracht,  stammt  es  von  aussen  her,  ohne 
Quellenangabe.  Mit  einem  Worte,  es  wird  in  dieser  Schrift  eine  unver- 
schämte Freibeuterei  getrieben.  Dieses  anmassende  Verfahren  erregte  im 
Stillen  den  wohlberechtigten  Ingrimm  aller  ernsten  Freunde  der  elsässischen 
Geschichte  und  des  heimischen  Bodens;  doch  wollte  sich  keiner  an  der  ge- 
weihten und  gefeiten  Magistratsperson  vergreifen,  die  von  „jenseits^  der  Vo- 
gesen an  den  Rhein-'  verpflanzt,  ihre  imperialistischen  Sympathieen  zur 
Schau  trug.  Das  Erstlingswerk  obbenannten  Appellraths  bietet  eine  Muster- 
karte des  frechen  Bücherraubs  und  des  leichtsinnigsten  Dilettantismus. 

Jean  Mace  ist  nicht  aus  dem  Elsass  gebürtig;  doch  gehört  er  in  die 
Reihe  der  Elsässischen  Schriftsteller,  Seine  Thätigkeit  als  populärer  Pa- 
dan-o"-  geht  aus  vom  Fusse  der  Vogesen.  Er  steht  an  der  Spitze  eines 
Peusfon'ats  für  Mädchen  der  mittleren  Stände,  in  Beblenheim.  Die  Tendenz 
dieser  Erziehungsanstalt  ist  rein  rationalistisch,  ausser  jeder  confessionellen 
Beschränkung.  —  Mace  hat  durch  seine  „Geschichte  eiries  Bissen 
Brods"  einen  allgemein  geschätzten  Namen  erworben;  es  ist  dies  eine  fass- 
liche für  die  Jugend  geschriebene  Abhandlung  über  unsere  Organe.  —  In 
derselben  Richtung  fortfahrend,  hat  er  auch  die  „AVerkzeuge  des  Magens" 
beschrieben.  —  Seine  „Theater«  und  seine  „Erzählungen  für  das  kleine 
Schloss«  möchte  ich  mit  den  Schriften  des  Weise'schen  Kinderfreundes  ver- 
gleichen. —  Doch  greift  Mace  noch  in  andere  Zweige  des  öffenthchen  Un- 


*  Des  Voges  au  Rhin. 

Ai-chiA  f.  n.  Sprachen.  XliVIlI.  lä 


226  Miscellen. 

terrichts,  er  ist  zum  Theil  Stifter  und  Beförderer  der  Volksbibliotbeken. 
Seine  Strebsamkeit  ist  segensreich. 

Charles  Dollfus  ist  in  Mühlhausen  geboren,  saugte  Luft  und  Licht 
in  der  ersten  Lebensperiode  auf  dem  heimathlichen  Boden,  aber  seine  eigent- 
liche spatere  Bildung  verdankt  er  der  französischen  Schweiz  und  der  Pariser 
Welt.  Seine  publicistische  und  belletristische  Wirksamkeit  ging  aus  von 
Paris.  Der  Sohn  des  Herrn  Jean  Dollfus,  des  weitbekannten  ehemaligen 
Municipal- Verwalters  von  Mülhausen,  ist  mit  den  Ideen  deutscher  Philosophie 
und  Literatur  gross  gezogen;  es  sind  solche  mit  seinem  eigenen  Wesen  ver- 
schmolzen; aber  nie  wäre  er  wohl  in  seiner  jetzigen  merkwürdigen  Entwick- 
lung vorangeschritten,  hätte  ihn  nicht  ein  günstiges  Geschick  an  der  Grenz- 
scheide beider  Nationen  in  die  Welt  gesetzt.  —  Charles  Dollfus  ist  ein 
Denker;  ein  tüchtiger,  vielseitiger,  vielfach  anregender  Denker.  In  seiner 
Jugend  schon  ward  er  von  den  socialen  Fragen  beunruhigt  und  bestürmt ; 
schon  am  Eintritt  in  das  Mannesalter  wagte  er  sich  an  die  Lösung  der 
Räthsel,  die  uns  auf  dem  Gebiete  der  Religion,  der  Moral,  der  Psychologie 
und  der  Staatswissenschaft  verwirren.  Es  ist  ein  unruhig,  fieberhaft  erreg- 
tes und  daneben  doch  wieder  von  gläubiger  Zuversicht  strahlendes  Gemüth, 
das  in  seinen  zahlreichen  Schriften  vor  unsern  Blicken  sich  enthüllt.  Ein 
überfliessender  Ideenreichthum,  ein  unerschöpflicher  Springquell  von  Gedan- 
ken, Empfindungen,  Wünschen,  Ähnungen  und  Prophezeiungen  tritt  in  sei- 
nen philosophischen  Aufsätzen  zu  Tage.  O  wie  viele  seichte  und  matte 
Arbeiter  auf  dem  Felde  der  Wissenschaft  und  der  Kunst  könnte  er  doch 
mit  seinem  Ueberfluss  tränken  und  sättigen! 

„Humanität  und  Fortschritt"  hat  er  auf  seine  hochgehaltene  Fahne  ge- 
schrieben; und  ich  bin  überzeugt,  es  ist  dem  enthusiastischen  Manne  voller 
Ernst  mit  seinem  Glaubensbekenntniss.  —  In  der  Menge  der  Freiheitsapostel 
gehört  er  zu  den  wenigen,  die  den  Idealen  ihrer  Jugend  treu  bleiben.  Auch 
unter  gegenwärtigem  trüben  Horizonte,  was  sage  ich,  in  gegenwärtiger 
egyptischer  Finsterniss  wird  er  immer  noch  seine  frühere  Leuchte  festhalten. 

Ja !  man  athmet  in  den  Schriften  von  Charles  Dollfus  wie  in  einer  von 
Ueberzeugungstreue  gesättigten  Atmosphäre.  Er  ist  eine  sympathische  Na- 
tur; und  doch  bin  ich  in  vielem  nicht  mit  ihm  einverstanden;  vielleicht  liegt 
der  Fehler  wohl  an  mir? 

Von  seinen  äusseren  Verhältnissen  ist  wenig  bekannt.  Dass  sein  aus- 
gezeichneter Vater,  der  philanthropische  Economist,  der  Gründer  der  Arbei- 
terviertel (Cites  ouvrieres)  in  Mülhausen  auf  den  begabten  Sohn  mehrfach 
anregend  gewirkt  haben  mag,  lässt  sich  denken.  Kaum  dreissigjährig  grün- 
dete Charles  Dollfus  mit  dem  frühern  Elsasser  Theologen  NefFzer  die  Revue 
germanique,  die  etwas  später  ihre  allzuenge  Bezeichnimg  mit  dem  Titel 
einer  „Revue  moderne"  umtauschte.  In  dieser  periodischen,  inhaltreichen, 
gtwas  radicalen  Zeitschrift  legt  er  vorzugsweise  die  Ergebnisse  seines  per- 
sönlichen Forschens  nieder  über  die  Grundübel  unserer  gesellschaftlichen 
Verhältnisse  und  der  etwa  anwendbaren  Heilmittel;  denn  um  das  Wohl  sei- 
ner Mitmenschen  ist  es  ihm  Ernst,  und  den  Ausbruch  der  jetzigen  unheilsvollen 
Krisis  verkündigte  er  jahrelang  zuvor  mit  tragischer  Beklommenheit.  Er 
unterzieht  die  abgestorbenen  Religionen  des  Alterthums  und  die  am  Sterben 
liegenden  Confessionen  der  modernen  Welt  einer  kritischen,  zernichtenden 
Untersuchung.  —  Nur  will  nicht  immer  einleuchten,  was  er  an  ihre  Stelle 
zu  setzen  hat,  und  mir  ist  keineswegs  erwiesen,  dass  die  Religion  der  Zu- 
kunft, wie  er  sie  sich  denkt,  aus  dem  Reiche  der  rhetorischen  eloquenten 
Formeln  jemals  in  das  Reich  der  Wirkhchkeit  übergeführt  werden  könnte. 
Indem  er  der  christlichen  Religion,  wie  sie  jetzt  besteht,  jede  Lebensfähig- 
keit abspricht,  scheint  er  mir  einerseits  nie  auf  das  eigentliche  Fundament 
des  christlichen  Glaubensbekenntnisses  durchzudringen,  und  andrerseits  nie 
das  leidenschaftliche,  von  Grund  aus  verdorbene  menschliche  Herz  in  seinen 
Tiefen  ergründet  zu  haben. 


Miscellen.  22? 

Mag  sein,  dass  die  Menschheit  in  langsamem  Fortschritte  einem  höhern 
Ziele  unaufhaltsam  entgegen  strebt;  mag  sein,  dass  einzelne  bevorzugte 
Naturen  in  einem  philosophischen  Systeme  volle  Befriedigung  und  Ruhe 
finden;  mag  sein,  dass  der  unpersönliche  Gott,  das  Gesetz,  die  Gerechtig- 
keit, -wie  Charles  Dollfus  die  regierenden  Gewalten  im  Weltsysteme  nennt, 
zur  Regelung  des  Lebens  bei  einigen  Geistern  sich  vollauf  hinreichend  er- 
weisen. Nie,  niemals  wird  die  rohe,  von  Begierden  gepeitschte  Masse  sich 
unter  solchem  abstracten  Gesetze  beugen ;  nie  wird  das  zerfleischte  Herz 
der  Bessern  bei  solcher  Glaubenskost  sich  stärken  und  heilen.  Wenn  ich 
Herrn  Charles  Dollfus  aufforderte,  seine  Doctrinen  in  einem  allgemein  ver- 
ständlichen Katechismus  zusammenzufassen,  —  ich  will  nicht  sagen,  dass  er 
es  nicht  könnte,  —  aber  ich  meine,  dass  er  damit  nicht  auf  Kindheit  und 
Jugend  und  männliches  Alter  dieselbe  praktische  Wirkung  ausüben  dürfte, 
die  in  der  christlichen  Sittenlehre  und  den  Aussichten  auf  künftige  indivi- 
duelle Fortdauer  geborgen  liegt. 

Im  Gährungsprocess,  der  allem  Anscheine  nach  immer  fort  im  Innern 
dieses  begabten  Schriftstellers  vor  sich  geht,  ist  bis  jetzt  der  reine  Nah- 
rungsstoff nicht  völlig  ausgesondert.  —  Die  Zeitereignisse,  die  Katastrophen, 
die  vor  unseren  Augen  und  zu  unseren  Füssen  wie  Wetterstrahlen  ein- 
schlagen, die  Leiden  und  Erfahrungen  des  spätem  Alters  werden  noch  ge- 
waltig an  dem  Quaderbau  seines  jetzigen  Systems  rütteln,  und  er  wird  viel- 
leicht, ehe  er  sich  zur  Ruhe  legt,  den  bis  jetzt  gebrauchten  Kitt  ungenügend 
finden.  Aber  dass  er  zu  einem  phantasiereichen ,  trefflichen  Architect  die 
Anlage  hat,  dass  er  sich  schon  in  manchen  Räumen  wesentlich  eingerichtet, 
das  stelle  ich  keineswegs  in  Abrede. 


Zu  den  deutschen  Dialecten. 
IL 

Oberdeutsch  (Mosel  zwischen  Trier  und  Coblenz) : 

1.  Boll,   femin.   =  Trink-    und   Schöpfgefafs ,  gewöhnlich   aus  Kupfer  mit 

eisernem  Stiel  zum  Anfassen,  in  der  Küche  gebraucht.  Vergl.  W. 
W'ackernagel's  Altdeutsches  Handwörterbuch,  pag.  42,  bolle  =  kugel- 
förmiges Gefäss. 

2.  Bollmehl  =  Art  Nachmehl,  woraus  dunkleres  Brot  gebacken  wird;  vgl. 

Wackernagel  pag.  42,  polle,  lat.  pollis  =  feines  Mehl  und  Gebäck 
daraus. 

3.  Treip  =  Magen  von  Schlachtvieh;  engl,  tripe. 

4.  Ueipert  —  a)  dicker  Bauch,    b)  Anhängetasche,  gewöhnlich  Tasche  der 

Bettelweiber  an  einer  um  den  Leib  gebundenen  Schnur  befestigt ; 
viell.  von  mhd.  rife  und  heran  =:  am  Riemen  tragen?  Scherzweise 
sagt  man:  Er  muss  seinen  Bauch  im  Riemen  tragen. 

5.  Boppel  =:  Jacob,  Koseform,   ahd.  Boppo,  vgl.  W^ackernagel,   pag.  42. 

6.  Gädemchen  =  Verkaufsbude,  nicht  transportabel,  sondern  in  Mauerwerk 

angelehnt  an  Kirchen  (Gangolf  i.  Trier)  oder  grosse  Häuser;  vgl. 
Wackernagel  pag.  91,  gadem  =  Haus  von  nur  einem  Gemach. 

7.  berepsen  =  bereuen;    hängt  dies   etwa    zusammen  mit  mhd.  respen  = 
mit  Worten  strafen?     Vgl.  Wackern.  p.  231. 

8.  Haipel  =  Spielball  der  Kinder.     Es  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  in  der 

Schlusssilbe  das  Wort  „Ball-'  enthalten  ist;  aber  was  bedeutet  die 
erste  Silbe? 

9.  Ducksaal  =  Emporkirche,  wo  die  Orgel  angebracht  ist.  —  ?? 

15* 


228  ,  Miscellen. 

10.  Gail  oder  Gäl  =  grosses  Fischerwurfnetz,  des  leichteren  Sinkens  wegen 

mit  vielen  eingereihten  Bleikugeln  beschwert,  zum  Werfen  aus  freier 
Hand,  ohne  Stange,  im  offenen  Strom  aus  dem  Nachen.  —  ?'?  , 

11.  Oacliter  =  seit,  engl,  after.     (oa  gesprochen  wie  ou  in  engl,  thought.) 

12.  Laidlich  =  hässlich,  garstig;  an  fi-anz.  laid  ist  wohl  schwerlich  zu  den- 

ken. Das  Substantiv.  Laid  =:  lallende  Krankheit;  in's  Laid  fallen. 
Einem  das  Laid  (Leid)  oder  die  Kränk  =  Pest  wünschen,  ist  ein 
sehr  üblicher  Schifferfluch  a.  d.  Mosel. 

13.  Mouder  =  Schimmel  od.  Satz  im  Wein;  ahd.  muon  od.  muoder. 

14.  Pant  bezeichnet  dasselbe.  —  ?? 

15.  Gangs  =  schnell,  eilig;  auch  gühUen\  mhd.  gäben. 

16.  Ittem  =  Vermögensantheil;  auch  Bezeichnung  für  ganz  Geringes,  wie: 

nicht  einen  „Deut"  =  Witthum,  mhd.  wideme. 

17.  Gaden  =  gleicher  Theil,  ein  Theil  von  nur  paarweise  gebräuchlichen 

Dingen,  wie  Schuhe,  Strümpfe  etc.,  mhd.  gate. 

18.  Geioeit  =  quitt  werden;  also  Dehnung. 

19.  Schmudie  warm  =  drückend  heiss;  —  ?? 

20.  Raiz  z=  ßückentragkorb,  gross  und  durchbrochen,  nur  zum  Laub-  und 

Ginstertragen  gebraucht.  Dürfte  man  etwa  an  lat.  rete  =  Netz 
denken  wegen  der  den  Maschen  ähnlichen  OeHnungen? 

21.  Schädel  =  zweiräderiger  Wagen  oder  Karren,  zum  Ausschütlen  einge- 

richtet. 

22.  bereits  hat  dort  die  Bedeutung  „fast,  beinahe." 

23.  fraislich  =  schrecklich;  goth.  fraisan. 

24.  Gelimp    =    Glimpf;     also    Dehnung    wie     in     „geweit"     für     „quitt;" 

Redensart:  Mit  Gelimp  davonkommen  =:  gnädig  davon-  oder  loskom- 
men. Andere  Redensart:  Mit  dem  Gelimp  =  bei  der  (günstigen) 
Gelegenheit  z.  B.  bin  ich  zu  meinem  Geld  gekommen. 

25.  Dolk  =  dicker  Rauch;  dolken  z=  stark  rauchen;   sollte   etwa  an  engl. 

„dark"  zu  denken  sein? 

26.  Aischen  =  kleines    Geschwür;    hier  wird  wohl    ahd.   „eit"  =  Feuer, 

eiter  =  Gift  von  gr.  aid-eco  stimmen. 

27.  gouwen  =  den  Mund  aufsperren,  aus  Verlegenheit,  Verwunderung  oder 

Dummheit ;  mhd.  giwen  oder  geuwen,  gewiss  mit  dem  früher  erwähn- 
ten „kuffen"  (bouffon)   verwandt. 

28.  Peeiläuten  =  Sterbgeläute,  unmittelbar  nach  einem  Sterbfalle.     Es  wäre 

interessant,  wenn  das  bei  Diez,  Etym.  Wörterb.  II,  p.  9  erwähnte 
basire  ■=.  sterben  .  .  .  herangezogen  werden  dürfte,     (nord.  basa.) 

29.  Schmock  =  feiner,  dünner  Nebelregen;  schmocken,  schmucken  =  fein 

regnen;  viell.  engl,  smoke? 

30.  leicht  in  der  Bedeutung  von  „leichtsinnig." 

31.  randelig  =  übel  gelaunt,  leicht  reizbar.  — ? 

32.  gammer  =  fest,  kerngesund.     — ?    Redensart:    Frisch  wie   ein  Fisch, 

gammer  wie  ein  Hammer,  gesund  wie  ein  Hund. 

33.  Büschef  =  Rückentragkorb,   nur  für  Trauben  gebraucht,    deshalb  von 

innen  verpicht.     — ? 

34.  schmicksen  =  stinken  nach  Urin.    — ? 

35.  klott  =■  wählerisch  namentlich  im  Essen  und  Trinken.     — ? 

36.  Schalaun  =  kluges,  hintei'listiges  Frauenzimmer.    — ? 

37.  afeerd  =  erschrocken;   einen   „afeerd"  machen;  dies    ist  zweifelsohne 

engl,  „afraid."     (Metath.) 

38.  heuwel  =  unterdessen,  mittlerweilen;  gebildet  wie  „heute"  und  „heunt." 

39.  Arwel  =  Armvoll;   Haafel  =  Handvoll;  Muffel  =  Mundvoll:   zu  letz- 

terem vergl.  m.  Diez'  Etym.  Wort.  I.  284,  zu  „Haafel"  das  schweize- 
rische „Hämpfeli,"  bei  Rochholtz:  AUemannisches  Kinderlied  und 
Kinderspiel,  p.  35. 

40.  Kau  =  schlechtes  Bett,  Lager;  hoUänd.  „Key"? 


Miscellen.  229 

41.  strippen  =  entwenden,  namentlich  Wilddieberei  treiben;  engl,  to  strip. 

42.  gapsen  =  nach  Luft  schnappen;  engl,  to  gape. 

43.  toaan  =  abgestumpft,  müde;  engl.  wane. 

44.  Schnärz  =  vorwitziges  Frauenzimmer;  engl,  to  sneer? 

45.  Manisch  =  verborgener  Aufbewahrungsort  (gew.  im  Heu  auf  dem  Spei- 

cher)  für  Obst,    welches  die  Rinder    sieb  gelesen  haben ;   ahd.  muh- 
han?     Vgl.  Wackern.  p.  204. 

46.  Kaft  =  Kerbe  od.  Scharte.  —  ? 

47.  Zief  =:  Zehe  (in  Trier),   also  Lautwechsel  wie  in    den  engl.   Wörtern 

strife  und  struggle. 

48.  Heef  =  ScbifTscajüte ;  engl,  hive? 

49.  gehnsig  =  übel  schmeckend  und  riechend,  von  Speisen  gesagt;  qualmen? 

50.  zeitig  =  reif  (Obst). 

51.  plündern    in    der    Bedeutung:     ausziehen,     umziehen,    die     Wohnung 

wechseln. 

52.  schnausig  =  auf  Leckerbissen  versessen. 

53.  schroa  (oa  gespr.  wie  ou  in  engl,  thought)  =  wüst,  hässlich.  — ? 

54.  klaisper  =  mager,  schmächtig.  — ? 

55.  Plack  =  Grind. 

56.  Geschick  und  Geschnf  (schaffen) ;   er  hat  kein  Geschick    und  kein  Ge- 

schuf =  er  ist  nicht  gehauen  und  nicht  gestochen. 

57.  ausgeilen  =  ausspotten. 

58.  Knaschtheutel  =  Geizhals.  — ? 

59.  Getausch  =  Getöse. 

60.  Seidel  r=  Hühnerstall;  ahd.  sedal. 

61.  Kaunitz  =  verschliessbarer  Schreibsecretär;  etwa  vom  Eigennamen? 

62.  sprock  =z  spröde,  namentlich  von  leicht  springendem  Metall  oder  Holz 

gesagt.     Hier  ist  gutturaUs  an  Stelle  der  dentaüs  getreten. 

63.  off  stanz  z=  übrig. 

64.  Schliicer  und  Schieuter  =  Splitter. 

65.  stamper  =  kräftig. 

66.  Kirfich  =  Kirchhof;  also  Metathesis. 

67.  Drocdit  =  Trunk  (Trier);  engl,  draught. 

68.  deftig  =  derb ;  goth.  gadaban. 

69.  Toapert  =  Dummkopf?  täppisch? 

70.  Zum  Schluss  für  diesmal  mögen  zwei  sprichwörtliche  Redensarten  folgen: 

a.  Wo  sich  der  Wolf  wenzelt  (wälzt),  da  lässt  er  die  Haare. 

b.  Eine  grosse  Magd  ist  eine  Leiter  im  Hause. 

Düsseldorf.  Dr.  Mieck. 

Zur  Construction  des  Verbs  craindre. 

Es  ist  mit  den  grammatischen  Regeln  ein  eigen  Ding.  In  der  Schul- 
grammatik von  Plötz,  Lect.  70.  A.  14,  lese  ich:  Soll  [aber]  durch  das  ein 
Substantiv  ersetzende  persönliche  Fürwort  die  Identität  der  Person  festge- 
stellt werden,  so  ist  le,  la,  les  je  nach  deni  Geschlecht  und  der  Zahl  des 
bezüglichen  Hauptworts  zu  gebrauchen.  Etes-vous  la  gouvernante  de  ces 
enfants?     Non,  monsieur,  je  ne  la  suis  pas. 

Diese  Regel  ist  gewiss  richtig;  ja,  man  möchte  ihr  eine  gewisse  aprlo- 
ristische  Wahrscheinlichkeit  zuschreiben.  Gleichwohl  ist  es  mir  noch  nicht 
gelungen,  auch  nur  eine  einzige  Belegstelle  dazu  aufzufinden,  trotzdem  dass 
der  Umfang  meiner  Leetüre  nicht  gering  ist  und  ich  mich  leider  gewöhnt 
habe,  mehr  als  es  dem  rein  ästhetischen  Genüsse  zuträglich  ist  auf  gram- 
matische Punkte  zu  achten. 

Eigen  erging  es  mir  auch  mit  der  in  meinen  „Beiträgen  zur  Feststel- 
lung des  gegenwärtigen  französischen  Sprachgebrauchs"  aufgestellten  Regel 
Über  die   Construction   des  Verbs   craindre  in   fragend -verneinender  Form. 


230  Miscellen. 

Das  Vorkommen  dieser  Form  ist  überhaupt  ein  sehr  seltenes.  Man  kann 
sehr  viel  gelesen  haben,  ohne  sie  nur  ein  einziges  Mal  zu  Gesicht  zu  be- 
kommen. Kaum  ist  mein  Aufsatz  gedruckt,  so  lese  ich  in  der  Revue  des 
Deux  Mondes:  ne  craignez-vous  pas  que  je  fasse  mon  rapport  a  celui  qui 
m'envoie  vers  vous?  Jules  Girardin,  Le  Fiance  de  Lenore.  R.  d.  D.  M. 
1S70,  Tome  IV,  42G.  Was  ist  nun  richtig,  die  Setzung  oder  die  Weglas- 
sung des  ne  beim  Subj.?  —  Es  mag  zugegeben  werden,  dass  dieser  Frage 
eine  grosse  praktische  Bedeutung  nicht  zukommt;  theoretisch  aber  ist  sie 
sicher  nicht  ohne  Interesse.  — Vielleicht  ist  Folgendes  die  Lösung:  Fordert, 
wie  es  gewöhnlich  der  Fall  ist,  die  fragend-verneinende  Form  eine  entschie- 
den bejahende  Antwort,  so  dürfte  ne  zu  nehmen  sein;  drückt  aber  diese 
Form  eine  Ungewissheit  aus  (wozu  man  meistens  ne  —  point  nimmt),  ent- 
spricht sie  also  der  Frageform  mit  peut-etre,  etwa,  vielleicht,  so  wird 
sie  wie  letztere  construirt.  Ueberhaupt  ist  die  Modification  der  gewöhn- 
lichen Elementarregeln  y.axa  avvEOLv  im  Französischen  eine  weit  durchgrei- 
fendere, als  man  sich  oft  vorstellt  und  besonders  beim  Gebrauche  von  ne 
nachgewiesen  werden  kann. 

W.  Bertram. 

Zur   volksthümlichen   Kanzelberedsamkeit  des  17.  u.  18.    Jahr- 
hunderts. * 
Mitgetheilt   von   A.   Birlinger. 

Fastnachtspredigt. 
Triduo  Antecinerali. 

Das  Leben  deren  zu  Sodoma  und  Gomorrhen  ist,  und  wäre  ein  lauters 
Fasznacht-SpihI,  so  aber  übel  geendet  worden,  derentwegen  in  dem  anderen 
Theil  der  Predig,  die  Zuhörer  eingeladen  werden  dise  drey  Tag,  das  (Hoch- 
würdige) zubesuchen,  und  mit  der  üppigen  Welt  nichts  gemeines  zuhaben, 
sintemalen  eine  solche  Andacht  dem  Heyland  sehr  angenem  und  ein  VVurtzl 
viler  Gnaden  ist. 

THEMA. 

Ducunt  in  bonis  dies  fuos,  &  in  Puncto  ad  inferna  defcendunt.  lob. 
21.  V.  13. 

Das  Herkommen  der  Fasznacht  ist  freylich  in  einem  hohen,  und  un- 
denckbaren  Alter,  dardurch  aber  ihren  nit  allein  kein  Recht,  oder  Prsefcrip- 
tion,  zugewachsen,  sonder  vil  mehr  würdig  worden,  dasz  man  selbe  newer 
Dings  bestreite  und  mit  allem  Vermögen  dahin  nemblich  in  die  Höll  ver- 
bannisiere,  woher  sie  kommen  ist  zu  disem  heiligen  Vorhaben,  stuenden  von 
Zeit  zu  Zeit,  vil  Gottliebende  Seelen  in  einem  grossen  Eyfler,  jener  aber 
wäre  der  beste  Einschlag,  welche  die  Kirchen  Majestettisch  zierten,  welche 
dasz  höchste  Gutt  auszgestellet,  welche  ausz  dem  Schatz  der  Kirchen  Gnad 
und  Ablasz  verlangten,  welche  das  Voick,  mit  eyffrigen  Zureden,  von  der 
Cautzl  zur  Beicht  und  Communion,  einladeten :  Under  dise  hat  Ewer  Liebe 
auch  wollen  gezehlt  seyn:  Ihren  dann  lasset  der  hier  verborgne  JEsus, 
durch  mich  seinen  Grusz  vermelden  mit  dem  28.  Vers  ausz  dem  II.  Mathäo. 
c.  IL  Venite  ad  me  omnes  qui  laboratis  &  onerati  eftis,  &  ego  reficiam 
vos  :  Also  recht!  kommet  nur  zu  mir,  die  ihr  mit  der  bösen  Welt  zu  fech- 
ten, und  zu  kämpfl'en  habt  und  mit  ihrer  stock  blinden  Narrheit  vil  beschweret 
werde,  ich  will  euch  dargegen  wol  erquicken,  ja  reichlich  beschencken. 

Denen  Fasznachtschlemmerer,  und  unsinnigen  Durnierer,  hab  ich  ein 
anders    in    das   Ohr  zu   sagen:   Ducunt  in   bonis   dies    fuos:    ihr    frest   und 

*  Aus  Pera  pastoralis  oder  geistliche  Hirtentäsch  —  von  Dr.  Chr.  Arpa- 
gaus  (ob.  Rheiqtbal,  Chur,    St.  Gallen)  Kempten  1706. 


Miscellen.  231 

sauff't,  ihr  spilt,  und  dantzt,  ihr  pfeifft  und  schneit,  ihr  bult,  und  hurt,  ihr 
flucht,  und  lästert,  ihr  stehlt ,  und  schadet ,  und  dises  bald  öffentlich,  und 
ohne  Scheuch,  bald  vermummet,  dasz  man  nit  wissen  kan  ob  die  Persohu 
ein  Weib  oder  ein  Mann,  oder  gar  ein  Teiiffl  seye:  AYessen  aber  können 
wir  uns  entlich  von  solchen  GewerenV  eines  urplötzlichen  Todts,  eines  gäh- 
lingen  Sprungs,  und  Fall,  ad  inferna,  nunder  in  die  Höll!  Dises  ist  ein 
sehr  widriger  und  dopleter  Zweck  meiner  Fasznacht-Predigt :  Ewer  Liebe 
aber  kan  den  einten  anhören  mit  jener  Hertzens-Beschaflenheit,  welche  ist 
dere  die  auff"  dem  vesten  Land  sicher  stehn ,  und  den  Schiffen  zusehen, 
wann  sie  mit  Volck,  und  Ladung  trümmeren,  und  allbereit  von  den  zornigen 
Wellen  begraben,  und  in  den  Abgrund  gezogen  werden:  Es  könte  sich 
aber  das  Bietlein  annoch  kehren  derwegen  schencke  sie  mir  eine  gnaue 
Auffinercksamkeit. 

In  Göttlicher  HH.  Schriffl,  so  der  Grund  aller  Predigen  seyn  muss, 
find  ich  dasz  acht-  une  neunzehende  Capitl  die  bequemlichiste,  für  mein 
Vorhaben:  Dorten  fasznachtet  man  abermahl,  und  eben  auff'  die  Manier, 
wie  zu  der  ersten,  vor  dem  Sündflusz,  und  ohnerachtet  die  eingetruckte 
Merckzeichen  durch  die  allgemeine  Überschwemmung  kaum  auszgetrucknet 
waren,  wurde  dannoch  der  newe  Punt,  so  Noe  mit  Gott  getroffen,  mit  einem 
durchgehenden  Fasznacht-Leben,  übel  gehalten:  Er  Noe  haltete  zwar  be- 
harrlich die  Stangen  dem  Allerhöchsten:  nit  weniger  seine  wolgerathne 
Söhn  Sem,  und  laphet,  eben  so  eyfferig  ein  frommer  Abraham,  dise  aber 
werden  zweyffelszohne  auch  andere  Handreicher  gehabt  haben ,  die  ihnen 
denen  Fasznacht-Narren  zeugeten,  was  der  Sünde  halber ,  schon  geschehen, 
die  ihnen  treweteu,  was  auff  ein  so  sündliches,  und  freches  Procedere  folgen 
werde,  die  ihnen  weiseten  welchen  die  wäre  Glückseeligkeit  zugesagt  seye: 
Ehe  noch  dise  vier  GOttes-Männer  ihre  Augen  zugethon  hatten,  wäre  schon 
ein  solche  Menge  der  Menschen  dasz  eine  Armee,  ausz  zweyen  widrigen 
Parten,  als  nemlich  Nino  der  Affyrischen  Monarchi  ersten  Grundleger,  und 
Zoroaftre  seinem  Gegner,  der  Bractianer  König,  dasz  sag  ich,  eine  Armee 
von  drey  und  zwanzig  mal  hundert  tausend  Männer  auffgebracht  ist  worden : 
Nicht  destoweniger  könte  sich  ausz  disen,  und  andern  allen  keiner  entschul- 
digen, als  ob  sie  desz  bösen,  und  Gott  miszfälligen  Lebens  nit  ernstlich  ge- 
warnet wären  worden:  sie  zeigten  sich  aber  als  wie  jetzige  Fasznacht- 
Schwermer,  schützten  sich  und  trotzten,  ihrer  sey  der  grössere  Hauffen, 
Gsatz  und  Regell  können  anderen  auffgebürdet  werden:  bey  ihnen  musz  es 
heissen:  Quod  libet,  licet,  gefalt  es  dir  die  Vernunffit  mit  vollsauffen  zuer- 
trencken  ?  Licet  es  ist  erlaubt,  und  gehet  in  die  Fasznacht :  Hast  Muth 
Tag,  und  Nacht  unsinnig  herumb  zu  rasen:  Licet:  mach  dir  keinen  Scrupl: 
Es  gehet  in  die  Fasznacht:  Ist  deine  faule  Haut  fruttig  zu  unzüchtigen 
Miszhandlungen?  Licet  darff't  alles  wagen,  was  der  Brieff"  vermag:  Es  gehet 
in  die  Fasznacht:  wässeret  dir  das  Maul,  immittelst  einer  Mummerey,  dich 
an  deinem  Feind  zu  rechen?  Licet:  Es  gehet  auch  in  die  Fasznacht.  Quod 
libet,  licet:  was  gliebt  dasz  gilt,  sagte  nit  nur  ein  Fetl  Julia  einem  Ca- 
rucallffi  der  sich  weigerte  zu  einer  blutschändigen  Vermählung,  sonder  es 
ist  Leyder  auch  bey  den  Christen,  sonderlich  zur  fasznacht  Zeit,  nur  gar  zu 
vil  gleichwie  auff"  der  Zung,  also  in  dem  Schwung.  Und  gewohnlich,  wel- 
ches mit  bluttigen  Threnen,  zubedauren,  seynd  jene  Orth  und  Land  in  disem 
Laster-Zetl  tieffer  eingeschriben,  mehrere  Gaben  und  Gnaden  auff  die  Rech- 
nung empfangen  haben,  darum  auch  der  Gi'imm  wider  solche  verdopplet 
wird,  gleich  ein  Damm,  wie  höher  er  auffgewachsen,  also  entsetzlicher  abzu- 
fallen pfleget. 

Das  Gelend  um  Sodoma  und  Gomorrha  wahre  gleichsam  ein  Magafin 
aller  ersinnlichen  Nahrungs-Mittlen  :  Brod  genug,  Wein  genug,  Butter  ge- 
nug, Früchten  genug,  Kleyder  genug,  Gelt  genug,  etc.  derwegen  zu  was 
anfiers  solten  sich,  so  besegnete  Inwohner  resolvieren,  als  zu  jenem  Be- 
schluss,    welchen    hernacher    ein    danckbahrer    David   auff  seine    Harpffen 


232  Miscellen. 

gelegt;  Bencdic  anima  meti  Domino,  &  omnia,  qua3  intra  me  funt  norniin 
fancto  eius :  Lob  und  Danck  sage  GOtt  meine  Seel  zu  deme  mich  anmah- 
net ein  so  reicher  Scliatz,  den  ich  von  ihme  empfangen,  allein  bey  Ezechiele 
ist  ein  anderer  Klang:  Elevata?  funt,  &  fecerunt  abominaliones  coram  me : 
ICben  darum  weilen  ich  ihnen  den  Speicher  hab  angefühlt,  eben'  darumb 
weilen  sie  hatten,  was  sie  wolten,  eben  darumb  habe  sie  mir  den  Rücke  nit 
aliein  gekehrt,  sondern  dörffte  noch  darüber  meinen  Altar  mit  einem  Laster- 
Kauch  entunehren. 

Nach  deme  dann  die  Göttliche  Langwirigkeit  solchem  allgemeinen  und 
wider  alle  Erbarkeit  zunemmenden  Fasznacht-Spihl,  Jahr  und  Tag  hatte  zu- 
gesehen, nach  deme  der  wenig  üherblibenen  gerechten  zusprechen  gar  nichts 
mehr  verfangen  wolte,  nach  deme  entlich,  und  abermahl,  wie  vor  dem  Sünd- 
flusz:  bald  alles  Fleisch  auch  wider  die  Natur,  verpechet  wäre:  Omnis  caro 
corruperat  viam  fuam:  wolte  der  gerechte  Gott  widerumb  ein  Exempl  fta- 
tuieren:  at)er,  ach  mit  was  für  einer  wunderlichen  Undermischung  seiner 
unentliche  Güte!  Drey  Engels-Fürsten  verhüllen  sieb  in  eine  so  Mensch 
gleichsehende  Gestalt,  dasz  der  woläugige  Abraham  sie ,  als  pure  Menschen 
augesehen,  under  sein  Tach  auffgenommen ,  und  mit  jenem  Tractament  be- 
ehrte, als  er  gemeiniglich  mit  denen  durch  wanderenden  in  dem  Brauch 
hatte.  Dise  Kunst  sich  also  zuverstellen  ist  auch  denen  schwartzen  Teufl'len 
gemein,  und  thun  selbe  mit  selber,  eben  zur  Fasznacht-Zeit,  doch  mehrers 
bey  der  Nacht,  als  bey  dem  Tag,  nit  dasz  er  niemahl  schlaffen  kan,  sonder 
dasz  er  den  Titl  eines  Fürsten  der  Finsternusz  auff  dem  Rucken  tragen 
musz :  Principes  tenebrarum.  Thun  sag  ich  bey  dem  tantzen,  in  dem  Buleu 
under  den  Maschgeren  öff'ters  erbärmliche  Seelen-Fang.  Es  gienge  dem 
Abraham  als  wie  den  Jüngeren  in  Eraaus,  vor  welchen  der  Heyland  sich 
entlich  verratheu,  darumb  er  das  Ceremonial  gleich  änderst  einrichtete,  und 
bald  auff  den  Grund  käme,  warumb  von  so  fürnemmen  Gästen  bey  ihme 
der  Einkehr  genommen  sey  worden.  Die  gutte  Pottschaßt  eines  Sohns 
ausz  der  alten  Sara,  und  künfftiger  grosser  PofLeritet,  in  dessen  Saamen, 
wahre  als  ein  Honig  auff  den  bittern  AVermuth,  welchen  der  Grund  gutte 
Mann  GOttes,  gleich  darauff"  zu  füllen  hatte:  Sintemalen  da  kaum  der  Ur- 
laub genommen,  und  Abraham  annoch  dasz  Begleide  gäbe  sie  die  Himmlische 
Deputierte,  ihr  Antlitz  zornig  vorstehen,  als  ob  sie  dasz  auffstossende  So- 
domam  gleichsam  mit  Augen  durch  sehen  wolten :  Direxerunt  oculos  contra 
Sodomam  bald  brachen  sie  mit  voller  Sprach  herfür :  Disz  ist  der  Orth: 
Wo  GOtt  verachtet,  wo  GOtt  höchlich  beschimpffet  wird  disz  ist  der  Orth 
man  lebt  als  wie  das  Vieh,  wo  man  sauset,  wo  man  prauset,  wo  man  spilt, 
wo  man  dantzt,  disz  ist  der  Orth  wo  der  Tag  in  die  Nacht,  und  die  Nacht 
in  den  Tag  verkehrt  wird ,  wo  ein  immerwehrende  Fasznacht  angesagt,  wo 
alle  erbärmde  und  von  Gott  hochbefehlete  armen  Liebe  verbannisieret  ist, 
wo  alle  wann  sie  in  dem  Bösen  ermüdet,  sich  auff  das  Polster  desz  Müssi- 
gangs  legen,  und  sich  zu  newen  sündlichen  Erfindungen  besinnen:  Iniquitas 
SodomJB  fuperbia,  faturitas  panis  &  abundantia ,  &  otinm  ipfius ,  &  manum 
egeno  &  pauperi  non  porrigebant.  Die  Mas  ist  nun  vol ,  die  Straff"  ist  nun 
da :  wir  werden  nun  letzt  alles  und  iedes  zum  Augenschein  nemmen ,  und 
gleichwol  dem  Göttlich  geheimen  Rath  hinderbringen,  dir  aber  Abraham, 
als  einem  rechten  Diener  Gottes  können  wir  nichts  bergen ,  dann  wir  vor- 
sehen, du  werdest  deine  Kind  und  Kinds  Kinder  änderst  in  die  Schul  fi:h- 
ren  du  werdest  deinem  Hausz  und  Stammen,  einen  besseren  Schild  vor- 
stellen :  du  werdest  aller  Fasznacht-Uppigkeit  spinnen  feind  verbleiben. 
Scio  quod  praecepturus  fit  filius  fuis,  &  Domui  fuse  poft  fe,  ut  cuftodiant 
viam  Domini. 

Mercke  hier  E.  L.  dasz  was  ich  biszhero  gesagt  gar  wol  ia  noch  meh- 
rers könne  genommen  werden,  ausz  wenig  Wörtteren  in  HH.  Schrifft.  Cla- 
morSodomorum  &  Gomorrhaj  multiplicatus  eft,  &  peccatum  corum  aggrava- 
tum  eft  nimis;  Das   Gescbrey  in   Sodomä  &  Gomorrhä   ist  übergrosz,    und 


Miscellen.  233 

ihre  Siind  seynrl  zu  einem  überausz  schweren  Gewicht  kommen.  Folgcnrls 
kan  jpnes,  was  ich  gesagt,  mit  keiner  Cenfiir  belegt,  oder  vcrworffcn  wer- 
rlen :  Ehe  ich  aber  in  der  Geschieht  fortrücke  musz  hier  ein  Nothwendigcs 
für  die  Eiteren,  eingemischet  werden.  Liebste,  und  wolgeschulte  Engel 
GOttes  !  was  für  ein  Planeten  soll  ich  doch  jenen  stellen,  die  ihre  Kinder 
jetzund,  und  Zunacht  sonderbar,  von  ihren  Augen  entlassen  zugesellscbafi- 
ten ,  so  sauiTen,  so  fressen,  so  springen,  so  dantzen.  etc.  Und  dises  zwar 
wider  alles  abmahmen  der  Geistlichen  von  der  Cantzl,  der  Exempel  in  den 
Büchei-en,  nur  der  Welt  zulieb  und  gefallen,  nur  ihre  Kinder  nit  zu  entrü- 
sten? Die  sorgfaltigiste  Himmels-Führer  beantworten  dise  Frag  auch  mit 
dem  Scio  wir  wissen:  was  wisset  ihr  dann?  wir  wissen,  dasz  denen  Kinderen 
öflters  die  Ehre  genommen  werde,  und  die  eine  Jungfrau  auszgegangen,  zu- 
rück als  ein  übel  gebrennte  Dina  kommen  seye:  wir  wissen  dasz  solche 
Kinder  sich  Dergegenwarth  GOttes  zuvergessen  pflegen.  Wir  wissen  dasz 
sie  in  Schlao-  und  Iländl  kommen.  Wir  wissen  dasz  sie  mit  bulerischen 
Stricken  gefesziet  werden.  Wir  wissen  dasz  sie  solchen  Zusnmenkunfften 
dasz  Stehlen  ausz  dem  Hausz  lehrnen,  wir  wissen  dasz  der  Teuflfl  und  Hech- 
sen-Schwarm  grosz  seye  ,  und  meistens  sich  mit  fasznächtlicher  zusamen- 
stossung  beedes  Geschlechts  erhalte:  Scio  wir  wissens  und  haben  es  erfah- 
ren vor  dem  Sündflusz  nach  dem  dem  Sündflusz ,  und  sehen  es  vor  bisz  an 
das  Ende  der  Welt,  und  aller  Fasznächten.  Was  wisset  ihr  mehr?  O  trewer 
Rathgeber  !  Scio  wir  wissen  dasz  jene  Eiteren  im  sichersten  stebn,  welche 
ihren  Kindern  rund  alle,  alle!  Fasznacht  abschlagen  welche  ihre  Kinder 
ernstlich  im  Zaum  halten,  welche  ihnen,  wann  sie  versprechen  ich  will  mich 
wol  halten:  ich  will  nichts  böses  thun:  ich  will  zur  Stund  wider  bey  Hausx 
seyn.  etc.  sauber  nichts  glauben  :  Scio  wir  wissen  dasz  es  ein  Gottliochge- 
Hebte  Sach  seye  jetzund  mehi-ers  zu  seyfi'zen,  instendiger  zu  betten,  hertz- 
lich zu  beweinen  der  Menschen  Kinderen  grosse  Dorheit,  da  sie  denen  so 
starck  vergifteten  fasznächtlichen  Üppigkeiten,  also  blind  nachschnnppen: 
Und  dises  letztere  wird  mehrers  in  dem  anderen  Theil  erwisen  werden, 
in  dessen  müssen  wir  der  Sodomiter  Fasznacht  mehrers  zusehen,  und  jjleich- 
wol-  ferners  vernemmen  die  Abhandlung'  Abraham  mit  denen  Engelen  Gottes. 
Aber  er  ist  nit  mehr  bey  dreyen  Englen,  sonder  nur  bey  einem  allein. 
Wohin  dann  seynd  die  andere  zwen  ?  in  Vollemlauff  nacher  Sodomam ! 
wahre  derwegen  ihme  dem  Abraham  nit  recht  um  das  Hertz:  ohnerachtet 
er  für  sich:  und  die  seinigen  aller  Gefahr  halber  Franchieret  worden:  solle 
dann  ein  so  anschliche  Landschaßt  under,  und  über  gekehrt  werden?  sollen 
so  vil  tausend  schön  geschaffne  Menschen  zu  grund  gehen?  Soll  der  un- 
schuldige mit  dem  schuldigen  herheben?  Ist  dann  GOtt  also  erzürnet  dasz 
er  nit  mehr  zuversöhnen  wäre?  Dises  wolte  und  könte  der  Abraham  ihme 
selber  nit  fürbilden :  es  werden  ja  in  disem  volckreichen  Orth  wenigst  fümff- 
zig  gerechte  und  GOtt  an^enemrae  Fersohnen  seyn?  O  Vatter  Abraham! 
du  überechnest  dich.  Ich  kan  ein  solche  Zahl,  weder  in  Sodoma,  weder 
in  Gomorrha.  weder  in  Adama,  weder  in  Seboim  weder  in  Bala,  nit  finden: 
aber  wol  fünff  und  viertzig?  Auch  nit!  aber  viertzig?  Auch  nit!  aber 
dreyssig?  Auch  nit!  aber  zwanzig?  Auch  nit!  aber  zehcn  ?  Auch  nit! 
Ich  verstehe  aber  under  dem  Wörtlein  lufti  gerechte :  nit  jene ,  welche 
blössiglich  mit  der  Gnad  GOttes  bekleidet  seynd:  sonder  das  Wort  iuftus 
will  hier  jenes  haben,  dessen  sich  Gott,  hernacher,  zu  dem  Ezechiel  beklagt 
hatte:  Qufefivi  de  eis  virum,  qui  interponeret  fepem,  &  ftaret  oppofitus 
contra  me  proterrä,  ne  diffiparem  eam,  &  non  inveni.  Ich  hab  bey  disem 
Volck  nur  einen  Man  gesucht,  der  mit  seinem  Gebett,  mit  seinem  Exempla- 
rischen Leben,  mit  seinem  Eyfler  die  Lucken  zumachen  softe,  damit  mein 
ccrechter  Zorn  annoch,  hinder  halten  wurde,  hab  aber  keinen  antreffen 
können,  solcher  Gerechten  da  der  Abraham  auch  nur  zehen ,  in  sambtlich 
fünfi"  Stätten,  nit'  hatte  können  auff bringen,  ist  ihme  der  ]\Iuth  entfallen 
eine  tieffere  Anfrag  an  tlen  Engel  zuftellen ;    kan  mir  aber  woleinbilden,  ehe 


234  Miscellen. 

die  entliehe  Urlaub  beschehen,  dasz  seinem  lieben  Vatter,  und  Bruders-Kind 
dem  Loth,  auff  das  Anhalten  Abrabae  die  Eettung,  ausz  bevorstehender 
Straff,  zugesagt  sey  worden. 

Jetzund  seynd  wir  in  dem  neunzehendem  Capitl  Genefis,  so  uns  zeiget 
den  erbärmlichen  Thon,  in  welchen  entlich  und  wann  die  Masz  erfüllet  ist, 
alle  fasznacht  Freuden  fallen  müssen :  Da  die  zwey  Engel  in  sichtbahrlichem 
schönen  Ansehen,  Sodomam  eingetretten,  wahre  man  wie  ich  mir  wol  ein- 
bilden kan,  eben  im  folen  Fasznacht-ßausch,  und  wolte  je  einer  den  andern 
in  der  Boszheit  überwinden :  dasz  aber  dise  zwey  ansehnliche  Fremdling 
sich  ihrer  nichts  beladen  wolten,  dasz  sie  ernstlich,  und  Majestättisch  drin 
sachten,  dasz  sie  den  Einkehr  nammten  bey  dem  Loth,  der  nur  ein  zuge- 
zogner, und  kein  einsasz  wäre,  der  bey  ihnen,  weilen  er  nit  mithalten  wolte, 
schon  ein  schlechtes  Credit  hatte,  rotteten  sich  ausz  allen  Gassen  die  un- 
sinnigen Waghälsz,  und  lose  Purst  zusammen,  mit  dem  Entschlusz,  die 
zwey  müssen  eintweders  ihres  geliffters  werden,  oder  einem  harten  Nacht- 
schillig  bezahlen.  Er  der  fromme  Loth  bildete  ihm  gar  nicht  ein  dasz  er 
under  seinem  Tach,  sollte  von  solchen  FrefFler  beunruhiget  werden,  sonder 
wäre  sorgfältig  bescheff'tiget,  nit  weniger  als  sein  Herr  Vetter  Abraham  die 
so  werthe  Gast  auff  das  anstendigist  zubewürthen.  Fecit  illis  convivium  er 
hat  ihnen  ein  mal  auffgestellt.  Und  dises  allein  ist  passierlich,  mercke  es 
E.  L.  vor  Anfang  der  Fasten,  mit  denen  Nachbahren  oder  Freunden  eine 
unschuldige  und  mit  Christlicher  Frölichkeit  angekochte  Malzeit  zugeniessen : 
Secundum  faeiem  fanctorum.  Die  Italiener  geben  zwar  ein  gar  ehrlichen 
Nahmen:  Carnevale  eine  Beurlaubnusz  von  dem  Fleischessen.  Allein  weilen 
in  dem  Werck  bey  ihnen  ein  weitmehrers  sich  eüsserte,  ist  heuriges  Jahr 
alldorten  manchem  herrlichen  Orth,  ein  andere  Fasznacht  von  dem  zornigen 
Himmel  angekündet  worden.  Wie  wird  dann  enthch  der  Procefz  über  So- 
oomam,  über  Gomorrham,  über  Adama,  über  Seboim,  über  Palam,  und  dem 
gantzen  Land  auszfallen?  Vor  der  Behausung  Loth  ist  ein  grosser  Lermen: 
sie  wollen  für  ausz  die  zwey  Freindling  herfür,  und  bey  ihnen  haben:  Ist 
allbereit  kein  Fenster  mehr  sicher:  Die  kleiner  Zucht  freye  Buben  seynd 
auch  darbey,  was  ist  bey  solchen,  und  in  solcher  Gesellschafft  auff  der 
Welt  sicher?  dem  guten  Mann  war  angst  und  pang,  sonderlich  damit  nicht 
ungerades  frembden  Leuthen,  under  seinem  Tach-Trauff,  Sub  umbrä  culmi- 
nis  mei  geschehe:  Nimmet  das  Hertz  in  beede  Hand,  und  waget  sich 
äussert,  äussert  der  Haus^z-Thür,  und  die  er  hinder  ihme  beschlossen  hand- 
let und  wörtlet  lang  mit  der  losen  Purst :  mit  gutem  deco  Unsinnigkeit  ab- 
zuthädigen:  Nolite  quaefo  Fratres  mei  nolite  hoc  malum  facere:  Meine 
Brüder  ich  bitt  und  ersuch  euch  um  Gottes  Willen,  lasset  ab  von  einem  so 
bösem  Verfahren:  Ja  er  wahre  entschlossen,  wann  je  eines,  ausz  zweyen 
müste  zugelassen  werden,  ehender  seine  zwey  Töchteren  ihrem  Muthwillen 
zuergeben,  als  einige  Unbild  den  Gästen  zuzulassen,  als  welche  mit  ihren 
Gebährden  ,  Sitten  und  Freundlichkeit  ihme  schon  gantz  abgewonnen  hat- 
ten. Aber,  wie  es  noch  heut  zu  Tag  geschieht,  da  man  das  Nolite,  nolite 
hoc  malum  facere  wolmejnend,  und  tre3'hertzjgist  von  der  Cantzl  ableget, 
höret  man  bey  den  mehreren,  das  Sodomitische  Recede  illuc:  mach  dich 
von  dan  die  Predisr,  die  Andachten  gehören  in  die  Fasten:  unser  ist  jetz  die 
Zeit.  Jetz  gilt  alles,  und  gehet  in  die  Fasznacht,  was  der  Brieff  vermag. 
Dasz  bitten  und  betten  Lots,  will  bey  keinem  hafften:  ja  er  stehet  allbe- 
reit in  Lebens-Gfahr :  Ist  derwegen  Zeit  gewesen ,  dasz  die  Gast  in  der 
That  sich  weisten,  welche  sie  warhafftig  waren:  sie  eröffnen  das  Thor,  sie 
ziehen  den  Loth  zurück,  und  ausz  ihren  Händen,  sie  schlagen  selbe  alle 
und  sambtlioh  zu  Boden,  nemmen  ihnen  auch  das  Gesicht,  dasz  sie  weder 
Rigel  noch  Angel  mehr  finden  könten:  gleich,  und  zur  Stund  wird  Loth  von 
den  Englen  desz  vorstehenden  Undergangs  ermahnet.  Wie  hoch  ein  tragend 
seynd  die  Verdiensten  nur  eines  Gerechten  bey  GOtt!  jene  zwey,  welchen 
Loth  seine  Töchteren  zu  der  Ehe  versprochen,  werden  auch  zur  Kettung, 


Miseellen,  235 

inmittels  der  Flucht,  eingeladen :  Lachen  aber,  als  auch  vernahrte  Fasznaclit- 
Kinder  die  Gnad  nur  ausz,  der  Refpect  haltet  sie  bey  der  Purst,  und  meh- 
reren] Hauffen.  O  Respect  was  plagest  annoch,  in  dem  Hertz  der  Chri- 
stenheit zuthun?  Und  meistens  in  disen  drey  Tagen:  da  vil  bösz  wollen 
seyn,  nit  das  Lust  zum  bösen  haben,  sonder  dasz  sie  dürffen  als  Gutte  sich 
erzeigen.  In  dessen  wolte  Loth  immer  verweihlen,  dann  er  sasse  wol,  und 
hatte  eben  recht  sein  Hausz  eingericlitet.  Aber  die  Engel  nahmen  ihne,  die 
Fraw,  die  Töchteren,  bey  der  Hand :  Apprehenderunt  manus  eius,  &  manum 
Uxoris  eius,  &  duarum  filiarnm  eius.  Und  müsten  gleichsam  wider  Willen, 
die  Füsz  so  behend  und  starck  lauffen ,  dasz  er  bald  nicht  mehr  aulT  ihm 
selber  stehn  könte.  haltet  derwegen  an  umb  eine  Difpenfation ,  für  dasz 
klein  Stättlein  Balam,  in  welcher  er  auszzurasten  begehret,  damit  es  dem 
Undergang  entgehn  könnte  wie  es  dann  auch  geschehen,  und  fürterdhin 
Segot  benambset  ist  worden. 

Eine  ungewöhnliche  Morgenröthe,  bedeüttet  eine  Wetter-Enderung. 
Die  Fasznacht  in  Sodoma  ist  fürüber  Sol  egreffus  eft.  Die  Sonn  ist 
schon  aufFgezogen :  was  kochet  sie  an?  Et  pluit.  Es  Regnet,  und  fallet, 
O  Weh!  nit  Wasser  sonder  Feur,  O  Weh!  nit  Hagel,  sonder  Schweffei: 
O  Weh!  nit  alszgemach,  sonder  Urplötzlich:  O  Weh!  nit  nur  in  einem 
Schlupffwinckel,  sonder  auff  Statt,  und  Land :  O  Weh !  keiner  hat  Zeit  und 
■weil  umb  Gnad,  umb  Huld  zuschreyen:  O  Weh!  die  Fasznacht  hat  End, 
und  ist  der  Aschermittwoch  da,  der  ist  nun  immer  wehrend  zu  einer 
Witzigung,  und  ewigen  angedencken. 

Anderer  Theil. 

Hat  E.  L.  auch  Lust  zu  einem  solchen?  Ich  endere  die  Frag;  was 
haben  jene  zugewarthen,  welche  ewerem  Exempel  nachfolgen,  und  allein 
ihre  FrÖlichkeit  mit  Gott,  und  in  Gott,  suchen?  Diser  will  ich  jetzund  ant- 
worten, und  zwar  nur  mit  Einziehung  schrifftlicher  Proben  :  es  ist  der  H. 
Mariffi  Magdalenjc,  durch  die  sambtlich  Catholische  Kirch  eine,  eine  nie- 
mal verblichne,  sonder  allzeit  frisch  grienende  Gedächtnusz,  nit  dasz  sie  ein 
überdreysig  Jähriges  Buszleben  geführt,  nit  dasz  sie  die  Gastgebin  desz  Herrn 
gewesen,  nit  dasz  sie  under  dem  Creutz,  mit  Maria' und  Joanne  gestanden,  sonder 
dasz  sie  einstens  was  underfangen,  welches  denen  Welt-Kinderen,  und  Aechteren 
desz  Heylands,  übel  in  die  Nasen  gerochen:  sie  komt  da  man  bey  der  Taffl  wäre, 
sie  meldet  sich  nit  an  sie  wartet  auff  kein  Erlaubnu?z,  sie  gunnet  keinem 
einen  Augenblick:  Ihr  einzige  Zihlscheiben  wahre  JEsus  dessen  Füsz  will 
sie  mit  ihren  Threnen  benetzt ,  und  mit  ihren  Haaren  getrücknet  haben : 
Dessen  Haupt  musz  ihr  balsamiert  werden.  Magdalense  wer  alles  recht : 
Wann  nur  solches  zu  anderer  Zeit,  und  in  einem  andern  Orth  undernom- 
men  wurde :  Da  soll  man  essen  nit  weinen ,  da  soll  man  trincken ,  nit 
Seufftzen ,  da  soll  man  Difcurrleren:  Derwegen  ist  man  hier  zusammen 
kommen,  derwegen  ist  der  Meister   auch  eingeladen  worden. 

Nein!  nein!  sonderbahre  Gnaden  wollen  auch  was  sonders  haben:  Ist 
es  nit  ein  hohe  Gnad,  und  biszhero  allein  einem  grossen  Joanni  Baptjsta? 
vergunnet,  dasz  sie  annoch  In  dem  Leben  hat  hören,  und  haben  können 
für  einen  schütz-  und  Lob-Prediger  den  ewigen  Sohn  Gottes  selber  ?  Ist  es 
nit  ein  überausz  schätzbarer  Gunst,  dasz  dise  Salbung,  mehrmalen  in  dem 
Jahr,  in  gantzer  Christlicher  Welt  musz  vorgelesen  werden?  Niemahl  aber 
hätte  der  Heyland  ausz  diser  Benetzung,  ausz  diser  Trücknung,  ausz  diser 
Salbung  ein  solches  wesen  gemacht,  wann  sie  nit  eben  zu  dieser  Zeit,  eben 
in  solchen  Umbständen  geschehen  wäre. 

Der  Liebe  JEsus  sagte  vormahlen  seiner  Gesponsz :  Thue  mir  auff 
meine  Schwöster,  lass  mich  hinein  meine  Freundin!  gib  mir  Tanh,  und  Un- 
derschlauff  mein  wertes  und  reines  Däublein:  sihe  mein  Haupt  ist  von  dem 
Nacht-Tau  gantz  im  Wasser:  Aperi  mihi  loror  mea,  amica  mea,  columba 
mea,  Immaculata  mea,  quia  Caput  meum  plenum  eft  rore,  &  cinclnni  mei 
guttis  uoctium.    Von  denen  Nachtvö^len,    in  diser  Zeit,  wird  leyder!  unser 


236  Miscellon. 

Haupt,  unser  Ileyland,  mifc  einem  schwären  Sünden-Tau  allzusehr  beschmitzet, 
und  entunehret:  Mali  Chriftiani  fuis  pravis  moribus,  quasi  iniecto  rore 
oontaminant  caput  Chrifti,  illumque  abs  se  ablejrant:  Aber  E.  L  nimbt 
JEsum  auff,  umfasset  selben,  mit  inniglichen  Seufftzeren  trücknet  ihne  mit 
eyflngen,  und  hitzigen  Anbetten,  derentwegen  werdet  ihr  ihme  Heb  seyn 
als  wie  eine  Magdalena,  als  wie  ein  Schwöster,  als  wie  ein  wäre,  und  ee- 
trewe  Freundin.     Ist  noch  nit  genug. 

Johannes!  Ich  musz  und  bin  gezwungen  dich  Seelig  zu  sprechen,  da 
nemblich  dir  erlaubt  wurde  dein  Jungfräuliches  Haupt,  in  die  Schosz  desz 
Heylands  zulegen:  In  welcher  du  auch  worden  bist,  der  verwunderliche 
Himmels-Adler:  noch  Seeliger  wärest  worden  wann  JESus  sein  Haupt  auch 
in  deine  hchosz  gelegt  hätte  :  Und  gleich  wol  sich  nit  mehr  klagete  Filius 
hominis  non  habet  ubi  caput  rechnet:  Der  Sohn  desz  Mensehens  ist  so  arm 
und  verlassen,  dasz  er  bald  nit  weist,  worauff,  und  wohin  er  sein  ermüdetes' 
Haupt  hinlegen  solle.  E.  L.  weisz  nur  gar  zu  wol ,  und  musz  es  mit  Vor- 
geschamigkeit,  zugeschlosznen  Augen,  dannoch  sehen  und  erfahren,  wie  un- 
ser hochverdientister  Erlöser  in  der  Fasznacht,  von  so  vilen  Christen  ver- 
lassen, und  yerhönet  werde:  derwegen  er  Müd  und  Math  herumbgehet,  und 
schallet  wo  immer  eine  zufinden,  dje  ihme  seyn  könten  ein  Schoosz,  und 
Kuh-Behtlein  sich  m  selber  gleichsam  zuerbolen:  Ihr  dan  wollet  solche 
seyn :  Ihr  begehret  ihne  auffzunemmen ,  darum  auch  ewer  eigen  wird  seyn 
der  sechste  Vers,  in  dem  neun  und  dreysigisten  Psalmen.  Seehg,  und  über- 
seehg  ist  jener,  und  jene  welche  sich  gäntzlich  quit  machen  von  allen  so 
eittelen  so  unsinnigen  Welt-Freuden,  und  ihr  Lust,  und  Hofl^nung  allein  der 
Nahm  desz  Herren  ist:  Beatus  vir,  cujus  eft  Nomen  Domini  fpes  eins,  & 
non  refpexit  m  vanitates,  &  insanias  falfas. 

Das  Lobsprechen  welches  GOtt  einem  gibt,  ist  weit  änderst  geartet 
als  jenes,  mit  deme  die  Welt  ihre  Anhänger  bedöret,  gleich  denen  Aepfflen 
so  jetzund  in  der  Landschaff't  Sodoma  wachsen ,  von  auszen  schön  und  na- 
türlich gefärbet,  inwendig  nur  mit  Aschen  angefüllet,  gleich  denen  Comet- 
sternen,  so  eine  Zeit  glantzen,  hernacher  sich  in  Peftilentialische  Dämpf! 
Kelolvieren,  gleich  denen  so  genenten  Küsz-Jungfern,  in  der  Herren  Kerker 
welche  wann  sie  umhalsen,  tödten:  Molliti  funt  fermones  eius  fuper  oleum' 
Aj  ipfi  Amt  lacnla.  Wann  GOtt  aber  einen  Seelig  spricht,  ist  er  eben 
darum  in  der  That  Seelig:  In  weme  aber  dise  würckhche  Seeligkeit  be- 
stehe die  ich  euch  als  einen  verdienten  Lohn  verspriche ,  erleutheret  dasz 
nachfolgende,  und  abermahl  ausz  HU.  Schrifft. 

•u  J"  c^^c'^i'e  «ram  &  non  me  viiitaftis.  Ich  wäre  in  dem  Kercker,  und 
ihr  habt  mich  nit  besucht.  Wir  wissen  aber  ausz  seinem  Leben  nirgend 
dasz  er  einstens  sey  Incarceriert  worden.  Wol  seynd  etliche  Vätter  die  sa- 
gen dasz  der  Heyland,  in  dem  Hausz  Caiphje,  nach  empfangnem  Backen- 
streich, und  vilen  anderen  Verhönungen ,  in  einem  Kercker  zu  zwey  stun- 
den, unglaublich  entunehret  sey  worden:  Disz  ist  doch  nur  ein  Muthmas- 
sung,  und  kein  Glaubens- Satz.  Wo  wollen  wir  dann  einen  Kercker  auft- 
bringen,  damit  nach  dem  Buchstab,  und  von  der  eignen  Per<=ohn  Christi 
könne  gesagt  werden:  in  Carcere  eram ,  &  me  non  vifitaftis?  Wir  haben 
ihne  hier  vor  Augen:  er  ist  rund,  er  ist  klein,  und  eng,  er  ist  von  aussen 
hell  und  weisz,  inwendig  dunckl,  es  ist  die  Sacramentalische  Hostia:  darin 
hat  er  sich  eingeschlossen  ausz  unentlicher  Liebe,  darausz  seyflzet  er  zu  sei- 
nem Himmlischen  Vatter:  in  Carcere  eram:  Ich  wäre  in  dem  Kercker- 
wann  ?  zur  Stell ,  und  in  einem  Augenblick ,  so  bald  die  Wörter  der  Con- 
lecration,  auff  dem  Altar  von  einem  rechtgeordnetten  Priester  sevnd  auszge- 
sprochen  worden:  Wie  lang?  schon  zu  tausend  sechshundert  und  siebentzig 
Jahr:  wie  und  mit  was?  Mit  meiner  Allmacht,  und  einem  unentlichen  Gna- 
«len-bchatz.  Zu  was  ende?  dasz  meine  Menschheit  nahe  bey  euch  seve 
dasz  ihr  mich  als  eine  Seelen  speise  gleich  zur  Hand  hätten:  dass  euch  die 
würdige   Matery  nicht   abgehe   für  ein  tägliches  Brand  Danck-  und  Versöh- 


Miscellen.   ^  237 

nunt^s-Opfler:  Et  me  non  vifitaftis.  Und  ihr  habt  mich  riit  heimgesucht. 
Wekhe  aber:  die  in  den  Stätten,  und  Palästen:  die  gemeiniglich  bey  ieister 
grühnen  Weide  leben.  Nicht  aber  E.  L.  als  welche,  dise  drey  Tag  ihnen 
ausserwöhlten  als  eine  beste  Gelegenheit  sii:h  jene  zuerzeigen,  die  ihr  war- 
hafllig  seyd,  und  als  solche  zu  werden,  schon  in  dem  Tauft  versprochen 
habet':  ihr  widersagt  dem  Teuffei  als  einem  Urheber,  und  Gruudleger  der 
Fasznacht :  ihr  widersagt  allen  seinen  Wercken  :  alle  kan  er  in  diser  Zeit, 
in  eim,  oder  anderem  Orth  anbringen ;  ihr  widersagt  idlem  seinem  Pomp  : 
uiemahl  ist  ein  grösserer  im  Schwung,  als  eben  jetz,  was  lang  verborgen 
gelegen,  musz  jetz  an  den  Sonnenschein :  auch  die  kaum  für  ein  Monath 
zu  beissen,  und  Zunagen  haben,  heulen  mit  den  Fasznachtnarren  in  ein 
Hörn:  Trag  aufi,  und  schütte  nicht,  ist  es  Fasznacht  so  seye  es  Fasznacht. 
Es  ist  zwar  Joseph  in  seiner  Cisteru,  eine  Figm-  unsers  allerliebsten  JEsu 
gewesen,  er  hat  aber  mit  Namen  nit  gewust,  dasz  sein  Bruder  Rüben  ihne, 
bey  dem  Leben  erhalten ,  und  derwegen  diser  Kertker  oder  Galdbrun  nur 
als  ein  Zwischen-Mittl  vorgeschlage  sey  worden,  wäre  sag  ich,  dise  Meinung 
ibme  Joseph,  kundbar  gewesen,  ach  wie  wurde  erhernacher  ihme  vor  ande- 
ren umb  den  Halsz  gefallen  seyn!  unser  Joseph,  in  der  Sacrimientalischen 
Hostia  weisz,  und  sieht  alles:  wie  nemblich  E.  L.  allen  Fleisz  und  Kräffte 
anspanne,  dasz  er  nit  beleydiget,  oder  besser  zureden,  dasz  nit  abermahl, 
und  von  so  vilen,  Gecreutziget  werde,  dasz  er  seine  gebührende  Ehre,  und 
Anbettung,  in  dem  Tempi  empfange,  dasz  er  in  viler  hundert  Hertzen,  in- 
mittelst der  HH.  Coinmunion ,  seinen  Gnaden  vollen  Einkehr  nemme:  so 
kan  sie  sich  deszhalben  getrösten,  er  werde  ihren  nit  nur  eine  blosse  Um- 
halsung  vergünstigen,  sonder  noch  darzu,  einen  solchen  Gnaden-Pfenning 
in  die  Hand  legen,  den  zu  seiner  Zeit,  und  Stund  der  himmlische  Vatter 
gern  annehmen  werde,  als  eine  Abzahlung  der  zuvor  verdienten  Sund  und 
Ölraff",  als  ein  genügsames  Gegengewicht  zu  Erkauffung  eines  ewigen  Him- 
mels. Aufi"  das:  Ich  wäre  in  dem  Kercker,  und  ihr  habet  mich  besucht. 
Gehöret:    Kombt  her  ihr  gebenedeyte.  . 

Man  verwundert   sich,    ia  etwelche  ziehen   dasz   Giffl  ausz   dem  Honig: 
Dasz  der  Rechte  Schacher  einen  so  graden   Weeg  von   dem  Mörder-Galgen 
zu  dem  Paradevsz,  gefunden  habe  :    Hat  es  also  ihme  gelingen  können,  war- 
umb   uns   nit  auch?    obwolen  wir   schon  in  etwas  den  Abweg  nemmen,    ob- 
wolen   wir   gleich  wol  dem  jungen  Muth  pflegen,    obwolen   wir   schon  man- 
chen Schnit  an  der  Beilen  haben,    kan   doch  entlich   alles  geschlichtet  wer- 
den:   aber   der   Schacher    hat   nit    nur    obenhin,   sonder  fürtreff'lich  sich  ge- 
schickt gemachet  zu  dem  Hodie  mecum  eris  inParadyfo:  Heut  wirst,  in  dem 
Paradeyl  bey  mir  seyn.     E.  L.  musz   wol  die   Umstände  überschlagen:  habt 
ihr  jemahl  gehört,  dasz  einer  das  Leben  begehrt  von  einem,   der  selber  zu 
dem  Todt   verurtheilet  wäre,   und   ihme    eine  Gesellschafft  gewünschet,  und 
gesuchet   habe,  mit  jenem,  der  von  der  Welt,  ja  auch  von  seinen  yertrauti- 
sten,  verlassen  worden?    dasz  einer  jenen  für  seinen  Herren,  und  König  an- 
genommen, der  kein  andern  Thron,  als  ein   Creutz  hatte?  bei  welchem  kein 
anderer  Scepter  zufinden,   als  ein  grober  Nagel  durch  Hand  und  Füsz?  auff 
dessen    Haupt,    an    stat  der   Chron,   ein   Dorn-Pusch   eingetrucket   worden? 
der  für  seinen  Hoffstab  kein  andere  Purst    zehlen  könte,    als   Schörgen,  als 
Hencker,    als    Spöttler,   als   Lästerer?  der  in   keinem   anderen  Purpurmantl 
zusehen  wahre,  als  in  seiner  eigner,  aber  blosser,  aber  zerfetzten,  aber  gantz 
blutigen    Haut?   dessen  doch   alles   ungeacht  rufit  er  JEsum  für  einen  Her- 
ren:'für  einen  König  ausz,  Herr  dencke  meiner,    so  du  in  dein  Reich  kom- 
men wirst,    jene  aber,   so   seine   Wunderthaten,    mit  Augen  gesehen,    und 
Stirn-  und  Zeugnusz  von  Himmel,  mit  Ohren  gehört,  seynd   entweders,  ausz 
Forcht  nit  da,  oder  sonst  Stim-  und  Redlosz  versencket  in  einem  Meer  der 
Trauriffkeit,   als  wie   Maria,   als   wie  Magdalena,  als  wie  Johannes,    als  wie 
wenig  andere.     Ja  dpr  Muth    dises  newen   Bekenners   Christi  Hesse  sich  mit 
deme  allein  nit  beschlagen:  fahret  seinem  Mitgeselleu  wacker  über  das  Maul: 


238  Miscellen. 

Increpabat  eum:  deszwegen  er  würdig  worden,  einen  voUkonimnen  Ablasz 
zu  empfangen,  ejne  so  Gnadenreiche  Einladung  anzuhören:  Hodie  mecum 
eris  in  Paradyso :  heut  wirst  du  bey  mir  seyn  im  Paradeysz.  Nun  müssen 
wir  bedaurlich  sehen  dasz  unser  Heyland,  in  der  Fasznacht,  wiederumb  an 
das  Creutz  genaglet  werde:  Rurfum  Crucifigentes  Filium  DEI:  dasz  ihne 
ein  Unchristmässiger  Wandl,  viler  tausenden  verspotten  thüe :  Et  oltentui 
habentes.  Dasz  alles  bitten,  und  betten  der  Prediger  die  Vögel  desz  Luffts 
binweck  nemmen ,  in  vilen  ürthen  'aber  ist  der  feünden-Schwall  so  starck 
eingebrochen,  dasz  man  darwider  so  gar  nit  reden  darff,  machen  ausz  denen 
allzeit  verdamblichen ,  Müszbräuchen  einen  Satz  und  Regel:  vor  Jahren 
hatte  es  hier,  wie  ihr  es  wol  gedencken  könnet  schier  auch  ein  solches  Ausz- 
sehen,  ihr  aber  habet  einen  heiligen  Aufistand  gemacht,  alle  Fasznacht-Up- 
pigkeiten  zerdrimmeret,  dargegen  die  herrliche  Auszstellung,  die  andächtige 
Anbettung,  die  demütige  Heimsuchung  desz  hochwürdigiste  Guts  eingeführet : 
Quid  ergo  erit  nobis.     Was  soll,  und  kan  ich  dann  E.  L.  verheissen. 

Seye  sie  wolgemuth :  ich  hab  die  Erlaubnusz  einen  gutten  Griff  in  seine 
Schätze  zuwagen:  für  meinen  Theil  wünsch  ich,  und  will  es  mit  dem  Scha- 
cher gemein  haben:  Memento  mei  :  mein  JEsu :  da  meine  Sand-Uhr  ausz- 
geloffen,  da  meine  Stund  alle  geschlagen,  da  das  Rechen-Buch  herfür  wird 
genommen  werden,  da  die  Thür,  zur  Ewigkeit  sich  öffnet:  Memento  mei, 
seye  meiner  in  Gnaden  in  gedenck.  Will  E.  L.  was  mehrers,  als  dises? 
Ich  verstehe  sie  schon.  Mein  Heyland!  dise  Versamblung  bittet  und  be- 
gehrt auch  jenes,  was  ich  mir  über  alles,  und  allein  ausserwöhlet,  gibt  aber 
mir  darzu  eine  andere  Ansuchung  die  ich  sollte  vor  dem  Thron  deiner  un- 
entlichen  erbärmde,  zu  dem  Beschlusz,  prrefentiren.  War  ist  es:  du  erzei- 
gest dich  in  Italia,  in  Pohlen,  in  Germania ,  &c.  als  einen  zornigen  Aflue- 
rum :  Ich  kan  aber  unser  Püntner-Land  nit  Guarantieren,  dasz  man  in  dem- 
selben was  besser  jetz  lebe  als  man  in  bedeuteten  üertheren  gelebt  habe. 
Wie  soll  ich  dann  die  güldene  Ruthen,  welche  du  in  der  Hand  hast,  anse- 
hen? Ich  getröste  mich  wiederumb,  auch  zu  disera  Beylag,  alles  guttes  : 
dann  ihr  zu  diser  Zeit  euch  erzeiget  habet,  vor  hiesigem  Sacramentalischen 
Thron  der  Gnaden,  als  eine  reine,  als  eine  forchtsame,  als  eine  demüthige 
als  eine  gehorsame  und  liebende  Elther.  Sihe  sie  wirffet  sich  abermahl  vor 
dir  nieder,  ergreifl'et  die  Davidische  Harpffen,  und  stimmet  an  den  fünffzi- 
gisten  Psalmen:  Miferere  mei  Secundum  magnam  mifericordiam  tuamPf.  50. 
Herr  GOtt  Vatter  erbarme  dich  unser  nach  deiner  grossen  Barmhertzigkeit, 
die  hier  dein  eingebohrner  Sohn  JEsus  Christus  ist,  in  Einigkeit  des  HH. 
Geistes  jetzund,  und  zu  allen  Zeitten,    Amen. 

Alles  zu  grösserer  Ehr  GOttes. 


Bibliographischer  Anzeiger. 


Grammatik. 

F.  Diez,    Grammatik  der   Romanischen  Sprachen.     2    Thle.     3.   Auflage. 

(Bonn,  Weber.)  2  TWr.  lö.Sgr. 

M.A.  Lesaint,  Traite  complet  de  la  prononciation  fran^aise dans  la  seeonde 

moitie  du  XIX«?   siecle.     2.  Ed.     (Hamburg,  Mauke.)  3  Tbk-. 

G.  L.   Staedler,   Lehrbuch   der  italienischen  Sprache.      3.  Aufl.     (Berlin, 

Haude  &  Spener.)  1  Thlr.  6  Sgr. 

Lexicographie.    , 

M.  Lex  er,  Mittelhochdeutsches  Wörterbuch.     5.  Lfrg.     (Leipzig,  Hirzel.) 

1  Thlr. 
J.  E.  Wessely  &  A.   Girones,    Pocket  Dictionary    of  the  English  and 

Spanish  Languages.     (Leipzig,  Tauchnitz.)  15  Sgr. 

Neues  Taschenwörterbuch  der  dänischen  und  deutschen  Sprache.     (Leipzig, 

Holze.)  1  Thlr. 

A  new  Pocket-Dictionary  of  the  english  and  russian  languages.      (Leipzig, 

Holze.)  1  Thlr. 

Literatur. 

Ph.  Wackernagel,  Das  deutsche  Kirchenlied.  33.  Lieferung.  (Leipzig, 
Teubuer.)  20  Sgr. 

Gothische  und  Altsächsische  Lesestücke  nebst  Wörterbuch  von  Wilhelm 
Wackernagel.     (Basel,  Schweighauser.)  20  Sgr. 

E.  Böhmer,  Romanische  Studien.     1.  Heft. 

G.  F.  Stedefeld,  Hamlet,  ein  Tendenzdrama  Shakespeare's  gegen  die 
skeptische  und  kosmopolitische  Weltanschauung  d.  M.  de  Montaigne. 
(Berlin,  Paetel.)   _  15  Sgr. 

G.  F.  Stedefeld,  Die  christlich-germanische  Weltanschauung  in  den  Wer- 
ken der  Dichterfürsten  W.  v.  Eschenbach,  Dante  und  Shakespeare. 
(Berlin,  Paetel.)  15  Sgr. 

Thimm's  Shakesperiana  from  1564  to  1864.  The  literature  of  England, 
Germany  and  France.     (London,  Fr.  Thimm.)  1  Thlr. 

Ch.  Marlowe's  tragedy  of  Edward  IL  Wilh  an  introduction  and  notes 
by  W.  Wagner.     (Hamburg,  Boyes  &  Geisler.)  20  Sgr. 

J.  Murray  Graham,  Historical  view  of  literature  and  art  in  Great  Britain. 
(BerUn,  Asher.)  4  Thlr. 


240  Bibliographischer  Anzeiger. 

Shakespeare's  Euphuism.     By  W.  L.  Rushton.     (Berlin,  Asher.)         27  Sgr. 
Shakespeare's  Hamlet,  englisch  und  deutsch,  herausgegeben  vonM.  Moltke. 

(Leipzig,  Deutsche  Volksbuchhandlung.)  ■   10  Sgr. 

Shakespeare's   Dramen.       Deutsche    üebertragung    von   Dr.    F.    Jencken. 

6  Bde.     (Mainz,  Le  Roux.)  1  Thlr. 

W.  Shakespeare's    dramatische   Werke,   für   die    deutsche  Bühne   bearbeitet 

von  VV.  Oechelhäuser.     1 — 4.  Bd.     (Berlin,  Asher.)  a  Bd.  15  Sgr. 

S.  Austin   Allibone,   Critical  Dictionary  of  English  literature  and  British 

and  American  authors.     (Philadelphia.)     (Berlin,  Asher.)  32  Thlr. 

The  Breitmann  Ballads,  by  Charles  G.  Leland.     (London,  Trübner.) 

2  Thlr. 
La  litt^rature  fran^aise   pendant  la  guerre.      (Berlin,   Stilke  &  v.  Muyden.) 

15  Sgr. 
Fr.  Kreyssig,  Vorlesungen  über  den  deutschen  Roman  der  Gegenwart. 
(Berlin,  Nicolai.)  l'/..  Thlr. 

P.  F.  J.  Kuuhardt,  Dantische  Reminiscenz  an  d.  biblische  Gleichniss  vom 

ungerechten  Haushalter  in  der  Div.  Com.    Far.  VI.    (Lübeck,  Grautoß.) 

H  Sgr. 

E.  Bock,  Deutsches  Lesebuch.     2  Thle.     (Breslau,  Hirt.)  14  S'^r. 
M.  Binstorfer,  Deinhardt  und  Jessen,  Lesebuch  für  Volks-  und  Bür- 
gerschulen.    6  Thhi.     (Schleswig,  Schulbuchhandlung.)  15  Sgr. 

W.  Tobien,  Materialien  f.  d.  deutschen  Unterricht  in  Tertia  und  Secunda, 

(Elberfeld,  Volkmann.)  9  Sgr. 

Regeln  und  Wörterverzeichnis  für  die  deutsche  Orthographie.     Herausg.  v. 

dem  Verein  der  Berliner  Gymnasiallehrer.      (Berlin,   Ebeliug  &  Plahn.) 

2'/,,  Sgr. 

H.Mehl,  Kurzgefasste  Grammatik  der  deutschen  Sprache.    (Wien,  Müller.) 

•  6  Sgr. 

L.    Schmidt,    Manuel    de  la    conversation    fran9aise.      (Leipzig,    Arnoldi.) 

10  Sgr. 
J.  Deubler',    Modernes  Lehrbuch  der  franz.  Sprache.     (Nürnberg,   Korn.) 

12  Sgr. 

F.  Kuhnow,  Der  Anschauungs-Unterricbt  in  der  franz.  Sprache.     (Berbn, 

Thiele.)  8'/.  Sgr. 

G.  Ebert,  Der  Begleiter  zum  Unterricht  im  Französischen. 

I.  Abthlg.     Anleitung  zum  Lesen  nach  den  Grundsätzen  der  Lautir- 

methode  und  im  bewussten  Binden.  10  Sgr. 

n.  Abthlg.      Einführung   in    die  Gesetze    der  Rechtschreibung,   der 

Interpunktion  und  des  Satzbaues.     (Aarau,  Sauerländer.)     14  Sgr. 

A.  Ricard,    Kurzgefasste  Conversations- Grammatik   der  französ.  Sprache. 

(Prag,  Hunger.)  1   Thlr. 

J.  Markl,  Perles  de  la  Poesie  fran9aise.  (Prag,  Hunger.)       1  Thlr.  6  Sgr. 

K.   Keller,    Elementar-Methode   des   französ.    Sprachunterrichts.      2    Thle. 

(Zürich,  Orell,  Füssli  &  Co.)  l'/s  Thlr. 

Baensch's  pocket  miscellany.     Vol.  25.     (Leipzig,  Baensch.)  10  Sgr. 

G.   Bonifacio,   Deutsch -italienischer   Briefsteller.      (Stuttgart,  Neff") 

1  Thlr. 


Frangois  Villon. 

Von 

Dr.  Albert  Stimming  in  Kiel. 


Das  fünfzehnte  Jahrhundert  ist  eine  Uebergangsepoche :  das  Mit- 
telalter mit  seinen  Institutionen  fällt  in  Ruinen,  die  neue  Zeit  beginnt, 
das  Bürgerthum  macht  sich  von  der  Bevormundung  durch  die  Geist- 
lichkeit frei  und  tritt  an  die  Stelle  des  Ritterthums,  das  während  des 
ganzen  Mittelalters  mit  dem  Clerus  sich  in  die  Herrschaft  der  politi- 
.schen  und  literarischen  Welt  getheilt  hatte.  Dieser  grosse  Kampf,  der 
allmählich  alle  Zweige  des  menschlichen  Wissens  berührt,  zeigt  sich 
auch  in  der  Literatur  und  namentlich  in  der  lyrischen  Poesie :  während 
die  Dichter  des  Mittelalters  ihr  ganzes  Talent  auf  die  Eleganz  der 
Form  und  die  Veredelung  der  Sprache  verwandten,  während  sie  sich 
bemühten,  Allegorien  zu  erfinden  und  zai'te  Gefühle  zu  äussern ,  ohne 
sich  darum  zu  kümmern,  ob  ihre  Klagen ,  Betheurungen  und  Schwüre 
den  Gesinnungen  ihres  Herzens  entsprachen  —  wird  die  Poesie  in  der 
neuen  Periode  im  Gegentheil  der  naive,  manchmal  kräftige,  oft  aller- 
dings auch  rohe  Ausdruck  der  eignen  Empfindungen  des  Dichters. 

Die  beiden  bemerkenswerthesten  Repräsentanten  dieser  beiden 
Richtungen  sind  in  Frankreich  Charles  d'Orleans ,  die  letzte  und  zar- 
teste Blüthe  der  ritterlichen  Poesie  und  sein  Zeitgenosse,  Fran9ois 
Villon,  der  erste  volksmässige  Dichter.  Einige  Studien  über  den  Letz- 
teren werden  Gegenstand  dieses  Aufsatzes  bilden :  nachdem  wir  im 
Anfang  einige  biographische  Notizen  gegeben  haben,  werden  wir  von 
seinen  Werken,  sodann  von  seiner  Prosodie  und  schliesslich  seiner 
Sprache  handeln. 

Da  uns  die  Zeitgenossen  Villons  über  die  persönlichen  Verhält- 
nisse desselben  leider  nichts  berichtet  haben ,  so  sind  wir  mit  Aus- 
nahme   einiger    zweifelliafter    Notizen    bei  Rabelais    auf  seine  eignen 

Archiv  f.  n.  Sprachen.   XLVHI.  16 


242  Fraii9ols  Villon. 

Schriften  als  die  einzige  Quelle  in  dieser  Beziehung  beschränkt.  Nach 
den  verdienstvollen  Forschungen ,  die  Dr.  Nagel  und  theilweise  auch 
andre  Biographen*  angestellt  haben,  wird  es  uns  nicht  möglich  sein, 
wesentlich  Neues  aus  dem  Leben  des  Dichters  vorzubringen,  wir  be- 
schränken uns  also  darauf,  die  Ergebnisse  jener  Untersuchungen  kurz 
anzugeben. 

Der  Dichter  nennt  sicli  selbst  an  verschiedenen  Stellen  seiner 
Werke  Fran9ois  Villon,  ebenso  heisst  er  in  den  Schriften  seiner  Zeit- 
genossen, z.  B.  in  den  „Eepues  franches"  und  in  allen  ältesten  Ausga- 
ben seiner  Poesien ,  so  dass  Villon  allein  für  seinen  Familiennamen 
galt.  Aber  seitdem  Claude  Fauchet  in  seiner  Abhandlung  „De  l'ori- 
wine  des  Chevaliers,  armoiries  et  heraux  1599"  nach  einem  IManuscripte 
seiner  Bibliothek  eine  Variante  der  berühmten  Quatrains  von  Villon 
„Le  huitain  de  Villon"  veröffentlicht  hat,  haben  sich  die  Meinungen 
der  Gelehrten  getheilt.     Das  Quatrain  lautet  nämlich: 

Je  suis  Fran^oys,  dout  ce  me  poise 
Ne  de  Paris,  empres  Pontboise; 
Qui  d'une  corde  d'une  toise 
Scaura  mon  col,  que  mon  cul  poise. 

Seine  Variante,  das  Huitain: 

Je  suis  Fran9ois,  dont  ce  me  poise 

Nomme  Corbueil  en  mon  surnom; 

Natif  d'Auvers  empres  Pontboise 

Et  du  commun  nomme  Villon. 

Or  d'une  corde  d'une  toise 

Scaurait  mon  col  que  mon  cul  poise 

Se  ne  fut  un  joly  Appel 

Le  jeu  ne  me  sembloit  poInt  bei. 


*  Von  den  hauptsächlichsten  Autoren,  die  sich  mit  der  Biographie  Vil- 
lons  beschäftigt  haben,  nennen  wir: 
Etienne  Pasquier,  der  ihm  ein  ganzes   Capitel  in  seinen  „Recherches 

de  la  France"  gewidmet  hat; 
Guillaume   Colletet    „Vie   de  Fran^ois  Villon  1650"  wieder  abgedruckt 

in  den  „Oeuvres  completes  de  Francois  Villon,  editees  par  L.P.Jacob, 

Bibliophile,  Paris  1854;" 
Prosper  Marchand  in  seinem  „Dictionnaire  historique;" 
J.  II.  R.  Prompsäult  in  der  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  Paris  1832;  _ 
Dr.  Nagel   „Fran9ois  Villon,    Versuch    einer  kritischen  Darstellung  seines 

Lebens,"  Mühlheim  a.  d.  Ruhr  1856; 
Campaux:   „Vie  et  les  oeuvres  de  Villon,"  Paris  1859; 
Anatole  de  Montaiglon  in  „Les  Poetes  Fran^ais,  recueil  public  sous  la 

direction  de  M.Eugene  Crepet,"  Paris  1861—62.   Band  L  p.  417— 455; 
P.   Jannet:    Oeuvres  completes  de  Francois   Villon,   ed.   preparee   par    La 

Monnoye,  mise  au  jouravecnotes  et  glossaire  par  P.  Jannet.  Paris  1867; 
Jacob  »le    bibliophile:  Les  deux    Testaments  de   Villon    etc.  pr^cedes 

d'une  notice  critique.     Paris  1867. 


Fran^ois  Villon.  243 

Dr.  Nagel  sucht  niit  grossem  Scharfsinn  aus  andern  Stellen  von 
Villon's  Werken  nachzuweisen,  dass  „Villon"  wirklich  ein  Beiname 
gewesen,  den  der  Dichter  freiwillig  zu  Ehren  seines  Lehrers  und  Gön- 
ners des  „Maistre  Guillaume  Villon"  angenommen  und  dass  aus  diesem 
Grunde  gegen  die  Echtheit  der  Huitains  nichts  einzuwenden  sei.  Die- 
selbe muss  aber  aus  einem  äussern  Grunde  sehr  in  Zweifel  gezogen 
werden.  Wenn  man  nämlich  bemerkt,  dass  so  oft  Villon  die  Form 
der  Huitains  anwendet,  d.  h.  In  dem  „grossen  und  kleinen  Testament" 
und  in  der  INIehrzahl  der  Balladen,  diese  immer  ababbcbc  gereimt  sind, 
ferner  dass  die  Dizain's  (ababbccdcd)  und  die  Douzain's  (ababbccddede) 
in  Bezug  auf  den  Reim  einem  durchaus  analogen  Gesetze  folgen,  so 
muss  man  es  um  so  auffälliger  finden,  wenn  wir  hier  anders  gereimt 
finden,  nämlich  ababaacc. 

Geboren  wurde  der  Dichter  1431  in  Auvers ,  einem  Dorfe  nahe 
bei  Paris,  doch  wurde  er  wohl  schon  früh  nach  der  Hauptstadt  selbst 
gebracht.  Seine  Familie  war  arm  und  unbedeutend ,  seine  Mutter,  er- 
zählt er  uns  selbst,  konnte  weder  lesen  noch  schreiben ,  war  aber  sehr 
fromm,  dabei  ihrem  Sohne  von  Herzen  zugethan,  so  dass  dessen  dumme 
Streiche  ihr  tiefen  Kummer  bereiteten.  Den  Vater  hatte  er  schon  vor 
seinem  dreissigsten  Jahre  verloren.  Nachdem  er  sich  die  nöthigen 
Kenntnisse  erworben,  bezog  er  die  Universität  zu  Paris.  Das  lockere 
leben  der  damaligen  Studenten  war  aber  zu  verführerisch,  als  dass  es 
Ihn  bei  seinem  Hange  zu  sinnlichen  Vergnügungen  und  seinem  Man- 
gel an  Willenskraft  nicht  hätte  anziehen  und  dann  auf  der  abschüssigen 
Bahn  immer  weiter  forttreiben  sollen.  Mit  grosser  Offenheit  gesteht 
er  uns  selbst  G.  T.  (grand  testament)  26,  5 

,,je  fnyoje  rescolle 
Couime  faict  le  mauvays  enfant" 

und,  indem  er  die  Worte  des  Weisen  „Esjoys  toy,  mon  fils,  ä  ton 
adolescence"  zu  sehr  zu  seinen  Gunsten  auslegte,  verband  er  sich  mit 
einer  lustigen  Schaar 

„de  gratieux  gallans 
Si  bien  chantans,  si  bleu  pax'lans, 
SI  plaisans  en  faictz  et  dictz" 

und  „galler,  friander,  leschier"  namentlich  aber  „aimer"  wurde  fortan 
seine  wie  seiner  ganzen  muntern  Cumpane  Hauptbeschäftigung.  Da 
er  uns  nun  aber  G.  T.  24,  1  —  4  versichert,  dass  er  Nichts  vom  Sei- 
nigen ausgegeben  oder   verkauft  habe,    um   so  viel  Leidenschaften  zu 

16* 


244  Fran9ois  Villon. 

befriedigen,  so  weiss  man  nicht,  woher  er  die  Kosten  seines  lockern 
Lebens  genommen.  Jedenfalls  werden  die  Mittel,  durch  welche  er 
sich  dieselben  verschaflfle,  nicht  allzu  ehrenhaft  gewesen  sein:  er 
„machte"  Geld  „a  dextre  et  ä  senestre"  indem  er  auch  wohl  gelegent- 
lich zum  Diebstahl  und  zur  Beutelschneiderei  seine  Zuflucht  nahm, 
wenigstens  versichern  die  „Repeues  franches,"  die  von  einem  seiner 
Zeitgenossen,  vielleicht  seiner  Cameraden,  verfasst  sind,  dass  Villon 

„Ä  tromper  devant  et  derriere 
Estoit  un  homme  diligent." 

Allerdings  versucht  er,  sich  wegen  solcher  „Missgriffe"  zu  entschul- 
digen, indem  er  sie  durch  seine  Bedürfnisse  motivirt  (G.  T.  2,  7  u.  8): 

„Necessite  faict  gens  mesprendre 
Et  faim  saillir  le  loup  du  bois." 

Aber  die  Polizei  scheint  doch  derartige  Entschuldigungen  nicht  zuge- 
lassen  zu  haben,  denn  wenn  man  aus  der  Vertrautheit  Villon's  mit  den 
Localitäten  des  „Chastellet,"  des  Pariser  Gefängnisses  (P.  T.  22),  so 
wie  aus  seiner  Bekanntschaft  mit  der  Gefangen  Wärterin  (P.  T.  20) 
einen  Schluss  ziehen  darf,  so  ist  Villon  offenbar  häu^g  mit  den  Sicher- 
heitsbehörden seiner  Stadt  ;in  Conflict  gerathen.  Dadurch  gab  er  sei- 
nen Freunden  mancherlei  Gelegenheit,  ihm  ihre  Freundschaft  durch 
Dienste  zu  bezeugen.  Zu  diesen  gehört  namentlich  sein  Lehrer  und 
Gönner  Guillaume  Villon ,  der  sich  offenbar  für  seinen  begabten  und 
witzigen  Schüler  interessirte ;  denn,  obgleich  er  dessen  leichtsinnigen 
Lebenswandel  durchaus  nicht  billigte  (G.  T.  77,  6  ,  et  de  cestuy  sc. 
boillon  pas  ne  s'esjoye),  so  konnte  er  sich  doch  nicht  entschliessen,  ihn 
im  Stiche  zu  lassen  und  hat  ihn  „mis  hors  de  maint  boillon"  (G.  T, 
77,  5)  während  andrerseits  auch  sein  Sachwalter  Fournier  „lui  a 
saulve  maintes  causes"  (G.  T.  90,  5  u.  6). 

Trotz  dieser  Ausschweifungen  scheint  Villon  doch  Perioden  ge- 
habt zu  haben,  wo  er  sich,  wer  weiss  aus  welchen  Gründen,  ernsthaf- 
ter mit  seinen  Studien  beschäftigte,  denn  er  erhielt  einen  academischen 
Grad  „une  nomination«  (P.  T.  17,  1)  und  gehörte  selbst  zu  denen, 
die  von  der  Universität  Paris  dem  Collator  der  Stipendien  vorgeschla- 
gen wurden.  Indessen  wurde  er,  wohl  wegen  seines  mangelhaften 
Testimonii  morum ,  hierbei  nicht  berücksichtigt  und  ebenso  wenig 
gelang  es  ihm  je ,  den  Grad  eines  „maitre  en  theologie,"  damals  das 
Ziel  der  theologischen  Studien ,  zu  erlangen ,  wie  aus  seinen  eignen 
Worten  G.  T.  37  und  72  deutlich  hervorgeht. 


Fran^ois  Villon.  245 

Um  das  Maass  seines  Elends  voll  zu  machen ,  verfolgte  ihn  das 
Unglück  auch  in  der  Liebe:  Ein  junges  INfädchen  (er  nennt  sie  bald 
Denise ,  bald  Rose,  bald  Katherina  de  Vauzelles),  das  er  aufrichtig 
und  treu  liebte  (G.  T.  55,  1,  2),  brach  plötzlich  mit  ihm,  nachdem 
sie  ihn  lange  getäuscht  hatte  (G.  T.  55,  5,  6)  und  zwar  auf  eine  so 
gehässige  und  schmähliche  Weise  (XXI,*  2,  2  u.  3),  dass  er,  ausser- 
dem noch  durch  die  Neckereien  und  Spöttereien  seiner  Bekannten ,  die 
ihn  überall  „l'amant  remys  et  rcnye"  nannten,  aufgereizt,  seine  unge- 
treue Geliebte,  wahrscheinlich  durch  ein  Spottgedicht,  verhöhnte  und 
empfindlich  beleidigte.  Diese  aber  wurde  klagbar ,  die  geistliche  Ge- 
richtsbarkeit legte  sich  in's  Mittel  und  Villon  Avurdc  verurtheilt,  öf- 
fentlich gestäupt  zu  werden  (G.  T.  115,  VI,  5,  1 — 5).  Nachdem  der 
Dichter  diese  entehrende  Strafe  erlitten,  beschloss  er,  Paris  zu  verlas- 
sen; und  da  er  der  etwaigen  Rückkehr  keineswegs  sicher  war,  so 
schrieb  er  um  Weihnachten  1456  sein  Vermächtniss  nieder  (ectablit 
son  laiz  P.  T.  1,  1  u.  2,  2).  Diese  Abschiedswünsche  für  die  Welt, 
die  er  verlässt,  sein  ,. Testament,"  das  zugleich  ein  Andenken  für  seine 
Freunde  sein  sollte,  erhielt  den  Namen  „Petit  Testament,"  erst  später 
im  Gegensatz  zu  dem  „Grand  Testament"  und  zwar  ohne  seine  Ein- 
v/illigung,  wie  er  uns  selbst  mittheilt  (G.  T.  65,  4). 

Villon  ist  nie  von  den  tödtlichen  Wunden  geheilt  worden,  die  die- 
ser Verrath  ihm  geschlagen  :  alle  seine  Werke  athmen  den  tiefen 
Schmerz,  den  er  während  seines  ganzen  Lebens  getragen  hat. 


*  Die  Zahlen  I — XXXIX  stellen  Villon's  kleinere  Gedichte  vor  u.  zwar 
in  der  Reihenfolge,  in  der  sie  sieh  in  der  Ausgabe  Prompsault's ,  als  der 
am  häufigsten  vorkommenden,  finden.  Um  aber  denen,  welchen  nur  andre 
Ausgaben  zugänglich  sind,  etwaiges  Nachschlagen  zu  ei-leichteru,  führen  wir 
die  Titel  der  Gedichte  in  jener  Reihenfolge  auf:  1)  Ballade  des  Dames  du 
temps  jadis;  2)  B.  des  Seigneurs  du  temps  jadis;  3)  B.  en  vieil  frani^ois; 
4)  les  Regrets  de  la  belle  Heauhniere;  5)  B.  de  la  belle  Heaulniiere; 
6)  Double  B.  sur  le  meme  propos;  7)  B.  que  Villon  fait  ii  la  requeste  de  sa 
mere;  8)  B.  de  Villon  h,  s'amye;  9)  Lay  ou  plustost  Rondeau;  10)  B.  et 
oraison;  11)  B.  que  Villon  bailla  ii  un  gentilhomme;  12)  B.  recipe; 
13)  B.  intitulee:  les  Contredictz  de  Franc-Gontier;  14)  B.  des  femmes  de 
Paris;  15)  B.  de  Villon  et  de  la  Grosse  Margot;  16)  Belle  lecon  de  V.  aux 
enfans  perduz;  17)  B.  de  bonne  doctrine  etc.;  18)  Lays ;  19)  Rondeau; 
20)  B.  jjar  laquelle  V.  crye  mercy  etc.;  21)  B.  pour  servir  de  conclusion; 
22)  Lebens  diverses;  23)  Le  (|uatrain;  24)  Epitaphe;  25)  en  forme  de 
Ballade;  26)  B.  de  l'appel  de  V.;  27)  La  requeste  de  V.  au  Parlement; 
28)  Le  debat  du  cueur  etc.;  29)  La  requeste  que  V.  ailla  a  Mgr.  de  Bour- 
bon;  30)  B.  des  proverbes;  31)  B.  des  menus  propos;  32)  Epistre; 
33)  B.  Villon;  34)  B.  des  povres  housseurs;  35)  B.  de  l'honneur  Fran9ois; 
36)  B.  de  la  F'ortune;  37)  Contre  les  taverniers;  38)  Le  dit  de  la  naissance 
Marie;   39)  Double  ballade. 


24(>  Franfj'ois  Villon. 

Sein  Plan,  nach  Angers  zu  gehen  (P.  T,  G,  3),  wurde  indessen 
nicht  ausgeführt;  er  scheint  in  der  Nähe  von  Paris  mit  einigen  Ge- 
nossen (XXV)  eine  Gewaltthat  begangen  zu  haben,  die  ihn  wieder 
in  die  Gefängnisse  von  Paris  brachte.  Wir  wissen  nicht  genau ,  was 
für  ein  Verbrechen  er  sich  hat  zu  Schulden  kommen  lassen,  noch  auch 
den  Ort,  wo  es  begangen  wurde,  aber  die  zweite  Ballade  „du  jargon" 
und  die  „belle  le9on  de  Villon  aux  enfans  perdus"  (huit.  1)  lassen 
annehmen ,  dass  es  sich  um  einen  gewaltsamen  Einbruch  im  Dorfe 
Ruel,  nahe  bei  Paris,  handelte. 

Nachdem  er  gefoltert  worden  (XXVI,  2,  4)  wurde  er  verurtheilt, 
in  Montfaucon  gehängt  zu  werden  (XXVI,  3,  7  u.  4,  2)  und  er  ge- 
steht selbst  olTen  ein  (XXV,  2,  2),  dass  dieses  Urtheil  vollkommen 
gerecht  war. 

In  dieser  äussersten  Noth  scheint  ihn  der  Humor ,  den  er  sich 
bis  dahin  in  allem  Elend  seines  Lebens  erhalten  hatte,  auf  einen  Au- 
genblick verlassen  zu  haben,  denn  der  ernste  Ton  des  Gedichtes,  das 
er  damals  verfasste  „L'epitaphe  en  forme  de  bailade"  unterscheidet 
sich  merklich  von  seinen  andern  Schöpfungen:  Er  vergegenwärtigt 
sich  im  Geiste,  wie  sein  verwester  Körper,  dem  Spiel  des  Windes 
überlassen,  eine  Beute  der  Raben  sein  wird  und  bittet  die  Vorüberge- 
henden, für  ihn  und  seine  Genossen  zu  beten.  Aber  diese  Stimmung 
passt  zu  wenig  zu  seinem  leichten  und  beweglichen  Naturell,  als  dass 
sie  lange  anhalten  könnte  und  in  einer  andex'n  Grabschrift ,  die  er 
bald  darauf  in  Gestalt  eines  Quatrains  (oder  Huitain's)  verfasste ,  hat 
er  es  nicht  unterlassen  können,  einen  rohen  Scherz,  in  Gestalt  eines 
Wortspiels,  einzuflcchten : 


Indessen,  da 


Or  d'une  corde  d'une  toise 

S^aura  mon  col  que  mon  cul  poise. 

„Teilte  beste  gart^e  sa  pel 
Qui  la  contraint,  efforce  ou  lye 
S'elle  peiilt,  eile  se  deslic," 


so  appellirte  er  an  das  Parlament ,  ohne  allerdings  grosse  Hoffnungen 
darauf  zu  bauen,  wie  er  selbst  versichert  (XXVI,  3,  5).  Aber  ein 
unvorhergesehenes  Ereigniss,  die  am  19.  December  1457  erfolgte  Ge- 
burt Marias,  Tochter  Charles  d'Orleans  und  der  Marie  de  Cleves,  kam 
ihm  zu  Hülfe.  Villon  suchte  aus  diesem  günstigen  Umstände  Vortheil 
zu  ziehen  und  richtete  an  das  Kind  eine  Ballade,  in  welcher  er  das- 
selbe „fönt  de  petie,    source   de  grace"  nennt  und  versichert,  sie  sei 


Francjois  Villoii.  247 

„ou  hault  ciel  creee  et  pourtraicte  pour  esjouyr  et  donner  paix."  Die- 
ses Gedicht  erwirkte  ihm  in  der  That  die  Begnadigung  des  ParUx- 
ments,  und  in  der  „double  balhide,"  die  er  kurze  Zeit  darauf  an  die- 
selbe Prinzessin  richtete,  gesteht  er,  dass  er  sein  Leben  nur  ihr  ver- 
danke und  verspricht,  sie  von  nun  an  als  seine  einzige  Beschützerin 
zu  verehren.  In  einem  andern  Gedichte  „La  Eequeste  de  Villon, 
adressee  ä  la  Cour  de  Parlement"  spricht  er  jenem  Gerichtshofe  seine 
Dankbarkeit  aus  und  bittet,  ihm  einen  Aufschub  von  drei  Tagen  zu 
gewähren,  damit  er  seine  Angelegenheiten  ordnen  und  den  Seinigen 
Lebewohl  sagen  könne  —  eine  Bitte,  welche  beweist,  dass  man  ihn 
nur  unter  der  Bedingung,  Paris  sofort  zu  verlassen,  begnadigt  hat. 

Er  verliess  also  Paris ,  aber  wir  weissen  nicht ,  wohin  er  seine 
Schritte  w^andte ;  eine  Reihe  von  Orten ,  die  er  in  dem  G.  T.  nennt, 
lässt  aber  annehmen,  dass  er  sie  auf  seiner  vagabondirenden  Reise  be- 
rührt habe.  Sein  Elend  scheint  entsetzlich  gewesen  zu  sein :  er  war 
immer:  „sans  croix  ne  pile"  und  „n'eust  ete  Dieu,  qu'il  craiguait,"  so 
hätte  er  „faict  un  horrible  faict,"  d,  h.  er  hätte  in  dem  Tode  ein  Mit- 
tel gegen  seine  Leiden  gesucht.  Aber  diese  religiösen  Scrupel,  die 
wohl  stark  genug  waren,  um  ihn  von  einem  Selbstmord  abzuhalten, 
genügten  nicht,  um  ihn  zu  hindern ,  in  seine  alten  Verirrungen  zu-' 
rückzufalleu.  Im  Sommer  1461  finden  wir  ihn  wieder  im  Gefäng- 
nisse und  zwar  in  Meun  sur  Loire  (G.  T.  11,  3),  ohne  indessen  die 
Ursache  zu  kennen,  da  er  selbst,  obgleich  sonst  in  dem  Geständniss 
seiner  Fehler  sehr  freimüthig,  sich  diesmal  damit  begnügt,  seine  Ein- 
kerkerung sehr  unbestimmt  seiner  „folle  plaisance"  zuzuschreiben, 
übrigens  aber  über  die  Sache  ein  tiefes  Schweigen  bew^ahrt.  Auf  jeden 
Fall  muss  das  Verbrechen,  das  man  ihm  zur  Last  legte,  nicht  leicht 
zu  beweisen  gewesen  sein,  denn  obgleich  er  den  ganzen  Sommer  über 
(G.  T.  2,  6)  eingesperrt  blieb,  so  hören  wir  doch  nichts  von  einer 
zweiten  Verurtheilung.  Nichts  destoweniger  kostete  ihn  die  Behand- 
lung, die  er  von  Seiten  des  Jacques  Thibault  D'Assigny,  Bischofs  von 
Orleans,  unter  dessen  Gerichtsbarkeit  er  sich  befand,  erfnhr,  beinahe 
das  Leben  (G.  T,  11,  4;  XVIII,  1,  1):  er  schmachtete  in  einer  un- 
terirdischen Grube,  in  die  man  ihn  vermittelst  eines  Korbes  hinabge- 
lassen hatte ,  war  rings  von  dicken  Mauern  umgeben ,  welche  die 
Sonne  und  die  frische  Luft  hinderten,  in  seinen  schrecklichen  Kerker 
einzudringen  ,  seine  ganze  Nahrung  bestand  aus  geringen  Quantitäten 
von  Wasser  und  Brod,  die  man  ihm  auch  nur  in  langen  Zwischenräumen 


248  Fran9ois  Villon. 

reichte.  Fügt  man  noch  hinzu ,  dass  er ,  wie  ein  Hund  gefesseh,  auf 
dem  nackten  Boden  schlafen  musste  und  dass  er  zum  Ueberfluss  noch 
zu  Zeiten  gefoltert  wurde,  so  hat  man  ein  ziemlich  treues  Bild  von 
der  jammervollen  Lage  des  armen  Fran^ois  (Gr.  T.  1 — 4 ;  XX ; 
XXVIII;  XXXII;  G.  T.  11;    63). 

In  dieser  schrecklichen  Noth  schrieb  er  an  seine  Freunde  einen 
Brief  in  Form  einer  Ballade,  in  dem  er  sie  gar  rührend  beschwört,  ihn 
doch  nicht  ganz  und  gar  zu  verlassen.  Indessen  verdankte  er  seine 
Befreiung  wieder  einem  unerwarteten  Ereignisse,  nämlich  einem  Thron- 
wechsel. Ludwig  XL,  welcher  auf  Karl  VII.  am  22.  Juli  1461 
folgte,  kam  durch  die  Stadt  Meun  snr  Loire,  und  da  nach  einem  alten 
Herkommen  den  Gefangenen  aller  Stcädte,  welche  ein  neuer  König 
nach  seiner  Salbung  passirte,  ihre  Strafe  erlassen  wurde,  so  erhielt 
Villon  durch  das  blosse  Factum  der  Anwesenheit  Ludwig's  XL  seine 
Freiheit  wieder. 

So  war  er  denn  noch  einmal  den  drohenden  Klauen  des  Todes 
entgangen!  Aber  in  welchem  Zustande  befand  er  sich!  Die  Aus- 
schweifungen seiner  Jugend ,  die  fortwährenden  Entbehrungen ,  die 
Qualen  einer  hoffnungslosen  Liebe,  die  Leiden  eines  fünfjährigen 
Exils,  endlich  die  Martern  des  schrecklichen  Gefängnisses,  hatten  ihn 
vor  der  Zeit  altern  lassen  und  an  den  Rand  des  Grabes  gebracht  (G.  T. 
22,  3  etc. ;  ib.  23  ;  ib.  45).  Aber  obwohl  er  auf  dieser  Welt  nichts 
mehr  zu  hoffen  hatte,  so  erklärt  'er  dieselbe  doch  nicht  verlassen  zu 
wollen,  ohne  ilir  unter  der  Form  eines  Testaments,  da  die  Legate  mehr 
nebensächlich  sind,  seine  Klagen,  seine  Reue  über  sein  verlorenes  Le- 
ben zu  hinterlassen,  wahre  Confessionen,  die  an  seinem  traurigen  Bei- 
spiele der  Nachwelt  zeigen  sollen,  wohin  eine  solche  Existenz ,  wie  die 
seine,  führt.  Dieses  Gedicht,  welches  er  bei  seiner  Befreiung  aus  dem 
Gefängnisse  verfasst  oder  wenigstens  begonnen  hat  (G.  T.  1,  1)  und 
dem  er  den  Namen  „Testament"  'gab  (G.  T.  10,  6;  160,  5;  XXI, 
1,  1),  empfing  später  und  zwar  zum  ersten  Male  in  der  Ausgabe  von 
1489  den  Namen  „Grand  Testament." 

Aber  was  ist  aus  unserm  Dichter  nach  seiner  Freilassung  gewor- 
den ?  Es  ist  schwer  darauf  zu  antworten ,  da  wir  keine  Schriften  Vil- 
lon's,  die  jünger  als  das  grosse  Testament  wären,  besitzen.  Campaiix 
aber  hat  versucht,  aus  dem  G.  T.  selbst  noch  einige  Notizen  über  ihn 
zu  ziehen,  indem  er  dies  nämlich  in  drei  Theile  theilt  (huit  1 — 79; 
80 — 145;    146 — zu    Ende),    die    nach    ihm    in    drei    verschiedenen 


Fran9ois  Villon.  249 

Stimmungen,  zu    verschiedenen   Zeiten  und    an  verschiedenen    Orten 
verfasst  seien.     Indem  er  sich  nun  auf  eine  Stelle  des   zweiten  Thei- 
les  stützt, 
j  Item  j'ay  sceu,  a  ce  voyage, 

Que  mes  trois  povres  orphelins, 

Sout  creus  et  deviennent  en  aage, 

behauptet  er,  dass  der  Dichter  von  Meun  aus  zuerst  nach  Paris  zurück- 
gekehrt sei  und  dort  den  ersten  Theil  des  G.  T.  verfasst  habe,  der 
noch  die  Bitterkeit  und  die  tiefe  Entmuthigung  seiner  Seele  athme. 
Aber  Paris,  lährt  Campaux  fort,  gefiel  ihm  nicht  mehr:  die  Mehrzahl 
seiner  alten  Genossen  war  todt  oder  zerstreut ,  die  Wenigen,  die  von 
den  jungern  noch  vorhanden  waren,  empfingen  ihn  vielleicht  mit  Gleich- 
gültigkeit und  selbst  mit  Kälte,  das  Alter  ohne  Reichthum  ist  nie  will- 
kommen;  der  Dichter  beschwert  sich  darüber  G.  T.  45,  1 — 7 

Car  s'en  jeunesse  il  fut  plaisant 
Ores  plus  rien  ne  dit  qui  plaise 
Toiijours  vieil  synge  est  desplaisant, 
Moue  ne  faict,  qui  nc  desplaise 
S'il  se  taist  affin  qu'il  complaise, 
II  est  tenu  pour  fol  recreu 
S'il  parle,  on  lui  dist  qu'il  se  taise 

und  G.  T.  23,  5,  6 : 

Des  miens  le  moindre,  je  dy  voir 
De  me  desadvouer  s'avance. 

Dieser  Empfang  bestimmte  ihn  ohne  Zweifel  auf  den  Aufenthalt 
in  Paris  zu  verzichten  und  den  in  einer  Provinzialstadt  zu  wählen. 
Dies  war  anscheinend  Saint-Julien  de  Voventes,  denn  Villon  sagt 
uns  G.  T.  93,  94,  dass  wenn  er  „ung  peu  Poictevin"  spräche,  er  es 
von  zwei  Damen  jener  Stadt  gelernt  hätte.  Und  Avirklich  liegt  die- 
selbe in  Poitou.  Dort  soll  er  auch  den  zweiten  Theil  des  G.  T.  ver- 
fasst haben.  Jedenfalls  war  er  otFenbar  nicht  in  Paris,  als  er  die  oben 
schon  angeführte  Stelle  G.  T.  117,  1,  3  schrieb,  denn  die  drei  armen 
Waisen  waren,  wie  aus  andern  Stellen  hervoi'geht,  in  Paris. 

Eine  Notiz  des  Rabelais  Pant.  IV,  60,  nach  welcher  Villon,  aus 
Frankreich  vertrieben,  ein  ehrenvolles  Asyl  bei  Eduard  V.  von  Eng- 
land gefimden  hätte,  ist,  wie  Prompsault  und  Nagel  zeigen,  allem  An- 
scheine nach  falsch ,  weil  sie  nicht  mit  der  Geschichte  stimmt.  Sie 
erscheint  um  so  zweifelhafter,  als  sich  sonst  nirgends  eine  Andeutung 
davon  findet.  Was  eine  andre  Nachricht  desselben  Schriftstellers 
(Pant.  IV,   13)  betrifft,    dass  nämlich  unser  Dichter  auf  seine  alten 


250  FrarKjois  Villon. 

Tage  sich  nach  Saint-Maixent  in  Poitou  „soubz  la  faveur  d'un  homme 
de  bien,  abbe  dudict  lieu"  zurückgezogen  und  sich  damit  beschäftigt 
habe,  die  Passion  in  jenem  Dialecte  vorstellen  zu  lassen,  so  haben  wir 
keine  Veranlassung,  sie  zu  bestreiten. 

Indessen  ist  es  anzunehmen,  dass  er  daselbst  nicht  bis  zu  seinem 
Tode  geblieben,  sondern  dass  er  gegen  das  Ende  seiner  Tage  wieder 
in  die  Stadt,  in  der  er  seine  Jugend  verlebt,  zurückgekehrt  sei  und 
dort  den  letzten  Theil  seines  Testaments  verfasst  habe.  „Tant  va-il 
qu'apres  il  revient"  sagt  er  in  den  „proverbes"  4,  2.  und  in  der  That 
würden  die  Details  seiner  Bestimmungen  in  Bezug  auf  sein  Begräb- 
niss  keine  witzige  Pointe,  ja  nicht  einmal  einen  Sinn  haben ,  wenn  sie 
Fremden  aufgetragen  worden  wären  und  der  Dichter  nicht  in  Paris 
selbst  gewesen  wäre.  Wir  haben  ausserdem  in  dieser  Beziehung  das 
Zeugniss  eines  Zeitgenossen  von  Villon,  des  Eloy  Damerval,  welcher 
in  seiner  „Deablerie"  sagt : 

Maistre  Franc^oys  Villon  jadis 
Fit  a  Paris  son  testament, 

was  er  doch  nicht  hätte  sagen  können,  wenn  nicht  wenigstens  ein 
grosser  Theil  (der  Anfang  und  das  Ende)  des  G.  T.  in  Paris  nieder- 
geschrieben wären. 

Mag  dieser  Schluss  nun  richtig  sein  oder  nicht,  so  glauben  wir 
jedenfalls  beweisen  zu  können,  dass  Villon  den  letzten  Theil  viel  spä- 
ter verfasst  hat,  als  das  Uebrige  oder  mindestens  als  den  ersten  Theil. 
Er  bestimmt  nämlich  G.  T.  160,  2  Jean  de  Calais  zu  seinem  Testa- 
mentvollstrecker, indem  er  hinzufügt: 

„II  ne  me  veit,  des  ans  a  trente 

Et  ne  S9ait,  comment  je  me  nomme." 

Nun  aber  war  Villon  nach  seinen  eignen  Worten,  als  er  das  erste 
Huitain  des  G.  T.  schrieb,  erst  30  Jahre  alt,  so  dass,  wenn  nicht  eine 
längere  Zeit  zwischen  der  Entstehung  des  ersten  und  dritten  Theils 
des  Werkes  läge,  jener  Mann  ihn  gar  nicht  gekannt  hätte.  Aber  es 
ist  wenig  wahrscheinlich,  dass  der  Dichter  statt  „gar  nicht"  oder  „nie" 
gesagt  hätte  :  „vor  30  Jahren,"  und  selbst  wenn  dies  der  Fall  wäre, 
so  würde  man  dann  die  Worte  „Et  ne  S9ait  comment  je  me  nomme" 
nicht  begreifen  können,  die  offenbar  voraussetzen  lassen,  dass  Jean  de 
Calais  ihn  gekannt  hat,  aber  vielleicht  unter  einem  andern  Namen 
(siehe  oben  p.  242). 


Franpois  Villon.  251 

Ueber  sein  Todesjahr  sucht  Nagel  einen  annäliernden  Punkt  fest- 
zustellen: in  der  Ausgabe  von  1532  erschienen  zwei  dramatische 
Stücke  „LeMonologue  du  Franc  Archier  de  Raignollet"  und  ,.Le  Dya- 
logue  des  Seignenrs  de  Älallepaye  et  de  Raillevent"  zum  ersten  Male 
zusammen  mit  den  Werken  Villon's ,  was  doch  nicht  geschehen  sein 
würde,  wenn  die  Tradition  sie  nicht  aus  der  Zeit  Villon's  datirt  hätte. 
Nun  finden  sieh  in  diesen  Stücken  An8[)ielungen  auf  historische  Ereig- 
nisse aus  den  Jahren  1477  und  1480,  was  beweist,  dass  nach  der  Tra- 
dition der  Dichter  zu  jener  Zeit  noch  lebte.  Andrerseits  lebte  er  nicht 
mehr  1489,  wo  die  erste  Ausgabe  seiner  Werke  erschien,  die  Jean  de 
Calais  gesammelt  hat.  Wir  können  seinen  Tod  also  zwischen  die 
Jahre   1480  und  1490  sotzeji. 

Gehen  wir  nun  zu  den  Werken  des  Dichters  über:  ausser  den 
beiden  Testamenten  kennen  wir  etwa  40  kleinere  Stücke.  Diese  sind 
zum  grossen  Theil  (I — XXI)  in  das  grosse  Testament  eingeschaltet; 
unter  den  übrigen  beziehen  sich  9  (XXril  — XXVIII,  XXXII, 
XXXVIII,  XXXIX),  die  schon  in  der  Biographie  erwähnt  sind ,  auf 
die  Processe  Villon's;  ein  andres  (XXXIII),  in  welchem  der  Dichter 
in  tretienden  Antithesen  die  Wechselfälle  und  Contraste  seines  vielbe- 
wegten Lebens  schildert,  soll  nach  Campaux  für  ein  von  Charles  d'Or- 
leans  veranstaltetes  Dicliterturnier  verfasst  sein.  Ausserdem  besitzen 
wir  noch  drei  Balladen,  die  sich  auch  auf  den  Dichter  selbst  beziehen : 
,,La  requeste,  que  Villon  bailla  ä  Monseigneur  de  Bourbon"  (XXIX), 
in  dem  er  jenen  Prinzen  um  ein  Darlehn  bittet,  „le  Probleme"  (XXXVI), 
in  welchem  er  sich  durch  das  Glück  interpelliren  lässt  und  „Les  menus 
propos"  (XXXI),  wo  er  gesteht,  dass  trotz  aller  Erfahrungen,  die 
sein  Wander-Leben  ihm  verschafft,  es  ihm  noch  nicht  gelungen  sei, 
sich  selbst  zu  erkennen. 

Es  giebt  nur  eine  kleine  Zahl  von  Gedichten,  die  nicht  einen  den 
Verfasser  direct  betreffenden  Gegenstand  behandeln,  nämlich  XXXIV 
spricht  von  dem  elenden  Loose  der  housseurs  (nach  Campaux  Name 
für  Schüler,  deren  Bekleidung  für  Kopf  und  Schulter  man  ,,housse" 
nannte),  XXX  enthält  eine  Zusammenstellung  von  28  Sprichwörtern, 
die  alle  mit  ,,tant"  beginnen;  XXXV  bestimmt  die  grausamsten  Stra- 
fen für  den  „qui  mal  vould  voit  au  royaume  de  France,"  und  ein  letz- 
tes Gedicht,  das  sich  vollständig  zum  ersten  Male  bei  Campaux  findet, 
schleudert  mit  einem  äusserst  komischen  Pathos  die  schrecklichsten 
Verwünschungen  gegen  die  „taverniers,  qui  falsifient  le  vin."' 


252  FraD9ois  Villon. 

Der  Eindruck,  den  die  Schriften  Villon's  auf  uns  machen,  ist 
ein  eigenthümlicher:  wir  sehen  ihn  abwechselnd  sich  im  Schmutze 
wälzen  (G.  T.  101  ;  106,  7,  8;  137,  7—8,  XV)  und  zu  den  edel- 
sten und  reinsten  Gesinnungen  und  Gefühlen  sich  erheben  (G.  T.  7, 
1  —  7;  ib.  13,  7,  8;  14;  29—30;  I;  II;  III;  VII;  149  —  150  etc.), 
bald  durch  seinen  heitern  Scherz  entzücken  (G.  T.  16 — 20;  51  —  54; 
93,  1 — 6;  115;  X  etc.),  bald  mit  seinem  beissenden  Spott  scharfe 
Hiebe  austheilen  (G.  T.  34;  45;  80;  107—109  etc.);  immer  voller 
Geist  und  Humor,  erzählt  er  uns  alles,  was  er  selbst  fühlt  und  empfin- 
det und  was  er  an  Andern  beobachtet,  wir  erkennen  deutlich  seine  Tu- 
genden und  guten  Eigenschaften ,  seine  Dankbarkeit  gegen  alle  die, 
welche  ihm  Gutes  thun  (G.  T.  8  u.  9;  11,  5—8;  77;  78;  90; 
XXVII;  XXXVIII;  XXXIX  etc.),  seine  zärtliche  Liebe  zu  seiner 
Mutter  (G.  T.  79  u.  VII),  sein  für  die  Leiden  Andrer  wohl  empfäng- 
liches Herz  (P.  T.  25  ;"27  ;  G.  T.  117;  121  etc.),  endlich  seine  unei- 
gennützige  Vaterlandsliebe  (I,  3,  5  u.  6  ;  XXXV);  wir  fühlen  mit 
ihm  die  Leiden,  welche  seine  verrathene  Liebe  (P.  T.  2,  8 ;  3,  5  und 
6;  5,  2;  6,  6—8;  G.  T.  56  —  59;  VIII;  XXI,  6  etc.),  sein  Un- 
glück  (G.  T.  1-4;  62  u.  63;  XVIII,  1,2;  XXXII)  und  seine 
Gewissensbisse  (G.  T.  14,  1;  22,  1;  26,  1—4  etc.)  ihm  verursa- 
chen ;  aber  zu  gleicher  Zeit  enthüllt  er  uns  mit  einer  Freimüthigkeit, 
die  uns  wohlthut,  uns  überrascht,  ja  manchmal  entsetzt,  alle  seine 
Fehler,  seine  Übeln  Neigungen,  seine  Charakterschwäche,  seinen  Leicht- 
sinn (G.  T.  25,  2;  27,  1—4;  XXVIII  etc.),  erzählt  uns  treuherzig 
alle  seine  schlechten  Streiche:  sein  Versäumen  der  Schule,  seine  Aus- 
schweifungen ,  seine  Prellereien  und  selbst  seine  Verbrechen  (G.  T. 
22,  2—3;  25,  1;  26,  5;  XXV,  1,  6  etc.),  kurz  er  zieht  es  vor, 
aufrichtig  zu  sein,  als  ehi'enhaft  zu  scheinen.  Aber  dieser  Freimuth, 
den  er  in  Bezug  auf  sich  zeigt ,  giebt  ihm  seiner  Meinung  nach  auch 
das  Recht,  diesen  ebenso  Andern  gegenüber  anzuwenden.  In  der  That 
war  Niemand  von  den  Personen,  mit  denen  er  in  Berührung  kam,  vor 
seinen  Angriffen  sicher:  seine  Freunde  und  seine  Feinde,  Priester, 
Mönche,  Nonnen  (G.  T.  106—109;  113;  115),  die  Polizei  und  die 
Gerichtsleute  (G.  T.  97;  112;  128  etc.),  die  Schüler  (G.  T.  119,  8) 
und  die  Schriftsteller  (XIII),  die  Gastwirthe  (cf.  Campaux  p.  64 — 65) 
und  sogar  die  Bedienten  und  Kammermädchen.  —  Alle  sehen  sich 
den  Angriffen  seiner  Kritik  und  seines  Spottes  ausgesetzt.  Seine 
Satire  schreckt   vor   Nichts   zurück:    er    kann    es   nicht    unterlassen. 


Fran9ois  Villon.  253 

Ludwig  XI.  einen  ziemlich  deutlielien  Vorwurf  zuzuschleuderu ,  indem 
er  G.  T.  21,  1- — 4  bedauert,  dass  Gott  ihn  nicht  „ung  autre  piteux 
Alexandre"  habe  finden  lassen,  nachdem  er  einen  Zug  edler  Grossmuth 
erzählt,  den  dieser  Fürst  gegen  einen  armen  Teufel  gezeigt,  der 
sich  ungefähr  in  derselben  Lage,  wie  Villon,  befunden  hatte;  er  er- 
laubt es  sich  sogar,  über  die  Religion  zu  scherzen  (G.  T.  71).  Aber 
seine  Gedichte  athnien  überall  die  Wahrheit  und  grade  diese  Wahrheit 
lässt  uns  mit  dem  Dichter  sympathisiren ,  selbst  wenn  unsere  morali- 
schen Begriffe  manchmal  etwas  verletzt  werden.*  Aus  dieser  Wahr- 
haftigkeit in  allem,  was  er  sagt,  sowie  aus  den  mannichfachen  Bezie- 
hungen zwischen  seinen  Poesien  und  der  Wirklichkeit,  namentlich  der 
des  französischen  und  speciell  des  Pariser  Lebens,  folgt,  dass  wir  in 
Villon's  Werken  ein  genaues  Bild  seiner  Zeit,  wenigstens  in  Bezug  auf 
die  Kreise,  in  denen  sich  der  Dichter  bewegt  hat,  erblicken  dürfen,  ein 
Bild,  das  allerdings  mit  groben  Zügen  hingeworfen,  darum  aber  doch 
nicht  weniger  ti'eu  und  klar  ist.  Für  uns  verlieren  allerdings  die  Be- 
merkungen Villon's  vielfach  ihre  Pointe,  weil  wir  die  Personen  und 
Localitäten,  auf  welche  angespielt  wird,  nicht  kennen.  Marot  beklagt 
übrigens  schon  diesen  Uebelstand,  indem  er  in  seiner  „epitre  aux 
lecteurs"  sagt:  „Quant  ä  l'industrie  des  lays,  qu'il  fait  en  ses  Testa- 
ments, pour  suffisamment  la  cognoistre  et  enteudre,  il  fauldroit  avoir 
este  de  son  temps  ä  Paris  et  avoir  cogneu  les  lieux  et  les  hommes, 
dont  il  parle." 

Ein  andres  grosses  Verdienst  Villon's  ist  es,  zuerst  verstanden  zu 
haben,  wie  Boileau  (art  poetique  I  v.  117  u.  118)  sagt:  „debrouiller 
l'art  confus  de  nos  vieux  romanciers ;  **  er  war  es,  der  damit  angefan- 
gen, die  Poesie  von  den  abgenutzten  Stoffen  des  Mittelalters,  den  wun- 
dersamen Abenteuern  der  chansons  de  geste  und  der  Ritterromane,  den 
metaphysischen  Abstractionen  einer  confusen  Gelehrsamkeit,  endlich  den 
faden  Allegorien  befreit  hat,    welche  seit  dem  Roman  de  la  Rose  alle 

*  Der  biedere  Guillaume  Colletet  (s.  Ausgabe  von  Jacob  XX)  ist  aller- 
dings weniger  nachsichtig  in  seinem  Urtheil,  denn  er  sagt  „ce  que  je  trouve 
de  pis  en  luy,  c'est  qu'au  liea  que  les  autres  ont  aecoustume  de  cacher 
leurs  crimes,  celuy-cy  en  fit  trophee  de  son  temps  ;  et  non  content  d'en  entre- 
tenir  le  monde  de  vive  voix,  il  prit  encore  le  soin  de  les  publier  par  ^erit." 

**  Trotz  der  Richtigkeit  dieses  Urtheils  ist  es  sehr  wahrscheinlich,  dass 
Boileau  die  Werke  Villon's  nie  gelesen  hat;  es  ist  vielmehr  anzunehmen,* 
dass  er  sich  dabei,  wie  in  vielen  Fällen,  auf  seinen  Vorgänger  Vauquehn  de 
la  Fresnaye  stützt,  der  viel  von  dem  „sc^avoir  de  raaistre  Jean  (!)  Villon" 
spricht,  oder  aber  dass  er  damit  La  Fontaine's  Urtheil  wiedergiebt,  welcher 
unsern  Dichter  auswendig  kannte. 


254  Fran^ois  Villon. 

französischen  Dichtungen  anfüllten.  Aber  nicht  damit  zufrieden,  sich 
von  diesen  Stoffen  los  zu  machen,  versteht  er  es  vortrefflich,  sie  zu  par- 
odiren  und  dadurch  lächerlich  zu  machen;  in  dem  Petit  Testament 
z.  B.  schildert  er  uns  eine  Träumerei,  in  die  er  verfallen,  durch  einige 
Hnitains  (26  —  28),  welche  eine  vortreffliche  Travestie  des  allegorischen 
Genre's,  so  wie  der  scholastisch  -  sophistischen  Sprache  seiner  Zeit 
bilden. 

Er  bekämpft  auch  andre  Verirrungen  der  Literatur :  in  dem  grossen 
Testament  vermacht  er  dem  „maistre  Andry  Courault"  (G.  T.  132,  1) 
eine  Ballade,  betitelt  „Les  Contredicts  de  Franc-Gontier,"  die  offenbar 
eine  witzige  Satire  gegen  die  damals  noch  immer  beliebte  sentimentale 
Schäfer-Poesie  ist.  Im  Gegensatz  nämlich  zu  Franc-Gontier  und  He- 
lene, den  bekanntesten  Helden  dieser  Idyllen,  die  ihr  Glück  in  dem 
Leben,  der  Arbeit,  den  Vergnügungen  eines  schwärmerischen  Bauern 
oder  Schäfers  finden,  besingt  Villon  die  Reize  und  Vorzüge  eines  raffi- 
nirten  Lebensgenusses. 

In  der  That,  obwohl  die  Form  der  Gedichte  Villon's  vollkommen 
die  seiner  Vorgänger  ist,  denen  er  vielleicht  manchmal  in  der  Glätte 
der  Versification  nachsteht ,  hat  er  dieses  selbe  Aeussere  mit  einem 
durchaus  andern  Inhalt  zu  fiillea  gewusst.  Dai'in  besteht  eben  sein 
reformatorisches  Verdienst  und  Herr  Champollion-Figeac  scheint  den 
von  ihm  herausgegebenen  Dichter  zu  sehr  auf  Kosten  des  unsrigen,  den 
er  vielleicht  nicht  gründlich  kannte,  zu  begünstigen,  wenn  er  in  der 
„Notice  historique  sur  Charles  d'Orleans"  p.  18  (s.  Ausgabe  dieses 
Dichters  Paris  1842)  sagt:  „Villon  est  bien  au  dessous  du  merite,  que 
lui  accorde  Boileau,  d'avoir  su  le  premier  etc.  .  .  ,  merite  qui  appar- 
tient  entierement  ä  Charles  d'Orleans."  Denn  gerade  im  Gegensatz 
zu  den  zarten  Allegorien  und  den  schmerzlichen  Klagen  einer  erheu- 
chelten Liebe,  womit  die  Dichtungen  dieses  Letzteren  angefüllt  sind, 
singt  Villon  als  echter  Lyriker  nur  was  er  selbst  empfindet,  seine  Lei- 
den, seine  Schmerzen,  seine  Schwächen,  seine  Hoffnungen,  d.  h.  mehr 
oder  weniger  die  des  ganzen  Menschengeschlechts,  daher  wird  man 
seine  Dichtungen  immer  und  immer  wieder  lesen  trotz  der  Rohheiten, 
die  sie  an  einigen  Stellen  enthalten.  In  Anbetracht  also,  dass  Villon 
^zwar  kein  Genie  voller  Gedanken  von  universellem  Werthe,  wohl  aber 
ein  Mann  von  ungewöhnlicher  Begabung  ist,  werden  wir  ihm  gern 
mit  Marot  den  Namen  des  besten  Pariser  Dichters  zugestehen  (natürlich 
bis   auf  Marot's  Zeit)   und    werden   mit  jenem   selben   Dichter    sagen: 


Fran^ois  Villon.  255 

,,Peu  de  Villons  en  bon  s^avoir,"  obgleich  wir  auch  die  andre  Hälfte 
seines  Ausspruches:  „Trop  de  Villons  pour  decevoir"  nicht  bestreiten 
können. 

Der  Stil  Villon's  ist  fast  durchgängig  klar  und  deutlich,  sein  Aus- 
druck oft  anmuthig  und  zart,  manchmal  allerdings  auch  sehr  derb  und 
selbst  obscön.  Man  erkennt  überall  den  kräftigen,  frischen  Geist  eines 
Mannes ,  der  mit  lebhafter  Phantasie ,  mit  grossem  satirischen  Talent, 
mit  hoher  poetischer  Begeisterung  begabt  ist,  aber  man  vermisst  fast 
überall  die  Spuren  der  Renaissance,  man  vermisst  jene  Cultur  und 
feine  Bildung,  die  man  nur  im  Umgang  mit  den  höheren  Classen  er- 
wirbt, die  jedenfalls  das  Ungestüm  seiner  naturwüchsigen  Muse  gemäs- 
sigt und  ihr  das  Gepräge  der  Humanität  aufgedrückt  haben  würde. 
Diesen  Uebelstand  hat  schon  Marot  mit  grossem  Scharfsinn  erkannt 
und  hervorgehoben  (s.  Vorrede  zu  der  Ausgabe  Villon's)  ,,sans  doubte 
Villon  eust  empörte  le  chapeau  du  laurier  devant  tous  les  poetes  de 
son  temps,  s'il  eust  ete  nourry  en  la  Court  des  Roys  et  des  Princes, 
lä  oü  les  jugemens  s'amendent  et  les  langaiges  se  polissent."  Dieses 
Urtheil  scheint  uns  gerechter  und  angemessener,  als  das  des  Herrn 
Champollion-Figeac  (s.  das  oben  zitirte  Werk  p.  11),  „les  ouvrages 
et  le  style  de  Villon  nous  portent  ä  croire,  que  la  chastete  des  expres- 
sions",  la  nettete  des  pensees ,  le  bon  esprit  et  le  bon  goüt  etaient  en- 
core  en  ce  temps-Iä  un  des  privileges  des  grands  seigneurs." 

Was  der  Sprache  Villon's  grosse  Lebendigkeit  verleiht,  das  sind 
die  Wortspiele,  die  Sprichwörter  und  die  Citate,  die  er  mit  vielem  Ge- 
schick überall  in  seine  Gedichte  einflicht.  In  Bezug  auf  die  ersteron, 
die  fast  immer  eine  obscöne  Anspielung  enthalten,  begnügen  wir  uns, 
die  Stellen  zu  zitiren:  P.  T.  4,  7  u.  8 ;  G.  T.  89,  4;  ib.  100,  2; 
ib.  138,  5;  XXIX,  3,  7—9;  XXXIII,  1,  4. 

Was  die  Sprichwörter  betrifft,  so  finden  wir  ausser  der  Ballade 
XXX ,  welche  eine  ganze  Sammlung  derselben  enthält  und  ausser 
mehreren  sprichwörtlichen  Ausdrücken ,  die  über  das  ganze  Werk  zer- 
streut sind,  die  folgenden : 

,.en  grand  pauvrete 
(Ce  mot  <3it-on  communement) 
Ne  gist  pas  trop  grand  loyaulte  G.  T.  19,  6 — 8 
Car  ,,de  la  panse  vient  la  danse"  G.  T.  25,  8 
Laissons  le  monstier  oü  il  est  G.  T.  04,   1 
Toujours  „vieil  synge  est  desplaisant''  G.  T.  45,  3 
Car  „en  son  prunier  n'a  pas  creu"  G.  T.  45,  8 
Selon  le  clerc  est  deu  le  maistre  G.  T.  47,  8  ^ 


256  Fran9ois  Villon. 

Que  „six  ouvriers  fönt  plus  que  troys"  G.  T.  53,  6 
Qui  me  feit  „mascher  ces  groselles"  VI,  5,  4  (mich 

diese  Pille  schlucken  liess) 
Vendre  vessies  pour  lanternes  G.  T.  57,  8 
Pourmener  de  l'uys  au  pesle  G.  T.  59,  2 
Mettre  le  plumail  au  vent  G.  T.  61,  1 

on  dit  communement, 
Qu'  „un  chascun  n'est  maistre  du  sien"  G.  T.  65,  8 
„Toujours  n'ont  pas  cleres  le  dessus"  G.  T.  118,  8 
„Ferrer  oes  et  canettes"  G.  T,  137,  4 
„Ce  qui  fut  aux  truyes,"  jetiens, 

Qu'il  doit  de  droit  estrejaux  pourceaulx  G.  T.  156,  7,  8 
Cest  a  mau-chat  mau-rat  XV,  4,  3 
Jamals  mal  acquest  ne  proffite  XVI,  3,  8 
De  saige  mere  saige  enfant  XXXIX,  II,  2,  8. 

Wenn  man  endlich  Villon  nach  seinen  Citationen  beurtheilen 
will,  die  er  oft  mit  einer  gewissen  Ostentation  anbringt,  so  müssen 
seine  Kenntnisse  ziemlich  umfangreich  gewesen  sein,  und  man  begriffe 
dann  den  Respect,  den  Vauquelin  de  la  Fresnaye  vor  dem  „s^avoir  de 
maistre  de  Villon"  hat.  Er  kennt  z.  B.  viele  Stellen  der  Bibel ,  er 
weiss,  dass  Simson  sein  Augenlicht  durch  den  Verrath  der  Delila,  sei- 
ner Geliebten,  verlor  (VI,  1,  6),  ^  er  spricht  von  Noah,  der  den  Wein- 
stock pflanzte  (X,  1 ,  4),  ^  von  Loth ,  der  bei  seinen  Töchtern  schlief 
(X,  1,  3)3  und  von  dem  Felsen,  aus  dem  das  Wasser  hervorquoll, 
welches  die  Juden  in  der  Wüste  erquickte  (XXVII,  2,  3).  Seinem 
Könige  Louis  wünscht  er  das  Glück  des  Jacob,  die  Ehre  und  den 
Ruhm  des  Salomo,  endlich  das  Alter  Methusalems  (G.  T.  8,  1—8), 
denen  aber,  die  Frankreich  übel  wollen ,  das  Schicksal  des  (angeblich) 
von  Gott  hart  bestraften  Sardanapal  (XXXV,  3,  10).  Nicht  weniger 
vertraut  ist  er  mit  der  Geschichte  der  Familie  Davids:  er  wünscht  Kö- 
nig Louis,  wie  eben  erwähnt,  die  Ehre  Salomons  (G.  T.  8,  2)  und 
spielt  auf  den  jähen  Tod  Absalon's  an  (XXXV,  2,  8  u.  XXXVI, 
3,  11),*  aber  namentlich  scheint  er  in  der  „chronique  scandaleuse" 
dieses  Hauses  gut  bewandert  zu  sein :  er  erzählt  das  galante  Abenteuer 
König  David's  mit  Bethsabe,  der  Frau  des  Urias  (VI,  1,  6),^*  die  un- 
züchtige Liebe  Amnons  zu  seiner  Schwester  Thamar  (VI,  4,  1)  ^  und 
spricht  von  den  „folles  amours,'*  die  den  Salomo  zum  Götzendiener 
machten  (VI,  1,  6). 

Er  kennt  die  Heimsuchungen,  die  Hiob  zu  ertragen  hatte 
(XXXV,  1,  8)  und  wendet  G.  T.  28,  1 — 3  auf  seine  eigne  jammer- 


1  Richter  16,  21.     2  Genesis  9,  20.     ^  Genesis   19.      ^  II.  Buch  Samuelis 
18,  14.     s  II.  Samuelis  11,  2  sq.     '^  II.  Samuelis  13. 


Fran9ois  Villon.  257 

volle  Lage  die  Worte  dieses  schwer  geprüften  Dulders  an  (Buch 
Hiob  7,  6). 

Er  citirt  mehrere  Stellen  der  Psalmen,  z.  B.  Ps.  108,  7  (G.  T. 
6,  8);  Ps.  91,  5  „Delectasti  me,  Domine,  in  factura  tua"  (XXXVIII, 
6,  2  u.  3)  und  seine  Lieblingssentenz,  der  Wahlspruch  seines  Lebens 
(G.  T.  27,  1,  2)  war  ein  Wort  des  Ecclesiasten  Cap.  11,  v.  9  u.  10 
„Rejouis-toi  durant  le  temps  de  ta  jeunesse." 

Aus  den  Propheten  hat  er  gelerut ,  dass  Nebucadnezar  auf  sieben 
Jahre  in  ein  wildes  Thier  verwandelt  wurde  (XXXV ,  1 ,  4)  ^  und 
dass  der  Prophet  Jonas  drei  Tage  in  dem  Bauche  eines  Wallfisches 
zubrachte  (XXX,  3,  6).  ^ 

Auch  die  Apokryphen  hat  er,  wie  es  scheint ,  nicht  minder  gele- 
sen, denn  er  spricht  XXXVI,  3,  3  von  Arphaxad ,  dem  Könige  der 
Meder,  der  in  der  Schlacht  von  Holophernes  besiegt  und  getödtet 
wurde ;  ^  er  weiss,  dass  dieser  Letztere  seinerseits  durch  Judith  ermor- 
det wurde  (XXXVI,  3,  8),*  der  „würdigen  Judith,"  wie  er  sie 
XXXIX,  II,  3,  6  nennt  und  er  citirt  sogar  XXVIII,  4,  6  u.  7  eine 
Stelle  aus  der  „Weisheit  Salomonis"  7,  19  „Homme  sage  a  puissanoe 
sur  les  planetes  et  sur  leur  influence." 

Was  das  neue  Testament  betrifft,  so  scheint  er  sich  mit  diesem 
nicht  so  eingehend  beschäftigt  zu  haben,  als  mit  dem  alten  ;  wir  finden 
nur  Anspielungen  auf  die  Thätigkeit  Johannes  des  Täufers  (XXXIX, 
2,  1)  und  auf  dessen  Enthauptung  durch  Herodes  (VI,  4,  5),  ^  auf  die 
Hochzeit  zu  Cana  (X,  1,  ö),^  auf  das  Gleichniss  vom  Aussätzigen 
und  dem  Reichen  (G.  T.  72,  5),'^  auf  den  Tod  des  Verräthers  Judas 
(XXXV,  2,  9),  8  auf  die  Bekehrung  des  Andreas  (XXXIX,  2,  5) 
und  endlich  auf  die  Jünger  von  Emmaus  (G.  T.  13,  3).^  Aber 
Villon  scheint  sich  mit  der  Bibel  nicht  begnügt,  sondern  auch  mit  der 
Legende  sich  bekannt  gemacht  zu  haben.  So  begegnen  wir  der  Le- 
gende von  Maria,  der  Aegypterin  (VII,  2,  3),  von  dem  Mönche  Theo- 
philus  (VII,  2,  4),  von  der  Maria  Magdalena  (XXXV,  2,  5),  von 
dem  Magier  Simon  (XXXV ,  2 ,  10)  und  endlich  der  vom  heiligen 
Victor  (XXXV,  3,  4). 

Wir  finden  auch  ßeminiscenzen  aus  der  alten  Mythologie :  er  malt 
uns    die  „caveaux  Stygiens"   (contre  les   tavern.   1,  11),  die  er  auch 


1  Daniel  4,  30.  -  Jonas  2,  1.  ^.  Buch  Judith  Cap.  1.  ^  Buch  Ju- 
dith 13,  7—9.  5  St.  Marcus  6,  27.  ^  St.  Johannes  2.  ''  St.  Lucas  16, 
19—31.      8  St.  Mathäus  27,  3—5.      ^  St.  Lucas  24. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XL Vm.  17 


258  Fran(jois  Villon. 

„palluz  infernaux"  nennt  (XXXV,  1,  8)  und  die  von  dem  „chien 
Cerberus  ä  quatre  testes"  bewacht  werden  (VI,  2,  4),  dem  schreckli- 
chen Aufenthaltsorte  des  Tantaliis  (XXXV,  1,  7),  und  der  Proser- 
pina (XXXV,  1,  8),  in  welchen  Orpheus  „le  doux  menestrijer"  hinab- 
stieg ,.jouant  de  flustes  et  musettes"  (VI,  2,  1) ,  er  erzählt  uns  von 
der  „clarte"  des  Phoebus  (XXXV,  3,  7) ,  von  den  Gütern  der  Juno 
und  dem  „soulas"  der  Venus  (ib.  3,  8),  von  Aeolus,  von  dem  Gotte 
der  Winde  (XXXV,  4,  1),  von  dem  Walde  „oü  regne  Glaucus",  d.  h. 
von  dem  Meer  (ib.  4,  2) ,  von  Narcissus ,  welcher  sich  in  sein  Bild, 
das  er.  in  einem  Brunnen  sich  spiegeln  sab,  verliebte  und  sich  er- 
tränkte (XI,  2,  5  und  XXXV,  2,  7),  und  von  der  „schönen  Echo" 
(XXXIX ,  II ,  3 ,  5) ,  einer  in  den  schönen  Narcissus  verliebten 
Nymphe,  die  später  in  einen  Felsen  verwandelt  wurde  (I,  1,  5). 

Das  griechische  und  römische  Alterthum  liefert  nicht  weniger 
sein  Contingent :  der  Dichter  lässt  den  Jason  (XXXV  ,1,2  und 
XXXVI,  2,  10)  und  Daedalus  (XXXV,  1,  9),  den  Hector  und  Troi- 
lus  (G.  T.  129,  8),  den  Paris  und  die  Helena  (G.  T.  40,  1  ;    XXXV, 

I,  6),  die  „weise  Cassandra"  (XXXIX,  II,  3,5)  und  den  alten 
Priamus  (XXXVI,  2,  3),  die  Archipidia,  eine  athenische  Courtisane 
(I,  1,  3)  und  die  Thais,  eine  Geliebte  Alexanders  (I,  1,  3),  ja  Alex- 
ander den  Grossen  selbst  Revue  passiren  (XXXVI,  3,  1). 

Die  römische   Geschichte  liefert    ihm:    „noble   Dido"    (XXXIX, 

II,  3,  6)  ,,la  royne  de  Cartage"  (XVI,  2,  5),  „Scippion  l'Affirquain" 
(XXXVI,  2,  7)  und  dessen  grossen  Gegner  Hannibal  (XXXVI,  2,  5), 
Julius  Cäsar  (XXXVI,  2,  8)  und  seinen  Nebenbuhler  Pompejus,  der 
in  Aegypten  umkam  (ib.  2,  9)  ,  den  Kaiser  Octavian  (XXXV,  3,  1) 
und  endlich  die  Courtisane  Flora  (I,  1,  1)  neben  der  „caste  Lucresse" 
(XXXIX,  II,  3,  6). 

Seine  Kenntnisse  auf  dem  Gebiete  der  frühesten  Geschichte  seines 
Landes  scheinen,  nach  seinen  Schriften,  sich  auf  Chlodwig  (XXXVIII, 
3,  5)  und  Hugo  Capet  (XXVI,  2,  1)  zu  beschränken.  Weiter 
spricht  er  von  Abälard  und  Heloise  (I,  2 ,  1 — 3) ,  von  Blanche  von 
Castiiien,  Mutter  Ludwigs  des  Heiligen  (I,  3,  1),  von  Beafrice  von 
der  Provence  (I,  3,  2);  von  Alice  von  der  Champagne  (I,  3,  2),  von 
der  Erembourges,  Prinzessin  von  Maine  (I,  3,  4)  und  spielt  (I,  2,  5 
bis  7)  auf  eine  Tradition  an,  die  in  dem  Compendium  der  Annalen 
Frankreichs  von  Gaguin  ausführlicher  behandelt  wird,  dass  nämlich 
eine  französische  Königin  in  dem  „Tour  de   Nesle"  an  der  Seine  ihre 


Fran9ois  Villon.  259 

nächtlichen  Orgien  gefeiert,  dazu  Vorübergehende ,  namenth'ch  Studen- 
ten, herbeigelockt,  und,  nachdem  sie  ihre  Laune  befriedigt,  in  die  Seine 
habe  werfen  lassen,  einem  Schicksale,  dem  nur  Buridan,  späterer  Pro- 
fessor in  Paris  und  Schüler  des  Occam,  entgangen  sei.  Namentlich 
aber  zeigt  sich  der  Dichter  in  den  gleichzeitigen  Ereignissen,  nicht  nur 
seines,  sondern  auch  der  übrigen  Länder  bewandert:  er  citirt  „Jehanne 
la  bonne  Lorraine,  Qu'Anglois  bruslerent  ^i  Ronen"  (I,  3,  5),  Calixte 
III  t  1458  (II,  1),  Alphons  V,  König  von  Arragonien  f  1458  (ib.), 
Johann  I,  Herzog  von  Burgund  f  1453  (ib.),  Artus  III,  Herzog  von 
der  Bretagne  |  1458  (ib.),  Karl  VII,  König  von  Frankreich  ■\  1461 
(ib.),  Jacob  II,  König  von  Schottland  f  1460  (II,  2),  Johann  II, 
König  von  Kastilien  f  1454  (ib.)  und  endh'ch  Ladislaus  von  Böhmen 
t  1444  (ib.) 

Die  von  ihm  cltirten  Bücher  sind  ziemlich  zahlreich :  ausser  Ari- 
stoteles (P.  T,  36,  8),  zu  dem  er  selbst  den  Commentar  von  Averroes 
kennt  (G.  T.  12,  8)  und  Homer,  nennt  er  noch  Virgil ,  aus  dem  er 
sogar  den  7.  Vers  der  4.  Ekloge  „Nova  progenies  caelo  jamjam  de- 
mittitur  alto"  wörtlich  anführt  (XXXIX,  II,  3,  2 — 4),  Macrobius 
(G.  T.  135,  5),  Valerius,  genannt  „le  grand  k  Rome"  (G.  T.  20,  8) 
und  Vegecius  „saige  Romain,  grand  conseiller'"  (P.  T.  1,  6).  Endlich 
erwähnt  er  noch  eine  ars  memorativa  „Art  de  memoire"  (P.  T. 
15,  8)  und  die  Bulle  „Omnis  utriusque  sexus,"  welche  auf  dem  vierten 
Lateranconcil  i.  J.  1215  gegeben  worden  ist. 

Auch  mit  der  Literatur  der  langne  d'oil  scheint  er  wohl  vertraut 
gewesen  zu  sein ,  er  .scheint  die  Romane  von  Ogior  le  Danois  (G.  T. 
153,  8),  von  der  Rose  (G.  T.  15,  l;i  G.  T.  108,  1),  von  „Berthe 
au  grand  pied"  (I,  3,  3)  und  die  Werke  Alain  Chartier's  (G.  T. 
155,  2),  gelesen  zu  haben,  während  er  von  den  Kirchenschriftstellern 
anscheinend  nur  Jean  de  Pontlieu ,  den  Feind  der  Priester ,  kannte 
(G.  T.  108,  5). 

Gehen  wir  zu  der  Metrik  Fran^ois  Villon's  über.  Ausser  den 
beiden  grossen  Gedichten ,  dem  grossen  und  dem  kleinen  Testament, 
finden  wir  drei  verschiedene  Arten  von  Gedichten :  ballades,  rondeaux, 
dits.  Die  Balladen  bestehen  aus  drei  Strophen  (XXVIII  hat  vier,  die 
„double.s  ballades"  haben  sechs,  z.  B.  VI  u.  XXXIX) ,   welche  in  den 

1  Indessen  stammt  die  G.  T.  15,  1  angezogene  Stelle,  wie  Jacob  Biblio- 
phile (p.  47  Note  3)  bemerkt,  gar  nicht  aus  dem  „Roiaant  de  la  Rose," 
sondern  ist  vielmehr  der  Anfang  des  „Codicille  de  Jean  de  Meung.-' 

17* 


260  Fraucois  Villon, 

entsprechenden  Versen  durch  das  ganze  Gedicht  denselben  Reim  zei- 
gen, aus  einem  Envoi ,  welches  wie  die  entsprechenden  letzten  Verse 
der  übrigen  Strophen  reimen,  und  endlich  einem  Refrain,  welcher  immer 
als  letzter  Vers  in  jedem  Couplet  (auch  dem  Envoi)  wiederkehrt.  Es 
giebt  einige  Balladen  ohne  Envoi  (VI,  XXXIV),  aber  keine  ohne  Re- 
frain. Zu  bemerken  ist  die  Double-Ballade  XXXIX,  in  welcher,  mit 
Ausnahme  des  Refrains  und  des  darauf  reimenden  sechsten  Verses,  die 
Strophen  4 — 6  andre  Reime  zeigen,  als  1  —  3;  das  Envoi  richtet  sich 
nach  den  unmittelbar  vorhergehenden  Couplets. 

Die  Rondeaux  bestehen  aus  einer  Strophe  von  sechs  Versen  und 
einer  andern  von  vier  Versen,  deren  Reime  mit  den  vier  ersten  Versen 
der  ersten  Strophe  correspondiren.  Der  Name  „rondeaux"  stammt  da- 
her, dass  entweder  das  erste  Wort  des  Gedichts  jeder  Strophe  als  eine 
Art  Refrain  angefügt  wird  (z.  B.  X,  XVIII)  oder,  dass  der  erste  Vers 
der  ersten  Strophe  sich  als  fünfter  an  die  zweite  Strophe  anfügt 
(XIX.) 

Die  Dits  endlich  sind  Gedichte  mit  nicht  beschränkter  Strophen- 
zahl, ohne  Refrain ,  ohne  Envoi  und  die  auch  in  Bezug  auf  den  Reim 
nicht  so  strengen  Regeln  unterworfen  sind,  als  die  beiden  vorherge- 
henden Arten. 

An  Versen  braucht  Villon  sowohl  den  achtsilbigen ,  z.  B.  in  dem 
grossen  und  kleinen  Testament,  den  Dits,  Rondeaux  und  in  einem 
Theile  der  Balladen ,  als  auch  den  zehnsilbigen ,  wie  in  den  übrigen 
Balladen.  Die  Verse  gruppiren  sich  zu  vieren,  sechsen,  achten,  zehnen 
und  zwölfen ,  woraus  die  Quatrains ,  Sixains ,  Huitains,  Dizains  und 
Douzains  entstehen.  Hieraus  könnte  man  schliessen ,  dass  es  bei  Vil- 
lon 10  verschiedene  Strophenarten  gäbe,  nämlich  Douzains  von  Acht- 
silblern  und  Zehnsilblern  ,  ebenso  zwei  Arten  Dizains  etc.  Es  giebt 
deren  indessen  nur  sieben,  da  nur  die  Huitains  und  Dizains  beide  Vers- 
arten aufweisen  können,  während  die  Quatrains  und  Sixains  nur  acht- 
silbige,  die  Douzains  nur  zehnsilbige  Verse  zeigen. 

Die  Reihenfolge  der  Reime,  die  übrigens  beliebig  männlich  oder 
weiblich  sein  können,  ist  in  den  verschiedenen  Strophenarten,  d.  h.  den 
Quatrains,  Sixains  etc.  verschieden. 

Das  einzige  selbstständige  Quatrain ,  das  sich  im  Villon  findet 
(XXIH),  hat  nur  einen  Reim  auf  „oise,"  während  in  den  vierzeiligen 
Envois  und  in  den  zweiten  Strophen  der  Rondeaux  der  Reim  sich  nach 
dem  der  andern  Strophen  richtet  (s.  o.) 


Fran^ois  Villon.  261 

Die  Sixains,  die  nur  in  den  Rondeaux  vorkommen  (IX,  XVIII, 
XIX),  reimen  alle  abbaab. 

Das  Huitain,  das  aus  achtsilbigen  Versen  besteht,  wird  bei  Villon 
sehr  häufig  angewandt,  nämlich  in  den  beiden  Testamenten  und  in  den 
folgenden  Gedichten:  L  II,  III,  IV,  V,  VI,  XIV,  XVII,  XX,  XXI, 
XXIV,  XXX,  XXXI,  XXXIX,  wo  es  überall  ababbcbc  reimt;  aus- 
serdem einmal  in  der  Variante  des  Quatrains  (XXIV),  deren  wir  oben 
Erwähnung  gethan,  wo  es  ababaacc  reimt. 

DieHuitains  mit  Zehnsilblern,  denen  wir  in  den  Gedichten  begeg- 
nen (VIII;  X;  XI)  folgen  in  Bezug  auf  den  Reim  durchaus  der  vor- 
hergehenden Classe. 

Die  Dizains  reimen  immer  ababbccdcd,  mag  nun  der  Vers  acht- 
silbig  sein  (XXXIV)  oder  zehnsilbig  (VII,  XII,  XIII,  XV,  XXV, 
XXVII,  XXVin,  XXIX,  XXXII,  XXXIII,  XXXV).  Die  Envois 
dieser  Art  Balladen  verdienen  eine  besondere  Aufmerksamkeit.  Ge- 
wöhnlich zählt  nämlich  das  Envoi  nur  halb  so  viel  Verse,  wie  die  an- 
dern Strophen ;  nun  finden  wir  auch ,  im  Anschluss  an  diese  Regel, 
in  den  meisten  Fällen  5  Verse,  jedoch  hat  das  Envoi  von  VII  und  von 
XXVIII  deren  sieben,  welche  noch  obenein  cccdccd  reimen ,  während 
die  Uebereinstimmung  mit  den  sieben  letzten  Versen  der  andern  Stro- 
phen wenigstens  bbccdcd  erwarten  lässt ;  das  von  XXXII  hat  6  Verse, 
die  auch  gegen  die  Regel  ccdccd  reimen ;  XIII  endlich  hat  ein  Envoi 
von  nur  4  Versen,  die  aber  regelmässig  reimen. 

Was  schliesslich  das  Douzain  betrifft,  so  finden  wir  es  in  zwei 
Balladen  verwendet  (XXXVI  und  XXXVII) ,  deren  Reime  die  For- 
mel ababbccddede  darstellen ;  das  Envoi  des  ersten  Gedichts  besteht  aus 
fünf,  das  des  zweiten  aus  vier  Versen,  beide  mit  normalem  Reim. 

In  Bezug  auf  den  Reim  selbst  stimmen  die  Regeln  zwar  im  Allge- 
meinen mit  denen  des  modernen  Französisch  überein,  doch  sind  sie  bei 
Weitem  nicht  so  streng,  wie  diese.  Wir  führen  einige  Reime  vor,  die 
nach  den  Regeln  der  heutigen  Prosodie  nicht  für  correct  gelten  wür- 
den. Unerlaubt  sind  z.  B.  heute  Reime,  in  denen  zwar  die  Reimvocale 
gleich,  aber  die  darauf  folgenden  stummen  oder  nasalirten  Consonanten 
alle  oder  theilweise  verschieden  sind,  wie  blancs  —  complant  P.  T.  4, 

5  und  7;  certain  —  estaing  ib.   8,   2   u.  4;   donc  —  don  G.  T.  22, 

6  u.  8  ;   chassant  —  champ  G.  T.  100,  4  u.  5. 

Verboten  ist  ferner,  dass  auf  den  Reiravocal  im  einen  Falle  ein 
stummer,   im  andern  ein  hörbarer  Consonant   folgt.      Dahin  gehören 


262  Fran9ois  Villon. 

die  sogenannten  „rimes  nonnandes,"  d.  h.  Reime  von  er,  das  wie  e  mit 
er,  das  wie  ere  ausgesprochen  wird,  z.  B.  mer  —  nommer  G.  T.  18, 
2  u.  4 ;  eher  —  revencher  ib.  24,  5  n.  7 ;  mendier  —  hier  ib.  44, 
1  u,  J3;  eher  —  mascher  VIII,  1,  1  u.  3;  toucher  —  eher  G.  T.  114, 
6  u.  8 ;   mer  —  semer  XXXII,  1,  6  u.  7.  —  Ebenso  Reime  wie   six 

—  rassis  P.  T.  1 ,  1  u.  3 ;  Jacob  —  trop  G.  T.  8 ,  1  u.  3 ;  dictz  — 
filz  ib.  27,  1  u.  3;  sublitz  —  petiz  IV,  6,  4  und  5;  perilz^ —  periz 
G.  T.  88,  4  u.  5;  perilz  —  Paris  XIV,  1,  6  u.  8;  quod  —  escrot 
G.  T.  172,  2  u.  5;  sourcilz  —  merciz  ib.  173,  6  u.  8;  sourcilz  — 
rassis  XXV,  3,  4  u.  5. 

Noch  weniger  ist  es  heute  erlaubt,  dass  die  auf  den  Reimvocal 
folgenden  Consonanten  verschieden  und  beide  hörbar  sind,  so  in :  tieulx 

—  neufz  P.  T.  31,  5  u.  7;  gelines  —  Signes  ib.  32,  4  u.  5  ;  raasles 
Charles  G.  T.  9,  1  u.  3  ;    fuste  — ■  fusse  G.  T.  18,   6  u.  7;  ancestres 

—  sceptres  ib.  35,  6  u.  8 ;  Auvergne  —  Charlemaigne  I,  4,  2  u.  4; 
Grenobles  —  Dolles  III,  3,  1  u.  3 ;  adextre  — prebstre  V,  2,  2  u.  7; 
pleure  —  recoeuvre  G.  T.  49,  4  u.  5 ;  enfle  —  Temple  ib.  89,  6  u.  8; 
cornette  —  hohecte  ib.  97,  2,  5  u.  7;  Merle  —  niesle  ib.  116,  1  u.  3; 
rouges  —  Bourges  ib.  Il4,  2  u.  7;  130,  6  u.  8;  resigne  —  dessaisine 
ib.  121,  2  u.  4;  bible  —  Evangile  ib.  134,  1  u.  3;  enseigne  —  tienne 
ib.  141,  5  u.  7;  branle  —  tremble  ib.  166,  1  u.  3 ;  peuple  —  seule 
XXXIX,  3,  1  u.  3.  In  allen  diesen  Fällen  scheint  es,  als  hätte  sich 
Villon  mit  der  Gleichheit  der  hauptsächlichsten  Consonanten  begnügt, 
aber  in  zwei  andern  Beispielen  findet  sich  gar  keine  Uebereinstimmung 
zwischen  den  Consonanten :  prophetes  —  fesses  G.  T.  71,  6  u.  8 ; 
dame  —  asne  ib.  137,  6  u.  8.  Diese  Erscheinung  erinnert  vollstän- 
dig an  die  Assonanz  in  den  alten  volksthümlichen  Gedichten  Frank- 
reichs. 

Auch  der  Reim  eines  langen  mit  einem  kurzen  Vocal  findet  sich 
nicht  selten,  z,  B.  pasques  —  Jacques  P.  T.  IG,  6  u.  8;  mais  —  mecfz 
G.  T.  27,  4  u.  5 ;  blasmes  —  femmes  ib.  5,  2  u.  4  ;  mectre  —  niaistre 
ib.  72,  1  u.  3;   aulmosne  —  ordonne   G.  T.    142,   5  u.  7  ;    douzaine 

—  Estienne  ib.  167,  2  u.  4  etc. 

Einige  andere  Unregelmässigkeiten  erklären  sich  durch  die  ver- 
schiedene Aussprache  jener  Zeit  oder  durch  Eigenheiten  des  Pariser 
Dialects.  E  z.  B.  und  selbst  eu  hatte  vor  r  den  Laut  a ,  denn  Villon 
schreibt  cberme  VIII,  1,  5  und  lerme  G.  T.  155,  3  (lerme  auch  afr. 
sehr  häufig)  und   sprach   unzweifelhaft  charme    und  lärme,  so   dass  er 


Fran9ois  Villon.  263 

correct  reimen  konnte:  haubert  —  pluspart  —  poupart  —  P.  T.  16,  4 
5  u.  7;  Barre  —  feurre  —  terre  ib.  23,  2,  4  u.  5;  appert  -  part 
G.  T.  52,  2  u.  4;  Robert  —  Lorabart  ib.  64,  6  u.  8;  terre  —  Barre 
_  foerre'ib.  67,  2,  4  u.  5 ;  ardre  —  aherdre  ib.  73,  1  u.  3 ;  erre  — 
Barre  ib.  83,  2  u.  4;  Garde  -  perde  G.  T.  127,  1  u.  2;  Montmartre 
—  tertre  ib.  136,  1  u.  3;  Galerne  —  Marne  ib.  144,  2  u.  4. 

Dass  der  Diphthong  eu  damals  noch  wie  u  ausgesprochen  wurde, 
wird  man  um  so  weniger  auffiillig  finden,  als  noch  1585  Beza  berich- 
tet, dass  die  Aussprache  hureux  für  heureux  als  die  feinere  gelte  und 
selbst  in  La  Fontaine  der  Reim  erneute  —  dispute  (Fabl.  VII,  8)  vor- 
kommt. Bei  unserm  Dichtei-  dienen  folgende  Reime  als  Belege  jener 
Aussprache:  demeure  —  meure  (:=  müre,  schon  einsilbig,  das  e  nur 
noch  graphisch)  G.  T.  23,  1  u.  3;  jeu  -  geu  (Part.  Prät.  von  gesir) 

ib.  148,  1  u.  3. 

Die  Reime  an  —  amen—  ancien  G.  T.  127,  4,  5  u.  7  ;  d'an — 
paroissien  können  wohl  dadurch  erklärt  werden,  dass  das  „en"  auch 
nach  i  wie  an  ausgesprochen  wurde,  obgleich  Villon  ausser  vor  r  keine 
besondere  Vorliebe  für  den  a-Laut  zeigt;  z.  B.  wurde  offenbar  das  a 
in  Bretagne  wie  e  gesprochen,  wie  die  Orthographie  und  der  Reim 
Bretaigne  -  enseigne  G.  T.  141,  2  u.  4  zeigen.  Ob  der  Reim  dya- 
derae  —  l'ame  -  femme  G.  T.  38,  2,  4  u.  5  auch  als  Beweis  der 
Hinneigung  der  Aussprache  der  a  nach  e  hierher  zu  ziehen  oder  nur 
als  Unregelmässigkeit  aufzufassen  ist,   wagen  wir  nicht  zu  entscheiden. 

Das°s  11  und  1  nach  einfachem  i  noch  nicht  den  mouiUirten  Laut 
hatten,  scheint  uns  aus  den  Reimen  Cecille  —  Troile  G.  T.  129,  6 
u.  8;  sourcil  —  eil  XIX,  1,  5  u.  7  hervorzugehen.  Dies  wird  auch 
durch  die  Reime:  verraillon  —  coullon  XXI,  1,  5  u.  7;  souUon  — 
RousslUon  ib.  2,  2  u.  4;  soullon  -  Villon  XXXVI,  1,  10  u.  12; 
houllon  -  Villon  ib.  2,  10  u.  12,  eher  bestätigt,  als,  wie  Jannet  (Re- 
marques philologiques)  behauptet,  widerlegt.  Dass  dagegen  11  nach 
einem  Diphthong,  dessen  zweiter  Bestandtheil  i  war,  auch  damals  schon 
mouillirt  wurde"  beweisen  Reime  wie  escollier  —  collier  -  conseiller 
P.  T.  1,  2,  4  u.  5  etc. 

Der  Diphthong  oi  endlich  wurde  damals  „oe"  ausgesprochen;  denn 
Villon  schreibt  sogar  einige  Male  oe  für  oi,  nämlich:  mirouer  P.  T. 
29,  7;  coeflfer  ib.  14,  7;  III,  1,  2  ;  G.  T.  153,  4,  soef  G.  T.  62,  1; 
maschouere  ib.  73,  4;  oe  (oie)  ib.  157,  4.  Daher  waren  folgende 
Reime  möglich:    Chollet  -  souloit  P.  T.  24,    1  u.  3;   Anthome  -^ 


264  Fran9ois  Villon. 

Seine  ib.  29,  2  u.  4;  exploitz —  laiz  ib.  33,  6  u.  8 ;  fenestres  — 
cloistres  —  oystres  (huitres)   G.  T.  30,  4,   5  u.  7  ;   essoyne  —  royne 

—  Seine  I,  2,4,   5  u.  7  ;   cgnoistre  —  senesfre  V ,    1 ,  4  u.  5 ;  poise 

—  aise  XIII,  3,  8  u.  10;   testes  —  boytes  —  coettes  G.  T.  101,  2, 

4  u.  5;  estroicte  —  disette  ib.  139,  2  u.  4 ;  aber  vor  r  hatte  dieser 
Diphthong  schon  zu  jener  Zeit  die  jetzige  Aussprache,  wie  die  Reime  : 
carre  —  poirre  G.  T.  98,  5  u.  7  ;  voire  —  erre  (sprich  arre)  ib.  166, 
2  u.  4  zeigen. 

Auch  in  Bezug  auf  den  Reichthum  des  Reimes  befolgt  Villon  schon 
ziemlich  genau  die  heutigen  Regeln,  ja  man  kann  bei  ihm  eine  beson- 
dere Vorliebe  für  einen  recht  reichen  Reim  nicht  verkennen,  so  in 
Esperit  —  perit  P.  T.  9,  2  u.  4;  amant  —  dyamant  ib.  12,  1  u.  3  ; 
Parlement  —  principalement  ib.  14,  2  u.  4 ;  honeste  —  admoneste  ib. 
15,  1  u.  3 ;  Universite  —  adversite  ib.  27,  2  u.  4  u.  s.  w. 

Wie  nach  heutigem  Gebrauch  verzichtet  er  bei  mehrsilbigen  Wör- 
tern in  der  Regel  nur  dann  auf  den  reichen  Reim ,  wenn  dieselben  auf 
eine  der  seltener  vorkommenden  Endungen  ausgehen  und  auch  da  lange 
nicht  so  häufig,  wie  wohl  moderne  Dichter.  Er  begnügt  sich  mit  ein- 
fachem Reim  und  zwar  an  je  einer  Stelle ,  bei  folgenden  Endungen : 
it  P.  T.  9,  4  u.  5;  is  I,  2,  1  u.  3;  aigne  11,  2 ,  6  u.  8 ;  iere  IV,  1, 
2  u.  4  ;  asse  ib.  4 ,   2 ,    4,  5  u.  7  ;  eille  ib.  6  ,  6  u.  8 ;  ettes  ib.  9,  4, 

5  u.  7;  ours  G.  T.  54,  6  u.  8;  able  ib.  78  ,  2  u.  4;  er  VIII,  2,  1 
und  3  ;  u  G.  T.  85 ,  1  u.  3 ;  ou  ib.  94,  2,  4,  5  u.  7 ;  ant  ib.  100,  2 
u.  4;  eux  ib.  112,  1  u.  3;  igne  X,  1,  1  u.  3;  ofle  G.  T.  l28,  6  u.  8; 
oine  XIII,  1,  1  u.  3;  olle  G.  T.  141,  1  u.  3 ;  onne  ib.  142,  4  u.  5; 
ure  ib.  159,  2  u.  4;  oire  ib.  164,  4  u.  7  ;  aine  ib.  167,  2,  4,  5,  7; 
oye  ib.  169,  1  u.  3;  el  ib.  167,  2,  4,  5,  7;  orte  XXXIX,  5,  2,  4, 
5  u.  7;  oir  XXXIII,  1,  7  u.  9. 

Zwei  bis  drei  Male  fehlt  der  reiche  Reim  bei  folgenden  Endungen: 
ines,  ie(y),  ie(ez,  ee),  ique,  ance  (ence),  eau  (au),  ere(aire),  ise,  a,  at, 
otte(ote);  ume,  isse  und  nur  bei  der  Endung  esse  ist  der  einfache 
Reim  das  gewöhnliche. 

Die  Regel,  dass  kein  Wort  mit  sich  selbst  oder  kein  Simplex  mit 
seinem  Compositum  reimen  könne,  kennt  Villon  nicht.  Ja  er  beschränkt 
sich  nicht  darauf,  Wörier,  die  zwar  der  Form  nach  gleich,  der  Bedeu- 
tung nach  aber  verschieden  sind,  zu  reimen,  wie  date  (Datum)  —  date 
(Dattel)  P.  T.  40,  1  u.  3 ;  este  (Sommer)  —  este  (gewesen)  G.  T. 
2,  6  u.  8;   quoy  (ruhig)  —  quoy  (was)   ib.  31,  4  u.  5;  fiere    (stolz) 


Fran9ois  Villon.  265 

—  fiere  (schlage)  IV,  1,   5  u.  7 ;  las  (leider)  —  las  (==  laqs,  Schlinge) 
G.  T.  55,  6   u.  8;  mot  —  m'ot  ib.  58,  1  u.  3 ;    chere  (Mahl)  —  chere 
(theuer)  ib.  73,  5  u.  7,    sondern    reimt  auch   unbedenklich  jedes  Wort 
mit  sich  selbst  in  ganz  gleicher  Bedeutung,   so:   dur  P.  T.  7,  1  u.  3 
mestier  ib.  23,  6  u.  8;   finer  ib.  39,   6  u.  8;  cueur  G.  T.  5,   1  u.  3 
bien  ib.  14,  1  u,  3 ;   mais  ib.  27,  2  u.  7;    (je)  mande  ib.  66,    2  u.  7 
OS  ib.  143,  5  u.  7  oder  ein  Substantivum  mit  dem  von  ihm  abgeleiteten 
Verbum  so:    conseiller  P.  T.  1,  5  u.  7  ;  bruit  ib.  9,  5  u.  7;  plante  ib. 
20,  6  u.  8  ;   establis  ib.  22,  2  u.  4  ;    sens  G.  T.  10,    1   u.  3;    peine 
ib.  32,  6  u.  8;   dit  ib.  74,  1  u.  3;  ayde  ib.  90,  6  u.  8;   endlich  auch 
das  Simplex  mit  seinem  Compositum  oder  mehrere  Composita  desselben 
Simplex:    racompte  —  mescompte  P.  T.  ]  ,  6  u.  8;    briser  —  desbri- 
ser  ib.  2,  6  u.  8;   fa^on  —  deffa9on  ib.  3,    1  u.  3;  prins  —  mesprins 
ib.  5,  1   u.  3 ;    chasse  —  dechasse  —  enchasse    —  pourchasse  ib.  10, 

2,  4,  5,  7  und  so  in  vielen  Fällen. 

Was  den  Hiatus  betrifft,  so  bemerken  wir  bei  Villon",  im  Gegen- 
satz zu  andern  Dichtern  jener  Zeit,  eine  sehr  ausgesprochene  Neigung, 
ihn  zu  vermeiden  oder  durch  die  Elision  zu  entfernen,  z.  B. : 

Mil  quatre  cent  cinquante  et  six  F.  T.  1,  1, 
Sans  que  pie9a  eile  en  eust  mieulx  ib.  3,  4, 
Et  se  je  pense  a  ma  faveur  ib.  4,  1  etc. 

Unter  den  3 — 4000  Versen  Villon's  haben  wir  nur  8  Stellen  ge- 
funden, die  von  den  Regeln  der  modernen  Prosodie  ab^veichen : 

Mais  mon  encre  estoit  gele  P.  T.  39,  4, 
Car  vieilles  n'ont  ne  cours  ne  estre  V,  1,  7, 
Pour  ce  aymez  tant  que  vouldrez  VI,  1,  1, 
Ma  vielle  ay  mis  soubz  le  banc  G.  T.  60,  5, 
Leur  chambre  auront  lembroysee  ib.  112,  2, 
En  l'abbaye  oii  il  n'entre  homme  ib.  136,  2, 

(sonst  wird  immer  vor  stummem  h  elidirt,) 

N'autre  ennuy  de  quelque  sorte  XXXIX,  5,  5, 
Seme  et  benigne  clemence  XXXIX,  6,  3. 

Andrerseits  war  man  damals  noch  nicht  so  streng  wie  heute  in  Be- 
treff des  Werthes  der  Silben ,  namentlich  auch  der  Diphthonge ,  die 
stumme  Silbe  konnte  nach  Belieben  gerechnet  werden  oder  nicht.  Wir 
finden  bei  Villon  viele  Stellen,  wo  stummes  e,  obwohl  ein  Conso- 
nant  folgt,  nicht  zählt,  z.  B.  gelten:  laisse  P.  T.  12,  8,  brayes  ib. 
14,  6,  soye,  vraye  G.  T.   14,  5,  hommes  XXV,   2,4,    pluye  XXV, 

3,  1  nur  eine  Silbe:  amye  P.  T.  14,  8,  declaire  G.  T.  60,  8  nur  zwei 
Silben.    Dasselbe  gilt  auch  in  der  Mitte  der  Wörter,  z.  B.  zählt  das  e 


266  Francjois  Villon. 

nicht  in;  Jehau  P.  T.  11,  4;  G.  T.  85,  1;  108,  1;  125,  7;  127,  2; 
160,  2;  vrayement  G.  T.  51,  1;  payera  G.  T.  91,  3;  salueront  ib. 
125,  7;  payeray  ib.  193  ,  2.  Diese  letzte  Erscheinung  stimmt  übri- 
gens mit  dem  Neufranzösischen  überein,  wo  diese  im  Inlaut  nach  Vo- 
calen  ebenfalls  nicht  zählt. 

Der  Werth  der  Diphthonge  ist  auch  noch  nicht  genau  fixirt:  oi 
z.  B.  gilt  gewöhnlich  eine  Silbe,  aber  averroy  G,  T.  12,  8  ist  viersil- 
big, poille  ib.  58,  1  dreisilbig. 

uy  und  ui  immer  einsilbig,  ion  zweisilbig,  ausgenommen  in  estions 
und  avions  IX,  2,  1,  ebenso  ieux,  ausgenommen  in  cieulx  G.  T.  75, 
6  und  lieux  ib.  76,  8. 

Die  Endungen  ier,  ie,  iez,  ien  etc.  zählen  nur  für  eine  Silbe,  wenn 
sie  vom  lateinischen  are,  arius,  atus,  aties,  anus  etc.  herkommen,  oder 
wenn  sie  durch  Diphthongisirung  entstanden  sind  (viens,  tiens,  vieil  etc.) ; 
sie  sind  dagegen  zweisilbig,  wenn  das  e  wurzelhaft  ist  wie  in  obvier 
P.  T.  6 ,  1;  mandier  ib.  32,  1;  rassasier  G.  T.  25,  4;  manier  ib. 
59,  6;  officiel  ib.  64,  3;  espier  ib.  69,  4;  copier  ib.  69 ,  7  ;  ancien 
ib.  84,  6 ;   lien  XXXVIIl,  4,  8. 

Es  giebt  indessen  auch  Ausnahmen  von  dieser  Regel :  advient 
P.  T.  37,  4;  terrien  VII,  1,  1;  aidier  G.  T.  130,  3;  gerrier  XXXIV, 
2,  7,  zählen  drei  statt  zwei  Silben,  barriere  XXXVI,  1,  5  und  estu- 
dier  G.  T.  119,  1  nur  drei  statt  vier. 

Die  Sprache  Fran^ois  Villon's  *  ist  die  von  Paris ,  d.  h.  der  Isle 
de  F'rance.  Sie  ist  indessen  nicht  ganz  rein,  sondern  mit  Bestandthei- 
len  aus  allen  Dialecten  Frankreichs  zersetzt  und  vermischt.  Wir  wollen 
versuchen,  einige  Punkte  hervorzuheben. 

Aus  dem  Burgundischen  findet  man : 

ai  für  a:  saige  P.  T.  1,  7;  VI,  3,  5  etc.,  saigesse  IV,  3,  2; 
gaige  P.  T.  11,  5;  G.  T.  158,  7;  XXXIII,  4,  4;  Bretaigne  H, 
1,  6  ;  Charleniaigne  ib.  1,  8  ;  Espaigne  ib.  2,  6  ;  gaigner  G.  T.  105,  4; 
XVI,  2,  5;  declairer  G.  T.  60,  8;  saichans  ib.  117,  6;  messaigier 
XIV,  1,  3;  saichiez  XXI,  4,  2;  Cartaige  XXXVI,  1,  6.  Dies  ai 
scheint  jedoch,  namentlich  vor  g,  wie  a  gesprochen  zu  sein,  da  wie 
G.  T.  158,  2,  5  u.  7  gaiges  mit  pages  und  aages  reimt,  doch  sprechen 


1  Wir  haben  unserer  Untersuchung  den  Text  La  Monnoye's  zu  Grunde 
gelegt,  welcher  nach  Gaston  Paris  in  der  Rev.  erit.  No.  16  der  beste  ist, 
der  bis  jetzt  noch  publicirt  worden;  der  kritische  Scharfsinn  La  Monnoye's 
sei  wahrhaft  zu  bewundern. 


Fran9ois  Villon.  267 

die  Reime:  Auvergne  —  Charlemaigne  II,  4,  2  u.  4  und  Bretaigne 
—  enseigne  G.  T.  141,  2  u.  4  dagegen. 

ei  für  e  sehr  oft:  seiche,  meiner,  preigne,  seicher,  sereine  (sirene) 
I,  3,  2  etc. 

ie  für  e  (zugleich  picardisch)  sehr  häufig,  wenn  e  den  Ton  hat, 
z.  B.  Chief,  boiichier,  chassie,  sachiez,  pechie,  traictie,  darigier  (bei'cch- 
tigt,  da  es  von  damniarium  kommt)  etc.  Hierher  gehört  auch  tieul 
P.  T.  31,  5  (Reim),  wo  1  erst  aufgelöst  und  dann  noch  einmal  ge- 
setzt ist. 

ou  für  eu  und  oeu:  demourer  G.  T.  38,  8;  94,  2;  110,  |2; 
vouillies  (imper.)  VII,  2,  8;  pou  G.  T.  138,  5;  labour  XVII,  3,  2; 
3,  7  (sehr  häufig  auch  altfr.) ;  ouvrer  XVII,  3,  7;  doulour 
G.   T.  54,  8. 

o  für  ou:  Loys  G.  T.  7 ,  8  esjoys-toy  ib.  27,  3;  molin  ib. 
58,  6;  andoille  ib.  101,  6;  coille  ib.  101,  8;  pommon  XXVIT,  3,  6; 
povoir  XXXIII,  3,  7. 

oi  für  i:   soyer  (scier)  XXXIV,  3,  1. 

oifüre:  poiser  XXIII,  1,  1  u.4;  hoir  XXVI,  21;  XXXni,  2,9. 

oi  für  ai:  foible  G.  T.  10,  1;  royne  I,  2,  5  ;  l,  3 ,  1 ;  G.  T. 
42,  2;  espoix  XXXII,  2,  9. 

In  Bezug  auf  die  Consonanten  Spuren  von  Abneigung  gegen  die 
Auflösung  des  1  z.  B.  solz  P.  T.  5,  6;  G.  T.  125,  3;  col  P.  T.  13,6; 
G.  T.  41,  3;  III,  1,4;  licol  P.  T.  13,  8;  chastel  P.  T.  19,  4; 
G.  T.  79,  5  ;  fol  P.  T.  37,  7;  G.  T.  1,  3  ;  39,  2 ;  48,  7 ;  45,  6  ;  folz 
XXVIII,  4,  4;  coutel  G.  T.  43,  3;  bei  VI,  2,  5;  mol  G.  T.  91,  5; 
XIII,  1,  1;  absolz  G.  T.  152,  8;  tumbel  G.  T.  163,  7;  pel  XXVI, 
1,  3  ;  drapel  XXVI,  2,  3;  capel  XXVI,  3,  1. 

Aus  dem  Picardischen  bemerken  wir  ausser  der  mit  dem  Burgun- 
dischen gemeinsamen  Diphthongisirung  des  e  namentlich  c  als  Stellver- 
treter von  ch:  casser  G.  T.  158,  7;  caste  VI,  3,  6  und  XXXIX,  II, 
3,  6  ;    de  bonne  carre  G.  T.  98,  5  ;    capel  XXVI,  3,  1. 

Aus  dem  Normannischen  endlich : 

e  für  oi:  detz ,  dez  (doigt)  G.  T.  17  ,  4;  XXV,  3,  4;  teile 
(toile)  VI,  5,  2;  vecy  G.  T.  69,  8;  1er  G.  T.  123,  3;  penard  (poig- 
nard)  contre  les  tav.  1,5. 

ei  für  oi:  meins  P.  T.  37,  8  (Reim). 

u  für    0,   ziemlich  häufig;   tumbeaulx   P.  T.  35,  6;   36,  8;   unze 


268  Fran9ois  Villon. 

G.  T.  7,  1;  142,  7;  tumbel  G.  T.  16  3,  7;  voluntaire  XXVI,  1,6; 
triumphant  XXIX,  4,  4. 

u  für  ou:   desnuez  P.  T.  25,  6. 

Es  braucht  kaum  hinzugefügt  zu  werden,  dass  manche  von  diesen 
Eigenthümlichkeiten  schon  in  der  eigentlich  französischen  Mundart,  wie 
sie  von  Rustebues  vertreten  wird,  vorkommen,  da  ja  diese  aus  den  um- 
liegenden Dialecten,  namentlich  dem  Burgundischen,  Vieles  entlehnten, 
so  finden  wir  auch  bei  jenem  Schriftsteller  manchmal  ei  oder  ie  statt  e, 
oi  statt  i  u.  s.  w.,  doch  wird  man  darum  nicht  weniger  berechtigt  sein, 
jene  Erscheinungen  als  ursprünglich  burgundisch  hinzustellen. 

Andre  dagegen  kann  man  als  gemeinsam  altfranzösische  bezeich- 
nen, da  sie  bei  Schriftstellern  aller  Dialecte  vorkommen.  Dahin  gehört 
die  Beibehaltung  des  a  statt  ai  vor  der  Tonsilbe,  wie  in  agu  (acutus) 
XXI,  3,  5  ;  XXXII,  1,  8;  aguillon  XXXII,  1,  8  etc.,  ferner  der  Ge- 
brauch von  ou  für  nfr.  au  z.  B.  oft  in  pouvre ,  pouvrete ;  ou 
(Dat.  des  Art.)  G.  T.  26,  2;  131,2;  XXXVIII,  3,  7;  ouquel 
XXXII,  1,  4, 

von  ou  für  o,  der  ziemlich  oft  vorkommt :  reprouchier ,  labourer, 
accouter  G.  T.  56,  5,  laboureux,  gousier  XXXII,  1,  9;  voulonte, 
arrouser,  reprouche,  voulontiers,  tastouner,  doulouser,  coulorer,  proufit, 
toul  für  toi  von  tolre  XXXIX,  5,  7;  mirouer,  souloit,  maschouere 
G.  T.  73,  4. 

Andre  Eigenthümlichkeiten  sind  mehr  orthographischer,  manch- 
mal allerdings  auch  wohl  willkürlicher  Art. 

aa  oder  ea  für  a:  aage  G.  T.  117,  3;  eage  G.  T.  1,  1  (wir 
müssen  diese  Formen  bei  Villon  zu  den  orthographischen  Eigenthüm- 
lichkeiten rechnen,  da  aa  und  ea  nicht  mehr,  wie  im  Altfranzösischen, 
zweisilbig  sind,  obgleich  die  Etymologie  von  aetaticum  es  verlangt. 

a  für  e:  apprandre  G.  T.  5,  6;  part  (perd)  ib.  52,  5;  orfaverie 
(orfevrerie)  ib.  113,  4;   ancie  ib.  163,  6. 

ai  für  e  sehr  häufig  in  maine  I,    1,4  und  demaine  G.  T.  36,  4; 

1,  3,  3  etc. 

aou  für  au:  pauvre  oft  P.  T.  7 ,  3;  14,  2  etc.;  für  eu:  paour 
VII,  3,  6. 

e  für  a:  lenterne  P.  T.  22,  6;  souef  (souave)  G.  T.  41,  6; 
151,  4;  tenner  III,  4,  3;  dorenevant  G.  T.  61,  3;  XI,  2,  3;  reng 
(ranc)  ib.  87,  5  ;  louenge  XXVII,  1,8;  perdent  (Part,  pres.)  XXXIII, 

2,  5;   dedens  XXXVI,  3,  10. 


Fran90is  Vlllon.  269 

e  für  ai  sehr  oft:  scet,  gresse,  engresser,  frez  (frais),  escler 
(eclair),  der,  lesser,  esquisez  (aiguise),  blereaux  XII,  1,  9. 

e  für  i:  sentement  G.  T.  12,  5;  sereine  (sirene)  I,  3,  2 ;  se  für 
sl,  ne  für  ni  sehr  häufig. 

e  für  eu  einmal  im  Reim:  fouterre  für  fouteur  G.  T.  81,  6; 
ebenso  im  Reim  einmal  für  o:   voulente  G.  T.  10,  7  und  in  jengleresse 

VII,  1,  9. 

Stummes  e  fällt  am  Ende  manchmal  ab :  onc  (oncques)  P.  T. 
7,  5;   G.  T,  20,    8;    encor  II,    3,    5,    com  (corame)  XXI,    1,   5; 

XXXV,  2,  4. 

eu  für  ou:  Dieu  me  sequeure  G.  T.  49 ,  7;  für  u:  beuvait  X, 
2,  2  ;  für  ü :  meurir,  raeure  (eu,  wie  oben  ea  einsilbig  und  schon  wie 
ü  gesprochen  cf.  die  Reime). 

eu,  oeu  und  ueu  kommen  ohne  Unterschied  vor :  beuf,  cueur,  deul, 

euvre,  seur  etc. 

i  für  e:  effimere  (ephemere)  G.  T.  74,  5;  für  e:  diffinir  ib.  161, 
2  ;  für  ei:  pigne  X,  2,  3  (Reim);  für  u:  gippon  Q'upon)  XXIX,  3,  5. 

i  fällt  aus  in:   debteur  G.  T.  168,  4. 

o  für  a:  por  G.  T.  154,  6  ;  für  au  oft  in  povre;  für  oi:  s'eslong- 
ner  G.  T.  52,  7;  XXX,  1,  6;  j'enpongne  (empoigne)  XV,  2,  8. 

oe  für  oi:  coeffer  P.  T.  14,  7;  III,  1,  2;  G.  T.  153,  4;  soef 
G.  T.  62,  1  ;    oe  (oie)  ib.  157,  4 ;    dafür  auch  oue  z.  B.  mirouer  P.  T. 

29,  7;   maschouere  G.  T.  73,  4. 

oe  für  eu:    foerre  (feurre)  G.  T.  67,  5. 

oi  für  o :  besoigne  P.  T.  7,  7  (Reim) ;  Bouloigne  ib.  7 ,  5 ;  groi- 
sellez  (groseille)  VI,  5,  4  ;  oignon  XIII,  2,3;  für  ui:  oystres  G.  T. 

30,  7  (Reim). 

ou  für  u:   fouir  P.  T.  5,  6  (Reim);    souef  (suave)  G.  T.  41,  6; 
151,  4,  XI,  2,  3;  qu'on  cloue  G.  T.  86,  5  (Reim), 
u  für  e  einmal:   sumer  XI,  3,  5  (Reim), 
oue  für  o:   cordouennier  P.  T.  21,  7. 
uy  für  i:    vuydez  XVII,  1  5. 

Consonanten. 

In  der  Orthographie  bemerkt  man  noch  vielfaches  Schwanken. 
Dies  zeigt  sich  vornehmlich  in  der  Gemination  der  Consonanten ;  denn 
•während  wir  auf  der  einen  Seite  manchmal  einen  einfachen  Consonanten 


270  Fran9ois  Villon. 

finden,  wo  nfr.  deren  zwei  sind,  z.  B.  abatre,  esbate,  batu,  estreoe 
G.  T.  42,  7;  gloser  ib.  161,  1  etc.,  bemerken  wir  andrerseits  in  weit 
höherem  Grade  die  Neigimg,  die  Consonaiiten,  namentlich  die  Liquiden, 
zu  verdoppeln.  In  einzelnen  Fällen  liesse  sich  dies  durch  die  Etymo- 
logie erklären,  z.  B.  in:  estoille,  aftinque  (df) ,  deffa^on  (sf),  jette, 
parolle,  palle,  forclorre,  celluy  u.  s.  w. ,  in  andern  durch  das  Vorher- 
gehen eines  kurzen  Vocales  wenigstens  erklären :  honnorer ,  escollier, 
cappitaine,  valleur,  ohicanner,  honnorable,  deffault ,  coeffer,  gellees, 
robbe,  chappon,  oppinative,  pellerin,  Romme,  voller,  abbusetc. ;  in  wie- 
der andern  ist  der  vorhergehende  Vocal  zwar  lang,  steht  aber  nicht  in 
der  Tonsilbe,  z.  B.  in:  souppirant,  fouller,  laidder,  souhaitter,  chom- 
mer  etc.  Dagegen  haben  wir  eine  solche  Verdoppelung  nach  betontem 
und  (wenigstens  im  Neufranzösischen)  langem  Vocal  nur  bei  folgendem 
1  gefunden,  z.  B.  reculle,  mulle,  intellectualles,  articulle  etc.,  während 
sonst,  ganz  abweichend  von  dem  Gebrauch  der  Schriftsteller  des  XV. 
und  auch  des  XIV.  Jahrb.,  ^  nach  langen  Vocalen  mit  grosser  Con- 
sequenz  der  einfache  Consonant  steht.  Die  Form  renfFrongnee  P.  T. 
30,  5 ,  wo  bei  schon  mehrfacher  Consonanz  doch  die  Verdoppelung 
eingetreten  ist,  steht  bei  uns  einzeln  da,  während  im  XIV.  Jahrb.  eine 
solche  Willkür  in  der  Orthographie,  selbst  nach  langen  Vocalen,  mehr- 
fach vorkam  (s.  Knauer  p.  27). 

Das  für  das  Altfranzösische  nicht  weniger  als  für  das  Provenza- 
lische  (auch  Mittelhochdeutsche)  geltende  Gesetz,  dass  im  Auslaut  die 
media  in  die  tenuis  verwandelt  wird ,  wird  noch  häufig  beobachtet, 
z.  B.  grant ,  marchant,  billart,  poignart,  canart,  lart,  ilprent,  vieillart, 
raillart,  paillart  u.  s.  w.,  aber  man  findet  auch  sehr  oft  die  neufranzö- 
sischen Formen:  grand,  gland  u.  s.  yv. 

Dies  ist  ein  Ausfluss  der  Neigung,  etymologisch  zu  schreiben,  eine 
Neigung,  welche  dem  XV.  und  XIV.  Jahrb.  gemeinsam  ist.  Aus  ihr 
erklären  sich  Schreibungen  wie:  dict  P.  T.  10,  1  etc;  attainet  ib.  21,  3  ; 
licts  ib.  22,  7;  j'adjoinctz  ib.  29,  1;  plaings  G.  T.  22,  1;  mit  b: 
soubz  P.  T.  29,  6;  doibt  G.  T.  11,  8;  prebstre  V,  2,  7;  mit  p: 
racompte  P.  T.  1,  G;  temps  ib.  2,  1  (afr.  tens);  rachaptant  ib.  11,  8; 
descripvant  ib.  35,  3;  escript  G.  T.  6,  7;  sepmaine  I,  4,  1  etc.; 
mit  n:    prins  P.  T.  5,  1  etc.;  din  bled  XXXIV,  1,  7  u.  3,  1. 


1  Cf.  Dr.  Otto  Knauer:  Beiträge  zur  Kenntniss  der  französischen 
Sprache  des  XIV.  Jahrhunderts.  Im  Jahrbucli  für  romani.s<"he  und  englische 
Literatur  VIII,  p.  14  sq. 


Fran^ois  Villon.  271 

Oft  ist,  scheinbar  etymologisch,  ein  solcher  Buchstabe  hinzuge- 
fügt worden,  wo  sich  der  ursprüngliche,  wenngleich  unter  anderer 
Form,  vollständig  erhalten  hatte,  so  in :  dacepvante  P.  T.  4,  3 ;  traictie 
ib.  25,  3;  faicts  G.  T.  4,  8;  nuyctee  XIII,  1,  5;  minuict  G.  T. 
137,  4;  huict  ib.  137,  5;  manchmal,  wie  in  mectre  P.  T.  36,  5,  nach 
falscher  Analogie  sogar  ganz  ohne  Berechtigung  hinzugefügt. 

Nirgends  aber  zeigt  sich  das  unrichtig  aufgefasste  Streben  nach 
Herstellung  der  Etymologie  deutlicher,  als  in  dem  graphischen  Hinzu- 
fügen des  1  an  bereits  aufgelöstes  1;  dies  ist  durchaus  das  Gewöhn- 
liche :  yeulx,  mieulx  ,  daulphin ,  saulve,  saulce,  doulx ,  psaultier,  gele- 
gentlich auch  falsch  wie  in  peult.  Dass  diese  1  etc.  aber  nicht  gespro- 
chen wurden,  zeigen  Reime,  wie  aultre  —  feautre  G.  T.  57,  2  u.  4; 
escripre  —  pire  G.  T.  161,  5  u.  7;  fenestre  —  prebstre  V,  2,  5  u.  7. 

Aus  der  Tendenz  etymologisch  zu  verfahren,  erklären  sich  endlich 
Schreibungen,  wie:  exception  G.  T.  39,  8;  perdition  ib.  71,  2;  con- 
dition  ib.  71,  4;  oblation  ib.  106,  6;  contemplation  ib.  106,  8;  con- 
ception  XXXVIII,  1,  1  ;  während  andre,  wie  condicion  G.  T.  39,  6  ; 
parcial  XXXIII,  4,  3  dem  Vorwalten  des  phonetischen  Principes  zu- 
zuschreiben sind. 

Dies  letztere  äussert  sich  ausserdem  noch  in  einer  Menge  von  Er- 
scheinungen: dahin  gehört  das  schon  oben  erwähnte  Eintreten  von  e  für 
ai,  das  Schwanken  von  a  und  e  vor  den  Nasalen,  der  Ausfall  von  ety- 
mologisch berechtigtem  anlautenden  h ,  endlich  in  dem  Schwanken  in 
der  Bezeiclniung  des  sibilirenden  Lautes.  In  Bezug  auf  den  Abfall  von 
anlautendem  h  haben  wir  folgende  Beispiele  gefunden :  yver  P.  T. 
24,  8;  G.  T.  25,  8;  133,  5;  144,  7;  XVI,  3,  4;  alaine  G.  T.  40,  3  ; 
Xin,  2,  3;  oystre  G.T.  30,  7;  uys  ib.  59,  2;  yverner  ib.  144,  5; 
im  Inlaut  cayer  ib.  78,  5.  Die  Sibilanten  wechseln  in  der  Anwen- 
dung, so  steht;  sc  für  s  in  allen  Formen  von  savoir,  P.  T.  23,  8;  G.  T. 
3,  2;    5,  5;   14,  1  etc. 

s  für  sibilirendes  c  in:  garson  IV,  3,  3;  perser  G.  T.  112,  4; 
für  sc  in  syon  (scion)  XXXVIII,  1,  3;  ss  für  o:  assier,  assierin  G.T. 
8,  4;  lysse  IV,  7,  5;  c  für  s:  ceau  P.  T.  26,  4;  responce  G.  T. 
18,  3;  echan9on  G.  T.  32,  7;  dancer  V,  2,  2;  dance  VI,  4,  7;  für 
SS  in:  faulce  P.  T.  36,  7;  face  VII,  2,  7  ;  G.  T.  126,  7;  redrecier 
G.  T.  85,  8;   faciez  XXIX,  1,  6;    friconne  XXXHI,  1,  4. 

Das  s  in  Inlaute  vor  Consonanten,  das  im  Altfranzösischen  wohl 
gesprochen  wurde,  im  Neufranzösischen  aber  fast  überall  abgefallen  ist. 


272  Fran9ols  Villon. 

wird  bei  unserm  Dichter  in  den  überwiegend  meisten  Fällen   noch  ge- 
schrieben ,    aber    wohl    unbedingt    schon   nicht  mehr  gesprochen ,    so 
mescompter   P.  T.    1 ,    8 ;   desbriser  ib.  2 ,    8 ;   trespercent  ib.   4 ,    4 
esloigne  ib.  7,  2;    estaing  ib.  8,  4;    escot   ib.  11,  6;   asne  ib.  12,  4 
esmoucher  ib.  13,  3;    la  pluspart  ib.  16,  4;    estendre  ib.  23,  5;  niestier 
ib.   23,  8;    escri^ant  ib.  35,    1;    esveilla  ib.  38,    1;    esvertua   33,  2; 
trentiesme  G.  T.  1,  1 ;    este  ib.  2,  6;    blasme  ib.  7,  5;   nostre  ib.  7,  7; 
oft   auch  ohne  etymologische  Berechtigung,  wo  es  also  reines  graphi- 
sches Zeichen  ist,  so:    esguisez  G.  T.  12,  6;    Esmaus  ib.  13,  3. 

Endlich  sind  in  Bezug  auf  den  Consonantismus  Villon's  folgende 
Einzelheiten  zu  erwähnen : 

Es  steht  1  für  r  in  aulmoire  (armoire)  P.  T.  15,  5;    36,  5. 

r  unorganisch  eingeschoben  in  sornettes  G.  T.  157,  5. 

qu  für  c  in  sequeure  G.  T.  49,  7. 

ch  für  c:   achierin  contra  las  tav.  1,  10;    estoniach  G.  T.  144,  6. 

d  für  t  in  meurdriz  P.  T.  30,  8. 

t  unorganisch  angetreten  in  Romant  G.  T.  15,  1 ;  128,  2;  tyrant 
G.  T.  132,  3  (auch  englisch). 

g  für  j  in  gippon  (jupon)  XXIX,  3,  5;  gecter  XXXV,  1,  1; 
abgefallen  in  estan  I,  1,  6  (Reim);  graphisch  hinzugefügt  in  estaing 
P.  T.  8,  4;  loingtaing  ib.  8,  7;  ung  ib.  11,  6  ;  besoing  G.  T.  7,  2; 
desdaing  XXV,  2,  2. 

gt  im  Auslaut  abgefallen  in  doy  G.  T.  73 ,  1  (diese  Form  findet 
sich  noch  bei  Ronsard  „Oeuvres  choisies"  p.  24  im  Reim  mit  pourquoy) ; 
ebenso  et  in  amy  (amict)  III,  1,  2;  q  in  las  G.  T.  55,  8;  f  in  raassis 
XX,  4,  2;   p  in  lou  G.  T.  102,  3. 

Der  mouillirta  Laut  wird  nicht  immer  geschrieben,  z.  B.  groiselle 
(groseille)  VI,  5,  4;  boullir  VII,  3,5;  viellart  X,  3,  1;  couUon 
(couillon)  XXI,  1,  7;  souUon  XXI,  2,  1;  XXXVI,  1,  10;  le  deul 
XXXIX,  5,  4;    penard  (poignard)  contre  les  tav.  1,  5. 

Der  umgekehrte  Fall  in  regnard  XII,  1,  9. 

Eigenthümliche  Veränderungen,  theilweisa  Verstümmelungen  be- 
merken wir  in :  esme  für  estime  G.  T.  6 ,  4 ;  lubre  (lugubre)  G.  T. 
12,  5;  coursar  für  courroucer  III ,  4,  3;  esclat  (echalas)  XV,  2,  8; 
crepelle  für  coupelle:  argent  de  crepelle  G.  T.  59,  4;  queloigne  für 
quenouilla  P.  T.  6,  4  (Reim). 


Fran9ois  Villon.  273 

Formenlehre. 
Der    bestimmte    Artikel. 

Seine  Formen  sind  die  des  modernen  Französisch,  und  nur  in  der 
Ballade  „en  vieil  langage  franc^ais"  finden  sich  einige  Spuren  der  alten 
Formen,  nämlich  ly  für  den  N.  und  A.  des  Sing,  und  des  Flur.,  wäh- 
rend diese  Form  im  guten  Altfranzösisch  nur  für  den  N.  des  Sing,  und 
Plur.  gebraucht  wird ;  eine  eigenthümlichc  und  sehr  alte  Form  (cf. 
Burguy,  gramm.  I,  51),  die  wir  auch  schon  oben  erwähnt  haben,  ist 
ou  für  au:  G.  T.  26,  2;  131,  2;  XXXVIII,  3,  7;  ouquel  G.  T. 
22,  2;  XXXII,  1,  4.  Aus  der  Zusammenziehung  des  Plurals  des 
Artikels  mit  der  Präposition  en  entsteht  es:  VII,  1,  9;  G.  T.  88,  7; 
115,  7;  XXVII,  3,  8;  (über  das  Vorkommen  dieser  Form  au  neufrz. 
cf.  Mälzner,  französische  Grammatik  p.  156). 

Der  unbestimmte  Artikel 
ung,  un  fem.  une,  Plur.  unes. 

Der  bestimmte  und  der  unbestimmte  Artikel  werden,  wie  im  Alt- 
französischen ,  häufig  fortgelassen ,  z.  B.  de  qui  tiens  corps  et  ame, 
G.  T.  7,  4 ;  et  puis  paradis  k  la  fin  G.  T.  9,8;  et  que  vie  me  re- 
couvra  ib.  11,  4;   rien  ne  hayt  que  perseverance  ib.  13,  8  etc. 

Der  unbestimmte:  plantes  me  fault  autre  complant  P.  T.  4,  7; 
c'est  pour  moi  piteuse  besoigne  ib.  7,  7 ;  enserrez  soubz  trappe  voliere 
ib.  29,  6;    noire  corame  escouvillon  ib.  40,  4  etc. 

Dasselbe  gilt  endlich  auch  von  dem  Theilungsartikel:  Je  laisse 
bonnetz  courtz,  chausses  semellees  P.  T.  21,  6  ;  il  n'y  a  relaiz  ib.  8,  6; 
n'y  voy  secours  ib.  5,  6  ;  je  laisse  chappons,  pigons,  grasses  gelines  ib. 
32,  4;   qui  ne  mange  figue  ne  date  ib.  40,  3  etc. 

Der  Plural  des  unbestimmten  Artikels  wird  wie  im  Altfranzösi- 
schen gebraucht,  wenn  man  von  Dingen  spricht,  die  paarweise  vor- 
kommen, z.  B.  unes  houses  G.  T.  125,  5  (Var.  bottes)  unes  brayes 
XII,  4,  3. 

Das    Substantiv u ui. 

Die  Flexion  ist  modern.  Von  der  Regel  des  s  entdecken  wir  nur 
wenige  Spuren,  die   noch  dazu   meistens  von   falscher  Anwendung  der 

Archiv  f.  n.  Sprache».  XLVUI.  18 


274  Fran9ois  Villon. 

Kegel  zeugen.  So  namentlich  in  der  Ballade  „en  vieil  fran^ois,"  z.  B. 
sainctz  apostoles  N.  PL  1,  1  (wir  behandeln  die  Flexion  der  Adjectiva 
zugleich  mit  der  der  Substantiva) ;  vestuz,  coefFez  N.  PI.  ib.  1,  2; 
ccincts  dass.  ib.  1,3.  So  immer  im  N.  PI.  schon  s  ausser  ly  daulphin 
3,  2 ;  servans  N.  Sing.  ib.  1  ,  6  ;  de  Constantinobles  2 ,  1 ;  ly  vens 
N.  Sing.  Refrain  Temperier  N.  5.  2,  2  ;  ly  roy  tresnobles  N.  5.  2,  3 ; 
decorez  dass.  2 ,  4 ;  pour  ly  grand  Dieux  adorez  2 ,  5 ;  honorez  N. 
Sing.  2,  7;  ly  sires  N.  PI.  3,  4;  Sonst:  en  riens  P.  T.  5  ,  3;  riens 
N.  Sing.  ib.  9,  4;  riens  A.  Sing.  G.  T.  13,  8;  quiconques  N.  Sing. 
G.  T.  40,  2  etc.  Man  sieht,  jedes  Bewusstsein  der  altfranzösischen 
Regel  ist  geschwunden,  da  V.  nicht  einmal,  wo  er  es  besonders  ankün- 
digt, im  Stande  ist,  dieselbe  zu  befolgen. 

Bei  der  Bildung  des  Plural  scheint  es  fast,  als  ob  der  Dichter  im 
Gebrauch  des  s,  x,  z,  keinen  Unterschied  machte.  Bei  genauerer  Be- 
trachtung kann  man  jedoch  folgende  Regeln  aufstellen:  die  Bezeich- 
nung des  Plural  geschieht  gewöhnlich  durch  s :  loups  P.  T.  2,  3  ;  flaues 
ib.  4,  4;    estans  ib.  14,  6  ;  clercs  ib.  27,  5  u.  s.  w. 

X  wird  nur  gebraucht  nach  u,  dem  e,  a  oder  o  vorhergeht:  yeulx 
P.  T.  3,  2 ;  cieulx  ib.  3,  5 ;  dieux  ib.  3,  7 ;  doulx  ib.  4 ,  2  ;  beaulx 
ib.  4,  2  etc.  z  folgt  der  Regel  nach  auf  d,  t,  1,  f,  e,  i  und  reines  u 
(dem  kein  andrer  Vocal  vorhergeht):  gandz  P.  T.  17,  2;  bonnetz  ib. 
21,  6;  piedz  ib.  24,  8;  petitz  ib.  25,  2;  nudz  ib.  25,  2:  solz  ib. 
11,  6;  curez  ib.  12,  8;  fossez  ib.  24,  4;  nommez  ib.  25,  3;  impour- 
veuz  ib.  25,  4;  ilz  26,  6;  contenuz  ib.  27,  6:  meurdriz  ib.  30,  8: 
habitz  ib.  31,  5;  neufz  ib.  31,  7;  griefz  ib.  33,  6;  exploitz  ib.  33, 
6;  telz  ib  34,  8;  desqulz  ib.  37,  4;  roydiz  G.  T.  29,  5;  laiz  G.  T. 
39,  2  etc. 

Dass  aber  andererseits  die  Zahl  der  Ausnahmen  eine  ziemlich  be- 
deutende ist,  wird  Niemand  bezweifeln;  so  finden  wir:  dents  P.  T.  1, 
4;  saints  ib.  6,  8;  courts  ib.  21,  6;  ceints  III,  1,  3;  clercz  IV,  2,  3; 
loix  G.  T.  61,  8;  palux  Vn,  1,  2  u.  s.  w. 

Vor  diesem  s  od.  z  des  Plurals  fallen  einige  Muten  aus ;  so  immer 
t,  wenn  demselben  ein  Consonant  vorhergeht,  natürlich  folgt  dann  nicht 
z  sondern  s:  enfans  P.  T.  25,  2;  parens  ib.  26,  3;  parlans,  chantans 
ib.  28,  3,  5;  gemissemens  G.  T.  12,  2;  plaisans  ib.  29,  4  etc.  d  in 
demselben  Falle:  frians  P.  T.  32,  3;  grans  G.  T.  30,  2,  wohl 
auch  ohne  vorhergehenden  Vocal  piez  P.  T.  4,  5. 


Fran^ois  Villon.  275 

Andere  Muten  fallen  sehr  selten  aus:  frans  P.  T.  18,  4;  las  G. 
T.  55,  8  (lags). 

Wie  im  Altfranzösischen  wird  das  „de"  des  Genitivs  oft  ausge- 
lassen, namentlich  wenn  es  sich  um  Personen  handelt,  z.  B.  sur  la 
maison  Guillot  Gneuldrey  P.  T.  28,  7;  filles  Dieu  ib.  32,  2;  soubz  la 
main  Thibault  d'Aussigny  G.  T.  1,  6;  selon  Ic  decret  leurs  amis  ib. 
52,  1;  aux  hoirs  Michaut  ib.  81,  5;  la  mort  Jesuchrist  XV,  2,  7;  les 
hoirs  Hue  Capet  XXVI,  2,  3;  la  clarte  Phoebus  XXXV,  3,  7;  les 
biens  Juno  et  le  soulas  Venus  ib.  3,8;  es  desers  Eolus  ib.  4,  1 ;  de 
par  Dieu  (eigentlich  de  part)  P.  T.  9,  1 ;  de  par  moj  ib,  33,  7.  Diese 
letzte  Ausdrucksweise  ist  auch  in's  moderne  Französisch  übergegangen. 

Das  „de''  wird  auch  durch  ä  vertreten,  z.  B.  pet-au-Diable  G.T. 
78,  2;  fille  au  souverain  Sire  XXVII,  1,  9. 

Die  Wörter  mit  verschiebbarem  Accent  unterscheiden  nicht  mehr 
die  beiden  verschiedenen  Formen  und  Bedeutungen.  Wir  finden  z.  B. 
sire  N.  Sing.  G.  T.  169,  4;  seigneur  dass.  ib.  2,  1  ;  sire  A.  Sing.  G. 
T.  88,  1;  125,  2;  130,  1;  sires  N.  PL  m,  3,  4;  emperier  N.  Sing. 
III,  2,  1  aber  empereur  dass.  G.  T.  18,  1;  corapaings  III,  2,  1,  N. 
PL;  larron  N.  u.  A.  Sing.  G.  T.  17,  5;  18,  2  etc.  Die  Mehrzahl 
dieser  Worte  zeigt  schon  überall  die  Form  des  Accusativs:  pecheur, 
serviteur,  procureur,  escumeur,  executeur,  debteur,  venteur,  directeur  etc. 

Das  Femininum  auf  esse  findet  sich  zweimal:  pecheresse  VII,  1, 
7  und  jenglei-esse  ib.  1,  9  ;    emperier   bildet   das  Femininum  emperiere 

vn,  1,  3. 

Unregelmässig  ist  „homme."  Im  N.  Sing,  hom  P.  T.  37,  5; 
G.  T.  17,  2;  78,  4;  daneben  homme  G.  T.  20,  6  u.  s.  w.  A.  Sing, 
hom  XXXVI,  1,  3;  A.  PL  homs  XXXVI,  1,  9. 

Einige  Wörter  sind  noch  zu  bemerken,  die  seitdem  das  Geschlecht 
geändert  haben :  encre  ist  masculinum  P.  T.  39,  4  ;  amour  immer  fe- 
mininuni  VIII,  1,  3  etc.,  ebenso  gent  und  gens  mit  Ausnahme  einer 
Stelle:  gens  mortz  furent  faictz  G.  T.  70,  8. 


Das   A  d  j  e  c  t  i  V  u  ra. 

In  Bezug  auf  die  Flexion  richtet  es  sieh  nach  dem  Substantivum, 
mit  dem  wir  es  daher  zusammen  behandelt  haben.  Was  die  Bildung 
der  Femininform  betrifft,  so  beobachtet  Villon  im  Allgemeinen  die  neu- 

18* 


276  Francois  Villon. 

französische  Methode;  die  Regel,  die  für  das  Altfranzösische  galt,  dass 
nämlich  die  Adjectiva,  die  im  Lateinischen  nur  eine  Form  für  das 
Masculinum  und  Femininum  haben,  auch  im  Romanischen  diese  beiden 
Geschlechter  nicht  unterscheiden,  wird  nur  noch  in  einigen  Fällen  be- 
obachtet: grant  z.  B.  ist  sowohl  femininum  als  masculinum  G.  T.  32, 
6;  35,  3;  IV,  3,  2;  G.  T.  76,  5  etc.;  tel  douleur  G.  T.  36,  4;  telz 
bestes  dangereuses  XII,  2,  8;  tel  douce  vie  XIII,  2,  2;  tels  ordures 
XVII,  3,  1  ;  tels  pelottes  XX,  4,  3;  oreilles  pendans  IV,  8,  6;  lan- 
gues  flambans  G.  T.  1 30,  6 ;  ä  fillettcs  monstrans  tetin  XX,  2,  1 ; 
court  triumphant  XXIX,  4,  4  ;  meules  flottans  XXXV,  3,  3  ;  naissance, 
en  charite  puissant  et  forte  XXXIX,  4,  4  und  selbst  gegen  die  Regel: 
court  souverain  XXIX,  1,  5 ;  benoist  celle,  qui  etc.  XXXIX,   3,  7. 

Demi  nahm  schon  damals,  Avenn  es  dem  Subst.  vorherging,  kein 
e:  demy  face  II,  2,  2;  demy  douzaine  G.  T.  105,  5;  167,  2. 

Die  Adjectiva  auf  f  bilden  das  fem.  auf  fve,  grief,  griefve  XXXV, 
1,  5  und  9;  XX,  2,  7  etc. 

Zu  bemerken:  mal,  mau  (G.  T.  102,  8;  146,  3;  XV,  4,  4), 
male  G.  T.  72,  7;  gens,  gente  IV,  7,  1 ;  V,  2,  1  ;  ort,  orde  G.  T. 
83,  8;  publique  m.  G.  T.  16,  1;  souventes  fois  G.  T.  36,  2;  Alle- 
manse  XIV,  2,  4;  Anglesche  XIV,  3,  5. 

Das  Adverbium  wird  durch  Anhängung  der  Endung  ment  gebil- 
det: aucunement,  vistement,  mallement  XXI,  3,  3  etc.  oder  es  behält 
auch  sehr  oft  die  Form  des  Adjectivs  bei:  bon  P.  T.  29,  2,  coy  G.T. 
31,  4  etc. 

Der  Comparativ  und  der  Superlativ  werden,  wie  im  Alt-  und 
Neufranzösischen,  durch  vorgesetztes  plus  und  le  plus  gebildet,  doch 
giebt  es  auch  hier  Ausnahmen:  meilleur,  pire,  greigneur  VIII,  4,  1; 
mineur  VIII,  2,  5 ;  ebenso  von  den  Adverbien :  moins,  mieulx,  pis, 
mais  F.  T.  15,  6;  40,  7;  G.  T.  27,  4. 

Man  verstärkt  die  Adjectiva  und  Adverbi«  durch :  tres,  si  tres, 
bien,  trop,  moult,  z.  B.  moult  me  fut  chiche  G.  T.  2,  7;  moult  ancien 
ib.  136,  2,  durch  par:  se  par  trop  n'erre  G.  T.  76,  7  und  durch  com- 
bien  in  der  Bedeutung  von  beaucoup  z.  B.  combien  Dieu  lui  pardonne 
doulcement  G.  T.  87,  4.  Dies  combien  verstärkt  auch  den  Compara- 
tiv z.  B.  combien  plus  fort  sei-a  que  le  devin  G.  T.  93,  4.  Ausser 
beaucoup  und  combien  gebraucht  man  zur  Verstärkung  des  Comparativ 
auch  trop  in  der  Bedeutung  „viel,"    z.  B.  Trop  plus  de  biens   que  de 


Francois  Villon.  277 

sante   G.    T.  10,    2;   qiii   bcaute    cut    trop    plus   qu'humaine   I,  1,   7; 
Les  biens  de  vons  sont  trop  plus  grans  que  etc.  VIII,  1,  7  etc. 

Die  Negation  wird  durch  ne  —  pas,  point,  mie  G.  T.  94,  7  aus- 
gedrückt, sehr  oft  durch  das  blosse  ne,  manchmal  durch  non:  non  fais 
G.  T.  3,  3;  que  non  fera  XV,  2,  8,  ja  sogar  durch  pas  allein  z.  B. 
mourray-je  pas  G.  T.  42,  G. 


Die  Zahlwörter. 

Cardin  alzahlen.  Wir  haben  deren  gefunden:  ung,  deux, 
troys,  quatre,  six,  sept,  huict  (huyt),  neuf,  unze,  douze,  quatorzc, 
quinze,  vingt,  trente,  quarante,  cinqnante,  soixante,  cent  (quatre  cents 
cinquante  et  six),  220:  unze  vingtz  G.  T.  97,  1;  142,  7;  300:  quinze 
vingtz  G.  T.  147,  1,  auch  trois  cens  ib.   147,  2. 

Ordinalzahlen:  premier,  tiers  II,  1,  1.  G.  T.  25,  4;  171,  1 ; 
le  quart  (Steuer)  XXXII,  3,  2;  les  fievres  quartes  G.  T.  98,  8;  un 
quartier  d'an  ib.  136,  5.  Die  übrigen  werden  regelmässig  durch  An- 
hängung von  iesme  gebildet. 


Die  Fürwörter. 

Die  persönlichen  Fürwörter  sind  fast  durchgängig  den  heutigen 
gleich,  doch  kommen  übrigens  dieselben  Formen  auch  schon  im  XII. 
und  XIII.  Jahrhundeit  vor.  Gemeinsam  mit  dem  AltfranziKsischen 
und  abweichend  von  dem  modernen  Gebrauch  ist  die  Erscheinung,  dass 
die  sogenannte  verbundene  und  unverbundeueFoim  promiscue  angewandt 
wird.  Das  beweisen  Stellen  wie:  Je,  Fran^^ois  P.  T.  1,  2 ;  ce  suis  je 
XXVni,  1,  1;  de  moy  retraire  G.  T.  55,  8;  pour  soy  soustenir  ib. 
67,  8;  pour  soy  desennuyer  ib.  157,  6;  pour  moi  pourvoir  XXVII, 
4,  2;  laisse  me  XXVIII,  1,  8. 

Das  Reflexivpronomen  vertritt  manchmal  das  Pronomen  der  drit- 
ten Person,  z,  B.  pour  eux  revencher  G.  T.  109,  8;  der  un)gekehrte 
Fall  findet  Statt  in:   pres  s'accouter  =  accoter  pres  eile  G.    T.  56,  5. 

Wenn  das  Subject  des  Verbs  schon  aus  der  Form  desselben  er- 
kannt wird,  so  wird  es  sehr  häufig  Aveggelassen,  z.  B.  (eile)  veult  et 
ordonne  P.  T.  5,  4 ;  si  n'y  voy  ib.  6,  2;  ce  croy  ib.  6,  6;  par  eile 
meurs    ib.  8,  2;   voire   l'apprendre  G.  T.  5,  6;   que    prions    ib.  4,   6; 


278  Fran9ois  Villon. 

tous  sonimes  ib.  43,  3 ;  son  seigneur  es  XXVIII,  4,  4 ;  pas  ne  devez 
XXV,  2,  1  etc. 

El  findet  sicli  als  Femininform  für  eile  P.  T.  6,  4 ;  XV,  3,  7. 

Das  Pron.  der  3.  Pers.  leur  hat  einmal  ein  s:  Ds  gi-asses  souppcs 
leurs  fais  oblation  G.  T.  IOC,  6,  während  einmal  das  possessivum  leur 
im  Plur.  kein  s  hat:  en  leur  vies  G.  T.  150,  2.  Wohl  nicht  aus  Be- 
wusstsein  der  Etymologie  illorum. 

In  dem  Possessivpronomen  unterscheidet  V.  nicht  mehr,  wie  im 
XII.  Jh.  den  Nominativ  mes,  tcs,  ses  u.  s.  w.  vom  Aceusativ  mon, 
ton,  son  etc.;  er  braucht  für  alle  Casus  die  Form  des  Accusativs.  Wie 
dort,  macht  aber  auch  er  keinen  Unterschied  zwischen  dem  substanti- 
vischen und  adjectivischen  Possessivpi'onomen  z.  B.  le  mien  cueur 
XI,  4,  2,  ebenso  le  mien  seigneur,  le  sien  corps  u.  s.  w.  vostre  je  suis 
XXXIX,  5,  6;  und  apostrophirt  ebenfalls  das  a  des  Femininums  ma, 
ta,  sa  vor  folgendem  Vocal,  statt  es  M'ie  heute  in  mon,  ton,  son  zu 
verwandeln  z.  B.  m'ame  G.  T.  8,  4;  m'amye  G.  T.  14,  8  etc.;  doch 
findet  sich  auch  schon  die  moderne  Form:  mon  entente  G.  T.  160,  1; 
mon  ordonnance  G.  T.  162,  5;  son  ame  ib.  162,  8;  mon  estatui'e  ib. 
163,  5  etc.  (diese  Anwendung  der  masculiua  mon,  ton,  son  statt  der 
Feminina  ma,  ta,  sa  ist  übrigens  auch  dem  Altfranzösischen  nicht 
fremd,  cf.  Diez  Gr.  II,  100). 

Statt  der  besitzanzeigenden  werden  manchmal  die  Genitive  der 
persönlichen  Fürwörter  genommen:  les  biens  de  vous  VII,  1,  6;  meres 
d'eux  G.  T.  124,  8;  au  son  de  luy  ib.  166,  8. 

Ausnahmsweise  vo  chapeau  für  votre  chapeau  XVI,  1,  2. 

Die  Demonstrativpronomina.  Wir  führen  die  substantivischen 
und  adjectivischen  zusammen  auf,  da  ihr  Gebrauch  keineswegs  schon 
streng  gesondert  ist. 

Sing.  masc.  ce,  cest,  eil,  celluy,  icelluy,  cestuy,  cestuy-la. 
fem.  ceste,  colle,  cette. 

neutr.  ce,  ilce  G.  T.  93,  8,  ice;  cecy  G.  T.  119,  1  ;  qui 
les  meut  a  ce  G.  T.  58,  1;  ce  obstant  que  =  ob- 
wohl P.  T.  15,  4;  ce  non  obstant  =  trotzdem  G. 
T.  82,  1;  pour  ce  ib.  85,  5;  avec  ce  ib.  89,  5  etc. 

Plur.  masc.  ces,  cez,  ceulx;  fem.  cestes,  icelies. 

Das  Relativpronomen:  N.  qui,  das  vor  folgendem  Vocal  apostro- 
phirt wird,  qu'est  =:  qui  est  G.  T.  78,  4  etc.;  lequel;  G.  dont;  D.  au- 
quel,  ou(]uel,  a  laquelle;  A.  que.      Plur.  qui;   G.  dont,   desquelz,   des- 


Francois  Villon.  '270 

quelles,  D.  auxquelz,  elles,  A.  quc.     Qiii  und  lequcl  werden  ohne  Un- 
terschied gebraucht. 

Das  Interrogativpronomen  ist  gleich  dem  relativuni. 

Die  unbestimmten  Fürwörter:  Für  ou  findet  man  hom  P.  T.  37, 
5;  tont,  toule;  rien  oder  ricns  G.  T.  13,  8;  obl.  riens  oder  ricn ;  quel- 
que;  autre ;  tel  (tieul  P.  T.  31,  5);  maint,  e;  aucun,  e  =  irgend  ein: 
aucunes  fois  P.  T.  37,  8;  s'aucun  nie  vouloit  reprendre  G.  T.  3,  1, 
ebenso  ib.  37,  3;  65,  4  etc.  d'aucune  chose  ib.  16,  2;  ebenso  G.  T. 
160,  6  ;  les  aucuns  —  Ics  autres  G.  T.  29,  5  ;  30,  1  etc.;  nul,  e  = 
irgend  ein;  s'il  y  a  nul  bout  qui  saille  G.  T.  28,  5;  substantivisch  im 
Plur. :  nuls  me  puissent  reprouchier  G.  T.  24,  4;  personne  (statt  ne 
—  personne:  ne  —  homme  V,  1,  6,  G.  T.  59,  o,  XXXIII,  2,  9); 
aultruy  (einmal  vor  das  iSubstantivum  gestellt:  en  aultruy  mains  G. 
T.  42,  4). 

Das    V  e  r  b  u  m. 

Die  Flexion  der  Personen. 

Sing.  Die  erste  Person  ist  der  Regel  nach  flexionslos  (die  Aus- 
nahmen bei  den  einzelnen  Conjugationen) ;  die  zweite  endigt  auf  s,  das 
sich  nach  d,  1,  t,  f,  e,  i,  u  in  z  verwandelt,  vor  dem  jedoch  statt  dessen 
die  Dentalen  häufig  ausfallen  (wie  beim  s  des  Substantivums);  die 
dritte  hatte  ursprünglich  überall  ein  t;  aber  dieses  t  hat  sich  nicht 
überall  erhalten ;  in  der  schwachen  Conjugation  fällt  es  im  Ind.  und 
Conj.  Präs.,  im  Ind.  des  Defini  und  des  Futurums;  bei  der  11.  und 
III.  schwachen  und  bei  allen  starken  im  Conjunctiv  des  Präs.  und  im 
Fut.  ab.  Plur.  ons,  ez,  nt. 

Bildung  der  Zeiten. 

Im  Präsens  verwandelt  sich  der  Stammvocal,  falls  er  einfach  ist, 
in  einen  Diphthong,  sobald  der  Ton  darauf  fällt.  Diese  Diphthongi- 
sirung  geschieht  in  folgender  Weise: 

a  wird  ai :   amer,  amons,  ame  —  aime ;  remanoir  —  je  remains. 
e      „     oi:  devoir  —  doibt;   esperer  —  j'espoir.      XXXIX,  II, 
4,  6. 


280  Francois  Villon. 

e  wild   ic:   ferir  —  fiert  G.  T.  122,  7;  fiere   (subj.)  IV,    1,  7; 
grever  —  griefve  G-.   T.  91,  4;  lever    —   lieve  ib. 
91,  8;  querir  —  quiers  VI,  5,  3  etc. 
ou     „     cu:   trouver  —  treuve  (subj.)  II,  3,  4;  couvrir  —  ceuvrc 
G.  T.  91,  5;  mourir  —  meurs  XVI,    24;   doloir  — 
je  me  deul  P.  T.  3,  4. 
Aber   sehr  häufig    bleibt  der  Diphthong   in   den    nicht   stammbe- 
tonten Formen,  z.  B.  aimons  etc.,   oder  er  ist  gar   nicht  eingetreten: 
je  trouve  etc. 

Das  Imparfait  endigt  immer  auf:  oie,  ois,  oit,  ions,  iez,  oient. 
In  Bezug  auf  das  Defini  cf.  die  einzelnen  Conjugationen. 
Das  Fut.  und  Cond.  werden  vom  Inf.  abgeleitet  durch  Anhängung 
von  ai,  as,  as  etc.  und  oie,  ois,  oit  etc. 

Die  schwachen  Conjugationen. 

I. 

Die  erste  Person  des  Sing,  des  Präs.  nimmt  sclion  oft  ein  flexi- 
visches  e  an,  nicht  nur,  wie  auch  im  Altfranzösischen,  wenn  der  Stamm 
auf  mehrere  Consonanten  ausgeht,  sondern  auch  sonst ;  man  findet  in- 
dessen noch:  je  reny  G.  T.  1,  8;  je  pry  G.  T.  63,  6  ;  j'appel  XXVI, 
3,  3. 

Die  3.  Pers.  Präs.  hat  überall  das  auslautende  t  verloren;  doch 
haben  sich  noch  einige  Spuren  desselben  im  Subjonctif  erhalten,  z.  B. 
von  donne:  doint  G.  T.  31,  1  und  6 ;  63,  7;  XXVIII,  5,  2;  XXXIII, 
2,  6;  XXXIX,  II,  4,  2  (aber  qu'il  pardonno  G.  T.  87,  4)  von  aider: 
ainsi  ni'aid  Dieux,  G.  T.  16,  4  und  aist  XXXIX,  5,  6.  (Aus  der 
starken  Conj.  puist  P.  T.  13,  7.) 

Im  Fut.  wird  das  e  des  Infinitivs  manchmal  unterdrückt;  donray 
G.  T.  127,  3;  demourra  ib.  38,  8. 

Unregelmässige  Verba :  aler:  Präs.  1.  voys,  voy  VII,  3,  3 ;  3.  va; 
PI.  2.  allez;  3.  vont;  subj.  aille  G.  T.  131,  3;  voyse  ib.  5,  6,  pl. 
voysent,  Imp.  alloit,  Fut.  ira,  Part,  allant,  alle. 

laisser  bildet  einige  Foi'men  von  laier  z.  B.  Fut.  1.  lairray  G.  T. 
33,  8  ;  3.  lairra  ib.  100,  6. 


Fraii(;'ois  Villoii.  281 


n. 


Der  Infinitiv  endet  auf  re,  das  part.  passe  auf  u,  das  Defini  auf 
i,  is,  it  u.  s.  w.  Unter  den  Verben,  die  sich  in  Villon's  Schriften  lin- 
den, gehören  folgende  zu  dieser  Conjugation :  batre,  couldre,  descendi'e, 
defendre,  esmouldre,  fendre,  fondre,  mordre,  pendre,  perdre,  rendre, 
respondre,  rompre,  sivre,  souldre,  absouldre,  tissre. 

Anni.  sivre  bildet  sein  Part,  passe  nach  der  III.  schwachen, 
d.  h.  auf  i. 

in  a.    Reine  Form. 

Diese  Conjugation  unterscheidet  sich  von  der  vorigen  nur  durch 
den  Infinitiv  (ir)  und  die  davon  abgeleiteten  Zeiten,  sowie  durch  das 
part.  passe,  welches  auf  i  endet.  Es  sind:  boillir  (bouillir),  couvrir, 
cueillir,  dormir,  ferir,  fouyr  (fuyr),  atfuyr,  deffuyr,  nientir,  offi'ir,  ouvrir, 
partir,  impartir,  saillir,  assaillir,  sentir,  consentir,  servir,  soufrir,  vestir. 

Einige  dieser  Verba  gehören  zu  gleicher  Zeit  der  zweiten  schwa- 
chen an,  indem  sie  das  part.  passe  auf  u  bilden,  z.  B.  feru,  vestu, 
boullu  VII,  3,  5  (Reim);  andre  neigen  sich  nach  der  starken,  indem 
sie  das  Particip  auf  ert  bilden,  dies  sind :  ouvrir,  couvrir,  offrir,   soufrir. 


III  b.     Gemischte  Form. 

Diese  Conjugation  stimmt  mit  der  vorigen  mit  Ausnahme  aller 
Formen  des  Präsens  und  des  Indic.  des  Imparf.,  wo  sie  den  Stamm 
durch  die  Inchoativendung  iss  (ursprünglich  isc)  verstärkt.  Es  ge- 
hören zu  ihr  folgende  Verba:  abolir,  adoulcir,  assouvir,  bannir,  bastir, 
convertir,  endurcir,  ensevelir,  esbahir,  esjouir,  espanir,  establir,  estour- 
dir,  finir  (Nebenform :  finer),  flestrir,  fournir,  fremir,  manir,  merir, 
meurdrir,  meurir,  mollir,  noircir,  nourrir,  pallir,  perir,  polir,  pourrir, 
punyr,  ravir,  refraichir,  refroidir,  remplir,  roidir,  rougir,  saisir,  tarir, 
transir. 

Anm.  Die  Nebenform  finer  z.  B.  P.  T.  39,  3  ib.  39,  8.  abolir 
bildet  das  part.  passe:  abolu  VII,  2,  2  (Reim). 

Unregelmässige  Verba:  faillir.  Präs.  fault,  PI.  faillent.  Subj. 
faille.     Imparf.  falloit.     Fut.  fouldra.     Part,  failly. 

hair:  Präs.  3.  hayt,  halt.     Cond.  herroit  G.  T.  84,  8. 


282  Fran9ois  Villoii. 

oir:  Präs.  1  oy  IV,  1,  1;  XXVIII,  1,  1;  3.  ot  G.  T.  68,  3; 
oyt  ib.  98,  7;  113,  2;  PL  2.  oyez  X,  3,  7.  Imperat.  oyez  XI,  4,  1. 
Dcfini  ouyz  P.  T.  35,  4;  Fut.  PI.  2  orrez  X,  3,  7;  XXI,  1,  4.  Part, 
ouy  XIII,  4,  o. 


Hülfsverba. 

avoir. 
Präs.  1.     ai,  ay.      2.  as.     3.  a.     PI.  1.  avons.      2.  avez.    o.  ont. 
Subj.  1.  aye.     3.  ait.     PL  ayons.     3.  ayent. 
Imperf,  1.  avoye.      3.  avoit.     PL  1.  avions.      Def.  1.  eu.    o.  eut. 
Subj.  1.  eusse.     2.  eusses.      3.  eust.     PL  3.  eussent. 
Fut.  1.  auray.     3.  aura.     PL  3.  auront.     Cond.  3.  auroit. 
Imperat.  ayez.     Part.  eu. 

estre. 

Präs.  1.  suys,  suis.  2.  es.  3.  est.  PL  sorames.  2.  estes. 
3.  sont. 

Subj.  soie,  soye.  2.  soyes.  3.  soit,  soy  IV,  1,  3.  PL  3. 
soient. 

Imp.  3.  estoit.     PL  1.  estions.      3.  esloient. 

Def.  1.  fuz,  fus.      3.  fut.     PL   1.  fusmes.      o,  furent. 

Subj.  1.  fusse.  2.  fusse  XXVIII,  3,  2.  3.  fust.  PL  2.  fussiez. 
3.  fussent. 

Fut.  1.  seray,  3.  sera.  PL  2.  serez.  3.  seront.  Cond.  3. 
seroit. 

Imperat.  soyes,  soyez,     Part,  estant,  este.     Inf.  estre. 

Starke  Conjugationen. 

Diese  unterscheiden  sicli  von  den  schwachen  im  Defini,  Conjunct. 
des  Imp.  und  im  Part,  passe.  Im  Uebrigen  richten  sie  sich  nach  der 
zweiten  schwachen.  Nach  dem  Defini  muss  man  drei  Classen  unter- 
scheiden : 

1)  solche,  die  im  Lateinischen  i  an  den  Stamm  hingen. 

*)     55       55    55  55       ^   55     55       55         « 

3)     55       5}    55  55      ^^   55     55       »  » 


Fran(,ois  Villon.  283 


I. 

faire.  Präs.  1.  faiz,  fais.     2.  faiz,  fais.    3.  faict,  fait.    PL  3.    fout. 

Subj.  3.  face.     PI.  2.  faciez. 

Def.  1.  feiz,  feis.  3.  fist  G.  T.  129,  7,  feit  VII,  2,  4.  PI.  3. 
firent. 

Subj.  1.  feisse.     PI.  3.  feissent. 

Fut.  1..  fcray.     PI.  3.  feront.     Cond.  feroye.     3.  feroit. 

Part,  faisaiit,  faict.     Imperat.  faiz,  fais.      PI.  faictes. 

tenir:  Präs.  1.  tiens,  tien  G.  T.  50,  7  (Reim)  XXXIX,  3,  6 
(Reim).  2.  tiens.  3.  tient.  PI.  1.  tenons.  3.  tiennent.  Subj. 
tienne. 

Fut.  maintendray  XXXVI,  3,  6.     PI.  3.  tiendront. 

Cond.  tiendroit.     PI.  3.  tiendroient.     Part,  tenant,  tenu. 

venir:  Präs.  2.  viens.     3.  vient. 

Subj.  1.  vienne.     3.  vienge  G.  T.  G9,  4. 

Def.  3.  vint. 

Fut.  viendra.     PI.  2.  viendrez.      3,  viendront. 

Imperat.  venez. 

Part,  venant,  venu. 

veoir:    Präs.    1.   voy.       o.  voyt,  voit.      PI.    3.   voyent. 

Subj.  voye. 

Def.  1.  vey.  G.  T.  124,  8;  vy  XIII,  1,  8.  3.  veit;  pourvcut 
G.  T.  13,  6. 

Imperat.  voy  XXVIII,  3,  5  ;  XXXVI,  1,  8. 

Part,  voyant,  veu. 

11. 

ardoir:  Präs.  3.  ard.  Subj.  3.  arde.  Def.  ardiz  XXXVI,  2,  1. 
Part.  ars.  G.  T.  21,  5.     Inf.  ardre. 

ceindre:  Präs.  1.  ceings.      3.  ceinct. 

clore:  Präs.  1.  concludz  G.  T.  50,  3.  clost  XXI,  1,  1.  Subj. 
3.  cloue  G.  T.  86,  5  (Reim).  Fut.  PI.  3.  conclurent.  Part,  enclos 
XXXVIII,  4,  7.     Inf.  dorre,  forclorre. 

creindre:  Präs.  1.  crains.      3.  craint.     Part,  craint. 

cuire:  Part,  cuysant,  cuict. 

destruire:  Präs.  3.  destruict. 


284  Fran^ois  Villon. 

dire:  Präs.  1.  dy  G.  T.  23,  5;  dys,  dis  ib.  24,  6;  37,  1;  2.  dis; 
3.  dit.  Snhj.  1.  die.  3.  die.  Def.  1.  dis.  3.  dit.  Fat.  diray. 
PI.  3.  diront.    Condit.  3.  diroit.   Imperat.  dys,  dictes.    Part,  disant,  dict. 

duire :  Präs.  3.  duit. 

escrire:  Präs.  l.  escrys.  3.  escript.  Iraper.  escrys,  escry  G.  T. 
168,  8.     Part,  escrivant ;  escript. 

estaindre:  Präs.  3.  estainct. 

estraindre :  Präs.  3.  estrainct. 

feindre :  Part,  feignant,  fainct. 

fonyir  (fodere) ;  Imp.  Subj.  1.  fouysse  XI,  3,  7.  Inf.  fouyr 
XXXVI,  1,  5. 

freindre:  Präs.  3.  enfraint. 

fi-ire:  Präs.  3.  frit. 

joindre;  Präs.  1.  joinctz,      3.  Joint.      Part,  joignant,  Joint. 

manoir:  Präs.  1.  remains  IV,  3,  2.     Part,  remenant. 

mettre:  Präs.  1.  mectz,  ruetz.  Subj.  mette.  Def.  mys.  3.  raist, 
mit,  meist  G.  T.  87,  5.  Imp.  3.  mettoit.  Fut.  mettray.  Cond.  PI. 
3.  mettroient.     Imperat.  metz,  niects.     Part,  mys,  mis. 

occire :  Def.  occist.     Part,  occis. 

paindre:  Präs.  3.  painct. 

plaindre:  Präs.  1.  plaings.      3.  plaint. 

poindre:  Imp.  3.  espoignoit. 

prendre:  Präs.  1.  prens.  2.  prens.  3.  prend.  PI,  2.  prenez. 
Subj.  preigne  G.  T.  9,  6.  Döf.  3.  prit.  PI.  3.  prindrent  G.  T.  .51, 
5.      Fut.  prendra.     Imperat.  prens.     Part,  prenant,  prins. 

querir:  Präs.  quiers.  Def.  3.  conquist.  Imperat.  enquerez.  Part, 
querant,  requis;  aquest  XVI,  3,  8;  XVII,  1,  7. 

raire:  Part,  rez  XIX,  1,  5. 

rire :  Präs.  1.  riz.  3.  rit.  Subj.  rie.  Subj.  des  Imp.  risse. 
Part,  riant. 

seoir:  Präs.  3,  assiet.  Iraperat.  siez -toi  G.  T.  69,  3.  Part, 
seant ;  assis. 

teindre :  Präs.  3.  estainct,  distainct. 

traire:  Part,  con-,  ex-,  pour-,  re-traict. 

UI. 

aherdre:  G.  T.  73,  3. 

boire:  Präs.  3.  boyt.     PI.  3.  boivent.     Imp.  3.  beuvoit.     Def.  3. 


Fran9ois  Villon.  .  285 

but.  PL  2.  bustes.  3.  beurent.  Subj.  1.  beusse.  Imperat. 
beuvez. 

braire:  Präs.  3.  brait. 

chaloir:  Präs.  3.  chault.     Subj.  3.  chaille, 

cheoir :  Präs.  3.  chet.  Subj.  3.  chee  contre  les  Sav.  3,  7.  Part, 
cheu  IV,  8,  2. 

cognoistre:  Präs.  1.  coguoys,  cognois.  Def.  1.  cogneuz  XIII, 
1,  9.    Fut.  3.  cognoistra. 

courre:  Präs.  3.  court.  Subj.  coure.  Des  Inip.  3.  courrust. 
Inf.  courre,  courir. 

croire:  Präs.  1.  croy,  croys  G.  T.  24,  6.    3..croit. 

croistre :  Part,  creu,  recreu. 

de-,  re-,  aper-cevoir:  Präs.  1.  aperc^^oy.  3.  reroit.  PI.  2.  recevez. 
Def.  receut.     Part,  re-,  con-ceu. 

devoir:  Präs.  1.  doy.  2,  dois.  3.  doibt,  doit.  PI.  3.  doivent. 
Subj.  des  Imp.  3.  deust. 

doloir:  Präs.  1.  Je  me  deul  P.  T.  3,  5. 

geindre  (geniere):  Präs.  1  geins  XV,  3,  8. 

gesir:  Präs.  1.  gis,   gyz.     3.  gist,  gyst.     Part,  gisant,  geu. 

lire:  Präs.  Subj.  lise.  Def.  leuz  VII,  3,  2  (Reim).  Fut.  liray. 
Part.  leu. 

morir :  Präs.  1.  nieurs.  3.  nieurt.  Subj.  meure.  Def.  3.  mou- 
rut.  Fut.  1.  mourray.  3.  mourra.  PI.  3.  mourrez.  Part,  mourant, 
mort. 

mouvoir:  Präs.  3.  nieut.     Part,  meu  XI,  1,  2. 

nuire:  Imp.  nuysait.     Def.  nuyst  G.  T.  137,  2. 

paistre :  Part,  peu  G.  T.  2,  5.     Inf,  paistre  V,  3,  4. 

paroir:  Präs.  3.  appert  G.  T.  52,  2. 

paroistre:  Präs.  3.  comparoist,  apparoist. 

plaire:  Präs.  3.  piaist  G.  T.  34,  4.    Subj.  plaise.    Part,  plaisant. 

pouvoir:  Präs.  1.  puis  G.  T.  24,  7.  3.  peult.  Subj.  3.  puist 
P.  T.  13,  7.   Def.  1.  peuz.    Subj.  1.  peusse,    Fut.  pourray.    Part.  peu. 

ramentevoir:  Präs.  ramentoy  G.  T.  137,  8. 

absoudre:  Part,  absol  G.  T.  152,  8. 

savoir:  Präs.  1.  S9ay.  3.  s^ait,  scet.  Def.  3.  sceut.  PI.  2. 
sceustes.  Subj.  3.  S9ust.  PI.  3.  s^ussent.  Fut.  PI.  3.  s^auront. 
Imp.  sfjaches,  sachez,  sachiez.     Part,  saichant,  sceu. 

souloir:  Imp.  souloit.     PI.  2.  souliez. 


286  Fran9ois  Villon. 

taire:  Präsens  1.  tayz.     3.  taist. 

tolre:  Präsens  3.  toul  XXXIX,  6,  4.  Particip  (schwach)  tollu 
IV,  2,  1. 

valoir:  Präs.  3.  vault.  Subj.  vaille.  Def.  1.  vahiz.  3.  vahit. 
Subj.  3.  vaulsist  G.  T.  16,  2,  XVI,  1,  7.  Fnt.  PI.  2.  vauldrez. 
Cond.  3.  vauldroit.     Part,  vaillant,  valu. 

vouloh-:  Präs.  1.  vueil  G.  T.  4,  3  ;  6,  1 ;  veulx  G.  T.  85,  2; 
2.  veiix.  3.  veult,  veut.  PI.  3.  venlent.  Subj.  vueille.  Imp.  3. 
vouloit.  Subj.  1.  voulsisse.  3.  voulsist.  Def.  voult  VI,  3,  3;  4,  1; 
XXI,  1,  8.  PI.  3.  voulurent,  Fut.  3.  vouldra  PI.  2.  vouldrez.  Cond. 
1.  vouldroye.  3.  vouldroit.  PI.  3.  vouldroient.  Imperat.  veuillez, 
vouillies  VII,  2,  8. 

Unregelmässige  Verba. 

benoistre:  Part,  benoisl  G.  T.  7,  1  etc. 
naistre:  Def.  PL  3.  nasquhent.     Part.  ne. 

vivre:  Präs.  2.  viz.  3.  vit.  PI.  2.  vivez.  3-  vivent.  Subj.  1. 
vive.      3.  vive.     PI.  vivent.     Fut.  vivra.     Part,  vivant. 


Die    Syntax. 

Die  Syntax  Villon's  ist  die  des  Altfranzösischen.  Wir  begnügen 
uns  damit,  einige  hervortretende  Punkte  hervorzuheben,  nachdem  wir 
über  den  Gebrauch  des  Artikels ,  der  Negation  und  der  Pronomina 
schon  in  der  Formenlehre  die  wesentlichsten  Abweichungen  erwähnt 
haben.  Zur  Negation  möchten  wir  hinzufügen,  dass  der  Dichter,  wie 
im  Altfranzösischen  und  wie  heute,  auf  einen  Comparativ  que  —  ne 
folgen  lässt:  Pour  moins,  qu'ilz  ne  couterent  neufz  P.  T.  31,  7.  Trop 
plus  que  cy  ne  le  racompte  G.  T,  4,  2  etc.;  ne  que  braucht  er  in  der 
Bedeutung  von  „nicht  mehr  als"  z.  B.  Je  ne  suis  homme  sans  defFault 
Ne  qu'autre  d'assier  ne  d'estaing  P.  T.  8,  3  und  4,  ferner  im  Refrain 
der  5.  Ballade,  z.  B.  Car  vieilles  n'ont  ne  cours  ne  estre  Ne  que  mon- 
noye  qu'on  descrie  V,  1,  7  u.  8  oder  Laide  vieillesse  amour  n'impetre 
Ne  que  etc.  V,  3,  7.  u.  8.  Dasselbe  afr.  z.  B.  Chev.  au  lion  1034: 
veoir  ne  le  poi'ra  nus  hom,  ne  que  le  fust,  qui  est  coverz  de  l'escorce. 
Dass  endlich  ne  noch,  wie  in  der  altern  Sprache  in  der  Bedeutung  von 
„und"   angewendet   wird,   kann   durch   viele   Beispiele   belegt   werden: 


Fran(?ois  Villon.  287 

Dictes-rnoi  oü  n'en  quel  pays  I,  1 ;  Pourquoi  si  tost  nasquirent  n'ä 
quel  droit  G.  T.  46,  6  ;  Quelque  doulx  baiser  n'accollce  ib.  54,  5  ; 
Qui  luy  lairra  escu  netarge  ib.  80,  8 ;  Plus  pesante  Que  duvet  ne  plume 
ne  liege  ib.  103,  1  u.  2;  Tenir  k  vil  ne  sot  XV,  1,  2.  Qui  les  bat 
ne  fiert  G.  T.  122,  7;  Plus  haultement  qu'orge,  trompe  ne  cloche 
XXVII,  0,  '6.     Pire  qu'ours  ne  pourceau  XXVII,  3,  8. 

Das  Relativum  hat  bei  Villon  noch  eine  freiere  Anwendung  und 
theilweise  andere  Bedeutung  als  heute.  So  steht  qui  für  „wenn  dieser" 
oder  ,,wenn  man"  in:  Se  Dieu  m'eust  donne  rencontrer  Ung  autre 
piteux  Alexandre  Et  lors  qui  m'eust  veu  condescendre  A  mal ,  juge 
me  fusse  etc.  G.  T.  21,  1  sq.  Aehnlich  in:  Cecy  piain  est  de  des- 
raison  Qui  vueille  que  du  tout  desvie  XVIII,  2,  1  und  2;  (Je)  vueil, 
qu'autour  de  ma  fosse  ce  que  s'ensuyt,  soit  escript,  Et  qui  n'auroit 
point  descriptoire,  De  charbon  soit  G.  T.  164,  1  sq.;  Toufe  beste  garde 
sa  pel,  Qui  la  contrainet,  efforce  ou  lye  S'elle  peut,  eile  etc.  XXVI, 
1,3;  Qui  vous  ayme,  mademoiselle,  Ja  ne  coure  sur  luy  envieXXXIX, 
II,  4,  4. 

Einen  auffallenden  Gebrauch  des  Reiativums  bemerken  wir  P.  T. 
9,  3  u.  4.  Et  de  la  gloriose  mere  Par  qui  grace  riens  ne  perit  (per 
cujus  gratiam). 

Das  Zeichen  des  Dativs  ist  weggelassen  in:  Ma  nomination  .  .  . 
laisse  paouvres  clercs  P.  T.  27,  5.  Dieser  Gebrauch  ist  sehr  alt,  er 
findet  sich  schon  in  den  strassburger  Eiden :  qui  (plaid)  eist  meon 
fradre  Karle  in  damno  sit ;  que  (sagrament)  son  fradre  Karlo  jurat. 
Ebenso  später  z.  B.  Chev.  au  lyon  286  „qui  resanbloit  mor;"  ib.  895 
„promesse,  que  (il)  son  cosin  avoit  promise"  etc. 

Gebrauch  des  Conjunctivs:  In  Wunschsätzen  wird  das  que  des 
Conjunctivs  fast  durchgängig  fortgelassen,  z.  B.  voise  l'apprendre  G. 
T.  5,  6;  loue  soit-il  G.  T.  7,  7;  Respit  ils  ayent  en  paradis  G.  T. 
29,  7;  vaille  que  vaille  =  es  gelte  was  es  wolle  ib.  47,  3;  Si  aille 
veoir  ib.  131,  1  ;  Vente,  gresle,  gelle  XV,  4,  1.  Der  Conjunctiv 
vertritt  femer  oft  das  Imperfectum  P^ituri  und  findet  daher  seine  Haupt- 
anwendung in  hypothetischen  Satzgefügen,  deren  Inhalt  als  nicht  ver- 
wirklicht gedacht  wird,  und  zwar  tritt  dieser  Conjunctiv  nicht  nur  in 
dem  Hauptsatz,  sondern  ebenfalls  abweichend  von  dem  Neufranzösi- 
schen, auch  in  dem  Bedingungssatz  selbst  auf:  Se  .  .  .  le  bien  publique 
D'aucune  chose  vaulsist  myeulx,  .  .  .  A  mourir  ...  Je  me  jugeasse 
G.  T.  16,  1  sq.;   Se  comme  toy  me  peusse  armer,  Comme  toy  empe- 


288  Francois  Villon. 

reur  je  fusse  ib.  18,  7  u.  8 ;  Se  Dieu  m'eust  donne  rencontrer 

Juf^e  ne  fusse  ib.  21,  1  sq.;  Se  j'eusse  estudie  ....  J'eussc  maisou 
ib.  26,  1  sq.;  Se  fusse  deshoirs  Hue  Capel  ...  On  ne  m'eust  etc. 
XXVI,  2,  1;  dasselbe  auch  mit  Weglassung  des  si:  Creature  feusse 
niorte,  Ne  feust  vostre  douice  naissance  XXXIX,  II,  4,  2  u.  3. 

Auch  im  Uebrigen  ist  der  Gebrauch  des  Indicativs  und  des  Con- 
junctivs  noch  nicht  so  genau  abgegrenzt,  wie  heut  zu  Tage.  So  fin- 
den wir:  J'ordonne  qu'ils  seront  P.  T.  25,  7;  Jusqu'il  mourra  G.  T. 
11,  7;  mais  que  für  das  heutige  pour  vu  que,  combien  que  in  der  Be- 
deutung von  quelque  —  que  oder  combien  zwar  meist  mit  dem  Con- 
junctiv,  z.  B.  Mais  que  j'aye  faict  mes  estrenes,  Honneste  mort  ne  nie 
deplaist  G.  T.  42,  7  und  8 ;  Combien  qu'il  soit  rudement  faict  ib. 
78,  7;  Combien  qu'elle  ait  assez  monnoye  ib.  80,  4;  Combien  qu'il 
n'ayme  bruyt  ne  noyse  ib.  90,  7  ;  combien  que  n'ayez  pied  ne  langue 
XXIX,  5,  2.  Aber  wir  finden  auch  den  Indicativ:  Combien  que 
cueur  n'est,  qui  G.  T.  166,  3;  Quoique  fusmes  occis  XXV,  2,  2; 
Quoyqu'on  tient  XIV,  1,  1;  Ains  que  (antequam)  cessez  XVII,  4,  3, 
wo  wir  tmbedingt  den  Subj.  erwarten  würden. 

Das  mit  avoir  zusammengesetzte  Part,  passe  richtet  sich  nicht 
immer,  wie  in  der  modernen  Sprache,  nach  dem  vorangehenden  Ob- 
jectsaecusativ ,  z.  B.  ä  celle  que  j'ai  dict  P.  T.  10,  1 ;  que  (nämlich 
franchise)  beaute  m'avait  ordonne  IV,  2,  2 ;  ma  vielle  ay  mis  G.  T. 
60,  5  etc. ;  andrerseits  finden  wir  auch  das  Umgekehrte :  Que  toutes 
mes  hontes  j'eu  beues  G.  T.  1,  2;  „Pourquoi  m'as  tu  abatu"  sagt  die 
„belle  Heaulmiere"  IV,  1,  6.  Qui  m'as  ma  maitresse  ravie  XVIII, 
1,  2.  La  chair  que  trop  avons  nourrie  XXV,  1,  6;  La  pluye  nous 
a  debuez  et  lavez  XXV,  3,  1.  Ja  sogar  gegen  die  heutige  Regel: 
Corbeaux  nous  ont  arrachez  la  barbe  et  les  sourcilz  XXV,  3,  3. 

Infinitiv.  Er  findet  sich  manchmal  allein,  wo  die  neuere 
Sprache  de  oder  ä  davor  setzen  würde:  Se  Dieu  m'eust  donne  rencon- 
trer G.  T.  21,  1;  Plaise  au  doulx  Jesus  les  absouldre  ib.  151,  8; 
wenn  das  substantivische  Object  zwischen  de  und  den  Infinitiv  tritt, 
so  kann,  wie  im  Altfranzösischen,  das  de  mit  dem  folgenden  Artikel 
zusammengezogen  werden:  On  parle  des  (de  les)  champs  labourer 
XXXIV,  1,  1.  Der  Infinitiv  wird  auch  declinirt:  au  tanser  G.  T. 
46,  8.  Zu  bemerken:  Par  force  de  vin  boire  P.  T.  36,  2  (heute  ä 
force  do). 

Advcrbia.     tout  „ganz"  richtet  sich  immer  nach  dem  Adjectir, 


Fran9ois  Villon.  289 

das  es  verstärkt:  A  troys  petitz  enfans  tous  ntidz  P.  T.  25,  2.  Tous 
deschaussez,  tous  despouveuz  ib.  25,  4,  Les  autres  mendient  tous 
nudz  G.  T.  30.  3.  Das  Adverbium  adjectivisch  gebraucht  in:  Au 
tenips  jadis  G.  T.  29,  3  ;  Assez  monnoye  G.  T.  80,  4.  Sonst  zu  be- 
merken: J'ay  dit  devant  P.  T.  2,  1;  Saillez  avant  XXVII,  3,  2; 
Puis  9a  —  pnis  lä  XXV,  3,  6  (tantöt  —  tantöt).  Tant  d'esperit  que 
de  nature  XXXIX,  11,  1,  4  (autant  —  que).  Eine  andere  Eigen- 
thümliehkeit  endlich,  welche  an  die  Sprache  des  XII.  u.  XIII.  Jahr- 
hunderts erinnert,  erscheint  in  gewissen  adverbialen  Ausdrücken ,  in 
welchen  der  ganze  Inhalt  eines  Begriffes  so  bezeichnet  wird,  dass  man 
gleichsam  nur  die  beiden  äussersten  Grenzen  angiebt,  ein  Gebrauch, 
der  auch  bei  den  mittelhochdeutschen  Dichtern  bekanntlich  sehr  beliebt 
ist,  z.  B.  arm  unde  rieh,  junc  unde  alt  etc.,  für  „alle  Welt,  alle  Men- 
schen, Alle"  u.  s.  w.  Solcher  Wendungen  finden  wir  auch  bei  Villon 
in  Menge:  ne  mont  ne  vallee  P.  T.  14,  3;  qui  ne  mange  figue  ne  date 
ib.  40,  3 ;  il  n'a  tente  ne  pavillon  ib.  40,  5 ;  tant  qu'il  a  de  long  et  de 
le  G.  T.  8,  6  ;  sans  croix  ne  pile  ib.  13,  2  ;  grief  ne  faiz  ä  jeune  ne 
vieulx  G.  T.  16,  5;  Les  montz  ne  bougent  n'avant  n'arriere  ib.  16, 
8;  Engrillone  poulces  et  detz  ib.  17,  4;  aux  aultres  ne  fault  qui  ne 
quoy  ib.  31,  7;  prenez  ä  dextre  et  ä  senestre  V,  1,  5  ;  face  argent  a 
dextre,  k  senestre  G.  T.  126,  7;  ä  Reimes  et  a.  Troyes  (überall)  ib. 
53,  6;  qui  n'y  laissast  linge  et  drapelle  ib.  59,  5 ;  je  la  deffie  ä  feu  et 
ä  sang  ib.  60,  2;  qui  boivent  pourpoinct  et  chemise  ib.  73,  6;  il  n'aura 
quid  ne  quod  G.  T.  172,  2  ;  Des  petits  et  grans  XXXVIII,  4,  3. 

Auch  in  Bezug  auf  die  Präpositionen  bemerken  wir  manche  Ab- 
weichung von  dem  heutigen  Sprachgebrauch;  s:>  finden  wir  dessus  la 
terre  P.  T.  23,  5;  Quant  de  prouesse,  il  en  a  trop  G.  T.  8,  3 ;  Quant 
est  des  corps  G.  T.  151,  2  ;  Quant  de  la  chair  XXV,  1,  6  etc. 

Dass  endlich  die  Wortstellung  eine  durchaus  freie  ist,  ganz  wie 
im  Altfranzösischen,  braucht  wohl  kaum  durch  Stellen  belegt  zu  wer- 
den, es  geht  schon  aus  den  bis  jetzt  gegebenen  Beispielen  deutlich  her- 
vor: Einige  auffallende  Stellungen  verdienen  vielleicht  noch  bemerkt  zu 
werden,  so:  N'au  bout  d'icelluy  doiz  aherdre  =  ni  toucher  au  bout  du 
doigt  de  celui-ci  G.  T.  73,  3;  Soy  jeune  fille  souhaitter  =z  souhaiter, 
qu'elle  soit  jeune  fille  IV,  1,  3.  Fast  durchgängig  findet  man,  dass, 
wenn  ein  Verbum  einen  Infinitiv  regiert,  das  zu  diesem  Infinitiv  ge- 
hörige Subjects-  oder  Objectspronomen  vor  das  Verbum  statt  zwischen 
das  Verbum  und  den  Infinitiv  tritt,   ein  Gebrauch,   der  im  Neufranzö- 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    XLVIII.  19 


290  Fran9oIs  Villon. 

sischen  bekanntlich  auf:  faire,  laisser,  entendre  und  voir  beschränkt 
ist.  Dahin  gehört:  Se  me  peusse  armer  G.  T.  18,  7;  que  Ton  ne  me 
viengne  espier  ib.  69,  3 ;  quand  ii  s'alloit  coucher  X,  3,  2  etc. 

Fassen  wir  nun  die  Hauptpunkte,  welche  die  Sprache  Villon's 
von  der  des  zwölften  Jahrhunderts  unterscheiden,  zusammen : 

1)  Viele  etymologische  Buchstaben  sind  eingefügt  worden,  ohne 
dass  sie  indessen  gesprochen  würden  (cf.  die  Reime). 

2)  E  vor  einem  betonten  Vocal  verliert  seinen  Werth,  wenngleich 
es  noch  geschrieben  wix'd.  So  zählt  es  nicht  mehr,  wie  im  Altfranzö- 
sischen, für  eine  Silbe  in :  eage,  eust,  eu,  eur  (augurium),  veoir,  asseoir, 
meur  u.  s.  w.,  so  wie  in  der  Endung  eur  (afi-.  eor),  es  fallt  selbst  für 
das  Auge  in  den  Endungen  oir  (afr.  eoir),  ure  (afr.  eure). 

3}  Die  Regel  des  s  ist  fast  immer  vernachlässigt,  wo  sie  noch 
angewendet  erscheint,  geschieht  dies  ohne  klares  Bewusstsein. 

4)  Die  Auslassung  der  Präposition  „de,"  um  einen  Besitz  zu  be- 
zeichnen, sobald  es  sich  um  Personen  handelt,  findet  nicht  mehr  so 
häufig  Statt,  wie  früher. 

5)  Alle  Adjectiva,  selbst  die,  welche  aus  der  lateinischen  dritten 
Declination  stammen,  haben,  bis  auf  wenige  Ausnahmen,  eine  beson- 
dere Form  für  das  Femininum. 

6)  Die  Regel  von  der  Diphthongisirung  wird  nicht  mehr  durch- 
gängig beobachtet  (cf.  die  Conjugationen). 

7)  Unorganische  Buchstaben  treten  auf:  z.  B.  e  in  dem  Ind.  des 
Präs.  in  der  I.  schwachen  (das  sich  im  Altfrz.  nur  nach  mehrfacher 
Consonanz  findet),  s  in  derselben  Form  der  II.  und  III.  schwachen  so 
wie  in  allen  starken  (j'entends  G.  T.  38,  5;  je  deffens  ib.  119,  2;  je 
fendz  ib.  119,  5  ;  je  sens  P.  T.  11,  2;  G.  T."  69,  1;  je  mentz  G.  T. 
127,  2;  je  sers  XV,  1,  1;  je  tiens,  viens,  ceings,  concludz,  crains  etc. ; 
regelmässig  sind  dagegen  noch :  j'oy,  jedi,  croy,  aper^oy,  doy,  ramen- 
toy,  s^ay,  vueil  etc.).  Das  c  der  Endung  der  ersten  Person  des  Im- 
perf.  und  des  Condit,  „oie"  ist  noch  nicht  durch  s  verdi'ängt. 

Wenn  wir  nun  in  wenigen  Worten  das  Resultat  unserer  gramma- 
tischen Untersuchung  zusammenfassen,  so  werden  wir  constatiren,  dass, 
wie  das  ganze  XV.  Jahrhundert  eine  Uebergangsepoche  ist,  so  auch 
die  Sprache  desselben,  so  weit  sie  durch  Villon  vertreten  wird,  sich  in 
einem  Uebergangsstadium  des  Alt-  zum  Neufranzösischen  befindet, 
dass,  wenngleich  Villon  noch  in  vielen  Fällen  die  Schreibweise  frühe- 
rer Jahrhunderte  befolgt,  er  es  doch  nur  gleichsam  aus  Instinct  und 
nicht  mit  Bewusstsein  thut ,  endlich  dass  er  in  der  Syntax  sich  dem 
Alten  weit  mehr  nähert  als  in  der  Formenlehre  und  innerhalb  der 
Formenlehre  wieder  mehr  in  der  Conjugation  als  in  der  Declination. 


Rechtsalterthümer  aus  dem  Rolaiidsliede. 

Von 

Dr.  Bresslau  in  Frankfurt  a.  M. 


Wiederholentlich  ist  in  neuerer  Zeit  darauf  hingewiesen 
worden,  ein  wie  reicher  Schatz  von  Quellenmaterial  für  die  Ge- 
schichte des  Mittelalters,  seines  Eechtslebens,  seiner  häuslichen 
und  Familiensitten,  seiner  Cultur  überhaupt  in  den  mittelalter- 
lichen Gedichten  lyrischen  oder  mehr  noch  in  denen  epischen 
Inhalts  verborgen  liegt  und  nur  des  rüstigen  Schatzgräbers 
harrt,  um  an's  Tageslicht  gezogen  zu  werden.  Hier  wie  auf 
so  vielen  anderen  Gebieten  hat,  für  das  deutsche  Mittelalter  we- 
nigstens, Jacob  Grimm  Bahn  gebrochen,  und  seine  unübertrof- 
fenen deutschen  Kechtsalterthümer  haben  gezeigt,  Avie  sehr  für 
die  wissenschaftliche  Erforschung  jener  Epoche  aus  einem  ge- 
nauen Studium  ihrer  literarischen  Productionen  Förderung  und 
Weiterführung  zu  erwarten  sei.  Mit  Beschränkung  auf  einzelne 
Gedichte  ist  sodann  an  seine  Bestrebungen  später  wiederholt 
angeknüpft  worden.  So  hat  Prof.  Gengier  in  Erlangen  im  3. 
Jahrgange  der  Zeitschrift  für  deutsche  Culturgeschichte  eine 
übersichtliche  Darstellung  von  Rechtsalterthümern  der  Nibelun- 
genlieder gegeben,  während  Prof.  Rieh.  Schöne  in  Bonn  zu- 
nächst in  Haupt's  Zeitschr,  f.  deutsches  Alterthum  und  sodann 
in  der  Zeitschr.  f.  Rechtsgeschichte  ein  Gleiches  besonders  mit 
Bezug  auf  die  Werke  Konrads  von  Würzburg  versucht  hat. 

Die  nordfranzösische  Literatur  ist,  von  einer  Schrift  abge- 
sehen, meines  Wissens    bisher    in  dieser  Beziehung    noch  nicht 

19* 


292  Rechtsalterthümer  aus  dem  Rolandsliede. 

ausgebeutet  worden.  Einzelnes  zAvai'  hat  Imm.  Bekker  in  den 
Monatsberichten  der  Berhner  Akademie  gegeben,  aber  doch 
vorzugsweise  aus  ganz  anderen  Gesichtspuncten,  und  nur  um 
die  Unterschiede  und  die  Berührungspuncte  der  ahfranzösischen 
und  der  Homerischen  Epik  nachzuweisen.  Arbeiten  dagegen 
in  der  Art  derjenigen  von  Gengier  und  Schöne  sind  mir  wenig- 
stens nicht  bekannt  geworden.  Entbehre  ich  so  aller  Vorarbei- 
ten, Avenn  ich  im  Nachfolgenden  versuchen  werde,  Einiges  über 
Kechtsalterthümer  im  Rolandsliede  zusammenzustellen ,  so  wird 
das,  hoffe  ich,  die  Mängel  meiner  Darstellung  zu  entschuldigen 
geeignet  sein. 

An  und  für  sich  könnte  freilich  grade  die  Chanson  de  Ro- 
land für  eine  solche  Untersuchung  wenig  geeignet  erscheinen. 
Von  geringem  Umfange  —  sie  umfasst  bekanntlich  nur  c.  4000 
Verse  —  bietet  das  Gedicht  schon  deswegen  ein  geringeres 
Material  für  unsern  Zweck  dar,  als  andere  Lieder  von  doppel- 
ter und  dreifacher  Verszahl.  Dazu  kommt,  dass  der  grössere 
Theil  derselben  aus  Schilderungen  von  Schlacht-  und  Kriegs- 
scenen  besteht,  aus  denen  grade  für  Rechtsverhältnisse  wenig 
zu  schöpfen  ist.  Wenn  ich  nichtsdestoweniger  die  Chanson  de 
Roland  gewählt  habe,  so  ist  der  Hauptgrund  dafür  der,  dass 
dies  Lied  vielleicht  als  das  älteste  afr.  Epos  angesehen  werden 
darf,  und  dass,  weil  es  bis  in's  IL  Jahrh.  zurückreicht,*  d.  h.  in 
eine  sonst  quellenarme  und  wenig  bekannte  Zeit,  die  hier  aus- 
gesprochenen Anschauungen,  wenn  auch  spärlich,  doch  ein  um 
so  höheres  Interesse  in  Anspruch  nehmen. 

Meine  Citate  beziehen  sich  auf  die  Ausgabe  von  Theodor 
Müller,  Göttingen  1863.     8. 

I.     Der  König. 

Ich  beginne  mit  dem  König. 

An  der  Spitze  des  Reichs  als  Träger  der  Herrschaft  steht 
der  reis,  der  König,  nostre  emperere  magne  (1).  Er  ist  es, 
welcher  das  ganze  Frankenreich  inne  hat,  li  reis  qui  dulce  France 


*  Einzelnes  freilich  wird  noch  aus  viel  früherer  Zeit  stammen:  aber  die 
Abfassung  des  Gedichtes  wird  man  doch  keinenfalls  höher  hinauf  setzen 
können. 


Rechtsalterthümer  aus  dem  Rolandsliede.  293 

tient  (115).  Denn  France  gilt  hier  noch  nicht  im  Sinne  des 
späteren  Frankreichs :  Ost-  und  Westfranken  sind  noch  nicht 
geschieden,  Karl  ist  emperere  des  Frances  (2658)  ganz  im  Sinne 
der  alten  Frankenherrschaft.  Daher  sind  denn  auch  Francs, 
la  gent  de  France,  les  Franceis  die  üblichen  Ausdrücke,  wenn 
von  dem  ganzen  Volke  ohne  Unterschied  der  einzelnen  Stämme 
die  Rede  ist.*  Und,  was  sehr  zu  beachten,  Karl  ist  emperere 
des  Francs:  von  einem  römischen  Kaiser  weiss  der  Dichter 
überall  nichts.  Zwar  gehört  auch  das  Gebiet  von  Rom  zum 
Reiche  Karl's,  dem  Roland's  Schwert  Lumbardie  e  trestute  Ro- 
maine i2o2ß)  unterworfen  hat:  aber  von  näheren  Beziehungen 
zwischen  Kaiser  und  Papst  ist  nirgends  die  Rede,  wenn  man 
nicht  etwa  die  Stelle,  wonach  Karl  den  Kopfzoll  (chevage)  von 
England  „ad  ces  seint  Pere'"  erworben  hat  (373),  darauf  be- 
zielien  will. 

Das  Amt  des  Königs  ist  einmal  im  Frieden  das  plaider, 
placitare  (v.  2666),  das  Richten,  d.  h.  die  Sicherung  des  Land- 
friedens. Davon  spricht  unser  Gedicht  aber  seinem  Stoffe  nach 
beo;reiflich  weniger.  Dasfecren  wird  in  zahlreichen  Stellen  eine 
andere  Aufgabe  des  Königs  betont,  die  Ausbreitung  des  Christen- 
thums  über  alle  Lande,  sei  es  in  Güte,  sei  es  durch  die  Ge- 
walt der  Waffe.  Den  Zweck  seines  Feldzuges  in  Spanien  sieht 
Karl  daher  als  erfüllt  an  und  ist  zum  Abzüge  erbötig,  sobald 
der  Sultan  des  Landes  sich  bereit  erklärt,  die  Taufe  anzuneh- 
men (3595-99). 

Das  Symbol  des  Königthums  ist  die  goldene  Krone,  la 
corone  d'or  (3134),  Karl  die  Krone  zu  nehmen  und  ihn  damit 
der  Herrschaft  zu  entkleiden,  ist  die  Absicht  der  heidnischen 
Fürsten  (1490).  Die  Krone  ist  übrigens  eine  erbliche:  als  selbst- 
verständlich betrachtet  es  der  Kaiser,  dass  ihm  nach  seinem 
Tode  sein  Sohn  Loewis  folgen  wird.  II  est  mes  filz  e  si  ten- 
drad  mes  marches  (3716).  Dabei  ist  zu  beachten,  dass  von 
einem  Wahlrecht  der  Grossen,  wie  es  in  Deutschland  später 
immer  bestanden  hat,**  und    wie  es    in   oewisser  Beschränkung 


*  So  liegt  z.  B.  Aachen  en  France  (726).  Vergl.  Waitz,  Verfassungs- 
geschichte.    III,  298  ü. 

**  Auch  bei  den  Karolingern  ist  wenigstens  von  einer  Mitwirkung  des 
Volkes  bei  der  Succession  zu  sprechen;   W  aitz,  Verfassungsgesch.  III,  238. 


294  Rechtsalterthümer  aus  dem  Rolandsliede. 

auch  spätere  afr.  Gedichte,  z.  B.  die  chanson  de  Huon  de  Bor- 
deaux keimen,  hier  gar  keine  Andeutung  sich  findet.  Ebenso- 
wenig weiss  unser  Sänger  von  einem  zweiten  Sohne  Karl's, 
von  jenem  Charlot,  der  in  fast  allen  späteren  Gedichten  auftritt 
und  der  als  Repräsentant  der  späteren  entarteten  und  schwachen 
Karolinger  gelten  kann  —  ein  sicherer  Beweis,  dass  seine 
ersten  Ursprünge  in  sehr  frühe  Zeit  hinaufreichen. 

Der  Hauptsitz  des  Königthums,  seine  eigentliche  Residenz 
ist  Aachen,  Ais  la  meillor  sied  de  France.  Hier  pflegt  er  seine 
Reichstage  abzuhalten  und  zu  Gerichte  zu  sitzen,  la  soelt  il 
plaider  (2687)  —  hier  ist  seine  Herrenpfalz,  paleis  haltur  (3698), 
puleis  seignurill  (155);  seine  Residenz,  sun  estage  (188)  und 
seine  Kapelle  (sa  capele  ad  Ais  726),  hier  seine  Bäder  (voz 
bains  que  Dens  pur  vos  i  fist).  Daneben  scheint  die  burc  de 
St.  Denis  als  Hauptsitz  der  Kaiserherrschaft  zu  gelten,  sie  wird 
V.  972  als  Ziel  der  feindlichen  Angriffe  bezeichnet: 

Jusqu'a  Uli  an  avrum  France  saisie 
Gesir  purrum  al  burc  de  St.  Denis. 

Sind  nun  des  Kaisers  Herrschaft  auch  alle  Länder,  die  zu 
seinem  Reiche  (reialme  2914)  gehören,  gleichmässig  unterwor- 
fen —  und  ihre  Zahl  ist  gross,  ausser  Frankreich  und  Deutsch- 
land erwähnt  der  Dichter  Palerne,  Sezilie,  Puillanie  (Apulien), 
Romaine,  Lumbardie,  Noples  (Constantinobles),  Hungre,  Flan- 
dres,  Escoce,  Guales,  Irlande,  Engleterre  —  so  stehen  doch 
einige  Gebiete  in  näherer  Beziehung  zum  Kaiserthume,  sind 
gleichsam  unmittelbare  Besitzungen  der  Krone,  gehören  zur 
cambre,  zur  chambre  des  Herrschers.  So  nach  v.  2332  merk- 
würdigerweise grade  Engleterre,  mit  dem  der  historische  Karl 
doch  am  wenigsten  zu  thun  gehabt  hat,  so  nach  v.  2910  Loiin, 
worunter  wohl  das  Gebiet  von  Laon  zu  verstehen  ist. 

Das  Verhältniss  des  Kaisers  zu  seinen  Unterthanen  im 
allgemeinen  wird  dadurch  ausgedrückt,  dass  er  sie  und  das 
Land  in  seiner  baillie  hat  (488).  Die  dem  entsprechende  Be- 
zeichnung avoez  (advocatus),  Vogt,  dem  voget  von  dem  Rhine 
der  Nibelungen  analog,  findet  sich  freilich  für  Karl  nicht,  wohl 
aber  für  den  heidnischen  König  Marsilie  (136.  154),  auf  den 
doch  wohl  nur  ein  für  den  fränkischen  König  üblicher  Titel  an- 
gewandt ist. 


ßechtsalterthümer  aus  dem  Rolandsliede.  295 

Die  Prädicate,  die  dem  Kaiser  gegeben  Averden,  sind  theils 
solche,  die  seiner  allgemeinen  Herrscherstellung  entsprechen  - 
so  li  riches,  li  nobles,  li  ber,  li  magnes,  li  proz,  li  poesteifs 
u.  dgl.,*  theils  solche,  die  aus  einer  Characteristik  semer  Per- 
sünlidikeit  hervorgehen,  so  li  gentilz,  li  sages  u.  s.  w.  Vor 
allem  aber  häufig  heisst  er  li  veilz,  li  reiz  al  la  barbe  blanche, 
a  la  barbe  canue,  al  chef  flurit.  Seine  persönliche  Erscheinung 
Avird  als  Ehrfurcht  und  Scheu  gebietend  bezeichnet: 

Blanche  ad  la  barbe  e  tut  flurit  le  chef 

Gent  ad  le  cors  e  le  cuntenant  fier: 

S'est  ki'l  deinandet,  ne'l  estoet  eoseigner  (119). 

So    ist   er   denn   auch  ^bedachtsam    in  Handlungen    Avie   in 
Worten : 

De  sa  parole  ne  fut  mie  hastifs 

Sa  custume  est  qu'il  parolct  a  lelsir  (170). 

n.     Die  Mannen. 

An  des  Königs  Seite  stehen  „seine  Erscheinung  verherr- 
lichend und  somit  sein  ideales  Wesen  gleichsam  ergänzend," 
die  Mannen,  die  humes**  (20.  39).  Sie  stehen  zu  dem  Kaiser 
in  einem  Treuverhältniss,  indem  sie  sich  ihm  durch  den  feier- 
lichen Act  der  Commendatio  verpflichtet  haben,  seine  comandet 
(696)  A^•erden.  Ihre  Hände  in  die  seinen  gelegt  (jontes  les 
mains  223.  696)  leisten  sie  das  Gelübde  der  Treue.  Dadurch 
Avird  der  König  ihr  seigneur  liges,  sie  aber,  seine  fedeils  (84), 
sind  verpflichtet  seinen  Befehlen  zu  gehorchen  und  alle  ihre 
Habe,  ja   nöthigenlälls    ihr    Leben    seinem   Dienste    zu   opfern, 

denn  «■ .     i 

Pur  sun  seignur  deit  hom  sufinr  destreiz 
E  endurer  e  grauz  chalz  e  granz  freiz 
Si'n  deit  honTperdre  e  del  quir  e  del  pel. 

(1010  ff.  1117  ff.) 

Dafür   ist   ihnen    aber    auch    der    König    zu    Schutz    und    Bei- 
stand verbunden,    dafür    giebt   er  ihnen   nicht  allein  Ehren  und 


*  Btleo-e  liefert  jede  Seite  des  Gedichts  in  genügender  Zahl  _ 

**   Der^  Ausdruck  vassals   bezeichnet    nicht  Lehensmann,    sondern  hels^t 

nur  tapferer  Held;  vgl.  v.   3343:  Dient  Franceis  icist  reis  est  vassals;  3579: 

MulL  est  vassal  Carles  de  France  dulce. 


296  Eecbtsaltertliümer  aus  dem  Rolandsliede. 

Lehen*  (honurs  fius),  sondern  er  schuldet  ihnen  auch  beson- 
dere Belohnungen;  er  anerkennt: 

Ben  le  conuis  que  guered  un  vos  en  dis 

E  de  mun  cors,  de  teres  e  d'aveir  (3410.  11). 

Fallen  sie  in  seinem  Dienste,  so  muss  er  ihren  Tod  rächen 
(1199). 

Die  Pflicht  der  Vasallen  gegen  ihren  Lehnsherrn  äussert 
sich  nun  vornehmlich  bei  zwei  Gelegenheiten,  im  Kath  und  im 
Kriege. 

Ersterer  kann  wieder  doppelter  Natur  sein.  Zu  allgemei- 
nen Reichstagen,  zu  Maifeldern,  dass  wir  so  sagen,  entbietet 
der  Kaiser  alle  seine  Unterthanen  nach  Aachen,  seiner  Eesi- 
denz.  Da  gehen  seine  Boten  (messages  3099)  in  alle  Lande 
und  entbieten  (mandent  3699)  Baiern  und  Sachsen,  Lothringer 
und  Friesen,  Alemannen**  und  Burgunder,  Poitevinen,  Norman- 
nen und  Bretonen,  kurz  die  weisesten  aller  Franken. 

de  cels  de  France  les  plus  saives  qu'i  sunt***  (3703). 

Sie  versammeln  sich  zu  Aachen,  um  des  Kaisers  Willen  zu 
vernehmen  vmd  ihn  mit  ihrem  Rathe  zu  unterstützen. 

Bisweilen  versammelt  der  Kaiser  auch  nur  die  ersten,  die 
vornehmsten  seiner  Mannen,  zu  einer  Berathung,  ses  baruns 
mandet  pur  un  cunseill  finer  (166.  169).  Diese  wird  dann 
meist  im  Freien  gehalten,  unter  einem  Baume  (desuz  un  pin 
165,  168,  vgl.  11.  406.  501)  steht  sein  goldener  Thronsessel, 
sein  foldestoed  d'or  mer  (115),  um  ihn  herum  lagern  die  Barone 
auf  weissen  Gewändern,  sur  palies  blancs  (272).  Hier  trägt 
der  König  die  Angelegenheit  vor.  Hat  er  seine  Rede  beendet 
(sa  raisun  fenie  193),  so  ertheilen  die  Barone  ihren  Rath.  Wer 
sprechen  will,  erhebt  sich  (en  piez  se  drecet  195),  tritt  aus  der 
Reihe  (se  levet  del  renc  264)  und  sagt  frei  seine  Meinung. 
Ist  ein  kluger  Rath  gegeben,  so  stimmt  wohl  die  Menge  zu: 


*  Bei  der  Belehnung  werden  die  beiden  Acte  des  vestir  und  saisir  un- 
terschieden (3213).  Auch  ist  wohl  von  einer  Erneuerung  des  Lehens,  re- 
cognitio  feudi,  die  Rede  (a  moi  venget  pur  reconoistre  sun  feu  20X0). 

**  Verschieden  von  den  Alenians,  aber  ebenfalls,  wie  es  scheint,  als 
besonderer  Stamm  werden  die  Tiedeis  aufgezählt  (370G). 

***  Auf  dem  Reichstage  erscheinen  übrigens  auch  die  Bischöfe  (8976). 


Rechtsalterthümer  aus  dem  Rolandsliede.  297 

Dient  li  Franc  ben  ad  parlet  li  dux  (240)  oder 
Dient  Franceis  car  il  le  poet  ben  estre  (278). 

Der  so  ausgesprochenen  Willensmeinung  seiner  Grossen 
tritt  dann  meist  auch  der  König  bei;  denn  sein  Grundsatz  ist 
es,  in  allem  den  Wünschen  der  Franken  zu  folgen,  par  cels  de 
France  voelt  il  del  tut  errer  (107).  So  geschieht  es,  dass  trotz 
der  bösen  Vorahnung  des  Kaisers,  trotz  seiner  geheimen  Ab- 
neigung Roland  zur  Deckung  der  Nachhut  bestimmt  wird.  Aber 
doch  ist  der  gefasste  Beschluss  nicht  etwa  als  ßeschluss  an 
sich  giltig,  sondern  nur,  wenn  und  insoweit  ihn  der  König  sich 
aneignet.  Daher  wird  denn  auch,  wenn  nachher  von  einem 
solchen  Beschluss  die  Rede  ist,  derselbe  immer  nur  als  des 
Königs  Befehl  bezeichnet : 

Carles  comandet  que  face  sun  service  (319). 
Adeuiplir  voeill  vostre  comendement  (330). 

Und  andrerseits  tritt  der  Kaiser  auch  o;ewissen  Rathschläsren 
von  vornherein  entgegen,  ehe  es  noch  zu  einer  Willensäusserung 
der  Grossen  kommt.  So  als  zur  Uebernahme  der  Gesandtschaft 
nach  Saragossa  einer  der  zwölf  pairs  vorgeschlagen  ist;  da 
schwört  Karl : 

Par  coste  barbe,  que  vuz  blancheier. 

Les  duze  per  mar  i  serunt  jugez  (261.  62). 

Und  dann  schweigt  Alles  ehrerbietig: 

Francs  se  taisent  as  les  vus  aquisez  (263). 

Oder  Karl  verwirft  sofort  den  Vorschlag  eines  Redners,  indem 
er  demselben  Stillschweigen  gebietet  und  ihn  auffordert,  sich 
wieder  zu  setzen: 

Alez  sedeir  desur  cel  palis  blanc 

N'en  parlez  mais  se  jo  ne'I  vos  cument  (272.  73). 

Auch  dagegen  wird  kein  Widerspruch  laut,  und  des  Kaisers 
Gebot  findet  unbedingten  Gehorsam.  So  spielt  also  Karl  in 
unserer  Chanson  noch  keineswegs  die  schwächliche  und  lächer- 
liche Rolle ,  welche  spätere  Gedichte  dem  Kaiser  zuweisen : 
die  erste  Entstehung  derselben  muss  in  eine  Zeit  fallen,  in  der 
das  grosse  Bild  des  Heldenkaisers  noch  unverdimkelt  im  Herzen 
und  im  Munde  des  Volkes  lebte. 


298  Rechtsalterthümer  aus  dem  Rolandsliede. 

Aber  nicht  nur  daheim  bei  Rathsversammlungen  und  auf  Reichs- 
tagen haben  die  Mannen  des  Dienstes  des  Herrn  zu  warten  ;  vor 
allem  ist  es  ihre  Pflicht,  ihm  auf  seinen  Kriegs-  und  Heerfahrten 
mit  gewaflueter  Hand  zu  folgen.  Zum  Heerbanne,  zur  ost  banie, 
Avie  unser  Lied  (211)  in  wörtlicher  Uebertragung  des  deutschen 
Ausdrucks  sagt,  aufgeboten,  folgen  sie  des  Königs  Ruf,  jede 
Schaar  geführt  von  den  Grafen  und  Herzogen  ihrer  Provinz. 
An  der  Spitze  aller  steht,  jedoch  unter  dem  Kaiser,  der  Ober- 
feldherr (capitaneus  cataignes*  2320.  2912),  in  unserem  Liede 
natürlich  Roland.  Er  ist  es,  der  die  Heere  anführt  und  befeh- 
ligt und  als  er  gefallen,  klagt  Karl  um  ihn: 

Ki  guierat  mes  oz  a  tel  poeste 

Quant  eil  est  morz  qui  tuz  jurs  nos  cadelet  (2026.  27). 

Insofern  freilich  ist  der  Character  des  alten  Heerbanns 
schon  verwischt,  als  die  einzelnen  Krieger  nicht  mehr  selbst 
für  ihren  Unterhalt  und  ihre  Bewaffnung  zu  sorgen  haben;  sie 
sind  schon  soldarii,  **  soldeiers  und  erhalten  eine  bestimmte 
Löhnung:  König  Marsilie  verspricht  dem  Kaiser  eine  grosse 
Summe  lauterer  Byzantiner,  de  besans  esmerös, 

dunt  ben  purrez  vos  soldeiers  luer  (34.  133). 

Zum  grossen  Theile  werden  gewiss  diese  Soldzahlungen 
aus  den  Contributionen  bestritten,  welche  in  den  besetzten  fieind- 
lichen  Gebieten  erhoben  werden :  erwähnt  wenigstens  wird  in 
unserem  Liede  der  Tribut  von  Spanien ,  li  treud  d'Espagne 
(6()()),  den  der  Kaiser  erwartet.  Ausser  ihrer  Löhnung  aber 
haben  die  Krieger  auch  Antheil  an  der  Beute,  dem  eschech, 
die  hauptsächlich  in  Gold,  Silber  und  kostbaren  Gewändern, 
or  argent  e  guarnemenz  chiers  (100,  vgl.  2478)  besteht.  Der 
Dienst  geschieht,  wie  ja  das  nach  den  neueren  Forschungen*** 


*  Cataigne  heisst  aber  an  anderer  Stelle  aucli  bloss  tapferer  Führer: 
cent  milie  sunt  de  nos  me.illors  cataignes    3085. 

**  Dass  die  Stelle  bei  Hugo  Flavin.  Pertz,  Monum.  Hist.  rer.  Germ. 
Script.  VIII,  342,  in  welcher  von  „soldarii"  zu  Karl's  d.  Gr.  Zeiten  die 
Rede  ist,  einer  historischen  Begründung  entbehrt,  darüber  vgl.  Waitz,  Ver- 
fassungsgescbiclite  III,  16.  N.,  1,  20,  352.  Wahrscheinlich  ist  diese  Ueber- 
liet'erung  eben  aus  Gedichten  wie  die  unsrige  in  die  Historiker  überge- 
gangen. 

***  Waitz,  Verfassungsgeschichte  IV,  458  ff. 


Rechtsalterthümt'r  aus  dem  Rolandsliede.  299 

auch  vom  historischen  Karl  schon  feststeht,  meist  zu  Pferde;  die 
Mannen  heissen  daher  auch  schlechtweg  chevalers  (3029.  3052 
und  oft.).  Die  Meisten  sind  schwer  gerüstet.  Als  Schutzwaf- 
fen werden  u.  a.  erwähnt  Helme,  helmes,  Brünnen,  bronics 
(bronies  dubleines  3088),  Halsberge,  osbercs  (3079.  3080.  3088), 
Schilde,  escuz  (2210).  Die  Zahl  der  Wurfwaffen  ist  aber 
gross:  darz,  w'igres,  espiez,  lances,  museraz,  empemeez  werden 
aufgezählt  (2155.  56).  Der  espiet  und  die  hanste,  erstere  lang, 
letztere  kurz  (3080)  sind  aber  wohl  eher  als  Stosswaffen  an- 
zusehen. Endlich  vollendet  die  espee,  das  Schwert,  die  Be- 
waffnung. 

In  Feindesland  ist  von  dem  Gros  des  Heeres,  die  ans- 
guarde  (enguardes  2975),  die  Vorhut  und  die  Nachhut,  die  rere- 
guarde  gesondert  (742.  748),  letztere  bestimmt  den  Rücken  des 
Heeres  zu  decken  und  geo-en  feindliche  Ueberfälle  zu  sichern. 
Zu  ihr  gehören,  heisst  auf  einen  besonders  gefährlichen  Posten 
gestellt  sein,  und  nur  ungern  entschliesst  sich  Karl  seinen  Neffen 
Roland  mit  dem  Befehl  derselben  zu  betrauen.  Roland  aber 
als  getreuer  (leiale)  Vasall  hat  auch  hier  dem  Befehl  seines 
Herrn  ohne  Murren  Folge  zu  leisten. 

Auch  in  der  Schlacht  —  in  der  bataille  justee  2761  — 
werden  übrio-ens  die  einzelnen  Heeresabtheilunsfen  von  ihren 
Territorialgrafen  und  Herzogen  geführt,  doch  werden  sie  hier 
zu  grösseren  Divisionen  (escheles,  eschieles  3024  u.  öfter)  zu- 
sammengestellt, deren  in  der  Hauptschlacht  von  Karl  10  formirt 
werden.  Das  Banner  des  ganzen  Heeres  ist  in  unserem  Liede 
die  orie  flambe,  getragen  vom  Grafen  Gefreid  d'Aujou,  dem 
Bannerträger  (gunfanunere  106)  des  Königs ;  das  Feldgeschrei, 
das  enseigne  Carle,  der  alte  Ruf  Munjoie  (3092.  1179.  1350). 
Endlich  ist  an  diesem  Orte  der  eic:euthümlichen  Stelluno;  zw 
gedenken,  welche  in  unserem  Liede  zwei  Helden  einnehmen, 
der  Herzog  Nuimes  de  BaiAvere  und  der  Graf  Jozerans  de 
Provence.  Es  mag  befremdend  klingeu,  wenn  ich  ihre  Func- 
tionen mit  denen  unseres  Generalstabes  vergleiche :  doch  haben 
sie  Vr'cnigstens  einiges  mit  diesem  gemein.  Vor  der  Schlacht 
beräth  der  Kaiser  mit  ihnen  und  Antelme  de  Muience  (v.  3007 ff'.), 
sodann  sind  sie  es,  welche  die  einzelnen  escheles  formiren 
(ajuster,   etablir,   faire    sind   die   Ausdrücke    des   Liedes,  3024. 


300  Rechtsalterthümer  aus  dem  Rolandsliede. 

3045.  3061.  3068  u.  s.  w.);  sie  endlich  erscheinen  nach  ge- 
schehener Aufstellung  des  Heeres  unmittelbar  im  Gefolge  des 
Kaisers,  dem  sie  die  Steigbügel  halten  (3114)  und  in  dessen 
Nähe  sie  während  der  ganzen  Dauer  des  Gefechts  verweilen. 

Neben  den  erwähnten  Pflichten  der  Mannen  wird  in  unse- 
rem Liede  endlich  noch  eine  dritte  betont :  die  Uebernahme  von 
Botschaften  und  Gesandtschaften.*  So  sehen  wir  gleich  im 
Eingang  unserer  chanson  Ganelon,  trotzdem  er  ahnt,  dass  es 
sein  Tod  sein  wird,  nichts  destoweniger  unweigerlich  dem  Be- 
fehle des  Königs  gehorchen,  eine  Botschaft  an  König  Marsilie 
zu  übernehmen.  Was  übrigens  die  völkerrechtliche  Stellung 
der  Gesandten  angeht  —  um  das  bei  dieser  Gelegenheit  zu 
erwähnen  —  so  sind  dieselben  in  Person  und  Gut  unverletz- 
lich. Es  gilt  deshalb  als  Verrath,  dass  Marsihe  einst  zwei 
Gesandten  Karl's  Boson  und  Basilie  enthauptet  hat  (201  ff.). 
Als  Zeichen  des  Friedens  tragen  die  Gesandten  Olivenzweige 
in  ihren  Händen  (73.  93.  203),  zur  Beglaubigung  dient  ihnen 
ein  mit  dem  Wachssiegel  des  Herrn  verschlossenes  Schreiben 
(bref  485.  86).  Sie  werden  von  dem,  an  den  ihre  Botschaft 
geht,  wohl  verpflegt  und  beherbergt  (160.  161). 

Was  die  Rang-  und  Standesverhältnisse  angeht,  so  ragen 
aus  der  Masse  der  Freien,  der  Franceis  schlechthin,  hervor  die 
Edlen,  die  eeignur  barun.  Sie  sind  es ,  die  des  Königs  Rath 
am  nächsten  stehen,  aus  ihnen  wählt  er  seine  Gesandten,  die 
Anführer  seiner  Truppen,  seine  Richter  und  ürtheiler.  Die 
Prädicate,  die  ihnen  beigelegt  werden,  sind  fast  dieselben,  die 
wir  als  Epitheta  des  Königs  kennen;  wie  er  sind  die  Barone 
noble,  riebe,  gentil,  proz,  curteis,  sage,  vaillant  u.  s.  w.  Ihrer 
Abstufung  und  dem  Reichsamte  nach,  das  sie  verwalten,  zer- 
fallen sie  in  Herzoge  (dux),  Grafen  (cunte),  Vicegrafen  (vez- 
cuntes)  und  Barone  (barun)  schlechthin.  Eine  etwas  unbe- 
stimmte Stellung  zwischen  dem  Herzog  und  dem  Grafen  nimmt 
der  Markgraf,  der  marchis,  ein.  Dies  ist  der  eigentliche  Titel 
Rolands,  wie  ja  auch  der  historische  Hruotlandus  der  annales 
Einhardi  marchio  des  britannischen  limes  war.  Aber  wie  in 
deutschen    Urkunden    und  Schriftstellern   der   Zeit   der   marchio 


*  Vgl.  Waitz,  Verftissungsgesch.  III,  22.  33.  1 


70. 


Kechtsalterthümer  aus  dem  Rolandsliede.  301 

meist  zu  den  comites  gerechnet  wird,  so  ist  auch  in  unserem 
Liede  Rolands  gewöhnlicher  Titel  einfach  quens,  nur  an  weni- 
gen Stellen  heisst  er  marchis  (z.  B.  v.  G30.  2031). 

Von  den  fünf  gewöhnlichen  Holämtern  der  Könige  des 
Mittelalters:  Marschall,  Truchsess,  Kämmerer,  Schenk  und 
Küchenmeister  wird  in  unserem  Liede  nur  der  letztere,  der 
maistre  des  cous  (1817),  aber  hier  in  etwas  untergeordneter 
Stellung  erwähnt.  Ausserdem  kommt  der  Schatzmeister ,  tre- 
sorer (ti42),  vor,  der  dem  in  deutschen  Urkunden  bisweilen  er- 
wähnten triscamerarius  entspricht. 

Unter  den  Baronen  ragen  aber  noch  besonders  die  zwölf 
per,  die  zwölf  cumpain  hervor.  Nicht  dass  sie  etwa  im  Besitz 
besonderer  Befugnisse  im  Rath  und  Gericht  erschienen,  wie  die 
späteren  Pairs  de  France  beanspruchten,  im  Gegentheil,  Herzog 
Naims  von  Bauren,  der  als  der  einflussreichste  der  Grossen 
im  Süden  erscheint,  gehört  nicht  zu  ihnen:  aber  sie  zeichnen 
sich  durch  Tapferkeit  und  Muth  vor  allen  aus  und  nehmen  eine 
besondere  Ehrenstellung  ein.  Aufgezählt  werden  sie  eigentlich 
nur  an  einer  Stelle,  v.  24U2  ff. :  es  sind  Erzbischof  Turpin, 
Graf  Oliver,  Gerins,  Gerers,  Otes,  Graf  Berengers,  Ive,  Ivorie, 
Legeier  von  Gascogne,  Herzog  Sansun,  Anseis  und  Gerard  de 
Bussillun.  Eoland,  der  dort  ebenfalls  zuerst  genannt  wird, 
scheint  zu  den  Pairs  selbst  nicht  zu  gehören,  da  wir  ja  sonst 
auf  die  Zahl  dreizehn  kämen.* 

Unter  den  Freien,  als  Ministerialen,  als  Dienende  stehen, 
wie  schon  ihr  Name  anzeigt,  die  servienten  (serjanz  161.  serf 
3737).  Zu  ihnen  gehören  die  100  Küchendiener,  cous  oder 
cumpaignun  de  quisine,  welche  v.  1817  ff.  erwähnt  werden. 
Zwölf  von  ihnen  haben  v.  161  ff.  die  Pflicht,  fremde  Gesandte 
zu  empfangen  und  für  ihre  Bequemlichkeit  zu  sorgen,  während 
gegen  Ende  des  Liedes  Andere,  an  deren  Spitze  ein  viaire 
(vicarius)  steht,  die  Hinrichtung  Ganelons  und  seiner  Ver- 
wandten vollziehen. 


*  In  den  anderen  Handschriften  werden  übrigens  zum  Theil  undere 
Namen  genannt,  als  in  der  Oxforder.  Vers  877  wird  mit  der  Oxfonier, 
gegen  die  Versailler  und  Venezianer  Handschrift,  XH,  zu  lesen  sein:  der 
Neffe  des  Marsilie  braucht  12  Genossen,  um  gegen  Ruland  und  die  12  pairs 
zu  kämpfen. 


302  Rechtsalterthümer  aus  dem  Rolandsliede. 

Weiter  besteht  schon  in  unserem  Liede  der  Unterschied 
zwischen  Rittern  (chevalers)  und  Knappen  (esquier.  gargun 
2437).  Die  Letzteren  sind  wohl  auch  zu  verstehen,  wenn  v. 
3020.  3197  von  den  bachelers,  que  Carles  cleimet  enfanz  die 
Rede  ist.  Was  endlich  den  Bürgerstand  betrifft,  so  findet  sich 
wenigstens  der  Name  burgeis  auch  in  unserem  Gedichte  (2691). 

Schliesslich  ist  hier  zu  erwähnen,  dass  sich  der  Mannen- 
verband nicht  nur  auf  das  Verhältniss  des  Königs  zu  seinen 
Unterthanen  beschränkt.  Auch  die  grossen  Barone  haben  ihre 
Mannen:  so  Roland  (801)  den  Grafen  W^alter,  der  ihm  auf  die 
Nachhut  folgt. 

III.     Die  Sippe. 

Neben  dem  Bande,  das  Vasallen  und  Unterthanen  an  ihren 
Lehensherrn  und  König  knüpft,  lernen  wir  aus  unserer  chanson 
noch  eine  Verbindung  kennen,  Avelche  gleichfalls  wesentlich  auf 
der  Pflicht  der  Treue  beruht.  Es  ist  das  Band  der  Blutsver- 
w^andtschaft,  das  die  Sippe  bildet.  Die  Blutsverwandten  (die 
humes  de  sun  liga,  deren  Roland  im  Tode  gedenkt,  2379)  wer- 
den wohl  zusammengefasst  als  seine  parented  (3907),  maisnee 
(3389).  Die  Pflicht  der  parens  ist,  einander  treu  zur  Seite  zu 
stehen:  „nostre  parent  devum  estre  a  securs"  (2562)  heisst  es 
im  Liede,  und  an  einer  anderen  Stelle  „sustenir  voeill  trestut 
niun  parented"  (3907).  Daher  ist  es  nicht  bloss  eine  Ehre, 
sondern  zugleich  von  wesentlich  praktischem  Vortheil  von  einer 
grossen  und  angesehenen  Familie  zu  stammen,  estre  d'un  grant 
parented  (356).  Diese  Pflicht  zu  gegenseitigem  Beistande  hat 
besonders  dann  Gelegenheit  sich  zu  äussern,  wenn  einer  des 
Geschlechts  unter  einer  peinlichen  Anklage  stehend,  in  Gefahr 
ist,  Leben  und  Ehre  zu  verlieren.  Denn  die  Sippen  haben  eine 
gemeinsame  Stammesehre  und  die  Schande  des  Einen  fällt  auf 
die  anderen,  auf  seine  parenz,  zurück  (1083.  1076).  Darum 
findet  selbst  der  Verräther  Ganelon  dreissig  seiner  Verwandten^ 
welche  für  ihn  Bürgschaft  leisten,  obwohl  ihnen  allen  ein 
schmählicher  Tod  droht,  wenn  es  gelingt,  ihren  Verwandten 
zu  überführen.  Und  so  gross  ist  der  Einfluss  dieser  mächtigen 
Sippe,   dass    sich  unter   allen  Vasallen  Karl's    nur    ein  einziger 


Rechtsalterthümer  aus  dem  ßolandsliede.  303 

findet,  der  es  wagt,  Ganelon  offen  des  Verrathes  anzuklagen. 
Nachdem  dies  aber  geschehen  ist,  nimmt  der  mächtigste  aus 
Ganelon's  Geschlecht,  Pinabel  von  Sorrance,  den  Kampf  gegen 
ihn  auf  und  erleidet  im  Gottesurteil  den  Tod.  Soweit  geht  die 
Pflicht  der  Verwandten  zu  gegenseitigem  Beistande,  soweit 
aber  auch  ihre  Verantwortlichkeit  für  einander.  Denn  nun  w^ird 
die  Drohung  ausgeführt,  die  vor  dem  Beginn  des  Kampfes 
vom  Kaiser  ausgesprochen  war  und  die  dreissig  Bürgen  Gane- 
lon's sterben  den  schimpflichsten  Tod  am  Galgen  (v.  3841  bis 
3960  f ). 

Im  einzelnen  Hause  ist  natürlich  der  Mann  der  Herr,  aber 
die  Gattin,  die  gentil  oineur  (821),  steht  ihm  zur  Seite  nicht 
als  eine  Untergebene,  sondern  als  sa  per,  als  seinesgleichen, 
indem  sie  an  allen  seinen  Ehren  und  Rechten  vollen  Antheil 
nimmt.  Der  Trauung  geht  übrigens  ein  Verlöbniss  voran,  das 
durch  feierlichen  Eidesschwur  bekräftigt  wird :  so  hat  lioland 
der  schönen  Aide,  der  Schwester  seines  Gefährten  Ollivier  ver- 
sprochen, sie  „come  sa  per"  zu  nehmen  (370).  Und  nach  die- 
sem Treugelöbniss  ist  das  Band  unauflöslich :  mag  auch  Karl 
der  unglücklichen  Braut  die  Hand  seines  Sohnes  und  Erben 
Ludwig  anbieten,  mit  Entrüstung  weist  sie  das  Anerbieten 
zurück : 

Cest  mot  mei  est  est  ränge,  ruft  sie  aus, 
Ne  place  Dieu  ne  ses  sainz  no  scs  angles, 
Apres  Rollaot  que  je  vive  remaigne  (3717 — 19). 

Und  entseelt  sinkt  die  holde  Maid  vor  dem  Kaiser  zur  Erde 
nieder. 

Unverheiratheten  Schwestern  gegenüber  scheinen  dieselben 
Rechte  dem  Bruder  zuzustehen,  die  der  Vater  über  die  Toch- 
ter ausübt ;  so  übt  wenigstens  Ollivier  ein  völlig  freies  Verfü- 
gungsrecht über  die  Hand  seiner  Schwester  aus,  die  er  geben 
oder  versagen  kann,  wie  es  ihm  gefällt  (v.  1720.  21).  Ebenso 
steht  der  unmündige  Sohn,  der  seinen  Vater  verloren  hat,  unter 
Schutz  und  Vormundschaft  der  Gesippen  und  Mannen:  diesen 
empfiehlt  Ganelon  seinen  jungen  Sohn  Balduin,  ehe  er  die  Ge- 
sandtschaftsreise nach  Saragossa  antritt,  von  der  er  nicht  wieder 
zurückzukehren  fürchtet  (363.  364),  während  die  Obervormund- 
schaft über  ihn  dem  Kaiser  zusteht  (v.  298). 


304  Rechtsalterthümer  aus  dem  Rolandsliede. 

Was  das  Erbrecht  betriflpt,  so  ist  davon  nur  an  einer  Stelle 
die  Rede:  eben  als  Ganelon  fortzieht,  spricht  er  es  als  selbst- 
verständlich aus,  dass  ihm  nach  seinem  Tode  sein  Sohn  in  Eh- 
ren und  Lehen  folge  (297,  vgl.  364).  Stirbt  dagegen  der  Lehens- 
mann ohne  Erben,  so  fällt  das  Lehen  dem  Kaiser  heim  (2745). 

Ein  der  Sippe  ähnliches  Verhältnlss  kann  —  um  auch  das 
schliesshch  noch  zu  erwähnen  —  durch  förmliches  Uebereinkom- 
men  zwischen  nicht  Blutsverwandten  gebildet  werden.  So  in 
unserm  Liede  zwischen  Roland  und  Olivier.  „Or  vos  receif  jo 
frere"  ruft  Roland  Avährend  der  Schlacht  seinem  treuen  WafFen- 
gefährten  zu  (1376).  Seitdem  nennt  er  ihn  frere  und  treu  ei-- 
füUt  er  ihm  die  Bruderpflichten  bis  zum  letzten  Augenblicke, 
drückt  dem  Sterbenden  die  Augen  zu  und  preist  nach  alter 
Heroenart  des  Gefallenen  Thaten. 


VI.     Strafrecht. 

Komme  ich  schliesslich  zum  letzten  Punkt  meiner  Darstel- 
lung, zum  Strafrecht,  so  habe  ich  hier  freilich  nur  über  gerin- 
ges Material  zu  gebieten.  Nur  der  eine  Process  gegen  Ganelon 
wird  uns  geschildert,  aber  dieser  auch  mit  peinlicher  Ausführ- 
lichkeit. Das  Verbrechen,  dessen  Ganelon  beschuldigt  wird,  ist 
der  Verrath  (traisun  3760,  1820),  begangen  an  seinem  Waffen- 
gefährten und  zugleich  an  einem  Blutsverwandten  des  Kaisers. 
Schon  auf  dem  E'eldzuge,  gleich  nachdem  die  Beschuldigung 
zuerst  vom  Kaiser  ausgesprochen  ist,  wird  eine  Art  Untersu- 
chungshaft an  Ganelon  vollstreckt;  Karl  überliefert  ihn  den  Kö- 
chen und  dem  Küchenmeister  und  macht  sie  für  seine  sorg-fäl- 
tige  Verwahrung  verantwortlich  (1819,  20).  Die  Behandlung, 
die  der  Gefangene  hier  erfahrt,  ist  nun  freilich  schlecht  genug ; 
er  Avird  von  allen  Seiten  körperlich  misshandelt,  dann  mit  eisernen 
Ketten  gefesselt  und  auf  einem  schlechten  Saumthier  (sumer), 
nicht  auf  einem  edlen  Rosse  (palefroi,  destrier)  im  Gefolge  des 
Heeres  mitgeführt. 

Das  eigentliche  Verfahren  gegen  ihn  beginnt  aber  erst  in 
Aachen.  Hier  wird  der  plait,  das  placitum  eröffnet,  während 
dessen   geräuschvolles  Lärmen  nicht    gestattet  ist    (3842).     Ga- 


Rechtsalterthümer  aus  dem  Rolandsliede.  305 

nelon  steht  vor  dem  Kaiser  (37G2);  und  dieser  selbst  übernimmt 
die  EoUe  des  Anklägers  und  erzählt  den  Thatbestand  und  das 
Verbrechen,  dessen  er  ihn  beschuldigt.  Er  fordert  seine  Barone 
auf  darüber  zu  richten  (juger  le  dreit  3750,  die  Anklagerede 
3750  —  3756).  Darauf  erhält  der  Angeklagte  das  Wort.  Seine 
Vertheidigung  ist  kurz  und  einfach.  Kein  Verrath  liegt  vor, 
behauptet  er,  denn  ich  habe  Roland  und  die  zwölf  Pairs  offen 
herausgefordert  und  ihnen  aufgesagt: 

Je  desfini  RoUant  le  poigneor 

E  Ollivier  e  tuz  lur  cumpaignuns  (3775 — 76). 

Nachdem  seine  Vertheidiguug  angehört  ist,  gehen  die  Franken 
zu  Rathe  (a  conseill  3779).  Als  sie  zurückkehren,  nachdem 
sie  miteinander  berathen  haben,  beantragen  sie  beim  Kaiser 
Ganelon  freizusprechen  (clamer  quite  3809).  Der  Kaiser  wird 
darüber  höchlichst  erzürnt,  aber  ehe  er  noch  seine  Willensmei- 
nung kund  gethan,  erhebt  sich  Tierry  d'Anjou,  um  als  Urtheiler 
zu  fungiren : 

Jo  le  juz  a  pendre  e  a  murir 

E  sun  Corps  metre  el  champ  pur  les  mastins 

Si  cume  fei  ki  felonie  fist*  (3831  IT.). 

Mit  dem  Schwert  ist  er  bereit  sein  Urtheil  aufrecht  zu  erhal- 
ten. Sogleich  erhebt  sich  einer  der  Verwandten  Ganelon's,  eben 
jener  Pinabel  von  Sorrence,  um  das  Urtheil  zu  „schelten:" 
lo  si  li  fals,  od  lui  m'eu  cumbatrai  (3879).  Ein  Zweikampf 
zwischen  Beiden  muss  entscheiden,  vorher  aber  muss  Pinabel 
dreissig  Bürgen  stellen ,  während  der  Kaiser  Thierry  diese 
Bürgschaftsleistung  erlässt.  Der  Zweikampf  findet  Statt,  nach- 
dem beide  Kämpfer  das  Abendmahl  genommen,  dann  Beichte 
abgelegt  haben  und  absolvirt  sind  und  nachdem  sie  den  Kirchen 
und  Klöstern  reiche  Spenden  gewidmet  haben.  Der  Kampf- 
platz ist  ein  freier  Platz  ausserhalb  der  Stadt  (3873).  Der 
Zweikampf  endet  mit  einer  vollständigen  Niederlage  Pisabel's 
und  diese  gilt  als  unmittelbare  Entscheidung  Gottes:  Deus  i 
ad  fait  vertut  (3931).  Nun  ist  das  Urtheil  entschieden  und 
alle  Franken   stimmen    darin   überein,    dass  Ganelon    wie   seine 


*  Der  Ausdruck  faire  felonie  scheint  überhaupt  für  Verbrecher  dieser 
Art  der  übliche  zu  sein  :  2600  wird  er  auf  die  Götter  übertragen,  die  Mar- 
silie  in  der  Schlacht  verliesscn  (en  bataille  faillirent). 

Archiv  f.  n.  Srrachcii.    XLVIII.  20 


306  Rechtsalterthümer  aus  dem  Rolandsliede. 

Verwandten,  ki  plaiderunt  pur  lui  3933,  dem  Tode  verfallen 
seien.  Letztere  erleiden  den  Tod  am  Galgen  und  von  der 
gleichen  Strafe  ist  bisher  immer  auch  für  Ganelon  die  Rede 
gewesen  (1409.  3831.  3931).  Es  ist  auch  gar  kein  anderes 
Urthei]  über  ihn  abgegeben  worden;  nun  aber  Avird  noch  ein- 
mal berathen  (3960 — 63),  und  da  wird  beschlossen,  dass  Gune- 
lon  der  Grösse  seines  Verbrechens  gemäss  auch  eine  ausser- 
ordentliche Strafe  erleide : 

Que  Guenes  moerget  par  merveillus  ahen  (3963). 

Er  stirbt,  von  vier  Pferden  zerrissen,  cum  fei  recreant 
(3973). 

Ich  brauche  nicht  darauf  hinzuweisen,  wie  treu  dies  ganze 
Strafverfahren  die  wirklichen  Institutionen,  die  in  den  Karolin- 
gerzeiten in  Kraft  Avaren,  wiederspiegelt.  Bekannt  genug  ist 
ja  der  Kampf,  den,  der  Untreue  gegen  den  König  beschuldigt, 
Graf  Bera  von  Barcellona  in  voller  Rüstung  vor  Ludwig  dem 
Frommen  zu  Ross,  wie  in  unserem  Liede,  auf  einem  Platz  in 
der  Nähe  der  Aachener  Pfalz  besteht.*  Und  auch,  dass  aus 
Furcht  vor  jenem  Zweikampf  der  Verbrecher  der  Strafe  ent- 
geht —  wie  in  unserem  Liede  Ganelon,  wenn  das  muthige  Auf- 
treten Thierry's  nicht  gewesen  wäre,  entspricht  ja  genau  Vor- 
gängen historischer  Zeit.**  Nur  die  Strafe,  die  vollzogen  wird, 
ist  unter  den  Karolingern  nicht  mehr  üblich  gewesen.*** 


*  Waitz,  Verfassungsgesch.  IV,  360. 
**  Waitz,  a.  a.  O.  IV,  361,  Nr.  1. 
•**  Waitz,  a.  a.  O.  IV,  430. 


Ein  Wort 

zur    Verstäüdigung   über  ,  den    Accent    tonique 
im  Französischen. 


Vou 

Brunnemann  in  Elbing. 


Lesaint  behandelt  in  der  zweiten  in  diesem  Jahre  er- 
schienenen vollständig  neuen  Auflage  seines  trait^  complet  de 
la  prononciation  fran^aise,  der  wol  das  Vollständigste  und  Er- 
schöpfendste sein  möchte,  was  es  zur  Zeit  auf  diesem  Gebiete 
giebt,  die  in  Frankreich  erschienenen  Werke  über  die  Aus- 
sprache des  Französischen  nicht  ausgeschlossen,  auf  Seite  404 
und  ff.  auch  den  Accent,  den  er  richtig  definirt  als  l'elevation 
ou  Tabaissement  de  la  voix  sur  certaines  syllabes  und  in  accent 
gramraatical  6u  prosodique,  celui  dont  la  grammaire  fixe  les 
regles;  accent  logique  ou  rationnel,  celui  qui  indique  le  rap- 
port,  la  connexion  plus  ou  moins  grande  que  les  propositions  et 
les  idees  ont  entre  elles ;  und  accent  pathetique  ou  oratoire, 
celui  qui  convient  ä  l'orateur  pour  exprimer  ou  exciter  les  pas- 
sions  unterscheidet.  Um  hier  den  accent  logique  und  accent 
pathetique  zu  übergehen,  so  fährt  er  in  Bezug  auf  den  accent 
gramiiiatical  weiter  fort:  „Lorsqu'il  s'agit  seulement  de  Televa- 
tion  de  la  voix  sur  une  des  syllabes  d'un  mot,  on  le  nomme 
accent  tonique.  L'accent  tonique  existe  dans  toutes  les  lan- 
gues ;  chaque  mot  a  le  sien ,  et  n'en  a  qu'un.  On  dit  d'une 
langue  qu'elle  est  fort  accentuee,  lorsque  l'accent  tonique  y  est 
tres-sensible  et  tres-varie.    La  langue  fran^aise  est  une  de  cel- 

20* 


308  Ein  Wort  zur  Verständigung 

lea  qui  le  sont  le  moins ;  c'est-ä-dire  que  les  syllabes,  en  fran- 
9ais,  sont  toutes  accentuees  d'une  maniere  presque  uniforme:  l'ac- 
cent  tonique  porte  constamnient  sur  la  derniere  syllabe  des  mots  ä 
terminaison  masculine,  et  sur  la  penultieme  des  mots  k  terminaison 
feminine-  Encore  ces  syllabes,  elevees  dans  une  phrase,  peu- 
vent-elles  etre  baissees  dans  une  autre." 

Zunächst  ist  hier  der  nichts  weniger  als  präcise  Ausdruck  : 
les  syllabes,  en  frangais,  sont  toujours  accentuees  d'une  maniere 
presque  uniforme:  l'accent  tonique  *porte  constamment  sur  la 
derniere  syllabe  des  mots  ä  terminaison  masculine  et  sur  la 
penultieme  des  mots  ä  terminaison  feminine  dazu  geeignet,  das 
Missverständniss  hervorzurufen,  als  befände  sich  L esaint  mit 
sich  selber  im  Widerspruch,  indem  er  einmal  behauptet,  alle 
Sylben  eines  und  desselben  Wortes  würden  im  Französischen 
gleichmässig  accentuirt  und  das  andere  Mal  die  Wörter 
mit  männlicher  Endung  würden  auf  der  letzten,  die  mit  weib- 
licher Endung  auf  der  vorletzten  Sylbe,  also  alle  Sylben  eines 
und  desselben  Wortes  nicht  gleichmässig  accentuirt.  Aber 
auch  zugegeben,  er  wolle  den  zweiten  Theil  der  Periode: 
„l'accent  tonique  porte  constamment  sur  la  derniei'e  syllabe  des 
mots  ä  terminaison  masculine  et  sur  la  penultieme  des  mots  a 
terminaison  feminine"  nur  als  blosse  Erläuterung  des  ersten: 
„les  syllabes  sont  toujours  accentuees  d'une  maniere  presque 
uniforme"  aufgefasst  wissen  und  meine  in  Wirklichkeit  niu',  die 
Uebereinstimmung  in  der  Accentuation  der  einzelnen  Wörter 
im  Französischen  bestände  darin,  dass  alle  Wör^er  mit  männ- 
licher Endung  stets  auf  der  letzten,  und  alle  Wörter  mit  weib- 
licher Endung  stets  auf  der  vorletzten  Sylbe  betont  werden,  so 
hebt  er  doch  durch  den  Nachsatz:  „Encore  ces  syllabes,  (Elevees 
dans  une  phrase,  peuvent-elles  etre  baissees  dans  une  autre" 
das  soeben  Gesagte  wieder  vollständig  auf  imd  nimmt  mit  der 
andern  Hand  wieder,  was  er  mit  der  einen  gegeben  hat.  Wie 
ist  aus  diesem  Dilemma  herauszukommen?  Werden  die  Wörter 
mit  männlicher  Endung  nun  wirklich  auf  der  letzten  und  die 
mit  weiblicher  Endung  auf  der  vorletzten  Sylbe  accentuirt  oder 
werden  sie  es  nicht? 

Während  meines  letztjährigen  Aufenthaltes  in  Paris  hatte 
ich  Gelegenheit,  in  der    Sorbonne  einer  Disputation  behufs  Er- 


über  den  Accent  tonique  im  Französischen.  309 

langung  des  Doctorat  es  lettres  beizuwohnen,  bei  der  auch  die 
Frage  der  Betonung  ventilirt  wurde  und  der  Doctorandus  Er- 
steres  (Betonung  der  letzten,  resp.  vorletzten  Sylbe),  einer  der 
Examinatoren  jedoch  das  Letztere  (Nichtbetonung  der  letzten, 
resp.  vorletzten  Sylbe)  behauptete,  beide  Herren  acccntuirten 
aber  in  ihren  Ausführnuiren  so  vollständig  übereinstimmend, 
dass  man,  wenn  man  die  Augen  schloss,  aus  der  Art  der  Be- 
tonung nie  wissen  konnte,  wer  gerade  das  AVort  hatte,  ob  Derje- 
jenige,  der  die  Betonung  der  letzten,  resp.  vorletzten  Sjdbe  ver- 
focht, oder  aber  sein  Antagonist,  der  von  einer  hervorstechenden 
Betonung  einer  Sylbe  vor  der  andern  nichts  wissen  wollte.  Es 
ist  dies  auch  in  der  That  ein  rein  theoretischer  Streit  ohne 
einen  praktischen  Nutzen  und  die  Sache  liegt  einfach  so. 

Der  Franzose  hat  die  oranz  entschiedene  Neio;unij,  in  der 
Aussprache  immer  der  letzten  Sylbe  (wir  betrachten  hierbei  in 
den  Wörtern  mit  weiblicher  Endung  das  nur  in  der  Schrift 
erscheinende  e  muet  als  nicht  vorhanden)  zuzueilen,  um  auf 
ihr  die  Stimme  ruhen  zu  lassen,  um  nun  aber  für  die  Beto- 
nung der  letzten  Sylbe  das  erforderliche  Quantum  Athem  be- 
reit zu  haben,  macht  er  hinter  der  vorletzten  Sylbe  einen  Halt, 
den  mir  ein  Franzose  sehr  hübsch  als  un  appui  bezeichnete,  so 
dass  schliesslich  beide  Sylben ,  die  vorletzte  gerade  so  wie  die 
letzte,  ganz  mit  gleicher  Stärke  betont  werden. 

So  ist  es  auch  allein  zu  erklären,  dass  in  der  französischen 
Poesie  jede  beliebige  Sylbe  sowohl  in  der  Hebung  wie  in  der 
Senkung  stehen  kann,  ohne  dass  dadurch  das  Ohr  des  Fran- 
zosen auch  nur  im  Allermindesten  beleidigt  wird,  während  z.  B. 
im  Deutscheu,  wo  die  Sylben  ihren  festen  Ton  haben,  der  jam- 
bische Gebrauch  des  Imperativs  gebet  statt  gebet  oder  umge- 
kehrt der  trochäische  des  Substantivs  Gebet  statt  Gebet  für 
jedes,  auch  das  ungebildetste  Ohr,  unerträglich  sein  würde. 
Ich  habe  deshalb  in  der  letzten  Zeit  gelegentlich  der  Leetüre 
darauf  geachtet  und  die  Stellen  notirt,  wo  ich  ein  und  dasselbe 
Wort  in  demselben  Verse  mit  versciiiedener  Betonung  ange- 
troffen habe;  aus  denen  ich  mir  erlauben  will,  einige  der  prä- 
jrnantesten  hier  anzuführen  und  zwar  finden  wir  es  bei  Dichtern 
aller  Zeiten,  bei  den  Klassikern  nicht  minder,  als  in  der  Poesie 
der  Repubhk,  des  Kaiserthums  und  der  Neuzeit: 


310  Ein  AVort  zur  Verständigung 

Ah!   rendez-moi,  renf/es'-moi  mon  village 

Et  la  houlette  et  le  pain  bis.  B^ranger. 

Piochons,  pioc/ions 
Et  fabriquons  du  salpetre.  Ch.  L.  Tissot,  les  salpe- 

triers  repuhlicains. 

Li&^rte,  liberie,  des  doux  plaisirs  source  profonde. 

Hymne  pou7-  Vinauguration  du  th^ätre  des  arts. 

Mes  «mis,  mes  am?'«,  point  de  plaisanterie. 

Le  Cousin  Jacques  (Beffroy  de  Reif/ny.) 

Un  seul!  Et  les  "Rotndins  tremblent  devant  un  homme, 
Les  iJdraains !    oü  sont-ils  ?   Dans  les  tombeaux  de  Rome. 

Che'nier,  Tibere. 

Quand  je  re^us  l'honn^wr  de  la  chevalerie, 

Le  roi  nie  dit:     —     —     —     —     -, 

Si  ma  vie  est  h,  lui,  mon  hönneur  est  k  moi. 

Raynouard,  les  Etats  de  Blois. 

Ce  fait  honore  egalement 
Et  fera  vivre  d'äge  en  äge 
Le  heros  qui  re<;oit  rhommage 
Et  le  he?-os  qui  le  lui  rend. 

Barrd,  Radet  et  Desfontaines,  les 
EnibelUssements  de  Paris. 

Pour  la  cherir 
En  ces  lieux  cliacwn  respire, 
A  cAacun  de  nous  eile  inspire 
Le  respect  —  Ibidem. 

SauZe,  eher  ä  l'amour  et  eher  k  la  sagesse, 
Dans  ce  meme  vallon,  doux  saiüe,  j'etais  mire. 

M7ne  Bobois,  el^gies  maternelles . 

II  aper^oit  de  loin  le  jeune  Teligny', 
Teb'gny,  dont  l'amour  a  merite  sa  fiUe. 

Voltaire,  Henriade. 

Voyant  qu'il  faut  per/r  et  pt^rir  sans  vengeance.  Ibidem. 

Le  heros  malheureux  sans  armes,  sans  defense  — 
Aux  pieds  de  ce  heros  il  les  voit  trembler  tous.> 

Ibidem. 

Et  l'on  porta  sa  tete  aux  pieds  de  Medicis, 

Mec^icis  la  re9ut  avec  indifierence.  Ibidem. 

Et  le  bandeau  des  rois  sur  le  front  du  so\dät? 

Un  so7dat  tel  que  moi  peut  justement  pretendre    — 

Voltaire,  Merope. 

Quand  la  regZe  conduit  Therris,  Phebus  et  Mars, 
La  reole  austere  et  süre,  est  le  fil  de  Thesee, 

Voltaire,  Ode. 

Un  pdrtil  vous,  barbare,  au  mepris  de  nos  lois; 

Est-il  d'autre  Tp&rti  que  celui  de  vos  rois?  Ibidem. 


über  den  Accent  tonique  im  Französischen.  311 

Eeroyez-moi,  madame,  arretant  leur  furie, 

Yoye'z  ces  murs  enfin,  par  mon  bras  delivres.  lindem. 

II  compiZmV,  compilait,  compi/aeV.  Voltaire,  epigravime. 

Utile  a  nos  cites  le  pläisir  les  amene, 

Sans  le  plaistV  enfin,  pere  de  mouvement, 

L'esprit  est  sans  ressort.  Helvetius,  le  luxe. 

Ils  nous  ont  dero?>e5,  derdbons  nos  neveux. 

Piron,  mctromanie. 

Votre  ami?  Mon  awiz',  barbare,  ä  toi  ce  nom? 

Saiirin,  Beverley. 

Le  coura^^  plus  grand  que  son  cou?-«ge  extreme. 

De  ßekois,  le  si^ge  de  Calais. 

Et  rft'tes-lui  que  tout  soupire, 

Dites-lui  que  de  la  prairie 

Son  absence  a  seche  les  fleurs!  Marmoniel,  Idylle. 

Tout  soupire 
Dans  les  vallons,  qu'elle  a  quittes. 
Quel  heureux  vdlon,  ma  bergere.  Ibidem. 

L'hom??ie  se  doit  a  rjwmme  en  tout  rang,  ä  tout  äge. 

Thomas,  sur  les  devoirs  de  la  societe. 

Voltaire  seul  em&t''/lit  tout, 

Et  toi  seule  embel/es  Voltaire.  Dornt.,  madrigal. 

Mais  Perrault,  plus  profond,  Diderot  nous  l'apprit, 
'Pevräult,  tout  plat  qu'il  est,  petille  de  genie. 

Gilbert.,  le  XVIIIe   siede. 

Hßnreux  pere,  lieuveux  frere,  et  moins  epoux  qu'amant. 

Ibidem. 

C'etait  l'ouvrage  de  la  vie, 
Et  les  desseins  dit-trs  de  di\Qvs  souverains. 

Gresset,  ä  FruUric  le  Grand. 

II  fallait  consulter  l'lionneur  et  la  raiso«. 
La  raison,  dltes-vous,  eile  n'est  alleguee 
Qu'ä  propos  de  laideur.  Desmahis,  L''impe7-tinent. 

Si  ?;otre  coeur  se  rend,  le  premier  de  nos  soins 

Est  d'aller  publier  votre  prompte  defaite.  Ibidem. 

Aime'z  ou  n\umez  pas,  soyez  prüde  ou  coquette. 

Ibidem. 

L'a/jn'tie  vient  du  ciel  demeurer  ici-bas.  — 
Oui,  Ynaiitie  sans  doute  est  le  supreme  bonheur. 

Desmahis,  Vhonnete  hornme. 
La  tombe  — 

N'est  point,  assurement  la  tombe  d'un  herger  — 
Un  be'r ger,  dis  un  monstre;   il  devasta  nos  plaines. 

Leonard,  les  tomheaux. 

De  cnscade  en  cascade  en  loin  retentissants. 

Bertin,  Gavorine. 


312  Ein  Wort  zur  Verständigung 

Vous  me  faites  (rcnarl   — 


Ah !  /r^mir :  devinez. 

Fahre  d'Efflantine,  le  Phüinte  de  Moliere. 


II  s'arrange  en  total,  en  total  tout  est  bien. 

L'homm^  sent  qu'il  est  Mmvue. 

Jeunes  gens,  jeunes  gens,  ne  vous  a-t-on  pas  dit? 


Ibidem, 
Ibidem. 

Florian. 


Quand  on  veut  tout  savoir,  que  peut-on  sdvoir  blen? 

Picard. 
Sous  un  ciel  de  decembre  ils  disaient:  Empor#(fs 
Enopo'rtez-nous  au  loin,  sur  des  bords  ecartds. 

Le  Morvonnais,  Chäteau  de  Camhourg. 

N'ambitionnez  point  le  <?2bmphe  imprudent 
C'est  un  art  de  savoir  triowpher  en  cddant. 


Non,  la  Harpe  au  serpent  n'a  jamais  ressemblc, 
Le  se'y-pent  siffle  et  la  Harpe  est  siflle. 

Pour  les  TpSLUvre's  la  comedie 
Donne  une  pduvre  tragedie. 

Berge'r,  bergere,  aateiü;  tout  bete, 
Puis  herger,  «wteur,  lecteur,  chien. 
S'endorment. 

Ta  mere !  Qui  l'eüt  dit?  Oui,  ta  niö?e  perfide. 

Me  voilh  donc,  sauZe,  eher  au  malheur, 
Chantez  le  säule  et  sa  douce  verdure! 

Kuiss^fl?/  peu  connu  dont  Teau  roule  — • 
Mon  humble  rüissesM  par  la  fuite. 


E.  Lebrun. 

Ibidem. 
Ibidem. 

Ibidem. 
Ducis,  Hamlet. 
Ducis,  Othello. 

Ducis. 


Les  vamqueurs,  les  vaincws  deviendront  mes  victimes. 

La  Harpe,   Vasco  de  Gama. 

Ainsi  qu'adroits  chasseurs,  architecies  savants    — 
En  archi/ec'te  adroit  mais  en  pere  timide. 

Delille,  les  trois  regnes  de  la  nature. 


Cet  o7seau  leur  construit  une  humble  pyramide, 
L'oiseaw  monte  et  descend  dans  une  autre  cellule. 


Oü  Tamant  fuit  Vaindnte,  oü  l'dxni  fult  Yaim. 
Condorcet,  Condorce?,  tremble  h,  l'Academie. 


Ibidem. 

Chamfort. 

liivarol. 


Nous  sow/Trons  en  naissant,  pendant  la  vie  entiere, 
Et  nous  souf/rows  surtout  a  notre  heure  derniere. 

Collin  d^IIarleville,  Toptimiste. 

II  so«rit,  son  neveu  soxxrit  de  son  cote. 

Collin  dHarleville,  les  chateaux  en 
Espagne. 


über  den  Accent  tonique  im  Französischen.  313 

Un  commis  est  ministre,  un  jeune  abbe  ytTcldt, 

Le  -prelat  —  II  n'est  pas  jusqu'au  simple  soldat.  Ibidem. 

Quand  je  songe  je  suis  le  plus  heare'ux  des  hommes, 
Et  desque  nous  croyons  etre  /icwreux,  nous  le  sommes. 

Ibidem. 

L'a?«?^ie  mene,  oui,  l'amitiff  volage.  Parny,  Ek'gies. 

Quelques  mois,  quelques  jours  encore.  Ibidem. 

L'e^e'rnel  mouvement  et  l'eterneZ  repos.  Fontanes. 

Vous  me  quittez  pour  r//ler  a  la  gloire, 

AMe'z,  volez  au  temple  de  memoire.      L.  P.  de  Sc'gia;  Romance. 

Une  rose  eroissoit  ä  l'ombre  d'un  buisson, 

Et  cette  ?-ose  un  peu  coquette.  Le  Bailly. 

Certdin  rat  de  campagne  en  son  modeste  gite, 
De  ceVtain  rat  de  ville  eut  un  jour  la  visite. 

Andrieux,  les  dcux  rats. 

Sur  le  coeur  assez  faux,  asse'z  \i\,  dssez  traitre. 

Parcevcd-G7-andmaison,  PJdlippe  Auguste. 

De  Jassins  en  bas5?ns  ces  ondes  amassees. 

Andrtf  Che'nier,  Hymne  a  la  France. 

Dieu  jeune,  viens  aider  sa  jeunesse.  Assou/j/s, 
Assöwpis  dans  son  sein  cette  fievre  brülante. 

Idem,  le  jemine  malade. 

Ah,  mon  fils,  c'est  V&möur,  c'est  /'amour  insense.  Ibidem. 

Haietante  de  loin:   „Mon  eher  fils,  tu  y'wrds, 

Tu  t7vras!"  Elle  vient  s'asseoir  pres  de  la  couche.  Ibidem. 

EliV  tombe    e71e  crie,  eile  est  au  sein  des  flots. 

7f/em,  la  jeune  Tarentine. 

La  je  reviens  Xoujours  et  /o;/jours  les  mains  plaines. 

Idejn,  la  vie  du  poete. 

Son  coeur  est  averti  par  nos  prc/«/c'res  larmes, 
Nos  premier<fs  douleurs  eveillent  ses  alarmes. 

Logovrc,  merite  des  femmes. 

Du  bonheur  d'exister  sentir  les  /Premiers  charmes, 

Elle  aide  en  nos  prew/eVs  essais 

Notre  raison  —  Ibidem. 

Le  lendemain  s'accrut  par  (/egres  la  souffrance. 
Et  par  öiegre's  aussi  mourut  mon  esperance. 

De  Loucival,  ä  l'ombre  de  Caroline. 

Chacun  VaTppiii  de  tous,  tous  /Vyjpui  de  chacun. 

Loga,  tpitre  ä  un  jeune  culfivateur. 

De  cb'mats  en  clhnäts  tu  seras  transplantc. 

Bois  jolin,  Varbre  dela  liberti.^ 


314  Ein  AV^ort  zur  Verständigung 

Je  suis  pere,  dis-tu?  non,  je  suis  dictateur. 

Dic^rtteur!   Quoi!    Toujours  marcher  de  crime  en  crime. 

Jonif,  Sylla. 
ßevenez  demain:  nous  verrons! 
Nous  veVrons  est  un  mot  magique.  Chateaubriand. 

Le  villa^e  n'a  qu'h  brüler 

Et  moi-meme  avec  le  vil/oge.  H.  de  Maistre. 

Senle's  nous  nous  restons,  toi-se?<le  es  ma  famille.         Campenon. 

Moins  malheurewa:  que  moi  malAewreux  fils  d'Alinde.         Nodier. 

—  si  son  ombre  — 
Courait  avec  amour  la  pente  d'un  ruiss^aii, 
D'un  ruisseau  qui  bondit  sans  souci  de  son  eau. 

Nodier,  le  buisson. 

Yeille,  ma  lampe,  v<^il\e  encore.  Beranger. 

Celih&tl    celi&a^!    le  lien  conjugal, 

Ä  ton  independance  offre-t-il  rien  d'egal? 

Delavigne,  €cole  des  vieillards. 

Tu    te  bat^rds! 

Du  tout! 

Tu  te  bat/rds! 

Eb  non, 
Je  ne  me  bätir^i  pas.  Ibidem. 

Un  f/?<el  pour  cela  ne  m'irait  nullement. 

J'y  cours  !  Parte !  Un  due7 !  je  suis  ton  serviteur.  Ibidem. 

MiseraSZe  par  lui,  je  te  fais  mise?-«ble.         Delavigne,  Louis  XI. 

Lui  qui,  sür  de  vaincre,  a  vole 

Vingt  ans  de  ödtaille  en  ba^ffiVle.  Beranger. 

Est  un  exvfdnt  qui  vole  un  enfant  qui  survit. 

Sonnet,  divine  epope'e. 

II  devance  l'aurore  et  d'd^nbrage  en  ombrdge. 

Denne-Baron,  Z^phyre. 

Par  les  pres  sautil/e,  sau^i'/le.  Doval,  Bergeronnetle. 

Vainqueur,  mais  tout  meuvtri,  tout  mewrtri  mais  vainqueur. 

A.  Monod,  le  bonheur  du  chr^tien. 

II  joue,  il  croit  gagner  —  souvent  jouer  compense, 
Mais  jöiier,  quand  on  perd,  c'est  doubler  la  depense. 

Adolphe  Dumas,  cercle  des  familles. 

Chaque  z'dee  a  son  fil  attache  uue  autre  \dee. 

Bigrian,  Timprimerie. 


über  den  Äccent  tonique  iin  Französischen.  315 

Qu'il  est  doiix,  qu'il  est  doux  d'ecouter  des  his/<^/res, 

Des  histoire«  du  temps  passe.  De  Vigny,  la  neige. 

Et  puis? 

On  «vance,  on  Avance. 

Porchat,  fahles  et  jmrahles. 

Fille  d'une  sangs»'e  et  sdtigsue  eile  meine. 

De  Resseguier,  Epigramme. 

La  femme  vraiment  belle  est  la  fem?«e  sincere. 

Roche,  sonneis. 

Nous  a/lons,  nous  al/o«s  de  ?/vage,  en  rit-a'ge. 

Claudia  Rochi,  symphoiiie  (Toctobre. 

Craigne'z-la,,  c3'«/gnez-la,  la  femme  est  toujours  Eve. 

Guttinguer,  les  saintes  amitie's. 

Tris/c  sort,  t)-iste  monde,  oü  tout  nous  est  a  craindre.      Ibidem. 

Qui  JV^pace  en  espdce  eperdument  lancee.       Ponsard,  GaliUe. 

Uechö  redit  plus  faible  a  ZVcbo  qui  le  suit, 

Barthelemy  et  Merij,  Napoleon  en  Egypte. 

Ouyre';:-vous,  Oi(vrez-vous!   c'est  moi.  Lamartine,  preludes. 

A  gravir  dans  les  airs  de  romeaux  en  va^me'aux.  Ibidem. 

Aus  demselben  Grunde  wird  es  auch  erklärlich,  wie  in 
der  französischen  Poesie  ein  und  dasselbe  einsilbige  Wort 
ganz  beliebig  in  der  Hebung,  wie  in  der  Senkung  stehen  kann. 

Pars,  ?;ole,  active  Renommee, 

Föle  aux  deux  bouts  de  l'univers!  Rouget,  de  Lisle, 

La  paix  no\\s  est-elle  permise? 
Vengeance,  noi'is  ferons  justice, 
A  la  patrie,  a  l'univers.  Idem. 

Amis  c'est  l(?  cr'i  du  dieu  Mars, 

Le  cri  precurseur  de  la  guerre.  Idem, 

Toüt  dort.     L'instant  qu'elle  signale 

Peut  totit  changer,  toüt  arreter.  Idoii. 

Sortons  —  mais  toi,  soldat,  toi  dont  l'äme  plus  fiere 

N'est  point  soumise.   — •  Idem. 

Le  sang  coule,  ön  s'etonne,  ön  s'avance,  dn  s'eerie. 

Voltaire,  Henriade. 

/Sönge  diu  moins,  songe  au  sang  qui  coule  dans  tes  veines. 

Voltaire,  Zaire. 

Vdis  ces  murs,  vdis  ce  temple  envahi  par  les  maitres. 

Ibidem. 

Tout  vouloir  est  d'un  fou,  l'exces  est  son  partage. 

Voltaire,  discoiirs  siir  la  moderation. 


316  Ein  Wort  über  den  Äccent  touique  im  Französischen. 

II  sait  rej^ler  sC's  goüts,  ses  travaux,  Sffs  plaisirs.  Ibidem. 

II  ne  faut  pas  toüt  voir,  toat  sentir,  ioiU  entendre.        ■     Ibidem. 

C'est  iin  dieu  qui  lui  parle  un  di^u  qui  vit  en  eile. 

Voltaire,  Vimmortalite  de  Väme. 

Je  n'aper9ois  plus  rien,  rien  qu'un  affreux  desert. 

Mme.  Babois,  degies  maternelles. 

Dieu  puissant,  Bi^u  cruel,  tu  combles  ma  miscre.  Ibidem. 

Säule  eher  ä  l'amour  et  eher  a  la  sagesse.  Ibidem. 


Beurtlieilungen  und  kurze  Anzeigen. 


L.  Geiger,    Der  Ursprung  der  Sprache.      Stuttgart,  bei  Cotta. 
1869. 

Der  Verfasser  stellt  sich  in  diesem  Werke  der  Sprachpbilosophie  ge- 
genüber. Er  will  auf  dem  Wege  empirischer  Sprachforschung  die  Frage 
nach  dem  Ursprünge  der  Sprache  zu  beantworten  versuchen.  Die  Gedanken, 
welche  hinsichtlich  des  Entstehens  aller  Sprache  sich  ilim  durch  langjäh- 
rige Spraclibeobachtung  aufgenöthigt  haben ,  sind  im  Allgemeinen  ebenso 
neu,  als  sie  von  den  gegenwärtig  geltenden  und  durch  die  Sprachphiloso- 
phie verbreiteten  Ideen  abweichen.  In  Nachfolgendem  sollen  daher  flie  Be- 
trachtungen, die  im  obigen  Werke  niedergelegt  sind,  und  ihre  Resultate  in 
kurzen  Umrissen  vorgeführt  werden. 

Wir  stehen,  was  das  Problem  der  Entstehung  der  Sprache  anlangt, 
augenblicklich  auf  dem  Standpunkte  der  Skepsis.  Die  Theorie  der  Schall- 
nachahmung, welche  in  den  Perioden  der  bereits  entwickelten  Sprache 
scheinbar  manchen  Anhalt  findet,  ist  gänzlich  unhaltbar  gegenüber  den  äl- 
testen historisch  nachweisbaren  Bestandtheilen  der  Sprache,  gegenüber  den 
Wurzeln.  Es  ist  nicht  zu  erweisen,  dass  in  den  historischen  Wurzeln  Laut 
und  Begrifi'  sich  decken  oder  auch  nur  irgend  ein  naturnothwendiger  Zu- 
sammenhang zwischen  beiden  stattfindet.  Max  Müller's  Ansicht  —  ein  ver- 
loren gegangenes  instinctives  Vermögen  der  ersten  Menschen  zur  Sprach- 
bildung —  ist  mystisch  und  entbehrt  jeder  vernunftgemässen  Begründung. 
Bopp,  Lepsius,  Pott  und  Schleicher  gestehen  ihr  Nichtwissen  bezüghch  der 
geheimnissvollen  Entstehung  der  W^urzeln  ofien  ein.  Der  Verfasser  will 
den  Weg  zeigen ,  auf  dem  wir  aus  diesem  Zustande  der  Skepsis  herausgc- 
langen  können. 

Um  die  leitenden  Ideen  für  die  weitere  Betrachtung  der  Sprachwurzeln 
zu  gewinnen,  sucht  er  zunächst  sich  einen  klaren  Einblick  zu  verschaffen 
in  das  Verhältniss  der  Lautentwicklung  gegenüber  der  Begriffsentwicklung 
innerhalb  der  Sprachperiode,  die  wir  bereits  überschauen  können.  In  der 
Fortbildung  und  innner  weiteren  V^erzweigung  der  historischen  W^urzeln 
offenbart  sich  stets  ein  und  dasselbe  Gesetz,  mögen  diese  nun  selbständige 
Stämme  geblieben  oder  zu  an  sich  bedeutungslosen  Suff'ixen  herabgesunken 
sein.  Der  Sprachgebrauch  legte  zunächst  ganz  unmerklich  in  ein  Wort 
lautliche  Differenzen  hinein ;  ebenso  unmerklich  trat  für  die  verschiedenen 
differenzierten  Laute  ein  numerisches  Uebergewicbt  der  Anwendung  für  diese 


318  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

oder  jene  speciellere  Begriffssphäre  ein,  und  zwar  so,  dass  die  Wahl  der 
einzelnen  Laute  nicht  naturgemäss  aus  ihrem  Wesen  selbst  erfolgte,  sondern 
aus  zufälligen  Ursachen.  Das  Object  des  Wortes  verändert  sich  den 
Sprechenden  ganz  unversehens  unter  der  Hand.  Da  dieser  Process  ein  un- 
unterbrochen fortschreitender  ist,  so  ergiebt  sich  als  Gesetz  für  die  Bedeu- 
tungen, die  wir  successive  mit  einem  \Vorte  verbunden  sehen:  Die  Be- 
deutungen der  Wörter  entwickeln  sich  in  einer  Reihe,  deren 
letztes  Glied  sich  mit  dem  ersten  in  keinem  klaren  Zusam- 
menhange mehr  befindet.  —  An  einer  Reihe  von  Beispielen  wird  dies 
Gesetz  in  anschaulicher  Weise  nachgewiesen. 

Der  historische  Verfolg  der  Bedeutungen  eines  Wortes  ergiebt,  dass 
ein  Wort  mit  abstractem  begriffe  früher  stets  etwas  Concreteres  bedeutet 
hat;  dass  ferner  die  AVörter  für  Gattungsbegriffe  vorher  stets  eine  umfang- 
reichere Bedeutung  gehabt  haben,  zum  Theil  so  umfangreich,  dass  wir  die- 
selbe nicht  mehr  unter  einer  Idee  zusammenfassen  können. 

Aber  auch  diese  Bedeutung  ist  für  die  betreffenden  Wurzeln  nie  ur- 
sprünglich; sie  haben  vorher  einen  allgemeinen  Verbalbegriff  bezeichnet. 

Ein  Umfang  von  Thätigkeitsbegriffen  ist  es  daher ,  den  wir  auf  den 
historischen  Wurzeln  vereinigt  finden.  Die  historischen  Wurzeln  stehen 
nachweislich  in  lautlichem  Zusammenhange,  wir  müssen  sie  daher  nothwendig 
als  Lmtliche  Abzweigungen  von  Urwuizeln  ansehen.  Für  den  Process  der 
Bedeutungsentwicklung  innerhalb  der  Sprachperiode  vor  den  historischen 
Wurzeln  müssen  wir  das  Gesetz  aller  Bedeutungsentwicklung  gelten  lassen. 
Die  Urwurzeln  müssen  ganz  allgemeine  Tliätigkeitsäusserung  bezeichnet 
haben.  Die  Einzelbedeutungen,  welche  wir  mit  einer  historischen  Wurzel 
verbunden  finden,  können  nur  als  Entwicklungen  aus  solcher  betrachtet 
werden. 

Da  nun  aber  der  allmälige  Bedeutungsweclisel  eines  AVortes  kein  ge- 
setzraässiger,  somlern  ein  zufälliger  ist,  so  würde  der  Sprachforschung  für 
jede  weitere  Untersuchung  jenseits  der  historischen  Wurzeln  der  Boden 
fehlen,  wenn  nicht  von  einer  anderen  Seite  her  Liuht  auf  diese  dunkle  Pe- 
riode der  grauen  Urzeit  fiele:  Die  Sprache  ist  werdende  Vernunft.  Es  ist 
in  jeder  Sprachperiode  nur  das  bezeichnet  worden,  was  gedacht  worden  ist; 
ein  Begriff  war  nicht  eher  für  das  Denken  vorhanden,  bis  er  in  der  Sprache 
Bezeichnung  fand.  Das  Organ,  mittels  dessen  der  Mensch  vorzugsweise 
die  Welt  auffasst,  ist  der  Gesichtssinn.  Die  ersten  in  der  Sprache  bezeich- 
neten Ideen  müssen  daher  Eindrücke  sein,  die  unter  diesen  Sinn  fallen.  — ■ 
(Die  Wörter,  welche  Wahrnehmungen  anderer  Vermögen  bezeichnen,  sind 
sämmtlich  ursprünglich  für  Wahrnehmungen  des  Gesichtssinnes  angewandt 
worden.)  —  Zuerst  ist  nur  das  Allgemeinste  an  den  Dingen  ausgeschieden 
und  sprachlich  bezeichnet  worden;  der  Sinn  selbst  ist  durch  die  Beobach- 
tung ausgebildet  und  geschärft  worden  und  hat  mehr  und  mehr  an  den 
Dingen  unterschieden.  Den  Nachweis  für  diese  seine  Ansicht  liefert  der 
Verfasser  dadurch ,  dass  er  an  einer  Reihe  von  Beispielen  zeigt,  dass  das, 
was  zuerst  Bezeiciniung  fand  in  der  Sprache,  also  der  frühere  Begriff  eines 
Wortes,  auch  das  war,  was  naturgemäss  zuerst  bemerkt  und  ausgeschieden 
wurde.  Das  in  Verbindung  mit  anderem  V^orhandene  wird  erst  in  dem 
Augenblicke  benannt,  wo  es  gesondert  in  die  Erscheinung  tritt.  Diese  An- 
sicht wiru  nicht  nur  durch  die  historischen  Thatsachen  der  Begriffsent- 
stehung belegt,  sie  findet  auch  in  der  kaum  zu  bezweifelnden  Wahrheit 
ihre  Begründung,  dass  ein  ausgebildetes  Denken  ohne  alle  Sprache  unmög- 
lich war.  Die  Sprachmittel  und  <iie  für  den  sprachlichen  Ausdruck  vorhan- 
denen Begriffe  haben  sich  nachweislich  vermehrt;  nicht  auch  der  Umfang 
des  Denkens  in  gleichem  Maasse?  zumal  die  successive  Entstehung  der 
Begriffe  in  der  Sprache  eben  den  Gesetzen  folgt,  nach  welchen  die  sich  an 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  319 

der  Natur  entwickelnde  Vernunft  die  Begriffe  für  das  Denken  bilden  musste. 
Der  Ursprung:  und  Anfang  der  Sprache  ist  demgeniäss  auch  Ursprung  und 
Anfang  der  Vernunft.     Welches  ist  dieser  Anfang? 

Die  Namen  für  die  Fai-ben,  für  hell  und  dunkel,  für  die  Thiere,  für 
Erde  und  Meer,  die  Verwandtschaftsnamen  sind  ohne  Ausnahme  nicht  ur- 
sprünglich bezeichnet  worden,  sondern  von  Verbalstännnen  mit  der  Bedeu- 
tung zerreiben,  bestreichen,  verbinden  abgeleitet.  Diese  Thätigkeiten  sind 
daher  früher  ein  Sprachobject  gewesen ,  als  jene  allem  Anscheine  nach  der 
Bezeichnung  so  früh  bedürfenden  Gegenstände ;  letztere  hatten  in  sich 
offenbar  nicht  das  Vermögen ,  den  sprachlichen  Ausdruck  anzuregen.  Das 
Gemeinschaftliche  in  den  erwähnten  drei  Verbalbegriffen  ist  die  thierische 
Bewegung.  An  die  hier  in  Betracht  kommenden  Wurzeln,  so  wie  an  andere 
historische  Wurzeln  mit  ähnlichen  Bedeutungen  schliesst  sich  eine  wahrhaft 
unerschöpfliche  Fülle  von  Begriffen.  —  Ein  verwandtes  letztes  Object  — 
thierische  Bewegung  —  findet  sich  aber  nicht  nur  bei  diesen  Wurzeln, 
sondern  lässt  sich  für  alle  übrigen  Wurzeln  nachweisen  oder  mit  grösserer 
oder  geringerer  Sicherheit  erschliessen.  So  sind  also  ein  äusserst  beschränk- 
ter Kreis  menschlicher  Bewegungen  die  vorhistorischen  Sprachobjecte. 

Aber  auch  das  Wenige,  was  auf  diese  \\'eise  von  Begriffen  und  Wur- 
zelformen übrig  bleibt,  lässt  die  V^erengung  noch  zu.  Die  thierische  Be- 
wegung, die  die  Sprache  in  ihrem  Ui'zustande  ausdrückt,  ist  nicht  nach  den 
Organen,  mit  denen  sie  ausgeführt  wird,  unterschieden  worden.  Mordeo 
heisst  im  Lateinischen  beissen,  im  Sanskrit  heisst  die  Wurzel  mrid  mit  den 
Händen  reiben,  streichen,  zerbröckeln.  Lassen  wir  daher  bei  der  durch 
eine  Urwurzel  ausgedrückten  Thätigkeit  das  Organ  dieser  Thätigkeit  ausser 
Acht,  so  bleibt  stets  ein  Scharren,  Reiben,  Beissen  als  ihre  Grundbedeu- 
tung zurück,  eine  zu  gleicher  Zeit  gesehene  und  gehörte  Thätigkeit  des 
menschhchen  Mundes.  Die  Urformen  der  Wurzeln  —  sie  müssen  naturge- 
mäss  möglichst  einfache  Laute  gewesen  sein,  die  sich  wenigstens  ihrem 
Grundtypus  nach  sehr  wohl  erschliessen  lassen  —  unterstützen  diese  Idee, 
indem  sie  zu  gleicher  Zeit  das  Verhältniss  zwischen  Urlaut  und  UrhegrilF 
erklären :  Der  erste  Sprachlaut  ist  die  Nachahmung  der  gesehenen  und  zu- 
gleich gehörten  Bewegung  des  menschlichen  Mundes  beim  Reiben,  Beissen 
u.  s.  w.,  ihr  Object  ist  diese  Bewegung  selbst.  „Da  in  diesem  Anfange  die 
Sprache  mit  ihrem  Objecte  zusammenfiel,  so  wurde  sie  verstanden,  oder 
vielmehr,  sie  wirkte  so,  wie  das  Dargestellte ;  denn  die  Absicht,  etwas  mit- 
zutheiien,  hatte  der  Mensch  noch  nicht.  Aber  schon  mit  diesem  ersten 
Augenblicke  trat  Diff'erenziirung,  Sprachgebrauch  und  Begriff'sentwicldung 
mit  ganz  ähnlichen  Folgen  in  das  Leben,  wie  sie  in  der  Sprache  aller  Zei- 
ten zum  Vorschein  kommen.  Der  Laut  erfolgte  bei  Gelegenheit  einer  etwas 
anderen  Geberde,  für  deren  Verschiedenheit  noch  kein  Sinn  vorhanden  war. 
Auch  der  Laut  selbst  veränderte  und  vervielfältigte  sich,  jedoch  ohne  von 
Anfang  an  auf  verschiedene  Objecte  vertheilt  zu  sein.  Diese  Vertheilung 
erfolgte  erst,  wenn  bei  hinlänolicher  Unterscheidbarkeit  der  Objecte  sich 
ein  numerisches  Uebergewicht  für  einen  der  Laute  zufällig  hergestellt  hatte. 
Da  alle  diese  Vorgänge  gemeinsam  waren ,  so  wurde  das  Verständniss  nie 
unterbrochen.  Der  Sprachlaut  erinnert  in  Folge  der  Bedeutungsvertheilung 
nun  Alle  an  etwas  Verschiedenes,  wie  es  vorher  nur  an  Eines  erinnert  hatte." 
Aus  diesem  ersten  Begriffe  der  Vernunft  haben  sich  nun  alle  übrigen  ent- 
wickelt. Diese  Entwickelung  ist  die  der  Vernunft  selbst,  daher  ist  sie 
ebenso  gesetzlich,  wie  diese. 

Das  wichtigste  und  im  Wesentlichen  neue  Ergebniss  der  Untersuchung 
ist  daher,  kurz  gefasst,  folgendes  :  Die  Sprache  ist  auf  Beobachtung  mittelst 
des  Gesichtssinnes  und  wachsemles  Unterscheidungsvermögen  zurückzu- 
führen; durch  die  Sprache  und  in  Gemeinschaft  mit  derselben  hat  sich  das 


320  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Denken  entwickelt.  Ein  Deukorgan  giebt  es  nicht;  was  wir  Begriff  nennen, 
ist  die  Summe  von  Empfindungen,  die  sich  im  Laufe  von  Jahrtangenden  an 
einen  Laut  angeschlossen  hat.  Aus  diesem  Resultate  deducirt  der  Verfasser 
für  die  Wissenschaft  der  Zukunft  eine  dreifache  Aufgabe: 

1)  Eine  kritische  Untersuchung  der  Vernunft,  aber  nicht  der  Vernunft 
als  eines  fertigen,  sondern  als  eines  gewordenen  Vermögens,  das  aus  einem 
wesentlich  anderen  Zustande  hervorgegangen  ist.  Ausgangspunkt  dieser 
Untersuchung  muss  die  Sinnlichkeit  sein;  die  Vernunft  enthält  nichts  Trans- 
cendentales. 

2)  Die  Vernunft  ist  erwachsen  aus  dem  Vermögen,  die  sichtbaren  Ge- 
stalten in  ihrem  Unterschiede  aufzufassen  und  aus  der  Mitempfindung.  Der 
Physiologie  bleibt  die  Aufgabe,  ein  tieferes  Wissen  über  den  Unterschied 
dieser  Vermögen  beim  Menschen  und  beim  Thiere  zu  schaffen.  Der  Ver- 
fasser giebt  uns  bei  dieser  Gelegenheit  seine  Aufftissung  von  der  Intelligenz 
der  Thiere. 

3)  Schliesslich  und  vor  allen  Dingen  schreiben  die  Ideen  des  Verfas- 
sers der  Sprachwissenschaft  eine  neue  Methode  vor,  wie  sie  dieselbe  auch 
auf  neue  Ziele  hinweisen:  Die  Geschichte  der  menschlichen  Sprache  und  der 
menschlichen  Vernunft,  die  Geschichte  des  Menschen  zu  entwickeln  soll 
ihre  Aufgabe  sein. 

Dies  der  Ideengang  einer  verdienstvollen  Arbeit  unseres  bewährten 
Sprachforschers. 

An  einigen  Stidlen,  besonders  in  Theil  III  und  IV,  hätte  die  Rücksicht, 
nach  welcher  der  Verfasser  die  sich  gewaltig  häufende  Menge  von  Sprach- 
stofl"  betrachtet  wissen  will,  rechtzeitig  und  mit  grösserer  Bestimmtheit  an- 
gegeben werden  können.  —  Endlich  muss  noch  darauf  hingewiesen  werden, 
dass  der  Standpunkt,  welchen  derselbe  hinsichtlich  der  Frage  nach  der  Ent- 
stehung der  Sprache  einnimmt,  denn  doch  nicht  ohne  jede  Beziehung  zu 
dem  der  Sprachphilosophie  ist.  Nicht  der  bewusste  W  ille  war  der  Erzeu- 
ger des  ersten  Sprachlautes;  Mitempfindung  ist  eine  der  Sprachquellen. 
Ist  aber  denn  der  erste  Sprachlaut  auf  etwas  Anderes  als  auf  Reflexbewe- 
gung —  die  Fundamentaltheorie  der  Philosophie  der  Sprache  —  zurückzu- 
führen? d.  h.  auf  die  unbewusste  und  ungewollte  Fortpflanzung  einer  Be- 
wegung sensibler  Nerven  auf  motorische  Nerven,  in  unserem  Falle  also  auf 
die  Beweger  der  Sprachorgane'?  Im  Uebrigen  steht  der  Verfasser  aller- 
dings durchaus  nicht  auf  dem  allzu  theoretischen  Boden  dieser  Richtung 
der  Sprachforschung. 

Prenzlau. 

Dr.  K.  Böddeker. 


Les  femmcs  savantes,  comedie  de  Moliere.  Für  den  Schulge- 
brauch bearbeitet  von  Dr.  C.  Th.  Lion.  gr.  8.  Leipzig, 
B.  G.  Teubner.     1871. 

Wir  begrüssen  diese  Ausgabe  als  einen  Versuch  (wohl  den  ersten,  der 
in  dieser  Richtung  gemacht  worden  ist),  auf  die  Erklärung  der  französischen 
Classiker  diejenige  Methode  anzuwenden,  deren  man  sich  bei  Erklärung  der 
griechischen  und  römischen  Schriftsteller  schon  längst  bedient  hat.  Der 
Verfasser  dieser  zunächst  für  den  Schulgebrauch  bearbeiteten  Ausgabe  sucht 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  321 

allen  Anforderungen,  die  man  an  eine  allseitige  Interpretation  stellen  kann, 
gerecht  zu  werden.  Die  ästhetische  Seite  der  Erklärung  findet  ebenso  Be- 
rücksichtigung, wie  die  sachliche  und  sprachliche.  Während  man  in  den 
vorhandenen  Ausgaben  einzelner  Suicke  des  Meliere  in  der  Repel  wenig 
mehr,  als  eine  ziemlich  magere  Didaskalie  als  Einleitung  antrifft,  glebt  uns 
der  Erklärer  der  Femmes  Savantes  auf  den  ersten  20  Seiten  seines  Buches 
Erläuterungen,  die  zur  vollständigen  Orientirung  iiber  die  Grundidee  des 
Stückes,  über  sein  Verhältniss  zu  den  Precieuses  Ridicules,  über  die  Ge- 
schmacksrichtung und  geistige  Atmosphäre,  in  der  das  Sujet  wurzelt,  und 
über  die  Charakterzeichnung  der  dargestellten  Personen  dienen.  Auf  die 
Arbeiten  französischer  und  deutscher  Literarhistoriker  ist  dabei  überall 
Piücksicht  genommen  worden.  Der  Gang  der  Handlung  wird  ferner  durch 
fortlaufende  den  einzelnen  Scenen  vorausgeschickte  Inhaltsangaben  entwickelt. 
Jedoch  sind  letztere,  wie  Ref.  scheint,  theilweise  zu  lang  ausgefallen,  so 
dass  sie  oft  mehr  einer  Pai-aphrase,  als  einem  Argumente  gleichen  und 
durch  ihren  Umfang  der  eigentlichen  Erklärung  ungebührlich  viel  Raum 
entziehen.  Auch  erschwei-t  die  bis  in's  einzelne  Detail  ausgeführte  Analyse 
einzelner  Scenen  die  Uebersicht  über  den  Zusammenhang  des  ganzen  Lust- 
spieles. Wo  im  Laufe  des  Stückes  der  Gedankengang  weniger  klar  und 
durchsichtig  erscheint,  kommen  überall  erläuternde  Anmerkungen  dem  Ver- 
ständnisse zu  Hülfe,  und  bei  den  mehrfachen  Anspielungen  auf  literarische 
und  philosophische  Richtungen  wird  der  Leser,  auch  der  nicht  classisch  ge- 
bildete, stets  genügende  Aufklärung  unter  dem  Texte  finden. 

Was  die  sprachliche  Erklärung  eines  modernen  Schriftstellers  anlangt, 
so  fehlt  es,  wie  Niemand  leugnen  wird,  bis  jetzt  durchaus  an  einer  auch  nur 
einigermaassen  sicheren  Norm  für  das  Maass  und  den  Umfang  des  zu  Lei- 
stenden. Die  durch  lange  Praxis  ausgebildete ,  aligemein  anerkannte  und 
bewährte  IMethode,  die  den  Erklärer  altclassischer  Schriften  leitet,  hat  kein 
Pendant  auf  dem  Gebiete  der  modernen  Philologie.  Hier  ist  alles  in  das 
subjective  Belieben  des  Commentators  gestellt.  Man  braucht  nur  die  Er- 
klärungsweise verschiedener  Ausgaben  ein-  und  desselben  Werkes  verglei- 
chend neben  einander  zu  stellen,  und  man  hat  den  Eindruck  der  buntscheckig- 
sten ^Justerkarte  von  der  Welt.  Einen  gemeinsamen  Zug  wird  man  hin- 
gegen bei  den  meisten  derselben  vorfinden,  nämlich  das  fortwährende  Ueber- 
greifen  der  Erklärung  in  das  Gebiet  der  Grammatik  und  des  Lexikons,  und 
zwar  häufig  in  die  elementarsten  Partien  der  ersteren  und  die  trivialsten 
des  letzteren.  Während  die  erklärenden  Ausgaben  der  altclassischen  Autoren 
fauch  die  für  den  Schulgebrauch  bestimmten)  die  hauptsächlichsten  Quellen 
bilden,  aus  denen  die  Grammatik  und  das  Lexikon  der  alten  Sprachen  immer 
neue  Elemente  der  Entwickelung  und  des  Wachsthums  schöpfen,  sehen  sehr 
viele  Erklärer  moderner  Schriftsteller  in  Grammatik  und  Lexikon  die  Sonne 
und  den  Mond,  aus  denen  das  über  den  erklärungsbedürftigen  Text  zu  ver- 
breitende Licht  vorzugsweise  hergeleitet  werden  muss.  ^\  eiche  Fülle  von 
Studien,  welche  umfangreichen  Vorarbeiten  muss  Jemand  machen,  der  einen 
griechischen  oder  römischen  Schriftsteller  mit  nur  einigem  Erfolge  erklären 
will.  Wie  leicht  ist  es  dagegen  bei  der  gegenwärtigen  Lage  der  Dinge 
einen  modernen  Schriftsteller  mit  erklärenden  Anmerkungen  herauszugeben, 
ohne  gerade  von  der  Kritik  allzuviel  befurchten  zu  müssen.  Dabei  sprechen 
wir  noch  gar  nicht  von  der  so  weit  verbreiteten  und  beliebten  Species  der 
editiones  notulis  aspersis  curatae,  die  den  Markt  täglich  enger  machen  und 
deren  Werth  sich  in  den  meisten  Fällen  auf  den  des  gebotenen  Textes  re- 
ducirt.  Sie  erscheinen  überhaupt  wohl  besser  anonym:  es  ist  wirklich  gar 
zu  bequem  und  unritterlich  auf  diese  Weise  Schriftsteller  zu   werden. 

Nach  den  obigen  Andeutungen  über  den  Mangel  einer  allgemeingültigen 
Interpretationsmethude  für  neusprachliche  Schriftsteller  kann  es  nicht  anders 
sein,   als  dass  wir  uns  in  verschiedenen  Punkten   mit   dem   Herrn   Verfasser 
Archiv  f.  n.  Sprachen.    XLVIII.  21 


322  Beurtlieilungen  und  kurze  Anzeigen. 

der  zur  Besprechung  vorliegenden  Ausgabe  nicht  einverstanden  erklären 
können.  Wo  die  Tradition  keinen  objeetiven  Maassstab  der  Beurtheilung 
an  die  Hand  giebt,  ist  eben  Jeder  berechtigt  vom  Standpunkte  seiner  sub- 
jectiven  Ansichten  und  Wünsche  aus  Kritik  zu  üben.  —  Wie  der  Verf. 
schon  in  der  Vorrede  andeutet,  hat  er  allerdings  das  Grammatische  in  ge- 
riniTerem  Maasse,  als  es  wobl  bis  jetzt  bei  einer  Erklärung  von  solchem 
Umfange  geschelien  ist,  herangezogen.  Nichtsdestoweniger  läuft  noch  man- 
ches mit  unter,  was  man  lieber  vermissen  würde.  Auch  bei  Aufnahme  von 
Lexikalischem  ist  nach  Ansicht  des  Kef.  nicht  überall  die  wünschenswerthe 
Zurückhaltung  beobachtet  worden.  So  hätten  wegfallen  können  die  Bemer- 
kungen zu  285  se  meler  de  qc,  314  s'aviser  de  qc,  341  ici  hierher,  357 
abuser  qq.  und  abuser  de,  584  trousseau,  603  du  moins  und  au  moins,  627 
humeur,  cadette,  689  nigaud,  734  se  piquer  de,  845  rien  etwas  (im  negat. 
Satze),  experience  (=  Experiment),  930  api)rofimdir,  1057  reclamer,  1063 
renvoyer  ä  qc,  1354  repartie,  1369  chaquejour,  1480  contrecarrer  qc,  1495 
pour  (was  betrifft)  und  anderes  mehr.  Bisweilen  würde  es  sich  empfohlen 
hüben,  den  Schüler  durch  kurze  Fragen  zur  Selbstaulfindung  der  im  Texte 
zur  Anwendung  gekommenen  grammatischen  Regeln  hinzuleiten.  Soviel 
Ref.  sich  erinn'ert,  hat  Verf.  sich  nirgends  dieses  pädagogischen  Kunstgriffes 
bedient.  Regeln  wie  die,  dass  nach  Jamals  der  Artikel  wegfällt  (v.  354) 
sollte  man  füglich  bei  dem,  der  Moliere  liest,  als  bekannt  voraussetzen. 

In  der  Vorrede  hebt  der  Verf.  hervor,  dass  er  „bei  keiner  wirklichen 
Schwierigkeit  vorübergegangen"  sei.  Ref.  möchte  hinzufügen  „absichtlieh," 
denn  er  ist  selbst  bei  der  Leetüre  auf  verschielene  Schwierigkeiten  gestossen, 
nach  deren  Lösung  er  sich  in  den  Anmerkungen  vergebens  umgesehen  hat. 
Belege  für  diese  Behauptung  wird  man  weiter  unten  in  genügender  Anzahl 
finden. 

Auf  den  dem  Dichter  eigenthümlichen  Sprachgebrauch  ist  hinlängliche 
Rürksicht  genommen  worden,  jedoch  hätten  die  vom  heutigen  Sprachge- 
brauch abweichenden  Eigenthumiichkeiten  oft  schärfer  marquirt  und  in  grös- 
serer Vollständigkeit  angeführt  werden  können,  obgleich  nicht  geleugnet 
werden  kann,  dass  es  in  vielen  Fallen  schwierig  ist,  eine  sichere  CJrenz- 
scheide  zwischen  poetischer  Dietion  und  veralteter  Ausdrucksweise  zuziehen. 

Die  nachfolgenden  Bemerkungen,  die  sich  den  in  der  Ausgabe  der 
Femmes  Savantes  gegebenen  Erklärungen  anschiiessen.  wollen  sich  zu  diesen 
theils  berichtigend,  theils  ergänzend  und  näher  ausführend  verhalten.  Ref. 
verwahrt  sich  ausdrücklich  dagegen,  als  wenn  er  alles,  was  er  vorbringt, 
zur  Aufnahme  in  eine  Schulausgabe  für  geeignet  angesehen  wissen  wolle: 
literae  non  habent  fines,  schola  h;ibet. 

V.  30.  une  idole  d'epoux  und  marmots  d'enfants  sind  anders  zu  beur- 
theilen  als  nom  de  fille.  Es  sind  Beispiele  des  apposiuonellen  Genitivs, 
une  id.  d'ep.  ist  gleich  un  epoux  qui  est  comme  une  idole  (Abgott  von 
einem  Gatten,  engl,  idol  of  a  husband).  Schon  die  lat.  Volkssprache  kennt 
diese  Art  des  Genitivs:  monstrum  mulieris  (monstre  de  femme),  scelus  viri, 
frustum  pueri.  36.  se  donner  tout  entier  =  lat.  totum  se  dare.  37.  vous 
avez  en  exemple.  Heutzutage  wird  avoir  mit  pour  construirt.  Es  ist  über- 
haupt die  Freiheit  zu  beachten,  die  sich  der  Moliere'sche  Sprachgebrauch 
in  der  Anwemlung  von  en,  pour,  comme  gestattet,  (vgl.  1138  considerer 
en  homme  st.  consid.  comme  l'homme.  A  vos  yeux  =  devant  (sousj  vos 
veux.  45.  aux  lois,  wovon  abhängig?  42.  epanche  ist  später  noch  einmal 
erklärt.  65.  esprit  mit  pron.  poss.  häutig  für  das  Personalpronomen  (wie 
lat.  animus)  vgl.  85.  190.  1276.  —  95.  Mol.  lässt  häutig  den  Theilungsartikel 
fort,  wo  ihn  die  gute  Prosa  nicht  entbehren  könnte,  besonders  häutig  nach 
ce  sont  und  vor  choses,  so  dass  dieses  \\'ort  fast  in  der  Weise  eines  un- 
bestimmten Pronomens  angewendet  erscheint,  vgl.  388.  ce  sont  emporte- 
ments.  ?14.  ce  sont  charmes.  716.  ce  sont  repas  friands.  843.  ce  sont 
petits  chemins.     1315.  ce  sont  choses    qui.     113.  „croi  fürcrois;"  überhaupt 


Beui'theilungen  und  kurze  Anzeigen.  323 

wird  bei  Dichtern  oft  das  parasitische  s  der  1.  pers.  sing,  praes.  in  der  2., 
3.  und  4.  Conjugation  nach  dem  Vorgange  des  Altfranzösischen  weggelas- 
sen, vgl.  185  je  croi.  347.  je  fai.  1623.  je  voi.  Es  geschieht  dieses  in 
Folge  des  von  den  Dichtern  des  16.  Jahrhunderts  aufgestellten  Grundsatzes, 
dass  ein  guter  Reim  nicht  nur  dem  Ohre,  sondern  auch  dem  Auge  annehm- 
bar sein  müsse,  vgl.  croi  —  foi,  croi  —  moi,  hai  —  fai.  336.  les  choses 
de  la  Sorte;  de  la  sorte  ist  hier  adverbiell  und  nicht  mit  les  choses  zu  ver- 
binden, während  es  504  finissez  un  discours  de  la  sorte  (=  höre  endlich 
mit  derartigen  Reden  auf;  von  discours  abhangt.  De  la  sorte  ist  einer  der 
wenigen  Ausdrücke,  in  denen  der  Artikel  den  ursprünglichen  dt-monstrativen 
Sinn  bewahrt  hat,  de  la  s.  rz  isto  modo.  147.  dun  refjard  pitoyable  ,  das 
letzte  \\'ort  hier  in  der  weniger  gebräuchlichen  liedeutuiig  „erbarmungs- 
voll."  149.  bontes  „Gütebezeugungen"  zu  steif,  besser:  Freundliclikeiten. 
170.  les  choses  du  devoir  =  was  zur  Pflicht  gehört.  174.  ceux  dont  j'ai 
re^u  le  jour,  lässt  sich  dont  st.  de  qui  nach  dem  heutigen  Spracligebrauch 
rechtfertigen?  183.  premlre  dans  qc.  hätte  eine  Bemerkung  verdient.  193. 
sur  moi  .  .  .  ramasser  wie  v.  1057.  que  reclament  nur  toi  und  sonst  con- 
querir  sur  qq.  prendre  sur  qc.  195.  descendre  =  condescendre.  218.  clar- 
täs  de  tont  —  Einsicht  in  Alles.  223.  enfin  (=  kurz)  wird  erst  später  v.  1788 
erklärt.  229.  se  rendre  l'erho  ^^^  se  faire  l'echo  wie  umgekehrt  v.  1526  se 
faire  maitre  statt  des  jetzt  üblichen  se  rendre  maitre.  248.  priser  ist  hier 
nicht  „hochschätzen,"  sondern  „lobpreisen."  251.  fatras  ist  weiterliin  ein 
zweites  Mal  erklärt.  256.  zu  soi-meme  =  lui-meme  hätte  mit  Verweisung 
auf  V.  1554  gleich  darauf  aufmerksam  gemacht  werden  können,  dass  Moliere 
umgekehrt  auch  lui  (lui-meme)  gebraucht,  wo  sich  der  heutige  Sprachge- 
brauch für  soi  (soi-meme)  entschieden  hat.  268.  „gageure  sprich  gajure 
nach  dem  dict.  de  l'Acad."  e  ist  in  diesem  Worte  jetzt  ebensogut  Lese- 
zeichen wie  z.  B.  in  mangeons.  Ein  Suffix  eure  kennt  das  Franz.  nicht; 
gageure  ist  von  gager  ebenso  gebildet  wie  armure  von  armer.  Dass  indes- 
sen das  e  ursprünglich  etymologisch  berechtigt  war,  zeigen  die  altfranz. 
Formen  armtüre  üt.  armrttura),  ambleüre,  troveüre  u.  s.  w.  285.  si  la 
bouche  vient  ä  s'en  voulolr  meler.  „vient  ä  so  weit  geht."  Die  von  vient 
ä  gegebene  Uebersetzung  scheint  nach  dem  Zusammenhange  nicht  recht 
passend,  da  Belise  andeuten  will,  dass  bei  der  ihr  geweihten  Liebe  der 
Mund  überhaupt  nicht  mit  in  Action  zu  treten  habe.  Auch  würde  „so 
weit  geht"  franz.  besser  mit  va  jusqu'ä,  en  vient  jusqu'ä,  en  arrive  ä  gege- 
ben werden;  si  la  b.  vient  ist  wohl  für  das  gebräuchlichere  si  la  b.  venait 
zu  nehmen,  und  die  Stelle  zu  übersetzen :  wenn  der  Mund  (wie  ich  nicht 
erwarte;  sich  darein  mischen  sollte.  Engl,  würde  man  ähnlich  if  your 
mouth  came  to  meddle  with  it  sagen  können.  Ausserdem  enthält  der  Vers 
eine  kleine  Doppelsinnigkeit,  die  dem  Erklärer  entgangen  zu  sein  scheint 
und  die  wohl  auch  nicht  in  der  Absicht  des  Dichters  gelegen  haben  mag. 
327  coramettre  qq.  a  qc.  =  charger  qq.  de  qc.  330.  Ist  zu  j'appuirai,  pres- 
serai,  ferai  in  grammatischer  Beziehung  nichts  zu  bemerken?  333.  Dieu 
vous  gard'.  gaid'  (auch  ohne  Api)stropli  geschrielien)  fin  iet  sich  so  auch 
bei  anderen  Dichtern  (La  Font.,  Voltaire),  besonders  in  der  Phrase  Dieu 
vous  eard.  340.  Die  eigenthümliche  Bedeutung  von  raerite  hätte  wenigstens 
einmal  angegeben  werden  sollen.  340.  en  mon  voyage  =  dans  mou  voy. 
365.  eneor  =  encore.  galaniment  (on  ne  peut  tromper  plus  galamn)ent) 
übersetzt  der  Ei-klärer  mit  „geschickt;"  es  hindert  indessen  durchaus  nichts, 
es  hier  in  seiner  gewöhnliclien  Bedeutung  zu  nehmen.  385.  „ceans:  ecce 
intus:  ici  dedans,"  „ceans  ist  vielmehr  gleich  dem  lat.  ecce  Jiac  intus,  wie 
sein  Correlativ  leaits  =  illac  intus ;  Genin  ist  in  Sachen  der  Etymologie 
durchaus  keine  Autorität,  er  spielt  im  Gegentheil  auf  diesem  Gebiete  nur 
die  Rolle  eines  abenteuernden  Laien.  390.  pur  un  desespoir  ==  in  Folge 
der  Verzweiflung.  402.  son  alliance  =  die  Familienverbindung  mit  ihm. 
403.  zu  de  bien  il  n'a  pas  l'abondance  vergl.  deutsch  er  Imt  Geld  die  Fülle 

21* 


524  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

414    de  ce  pas   Twlrd   erst  welter  unten  erklärt)  entspricht    dem  Deutschen 
stehenden  Fusses."    417.  je  vais  a  raa  femme  en  parier  sans  delai.    V\  ovon 
hän"t    ii  ma  femme   ab?     420.   heritage  =   glückliches   Loos    (wie    lat.  sine 
sacns  hf'reditas).     435.  je  ne  fais  seulenient   que   demander  son   crime,   „im 
17    J'ihrh    füf^te  man   wohl  noch  seulement   dem  ne  —  que   hinzu;"    es   ge- 
schieht noch  heute  im  volksthümlichen  Stile.     437.  je   ne   dis   pas   cela  (ca) 
ist  die  gewöhnliche  Formel,  die  derjenige  braucht,   der  sich  gegen  eine  a,us 
einer  Aeusserung  von  ihm   gezogene  Consequenz   verwahren    will     459.   in- 
solence  a  nulle  autre   pareille  =  ins.  sans   pareille,    vgl.  v.  715.    douceur   a 
nulle  autre  pareille.     479.  ne  voilk  pas  =  ne  voilä-t-il  pas.     522.  met  Vauge- 
his  en  pieces  =  macht  V.   zu    Schanden.     5B0.    que    de   bruler  ma  viande, 
QU  saler  trop  mon  pot,  mit  dichterischer  Freiheit   ist   de  vor  saler  ausgelas- 
sen.    548.     (notre  plus  grand  soin  .  .  .)   doit  etre  u  le   nourrir  =  doit  etre 
de  le  nourrir.     553.  Zu  il    (das  Wort  SoUicitude)   pue  etrangement  son  an- 
ciennete  wie  zu  v.  1044  eile  (la  bailade)  sent  son  vleux  temps  beachte  man 
den  eigenthümlichen  Gebrauch  des  pron.  poss.  statt  des  bestimmten  Artikels. 
Das  Dict.  de  l'Acad.  kennt  diese  Anwendung  des  pron.  poss.  nur  bei  sentir, 
auch  weisen  die  Beispiele,    die    sie    dazu  anführt,    nur    persönliche   Ubjecte 
auf:  Dans  le  discours  familier,  son,  sa,  Joint  au  verbe  Sentir,  equivaut  a  1  ar- 
ticle:  „II  sent  son  homme  de   qualite,   il   sent   son  hypocrite,   son   tartute. 
vgl.  auch  unter  Sentir.     555.  Wie  ist  voulez-vous  que  je  dise  am  besten  zu 
übersetzen?     559.  en  parlant  bezieht  sich  hier  nicht  auf  das  Subject^    568. 
aller  chercher  (=  rechercher)   hat  an  dieser  Stelle  nicht  seine  gewöhnliche 
Bedeutung  (holen).      571.   il  n'est   pas    bien  honnete,   et   pour   beaucoup    de 
causes,  e?  explicativ  „und  zwar,"  ebenso  in  v.   1292.    598.  Wie  ist  das  Wort- 
spiel raisonnement  —  raison  deutsch  wiederzugeben?  620.  de  contusion  =  par 
confusion.      659.   Die   über    avec   (n'avez-vous   point   de   honte,    avec    votre 
mollesse?)    gegebene   Bemerkung  möchte   Ref.   etwas   bestimmter    tormulirt 
haben-  „avec  streift  bisweilen,  besonders  in  Sätzen,  die  eine  Verwünschung, 
einen  Tadel  oder  eine  Missbilligung  enthalten,   hart   an   die  Bedeutung^  des 
causalen  pour,  k  cause  de.     vgl.  325.  diantre  soit  de  la  folle  avec  ses  visions. 
v    666    ma  femme  est  terrible  avecque  son  humeur."    Grammatik  und  Lexi- 
kon haben   diesem   Gebrauche   bis  jetzt  noch   wenig   Beachtung   geschenkt. 
Schon  das  ältere  Latein  hatte  cum  in  analoger  Weise  gebraucht,  z.  B.  di  te 
deaeque  omnes   faxint   cum  istoc  omine  (Plautus)  (=  va-t-en  au  diable  avec 
ta  mauvaise  prophetie,  it.  vattene  in  malora  con  quella  cattiva  protena)  cum 
istoc  animo    es  vituperandus   (Terenz)   (=  tu  es  ä  blamer   avec   ta  maniere 
de  voir).     67'^  on  en  a  pour  huit  jours  d'effroyable  tempete,  en  =  de  1  Op- 
position qu'on  lui  falt  (ä  Philaminte),   d'eftr.   temp.   ist  nicht   abhangig   von 
pour   huit  jours,   sondern  de  steht  im  partitiven  Sinne  wie  z.  B.  in  avoir  de 
f'orage  (=  ein  Gewitter  haben,  bekommen).     676.   ma  mie  ursprünglich  ma 
amie  und  elidirt  nramie,  dann  orthographisch  falsch  abgetheilt  ma  nue;  ein 
Ausdruck  wie  sa  douce   mie    würde  also,    streng  genommen,   als    lehlerhatt 
gelten  müssen.     684.  mit  vouloir  etre  iin  homme  vergleiche  man  v.  710     je 
ra'en  vais  etre  homme.     710.  „aller,  lie  ä  un  autre  verbe  ä  1  infimtif :  iMoliere 
en  fait  tovjours  un  verbe   reflechi   avec  en.     (Genin  p.   14.)"      Das   ist   ganz 
einfach    eine   übertriebene    und    unrichtige    Behauptung.      731.  ü  n  Importe 
(vgl.  1580  il  n'importe  comment),    jetzt  würde  man   il  weglassen.     737.   vite 
de  quoi  s'assoir  bedarf  durchaus  einer  genaueren  Erklärung   (vgl.  it.  dar  da 
sedere  =  dare  una  sedia).      771.   ces   deux   adverbes  joints  fönt  admirable- 
ment  =  diese  beiden  Ad.  machen  sich  wunderschon  zusammen.     780.    In 
Faites-la  sortir,  quoi  qu'on  die,  —  de  votre  riche  appartement  verdankt  der 
Ausdruck  qmi  qu'on  die  lediglich  der  Keim-  und  Versnoth  sein  Dasein.    tA: 
ist  in  diesem  Zusammenhange  durchaus  müssig  und  nichtssagend,   da  es  ab- 
geschmackt ist,  zu  vermuthen,  dass  Jemand  die  Partei  des  Fiebers  ergreiten 
werde,  wiePliilaminte  v.  88  in  den  Worten  thut:  que  de  la  fievre  on  prenne 
ici  les  interets.     Die  Allgemeinheit  und  Beziehungslosigkeit   dieser  Phrase 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  325 

ist  es  eben,  dio  den  Anlass  zu  dem  komisclien  Bestreben  giebt,  in  ibr  eine 
Fülle  poetischer  Schönheiten  finden  zu  wollen.  Während  der  Dichter  an- 
dere Wendungen  aus  dem  poetischen  Machwerke  des  Trissotin  nur  ein- 
oder  zweimal  von  den  gelehrten  Damen  bewundern  lässt,  lässt  er  sie  iumier 
wieder  zu  den  enthusiastischen  Ausrufen  über  die  Vorzüglichkeit  von  quoi 
qu'on  die  zurückkehren.  801.  caquets  ==  Klatsch.  809.  Zu  avez-vous  com- 
pris  tonte  son  energie  (l'energie  de  „quoi  qu'on  die"  sowie  zu  1495  vous 
pouvez  vous  assurer  de  hii  (de  mon  coeur)  und  zu  1496  quand  j'aurai  .son 
appui  (l'appui  de  votre  coeur)  konnte  angegeben  werden,  inwiefern  dieser 
Gebrauch  der  Pronomina  von  dem  gewöhnlichen  prosaischen  Sprachgebrauch 
abweicht.  816.  tiercets  (tercets)  geschrieben  wie  tiers  (tertius),  an  das  es 
sich  orthographisch  anzulehnen  scheint.  835.  vous  vous  sentez  saisir  =:  man 
fühlt  sich  ergriffen.  844.  nouveau,  hier  gleich  „originell."  849.  et  bei 
esprit,  il  ne  Test  pas  qui  veut,  qui  auf  il  zu  beziehen.  856.  vendre,  acheter, 
cheremcnt  (st.  eher)  findet  sich  besonders  häufig  bei  figürlichem  Sinne  der 
Rede  wie  in  vendre  clierement  sa  vie,  sa  liberte,  sodann  wenn  das  Adverb 
in  einer  zusammengesetzten  Zeit  dem  Particip  vorangeht,  z.  B.  il  a  chere- 
raent  achete  la  victoire.  877.  sur  votre  sujet  —  sur  votre  compte.  898.  il 
faut  se  relever  de  ce  honteux  partage.  „Unter  partage  wird  hier  der  An- 
theil  verstanden,  der  bei  der  Arbeitstheilung  den  Frauen  zugefallen  ist." 
Part,  hat  hier  wohl  wie  in  den  Ausdrücken  avoir,  donner,  tomber,  echoir 
en  partage  die  allgemeine  Bedeutung  .,,Loos."  Die  Verbindung  mit  relever 
würde  sich  sonst  kaum  rechtfertigen  lassen.  899.  hautement  hier  am  besten 
mit  „offen  und  kühn"  zu  übersetzen.  901.  brillants  de  leurs  yeu.x.  „hrillants\ 
qualites  brillantes."  Das  Wort  wird  man  an  dieser  Stelle  am  besten  im 
eigentlichen  Sinne  verstehen,  wie  der  Gegensatz  von  les  lumieres  de  leur 
esprit  zeigt.  942.  de  mortelles  sentences  =  des  sentences  de  mort.  947 
und  948.  „noble  et  dont  .  .  .,  plein  de  gloire  et  qui  .  .  .,"  ein  Relativsatz 
steht  hier  zweimal  gleich  einem  adjectivischen  Attribut."  Diese  dem  franz. 
eigenthümliche  Anknüpfung  eines  Relativsatzes  mit  et  zeigt  an,  dass  sich 
das  Relativ  auf  das  Nomen  allein,  nicht  auf  das  attributiv  bestimmte  Nomen 
bezieht.  977.  la  main  .  .  .  dit  ;=  die  Hand  zeigt  an.  979,  980,  982.  sa- 
voir  du  grec  =  savoir  le  grec  (it.  saper  di  greco  st.  sapere  il  greco).  994. 
„cours  Promenade,"  warum  nicht,  da  es  doch  einmal  ohne  Fremdwort  nicht 
abgeht,  gleich  Corso?  1005.  de  petits  vers  .  .  .  sur  qunl,  quoi  (ebenso 
wie  qui)  mit  Präpositionen  wird  bei  den  Dichtern  des  17.  Jahrh.  auf  Sachen 
bezogen.  1026.  la  fieore  qui  tient  la  princesse  wie  lat.  febris  quae  tenet 
aliquem.  1047.  Wie  ist  reste  zu  übersetzen?  10^6.  parlous  d'autre  affaire 
wie  623.  discourons  d'autre  affaire  ist  Formel,  um  ein  Gespräch,  <las  eine 
unangenehme  Wendung  nimmt,  abzubrechen.  1098.  j',y  suis  Messe  zz  j'e/i 
suis  blesse.  Bei  einigen  Verben  erlauben  sich  die  Dichter  bisweilen  die 
locale  Beziehung  statt  der  causalen  auszudrücken,  z.  B.  etre  etonne  ä  (st. 
de)  trembler  ä  (st.  de),  so  hier  etre  blesse  a  qc.  vgl.  1155.  mon  coeur 
s'emeut  d  toutes  ces  tendresses.  1101,  i<«  eclat  d'w«  moment  ist  statt  l'eclat 
d'un  moment  mit  Rücksieht  auf  un  freie  ornement  und  une  fleur  passagere 
gesetzt,  um  die  Gleichmässigkeit  der  Structur  nicht  zu  unterbrechen.  Ein 
Subst.  mit  unbestimmtem  Artikel,  von  dem  ein  anderes  Subst.,  ebenfalls  mit 
unbestimmtem  Artikel,  im  Genitiv  abhängt,  ist  im  Franz.  eine  ausserordent- 
liche Seltenheit.  Man  kann  dicke  Bücher  durchlesen,  ohne  auf  ein  Beispiel 
dieser  Art  zu  stossen.  11.50.  echauffer  les  oreilles,  wie  heisst  der  entspre- 
chende deutsche  Ausdruck?  1171.  il  n'en  est  pas  encore  oü  son  coeur  peut 
pretendre,  „en  weist  auf  das  Schwiegersohnwerden  zurück;"  das  Pronominal- 
adverlj  dient  zur  allgemeinen  Ortsbezeichnung  ohne  specielle  Beziehiuig  auf 
das  Vorhergehende,  wie  so  häufig  bei  figürlicher  Rede,  z.  B.  il  n'en  est 
pas  encore  la  (anderen  Sinn  bat  il  n'est  pas  encore  lä),  l'etat  oii  en  sont  les 
choses,  les  choses  n'en  sont  pas  encore  ä  ce  point  u.  s.  w.  1191.  Zu  tou- 
jours  k  vous  louer  il  a  paru  de  glace  wäre  eine  Bemerkung  sehr  am  Platze 


326  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

gewesen.  1242  und  1.564.  laisser  la  =  laisser  a  part  (v.  1252).  1281  bei 
fiertos  hätte  auf  v.  40  verwiesen  werden  können.  Abstracta  können,  wie 
im  Lat.,  in  den  Plural  gesetzt  werden,  wenn  ihr  Begriff  seinem  ganzen 
Umfange  oder  steinen  concreten  Aeusserungen  nach  aufgefasst  werden  soll. 
1293.  on  le  prise  en  tous  lioux  ce  qu'il  vaut;  die  weniger  bekannte  Regel 
über  die  Construction  der  Verba  des  Abschätzens  u.  s.  w.  hätte  Erwähnung 
verdient.  1.315.  Ce  sont  choses,  de  sei,  qui  sont  belles  et  bonnes.  de  soi 
steht  mit  dichterischer  Freiheit  vor  dem  Relativsatze,  dessen  adverbiale  Be- 
stimmung es  bildet,  und  ist  daher  bei  der  Uebersetzung  in  denselben  zu 
ziehen.  1324.  si  les  raisons  manquaient,  je  svi.t  sür  qu'en  tous  cas  etc.,  je 
suis  sur  gehört  zum  ganzen  Satze  (sonst  miisste  es  heissen  je  serais  sür). 
Es  ist  zu  construiren:  je  suis  sür  qiie,  si  les  raisons  manquaient,  en  tous 
cas  etc.  Deutsch  wird  man  je  suis  sür  am  besten  durrh  ein  Adverb  wieder- 
geben. 1333.  snt  j)lus  qu'un  sot  ignorant,  nachdrucksvolle  Umstellung  statt 
j)lus  sot  wie  in  un  Romain  lache  assez  pour  servir  sous  un  roi  (Ccnieille.) 
1343,  vous  prenez  tant  les  armes;  tant  gleich  avec  tant  de  zele.  1364. 
c'est  tout  dh  =  c'est  tout  dire,  part.  passe  statt  infinit.  ]n-esent  wie  bei  La 
Font.  Fabl.  2,  19:  oui,  reprit  le  lion,  c'est  bravement  crie.  1381.  chez  eile 
=  y,  der  Hof  wird  persönlich  gedacht,  daher  c-hcz.  Diese  Personification 
ist  vorbereitet  durch  die  Ausdrücke  eile  (la  cour)  n'est  pas  si  bete  und 
eile  a  du  sens  commun;  1398.  beaucoup  necessaire  veraltet  statt  tres-neces- 
saire.  1407.  „epancher  (lat.  expandere),"  eigentlich  aus  der  Weiterbildung 
expandicare.  1416.  „pour  statt"  ist  nicht  ganz  zutreffend.  Der  Sinn  des 
Satzes  ist  tout  leur  merite  consiste  ä  etre  ricbes  en  babil  importun.  1453. 
„envoyer  ä  qn.  wie  wir  sagen:  zu  jem.  schicken."  besser:  nach  jem.  schicken. 
1472.  madame  votre  femme  würde  jetzt  recht  spiessbürgerlich  klingen. 
1496.  je  ne  puis  qu'etre  heureux  quand  j'aurai  .'on  nppui ;  es  wäre  zu  be- 
denken, ob  dieser  Vers  nicht  eine  Inversion  von  qne  enthielte  und  dem 
Sinne  nach  gleich  je  ne  puis  etre  heureux  que  quand  j'aurai  son  appui  wäre. 
So  safjt  Corneille  mit  invertirtem  que:  tu  n'as  fait  le  devoir  c[ue  d'un 
homme  de  bien.  150S.  faire  ecouter  la  raison  =  faire  enteudre  raison. 
1532.  (vgl.  V.  619)  vouloir  mal  steht  dem  lat.  male  velle  näher  als  das  ge- 
wöhnlichere vouloir  du  mal  (vgl.  vouloir  bien  zz  vouloir  du  bien).  1584. 
„en  depit  qu'elle  en  ait  im  Verdruss,  den  sie  auch  davon  haben  mag,"  bei 
dieser  Uebersetzung  wäre  die  Auslassung  des  Artikels  vor  depit  nicht  zu 
rechtfertigen.  Der  Ausdruck,  der  übrigens  noch  nicht  veraltet  ist,  seheint 
seine  Entstehung  der  Verschmelzung  zweier  Constructionen  zu  verdanken, 
malgre  (le  depiti,  qu'elle  en  ait  und  en  depit  d'elle.  1647  je  serais  im  sot; 
der  unbestinnnte  Artikel  zur  Hervorhebung  des  Begriffes.  1703.  ne  voulant 
savoir  le  grais  ni  le  latin,  vor  le  grais  ist  in  volkstliümlicher  Weise  ni  aus- 
gefallen, virl.  1713.  qui  ne  sache  A  ne  B.  1716.  eile  a  dit  verite  =  eile  a 
dit  la  verite.  1747.  „Die  Verdoppelung  faites,  faites,  um  der  Aufforderung 
den  rechten  Nachdruck  zu  geben."  Diese  Bemerkung  passt  auch  zu  1669: 
1673.  1674  1785  je  baise  les  mains  =:  ich  empfehle  mich.  1787.  que  peu 
philosophe  est  ce  qu'il  vient  de  faire,  auffällig  und  ungewöhnlich  ist  hier  der 
adjeetivische  Gebrauch  von  philosophe  st.  philosophique.  Ausdiiicke  wie  roi 
philosophe.  femme  ph.,  siecle  ph.,  tete  ph.,  esprit  ph.  sind  hiermit  nicht  zu 
vergleichen,  da  in  ihnen  philosophe  appositi  v  steht;  auch  würde  man  sihwer- 
lich  conduite  philosophe,  tranquillite  philosophe  und  ähnliches  sagen.  1820. 
c'est  un  stratageme,  vn  svrjn-cnant  secovrs,  die  letzten  Worte  sind  gleich 
le  secours  d'une  surprise,  surprise  in  der  militärischen  Bedeutung  von  Ueber- 
fall  genommen;  das  mit  stratageme  begonnene  dem  Kriegswesen  entlehnte 
Bild  wird  in  surprenant  secours  fortgesetzt. 

Was  Druck  und  äussere  Ausstattung  des  Werkchens  anlangt,  so  schliesst 
es  sich  würdig  den  bekannten  Ausgaben  der  im  Teubner'schen  Verlag  er- 
schienenen antiken  Schriftsteller  an.  Jedoch  sind  einige  Druckfehler  anzu- 
merken: 138.  desirs  st.  desirs.   357.  Fehlt  ein  Komma  zwischen  comment  und 


Beurthellungen  und  kurze  Anzeigen.  327 

ma  ?oeur.  Z.  518.  parties  de  discours  st.  p.  du  discours.  706.  raissonnable 
St.  raisonnable.  Z.  890.  tous  st.  toutcs,  commes  st.  sommes.  947  und  48 
st.  d-nl  und  948.  1125.  prenez  vous  ohne  tiret.  1644.  sous  st.  vous.  1653. 
des  calendes  st.  de  calendes.  z.  1682.  pron.  inter.  st.  pron.  rel.  1663.  serai 
st.  sera.     z.  17  66.  Kehrseite  st.  Kehrseite. 

Indem  wir  schliesslich  die  Ausgabe,  die  in  AnUige  und  Ausführung  alle 
bisher  erschienenen  Erklärungen  einzelner  Moliere'scher  Stücke  übertrifft, 
allen,  die  sich  für  den  französischen  Lustspieldichter  interessiren,  auf  das 
beste  enmffhlen,  machen  wir  noch  darauf  aufmerksan),  dass  der  Verfasser, 
wie  er  in  der  Vorrede  andeutet,  zunächst  den  Tartufe,  dann  den  Misanthrope 
in  gleicher  Weise  zu  bearbeiten  gedenkt.  Möge  das  Unternehmen  einen 
gedeihlichen  Fortgang  nehmen. 

Langensalza.  Th.  Am  eis. 


Sicilianische  Märchen.  Aus  dem  Volksmund  gesammelt  von 
Laura  Gonzenbach.  Mit  Anmerkungen  Reinhold  Köh- 
ler's  und  einer  Einleitung.  Heraussiegeben  von  Otto  Hart- 
wig. TLeil  I:  LIII  u.  368  S.,  'Th.  11:  IV  u.  263  S. 
Leipzig.     Wilhelm  Engelmann.  1870. 

Während  das  sicilianische  Volkslied  der  Beachtung  gelehrter  Sammler 
und  Forscher  schon  seit  einer  Reihe  von  Jahren  sich  erfreut,  war  der 
reiche  Schatz  volksthündiclier  Prosadichtung,  den  die  durch  Xaturschönheit 
und  Geschichte  in  gleicliem  Maasse  anziehende  Insel  birgt,  bis  zum  Er- 
scheinen des  vorliegen<)en  üuchs  noch  fa;^t  ganz  ungehoben  gehlieben.  Es 
war  daher  ein  glücklicher  Gedanke,  der  Otto  Hartwig  veranlasste,  Fräulein 
l>aura  Gonzenbach  in  Messina  —  seitdem  mit  dem  italienischen  Oberst 
Herrn  La  Racine  vermählt  —  zur  Aufzeiclnuuig  einiger  sicilianischer  Mär- 
chen anzuregen.  Fräulein  Gonzenbach  war  dieser  Aufgabe,  welche  mit 
nicht  zu  unterschätzenden  Schwierigkeiten  verknüpft  ist,  gewachsen  wie  we- 
nige. Eine  geborne  Sicilianerin  und  ..des  Dialektes  von  Messina  vollkom- 
men mächtig,"  dazu  mit  einem  feinen  Sinn  für  die  zarte,  so  leicht  zu  ver- 
wischende Eigenthümlichkeil  der  Märchenpoesie  begabt,  entbehrte  sie  keiner 
der  Eigenschaften,  welche  in  diesem  Fall  v^n  dtr  Sammlerin  gefordert 
wurdem  Ihr  treffliches  Talent  zu  erzählen,  verbunden  mit  völliger  Beherr- 
schung der  deutschen  Sprache,  befähigte  sie  in  hohem  Grade  dazu,  das 
Gesammelte  vor  einem  deutschen  Leserkreis  würdig  darzustellen.  Die 
Grundsätze,  von  welclien  Frl.  G.  bei  der  Darstellung  sieh  leiten  liess,  giebt 
sie  in  einem  Briefe  an  den  Herausgeber  (^Vorwort  S.  IX)  folgendermaassen 
zu  erkennen  :  ,,     ,•  i 

„Nun  möchte  ich  Ihnen  auch  noch  sagen,  dass  ich  mem  Möglichstes 
o-ethan  habe,  um  die  Märchen  recht  getieu  so  wieder  zu  geben,  wie  sie  mir 
erzählt  wurden.  Den  ganz  eigenthünilichen  Reiz  aber,  der  in  der  Art  und 
Weise  des  Erzählens  der  Sicilianerinnen  selbst  hegt,  habe  ich  nicht  wieder- 
geben können.  Die  Meisten  erzidden  mit  unendlicher  Lebhaftigkeit,  indem 
sie  dabei  die  ganze  Handlung  mitagiren,  mit  den  Händen  sehr  ausdrucks- 
volle Geberden  machen,  und  wenn  es  gerade  passt,  in  der  Stube  herumge- 
hen. Auch  wenden  sie  niemals  ein  „Er  sagt"  an,  da  sie  den  Wechsel  der 
Personen  stets  durch  die  Intonation  angeben.  Das  schliesst  aber  nicht  aus, 
dass  sie  dafür  das  Wort:  dici  (sagt)  bis  zum  üebermaass  brauchen,  z.  ß. 
„O  figghiu,    dici,  come  va,  dici,  pi  stiparti,  dici,  sulu,  sulu  dici,  u.  s.  w."  _ 

wie  bei  einer  mit  Liebe  ergritJenen  Arbeit  jede  überwundene  Schwie- 
rigkeit die  Lust  zur   Sache    steigert,    so   geschah   es   auch  hier:  Frl.  G.'s 


328  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Sammluno;  wuchs  in  verhältnissmässig  kurzer  Zeit  zu  einem  stattliehen  Um- 
fang an  und  aus  dem,  was  ursprünghch  dazu  bestimmt  war,  zu  Dr.  O.  Hart- 
wig's  Werk  „Aus  Sicilien,  Cultur-  und  Geschichtsbilder,  2  Bde.,  C'assel 
18(j7— 69"  einen  Anhang  zu  bilden,  wurde  das  vorliegende  Buch,  welches 
nicht  weniger  als  92  Märchen  enthält.  Eine  der  ersten  Autoritäten  auf 
diesem  Gebiete,  Reinhold  Köhler,  dem  der  Herausgeber  das  Manuscr/pt  vor 
der  Drucklegung  zur  Einsicht  zugeschickt  hatte  (vgl.  S.  X),  hat  die  gegen- 
wärtige Sammlung  als  eine  „wahrhafte  Bereicherung  der  Märchenliteratur" 
bezeichnet.  Und  in  der  That  hat  sowohl  der  Laie,  der  bloss  zu  seiner  gei- 
stigen Erfrischung  gern  in  die  anspruchslose  Tiefe  der  Volksdichtung  sich 
versenkt,  als  der  Fachmann,  der  sie  zum  Gegenstand  gelehrter  Forschung 
macht,  alle  Ursache,  der  Sammlerin  unrl  dem  Herausgeber  für  diese  werth- 
volle  Gabe  dankbar  zu  sein;  denn  nur  wenige  Sammlungen  dieser  Art 
dürfte  es  geben,  welche  beiden  Lesergattungen  mehr  zu  bieten  hätten. 

Um  den  Fachmann  hat  auch  Reinhold  Köhler  durch  seinen  Antheil  an 
dem  vorliegenden  Buch  sich  besonders  verdient  gemacht.  Von  ihm  rührt 
laut  der  Vorrede  (S.  X)  „im  Wesentlichen  die  Anordnung  der  Mäichen 
her,  wie  sie  hier  vorliegt,"  und  wir  können  es  nur  billigen,  dass  er  zur  Er- 
leichterung des  wissenschaftlichen  Studiums  die  verwandten  Erzählungen, 
welche  häufig  nur  wenig  abweichende  Variationen  desselben  Themas  bilden, 
zusammengestellt  hat.  Namentlich  aber  verdanken  wir  Köhler  die  das 
Buch  schliessenden  Anmerkungen,  in  denen  er  aus  dem  reichen  Schatz  seines 
Wissens  in  mögsichst  knapper  Form  einen  höchst  werthvoUen  Beitrag  zur 
vergleichenden  Märchenkunde  giebt. 

Die  Einleitung  zur  Sammlung  rührt  von  dem  als  tüchtiger  Kenner  Si- 
ciliens  und  seiner  Geschichte  bekannten  Herausgeber  her.  Sie  handelt 
ihrem  Hauptinhalte  nach  zwar  nicht  von  den  Märchen;  sie  beschäftigt  sich 
aber  mit  einer  Frage,  deren  Lösung  jeder  „Untersuchung  über  Entstehung, 
Verbreitung  und  nationalen  Gehalt  der  in  Sicilien  verbreiteten  Märchen" 
nothwendig  vorhergehen  muss,  mit  der  Frage  nämlich,  nach  „der  Entste- 
hung und  Zusammensetzung  der  jetzt  in  Sicilien  herrschenden  Nationalität." 
Nach  einigen  Andeutungen  über  die  insulare  Lage  Siciliens  und  über  die 
zweiseitige  Wirkung  derselben,  über  den  Gegensatz  zwischen  Küste  und 
Binnenland,  so  wie  zwischen  verschiedenen  Theilen  der  Küste  selbst,  über 
das  hohe  Alter  einiger  sicilianischer  Gebräuche  und  einiger  in  den  Volks- 
liedern sich  erhaltender,  wenn  auch  vom  Volke  nicht  mehr  verstandener, 
historischer  Erinnerungen  beginnt  der  Verfasser  seine  Untersuchung  damit, 
dass  er  aus  der  Hauptmasse  der  sicilianischen  Bevölkerung  „zwei  durch 
ihre  Sprache  leicht  von  ihr  abzulösende  kleine  Bestandtheile"  ausscheidet. 
Es  sind  dies  —  mit  Uebergohung  der  Spanier,  welche  gar  nicht  in  Betracht 
kommen  können  —  die  Albanesen,  welche  sich  im  15.  Jahrhundert  auf  der 
Insel  ansiedelten,  und  die  sogen.  Lombarden,  d.  h.  Oberitaliener  aus  dem 
Montferratinischen,  die  schon  seit  dem  letzten  Viertel  des  11.  Jahrhunderts 
nach  Unteritalien  und  Sicilien  gekommen  waren.  Auch  diese  letzteren 
können  trotz  der  frühen  Zeit  ihrer  Einwanderung  und  ihrer  verhältnissmässig 
grossen  Zahl  keinen  bedeutenden  Einfluss  auf  die  Ausbildung  des  nationalen 
Typus  der  Sicilianer  ausgeübt  haben,  wie  schon  aus  der  schaffen  Absonde- 
rung ihres  in  einigen  ihrer  Colonien  noch  jetzt  fortlebenden  oberitalienischen 
Dialects  hervorgeht. 

Nachdem  der  Verfasser  durch  diese  Ausscheidung  nicht  wesentlicher 
Elemente  sich  seine  Aufgabe  vereinfacht ,  giebt  er  in  gedrängter  Darstel- 
lung einen  Ceberblick  über  (ien  Wechsel  der  Nationalitäten  und  Sprachen 
auf  Sicilien  und  ihres  Verhältnisses  zu  einander.  Die  Punkte,  auf  die  es 
hier  namentlich  ankommt,  mögen  hier  kurz  hervorgehoben  werden.  „Nach 
Vertreibung  der  Punier  von  der  Insel"  war  „die  griechische  Sprache  die 
fast  allein  herrschende  auf  ihr"  (S.  XXXI).  Mit  der  römischen  Eroberung 
kam  dann  die  lateinische  hierher,  der  es  jedoch  nicht  gelang,  die  griechische 


Beurtheiliiiigen  und  kurze  Anzeigen.  829 

ganz  zu  verdrängen,  die  vielmehr  noch  im  6.  Jahrhundert  unsrer  Aora  sich 
mit  jener  zu  ziemlich  gleichen  Fl'alften  in  die  Bevölkerung  der  Insel  theilen 
musste,  —  und  zwar  dies  ungeachtet  des  Umstandes,  dass  „aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  das  Christenthum  von  Rom  aus  nach  Sicilien  gekom- 
men," „die  älteste  christliche  Kirchensprache  in  Sicilien  die  lateinische 
gewesen  ist."  Einige  Thatsaohen  lassen  „auf  ein  ziemlich  gespanntes  Ver- 
hältniss  der  beiden  Nationalitäten  auf  der  Insel  gegen  Ende  des  6.  Jahr- 
hunderts schliessen"  (S.  XXXIII,  wo  der  Druckfehler  7  statt  6  zu  berich- 
tigen ist),  eine  Spannung,  welche,  obgleich  Hartwig  dies  nicht  ausdrücklich 
bemerkt,  doch  ohne  Zweifel  auch  seiner  Ansicht  nach  von  der  im  Laufe 
jenes  Jahrhunderts  erfolgten  Eroberung  Siciliens  seitens  der  Byzantiner 
herrührt.  Die  Losreissung  der  sicilianischen  Kirche  von  Rom  und  ihre  Ver- 
bindung mit  Constantinopel  im  Anfang  des  8.  Jahrhunderts  musste  dann, 
zusammen  mit  der  politischen  Herrschaft  der  Byzantiner,  natürlich  ein  Zu- 
rücktreten der  lateinischen  .Sprache  und  der  sie  redenden  Nationalität  auf 
Sicilien  herbeiführen."  Geistliche  Reden,  die  in  Syrakus,  Catania  und 
TerraciTia  gehalten  worden  und  auf  uns  «rekommen  sind,  sind  in  griechi- 
scher Sprache  abgefasst.  Ebenso  sind  die  Ilorailien  des  Theophanes  Ke- 
ranieus,  die  Geschichte  der  Manichäer  von  Petrus  Siculus  und  die  Werke 
anderer  Sicilianer  des  9.  Jahrhunderts  ausschliesslich  in  griechischer  Sprache 
geschrieben  (S.  XXXIII)."  Die  Eroberung  Siciliens  durch  die  Araber  und 
deren  Herrschaft  auf  der  Insel,  welche  beide  christliche  Bekenntnisse,  beide 
abendländische  Nationalitäten  in  gleicher  Weise  drückte,  wenn  sie  auch  bei 
den  Griechen  auf  ungleich  zäheren  AVIderstHud  stiess  als  bei  den  Lateinern, 
trug  selbstverständlich  nicht  dazu  bei,  die  lateinische  Sprache  neu  zu  be- 
leben, und  so  ist  aus  dieser  Zeit  kein  einziges  sicilisches  Denkmal  in  der- 
selben auf  uns  gekommen..  Diese  Thatsachen  berechtigten  den  Verfasser 
dazu,  S.  XXXV  den  Satz  auszusprechen,  in  dessen  Aufstellung  und  Be- 
gründung eins  der  wesentlichsten  Verdienste  der  Abhandlung  beruht,  den 
Satz  nämlich:  „dass  sich  die  lateinische  Sprache  Im  10.  und  11.  Jahrhun- 
dert"  auf  Sicilien  „nur  in  den  untersten  Volksclassen  behauptet  hat." 

Nun  folgte  in  der  zweiten  Hälfte  des  letztgenannten  Jahrhunderts  die 
Eroberung  durch  die  Normannen.  Dieses  Volk,  welches  schon  längst  die  franzö- 
sische Sprache  angenommen  hatte,  war  anfänglich  eifrigst  bemüht,  dieselbe 
auch  In  Unteritalien  zu  verbreite'^.  Die  Normannen  aber  wurden  von  nicht 
unbeträchtlichen  Schaaren  von  Oberitalienern,  den  schon  erwähnten  „Lom- 
barden," als  Bundesgenossen  begleitet.  Wie  erklärt  es  sich  unter  diesen 
Umständen  nun ,  dass  die  sicilianische  Bevölkerung  aus  der  normannischen 
Eroberung  als  eine  im  Grossen  und  Ganzen  einheitliche,  einen  süditalieni- 
schen Dialekt  redende  Nationalität  hervorging,  eine  Nationalität,  deren  Bil- 
dungsprocess  schon  unter  dem  Hohenstaufen  Friedrich  II.  der  Hauptsache 
nach  vollzogen  erscheint? 

Wir  fragen  hier  nicht  nach  den  besonderen  Bedingungen,  unter  wel- 
chen ein  so  rascher  Aufschwung  des  sicilianischen  Nationalgefühls,  eine  so 
frühzeitige  Blüthe  der  italienischen  Literatur  auf  der  Insel  möglich  wurde. 
Die  Andeutungen,  welche  Hartwig  in  dieser  Beziehung  giebt  (S.  XLV — L), 
wollen  wir  dem  Leser  selbst  nachzulesen  überlassen.  Wir  fragen  hier  nur 
nach  dem  ethnologischen  Element,  welches  innerhalb  so  kurzer,  noch  nicht 
150  Jahre  umfassender  Frist  der  vlelgemlscliten  Bevölkerung  SIcilieus  sein 
Gepräge  für  die  Dauer  aufgedrückt  hat.  Dieses  Element  erkennt  der  Ver- 
fasser In  Ueberelnstimmung  mit  Amari,  ohne  jedoch  durch  Letztirn  auf  diese 
Ansicht  geführt  zu  sein .  in  zahlreichen  Schaaren  von  Unteritalienern, 
welche  im  Gefolge  der  Normannen  nach  Sicilien  eingewandert  seien  ;  eine 
Annahme,  welche  theils  durch  Zeugnisse  arabischer  Schriftsteller,  theils 
durch  eine  ganze  Anzahl  sicilischer  Städtenamen,  namentlich  aber  durch 
die  Einheit  der  Sprache  Siciliens  und  Unteritaliens  gestützt  wird.  Diese 
Einwanderer  seien  dann  mit  den  Ueberresten  der  lateinischen  Race  auf  der 


330  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Insel,  deren  Dialekt  wahrscheinlich  dem  ihrigen  verwandt  gewesen,  rasch  zu 
einem   Volke  zusammengewacbsen. 

Im  Ganzen  müssen  wir  uns  mit  den  Ausführungen  des  Verfassers 
durchaus  einverstanden  erklären.  Nur  will  es  uns  zuweilen  scheinen,  als 
ob  er  jene  „Ueberreste  der  lateinischen  Race"  doch  gar  zu  gering  an- 
schlug, als  ob  er  die  Folgen  der  elahrhunderte  lang  andauernden  römischen 
Herrschaft  auf  der  Insel  in  ihrer  Nachhaltigkeit  unterschätzt  und  dafür  den 
unteritalienischen  Einwanderungen  seit  der  normannischen  Eroberung  eine 
Intensivität  der  Wirkung  beilegt,  welche  über  das  Maass  der  Wahrschein- 
lichkeit hinausreicht.  Uass  der  lateinisch  redende  Theil  der  Bevölkerung 
im  11.  Jahrhundert  nur  in  den  untersten  Volksclassen  zu  suchen  gewesen 
sei,  haben  wir  ihm  bereitwillig  eingeräumt.  Wenn  er  aber  (S.  XXXVIII  f.) 
sagt:  „Es  lässt  sich  keine  Stelle  aus  einem  Chronisten  jener  Zeit  oder  aus 
einer  bisher  bekannten  Urkunde  beibringen,  die  uns  zu  der  an  sich  un- 
wahrsclieinlichen  Annahme  nöthigte,  es  hätten  in  Sicilien  zur  Zeit  der  Erobe- 
rung der  Insel  durch  die  Araber  und  wähi'end  der  Herrschaft  dieses  Volkes 
grössere  Gemeinden  mit  einer  Vulgärlatein  redenden  Be- 
völkerung* bestanden,"  so  erinnern  wir  ihn  daran,  dass  andrerseits  nach 
seinem  eijrenen  Geständniss  (S.  XLIV)  die  normannischen  Chronisten  von 
Einwanderung  zahlreicher  Schaaren  von  Unteritalienern  nach  Sicilien  ebenso 
nichts  berichten,  während  wir  in  Bezug  auf  die  doch  ohne  Zweifel  viel  we- 
niger zahlreichen  „Lombarden"  hinlänglich  unterrichtet  sind. 

Im  Zusammenhang  mit  dieser  Hauptfrage  scheinen  uns  noch  ein  paar 
von  dem  Verfasser  beregte  Punkte  der  Aufhellung  zu  bedürfen.  S.  XXVIII 
sagt  H.  mit  Rücksicht  auf  die  Einwanderung  der  soeben  genannten  „Lom- 
barden:" „Wäre  nicht  schon  in  jener  Zeit  (al.  um  den  Ausgang  des  11.  Jahr- 
hunderts) der  unteritalienische  Dialect,  von  dem  der  sicilische  ein  Zweig 
ist,  auf  der  Insel  herrschend  gewesen,  so  würde  er  gewiss  mit  dem  lombar- 
dischen zusamniengellossen  sein."  Wie  stimmt  dies  zu  der  Ansicht,  dass 
der  Stamm,  dem  Sicilien  seine  Sprache  vorzugsweise  verdankt,  erst  etwa 
gleichzeitig  mit  jenen  Lombarden  dahin  eingewandert  sei?  Weiter,  was 
haben  wir  uns  unter  den  lateinischen  (latini)  Bewohnern  von  Patti  zu  den- 
ken, für  welche  1133  eine  Urkunde  aus  dem  Latein  in  die  Vulgärsprache 
(d.  h.  nach  dem  Verfasser:  in  den  sicilianischen  Dialekt)  übersetzt  werden 
musste,  um  ihnen  verständlich  zu  sein?  Und  was  unter  den  homines  latinae 
linguae,  welche  eine  noch  ältere,  auf  das  Jahr  1080  zurückgehende  Urkunde 
erwähnt  (vgl.  a.  a.  O.  Anni.  VX)?  Endlich  möchten  wir  noch  fragen,  wie 
verhält  es  sich  mit  den  von  Vigo  um!  anderen  patriotischen  Sicilianern  her- 
ausgegebenen sicilianischen  Volksliedern  ?  Sind  sie  alle  ohne  Ausnahme 
echt,  d.  h.  wirkliche  Volkslieder?  Ist  z.  B.  die  Strophe  eclit,  welche  H. 
S.  XXI  (nach  Vigo  S.  "282)  mittheilt,  und  die  sich  auf  die  Wiederherstel- 
lung der  Bilderverehrung  und  das  „Fest  der  Orthodoxie"  beziehen  muss? 
In  dem  Fall  bliebe  uns  nur  folgende  Alternative:  entweder  wir  hätten  ein 
„Volkslied"  vor  uns,  welches  aus  dem  ursprünglich  Griechischen  später  in 
das  Sicilianische  übertratren  wurde,  oder  ein  sicilianisches  Volkslied,  welches 
in  seiner  romanischen,  wenn  auch  vielfach  veränderten  Form  bis  ins  9.  Jahr- 
hundert zurückreichte.  Die  erstere  Annahme  wäre  an  und  für  sich  höchst 
bedenklich;  die  letztere  würde  eine  grössere  Tenacität  des  lateinischen  Ele- 
ments auf  Sicilien  beweisen,  als  man  nach  H.'s  Darstellung  anzunehmen  ge- 
neigt sein  möchte. 

Gegen  den  Schluss  der  Einleitung  wendet  der  Herausseber  sich  zu  den 
Märchen,  welche  den  Inhalt  des  Buclis  bilden,  um  die  Frage  zu  beantwor- 
ten, in  wiefern  die  von  ihnen  dargebotenen  historischeu  Anhaltspunkte  zu 
der  vorgetragenen  Theorie   von   der  Entstehung   der  gegenwärtig  in  Sicilien 


*  Von  uns  unterstrichen. 


Beurt!ieilun2,en  und  kurze  Anzeigen.  331 

herrschenden  Nationalität  stimmen.  Es  zeigt  sich,  dass  sie  derselben  we- 
nigstens nicht  widersprechen,  wenn  auch  aus  ihnen  sich  keine  eigentlich 
neue  Argumente  für  die  aufgestellte  Hypothese  ergeben.  Diesem  Theile  der 
Abhandlung  hätten  wir  eine  etwas  grössere,  mehr  auf  das  Einzelne  einge- 
hende Ausjführlichkeit  gewünscht,  jedoch  würde  Dr.  H.  in  dem  Fall  etwas 
Anderes  geHefert  haben,  als  er  zu  liefern  beabsichtigte,  und  wir  haben  alle 
Ursache,  mit  dem,  was  uns  geboten  wird,  recht  zufriedem  zu  sein. 

B.  t.  B. 


Dr.  Hermann  Franz :  The  EngHsh  Spelling  Book  and  First 
ßeader.  Intended  as  an  Introduction  to  the  Eeading  of 
the  English  Language.  Fourth  Edition.  Eevised  and 
considerably  enlarged.     Berlin,  W.  Weber. 

Spelling^book  heisst  Buchstabirbuch,  Fibel,  Lesebuch,  und  die  Be- 
griffe, welche  mit  allen  (h-ci  Wörtern  zu  verknüpfen  sind,  finden  sich  in 
dem  Buche  des  Professor  Franz  verwirkliclit.  Sehen  wir,  icas  das  Buch 
enthält  und   v-ie  es  sich  mit  dem  Inhalt   verhält! 

Es  zerfällt  in  zwei  Theile.  Der  erstere  geht  in  der  neuen,  der  vierten 
Auflage  bis  Seite  67,  der  zweite  von  67 — 156.  In  jenem  ist  eine  Anlei- 
tung geboten,  sich  mit  denj  Lesen  englischer  Wörter  zu  befi-eunden;  die- 
ser, aufweichen  sich  der  Zusatztitpl  First  Reader  mitbeziehen  soll,  liefert 
Stoflf  zur  Leetüre,  oder,  um  in  der  Titelwahl  Plate's  zu  verweilen,  Spring- 
flowers  from  the  English  Literature.  Ein  Lesebuch  für  Unterclassen.  Da- 
bei auf  etwa  sieben  Seiten  Gedichte,  an  der  Spitze  den  Blind  Roy, 
für  welchen  Franz  und  Schmitz  dieselben  liebevollen  Gefühle  hegen,  da  sie 
ihn  beide  an  den  Anfang  ihrer  kleinen  Gt^dichtauslese  gestellt  haben.  Dann 
ausser  dem  Blind  auch  noch  den  Wandering  Boy;  ferner  South  ey 's 
ausgezeichnet  feines  Gedicht  The  Battle  of  Blenheim.  von  dessen  tiefe- 
rem Sinn  die  leichtlebige  Jugend,  welche  es  lernt  und  cleclamirt,  so  wenig 
Notiz  nimmt;  sodann  das  gemüthliclie  We  are  seven  und  Casabianca 
von  F.  Hemans ,  die  Verherrlichung  jugendlichen  Muthes  eines  13jährigen 
Knaben ,  so  dass  das  Gedicht  sehr  gut  als  drittes  im  Bunde  die  Ueber- 
schrift  The  Heroical  Boj'  führen  könnte.  W^as,  nebenbei  gesagt,  den 
Ausdruck  First  Reader  in  seiner  Zusammenstellung  mit  Spelling-Buck  be- 
trifft, so  ist  die  Bedent'mg  zwar  leiclit  aus  den  so  betitelten  Büchern  selber 
zu  entnehmen;  aber  wenn  man  wissen  will,  welches  die  congruente  deutsche 
Uebersetzung  davon  ist.  so  sucht  man  in  unsern  Wörterbüchern  vergebens 
danach.     Weder  Flügel,  noch  Lucas  ,   noch  Hoppe  haben  diese  Verbindung. 

Gehen  wir  weiter  auf  den  Inhalt,  zunädist  den  der  ersten  Abtheilung, 
ein!  Begonnen  ist  mit  dein  Alphabet,  welchem  imnöthig  die  Freiich  Sounds 
beigedruckt  ,«ind:  dahinter  steht  Walker"s  Table  of  the  Simple  and 
Diphthongal  Vowels.  ungeeignet  zur  Benutzimg  beim  Unterricht,  der 
zunächst  höidistens  die  Key-words  davon  heranziehen  kann :  darauf  S.  4 
die  Diphthongs,  eine  dem  Inhalte  nach  falsche  Benennung;  es  hätte 
Digraphs  darüber  stellen  müssen;  denn  ai  in  captain  und  ea  in  bread 
repräsentiren  phonetisch  nur  einfaclie  Laute.  Hierauf  Seite  5  eine  Ueber- 
sicht  über  den  Lautwerth  der  Consonanten,  welche  an  dieser  Stelle  gleich- 
falls für  den  Unterricht  nicht  verwerthbar  ist,  und  sodann  von  S.  7 — 28  die 
Einübung  der  Vocale ,  von  S.  28  40  diejenige  der  Consonanten  in  der 
Art,  dass  jede  Schattirung  des  Lautes  durch  eine  Keihe  von  Wörtern  zur 
Einübung  dargestellt  ist.  Jede  Seite  ist  in  drei  Columnen  gespalten,  auf 
welchen  die  einzelnen  ^V(n■ter  unter  einander  stehend  gruppirt  sind.  Von 
Seite  42 — 67    hat    der    Verfasser  lange  Listen   von  Wörtern  mit  Bezug  auf 


332  Beurtlielluiigen  und  kurze  Anzeigen. 

die  Zahl  ihrer  Silben  und  die  Stelle  des  Accents  aufgeführt.  Er  beginnt 
Seite  42  mit  „Words  of  two  syllables  accented  on  the  first,"  und  schliesst 
mit  „Words  of  seven  and  eight  syllables,  marked  with  the  proper  accent" 
auf  Seite  67.  Dazwischen  stehen  auf  Seite  40—42  „Lessons,  consisting  of 
-words  of  one  syllable,"  eine  Sammlung  einzelner  Sätze  und  zwei  Fibelge- 
schichten. 

Wie  ist  Franz  auf  die  Idee  dieser  Arrangirung  des  ersten  Theils ,  des 
eigentlichen  Spelling-Book,  gekommen  ? 

Woher  hat  er  den  Stoff"? 

Wie  verhält  es  sich  mit  der  Verwerthung  des  Gegebenen? 

Prof.  Franz  hat  längere  Zeit  in  England  gelebt,  auch,  so  viel  ich  weiss, 
in  dem  Hau.«e  d'Israelis.  Ich  erinnere  mich  von  ihm  gehört  zu  haben,  wie 
dieser  Staatsmann  ihn  auf  die  Natur  des  englischen  Diphthongen  i  in  I  find 
und  dergleichen  aufmerksam  gemacht  habe.  Sicher  ist,  dass  Franz  vor- 
treff'lich  englisch  sprach  und  aussprach ,  was  nicht  allen  Deutschen  eigen- 
thümlich  ist,  die  sich  in  England  aufgehalten  haben.  Es  ist  natürlich,  dass 
Prof.  Franz  dort  enghsche  Spelling-books  zu  Gesicht  bekam  und  es  ist 
daher  leicht  zu  erklären,  dass  er  auf  den  Gedanken  kam,  die  Einrichtung 
dieser  auf  die  englische  Jugend  berechneter  Bücher  für  den  Unterricht 
deutscher  Schüler  zu  benutzen. 

Woher  er  den  Inhalt  des  ersten  Abschnittes  seines  Buches  entnom- 
men, hat  mich  eine  Vergleichung  mit  Mavor's  English  Spelling- 
Book,  accompanied  by  a  Progressive  Series  ofEasy  and  Fa- 
miliär Lessons,  intended  as  an  Introduction  to  the  Reading 
and  Spelling  of  the  English  Language,  London,  W.  Tegg(A,  New 
Edition,  1861)  gelehrt.  Idee  und  Inhalt  des  Buches  von  Franz  ist  grossen- 
theils  Idee  und  Inhalt  des  Buches  von  Mavor.  welches  halb  Fibel,  halb 
Lesebuch,  ausserdem  aber  noch  mit  hübschen  Bildern  geziert  ist,  von  denen 
ich  Kunstfreunden  besonders  das  Titelbild ,  eine  Darstellung,  wie  Schulmei- 
ster,  Schuhneisterin  und  ein  head-boy  im  Lehren  begriffen  sind,  zum  Be- 
sehen empfehle.  Doch  ist  bei  Franz  in  der  Anordnung  der  Wörter  für  die 
Aussprache  der  Vocale  eine  bequemere  und  mehr  unseren  Bedürfnissen 
entsprechende  Gruppirung ,  wie  denn  überhaupt  dabei  dem  Verfasser  nur 
der  Vorrath  an  Wörtern  zu  Statten  gekommen  zu  sein  scheint,  die  Zusara- 
menreihung  derselben  ist  seine  eigene  Arbeit  und  sein  eigenes  Verdienst. 
Mit  gleicher  oder  noch  grösserer  Selbständigkeit  ist  Franz  mit  dem  Vor- 
führen der  Consonanten  verfahren,  für  deren  Anordnung  er  bei  Mavor 
für  seine  Zwecke  keinen  Anhalt ,  sondern  nur  das  Wörter-Material  fand. 
Mavor  und  Franz  gemeinsam  ist  die  singulare  Verwendung  des  Zeichens  ", 
z.  B.  co"-py.  Damit  markirt  man  sonst  den  Hauptaccent,  z.  B.  as"-sen- 
ta'-tor.  Franz  benutzt  die  beiden  Striche  nach  folgender  Anmerkung  auf 
Seite  10:  „The  double  accent  means  that  the  following  consonant  is  to  be 
pronounced  in  both  syllables,  as  co"-py  =  coppy."  Mavor  sagt  desgleichen 
(Seite  31):  „The  double  ac<;ent  ("),  when  it  unavoidably  occurs,  shows 
that  the  following  consonant  is  to  be  pronounced  in  both  syllables,  as  co"- 
py,  pronounced  coppy." 

Schon  von  Schmitz  ist  darauf  aufmerksam  gemacht  worden ,  dass  es 
mit  Doppelconsonanten  eine  eigene  Bewandtniss  habe.  Sie  sind  eher 
für  das  Auge  als  für  die  Sprachwerkzeuge  da.  Spreche  ich  im  Französi- 
schen allumer  aus,  so  lautet  es  a-lu-mer,  d.  h.  nur  ein  1  wird  gesprochen, 
und  wenn  die  französischen  Orthoöpisten  meinen,  man  spreche  unter  ande- 
ren in  allegorie  zwei  1  aus,  so  kann  höchsteus  eine  solche  Aussprache 
damit  verstanden  sein,  dass  der  Laut  des  1  sich  zwischen  beiden  Sylben  ver- 
theilt.  Denn  um  wirklich  doppeltes  1  oder  doppeltes  p  zu  sprechen,  müsste 
man  zweimal  ansetzen.  Beobachtet  man  aber  die  Bewegung  der  Lippen 
bei  dem  Aussprechen  z.  B.  von  copy,  so  sieht  man,  dass  bei  der  ersten 
Silbe  die  Lippen  sich  schliessen,  bei  der  zweiten  sich  öffnen,  und  den  Laut 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  333 

des  p  nicht  zum  zweiten  Mal  von  Neuem  produciren,  sondern  den  in  der 
ersten  Sylbe  angefangenen  nur  weiter  und  austonen  lassen.  Und  so  ist  es 
durchweg  auch  in  unserer  Sprache,  wenn  wir  Halle,  Kappe,  spannen 
und  (lergl.  sagen.  Der  eigentUche  Sinn  jener  Bemerkung  und  Bezeichnung 
bei  Mavor  und  bei  Franz  liegt  darin,  dass  man  den  vorangehenden  kurzen 
Vocallaut  und  den  folgenden  Consonanten  scharf  intoniren  soll. 

Zu  verwundern  ist,  dass  Franz  Seite  7  und  8  blosse  Silben  als  Lese- 
übung gegeben  hat: 

bla    ble    bli     blo     blu     bly 

bra    bre    bri    bro     bru    bry  u.  s.  w. 

Nur  an  Wörtern  haben  wir  Deutsche  die  fremde  Aussprache  zu  üben. 
Es  ist  dies  derselbe  Missgriff"  wie  bei  Ploetz  an  der  schönen  Stelle  des 
Syllabaire,  Lection  1 0  : 

cla     cle     cli     clo     clu     cra     cre     cro     cri     cru 
oder  Lection  38  : 

qua     que     que     qui     qui     quoi     quar     quer     quir     quor 
oder  Lection  3: 

bou     dou     fou     lou     mou     nou     pou     rou     tou     von. 

In  Betreff  des  Französischen  erklären  sich  solche  Fibelsachen  aus  der 
verkehrten  Gewohnheit,  unsere  Kinder  französisch  bereits  in  einem  Alter 
lernen  zu  lassen,  wo  sie  oft  noch  nicht  ordentlicli  deutsch  lesen  können. 
Da  hängt  es  mit  der  Bonnenwirthschaft  zusammen.  Was  aber  das  Eng- 
lische angeht,  so  ist  zu  bedenken,  dass  durchschnittlich  und  namentlich  auf 
Anstalten,  welche  Herr  Franz  im  Auge  haben  konnte,  das  Englische  erst 
als  Lehrgegenstaud  auftritt,  wenn  Schüler  und  Schülerinnen  die  deutsche 
Fibel  bereits  eine  Eeihe  von  Jahren  hinter  sich  haben.  Bei  Mavor  ist  es 
etwas  Anderes.  Sein  Buch  ist  für  den  ersten  Unterricht  überhaupt  und  für 
Kinder  als  Fibel  geschrieben. 

Von  Seite  49  an,  wo  die  Listen  mehrsilbiger  ^^'örter  mit  Bezug  auf 
die  verschiedenen  Stellen  des  Accents  beginnen,  ist  die  Uebereinstimmung 
von  Franz  und  Mavor  am  meisten  in  die  Augen  fallend,  nur  dass  der 
deutsche  Verarbeiter  hin  und  wieder  einzelne  Wörter  weggelassen  oder 
auch  hinzugefügt  hat.  Fortgelassen  hat  er  auch  die  bei  Mavor  zwischen 
den  einzelnen  Listen  eingeschobenen  Entertaining  and  instructive  Les- 
sons,  z.  B.  Seite  46.  zur  Probe  des  entertaining: 

The  dog  barks.  The  lion  roars. 

The  calf  bleats.  Sheep  also  bleat. 

Ich  komme  nun  zu  der  dritten  Frage:  Wie  verhält  es  sich  mit  der 
Verwerthung  des  Gegebenen? 

Ich  stimme  mit  dem  Verfasser  vollkommen  darin  überein,  dass  das  Le- 
sen des  Enghscheu  methodisch  zu  lernen  sei.  Ich  halte  die  beliebte  Art, 
den  Schülern  die  englischen  Wörter  bloss  vorzusprechen ,  nachdem  ihnen 
das  Wichtigste  über  die  englischen  Laute  erklärt  ist,  und  sie  im  Verlauf  der 
Lehrstunden  bloss  auf  gelegentliches  Verbessern  von  Seiten  des  Lehrers 
anzuweisen,  für  ganz  verfehlt,  weil  mich  tägliche  Erfahrung  lehrt,  dass  bei 
einem  solchen  Verfahren  nichts  herauskommt.  Ich  gebe  auch  zu,  dass  ein 
Durcharbeiten  der  ersten  Abtheilung  des  Buches  von  Franz  den  Schüler 
gut  in  die  englischen  Lautverhältnisse  einführt  und  ihn  die  richtige  Aus- 
sprache einer  grossen  Menge  von  AVörtern  kennen  lehrt.  Aber  der  Kern 
der  Sache  ist  dem  Prof.  Franz  entgangen,  ebenso  wie,  im  Vorbeigehen  ge- 
sagt, Hrn.  Dr.  Rudolph  Degenhardt,  der  zwar  Recht  hat,  wenn  er 
sich  darüber  wundert,  auf  der  letzten  Seite  eines  Elementarwerks  der  eng- 
lischen Sprache  noch  Wörter  wie  Fame,  hag,  haimless,  deep  mit  Beziffe- 
rung der  Aussprache  zu  finden,  von  der  Nothwendigkeit  aber  ebenso  wenig 
wie  von  der  richtigen  Verwerthung  einer  Aussprachebezeichnung  zum  Er- 
lernen des  Englischen  eine  richtige  Vorstellung  hat.  Angenommen,  ein 
Schüler  habe  die  erste  Abtheilung  des  Franz'schen  Lehrbuches  durchgemacht. 


334  Beurtheiluügeu  uuii  kurze  Anzeigen. 

Er  treibt  Lectüre;  er  präparirt  sich  auf  einen  Abschnitt.  Selbstverständ- 
lich weiss  er,  ungeachtet  der  Vorübung  in  dem  Leitfaden  von  Franz,  viele 
Wörter  nicht  iiuszusprechen.  Soll  er  dafür  nur  auf  die  Belehrung  seines 
Lehrers  in  der  Stunde  angewiesen  sein? 

Nein,  er  muss  durch  methodischen  Unterricht  in  der  Aussprache 
schon  vom  ersten  Monat  an  befähigt  worden  sein,  sich  mit  Hülfe  iles  \\  ör- 
ti-rbuchs  über  die  Aussprache  jedes  Wortes  zu  vergewissern.  Und  dazu 
braucht  er  von  vornherein  eine  Anleitung  und  Unterweisung,  welche  darauf 
begründet  ist,  ihn  mit  Hülfe  irgend  welcher  Aussprachebezeichnung,  die  aber 
mit  der  in  einem  verbreiteten  VVörterbuche  angewandten  übereinstimmen 
umss,  selbständig  zu  machen,  so  fiass  er  unabhängig  von  Lehrern  oder  Eng- 
ländern sich  spater  selber  jedes  ^\  ort  herausfinden  und  richtig  sprechen 
kann.  Ith  will  hier  nicht  weiter  auf  diesen  Vunkt  eingehen,  wer  sich  dafür 
interessirt,  findet  Ausführliches  in  der  Vorrede  zu  meinem  Buche  über  die 
englische  Aussprache.  * 

Auch  einen  theoretischen  Irrthum  des  Herrn  Franz  habe  ich  noch  zu 
erwähnen.  In  der  Vorrede  sagt  er  mit  Bezug  auf  ein  Excerpt  aus 
Walker:  „If  this  is  the  way  to  proceed  for  ihe  English  themselves,  why  should 
not  we  proceed  in  the  sanie  manner?"  Gerade  im  Gegentlieil,  der  Einge- 
borene bedarf  zur  Erlernung  seiner  Sprache  ganz  anderer  Hülfsmittel  als 
der  Fremde,  der  sich  jene  Sprache  aneignen  will.  Es  involvirt  dit-s  densel- 
ben Fehlgriff,  den  man  gemacht  hat  oder  noch  macht  —  denn  das  Falsche 
ist  zähe  —  indem  man  für  den  französischen  Unterricht  von  Franzosen  in 
ihrer  Muttersprache  geschriebene  Grammatiken,  z.  B.  die  Grammaire  von 
Noel  und  Chapsal,  die  Aubertin  für  seine  eigenen  Landsleute  unbrauch- 
bar findet,  benutzte  oder  noch  benutzt.  Ich  glaune  mich  über  diesen  Punkt 
nicht  weiter  auslassen  zu  brauchen ,  da  die  Ansichten  darüber  jetzt  wohl 
ziemlich  geklärt  sind. 

Die  Wörter  in  dem  Spelling-book  von  Franz  sind  alle  ohne  die 
deutsche  Bedeutung.  Das  ist  ein  Mangel.  Ich  hatte  Gelegenheit,  vor 
mehreren  Jahren  dem  verstorbenen  Verfasser  mein  Befremden  darüber  zu 
äussern.  Er  gab  mir  in  der  Sache  Recht  und  erklärte  das  Fehlen  der 
deutschen  Wörter  andeutend  dadurch,  dass  der  Umfang  des  Buches  gegen 
Wunsch  und  Absicht  grösser  geworden  sein  würde.  Es  schien  mir,  als  ob 
Rücksicht  auf  den  Verleger  obwaltete,  wie  es  ja  so  häufig  der  Fall  ist,  dass 
der  Verfasser  nicht  nach  vollem  Wunsche  sein  ^^'erk  ausführen  kann. 

Indem  ich  hier  die  Besprechung  der  ersten  Abtheilung  schliesse,  füge 
ich  nur  noch  hinzu,  dass  die  Benutzung  solcher  englischen  Spelling-books 
für  Jemand,  der  in  der  Aussprache  schon  Bescheid  weiss,  manches  Inter- 
essante und  Instructive  bietet.  Von  weit  grösserem  Werthe  als  Mavor  ist 
in  dieser  Hinsicht  das  1866  zu  Boston  erschienene  Pronouncing  Spelling- 
Book  for  Beginners  and  Advanced  Classes,  containing  a  new  and  improved 
System  of  Notation  by  Epes    Sargent.     (Preis  22'/^  Sgr.) 

Ueber  die  zweite  Abtheilung,  das  Lesebuch,  habe  ich  nur  wenig  zu 
sagen.  In  den  früheren  Auflagen  hatte  Herr  Franz  aus  Mavor  das  Lese- 
siück  „Industry  and  Indolence.  A  Tale  by  Dr.  Percival."  Diese  Geschichte 
findet  sich  nicht  mehr  in  der  vierten  Auflage.  Ebenso  ist  fortgelassen  The 
Provencal  Tale  und  Columbus  befure  the  Council  at  Salamanca.  Hinzuge- 
fügt ist  dagegen  „A  Voyage  among  the  Tree-tops.  —  The  iMundurucu  dis- 
courses  of  Monkeys.  —  Alice  Dacre.  —  The  Pass  of  Thermopylae.  —  The 


*Alb.  Be necke:  English  Vocabulary  and  EnghsU  Pronunciation. 
Deutscii-engllsches  Vocabular  und  methodische  Anleitung  zum  Erlernen  der 
englischen  Aussprache.  Mit  durchgängiger  Bezeichnung  der  Aussprache. 
Preis  18  Sgr.     Verlag  der  Riegel'schen  Buchhandlung  zu  Potsdam. 


Beurtlieilungen  und  kurze  Anzeigen.  385 

Petitloners  for  Pardon.  —  Butter.  —  The  longest  night  in  a  Life."  Auch 
mit  der  AVahl  der  Gedichte  ist  eine  Aeuderung  vorgenommen. 

Ein  Inhaltsverzeichniss  fehlt. 

Den  Schluss  des  Buches  macht  der  Abschnitt  „Abbreviations  etc.," 
circa  eine  Seite. 

Die  Hinzufügung  des  zweiten  Theils,  der  Leseslücke,  beweist,  dass  der 
Verfasser  das  Publikum  kannte.  Hätte  er  nur  die  Aussprache-Abtheilung 
drucken  lassen,  so  würden  sich  weniger  Freunde  seiner  Arbeit  gefunden 
haben.  Denn  man  trifft  im  Allgemeinen  auf  eine  energische  Apathie  in  Be- 
treff'methodischer,  d.  h.  sorgfaltiger  und  correcter  Aneignung  der  Aus- 
sprache. 

Druck,  Format  und  sonstige  Ausstattung  dieser  vierten  Auflage, 
welche  im  Verlage  von  W.  \\  eber  in  Berlin  erschienen  ist,  während  die 
vorangehenden  Auflagen  im  Verlage  von  F.  Schneider  herausgegeben  wor- 
elen  waren,  stechen  vortheilhaft  gegen  die  früheren  Ausgaben  ab. 

Mein  Urtheil  aber  über  das  Buch  im  Grossen  und  Ganzen  kann  ich 
dahin  aussprechen,  dass  es  sich  sowohl  in  seinem  ersten  als  auch  in  seinem 
zweiten  Theile  für  die  Schule  und  für  Privatunterricht  gut  verwerthen  lässt. 

Berlin.  Alb.   Benecke, 


E.   MarggrafF:    Precis    de    l'Hlstoire    d'Allemagne.      Berlin,  bei 
F,  A.  Herbig. 

Wir  führen  unseren  Lesern  hier  die  beiden  Geschichtsbücher  des  Pro- 
fessor Marggrafl'  vor,  von  denen  der  erste  Theil  die  deatsclie  Geschichte 
bis  zum  westphälischen  Frieden,  der  zweite,  mit  dem  Speciaititel  „Hi- 
stoire  de  Brandebouri^  et  de  Prusse,"  diä  Geschichte  unseres  engeren  Va- 
terlandes bis  zum  Jahre  1867   enthält. 

Wir  haben  diese  beiden  Schriften  nicht  als  Geschichtswerke  an  sich, 
sondern  als  Geschichtsbücher,  die  in  französischer  Sprache  für  Deutsche, 
speciell  für  die  Schule,  verfasst  sind,  zu  betrachten.  Die  Stellung  des  Ver- 
fassers als  Professor  am  College  Royal  Fran^ais  zu  Berlin  erklärt  das  Er- 
scheinen dieser  ßürher. 

Bui  der  bekannten  Art  und  Weise,  wie  ein  grosser  Theil  der  Franzosen 
geschichtliche  Thatsachen  in  glatten  Sätzen  und  staunenswerther  Unbeküm- 
mertheit  um  den  eigentlichen  Sachverhalt  darzustellen  pflegt,  ist  es  selbst- 
verständlich, dass,  wenn  einmal  auf  einer  s  o  wie  das  fs  anzösische  Gynuia- 
sium  zu  Berlin  organisirten  Lehranstalt  ein  in  französischer  Sprache  ge- 
schriebenes Geschichtsbuch  zu  Grunde  zu  legen  ist,  ein  solches  Buch  aus 
deutschem  Geiste,  deutscher  Auflassung  und  Gründlichkeit  heraus  geschrie- 
ben sein  muss.  Es  liegt  in  der  Natur  der  Verhältnisse ,  dass  ein  Franzose 
nicht  für  die  Aufgabe  geeignet  ist,  eine  deutsche ,  noch  weniger  eine  bran^ 
denbur^isch-preussische  (iescliichte  für  die  Schule  zu  verfassen. 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  eine  verdienstliche  Arbeit  des  Professor 
Marggrafl',  das  was  uns  und  unserer  Jugend  in  Betreff  geschichtlicher  Kennt- 
niss  am  nächsten  liegt,  die  Kunde  unseres  deuts(;hen  Landes  und  unseres 
Heimathreiches,  wenn  es  doch  einmal  aus  Gründen,  mit  denen  wir  hier  nicht 
zu  rechten  haben,  in  fremdem  Idiom  geschehensoll,  s  o  vorzuführen,  wie 
sie  uns  in  seinen  beiden  Büchern  vorliegt. 

Die  Brauchbarkeit  dieser  beiden  Geschichtsbücher  erstreckt  sich  aber 
auch  über  die  Verwendung  auf  dem  College  fran(,uiis  hinaus.  Ich  stimme 
dem  Verfasser  bei,  wenn  er  in  der  Vorrede  ( Seconde  Partie,  page  III)  sagt, 
dass  sie  sowohl  zur  Leetüre  in  den  französischen  Lehrstunden,  wie  auch  als 


336  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Stoff  zu  Sprechübungen  dienen  können ,  „exercices  qui ,  a  ce  qu'il  semble, 
ne  pourraient  pas  avoir  de  sujet  plus  interessant  et  plus  convenable  que 
riiistoirc  nationale." 

l'jinzelne  Abschnitte  eignen  sich  sehr  gut  zu  Vorträgen  in  den  oberen 
Chissen,  namentlich  auch  auf  Realschulen  für  die  sogenannten  Relationen, 
und  da,  wo  Privatlectüre  verlangt  wird,  kann  der  Lehrer  mit  gutem  Recht 
die  beiden  Marggraff'schen  Bücher  empfehlen. 

Von  deutschen  Quellen  hat  Professor  Marggraff  unter  anderen  David 
Müller,  Geschichte  des  deutschen  Volks,  und  F.  Voigt,  Geschichte  des 
brandenburgisch-preussischen  Volkes,  benutzt.  Speciell  für  die  Zeit  der  Er- 
hebung Preussens  1813  und  für  den  Krieg  von  1815  hat  er  mehrere  Par- 
tien den  beiden  bedeutenden  Werken  von  Charras,  Histoire  de  la  guerre 
de  1813  en  Allemagne  und  Histoire  de  la  campagne  de  1815  entlehnen 
können.  Wir  unterschreiben  gern  das  Lob,  welches  der  Verfasser  diesem 
fremden  Historiker  spendet,  von  welchem  er  sagt,  dass  er  zuerst  unter  den 
Franzosen ,  seiner  Ansicht  nach ,  sich  der  schwierigen  Aufgabe  unterzogen 
hat,  bei  der  Darstellung  jener  Kriege  den  Deutschen  gereclit  zu  werden. 

Eine  sehr  angenehme  Zugabe  zu  beiden  Büchern  sind  zwei  entspre- 
chende Geschichtstabellen,  die  eine  „Tableau  chronologique  de  l'Histoire 
d'Allemagne"  dreizehn,  die  andere  „Tableau  chronologique  de  l'Histoire  de 
Braudebourg  et  de  Prusse"  circa  acht  Seiten  umfassend. 

Berlin.  Alb.   Benecke. 


Trait^  de  Versification  fraiKjaise  par  Gustave  Weigand,  docteur 
en  Philosophie,  professeur  au  College  moderne  de  Brom- 
berg, membre  correspondant  de  la  Societe  de  l'etude  des 
langues  modernes  h,  Berlin.  Nouv.  edition  revue  et  aug- 
rnentee.     Bromberg,  1871. 

Jusqu'b,  ces  derniers  temps ,  c'etait  une  opinion  universellement  admise 
que  la  langue  fran(^aise  est  depourvue  d'accent  tonique,  ou  cjue  du  moins 
cet  accent  y  est  si  faible  que  la  poesie  n'en  tient  aucun  compte.  Des  lors 
la  mesure  du  vers  fran^ais  ne  consisterait  que  dans  le  nombre  des  syllabes, 
sans  distinction  de  longues  ni  de  breves ,  non  plus  que  de  syllabes  accen- 
tuees  ou  inaccentuees. 

Les  travau.x  des  philologues  modernes  sur  le  procede  d'apres  lequel 
les  langues  romanes  et  en  particulier  le  francjais  se  sont  formes  du  latin, 
ont  fait  attacher  plus  d'importance  ä  l'accent  tonique,  qui  a  ete  reconnu 
etre  la  clef  de  tout  le  Systeme. 

En  mcme  temps ,  les  savants  qui  se  sont  occupes  de  la  versification 
frantj'aise  ont  aper(ju  le  röle  c[ue  ce  meme  accent  est  en  droit  d'y  revendi- 
quer.  Cette  decouv«rte,  dont  l'Italien  Scoppa  et  M.  Quicherat  peuvent  se 
partager  Ihonneur,  a  ete  siirtout  completee  par  Paul  Ackermann. 

Ameliorer  le  traite  de  versification  fran^aise  de  Quicherat,  „le  meilleur 
livre  et  le  plus  detaille  sur  cette  matiere,"  en  l'enrichissant  du  resultat  des 
etudes  nouvelles  de  Paul  Ackermann,  tel  a  ete  le  but  principal  que  s'est 
propose  M.  Gustave  Weigand  dans  un  nouveau  traite  de  versification 
fran(;aise  public  en  1861,  et  dont  une  nouvelle  edition  vient  de  paraitre. 

Tout  en  rendant  pleinement  hommage  aux  qualites  qui  distinguent  ce 
nouveau  traite,  surtout  a  l'ordre  et  a  la  clarte  qui  y  regnent,  et  qui  sont 
encoi-e  une  des  ameliorations  que  M.  Weigand  s'est  eßorce  d'apporter  au 
livre  de  Quicherat,  j'oserai  me  permettre  de  ])ropo-ier  modestement  h  Tauteur 
quelques  doutes  au    sujet  de   l'importance  qu  il    attribue    au   role  de  l'accent 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  337 

tonique  et  surtout  au  sujet  de  l'utilite  pratique  des  röjjles  qu'il  fonde  sur 
cet  acccnt.  La  reaction  contre  Tanclen  Systeme  ne  l'aurait-elle  pas  entrain^ 
dans  quelque  exag^ration? 

Que  les  ob?ervations  modernes  sur  les  effets  de  l'accent  tonique  plus 
ou  nioins  multiplie,  plus  ou  moins  bien  distribue  dans  le  vers,  soient  l'expli- 
cation  scientifique  des  causes  qui  contribuent  a  Tharmonie  de  la  poesie 
fran9aise,  je  l'admets  bien  volontiers.  Mais  n'y  a-t-il  pas  de  l'exageration 
k  fonder  Ik-dessus  des  regles  absolues,  que  l'on  mette  sur  une  meine  ligne 
avec  etiles  qui  concernent  le  metre  du  vers,  la  rime,  la  c^sure  etc.  ?  JJ'y  en 
a-t-il  pas  surtout  ä  leur  donner  la  premiere  place  dans  un  traite  pratique 
de  versificution? 

La  seule  consideration  que  tous  les  poetes  fran^ais  depuis  Malherbe 
jusaqu'ii  Voltaire  ont  ignore  ces  regles  et  n'ont  pas  laisse  de  faire  d'ad- 
mirbles  vers,  tandis  qu'ils  n'auraient  pu  en  faire  un  seul  s'ils  n'eussent  ätä 
parfaiti'ment  instruits  de  tout  ce  qui  concerne  le  metre,  la  rime,  la  cesure 
etc.,  prouve  qu'il  y  a  entre  ces  deux  classes  de  regles  une  diff'erence  essen- 
tielle ,  que  les  secondes  sont  des  lois  rigoureuses,  tandis  que  les  premi^res 
sont  de  simples  couseils,  subordonnes  ix  la  decision  supreme  du  goüt  et  de 
l'oreille. 

L'auteur  lui-meme  accorde,  §.  37,  que  les  regles  qu'il  pose  peuvent  etre 
violdes  en  vue  d'un  eff'et  determine  k  produire.  Cela  seul  prouve  qu'elles 
ne  sont  pas  comparables  aux  autres,  dont  aucun  efi'et  ä  produire  n'autorisera 
jamais  la  violation. 

L'auteur  admet  aussi,  §.  31,  que  l'accent  oratoire  peut  ne  pas  coincider 
avec  l'accent  tonique.  Je  crois  qu'il  faut  aller  plus  loin  et  dire  que  la 
diciion  oratoire  annale  tres-souvent  l'accent  tonique  pour  faire  ressortir  des 
syllabes  non  accentue'es  d'apres  les  regles  de  la  grammaire.  Rien  ne  serait 
insupportable  comme  une  reoitation  dans  laquelle  on  ne  tiendrait  compte 
que  de  Taccent  tonique.  Je  n'en  veux  pour  exemple  que  trois  ou  quatre 
vers  de  Racine  cites  au  §.  32  et  dans  lesquels  l'auteur  a  signale  par  des 
italiques  les  syllabes  accentuees. 

Que  les  temps  sont  chan^/es .'  Sitot  que  de  ce  jour 

Que  sur  iwiis  son  courroux  ne  soit  pres  d'ecla^er. 

Ou  jneme  s'empressön<  aux  Siwteh  de  BaoZ 

Welas!  l'etat  hovrible  oü  le  ciel  me  lofinV  .... 
Ces  vers  recites  sur  la  scene  avec  l'accent  oratoire  deviendront: 

Que  les  temps  sont  c/mnges !   ^'liot  que  de  ce  jour 

Que  sur  vous  son  courroux  ne  soit  pres  d'eclater. 

Ou  mmie  s'em^jj-essant  aux  öwtels  de  Baal 

Tfelas !  l'etat  Aorrible  oü  le  ciel  me  Toffrit 

Mais  des  lors,  n'est-on  pas  dans  la  necessite  de  conclure  que  la  place 
assigneo  dans  le  vers  k,  l'accent  tonique  n'a  rien  d'absolu  et  que  le  deplace- 
ment  de  l'accent  ne  detruit  nullement  l'harmonie  du  vers?  —  Que  l'accent 
soit  tonique  ou  oratoire,  fonde  sur  la  Constitution  du  mot  ou  sur  lexpres- 
sion  de  la  passion,  qu'importe?  Au  fond,  dans  Tun  comme  dans  l'autre  cas, 
11  consiste  dans  une  elevation  de  la  voix  accompagnee  souvent  du  prolonge- 
ment  de  la  syllabe.  La  facilite,  ou  meme  la  necessite  de  deplacer  l'accent 
tonique  en  lui  substituant  l'accent  oratoire,  peut  donc  faire  que  des  vers 
qui  ne  seraient  point  conformes  aux  typcs  poses  §.  37 — 40  et  §.  118 — 167 
ne  soient  point  pour  cela  depourvus  d'harmonie.  C'est  ce  que  l'auteur 
semble  avoir  senti  lui-meme:  car,  tout  en  blämant,  §.  123,  la  distribution 
des  accents  dans  ces  vers  de  Racine 

Je  crains  Dieu,  eher  Ahner,  et  n'ai  point  d'autre  crainte. 

He/öS.'   Dien  voit  mon  cceur:    plüt  k  ce  Dieu  puissant 

il  indique  entre  parentheses  la  recitation  „Je  crains  Dieu,"  et  „Dieu  voll 
mon  cGnir,"  oü  les  accents  d'un  effet  desagreable  sont  supprimes. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XLVIII.  22 


338  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

N'eüt-il  pas  6te  mieux  d^s  lors.  dans  un  traite  pratique  de  versification 
fran^aise,  de  ne  pas  donner  la  premiere  place,  ni  peut-etre  tant  de  develop- 
pemeiit,  h  des  regles  plus  theoriques  que  pratiques  qu'un  poete  ne  saurait, 
lorsqu'il  tonipose,  avoir  präsentes  ä  l'esprit  de  la  merae  maniere  qu'il  doit 
y  avoir  presentes  les  lois  concernant  le  metre,  la  cesure  et  la  riine.  II  me 
eerable  qu'apres  comme  avant  les  nouveaux  traites  de  versification,  les  poetes 
continueront  a  proceder  comme  faisaient  Racine  et  Boileau,  sans  se  prdoc- 
cuper  directement  de  Taccent,  et  sans  consulter  h.  cet  dgard  d'autre  guide 
que  l'oreille  et  le  goüt. 

M.  Weigand  avoue  modestement  dans  sa  preface  qu'il  a  pris  Quicherat 
pour  guide  et  qu'il  lui  a  meme  emprunte  des  definitions,  des  regles  et  des 
notices  historiques  qui  lui  ont  paru  justes  et  exactes.  Toutefois  la  compa- 
raison  des  deux  ouvrages  m'a  demontre  que  l'imitation  differe  assez  du 
modele  pour  pouvoir  etre  regardee  comme  une  ceuvre  originale.  Elle  est 
surtout  beaucoup  plus  riebe  en  citations  et  en  exemplos.  Mais  je  me  suis 
demande  a  quoi  attribuer  Tomission  complete  du  chapitre  de  l'Harmonie 
imitative,  si  interessant  dans  Quicherat.  11  est  vrai  que  cette  matiere  est 
accidentellement,  je  ne  dirai  pas  traitee,  mais  effleuree  dans  le  livre  de 
M.  Weigand,  h  occasion  de  l'accent  §    37,  et  de  la  cacophonie,  §.  320. 

Quelques  observations  de  detail  pour  terminer. 

Aux  exemples  de  licences  gramniaticales  citees  page  243  note  2,  l'au- 
teur  aurait  pu  ajouter  le  vers  de  Reboul  dans  la  delicieuse  piece  intitulee 
VAnge  et  VEnfant: 

Charmant  enfant  qui  me  ressemble, 

Viens,  nous  serons  heureux  ensemble. 
C'est  une  preuve  de  plus  de  la  justesse  de  la  critique  dont  le 
Systeme  fran9ais  de  la  rime  est  l'ohjet  §.  6?.  L'orthographe  ressetnble'i  satis- 
ferait  aux  exigences  de  la  grammaire  sans  ancun  prejudice  pour  l'oreille. 
Rensemble  n'est  donc  requis  que  pour  les  yeux.  II  est  tres-f'ächeux  que 
dans  ce  conflit  entre  la  grammaire  et  une  superfluite  teile  que  la  rime 
pour  l'oeil,  ce  soit  la  grammaire  que  l'usage  ait  sacrifiee. 

L'incorrection  signalee  page  2.')7  dans  ce  vers  de  Lamartine 
Ton  travail  en  ce  monde  et  le  pain  dont  tu  vive  .... 
a  disparu  dans  mon  edition  (1862). 

Ton  travail  iei  bas,  de  quel  pain  ton  Corps  vive. 
Les  fautes  contre  Taccord  du  participe  passe  reprochees  au  meme  poete 
page  259: 

Ah!   combien  de  baisers  d'une  bouche  secrete 
Sur  la  page  sacree  a  7-efw  le  poete ! 
Car  Dieu  vous  a  creh  par  couple  un  sort  commun, 
me  paraissent    etre  de    pures    erreurs  typographiques    dont  le  poete   n'est 
point  responsable.     En  elTet,    dans   les  deux   cas,   le   pluriel  comme   le  sin- 
gulier,   refu,  refus,  cre^,  cre^s,  repondent  ä  toutes  les   exigences  de  la  ver- 
sification. 

P.  de  ßivifere. 


Alb.  Benecke ,  Die  französische  Aussprache  in  methodischer 
Darstellung  und  schulmässiger  Fassung.  Für  Schul-  und 
Privatunterricht.  Zugleich  als  Handbuch  für  Lehrer  der 
französischen  Sprache  und  zum  Selbstunterricht.  (Preis 
121/2  Sgr.)     Potsdam,   1871.     Verlag  von  August  Stein. 

Das  vorliegende  Buch  haben  wir  seinem  Inhalte  und  seiner  Bestim- 
mung nach  zu  betrachten,  und  zu  beurtheilen,  welcher  Werth  dieser  neuen 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  839 

Arbeit  des  Verfassers  in  vvissenschaftliclier  und  pädagogischer  Hinsicht^  beizu- 
messen ist,  eines  Mannes,  der  bekanntlich  seit  Jahren  in  der  erfolgreichsten 
Weise  der  Aussprache  des  Englischen  und  Französischen  ein  besonderes 
Studium  widmet. 

Das  Buch  zerfallt  in  zwei  Abtheilungen.  Die  erste,  von  Seite  1 — 73, 
enthält  die  verschiedenen  phonetischen  Erscheinungen,  Lautgesetze,  Aus- 
spracheregeln, mit  denen  der  Lernende  bekannt  werden  muss,  um  Franzö- 
sisch correct  zu  lesen,  in  einer  Darstellung,  welche  den  theoretischen  und 
praktischen  Anforderungen  gleichmässig  gerecht  zu  werden  sucht.  P^s  wird 
nicht  nur  die  Lautregel  aufgestellf,  die  Natur  des  betreffenden  Lautes  so 
fassbar  als  möglich  mit  Vergleichang  des  deutschen  Lautes  klar  gemacht, 
und  eine  hinreichende  Anzahl  einzelner  Beispiele,  welchen  durch  das 
ganze  Buch  hindurch  die  deutsche  Bedeutung  beigedruckt 
ist,  hinzugefügt,  sondern  auch  von  vorn  herein  das  Auftreten  des  franzö- 
sischen Wortes  im  Satze  mit  in  Betracht  gezogen.  Denn  von  dem  Ge- 
danken ausgehend,  dass  nicht  das  Aussprechen  des  einzelnen  Wortes,  son- 
dern das  Sprechen  und  Lesen  des  Satzes  Lehrziel  sein  müsse,  sind  den 
Ausspracheregeln  bereits  von  der  vierten  Seite  an  Sammlungen  von  Sätzeu 
beigegeben,  in  welchen  die  in  den  Regeln  gelehrten  Einzelheiten  in  ihrer 
Function  innerhalb  des  Satzes  von  neuem  auftreten. 

Ehe  vAr  jedoch  auf  diese  Eigenthümlichkeit  des  Buches  näher  eingehen, 
ist  es  nÖthig,  die  Anordnung  und  Reihenfolge  der  Paragraphen  über 
die  Aussprache  selber  kennen  zu  lernen.  Der  wichtigste  Punkt,  auf  den 
wir  hierbei  aufmerksam  zu  machen  haben,  ist,  dass  es  sich  der  Verfasser 
zur  Aufgabe  gestellt  hat,  ein  W^ort  erst  dann  vorzuführen,  wenn  die  darin 
enthaltenen  Lautelemente  im  Vorangehenden  erklärt  sind.  _  Dabei  handelte 
es  sich  nun  in  Betreff  des  Aufangsparagraphen  um  denjenigen  Vocal,  von 
welchem  aus  die  Reihe  der  Laute  allmählich  zu  entwickeln  war.  Alle  Gründe 
sprachen  für  das  e,  als  denjenigen  Vocal,  welcher  im  Französischen  unter 
allen  Lauten  am  häufigsten  erscheint.  Nachdem  daher  im  §  1  das  Alphabet 
gegeben  war,  beginnt  §  2  mit  dem  e  oJme  Accent;  es  folgt_  §  3  efermi, 
§  5—7  e  ouvert  und  dann  in  den  zunächst  folgenden  Abschnitten  die  Aus- 
f^prache  des  a,  des  o  (nebst  au  und  eau),  des  i  und  y,  des  u,  des  ou  u.  s.  w. 
Im  Ansciiluss  an  diese  Vocale  folgen  §  18  die  nasalen  Vocale,  §  20  u.  21 
die  Laute,  welche  durch  eu,  oeu  und  oi  dargestellt  werden;  §  22  der  Son 
mouille,  worauf  dann  in  §  23  die  Aussprache  der  Consonanten  mit  s  und  z 
beginnt,  zu  c  und  g,  zu  q,  j  und  ch  weitergeht,  und  demnächst  die  übrigen 
Consonanten  sich  anreihen. 

Die  ersten  Paragraphen  mussten  für  den  Verfasser  die  schwierigsten 
sein,  da  die  Wahl  der  Beispiele  dadurch  sehr  eingeengt  war,_  dass  ausser 
dem  zu  lehrenden  e,  zunäch^t  e  sourd  (muet),  kein  Buchstabe  in  den  zu  be- 
sprechenden ^^■örtern  vorkommen  durfte,  welcher  eine  Lautdißerenz^  vom 
Deutschen _  aufwies.  Freilich  minderte  sich  diese  Schwierigkeit  rnit  jedem 
neuen  Paragraphen,  doch  sind  wir  überzeugt,  dass  die  ersten  14  Seiten  etwa 
dem  Verfasser  grosse  Mühe  des  Suchens  und  AVählens  gemacht  haben 
müssen.  Es  ist  vielleicht  zum  ersten  Male  in  diesem  Buche  eine  solche 
Anordnung  des  Aussprachestoffes  gegeben  worden,  dass  irgend  ein  Wort 
erst  dann  auftreten  darf,  wenn,  ausser  dem  eben  zu  erklärenden  Laute,  alle 
anderen  Lautelemente  desselben  in  vorangehenden  Paragraphen  gelehrt 
sind.  Der  Verfasser  lässt  sich  darüber  auf  Seite  VII  der  Vorrede  folgen- 
dermaassen  aus: 

„Es  war  das  Bestreben  des  Unterzeichneten,  gewissermaassen  in 
mathematischer  Weise  der  Aufeinanderfolge  einen  Gegenstand  des 
Unterrichts  von  einer  Gleichgültigkeit  und  Willkür  der  Behandlung 
loszulösen,  welche  seiner  Ansicht  nach  die  Quelle  der  dürftigen  Aus- 
sprache des  Französischen  unter  uns  sind.  Man  sehe  in  die  franzö- 
sischen Lehrbücher   hinein  und   überzeuge  ^sich,    wie  gegen  das   von 

22* 


840  Bcurtheilungea  und  kurze  Anzeigen. 

dem  Verfasser  durchgeführte  Princip  der  systematischen  Reihenfolge 
die  Wörter  so  beh'ebig  gewählt  sind,  diiss  ein  Laut  gelehrt  wird, 
zwei  oder  drei  aber  vorausgesetzt,  übergangen  oder  dem  Vor- 
sprechen überlassen  werden.  Ich  wähle  eine  neuere  Grammatik  und 
finde  in  Lection  I,  Seite  1 : 

Aussprache  der  Vocale. 
a,  i,  0  lauten  wie  im  Deutschen. 

Unter  den  Beispielen  figuriren  sable. ,  table  mit  den  schwersten 
aller  Endungen  (ble,  bre,  tre  u.  dergl.),  dann  mit  s,  ferner  flamme, 
ohne  Angabe,  dass  a  in  sable  und  flamme  gedehnt,  in  table  kurz  oder 
mindestens  douteux  ist.  In  einer  anderen  kürzlich  erschienenen 
Grammatik  stehen  schon  auf  der  ersten  Seite:  pere,  cheval,  soeur, 
table,  fils,  fille,  tante,  crayon,  robe,  cahier,  plnme,  livre,  poire,  fleur, 
homme,  oncle,  encre,  habit,  enfant,  hotel,  image,  honneur,  d,  h.  so 
ziemlich  die  meisten  Laute. 

Und  so  ist  es  durchweg." 

Jedoch  hat  sich  der  Verfasser  gehütet ,  in  dieser  Consequenz  doctrinär 
zu  werden.  Wo  er  gemeint  hat,  dass  an  irgend  einer  Stelle  dieses  oder 
jenes  Wort  mit  einem  noch  nicht  erklärten  Laute  der  Classification  wegen 
guten  Platz  hätte,  hat  er  entweder  kleinen  Druck,  oder  die  eckige  Klammer, 
oder  sonstige  Beihülfen  gegeben,  um  einen  solchen  FtiU  als  einen  aus  der 
Consequenz  der  Reihenfolge  heraustretenden  zu  markiren.  So  z.  B.  in 
§  10  liie  ganze  Nummer  3. 

Wir  kehren  jetzt  zu  den  Sätzen  zurück,  in  welchen  der  Verfasser  die 
in  den  bezüglichen  Kegeln  vorkommenden  AVörter  verwerthet  hat.  Wir 
werden  ihm  beistimmen  müssen,  dass  eine  solche  Zugabe  von  Uebungsfätzen 
in  einem  methodischen  Lehrbuch  der  französischen  Aussprache  am  Platze 
ist.  Wenn  er  aber  nicht  bloss  französische,  sondern  auch  deutsche  Uebungs- 
sätze  hinzugefügt  hat,  so  ist  dies  sowohl  aus  dem  Grunde  geschehen,  den 
Uebungen  die  grösstmögliche  Mannigfaltigkeit  und  Verwendbarkeit  zu  ver- 
leihen, als  auch  mit  Hinsicht  auf  eine  neben  der  Aussprache  liegende  Ver- 
werthung  des  Stoffes,  wovon  wir  roch  sprechen  werden. 

Eine  besondere  Erwähnung  verdienen  die  Regeln  über  die  Verthei- 
lung  der  Silben  bei  der  Aussprache  und  über  den  Accent  (Seite  2), 
desgleichen  die  Behandlung  der  Bindung  (liaison)  S.  13  und  S.  55 — 61,  so- 
wie das  Kapitel  vom  h,  worin  der  Verfasser  in  einer  Anmerkung  die  Be- 
zeichnung h  muette  und  h  aspire'e  heftig  angreift. 

Die  in  den  französischen  Uebungsstücken  vorkommenden  Wörter  sind 
ausserdem  in  einem  alphabetischen  Verzeiijhniss  von  Seite  61 — 73  zusam- 
mengestellt. 

Die  zweite  Äbtheilung 

des  Buches  von  Seite  77  — 141  enthält  unter  dem  Titel  „Uebersicht- 
liche  Zusammenstellung  der  Regeln  der  französischen  Aus- 
sprache. Mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Einzelheiten 
und  Ausnahmen"  ausser  dem  in  der  ersten  Section  behandelten  Aus- 
sprachestoff" vielfache  Erweiterungen,  aber  keine  Uebungsaufgaben.  War  in 
der  ersten  Abtheilung  vorwiegend  auf  das  unumgänglich  Nothwendige  Rück- 
sicht genommen,  so  sind  in  diesem  zweiten  Tiieile  daneben  die  Einzelfälle 
sorgfältig  beachtet,  hauptsächlich  die  Eigennamen,  unter  denen  auch  so 
manche  von  Personen,  welche  die  neueste  Zeit  interessant  gemacht,  ihre 
Stelle  gefanden  haben.  Die  Lehre  von  der  Vertheilung  der  Consonanten 
auf  die  einzelnen  Silben,  und  die  Accentregeln  treten  darin  vollständiger 
auf;  den  Bemerkungen  zum  Son  nasal  ist  ein  Abschnitt  über  die  Entstehung 
und  das  Hervorbringen  disses  Lautes  beigefügt;  die  Aussprache    des  s,  des 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  341 

c  und  g,  des  ch,  des  m  und  des  p  und  dergl.  ist  hier  weit  detaillirter  be- 
arbeitet. Von  anderen  bemerkenswertheu  Capiteln  heben  wir  noch  folgende 
hervor : 

Weiche  Consonanten  als  Endlaute  (S.  122). 
Die  Endungen  le  und  re  (S.   124). 
Die  Aussprache  der  Zahlen  (S.  125). 

Die  Aussprache  von  f,  bes.  von  cerf,  nerf,  oeuf,  boeuf,  clef  (S.  129). 
Die  Aussprache  von  gens,  sens,  moeurs,  lis,  plus,  tous  (S.  131). 
Alphabetisches  Verzeichniss  von  Wörtern   mit  gewissen  Eigenthümlich- 
keiten  und  Unregelmässigkeiten  der  Aussprache  (S.  135 — 141). 

In  Abschnitten,  welche  durch  kleineren  Druck  speciell  für  den  Lehrer 
und  Fachmann  kenntlich  gemacht  sind ,  stellt  der  Verfasser  ausserdem  die 
Angaben  der  Autoritäten,  aufweiche  er  sich  bezieht,  mit  Beifügung  der 
eigenen  Worte  der  betreffenden  Orthoepisten  (Dubroca  ,  Malvin-Cazal,  Le- 
saint,  Littre,  Feline,  Maigne)  zusammen ,  so  dass  sich  der  Lesende  ein  ge- 
naues Urtheil  bilden  kann,  wie  es  sich  mit  der  heutigen  Aussprache  dieses 
oder  jenes  Wortes  verhält,  und  welchen  Gebrauch  er  zu  adoptiren  hat. 

Üeber  die  Bestimmung  und  die  Verwerthung  des  Buches  bietet 
zunächst  der  Titel  den  nöthigen  Anhalt  für  das,  was  der  Verfasser  damit 
bezweckt.  Er  hat  sich  ausserdem  in  der  Vorrede  näher  darüber  geäussert, 
indem  er  erklärt,  dass  sein  Hülfsbuch  in  folgender  Weise  verwerthet  werden 
könne: 

„Erstens,  von  den  Lehrern  der  französischen  Sprache, 
welche  darin  nicht  nur  eine  bequeme,  praktische  Anleitung  finden, 
wie  sie  die  Aussprache  mit  Schülern  zu  behandeln  haben,  sondern 
auch  einen  Nachweis  über  die  Natur  der  Laute  und  Auskunft  über 
alle  wichtigeren  Einzelfälle,  welche  zum  Nachschlagen  oder  Nach- 
fragen veranlassen. 

Zweitens,  zum  Selbstunterricht.  Wer  Französisch  treibt, 
hat  ein  Interesse  daran,  sich  eine  gute  Aussprache  anzueignen.  Die- 
ses Aussprachebuch  ist  so  abgefasst,  dass  jemand  auch  bei  ganz  ge- 
ringen Vorkenntnissen  sich  selbständig  den  Inhalt  zum  Eigenthum 
machen  kann.  Selbst  für  jemand,  der  erst  Französisch  zu  lernen  an- 
fängt, genügt  es,  sich  von  einem  Franzosen  oder  sonst  der  Sprache 
Kundigen  die  französischen  Vocallaute  einüben  zu  lassen,  um  dann 
im  Stande  zu  sein,  ganz  allein,  ohne  fremde  Hülfe,  das  Buch  Seite 
für  Seite  durchzuarbeiten. 

Drittens,  zum  Schulunterricht.  Auf  höheren  Lehranstalten 
wie  Gymnasien,  Real-  und  höheren  Töchterschulen,  wird  ein  Buch 
der  Art  in  der  Hand  der  Scliüler  und  Schülerinnen  den  Lehrer  in 
den  Stand  setzen,  seinen  Zöglingen  zu  einer  Reinheit  und  Eleganz 
der  Aussprache  zu  verhelfen,  die  mit  den  bisherigen  Mitteln  nicht 
möglich  gewesen  ist,  weil  die  theoretische  Einsicht  in  die  Natur  der 
Laute  und  in  die  Art  der  Hervorbringung  derselben  fehlte.  Die  Dar- 
stellung ist  so  einfach  gehalten,  dass  ohne  zeitraubende  Besprechung 
von  Seiten  der  Lehrer  die  einzelnen  Abschnitte  wie  Le(;ons  eines 
Vocabulars  verwerthet  werden  können.  Aber  der  Gewinn  ist  ein 
doppelter:  einmal  das  Erlernen  des  Wortes  und  dann  das  genaue 
Erkennen  und  Wissen  seiner  Aussprache.  In  der  Hand  gewandter 
Lehrer  und  Sachkenner  wird  die  Benutzung  dieses  Aussprachebuches 
dem  Unterricht  überhaupt  eine  ganz  andere  Färbung  und  höheres 
Interesse  verleihen. 

Viertens,  zum  Privatunterricht.  Die  Menge  derer,  welche 
in  Privatstunden  französische  Sprache  und  Feinheit  der  Aussprache 
zu  erlernen  streben,  werden  an  diesem  Buche  ein  Hülfsmittel  besitzen, 
welches  ihnen  und  denen,  die  sie  unterrichten,  die  Mühe  des  Lernens 
und  Lehrens  wesentlich  erleichtern  kann.     Sowohl    die  Lehrer   deut- 


342  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

scher  Nationalität,  als  auch  die  geborenen  Franzosen  und  Französin- 
nen, welche  Unterrifht  an  Deutsche  ertheilen,  können  überzeugt  sein, 
dass  sie  mit  Benutzung  des  Buches  auffallend  bessfre  Resultate  als 
durch  blosses  Vorsprechen  und  gelegentliches  Verbessern  erzielen 
werden.  Es  genügt  nicht,  den  Laut  bloss  vorgesprochen  zu  hören, 
man  muss  auch  wissen,  wie  er  hervorgebracht  wird.  Und  das 
lehrt  eben  das  Buch  in  einfachster  und  ausreichendster  Weise. 

Die  Lehrer,  welche  sieh  bisher  für  ihre  Zwecke  der  zerstreuten 
und  zusammenhanglosen  Bemerkungen  einer  Anweisung  für  Sylla- 
baires  u.  dgl.  bedient  haben,  finden  in  dem  vorliegenden  Aussprache- 
buche den  Gegenstand  in  planmässiger ,  übersichtHcher  und  scbul- 
mässiger  Ordnung  und  Darstellung." 

Weil  der  Verfasser  mit  Vorliebe  die  Idee  verfolgt  hat,  dass  die  erete 
Abtheilung  seines  Buches  zugleich  eine  allgemein  sprachliche  Grundlage  für 
das  Erlernen  des  Französischen,  abgesehen  von  dem  Aneignen  der  Aus- 
sprache, bieten  könnte,  hat  er  daneben  die  Formenlehre  soweit  berücksich- 
tigt, da'ss  die  Schüler  von  der  Grammatik  soviel,  als  zum  Uebersetzen  der 
Uebungsstücke  erforderlich  ist,  mitbekommt.  Doch  ist  darauf  aufmerksam 
zu  machen,  dass  dieser- Gesichtspunkt  nur  als  ein  zweiter,  neben-  und  unter- 
geordneter erscheint.  Wird  ein  solches  Buch  dem  Anfiing.=unterricbte  zu 
Grunde  gelegt,  so  gewährt  es  für  den  darauf  folgenden  stricten  gramma- 
tischen Unterricht  eine  willkommene  Basis ;  wird  es  in  einer  Classe  benutzt, 
in  welcher  die  Schüler  bereits  die  Formenlehre  hinreichend  kennen,  so  bietet  es 
unter  Umständen  dem  Lehrer  gelegentliches  Material  auch  zu  Exercitien 
und  Extemporalien.  Jedenfalls  ist  es  als  eine  Zugabe  anzusehen  ,  welche 
dem  Lehrer  vollkommen  freie  Hand  lässt.  Wem  es  geeignet  scheint,  der 
mag  davon  Gebrauch  machen;  wer  es  allein  auf  die  Aussprache  absieht, 
kann  die  Sätze,  namentlich  die  deutschen,  bei  Seite  lassen.  Die  Einthei- 
luno-  des  Buches  in  zwei  für  sich  bestehende  Partien,  sowie  die  Anordnung 
und  Vertheilung  des  Aussprachestoffes  ist  eine  derartige,  dass  verschiedene 
Interessen  und  divergiremle  Ansichten  dabei  ihre  Rechnung  finden  können. 
Auf  allgemeine  und  allseitige  Zustimmung  bei  methodisch  angelegten 
Büchern  zu  rechnen,  wäre  ein  Verkennen  des  Publicums. 

Wir  haben  im  Vorstehenden  den  Inhalt  der  beiden  Abtheilungen  des 
französischen  Aussprachebuches  von  Benecke  angegeben.  Fassen  wir  das, 
was  der  Verfasser  giebt,  und  wie  er  es  giebt,  bei  unserer  Beurtheilung 
zusammen  in's  Auge,  so  haben  wir  uns  dahin  zu  äussern,  dass  Stoff  und 
Behandlung  des  Gegenstandes  die  Aufmerksamkeit  des  Fachmannes  in  hohem 
Grade  verdienen.  Einer  grossen  Zahl  von  Lesern,  welche  der  phonetischen 
Seite  der  Sprache  gerade  kein  specielles  Studium  widmen,  wird  es  bequem 
sein,  in  jenem  Buche  sichere  Auskunft  über  die  Natur  der  französischen 
Laute,  viele  Andeutungen  der  Art  und  Weise,  wie  man  die  Aussprache  beim 
Unterrichte  zu  behandeln  und  worauf  man  sein  Augenmerk  zu  richten  hat, 
und  eine  so  eingehende  Berücksichtigung  der  Einzelheiten  zu  finden,  dass 
sie  bei  der  Leetüre  nicht  leicht  auf  Wörter  stossen  werden,  deren  Aus- 
sprache sie  nicht  aus  dem  Aussprachwerk  von  Benecke  entnehmen  könn- 
ten. —  Ein  genaues  Inhaltsverzeichniss  und  eine  kurze  Angabe  des  Inhalts 
oben  auf  der  Seite  erleichtert  das  Auff"inden.  Wir  können  daher  den  Leh- 
rern der  französischen  Sprache  empfehlen,  von  dem  Buche  Kenntniss  zu 
nehmen,  und  sich  durch  eigenen  Einblick  von  der  Zweckmässigkeit  dessel- 
ben für  Lehrerzwecke  sowie  für  Unterrichtsziele  im  Allgemeinen  beim  Be- 
treiben der  französischen  Sprache  zu  überzeugen.  Abgesehen  aber  von  der 
Bequemlichkeit,  welche  das  Buch  dem  Lehrer,  der  im  Französischen  zu  un- 
terrichten hat,  für  eigene  Zwecke  gewährt ,  ist  es  für  den  Schüler,  und 
namentlich  für  den  der  oberen  Klassen,  zur  Aneignung  correcter  Aussprache 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  343 

ein  Hülfsbucli,  welches  ihm  auch  noch  nach  der  Schulzeit  ein  zuverlässiger 
Rathgeber  sein  wird. 

Man  giebt  soviel  auf  die  Aussprache;  die  Aussprache  allein  erweckt 
schon  ein  günstiges  oder  nacbtheiliges  Urtbeil  über  jemandes  Kenntniss 
einer  modernen  Sprache,  und  doch  geschieht  im  Ganzen  wenig,  um  Cor- 
rectheit  darin  zu  schalTen.  Mögen  die  Lehrer  nun  die  einzelnen  Ab- 
schnitte des  trefflichen  Buches  von  Benecke  wie  Lepons  eines  Vocabulars 
behandeln,  oder  mögen  sie  bei  der  LectUre  und  bei  Sprechübungen  die 
V'eranlassung,  welche  falsch  ausgesprochene  Wörter  geben,  dazu  benutzen, 
den  bezüglichen  Paragraphen  des  Buches  aufschlagen  zu  lassen:  die  Anwen- 
dung eines  gedruckten  Aussprachematerials  wird  eine  weit  grössere  Sicher- 
htit  des  Aussprechens  erzielen  lassen,  als  gelegentliche,  einmalige  Be- 
merkungen. 

Wir  sind  der  Ansicht,  dass  es  sich  wohl  lohnt,  die  Arbeit  des  Herrn 
Benecke  für  die  Zwecke,  welche  der  Titel  angiebt,  zu  berücksichtigen. 
Der  praktische  Gesichtspunkt  tritt  überall  hervor,  dabei  aber  nicht  minder 
das  Bestreben  des  Verfassers,  die  lautliche  Erscheinung  in  ihrem  Entstehen 
zu  erklären  und  zu  begründen,  so  dass  der  wissenschaftlichen  Seite  Kech- 
nung  getragen  wird,  ohne  das  leichte  Verständniss  und  das,  was  der  Ver- 
fasser das  „Scliulmässige"  nennt,  zu  benachtheiligen.  Wir  verweisen  Bei- 
spiels halber  auf  §  17  der  2.  Abtheilung. 

Die  Ausstattung  des  Buches  ist  in  jeder  Beziehung  sehr  gut  und  der 
Tüchtigkeit  des  Werkes  ganz  entsprechend,  welches  Referent  schliesslich 
den  Berufsgenossen  recht  warm  empfiehlt. 

H. 


Programmenschau. 


Analyse  der  französischen  Verbalformen  für  den  Zweck  des 
Unterrichts.  Von  Dr.  Lücking,  Oberlehrer.  Programm 
der  Louisenstädtischen  Gewerbeschule  zu  Berlin ,  Ostern 
1871. 

Die  Arbeit  von  Dr.  Lücking  zerfällt  in  4  Theile:  1.  eine  Einleitung, 
in  der  die  bisjetzt  herrschenden  Methoden,  das  Verb  zu  lehren,  durchge- 
nommen werden;  2.  eine  Untersuchung  der  Verbalforraen  in  Bezug  auf  den 
Lautwandel  und  dazu  die  Neubildungen;  3.  eine  Untersuchung  der  Verbal- 
formen in  Bezug  auf  den  Bedeutungswandel  der  Suffixe;  4.  eine  Analyse 
für  den  Schulunterricht,  der  ein  Nachwort  zugefügt  ist. 


L    Die  jetzt  her  rschenden  Methoden. 

Zunächst  spricht  Herr  Lücking  von  der  gewöhnlichen  Lehrart,  bei  der 
die  sogenannten  Ableitungsregeln  angewandt  werden;  hierbei  nimmt  er  an, 
dass  die  meisten  Lehrer  beim  regelmassigen  Verb  Stamm  und  Eniung  un- 
terscheiden, und  erst  beim  unregelmässigen  Verb  jenen  ..Plunder  von  Ab- 
leitungsregeln" in  Anwendung  bringen.  Diese  Annahme  halte  ich  für  falsch. 
Gerade  für  das  regelmässige  Verb  lassen  sich  die  Ableitungsregeln  ver- 
werthen,  und  alle  Grammatiken,  ohne  Ausnahme,  wollen  sie  dort  schon  ver- 
werthet  wissen.  Aber  die  Ableitungsregeln  sind  verschieden,  besonders  in 
einem  Hauptpunkte;  nur  wenige  Grammatiken  nämlich  lehren,  dass  der  Subj. 
du  l'r^sent  von  der  3.  Pers.  Plur.  Ind.  du  Present  herzuleiten  sei,  sondern 
bilden  ihn  aus  dem  Participe  präsent  und  treffen  damit  zufällig  das  Rich- 
tige; denn  gerade  in  dieser  Form  ist  der  S  tamra  des  Verbs  unversehrt, 
wie  er  im  Subj.  du  Pres,  gebraucht  wird,  erhalten.  So  lehren  u.  a.  Borrel, 
Stiffelius,  Toussaint-Langenscheidt,  Girault-Duvivier,  Noel  und  Chapsal,  wäh- 
rend sich  jene  unglückliche  Ableitungsregel  von  der  3.  Pers.  Plur.  Ind.  du 
Present  ausser  bei  Plötz,  bei  Knebel  und  bei  Grüner  findet.  Andere  heben, 
ohne  sich  auf  die  historische  Grammatik  zu  stützen,  die  Endungen  richtig 
vom  Stamm  ab  und  geben  sie  für  die  einzelnen  Conjugationen  an.  Recht 
verständig  geht  dabei  Meidinger  zu  Werke;  besonders  zu  beachten  ist  die 
auch  sonst  recht  empfehlenswerthe  Grammatik  von  D'Hargues.  Diese  Un- 
terschiede in  der  gewöhnlichen  Methode  hätte  Hr.  Lücking  anführen  müs- 
sen, statt  nur  die  allerschlechteste  herauszusuchen  und  zu  bekämpfen. 


Programmenschau.  345 

Ausser  dieser  gewöhnlichen  Methode  .führt  Hr.  Lücking  zweitens  die 
Methode  an,  welche  ich  in  der  kleinen  Schrift: '  „Das  französische  Verbum 
für  die  Schule  bearbeitet,"  befolge,  bei  der  ich  mich  besonders  mit  Anwen- 
dung der  trivialsten  Lautveränderunssgesetze  der  historischen  Grammatik 
möglichst  zu  nähern  gesucht  habe :  ob  ihm  zugleich  die  von  Dr.  Bratuscheck 
für  die  Friedr.  Werd.  Gewerbeschule  gedruckten  „Conjugationsgesetze" 
vorgelegen  haben,  l'asst  sich  nicht  ersehen.  Hr.  L.  nimmt  besonders  an  die- 
sen Lautgesetzen  Anstoss.  Er  greift  eins  heraus,  in  welchem  es  heisst: 
„SS  vor  t  fällt  fort,"  dass  also  il  palit  dadurch  gebildet  worden  sei,  dass  t 
an  den  Stamm  paliss  getreten  ist  und  dieser  nun  sein  ss  verloren  und  dafür 
einen  Circonflex  auf  dem  i  erhalten  habe.  Ein  paliss-t,  sagt  er,  hat  es  nie 
gegeben,  sondern,  indem  die  Form  palit  aus  palisset  entstand,  ist  erst  das 
e  und  mit  ihm  ein  s,  viel  später  das  andere  s  geschwunden.  Gewiss  richtig; 
aber  ist  desshalb  nicht  ss  schliesslich  in  summa  ausgefallen?  Allerdings 
ausserdem  noch  e ;  ist  das  wirklich  ein  so  grosser  Verstoss,  wenn  wir  von 
dem  e  schweigen?  "Wie  lehrt  denn  Hr.  Lücking  selbst?  Er  sagt  wörtlich 
Seite  45  in  seiner  Schulanalyse:  Die  Stämme  auf  ss  haben  vor  dem 
Personenzeichen  t  kein  ss.  Ist  dieses  „Nicht  haben"  eine  besondere 
Eigenschaft  jener  Stämme  auf  ss  oder  eine  Folge  des  Herantretens  des  t? 
Doch  wohl  letzteres;  also  lehrt  Hr.  Lücking  genau  dasselbe.  Hr.  L.  hat 
nur  den  Versuch  gemacht,  die  L^nrichtigkeit  eines  der  von  mir  aufgestellten 
Lautgesetze  nachzuweisen ;  ich  gebe  im  Ganzen  20  solche  Gesetze,  alle  nicht 
erwälinten  wendet  Hr.  Lücking  —  wie  sogar  auch  das  eine,  welches  er  an- 
greift —  selbst  an,  und  doch  gelangt  er  zu  dem  harten  Urtheil,  dass  mit 
„dergleichen  Pseudolautgesetzen"  grosses  Unheil  angerichtet  wird  und  dass 
uni-ere  Methode  also  jedenfalls  zu  verwerfen  (Seite  9,  oben). 

II. 

Die  Schwierigkeit  der  Anal3'se  der  Verbalformen,  sagt  Hr.  L.  richtig, 
liegt  besonders  darin,  dass  mit  dem  Lautwandel  ein  Bedeutungswandel  vor 
sich  gegangen  ist,  der  oft  zu  einem  Widerspi-uch  zwischen  der  ursprüng- 
lichen Bedeutung;  und  der  modernen  Bedeutung  alter  Formen  oder  der 
Reste  derselben  in  dem  jetzigen  Worte  führt.  Während  in  nous  aimons  das 
o  ursprünglich  Präsensstammverstärkuno-  war,  ns  ein  Rest  von  „ma  und  si," 
„ich  und  du,"  wird  jetzt  der  ganze  Comple.x  ons  als  Personalendung  em- 
pfunden. Was  jetzt  als  Modus-  und  Tempuscharakter  oder  als  Personal- 
eiidung  empfunden  wird,  ist  schwer  zu  sagen  ;  denn  die,  welche  Französisch 
als  Muttersprache  sprechen,  lernen  es,  ohne  über  dergleichen  nachzudenken 
oder  belehrt  zu  werden;  wir  aber,  die  wir  es  systematisch  lernen  und  leh- 
ren, sind  ja  mit  H.  Lücking  eben  dabei .  eine  Lehrart  zu  machen.  Jeden- 
falls jedoch  hat  Herr  L.  Recht,  seine  Untersuchung  auf  diesen  wichtigen 
Punkt,  den  Bedeutungswandel,  mit  auszudehnen. 

Der  Lautwandel,  Neu-  und  Umbildungen. 

Zum  Nachweis  des  Lautwandels  geht  Hr.  L.  an  der  Hand  von  Schlei- 
cher's  Compendium  der  vergleichenden  Grammatik  mit  Benutzung  von  Cur- 
lius  und  Corssen  die  einzelnen  Kategorien  durch.  Von  der  Erklärung  der 
^^  urzel  geht  er  zum  Wortstamm,  von  dem  zum  Verbalstamm,  von  dem  zu 
den  Tempusstämmen,  von  den  Tempusstämmen  zu  den  neugebildeten  Tem- 
poribus.  von  denen  zu  den  Moduselementen,  dann  zu  den  Personalendungen 
und  endlich  zu  den  Verbalnominibus.  Ueberall  führt  er  Beispiele  aus  dem 
Lateinischen  an  und  gieht  die  entsprechenden  französischen  Formen.  Das 
ganze  ist  eine  ausführliche,  tleissige  Zusammenstellung,  die  denen  besonders 


346  Programmenschau. 

willkommen  sein  wird,  welche  nicht  Gelegenheit  haben,  selber  eingehend 
jene  grösseren  Werke  zu  studieren.  Bei  der  Durchnahme  der  Präsensstämme 
stellt  Hr.  L.  in  vollständigster  Weise  alle  französischen  unregelmässigen 
Verben  den  einzelnen  Gattungen,  zu  denen  sie  gehören,  nach.  Nach  Ab- 
solvirung  der  Prä.sensstämme  hält  er  inne,  um  eine  Uebersicht  der  eingetre- 
tenen Veränderungen  zu  geben.  Er  bespricht  dabei  zunächst  die  Verände- 
rungen, welche  der  Endvocal  fein  solcher  stand  früher  überall  mit  Aus- 
nahme der  Wurzel  es)  erlitten;  der  Vocal  ist  theils  geschwunden,  theils 
abgeschwächt,  Reste  .«ind  noch:  o,  e,  e  im  Pluriel;  e  muet  im  Singulier. 
Der  Endconsonant  oder  die  Endconsonanten  unterliegen  ebenfalls  bedeuten- 
den Aenderungen.  Diese  Aenderungen  entsprechen  natürlich  den  allgemei- 
nen Veränderungen,  die  die  lateinischen  Consonanten  in  jeder  Wortart  er- 
litten haben ;  ich  hätte  es  daher  für  praktisch  gehalten ,  wenn  Hr.  L.  die 
Uebersicht  jener  Veränderungen  nach  den  Buchstaben ,  die  am  Stammende 
standen,  gegeben  hätte,  wenn  er  also  z.  B.  erst  besprochen  hätte,  was  aus 
den  Liquiden,  dann  was  aus  den  Muten,  was  ferner  aus  zwei  Consonanten 
geworden  wäre,  und  zwar  a.  vor  den  consonantischen,  b.  vor  den  voealischen 
Endungen;  «.  vor  den  hörbaren,  ß.  vor  den  stummen  Endungen.  Dann 
wäre  er  freilich  genÖthigt  gewesen ,  jene  verpönten  Lautgesetze  auszuspre- 
chen :  so  geräth  er  in  eine  aufzählende  Breite  und  besonders  in  Wieder- 
holung; wenn  er  später  zum  Part,  passe  kommt,  so  muss  er  vor  der  Endung 
t  dieselben  Veränderungen  wie  vor  dem  t  der  3.  Person  angeben. 

Bei  der  Durchnahme  der  Perfectstämme  ergiebt  sich  folgendes  Resultat: 
Fast  durchgehends  zeigen  sich  im  Französischen  Neubildungen  von  dem 
Präsensstamme;  erhalten  hat  sich:  a.  einfacher  Perfectstamm  in  je  fis,  je 
vis,  je  vins,  je  tins,  je  fus,  also  in  5  Passes  definis.  Dieser  einfache  Perfect- 
stamm, welcher  im  Lateinischen  durch  Reduplication  entst.-vnden  ist,  die 
ihrerseits  wieder  durch  Contraction  geschwunden  ist,  unterscheidet  sich  nach 
dem  Uebergange  in's  Altfranzösische  sehr  wenig,  ja  gar  nicht,  vom  Verbal- 
stamme; ebenso  nähert  sich  der  Präsensstamm,  soweit  er  durch  Verbal-Suf- 
fixe  gebildet  ist,  dem  Verbalstamme .  so  dass  Perfect-  und  Präsensstamm 
schon  im  Altfranzösischen  kaum  auseinandergehalten  sind.  Während  z.  B. 
von  dem  Verbalstamme  fac,  jene  Tempusstämme  facj,  und  fec  lauten,  lassen 
die  Formen  des  Altfranzösischen:  nous  fesum  (fesom),  vous  festes;  jefesoie; 
tu  fesis,  vous  fesistes;  que  je  fesisse  etc.  erkennen,  dass  die  Lautabschwä- 
chung des  a  und  e  zu  e  den  meisten  Formen  von  faire  das  Gepräge  giebt, 
als  seien  sie  von  einem  Stamme  (fes)  gebildet,  der  dem  Verbalstamme 
gleich  ist.  Es  schwindet  für  die  Conjugation  jener  Unterschied 
von  besonderen  Tempusstämmen  und  ersetzt  sich,  als  man 
wieder  genauer  auf  die  Formen  zu  achten  anfing,  durch  einen 
Unterschied  allein  in  den  Endungen  der  Tempora.  Während 
also  im  Lateinischen  Präsens  und  Perfect  von  facere  sich  scharf  kennzeich- 
neten, jenes  durch  das  SuflFix  ja,  dieses  durch  die  Länge  des  e  erstens  und 
durch  das  Suffix  i  zweitens,  besitzt  später  das  Präsens  gar  kein  Kennzeichen 
mehr,  das  Perfect  nur  noch  eins,  hier  i,  welches  Hr.  L.  mit  uns  zur  En- 
dung des  Passe  d^f.  jetzt  rechnet.  Aus  je  fesi,  tu  fesis,  il  fesit  etc.  mit 
dem  Ton  auf  der  letzten  Silbe,  ward  nun  gerade,  weil  jetzt  das  i  so  nach- 
drücklich betont  werden  musste,  je  fei  =r  je  fi,  tu  fis,  il  fit.  In  nous  fesons 
u.  ähnl.  Formen  hielt  sich  das  s,  weil  ons  lange  nicht  so  nothwendig  war 
zur  Charakteristik  der  Form,  „nous"  allein  hätte  schon  genügt;  später  stellt 
sich  sogar  durchgehends  da,  wo  die  Verkürzung  noch  nicht  eingetreten  ist, 
das  ai  wieder  ein;  dadurch  sind  wir  nun  genöthigt  und  berechtigt  zu  sup- 
poniren,  dass,  wenn  die  Ausstossung  des  s  nicht  so  früh  eingetreten  wäre, 
die  Formen  des  Perfects  zunächst  je  fai.si,  tu  faisis  etc.  gewesen  wäre,  und 
wir  handeln  nicht  unfranzösisch,  wenn  wir  lehren:  faire  hat  den  allen  For- 
men gemeinschaftlichen  Stamm  fais,  aus  je  faisis  ward  je  fis.  Wenn  Hr.  L, 
also  lehrt,  in  je  fis—'  hat  sich  der  einfache  Perfectstamm  erhalten,  so  müs- 


Programtnenschau.  347 

sen  wir  dies  hiernach  für  falsch  halten.  Aus  den  Tempusstämmen  von 
videre:  vide  u.  vidi  wird  altfranzösisch  ve  u.  ve'i  d.  h.  das  Perfect  hat  wie- 
derum i  als  Kennzeichen,  welches  dem  fiir  alle  Formen  gemeinschaftlichen 
Stamme  ve  zutritt ;  wiederum  absorhirte  das  i  das  schwache  e,  so  ward  aus : 
je  vei.  tu  veis  etc.,  je  vis,  tu  vis.  Im  Present  lautet  das  e  in  oi  um,  wie 
je  re9ois  statt  je  reces,  und  dieses  oi  erhält  sich  auch  vor  den  betonten 
Endungen,  so  dass  schliesslich  die  Conjugation  einen  Stamm  voi,  der  allen 
Formen  gemeinschaftlich  ist,  voraussetzen  lässt;  das  oi  lautet  zurück  in  e 
im  Futur  und  Passe  defini  und  im  letzteren  tritt  dann  Verkürzung  ein.  Die 
höchst  merkwürdigen  Formen  je  vins  und  je  tins  haben  nicht  das  i  als 
Kennzeichen  behalten,  obschon  altfranzösisch  der  Subj.  de  l'lmparfait  je 
tenisse,  je  venisse  hiess  und  tu  tenis,  nous  tenimes,  vous  tenistes  gebräuch- 
lich .«ind  :  nach  Wegfall  des  i  —  der  erst  eintrat ,  nachdem  längst  das  e  in 
tu  venis  kurz  geworden  und  somit  wieder  iür  venir  und  tenir  ein  allen 
Formen  gemeinschaftlicher  Stamm  ven  und  ten  sich  gestaltet  hatte  —  müss- 
ten  wir  je  viens  und  je  tiens  für  das  Passe  defini  erwarten:  so  hiess  aber 
schon  das  Present:  möglicher  AVeise  ist  deshalb  nicht  die  Umlautung  des 
e  in  ie,  sondern  die  in  i  (vergl.  venin,  venenum)  eingetreten  und  je  vins 
und  je  tins  daraus  geworden;  dann  hätten  wir  hier  also  ein  nach  Art  der 
deutschen  starken  Conjugation  mit  Umlaut  gebildetes  Perfect.* 
Keinenfalls  knnn  von  einer  Erhaltung  des  lateinischen  Perfectstammes  die 
Rede  sein.  Da  für  fus  kein  Present  vorhanden  ist,  so  ist  diese  Form  für 
die  Lehrart  gleichgültig.  Herr  Lücking  sagt  ferner:  es  hat  sich  von  früher 
zusammengesetzten  Perfecten  der  Perfectstamm  erhalten  in :  je  dis,  je  niis, 
je  ris,  je  conclus,  j'exclus,  j'assis,  j'acquis,  je  pris.  Bei  je  conclus  und 
j'exf  lus  ist  keine  Nüthigung  vorhanden,  den  alten  Perfectstamm  anzunehmen, 
da  der  Präsensstamm  (nous  conclu-ons)  mit  ihm  gleichlautend  geworden  ist, 
ebensowenig  bei  je  ris,  in  dem  einfach  2  i  zusammengeschmolzen  sind,  wie 
in  je  fui-is  :=  je  fuis.  Es  blieben  also  die  5  Formen  je  dis,  je  mis,  j'assis, 
j'acquis,  je  pris.  Bei  dire  ist  der  allen  Formen  gemeinschaftliche  Stamm 
im  Altfr.  dis  im  Passe  def.  erhalten  in  ils  distrent,  sonst  abgeschwächt  zu 
des,  tu  desis,  nous  desmes,  que  je  desisse,  hieraus  wie  bei  faire  tu  dis, 
nous  dunes,  que  je  disse,  also  wiederum  hier  kein  Grund  zur  Annahme  eines 
erhaltenen  Perfectstammes.  Ebenso  sprechen  die  altfranzösischen  Formen 
von  mettre  gegen  die  Behauptung  von  H.  Lücking,  dass  man  in  je  mis  das 
is  als  von  denselben  lateinischen  Buchstaben  in  mm  hergekommen  betrach- 
ten müsse,  misi  ward  ganz  naturgemäss  mei,  hieraus  mi,  später  mis,  ebenso 
tu  mesis,  nous  raeismes,  vous  meistes,  woraus  tu  mis,  nous  mimes,  vous 
mites  ward:  nur  in  il  mist,  ils  mistrent  ist  das  Perfect-i  gewichen,  und 
das  Stamm -i  ist  in  il  mit,  ils  mirent  daher  anzuerkennen.  Genau  wäre 
also  zu  lehren  :  je  m-is,  tu  m-is,  il  mi-t,  nous  m-imes,  vous  m-ites,  ils  mi-rent. 
Wir  richten  uns  nach  der  Mehrzahl  der  Formen  und  betrachten  daher  das 
i  durchweg  als  Perfectzeichen.  Eins  ist  aber  zuzugeben:  die  im  Altfran- 
zösischen auftretende  Neigung,  allen  Formen  einen  gleichen  Stamm  unter- 
zulegen, hat  bei  mettre  nicht  die  Kraft  gehabt,  die  schon  im  Lateinischen 
durch  Ausfall  des  t  im  Perfect  eingetretene  Verkümmerung  des  Stammes 
zu  heben.  Bei  asseoir  ist  der  allen  Formen  gemeinschaftliche  Stamm  asse, 
hieraus,  wie  bei  voir,  j'assis,  das  Präsens  mit  Umlautung  in  ie:  j'assieds. 
Bei  dem  Passe  def.  von  acquerir  haben  wir  es  nicht  mit  einem  besonderen 
Perfectstamme  (ausser  dem  zur  Endung  sich  schlagenden  i)  zu  thun,  da 
schon  im  Lateinischen  der  Perfectstamm  gleich  dem  Präsensstamme  plus 
ivi  =  i  war,  sondern  mit  einer  dem  Französischen  ganz  fremd  gewordenen 
Vertauschung  des  r  mit  s;  allen  Formen  gemeinschaftlich  ist  Im  Altfr.  der 
Stamm    acquer,   vor  vollem  i    (nicht  i   in  ions,  iez)   verwandelt    sich   r  in  s: 


*  Vergl.  Vorrede  zur  3.  Aufl.  meines  französischen  Verbums. 


348  Programmenschau. 

j'acqudsis  verkürzt  sich  zu  j'acquis.  Endlich  je  pris:  Bei  prendre  herrscht 
die  Neiorung  im  Altfr.  vor,  den  Stamm  pren,  also  einen  allen  Formen  j:e- 
meinschaftlichen  Stamm,  auch  dem  Passe  def.  unterzulegen;  gerade  wie  bei 
venir  und  tenir  hielt  sich  auch  hier  (nach  n?)  das  i  nicht,  es  entstand  je 
prnis,  daraus  ward,  da  n  vor  s  oft  ausfällt,  je  pris  ;  hiernach  hätten  wir  je 
pris  wie  je  vins  und  je  tins  als  ein  durch  LImlaut  direct  vom  Stamme  ge- 
bildetes Passe  def.  anzusehen;  wir  haben  also  wiederum  keinen  alten  Per- 
fectstamm. 

So  glauben  wir  denn  nachp;ewiesen  zu  haben,  dass  sich  nur  bei  je  mis 
von  dem  Auftreten  eines  besonderen  Perfectstammes  sprechen  Hesse.  Wir 
legen  auf  (He  vorstehende  Auseinandersetzung  besonderes  Gewicht,  weil  Herr 
Lücking  seine  Schulanalyse  in  einem  Hauptpunkte  nach  dieser  fehlerhaften 
Anschauung  der  genannten  Passes  definis  zustutzt. 

Bei  den  neugebildeten  Temporibus  sagt  Hr.  Lücking,  dass  die  verkürz- 
ten Formen  von  avoir  schon  vor  der  Zusammenrückung  bestanden  haben ; 
so  lange  er  keine  Belegstellen  aus  dem  frühesten  Altfranzösisch  dafür  bei- 
bringen kann,  so  lange  wird  diese  Behauptung  eine  gewagte  bleiben.  In 
il  saillera  und  je  cueillerai,  meint  Herr  Lücking,  sei  das  gekürzte  i  zu  e 
abgestumpft  worden ;  ich  halte  den  Hergang  für  einen  anderen :  in  saiUir 
wurde  gerade  wie  in  venir,  tenir,  mourir,  courir,  acquerir  das  i  und  zwar 
zwischen  zwei  Liquiden  ausgestossen  (vergl.  je  donrai,  je  demeur- 
rai  im  Altfranzösischen),  so  entstand  saih-a  =  saldra  =  saudra,  alle  diese 
Formen  sind  im  Altfranz.  vorhanden.  Der  Gegensatz  von  saudra  zu  saillir 
Avar  für  das  Sprachgefühl  schliesslich  zu  gross  geworden  und  man  schob 
nachträglich  zwischen  1  und  r  wieder  ein  e  ein,  um  das  1  vor  der  Ver- 
wandlung in  u  zu  schützen.  Ebenso  wird  cueudrai  wieder  durch  cueillerai 
ersetzt.  Ein  gleicher  Grund  Hess  statt  il  sault,  il  cueult  (auch  ohne  1  ge- 
schrieben) die  Formen  il  saille,  cueille  eintreten:  so  entstand  bei  saillir  tres- 
saillir,  assaillir  und  cueilHr  das  Pres.  Sing,  auf  e,  es,  e.  Solche  Erschei- 
nungen, wo  das  Sprachgefühl  sich  stemmte  gegen  zu  grosse  Veränderungen, 
durch  die  ausserdem  eine  schon  vorhandene  Form  herausgekommen  wäre, 
glaube  ich  bei  4  anderen  Formen  annehmen  zu  dürfen.  Sonderbarer  Weise 
nämlich  werden  ohne  Stammverkürzung  vor  u  gebildet  issu,  cousu,  vetu  und 
ganz  anomal  ist  gebildet  vecu.  Hätte  man  issu  verkürzt,  so  entstand  ein- 
fach u  eine  Form  von  zu  geringem  Umfange,  die  ausserdem  mit  eu  gleich- 
gelautet hätte;  aus  vetu  wäre  vu  geworden;  statt  vecu  erwarten  wir  vivu, 
daraus  hätte  wieder  vu  werden  müssen. 

Bei  den  Bemerkungen  über  die  Personalendungen  ist  mir  aufgefallen, 
dass  Hr.  L.  gar  nicht  erwähnt  —  worauf  z.  B.  Diez  Gewicht  legt  —  dass 
für  das  Antreten  des  s  in  der  1.  Pers.  Sing,  das  Nominativ-s  mit  von  Ein- 
fluss  gewesen  ist ;  diese  Ansicht  hat  um  so  mehr  Wahrscheinlichkeit,  als  zu 
derselben  Zeit  sich  vielfach  Formen  der  1.  Pers.  Plur.  ohne  s  finden.  Ich 
vermisse  wiederum  bei  den  Personalendungen  Lautgesetze. 

Das  Part,  perf.,  zeigt  Hr.  L.  bei  den  Verbalnominibus,  ist,  nachdem 
der  eigene  Stamm,  den  es  durch  Anhängung  von  tu  an  den  Verbalstamm 
erhalten  hatte,  sich  wieder  abgeschliffen  hat,  ebenfalls  jetzt  als  von  einem 
gleichmässig  durchgehenden  Verbalstamm ,  der  dem  Präsensstamm  gleich 
ist,  gebildet  zu  betrachten.  Auf  einen  besondern  lateinischen  Stamm  lür 
das  Part.  perf.  müsse  man  jedoch  zurückgehen  bei  mis,  sis,  acquis,  pris, 
circoncis,  clos.  Lässt  man  s  als  Endung  des  Part,  passe  im  Französischen 
überhaupt  zu ,  so  sind  circoncis  und  clos  ganz  regelmässig  von  den  allen 
Formen  gemeinschaftlichen  Stamm  circoncis,  clos  gebildet,  über  die  Bildung 
von  pris  gilt  dasselbe,  wie  über  die  von  je  pris;  acquis  gesteigert  aus  acques, 
dem  durchgehenden  Stamme,  an  den  kein  neues  s  herantritt.  Ob  wir  bei 
sis  eine  Umlautung  aus  ses  annehmen  dürfen,  die  etwa  eintrat,  um  den 
Gleichklang  mit  den  vielen  ähnlichen  Formen  desselben  Verbs  zu  vermeiden, 
ist  wohl  fraglich.      Für   mis  müssen   wir   die    directe  Einwirkung    des  alten 


Programmenschau.  349 

Part.  Perf.-Stamm  zugeben,  blieben  also  höchstens  2  Participes  übrig,  für 
die  ein  alter  Part.  Perf.-Stamm  anzunehmt  n  wäre.  Wir  kommen  hierauf 
zurück. 

Bei  den  vielen  Neubildungen  auf  u  erwähnt  Hr.  L.  schliesslich  ein 
Lautgesetz  über  Stammverkürzurg  vor  der  Endung  u  resp.  us.  Er  sagt 
wörtlicli:  „Vor  dem  betonten  u  beharren  mp,  no,  nd,  rd,  tt,  ferner  ss  aus 
X  (issu)  und  s,  vor  welchem  n  gestanden  (cousu),  ausserdem  die  Liquiden  1, 
r  und  der  Nasal  n  (m  kommt  nicht  vor),  dagegen  schwinden  die  Explosiv- 
laute p,  b,  d,  c,  g,  sowie  der  Spirant  v  und  ein  aus  sc  entstandenes  ss  oder 
E."  Hierbei  vergisst  Hr.  L.  vetu;  ferner  können  wir  direct  nicht  zugeben, 
dass  p,  b,  d,  e,  g  schwinden,  sie  schwinden  allerdings  öfters  in  allen  For- 
men eines  Verbs,  also  auch  vor  u  (vergl.  lire,  legere  —  lu;  croire,  credere  — 
cru  etc.),  aber  H.  Lücking  wird  keinen  Fall  anfiihren  können,  wojeneCon- 
sonanten  allein  vor  u  gewichen  sind,  während  sie  vor  o,  a  stehen  blieben; 
dies  ist  nur  der  Fall  bei  Stämmen  auf  v,  s,  ss.  Später  in  der  Analyse  für 
die  Schule  sagt  Hr.  L.  beim  Passe  def. :  „Geht  die  erste  Form  des  Stnm- 
mes  (Präsensstamm)  nicht  auf  1,  II,  r  aus,  so  erscheint  die  zweite  Form  in 
der  Art  kürzer,  dass  von  der  letzten  Silbe  der  ersteren  nur  die  Anfangs- 
consonanten  vorhanden  sind;"  beim  Part,  passe  beisst  es:  die  3.  Form  des 
Stammes  (Part.  passe-Stamm)  erseheint  kürzer,  wenn  nicht  die  erste  Form 
aut  1,  11,  r,  n,  t  (vGtiv)  ausgeht.  Hierbei  vergisst  Hr.  L.  alle  Part,  passds 
der  sogenannten  4.  Conjugation  vendu,  rendu  etc.  Ich  glaube  annehmen 
zu  düifen,  dass  ich  das  in  Rede  stehende  Gesetz  zuerst  allgemein  ausge- 
sprochen habe,  worauf  ich  auch  ausdiücklicli  in  der  Vorrede  der  3.  Auf- 
lage meines  „Französ.  Verbums"  hingewiesen  habe.  Die  Sache  ist  sehr 
einfach;  man  braucht  sich  nur  mechanisch  alle  Passes  definis  und  alle  Par- 
ticipes passes  auf  US  resp.  u  hinzuschreiben,  so  findet  sich  die  Regel  von 
selbst  :  Sieht  man  nämlich  ab  von  den  oben  besprochenen  Formen  vetu,  issu, 
cousu  vecu,  vecus,  so  findet  man  sofort,  alle  nicht  verkürzenden  Formen 
haben  am  Stammende  1,  n,  r  oder  2  Consonanten,  alle  verkürzenden  Formen 
dagegen  haben  ein  s,  ss,  v  mit  vorhergehendem  Vocal  oder  einen  blossen 
Vocal.  Indem  ich  nun  nicht  zu  entscheiden  wagte,  ob  einige  der  nicht  vor- 
kommenden Consonanten,  wie  z.  B.  f  oder  p  hätten  ausfallen  oder  stehen 
bleiben  müssen,  habe  ich  das  Gesetz  gefasst:  „Endet  der  Stamm  auf  einen 
Vocal  oder  s,  ss,  v  mit  vorhergehendem  Vocal,  so  fällt  der  Vocal  oder  s, 
SS,  V  mit  vorhergehendem  Vocal  aus,  wenn  u  als  Bindevocal  oder  Endbuch- 
stabe antritt."  Zu  diesem  Gesetz  habe  ich  in  einer  Anmerkung  dann  die 
Fälle  aufgezählt,  in  denen  keine  Veikürzung  eintritt.  Hr.  Lücking  hat  den 
Inhalt  dieser  Anmerkung  zur  Regel  gemacht,  also  gelehrt,  wann  der  Stamm 
nicht  verkürzt  wird,  hat  aber,  da  er  die  Part,  passes  der  4.  Conjugation 
vergessen  und  ausserdem  vetu,  cousu,  issu  hinzufiezogen  hat,  sehr  eigen- 
thündiche  Regeln  herausgebracht.  Hr.  L.  recapitulirt  diesen  Abschnitt  über 
den  Lautwandel  schliesslich  dahin,  dass  durchgängig  eine  Lautschwächung 
zu  constatiren  sei,  nebenbei  ein  Auftreten  von  bedeutungslosen  Lauten 
(Hülfslauten).  „Aber  neben  den  aus  physiologischen  Bedingungen  derLaut- 
eizengung  als  unbewusste  Lautscliwächungen  verständlichen  Umwandlungen 
des  Lautkörpers  sind  an  demselben  gewisse  andere  Veränderungen  zu  con- 
statiren, welche  ohne  die  Annahme  eines  mitwirkenden  Gedankens  nicht  be- 
grillen  weiden  können:  es  sind  nämlich  ziemlich  häufig  Formen  nach  dem 
Muster  anderer  umgebildet  oder  auch  durch  Formen,  welche  nach  dem 
Muster  anderer  neu  gebildet  wurden,  ersetzt  worden." 


III.     Bedeutungswandel. 

Die  Untersuchung  der  Verbalformen   in  Bezug  auf  den  Bedeutungswan- 
del ist  schon  desshalb  als  werthvoll  zu  betrachten,  weil  hier  wohl  das  erste 


350  Programmenscliau. 

Mal  der  Versuch  gemacht  worden  ist,    diese  Seite  gründlich  zu  beleuchten. 
Was  Hr    L    hier  sagt,  ist  durchgängig  klar,  und,  wenn  ich  mit  den  gezoge- 
nen Folgerungen  au'ch  nicht   überall  einverstanden    bin,    so    kann    ich    doch 
diesen  Abschnitt  Jedem  auf  das  Wärmste  empfehlen.     Hr.  L.  weist  zunächst 
darauf  hin    wie  die  Suffixe  in  den  ältesten  Sprachen  selbstständige  W  uizeln 
gewesen,  die  ihrerseits  Träger    gewisser  Bedeutungen    waren.     „Wenn   aber 
auch   der   ursprüngliche  Sinn   der   Suffixe   noch   nicht   allgemein   festgestellt 
und  die  Entwickelung  desselben  noch  nicht  als   eine   gesetzmässige  erwiesen 
ist-  so  lässt  sich  doch  soviel   mit  Sicherheit   behaupten,   dass   dieselben   auf 
einem  bestimmten  Sprachgebiete   in    einer   bestimmten  Epoche   der   Sprach- 
geschichte für  das  Sprachgefühl  des  Volkes  bestimmte  Bedeutungen  besesseu 
haben    und  dass   diese   geistigen  Werthe    der   phonetischen  Ueberreste    der 
Sufti.xe   innerhalb    der    lateinischen    Sprachentwickelung    in    einer    Epoche, 
welche   vor   die   Blüthezeit   der  römischen  Literatur  fällt,   sich   im  \\  eseut- 
lichen  mit  den  Werthen  der  verbalen  Kategorien    der  Person   und   des  ^u- 
merus    des  Tempus  und  des  Genus    gedeckt   haben.  —  Noch   immer    haften 
diese  Unterschiede   der  Bedeutung  für   das    Sprachgefühl   am   Unterschiede 
der  Form.     Aber  dieselben   haften  an  den  Elementen   der  Formen  in  ganz 
anderer  Weise,  als  dies  ehedem  der  Fall  gewesen  ist;   die   phonetischen 
Ueberreste  der  Suffixe  haben  nämlich   zum  Theil   eine   von   ihrer  Ursprung- 
liehen   durchaus    verschiedene    Function   übernommen, i^  eine    Function,    die 
früher  einem  benachbarten  Suff"ixe  eigen  war,   welches   entweder  geschwun- 
den oder  selbst  Träger  einer  anderen  Beziehung  des  Wurzelbegriffs   gewor- 
den ist."     Indem   nun   Hr.  L.,   um  Verwechslungen    vorzubeugen,   für  Per- 
sonalendungen   hier   beim    Neufranzösischen   Personalzeichen   und   ent- 
sprechend  Moduszeichen,   Tempuszeichen   sagt,    nimmt    er    diese   einzelnen 
Kategorien  durch,  und  indem  er  dabei  stets  danach  fragt,  was  jetzt  als  das 
betreffende  Zeichen   empfunden  werde ,    kommt   er   zu    Schlüssen,   in   denen 
ihm  im  Allgemeinen   beigestimmt    werden   muss,   z.  B.   sagt   er,   gewiss   mit 
Recht    in  ons,  ez,  ent   des  Pres,  de  ITnd.    sind  jetzt  reine  Personenzeichen 
zu  erblicken,  es  sind  also   die  Vocale  o,  e.   e    aus   einer   Stammverstarkung 
zu  einer  Personenzeichenverstärkung  geworden.     Gegen  einen  Schluss  muss 
ich  jedoch  mich  aussprechen.     Weil,  sagt  Hr.  L.,  an  je  croi,  ich  glaube,  ein 
s  nach  Analogie  von  je  crois,  ich  wachse,    angesetzt   worden   ist,   so   folgt, 
dass  man  in  je  crois,  ich  wachse,  das  s  nicht  mehr  als  Stammausgang,  son- 
dern als  Personenzeichen  fasste.      Das  war  so  lange   nicht   möglich,   als   es 
hiess  je  crois,  tu  crois,  il  cro'isi,  denn  so  lange  wies  dass  m  il  croi.s<  aut  den 
Ursprung  des  s  in  je  crois  und  tu  crois  bin.      Als  aber  das  s  gefallen  war, 
rückte  t  in  gleiche  Linie   mit  dem  s   der   beiden   ei-ften  Personen,   wodurch 
nun  dieses  s   anfing   als   Endbuchstabe    empfunden   zu   werden.      Ganz  coo- 
sequent  fährt   Hr.  L.  fort,   das  s  in   tu   es    erlitt   diese   Umwandlung  nicht, 
weil  il  est  noch  das  s  des  Stammes  behalten  hat.     So  plausibel  uns  Hr.  L. 
auch  diese  Anschauung  macht,  ich   muss  doch  sagen,   ich   finde    sie   zu  ge- 
künstelt.    Zunächst  liegt  gar  keine  Nöthigung  dazu  vor.      Mit  dem  Vortre- 
ten der  Pronomina  je,  tu,  il  etc.  hätten  die  Personenzeichen   ganz  aufhören 
können-    denn   die    Person    war    durch   das   Pronomen    gekennzeichnet;   ich 
wüsste  nicht,  dass  im  Englischen  Schwierigkeiten   für   das  Verständniss  dar- 
aus erwüchsen,    dass    die  Verbalform  in:    I   love,    we  loye,   you  love,   they 
love  vollkommen  gleich  ist.     Wenn   nun  an  je  croi  ich  glaube  ein  s  heran- 
tritt, so  geschieht  dies  keineswegs    aus  Bedürfniss  nach  einem  Personenzei- 
chen, noch  auch,  weil  man  in  je  crois,  je  fais,  je  connais  etc    das  s  als  sol- 
ches anzusehen  angefangen  hatte  und  nun  je  croi  nicht  ohne  dasselbe  lassen 
wollte-   denn    als    Personenzeichen   bat  es    schon    deshalb    keinen    grossen 
Zweck,   weil   schon    die  2.    Person   das  s    für   sich   in   Beschlag   genommen 
hatte,  sondern  der  Zusatz  tritt  aus  rein  äusserlichen  Gründen,   behaupte 
ich,  ein,  nämlich  um  dem  Ohre,   welches  in  so  sehr  vielen  iallen  die  Bin- 
düng  mit  dem  s  empfand  und  den  Hiatus  nicht  gern  horte,   zu  willfahren, 


Programmenschau.  35i 

und  um  dem  Auge,  welches  in  noch  mehr  Fällen  das  s  in  ersten  Personen 
und  Nominativen  des  Singulars  geschrieben  resp.  später  gedruckt  sah^  ge- 
recht zu  werden.  Wird  also  das  s  zu  je  croi  nicht  als  Personenzeichen  zu- 
gesetzt, so  braucht  auch  das  s  in  je  crois,  ich  wachse,  wegen  jenes  zuge- 
tretenen s  nicht  als  Personenzeichen  empfunden  zu  werden.  Und  wenn 
Hr.  L.  das  s  in  il  croi*t  als  classischen  Zeugen  für  die  Herkunft  des  s  in 
den  beiden  ersten  Personen  zulässt,  warum  gelten  ihm  dann  die  beiden  s  in 
nous  crolssons,  que  je  croisse,  die  jetzt  noch  da  sind,  nichts  zum  Beweise 
seiner  Abstammung;  noch  aullälliger  ist  die  Schiefe  der  Aulfassung  bei  Ver- 
ben wie  produire  ;  hier  steht  fast  in  allen  einfachen  Formen  noch  das  stamm- 
hafte s  (nois  produi.vons  ;  je  piodui.>;ais ;  je  produiiis;  que  je  produire;  que 
je  produi.sisse,  produi^ant)  und  trotzdem  soll  es  in  je  proiluis,  tu  produis 
nicht  mehr  als  stammhaft  angesehen  werden.  Warum  soll  man  es  denn 
nicht  als  stammhaf't  anerkennen,  da  doch  ein  so  deutlich  fühlbares  und  oft 
angewendetes  Geseiz:  s  tritt  nicht  mehr  an  den  Stamm,  wenn  derselbe 
schon  auf  s  endigt,  weil  eben  nie  ein  Dopp  elconson  ant  am  Ende 
eines  französischen  Wortes  steht  das  iSichtantreten  des  Personen- 
zeichens s  erklärt?  Ganz  ebenso  müsste  man  in  les  palais  das  s  für  ein 
Pluralzeichen  ausgeben  und  lehren:  Von  le  palais  heisst  der  Stamm  im 
Plural  palai. 

In  der  3.  Pers.  Plur.  lässt  Hr.  L.  die  jetzt  empfundenen  Personen- 
zeichen ent  sein,  in  dem  Subjonctif  aber  blos  nt,  da  dort  das  e  als  Modus- 
zeichen gefühlt  wird.  Dieser  Unterschied  erschwert  nachher  die  Lehrart 
und  ist  unwesentlich :  will  man  das  e  als  Moduszeichen  hier  nicht  fallen 
lassen,  so  kaun  man  ja  einfach  lehren:  das  Moduszeichen  e  verschmilzt  mit 
dem  e  der  Endung  zu  einem  (vergl.  I  like,  I  liked). 

Bei  den  Tempuszeiclien  sagt  Hr.  L.,  dass  die  ehemaligen  Suffixe  a,  i 
nicht  mehr  als  solche  zu  betrachten,  sondern  als  Perfectzeichen  anzusehen 
seien;  er  erwähnt  nicht,  dass  das  Passe  def.  die  reinen  Endungtn  mes,  tes 
und  niclit  ons,  ez  hat.  Den  Versuch  einer  Erklärung,  warum  das  Sprach- 
gefühl nicht  die  Gewalt  hatte,  nach  Analogie  der  anderen  Tempora  auch 
hier  ons,  ez  zu  setzen,  hätten  wir  gern  gesehen.  Indem  der  bei  VV^eitem 
grösste  Theil  aller  Verben  einen  consonantischen  Auslaut  in  dem  allen 
Formen  gemeinschaftlichen  Stamm  hatte,  wie  er  sich  im  Altfranzösischen 
herausbililete,  das  Passe  def.  aber  fast  überall  einen  Vocal,  vor  dem  es 
mes  resp.  tes  behielt,  ward  jener  Vocal  zunächst  natürlich  als  Kennzeichen 
des  Passe  def.,  zugleich  aber  alsBindevocal  empfunden,  der  also 
damit  auf  gleicher  Stufe  mit  dem  o  resp.  e  des  ons  und  ez  steht.  Hätte 
man  nun  aber  entweder  im  Present  parlames  (parlomes)  beibehalten  oder 
im  Piisse  def.  nous  parlans,  vous  parlaz  (woraus  parlez  werden  musste)  ge- 
setzt, so  wäre  wiederum  eine  zu  grosse  Gleichheit  des  Present  und  Passe 
def.  herausgekommen :  hierin  liegt  wohl  der  Grund  für  die  Beibehaltung  des 
mes  und  tes ;  ja  man  schob  sogar  ein  unetymologisches  s  in  die  Endungen 
ames,  imes,  umes  vor  m  ein,  das  nun  mit  dem  etymologischen  s  in  astes, 
istes,  astes  zugleich  als  Tempuszeichen  empfunden  wurde  und  der  Abscbwä- 
chung  des  mas  und  tes  zu  ns,  z  mit  widerstehen  half.  Demnach  sind  also 
diese  Buchstaben  mit  Träger  der  Kennzeichnung  des  Tempus  geworden. 
In  dem  rent  der  3.  Pers.  Plur.  war  das  r  von  Anfang  an  zu  starr  zur  Ver- 
änderung; es  musste  bleiben  und  es  blieb,  wie  auch  Hr.  L.  in  der  Schul- 
analyse antiiebt,  als  Kennzeichen  des  Passe  ddfini. 

Die  Verbalnoniina  hiit  Hr.  L.  in  diesem  Abschnitte  ganz  vergessen;  es 
wäre  doch  wichtig  gewesen  über  das  Part,  passe  Einiges  zu  sagen,  dass 
z.  B.  das  e  in  aime  früher  Stammverstärkung  war,  jetzt  aber  als  Endung 
empfunden  wird. 

Bei  Behandlung  der  Stammarten  endlich,  d.  i.  der  verschiedenen  For- 
men des  Verbalstamms  mit  den  Verstärkungen  in  den  einzelnen  Temporibus 
erhält  Hr.  L.    das  Resultat,    dass   als  Stamm   des  Verbs  für  alle  Formen, 


352  Programmenschau. 

bei  den  mit  a,  e,  i  abgeleiteten  Stämmen  für  das  moderne  Sprachgefühl 
nur  die  Wurzelsilbe  übrig  bleibt;  ausgenommen  sind  die  mit  i  ver- 
stärkten Stämme,  die  später  inchoativ  wurden,  bei  denen  iss  als  Stammver- 
stärkung noch  deutlich  empfunden  wird;  nur  im  Sing.  Pres.,  setzt  Hr.  L. 
hinzu  tritt  das  i  als  Stammverstärkung  für  sich  allein  deutlich  in's  Auge: 
hier  haben  wir  also  dieselbe  künstliche  Anschauung  des  s  In  je  punis ,  tu 
punis,  wie  die  des  s  in  je  produis,  tu  produis.  Bei  je  punis  ist  diese  An- 
.schauung  historisch  um  so  ungerechtfertigter,  als  grade  von  diesen  Pres. 
Sinf  -Formen  der  inchoative  Zusatz  begann,  und  man  lange  Zeit  im  Alt- 
französischen  die  Formen  der  1.  und  2.  Person  Plur.  und  andere  Formen, 
deren  Endungen  mit  hörbarem  Vocal  beginnen,  noch  ohne  iss  schrieb, 
während  der  Sing,  jenen  Zusatz  schon  hatte  (vergleiche  das  heutige  Italie- 
nisch: finisco,  ßnisci,  finisce;  liniamo,  finite,  finiscono).  Wozu  sich  solche 
unnöthigen  Ausnahmen  schaffen?  Für  die  anderen  mit  na,  ma,  ja,  ska  im 
Präsens  verstärkten  Stämme  ergiebt  sich,  dass  die  Reste  dieser  Sufiixe  jetzt 
als  Wurzeltheile  empfunden  werden  und  diese  so  verstärkte  Wurzel  hegt 
auch  allen  anderen  Formen  fast  aller  so  entstandenen  Verben  iin^eu- 


haben  das  Falsche  dieser  Ausnahmen  bei  den  meisten  dieser  Passes  d^tinis 
und  participes  passes  oben  nachzuweisen  gesucht.  „Ein  Unterschied,"  sagt 
am  Scbluss  dieses  Abschnittes  Hr.  L.,  „hat  sich  innerhalb  des  Stam- 
mes dadurch  gebildet,  dass  im  Passe  def.  sowie  im  Part,  passe  vor  einem 
betonten  u  das  oben  beschriebene  Schwinden  von  Consonanten  und  unbe- 
tonten Vocalen  des  Stammes  eingetreten.«  Ich  halte  den  Ausdruck  „Un- 
terschied innerhalb  des  Stammes«  nicht  für  zutreflend;  man  konnte 
nach  diesem  Ausdrucke  das,  was  einfach  Wirkung  eines  Lautgesetzes  für 
den  Uebergang  aus  dem  Lateinischen  in's  Französische  ist,  tur  eine  ich 
möchte  sagen  spontane  Aeusserung  des  Sprachgefühls  in  Bezug  auf  die  Con- 
jugation  halten.  Wie  kann  man  die  Schüler  damit  verwirren  wollen,  dass 
man  lehrt:  von  paraitre  heisst  der  Stamm  im  Pres.  Sing,  parai,  im  Pres. 
Plur.  paraiss,  im  Passe  def  par— ,  im  Intinitif  gar  parai—?  Warum  soll  er 
nicht  einfach  lernen:  der  Stamm  ist  durchweg  paraiss,  und  wo  er  anders 
erscheint,  da  ist  die  Aenderung  beim  Zusammentritt  von  paraiss  mit 
den  verschiedenen  Arten  von  Endungen  vor  sich  gegangen?  Freihch 
muss  man  dann  für  diesen  Zusammentritt  ganz  allgemeine  Lautgesetze  auf- 
stellen, die  unabhängig  von  numerus,  tempus  und  modus  sind,  ja  wo  mög- 
lich für  das  ganze  Gebiet  der  Iranzöslschen  Sprache  gelten. 

IV.     Analyse  für  den  Schulunterricht. 

Hr.  L.  sagt  im  Nachwort,  dass  diese  Analyse  keineswegs  dem  Unter- 
richte unmittelbar  zu  Grunde  gelegt  werden ,  sondern  nur  die  Auffassung 
normiren  soll,  mit  deren  Hülfe  dem  Schüler  die  Beherrschung  der  Verbal- 
formen zu  ermöglichen  ist.  Dieser  nachträglichen  Bemerkung  gegenüber 
schwebt  die  Kritik  einigermaassen  In  der  Luft,  da  gerade  die  Schwierigkeit 
d  a  anfängt,  wo  Hr.  L.  aufhört,  nämlich  bei  der  genauen  systematischen 
Verarbeituno-  der  gewonnenen  Resultate  für  den  Schulunterricht.  Mit  einem 
„Ich  denke  mir  die  Sache  ungefähr  so,«  „ich  würde  es  etwa  so  machen- 
ist bei  uns  nichts  gethan.  Die  Druckseiten,  die  für  diesen  letzten  Ab- 
schnitt verwendet  worden  sind,  hätten  hingereicht,  statt  des  Unfertigen 
etwas  Fertiges  zu  geben.  Aber  hätte  Hr.  L.  sich  der  Mühe  unterzogen, 
das  „wie  er  lehren  wolle«  genau  klar  zu  legen,  so  wäre  er,  denke  ich,  von 
selbst  darauf  gekommen,  das  „was  er  lehren  will«  wesenthch  zu  modib- 
ciren.    Einen,  allerdings  sehr  wichtigen,    Fingerzeig   über  das  „wie«  giebt 


Programmenschau.  353 

Hr.  L.  durch  die  Empfehlung  des  Werkes  von  Wolfart,  die  Formen  des 
französischen  Zeitworts.  2.  Aufl.  Magdeburg,  1845.  Wir  kommen  am 
Schluss  darauf  zu  sprechen;  betrachten  wir  zunächst  das,  was  Hr.  L.  aut 
Grund  der  vorhergehenden  Abschnitte  dem  Schüler  vortragen  will! 

§  1.    Namen  der  Kategorien  des  Verbs. 

§  2.  Personenzeichen:  s,  s,  t;  ons,  ez,  ent;  im  Pass.  def. :  mes,  tes, 
ent;  bei  vielen  Verben  steht  e  vor  s,  s,  t.  —  Dazu  Anmerkungen:  1.  Wann 
hat  die  1.  Person  Sing,  kein  s;  wann  tritt  x  statt  s  ein  (hier  sagt  Hr.  L. 
X  steht  statt  s  nach  au  und  eu  ausser  in  je  meus,  das  ist  genau  eins  meiner 
„Pseudolautgesetze;"*  ich  werde  die  Stellen,  wo  die  anderen  auftreten,  nicht 
weiter  hervorheben;  es  findet  sie  Jeder  beim  Vergleich  unserer  Arbeiten 
auf  den  ersten  Blick  heraus).  2.  Wann  hat  die  2.  Person  kein  s;  wann  tritt 
X  statt  s  ein  (Wiederholung  desselben  Lautgesetzes).  3.  Wann  hat  die  3. 
Person  kein  t.  Hierbei  lehrt  Hr.  L. :  es  tritt  kein  t  ein  nach  t,  d,  c,  das 
letzte  halte  ich  für  ein  „Pseudolautgesetz,"  das  nur  für  die  einzige  Form 
il  vainc  zurechtgemacht  ist;  in  anderen  Fällen  (l'aspect,  le  respect)  ist  es 
falsch.  4.,  5.,  6.  Die  Unregelmässigkeiten  bei  den  Personen  des  Pluriel 
(hier  kommt  der  besprochene  Punkt,  nt  oder  ent  im  Subjonctif,  zur  Geltung); 

§  3.  Moduszeichen:  e,  e,  e;  i,  i,  e;  Unregelmässigkeiten:  ilaimätetc. ; 
il  ait;  nous  ayons;  je  soi-s. 

§.  4.  I.  Tempora  des  Activs.  Present  kein  Tempuszeichen;  Imparfait 
ai,  ai,  ai;  i,  i,  ai.  Passö  def.  a,  i,  u  oder  nichts;  in  der  1.  und  2.  Person 
Pluriel  ä,  i,  ü  oder  " ;  in  der  3.  Pers.  Pluriel:  er,  ir,  ur,  — r.  Subj.  de 
rimp.  ass,  iss,  uss  oder  ss;  in  der  3.  Pers.  Sing,  ä,  i,  ü  oder   \ 

Die  Frage,  in  welchem  Verhältnisse  stehen  die  im  Passe  def.  auftreten- 
den Verschiedenheiten  zu  der  Infinitif-Endung,  beantwortet  Hr.  L.  durch 
einfache  Aufzählung:  die  Verben  auf  er  haben  a;  die  Verben  auf  ir  haben 
i,  ausgenommen  die  und  die;  die  Verben  auf  oir  haben  u  ausgenommen  die 
und  die ;  keinen  Vocal  haben  die  und  die  Verben.  Im  Ganzen  hat  der 
Schüler  nach  dieser  Aufstellung  34  Passö  definis,  die  aus  dem  Zusammen- 
hange ihrer  Verben  gerissen  sind,  als  Vocabeln  zu  lernen. 

n.  Tempora,  die  durch  Zusammensetzung  entstehen  oder  durch  Um- 
schreibung gebildet  werden. 

§  5.     Tempora  des  Passifs. 

§.  6.  Die  Verbalnomina:  Infinitif  er,  ir,  oir  oder  re.  (Soll  die  wich- 
tigste aller  Fragen  gar  nicht  beantwortet  werden,  wie  findet  man  aus 
dem  Infinitif  den  Stamm  resp.  welche  Unregelmässigkeiten  sind  dabei 
zu  merken?)  G^rondif  ant;  Part.  pres.  ant;  Part,  passe  e,  i,  u,  s  oder  t; 
wie  diese  Zeichen  mit  der  Infinitif endung  zusammenhängen,  beantwortet  Hr. 
L.  ebenfalls  durch  Aufzählung;  hier  giebt  es  im  Ganzen  47  Participes  ein- 
zeln zu  lernen. 

§  7.  Die  Stämme:  Der  Stamm  ist  nicht  in  allen  Verben  un- 
veränderlich; bei  sehr  vielen  Verben  treten  in  verschiedenen  Formen 
Verschiedenheiten  auf;  erstens  solche,  die  auf  allgemein  gültigen,  orthogra- 
phischen Kegeln  (das  nenne  ich  Lautgesetze)  beruhen ;  zweitens  andere 
(diese  anderen  Verschiedenheiten  sind  nun  —  so  lehre  ich  —  ebenfalls,  bis 
auf  ganz  wenige,  vereinzelte  Ausnahmen,  Folgen  von  Lautge- 
setzen, welche  für  das  Zusammentreten  von  Stamm  und  Endungen  ausspre- 
chen: 1.  wie  ändern  sich  die  Endungen,  2.  wie  ändert  sich  der  Stamm, 
3.  wann  treten  Buchstaben  zwischen  Stamm  und  Endung).  Hr.  L.  hat  die 
Abweichungen  in  den  Endbuchstaben  schon  in  §  2  durchgenommen;  hier 
bei  der  Verschiedenheit  des  Stammes  innerhalb  desselben  Verbs  betrachtet 
Hr.  L.  den  Stamm  in  3  verschiedenen  Situationen:  1.  gegenüber  den  En- 
dungen des  Present,  Imparfait,    Subj.   du  Present,   Imperatif,  Part,  present, 


*  Vergl.  mein  Franz.  Verbum.     3.  Aufl.,  Seite  10. 

Ä.rchiv  f.  n.  Sprachen.   XLVIII.  23 


354  Programmenschau. 

G^rondif,  Infinitif ;  2.  gegenüber  den  Endungen  des  Passö  d^fini  und  Subj. 
de  rimparfait ;  3.  gegenüber  der  Endung  des  Participe  passe.  £r  nennt 
den  Stamm  in  diesen  3  verschiedenen  Situationen:  1.,  2.,  3.  Form  des 
Stammes.  (Hier  müssen  wir  fragen,  warum  betrachtet  denn  Hr.  L.  nicht 
auch  den  Stamm  gegenüber  dem  Imparfait  besonders?  Einfach  desswegen, 
lautet  die  Antwort,  weil,  wenn  wir  den  Tempuscharacter  ai  (i)  mit  zur  En- 
dung rechnen,  der  Stamm  genau  derselbe  ist,  wie  beim  Present.  Nun  denn, 
der  Stamm  im  Part,  passe  ist  bei  etwa  6000  Verben  in  5997  genau  der- 
selbe, wie  im  Present  und  nur  in  2  Formen  f mögen  es  auch  9  sein,  wie 
Hr.  L.  annimmt)  von  dem  Present-Stamm  verschieden,  und  wir  sollen  wegen 
dieser  ganz  vereinzelten  Formen  einen  besonderen  Part.  passe-Stamm  an- 
nehmen? "Wir  sollen  die  didactisch  so  unendlich  vortheilhafte  Anschauung 
„Der  Stamm  ist  in  allen  Formen  derselbe"  aufgeben,  weil  in  ein 
einziges  Passe  def.  (je  mis)  aus  dem  Lateinischen  herübergekommen  ist, 
das  dieser  Auffassung  sich  nicht  schickt.  Wenn  alle  nach  der  deutschen 
starken  Conjugation  gebildeten  Imperfecte  (ich  frug)  mit  der  Zeit  in  Im- 
perfecte  nach  der  schwachen  Conjugation  (ich  fragte)  übergegangen  wären 
bis  auf  eins,  sagen  wir  auch  bis  auf  neun,  würde  Hr.  L.  von  vorn  herein 
eine  schwache  und  eine  starke  Conjugation  dem  Ausländer  lehren  wollen? 
Gewiss  nicht.  Und  wie  werden  andere  zusammengehörige  Erscheinungen 
durch  diese  Eintheilung  zerrissen!  Sind  nicht  il  Joint  und  Joint;  nous  joig- 
nons  und  je  joignis;  il  conduit,  conduit  und  conduire  ihren  Eigenthümlich- 
keiten  nach  zusammengehörige  Formen?) 

Die  erste  Form  des  Stammes  betrachtet  Hr.  L.  zunächst  genauer  1. 
nach  der  Betonung;  hierbei  kommt  der  Wechsel  von  e  muet  in  e;  von  6 
in  e,  die  Umlautung  (je  meurs  —  nous  mourons)  zur  Sprache.  2.  Abwei- 
chungen der  ersten  Form  des  Stammes  vor  der  Infinitif-Endung.  3.  Vor 
den  Endungen  des  Sing,  du  Present.  4.  Vor  denen  des  Plur.  present. 
5.  Vor  denen  des  Subj.  du  present.  C.  Vor  denen  des  Part,  present.  (Diese 
ganz  äusserliche  Eintheilung  bringt  natürlich  die  ermüdendsten  Wieder- 
holungen mit  sich.) 

Die  zweite  Form  des  Stammes  steht  entweder  vor  betonten  (ai,  is, 
US,  asse,  isse,  usse)  oder  unbetonten  Endungen  (s;  sse)  ;  —  besser  wäre 
wohl  gewesen  „vor  vocalischen  oder  consonantischen  Endungen,"  diese 
Theilung  kennt  Hr.  L.  aber  gar  nicht  zum  grossen  Schaden  der  Ueber- 
sichtlichkeit;  unter  den  betonten  tritt  hier  us  auf  und  findet  daher  das 
Stammverkürzungsgesetz  statt.  Ohne  Endungsvocal,  also  mit  unbetonten 
Endungen,  werden  die  schon  öfters  besprochenen  9  Passes  definis  gebildet 
(wir  erkennen  nur  je  vins,  je  tins,  je  pris  [für  je  prins]  an). 

Die  dritte  Form  des  Stammes  stimmt  mit  der  ersten  Form  des  Stam- 
mes vor  e,  i;  vor  u  tritt  Stammverkürzung  ein;  vor  t  „lautet  sie,  ausser  in 
fri-t  und  Irai-t,  stets  anders  als  in  der  unbetonten  ersten  Porm 
(natürlich,  und  wenn  es  nicht  so  wäre,  müsste  man  sich  sehr  wundern,  denn 
t  ist  eine  con  s  onantische  Endung,  die  Endungen  aber,  vor  denen  die 
erste  Form  des  Stammes  unbetont  ist,  sind  (ausg.  bei  ouvrir,  couvrir,  offrir, 
souffrir)  vocalische;  da  nun  alle  Verben  auf  t  im  Part,  passe,  mit  Aus- 
nahme der  obigen  4  und  faire  und  taire,  einen  Stamm  haben,  dessen  End- 
buchstaben sich  verschieden  vor  consonantischen  und  vocalischen  Endungen 
verhalten,  so  muss  das  Resultat  allerdings  das  von  H.  L.  angegebene  sein; 
aber  entschieden  einfacher  hätte  es  sich  dargestellt,  wenn  Hr.  L.  gesagt 
hätte:  die  3.  Eorm  des  Stammes  lautet  stets  ebenso  als  die  betonte 
erste  Form,  hierzu  einige  wenige  Ausnahmen,  wo  das  t  nachträglich 
weggefallen  (nui  etc.)  und  ausserdem  ouvert,  couvert,  offert,  souffert.  —  Von 
den  wenigen  Part,  passes  auf  s  bleiben  einige  übrig,  über  die  wir  schon 
gesprochen,  die  eine  Art  besonderen  Stamm  vom  Lateinischen  her  behalten 
haben  (vielleicht  nur  mis) ;  ihretwegen  aber  eine  besondere  Form  des  Stam- 


Programmenschau.  355 

mes   für   das   Participe  passe  im  Neufranzösischen  anzunehmen,     erscheint 
uns  vollkommen  unnöthig.) 

Schliesslich   werden    aller  und   etre  besonders    behandelt, ''■weil    sie  von 
verschiedenen  Grundformen  gebildet  werden. 

Soweit  das,  was  Hr.  L.  lehren  will.  Das  Buch  von  Wolfart  nun,  auf 
das  uns  Hr.  L  hmweist,  damit  wir  darnach  den  Stoff  gruppiren,  ist  ein 
höchst  origmelles  Werk.  Es  erschien  1833  zuerst,  und  ist  für  diese  Zeit, 
ja  noch  tur  die  heutige,  eine  gründlich  wissenschaftliche,  inhaltreiche  Arbeit 
zu  nennen,  aber  als  Lehrbuch  für  Schüler  ist  es  ein  wahres  pädagogisches 
Monstrum.  JedeRegel  ist  so  unpraktisch  und  schwer  als  nur  möglich  gefasst, 
kein  Paradigma  findet  sich  in  dem  Buche  durchconjugiert,  auf  den  schlimm^ 
sten  i^ehler  aber  weisen  wir  mit  seinen  eigenen  Worten  (Vorrede,  S  VIII) 
hin:  „Nach  memer  Ansicht  ist  mit  den  beiden  Futuris  zu  beginnen  und 
hat  man  dann  zum  Präsens  Indicativi  und  so  allmälig  von  einer  Tempus- 
und  Modusform  zur  anderen  überzugehen,  und  dürfen  in  den  in's  Deutsche 
zu  ubeisetzenden  Aufgaben  nur  solche  Verbalformen  vorkommen,  welche 
schon  ihre  Lrldärung  gefunden  haben."  Wohlverstanden!  Wolfart  redet 
hier  von  der  Gesa mmt-Conjugation,  von  allen  Verben  sollen  wir  erst 
das  l^utur  undConditionnel,  dann  von  allen  Verben  das  Present,  dann  von 
allen  Verben  das  Imparfait  u.  s.  f.  lernen:  ich  scherze  nicht.  Jeder  kann 
sich  davon  durch  einen  Blick  in  das  Wolfart'sche  Buch  überzeugen  der 
bchuler  lernt  wirklich  bei  ihm  neben  je  parlerai,  je  punirai  etc.  einzeln  als 
Ansnahmeieviendrai;  nach  2-3  Wochen  lernt  er  neben  je  parle,  je  punis, 
je  viens  als  Ausnahme  kennen;  endlich  nach  weiteren  4  Wochen  neben  ie 
parJai  je  punis,  je  vinsl  Und  diese  Gruppirung  empfiehlt  Herr  Lücking' 
Dem  habe  ich  nichts  hinzuzufügen.  °        ^  6 

Ich  schliesse  damit,  dass  ich  die  Lücking'sche  Arbeit  wegen  des  Gegen- 
standes und  weil  der  2.  und  3.  Abschnitt  entschiedene  Anerkennung  verdie- 
nen nochma  s  empfehle,  zugleich  aber  mein  Bedauern  ausspreche,  "dass  Hr 
Luckmg  m  der  Einleitung,  der  Schulanalyse  und  dem  Nachwort  etwas  we- 
niger gut  Ueberlegtes,  als  man  nach  der  Gründhchkeit  der  wissenschaft- 
lichen Analyse  erwarten  konnte,  uns  bietet. 

^^'^^^'^-  Dr.  Q.  Steinbart. 


Dr.  Bärwald.  Zur  Erinnerung  an  Lazarus  Geiger.  Programm 
der  israelitischen  Real-  und  Volksschule  zu  Frankfurt  a.  M 
Ostern  1871. 

2.  Eugene  Peschier,  Lazarus  Geiger.  Sein  Leben  und  Denken. 
Frankfurt  a.  M.     1871. 

Die  vorliegenden  Schriften  sind  dem  Andenken  eines  Mannes  gewid- 
met,  der  in  dem  Augenblicke  der  Wissenschaft  entrissen  worden  ift  da 
man  seine  Bedeutung  zu  ahnen  und  theilweise  zu  würdigen  begann.  Laza- 
rus Geiger  wurde  im  Jahre  1829  zu  Frankfurt  a.  M.  von  jüdischen  Eitern 
geboren.  Gegen  seinen  Willen  anfangs  zur  buchhändlerischen  Laufbahn  be- 
stimmt, aber  nach  kurzem  entscheidenden  Kampfe  der  Wissenschaft  ge- 
schenkt, zu  der  ihn  ein  unwiderstehlicher  Trieb  hinzog,  liess  er  sich  nach 
dreijährigen  Studien  in  Frankfurt  a.  M.  nieder.  Hier  verfloss  sein  äusseres 
Leben  riihig  und  ohne  Störungen.  Er  ertheilte  anfangs  wenigen  Auser- 
wahiten  Unterricht  und  ward  im  Jahre  1861  als  Lehrer  für  die  israelitische 

23* 


356  Programmenschau. 

Realschule  gewonnen,  an  der  er  bis  zu  seinem  Tode  —  29.  Aug.  1870  — 
gewirkt  hat.  Erst  zwei  Jahre  vor  seinem  Hinscheiden  veröffentlichte  er  den 
ersten  Band  seines  Hauptwerkes  „Ursprung  und  Entwicklung  der  mensch- 
lichen Sprache  und  Vernunft,"  (Stuttgart  bei  Cotta),  dem  schon  im  folgenden 
Jahre  ein  in  sich  abgeschlossenes,  die  Aufgabe  und  Endziele  seines  Stre- 
bens  entwickelndes  Buch  unter  dem  Titel  „Ursprung  der  Sprache"  folgte.  — 
Werke,  betreffs  deren  ein  in  diesem  Falle  gewiss  competenter  Forscher, 
H.  Steinthal,  äussert,  dass  ihr  Verfasser  ihm  als  der  gelehrteste  Sprachfor- 
scher neuerer  Zeit,  als  der  gewaltigste  und  selbstständigste  Dialektiker  seit 
AVilhelm  von  Humboldt  erscheine. 

Dieses  Urtheil  zu  begründen  und  zugleich  in  die  Geistesarbeit  des  tiefen 
Denkers  einzuführen,  hat  der  Verfasser  der  zweitgenannten  der  obigen  Schrif- 
ten unternommen.  Er  zeigt  uns,  worin  das  Bahnbrechende  und  Schöpferische 
Geigers  liegt.  Geiger  hat  sich  die  bisher  von  den  bedeutendsten  Sprach- 
forschern als  für  jetzt  unlösbar  betrachtete  Aufgabe  gestellt:  „die,  eine  Ge- 
schichte der  Begriffe,  der  Bedeutungen  zu  schreiben  und  damit  zugleich 
eine  Lehre  von  der  Entwicklung  der  Bedeutungen,  die  Lehre  von  dem  in 
der  Sprache,  welche  ausserdem  nur  Laut  ist,  auftretenden  Denken  und 
Empfinden"  zu  geben.  Peschier  zeigt  uns  nun  zunächst,  warum  Geiger 
hoffen  konnte,  diese  Arbeit  zu  lösen  und  warum  er  sie  gelöst  hat,  so  weit 
es  ihm  sein  kurzes  Leben  erlaubte.  An  einem  passend  gewählten  und  an- 
schaulich dargelegten  Beispiel  macht  er  sodann  klar,  wie  Geiger  diese  Ge- 
setze entdeckte  und  der  Anwendung  derselben  eine  lebensvolle  Fülle  zu  ge- 
ben wusste,  zugleich  weiht  er  uns  in  die  in  diesen  Forschungen  hervortre- 
tenden Hauptideen  ein,  unter  welchen  die  Ableitung  der  Vernunft  aus  der 
Sprache,  das  völlige  Auseinanderhalten  von  Laut  und  Begriff,  die  Einfüh- 
rung des  Zufalls  (allerdings  in  tieferer,  metaphysischer  Begründung)  viel- 
leicht die  originellsten  sein  dürfen.  Die  kleine  mit  Liebe  und  Verständniss 
geschriebene  Brochüre,  an  der  auch  eine  klare  und  edle  Form  zu  rühmen  ist, 
wird  ihren  Zweck  gewiss  erfüllen. 

Während  uns  Peschier  aus  dem  Leben  Gelgers  nur  einige  für  die 
Selbstständigkeit  des  Denkers  und  die  Liebenswürdigkeit  des  Menschen 
charakteristische  Züge  mitgetheilt,  giebt  uns  die  erstgenannte  Schrift  ein 
sehr  eingehendes  und  mit  ebenso  viel  Wärme  entworfenes  Lebensbild.  Dem 
Director  der  Schule,  an  welcher  Geiger  wirkte,  lag  es  natürlich  besonders 
nahe,  ihn  als  lernend  und  lehrend  darzustellen.  Die  Schrift  ist  reich  an 
Aufschlüssen  über  dies  merkwürdige  Geistesringen.  Nicht  ohne  Wehmuth 
wird  man  von  dem  liebenswerthen  Bilde  scheiden,  das  sie  uns  entwirft. 


A.  Zauritz.  lieber  Voltaires  Charles  XII.  Programm  der 
königl.  Eealscliule,  Vorschule  mid  EHsabethschule  zu 
Berlin.     Berlin  1870. 

Dr.  Ludwig  Bossler,  Voltaires  Glaubwürdigkeit  in  seiner  Hi- 
stoire  de  Charles  XII.  Programm  des  fürstlichen  Gym- 
nasiums zu  Gera.     Gera  1870. 

Verschiedentlich  ist  schon  seit  langer  Zeit  der  Wunsch  geäussert  worden, 
es  möchten  einmal  die  historischen  Schriften  Voltaires  und  insbesondere  die 


Programmenschau.  357 

bedeutendste  unter  denselben,  die  Histoire  de  Charles  XII.  einer  eingehen- 
den Untersuchung  in  Bezug  auf  ihre  Glaubwürdigkeit  unterzogen  werden. 
Denn  kaum  sind  über  ein  historisches  Werk  der  modernen  Literatur  so 
verschiedenartige,  ja  diametral  entgegengesetzte  Urtheile  ausgesprochen 
worden,  wie  iiber  dieses,  und  wenn  Voltaires  Buch  von  einigen  Literaturhi- 
storikern als  ein  Muster  historischer  Darstellung  gerühmt  wird,  so  nennt  ihn 
der  Schwede  Nordberg,  der  nach  ihm  die  Geschichte  Karls  XII.  bearbeitet 
hat ,  gradezu  einen  Erzlügner  und  bezeichnet  seine  Schrift  als  ,,un  ouvrage 
bien  mal  dirige  et  bien  mal  ecrit." 

Es  ist  unter  diesen  Umständen  an  sich  gewiss  dankenswerth,  wenn  die 
Verfasser  der  beiden  obengenannten  Programme  sich  der  Aufgabe  unterzo- 
gen haben,  Voltaires  Biographie  einmal  genau  zu  prüfen.  Obgleich  beide 
ganz  unabhängig  von  einander  gearbeitet  haben,  gehen  sie  doch  genau  den- 
selben Weg:  sowohl  Zauritz  wie  Bossler  beschränken  sich  auf  eine  Ver- 
gleichung  der  Voltairischen  Darstellung  mit  denen  zweier  neueren  schwedi- 
schen Historiker,  der  des  schwedischen  Majors  Knut  Lundblad  und  der  des 
Andreas  Frynell.  Diese  schwedischen  Schriftsteller  haben  beide  archiva- 
lische  Quellen  vor  Augen  gehabt,  ein  Urtheil  über  die  Art  und  Weise,  wie 
sie  diese  Quellen  benutzt  haben,  können  aber  Zauritz  und  Bossler  um  so 
weniger  gehabt  haben,  als  beide  Werke  von  ihnen  nur  in  deutscher  Ueber- 
setzung  benutzt  sind.  Schon  danach  wird  es  wohl  bezweifelt  werden  können, 
üb  eine  Vergleichung  Voltaires  mit  ihnen  ein  sicheres  Urtheil  über  die 
Glaubwürdigkeit  des  Franzosen  ermöglichen  kann.  Auch  Voltaire  hat  un- 
leugbar handschriftliche  Quellen  verschiedenster  Art  benutzt ;  dazu  beruft 
er  sich  auf  die  Zeugnisse  bedeutender  und  glaubwürdiger  Männer,  welche 
Zeitgenossen  Karls  XII.  waren  und  zum  Theil  in  den  intimsten  persönlichen 
Beziehungen  zu  ihm  oder  seinen  Gegnern  standen.  Wenn  also  die  Erzäh- 
lung Voltaires  in  einzelnen  Punkten  von  denen  der  schwedischen  Biographen 
abweicht,  ist  man  —  wenigstens  nicht  ohne  weiteres  —  berechtigt  (wozu 
Hr.  Bossler  meist  geneigt  ist),  letzteren  den  Vorzug  zu  geben.  Wir  werden 
demgemäss  beide  Programme  wohl  als  immerhin  schätzbare  Vorarbeiten  für 
eine  Kritik  der  Voltaireschen  Schrift  betrachten  können :  definitiv  erledigt 
wird  die  Frage  aber  doch  nur  dann  werden  können ,  wenn  einmal  eine  un- 
mittelbare Vergleichung  der  Angaben  Voltaires  mit  den  archivalischen 
Quellen  nicht  bloss  schwedischen,  sondern  auch  polnischen  und  russischen 
Ursprunges  wird  vorgenommen  werden. 

Den  beiden  vorliegenden  Untersuchungen  im  Einzelnen  zu  folgen,  würde 
den  Raum  dieser  Blätter  all  zu  sehr  in  Anspruch  nehmen,  auch  unter  den 
obwaltenden  Verhältnissen  kaum  erspriesslich  sein.  Begnügen  wir  uns  da- 
mit, das  Resultat  ihrer  Vergleichung  anzugeben.  Zauritz  sagt  (S.  51): 
eine  genaue  Vergleichung  Voltaire's,  Lundblad's  und  Frynell's  ergiebt,  dass 
in  den  Ereignissen  von  1700—1709  keine  einzige  Thatsache  von  Bedeutung 
von  Voltaire  ausgelassen  oder  falsch  dargestellt  worden  ist ;  alle  Abwei- 
chungen beschränken  sich  auf  „Daten,  Zahlen  von  Truppen  und  dergl." 
Den  letzteren  Abweichungen  scheint  Hr.  Zauritz  dabei  eine  geringere  Be- 
deutung zuzuschreiben ,  als  sie  doch  in  der  That  in  historischen  Werken 
beanspruchen  können,  und  jedenfalls  würde  Referent  vorläufig  noch  anste- 
hen, Voltaire's  Werk  mit  Hrn.  Zauritz  als  „in  allen  diesen  erzählenden  Par- 
tien unübertrefflich"  zu  bezeichnen. 

Bei  Bossler  vermissen  wir  leider  ein  zusammenfassendes  Resume  über 
die  Resultate  seiner  Vergleichung  ganz:  er  beschränkt  sich  darauf,  die  ein- 
zelnen Discrepanzen  zwischen  dem  französischen  und  den  schwedischen 
Biographen  lose  aneinanderzureihen  ,  woran  er  zum  Schluss  eine  Untersu- 
chung über  den  mysteriösen  Tod  des  Schwedenkönigs  knüpft.  Dass  er  bei 
diesen  Discrepanzen  gewöhnlich  Voltaire's  Angaben  dann  für  irrig  hält, 
wenn  sie  von  denen  Frynell's  abweichen,   ist  schon  erwähnt  worden.     Eine 


358  Programmenscliau. 

Zusammenfassung";  seiner  Resultate  werden  wir  wohl  in  der  ausführlichen 
Behandlung  desselben  Gegenstandes  zu  gewärtigen  haben,  welche  er  S.  7 
in  Aussicht  stellt. 

Frankfurt  a.  M.  Harry  Bresslau. 


Carl  Christian  Redlich,  Dr.,  ord.  Lehrer  an  der  Realschule  des 
Hamburgischen  Johanneum:  Die  poetischen  Beiträge  zum 
„Wandsbecker  Bothen"  gesammelt  und  ihren  Ver- 
fassern zugewiesen.  Programm  der  Hamburger  Realschule. 
1871. 

Man  findet  noch  heutzutage  häuSg  selbst  bei  literarisch  nicht  ganz 
ungebildeten  Leuten  die  Meinung,  der  „Wandsbecker  Bote"  sei  eigent- 
lich nichts,anderes,  als  der  bekannte  Privatgelehrte  Matthias  Claudius,  der, 
weil  er  mit  kurzer  Unterbrechung  von  1770 — 1815  in  Wandsbeck  gelebt, 
sich  diesen  Schriftstellernamen  beigelegt  habe.  So  ist's  aber  nun  keines- 
wegs der  Fall.  Der  „Wandsbecker  ßothe"  war  ursprünglich  eine  voll- 
ständige Staats-  und  gelehrte  Zeitung,  welche  in  den  Jahren  1771 — 1775 
wöchentlich  einmal  in  Wandsbeck  erschien,  und  gleich  wie  der  Hamb.  Corre- 
spondent  und  andere  Zeitungen  der  Art  in  ihrem  ersten  Theil  die  politi- 
schen Tagesbegebenheiten  berichtete  und  besprach,  in  dem  literarischen 
Theil  Gedichte,  Berichte  und  ßecensionen  brachte.  Aber  es  hatte  mit  die- 
ser Zeitung  doch  eine  ganz  besondere  Bewandtniss.  Sie  sollte  als  sittlich 
ernstes  und  gediegenes  Blatt  an  die  Stelle  von  scandalsüchtigen  Schmutz- 
blättern treten,  die  ein  in  Wandsbeck  stattfindendes  altes  Privilegium  be- 
nutzten, um  „aus  Lappadria"  d.  h.  aus  Hamburg  über  Hamburgische  Ver- 
hältnisse und  Personen  allerlei  Klatsch  an  den  Mann  zu  bringen.  Der  be- 
kannte Literat  Bode  hatte  endlich  vom  Grafen  Schimmelmann  dies  Privile- 
gium erworben  und  die  Redaction  der  neu  zu  gründenden  Zeitung  an  Clau- 
dius übertragen.  Die  Geschichte,  die  Bedeutung,  die  Entwickelung  dieser 
durch  ihren  eigenthümtlichen  Inhalt  höchst  merkwürdigen  Zeitung,  die  es  auf 
5  Jahrgänge  gebracht,  von  der  aber  kaum  mehr  als  ein  vollständiges  Exem- 
plar sich  erhalten  hat,  ist  der  eigentliche  Gegenstand  der  Programmenschrift 
des  Herrn  Dr.  Redlich,  welcher  uns  in  derselben  ein  höchst  interessantes 
Singulum  aus  der  Journalistik  der  siebziger  Jahre  geschildert  hat.  Er  hat 
aber  hier  zunächst  unsere  Aufmerksamkeit  auf  die  poetischen  Beiträge 
gerichtet;  es  finden  sich  deren  von  Lessing,  Klopstock,  Stolberg,  Goethe, 
Voss  etc.,  mit  denen  Claudius  in  freundschaftlicher  Beziehung  stand ;  aber 
auch  von  einer  grossen  Menge  unbekannter,  ungenannter,  häufig  unter  ab- 
sichtlich irre  führenden  Chiffern  versteckter  Verfasser.  Dr.  Redlich  hat 
nun  sämmtliche  in  dem  „Wandsbecker  Bothen"  sich  findenden  Ge- 
dichte, so  weit  sie  nicht  in  den  bekannten  Sammlungen  der  Werke  ihrer 
Verfasser  späterhin  wieder  mitgetheilt  und  somit  leicht  zu  finden  sind,  hier 
von  neuem  abdrucken  lassen.  Von  jedem  dieser  Gerüchte  wird  der  Verfasser 
nachgewiesen,  und  dieser  Nachweis  durch  literarische  Notizen  und  Citate  be- 
legt, in  welchen  der  Verfasser  eine  ausgebreitete  Kenntniss  der  literarischen 
Verhältnisse  jener  Zeit  und  ungemeinen  Scharfsinn  bethätigt.  In  gedruck- 
ten und  ungedruckten  Quellen  aus  den  70ger— 80ger  Jahren  zeigt  er  sich 
wie  wohl  selten  einer  bewandert.  Natürlich  giebt  es  auch  hier  einige  Ge- 
dichte, bei  denen  er  sich  hinsichtlich  des  Verfassers  mit  einem  non  liquet 
oder  einem  Fragezeichen  begnügt.  Irrige  Angaben  anderer  Literaturhisto- 
riker hat  er  nochmals  nachweislich  berichtigt.  Allerdings  sind  die  wenigsten 
der  hier  wiederabgedruckten  Gedichte  um  ihres  poetischen  Werthes  willen 
dieser  Ehre  würdig  zu  erklären;    aber  als  literarhistorische  Documente  sind 


Programmenschau.  359 

sie  zum  Theil  höchst  interessant,  und  manches  Blümlein  darunter  bringt 
auch  jetzt  noch  mit  Recht  dem  von  Redlich  aufgespürten  Namen  ihres 
vergessenen  Verfassers  die  verdiente  Ehre.  Lessing  nannte  einmal  in  einem 
Briefe  an  Ebert  vom  12.  Jan.  17  73  bei  der  Zusendung  des  ersten  Heftes 
seiner  Beiträge  aus  der  Wolfenbüttler  Bibliothek,  diese  seine  Schrift,  die 
ja  ein  ähnliches  literarisches  Unternehmen  war,  einen  Mistwagen  voll  Moos 
und  Schwämmen;  Ebert  aber  tröstet  ihn  darüber  wegen  der  Wichtigkeit 
dieser  Schwämme,  die  ja  doch  nicht  giftig  wären,  für  die  Beurtheilung  des 
Bodens,  auf  dem  die  Eiche  gewachsen,  von  der  sie  gesammelt  sind,  und 
wegen  der  interessanten  Vorrede,  mit  welcher  Lessing  seine  Beiträge  ein- 
geleitet. Beiderseitige  Rechtfertigung  Ebert's  möge  auch  Herrn  Dr.  Red- 
lich zu  gute  kommen,  dem  wir  allernächstens  eine  correcte  kritische  und 
durch  eine  Nachlese  zahlreicher  neuaufgefundener  Paralipomena  vermehrte 
Ausgabe  des  alten  Claudius  werden  zu  verdanken  haben. 

R. 


Miscellen, 


Ueber   die   neue   ßehandlungsweise  des   französischen  Verburns 

und  die  sich  ihr  entgegenstellenden  Schwierigkeiten, 

von  Dr.  Q.  Steinbart  in  Berlin. 

In  einer  zu  Ostern  als  Programm  von  Dr.  Beck  veröffentlichten  Ab- 
handlung: „Die  Schule  in  Wechselwirkung  mit  dem  Leben"  heisst  es  bei 
Besprechung  neuer  Unterrichtsmethoden:  „Eine  neue  Betrachtungs-  und 
Behandlungsweise  dringt  auf  dem  Gebiete  der  Sprache  in  Folge  der  Sprach- 
vergleichung .durch.  Im  Griechischen  wird  sie  bald  die  herrschende  sein ; 
mehr  Kampf  und  Mühe  wird  sie  im  Lateinischen  und  Französischen  kosten. 
Mag  man  sich  heute  noch  gegen  solche  Neuerungen  sträuben,  sie  verwegen 
und  der  Schule  verderblich  nennen,  das  wird  nur  so  lange  dauern,  bis  ein 
Lehrergeschlecht  auf  den  Universitäten  herangebildet  ist,  dem  diese  neue 
Weise  der  Sprachbehandlung  auf  den  Universitäten  geläufig  geworden  ist 
und  das  nun  auch  neue  und  fassliche  Regeln  für  die  Jugend  findet,  die 
neuen  Spraehgesetze  mundrecht  macht."  Dieser  Ausspruch  von  Dr.  Beck, 
den  ich  als  vollkommen  richtig  anerkenne,  soll  den  Ausgangspunkt  für  die 
vorliegende  Besprechung  bilden.  So  weit  mir  bekannt,  ist  erst  für  einen 
kleinen  Theil  der  französischen  Grammatik  der  Versuch  gemacht  worden, 
die  Resultate  der  historischen  Grammatik  für  die  Scbulgrammatik  zu  ver- 
werthen,  nämlich  für  die  Lehre  vom  Verbum;  hier  lag  auch  der  Versuch 
am  nächsten.  Noch  kostet  es  Kampf  und  Mühe,  um  mit  der  neuen  Be- 
handlungsweise durchzudringen,  die  Schwierigkeiten  liegen  zum  Theil  aus- 
serhalb des  Gegenstandes,  zum  Theil  in  ihm  selbst.  Ich  werde  mich  be- 
mühen, jene  ausserhalb  des  Gegenstandes  liegenden  Schwierigkeiten  als 
solche  zu  erweisen,  die  wir  in  nicht  zu  langer  Zeit  hoffen  können,  für 
immer  zu  überwinden,  jene  im  Gegenstand  selbst  liegenden  Schwierigkeiten 
aber  auf  ihr  richtiges  Maass  zu  beschränken,  wodurch  sie  dann,  denke  ich, 
als  relativ  gering  sich  herausstellen  werden. 

Die  neue  ßehandlungsweise  charakterisirt  sich  dadurch,  dass  sie  im  Ge- 
gensatz zu  den  bestehenden  Lehrarten,  sich  der  historischen  Grammatik  mög- 
lichst nahe  anschliessen  will;  „möglichst  nahe,"  d.  h.  so  nahe,  als  nicht 
didactische  Rücksichten  es  verbieten.  Ueber  den  Grad  der  Annäherung 
herrscht  unter  den  Anhängern  der  neuen  Lehrart  noch  Meinungsverschieden- 
heit, die  jedoch  —  wie  wir  weiter  sehen  werden  —  nicht  so  bedeutend  ist, 
dass  eine  Vereinigung  unmöglich  erschiene.  An  und  für  sich  kann  dem 
Gegenstande  eine  zu  grosse  Wichtigkeit  nicht  beigelegt  werden.    Das  Ver- 


Miscellen.  361 

burn  ist  schliesslich  auch  auf  die  alte  Weise  ganz  gut  zu  erlernen ;  gewis- 
senhafte Treue  des  Lehrers  bleibt  immerhin  die  Hauptsache.  Aber  Jeder 
•wird  mir  zugeben,  dass  von  zwei  Methoden,  die  gleich  schnell  und  sicher 
zum  Ziele  führen,  die  die  bessere  ist,  bei  der  1.,  der  Schüler  geistig  mehr 
geübt  und  2.,  denselben  später  gut  zu  verwendende  Nebenkenntnisse  mit- 
gegeben werden.  Wenn  ich,  um  nur  ein  Beispiel  anzuführen,  die  Regeln 
über  den  Subjonctif  durchzunehmen  habe,  so  kann  ich  dabei  Plötz  folgen, 
indem  ich  ganz  mechanisch  auswendiglernen  lasse:  nach  den  Conjunctionen 
quoique,  bienque  etc.,  nach  den  Verben  des  Wollens  und  Wünschens  u.  s.  f. 
steht  der  Subjonctif;  hierzu  zahlreiche  passende  Beispiele,  so  wird  der 
Schüler  im  Allgemeinen  über  die  Anwendung  des  Subjonctif  Bescheid 
wissen.  Oder  ich  verwende  zunächst  2—3  Stunden  darauf,  um  mit  ihm 
noch  einmal  die  Lehre  vom  zusammengesetzten  Satz  durchzunehmen,  nach- 
her behandle  ich  den  Subjonctif  nach  seinem  Eintreten  im  Hauptsatze  und 
in  den  verschiedenen  Arten  von  Nebensätzen.  Dieselben  Beispiele '  zur 
üebung  genügen:  so  hat  der  Schüler,  falls  er  nach  derselben  Zeit  und 
in  gleicher  Weise  über  den  Subjonctif  Bescheid  weiss,  was  ich  nach 
meiner  Erfahrung  annehme,  nach  der  zweiten  Methode  1.  sich  geistig  mehr 
geübt  und  2.  eine  genauere  Kenntniss  vom  zusammengesetzten  Satz  gewonnen, 
als  er  früher  haben  konnte.  Während  aber  in  diesem  Falle  die  Probe,  ob 
der  Schüler  nun  wirklich  ebenso  gut  nach  der  einen  Lehrart,  als  nach  der 
anderen  die  Lehre  vom  Subjonctif  sich  angeeignet  habe,  nicht  ganz  leicht 
ist,  ist  sie  ohne  jede  Schwierigkeit  beim  Verbum:  Hier  kann  mit  der 
grössten  Einfachheit  sich  Jeder  überzeugen ,  wo  bessere  Resultate  erzielt 
worden  sind.  Für  den  Lehrer,  welcher  —  wie  hier  in  Berlin  —  Gelegen- 
heit hat,  bei  solchen,  die  nach  unserer  Art  unterrichten,  zu  hospitiren,  ist 
die  Sache  ausserordentlich  bequem:  Wir  sagen  ihm,  bitte,  komm  und  über- 
zeuge Dich,  prüfe  selbst!  Jene,  die  nicht  solche  Gelegenheit  haben,  müssen 
es  entweder  schon  selbst  mit  der  neuen  Lehrart  versuchen  oder  sich  auf 
unser  Wort  verlassen,  dass  wir  damit  zu  ebenso  günstigen  Resultaten,  wenn 
nicht  besseren,  als  bei  der  alten,  gelangen. 

Die  Besprechung  der  Schwierigkeiten  nun ,  welche  ausserhalb  des  Ge- 
genstandes liegen,  ist  keine  angenehme.  Wie  jede  Neuerung,  hat  auch  un- 
sere Lehrart  mit  dem  trivialen  Einwände  zu  kämpfen:  Es  ist  ja  bisher  ganz 
gut  mit  der  alten  gegangen,  meine  Schüler  haben  das  Verbum  immer  gut 
gewusst ,  wozu  brauche  ich  also  eine  andere  Lehrart.  Andere  wieder  sind 
leider  zu  bequem,  sich  aus  ihrem  alten  Gleise  bringen  zu  lassen,  nicht  selten 
fehlen  solchen  auch  wohl  die  Vorkenntnisse  zum  Verständniss  der  neuen 
Lehrart,  denn  wer  nie  den  Diez  oder  auch  nur  den  Mätzner  in  der  Hand 
gehabt,  kann  freilich  nur  mit  grosser  Schwierigkeit  nach  ihr  unterrichten. 
Diese  beiden  Kategorien  von  Gegnern  dürfen  wir  nicht  hoffen  zu  über- 
zeugen, sie  müssen  schliesslich  mit  dem  Strome  mitgerissen  werden.  Nicht 
wenige  würden  mit  uns  gehen  ,  wenn  sich  die  neue  Lehrart  vom  Verbum 
ihnen  als  ein  Theil  einer  vollständigen  neuen  Grammatik  anböte ;  es  sei 
misslich,  meinen  sie,  neben  einer  eingeführten  Grammatik,  die  das  Varbum 
anders  lehre ,  wie  wir  zu  lehren.  Das  ist  ein  einigermaassen  stichhaltiger 
Einwand.  Wir  antworten  auf  ihn  :  Das  Verbum  kann  ganz  gut  neben  einer 
anderen  gewöhnlichen  Grammatik  durchgenommen  werden ,  wir  lehren  es 
neben  der  Plötz'schen  und  benutzen  nach  vollendeter  Durchnahme  die 
Plötz'schen  Sätze  zur  Uebung.  Die  Ueberzeugung  für  die  Brauchbarkeit 
dieses  Verfahrens  muss  durch  den  Versuch  gewonnen  werden,  was  nützt 
hier  vieles  Reden!  Unsere  Hauptgegner  sind  aber  die,  welche  behaupten, 
der  Schüler  werde  durch  uns  von  der  einfachen ,  nüchternen  Gedächtniss- 
übung fortgezogen  zu  Verstandesoperationen,  die  über  seinen  Standpunkt 
hinausgingen.  Bei  Begegnung  dieses  Vorwurfes  kommt  es  ,allerdings  auf 
den  Grad  der  Annäherung  an  die  historische  Grammatik  an.  Dr.  Bratu- 
scheck  in  seineu  Conjugationsgesetzen   (Programm   der  Friedrich- Werder- 


362  Miscellen. 

sehen  Gewerbeschule  Ostern  1870)  will  ganz  engen  Anschluss;  er  mag  für 
Schulen ,  in  denen  dem  Französischen  8  Stunden  wöchentlich  zugewiesen 
sind  und  wo  dem  Französischen  eine  viel  grössere  Aufgabe  in  Bezug  auf 
die  formale  Ausbildung  des  Schülers  obhegt,  Recht  haben.  Dr.  Lücking 
(Programm  der  Louisenstädtischen  Gewerberbeschule  Ostern  1871)  macht 
nach  der  einen  Seite  dem  Standpunkte  des  Schülers  grosse  Concessionen, 
nach  der  anderen  Seite  hin,  bei  Erklärung  einzelner  unregelmässiger  Per- 
fectformen,  geht  er  noch  weiter  als  Dr.  Bratuscheck  und  bringt  in  die 
Schulanalj'se  den  Ballast  von  besonderen  Perfectstämmen  aus  dem  Lateini- 
schen mit.  Ich  für  meine  Person,  bleibe  dabei,  dass  eine  so  genaue  Ana- 
lyse, wie  Dr.  Bratuscheck  sie  giebt,  erst  später  zur  Eepetition  durchge- 
nommen werden  kann,  und  begnüge  mich  damit,  derselben  dadurch  vorzu- 
arbeiten, dass  ich  hervorhebe,  was  allen  Verben  in  ihrer  Conjugations- 
art  mit  einigen  bestimmten  Differenzen  gleichmässig  eigen  ist,  sodann 
diese  bestimmten  Differenzen  als  Grandlage  der  Conjugationsunterschiede 
annehme  und  durch  Einführung  einiger  Lautveränderungsgesetze  die  Zahl 
der  sogenannten  unregelmässigen  Verben  möglichst  beschränke.  Dass  dieser 
empirische  Weg  mit  den  wissenschaftlichen  Resultaten  übereinstimmt,  habe 
ich  im  §.  18  meines  „französ.  Verbum"  (dritte  Auflage,  Berlin  1869,  bei 
Löwenstein)  nachgewiesen.  Die  Verstandesoperationen,  die  ich  dem  Schüler 
zumuthe,  sind  wahrlich  nicht  zu  schwierig;  am  meisten  hat  man  wohl  An- 
stoss  genommen  an  dem  Lautgesetz:  d  tritt  zwischen  n  und  r  und  1  und  r; 
das  Eintreten  des  d  zwischen  n  und  r  ist  zur  Erklärung  der  Conjugation 
von  craindre  und  der  vielen  anderen  Verben,  die  ebenso  conjugirt  werden, 
unerlässlich ;  das  Eintreten  des  d  zwischen  1  und  r  kommt  ausser  im  Infini« 
tif  moudre  nur  bei  drei  Formen  (je  voudrai,  je  vaudrai,  il  faudra)  zur  Gel- 
tung ;  wem  dieses  Gesetz  zu  schwer  erscheint,  der  möge  es  streichen  und 
die  drei  Formen  extra  lernen  lassen;  hierüber  zu  streiten,  wäre  nicht  der 
Mühe  werth.  Einige  Schwierigkeiten  wird  man  immerhin  mit  in  den  Kauf 
nehmen  müssen;  dass  sie  nicht  zu  gross  sind,  dafür  kann  natürlich  erst  der 
praktische  Versuch  den  Beweis  geben;  ich  kann  versichern,  dass  ich  — 
wenn  irgend  Jemand  —  es  mit  unbegabten  Schülern  zu  thun  gehabt  habe 
und  noch  habe,  und  dass  ich  nicht  gefunden  habe,  dass  wegen  der  Lautge- 
setze auch  nur  einer  zurückgeblieben  wäre.  Gedächtnissübung  hätten  wir, 
dächte  ich,  nebenher  auf  der  Realschule  noch  genug,  so  dass  es  eine  sehr 
dankenswerthe  Aufgabe  ist,  in  dem  einen  Hauptgegenstande  möglichst  oft 
an  den  Verstand  des  Schülers  zu  appelliren.  Es  laufen  so  viele  gleich  wich- 
tige Gegenstände  neben  einander  her,  alle  mit  so  knapper  Stundenzahl  be- 
messen, dass  wenig  anderes  übrig  bleibt,  als  möglichst  viel  auswendig  lernen 
zu  lassen,  um  das  grosse  Pensum  zu  leisten.  —  Alle  die  bis  jetzt  aufge- 
zählten Schwierigkeiten,  hoffe  ich,  werden  wir  in  nicht  zu  kurzer  Zeit 
schwinden  sehen,  da  der  Widerstand  solcher,  die  nach  der  neuen  Lehrart 
nicht  unterrichten  können,  mit  ihnen  selbst  bald  aufhören  wird  zu  wirken, 
und  da  wir  den  Widerstand  derer,  die  sie  nur  nicht  benutzen  wollen,  da- 
durch zu  bewältigen  suchen  werden,  dass  wir  immer  und  immer  wieder  mit 
der  Bitte  anklopfen  werden:  „Versucht  es  doch  einmal  gründlich!"  Die  un- 
serem Stande  eigene  Gewissenhaftigkeit  wird  dann  schon  der  liebgewonne- 
nen Gewohnheit  einen  Stoss  versetzen,  und  ist  erst  der  Versuch  gemacht, 
so  ist  mir  um  den  Erfolg  nicht  bange. 

Die  innerhalb  des  Gegenstandes  liegenden  Schwierigkeiten  stellen  sich 
in  der  Abweichung  der  Meinungen,  was  nun  als  Resultat  der  historischen 
Grammatik  dem  Schüler  vorzutragen  ist,  dar.  Ich  habe  fast  alle  in  meiner 
Recension  des  Lucking 'sehen  Programms,  welche  sich  ebenfalls  in  diesem 
Hefte  des  Archivs  befindet,  hervorgelaoben.  Ueber  die  Erklärung  der  Ent- 
stehung der  jetzigen  französischen  Verbalformen  aus  den  entsprechenden 
lateinischen  Formen  oder  durch  Neubildung  herrscht  nur  eine  ganz  gering- 
tügige  Meinungsverschiedenheit,    wohl  aber  eine  grössere  in  der  Auffassung 


Miscellen.  363 

der  Beste  der  Suffixe  in  ihrer  jetzigen  Bedeutung.  Besondere  Schwie- 
rigkeit  bietet  vor  Allem  das  Passe  d^fini  dar.  Hier  lehrt  Dr.  Bratu- 
scheck:  „Der  Tempuscharakter  ist  i"  und  fasst  die  Vocale  a,  i,  u  als 
„Stammverstärkungen"  auf  (was  sie  ja  ursprünglich  waren),  mit  denen  dann 
das  i  zu  a  (ai  und  e),  i,  u  verschmilzt.  Dr.  Lücking  lehrt,  gestützt  auf 
das,  was  er  über  den  Bedeutungswandel  der  Suffixe  sagt:  „Das  Historicum 
hat  als  Tempuszeichen  a,  i,  u  oder  nichts  (resp.  ä,  i,  ü,  nichts ;  er,  ir,  ur,  r). 
Das  moderne  Sprachgefühl,  führt  er  aus,  empfindet  jene  Vocale  nicht  mehr 
als  Stammverstärkungen,  und  darin  hat  er  wohl  Recht;  während  er  aber 
hier  eine  Abstumpfung  des  Gefühls  annimmt,  setzt  er  bei  je  produis  und 
ähnlichen  Formen  eine  eigenthümliche ,  feine  Schärfe  des  Sprachgefühls 
voraus,  wenn  er  will,  dass  der  Stamm  dieser  Form  als  ein  anderer  empfun- 
den werden  soll,  als  in:  nous  produisons,  je  produLsis  (nämlich  dortprodui  — , 
hier  produi.«).  Wer  über  diese  und  ähnliche  Verschiedenheiten  einen  Ueber- 
blick  gewinnen  will,  der  lese  nur  genau  die  Abschnitte  der  Lücking'schen 
Arbeit  über  Lautwandel  und  Bedeutungswandel  durch.  Vorausgesetzt,  dass 
wir  alle  uns  bemühen,  nichts  Falsches  zu  lehren,  denn  das  muss  unter 
allen  Umständen  —  Hesse  sich  auch  eine  noch  so  schöne  Regel  dadurch 
herstellen  —  verpönt  sein ,  glaube  ich ,  könnten  zwei  sich  ergänzende 
Grundsätze  als  Norm  zur  Abgrenzung  des  Stoffes  dienen :  Ja,  „man  lehre 
nichts  aus  reiner  Wissenschaftlichkeit,  was  absolut  unnöthig  ist;"  —  hierhin 
rechne  ich  z.  B.,  wenn  Dr.  Bratuscheck  als  Normalendbuchstaben  für  die 
1.  Person  Sing,  m  angiebt  und  zusetzt:  das  m  der  1.  Person  ist  überall 
abgefallen,  und,  wo  kein  Bindevocal  davor  stand,  durch  s  ersetzt  worden;  — 
2")  „man  lehre  umgekehrt  nichts  unwissenschaftlich,  was  wissenschaftlich 
sich  [für  den  Schüler  erklären  lässt;"  —  hierhin  rechne  ich  z.  B.  die  be- 
sprochene Anschauung  des  s  in  je  produis  von  Dr.  Lücking.  Mir  wird 
man  gewiss  auch  Ueberschreitungen  dieser  beiden  Grundsätze  in  meiner 
Arbeit  nachweisen.  Ich  bin  gern  bereit,  auch  Modificationen  an  derselben 
vorzunehmen,  wenn  ich  dadurch  den  Ge^vinn  für  die  neue  Methode  erwach- 
sen sehe,  dass  wir  alle  dasselbe  lehren.  Es  scheint  mir,  dass  die  Einigkeit 
derer,  die  die  neue  Lehrart  eingeführt  sehen  wünschen,  höher  steht,  als 
das  Interesse  des  Einzelnen,  seine  Meinung  als  allein  richtige  durchzu- 
fechten. Sehr  lieb  wäre  es  mir,  wenn  dieser  kleine  Aufsatz  nach  dieser 
Richtung  wirkte,  und  besonders,  wenn  unbetheiligte,  sachkundige  Stimmen 
sich  hören  Hessen.  Ist  eine  gründliche  Besprechung  erst  in  den  Fluss  ge- 
bracht, so  werden,  denke  ich,  auch  die  in  dem  Gegenstand  liegenden 
Schwierigkeiten  überwunden  werden,  und  die  französische  Schulgrammatik 
wird  künftig  nur  noch  die  eine  Lehrart  kennen. 


Plattdeutsche  (münsterländische)  Sprichwörter. 

Vaile  Fiärken  makt  en  dünnen  Drank. 

Viele  Ferken  machen  den  Trank  dünn,  d.  h.  viele  Kinder  machen 
den  Pfannkuchen  (die  Mitgift)  klein. 

Wenn  et  Brie  reignet,  is  sine  Napp  umstülvet. 

Wenn  es  Brei  regnet,  ist  seine  Schüssel  umgestülpt,  d.  h.  er  ist 
unachtsam. 

Wann  die  arme  Biädler  den  andern  wat  giev,   freue   sik   de  Engel 
in  de  Himmel. 

Wenn  ein  Bettler  dem  andern  gibt,  darüber  freuen  sich  die  Engel 
im  Himmel.  —  Also  willst  du  Freude  im  Himmel  bereiten,  so  sei 
wohlthätig,  wenn  du  auch  wenig  hast. 


364  Miscellen. 

4.  WagenSj  de  der  kraket,  driäget  lange. 

Wagen,  die  da  stöhnen  (krachenj,  halten  oft  am  längsten. 

5.  Wenn  de  Katt  up't  Speck  bannen  ist,  fraitt  se  et  nich. 

Wenn    die  Katze   auf  den  Speck   gebunden    wird,    frisst  sie   ihn 
nicht,  d.  h.  ohne  Mühe  schmeckt  nichts. 

6.  Man  kann  den  Oss  wuU  by't  Kiiwen  leiden,  man  nich  twingen,  dat 
he  süpp. 

Man  kann    den  Ochsen  wohl   zum  Futtertroge  hinführen,    aber 
nicht  zum  Fressen  zwingen. 

7.  Met  de  Spöäne,   well  du  Sunndags   schnittst,    stoakt  de  Düwel  de 
Hölle. 

Die  Späne,    welche  bei    der  Arbeit  an  Sonntagen  abfallen,  ge- 
braucht der  Teufel  für  das  höllische  Feuer. 

8.  Sachte  von  den  Stall,  föhrt  den  ganzen  Dag  wall. 

Langsam    vom  Stalle   (vom  Hause)    abgefahren,    lässt  die  Reise 
gut  vollenden. 

9.  Im  Dunkeln  is  gud  munkeln,  man  nich  gut  Mücrgen  täumen. 

Im  Dunkeln  ist  gut  munkeln,  jedoch  keine  Mücke  zu  zäumen. 

10.  Wat  de  Gewuenheit  nich  döht  (sagg  de  Schnieder),  do  stoal  he  en 
Lappen  von  siene  eig'ne  Bukse. 

11.  Morgenraud  gifF  Gauskenflaut. 

12.  Wenn  man  von  den  Düwel  spräck,  sitt  he  up"t  Heck. 

13.  Man  kick  der  Mensk  wull  för  den  Kopp,  man  nich  der  in. 

14.  Well   sick   länger  strecket,    ess  siene  Diäke,   den   wärt  de  Theene 
koald. 

15.  Et  gaihtem  es  de  Katt,  de  mäck  nich  gärn'  de  Poten  natt. 

16.  Is  de  Fusel  in  den  Mann,  sitt  de  Verstand  in  de  Kann. 

17.  Wenn  man   dat  Unnerste  ut  den  Kroos  hävven  will,    föllt  en'n   de 
Deckel  up  de  Niäse. 

18.  Wat  man  spoart  för  den  Mund, 
Frätt  de  Ratte,  off  de  Hund. 

19.  Düngen  un  Biäden  is  kien  Bieglaube. 

20.  De  oäver  den  andern  sien  Leed  sick  fröüen  kann, 
Hävv  sien  egen  Leed  an't  blaihen  an. 

21.  Wat  helft  mi  ne  Koh,  den  Kaizen  füll  Mialke  giff  un  smitt  et  dann 
wier  mett  de  Föte  um. 

22.     Nordwind  —  Moodwind, 
Ostwind  —  Hostwind, 
Westwind  —  Bestwind, 
Südwind  —  Wüthwind. 


Spreuken  en  Spreukwooden. 

1.  Niemand  komen  de  gebrade  Duyven  in  den  mond  gevlogen. 

2.  Een  peert,   Een  Sweert,   Een  scboone  Vrouw,  leent  niemeend  uit, 
als  met  berouw. 


Miscellen.  365 

3.  Jonck  Rijs  is  te  bujgen,  maar  gen  ouwde  Boomen. 

4.  Een    ouwdt    Voerman,    lioort   gaeren    het   geklap    van    de  Sweep. 
(Lupus  pllum  mutat,  non  mentem.) 

5.  Als  Elck  voor  zijn  bujs  veegd,  zo  worden  alle  Straaten  schoon. 

Ein  Jeder  kehr'  vor  seiner  Thür,  so  werden  alle  Wege  rein.        ^ 

6.  Dertig  dagen  heeft  November, 
Junij,  April  en  September, 
Acht  en  twintig  een  alleen, 
AI  de  reste  dertig  en  Een. 

7.  Melk  op  Wijn,  dat   is  venijn,    maar  Wijn  op  Melck,  Is   goed  voor 
Elck. 

Wein  auf  Bier,  das  rath'  ich  dir,  doch  Bier  auf  Wein,   das  lass' 
nur  sein. 

8.  Een  geleert    Man,    die  niet    en  werkt,    is   als   een   Wolke  zonder 
regen. 

9.  Een  rijkMan  zonder  mildadigheid  is  als  een  Boom  zonder  vruchten. 

(Dives  sine  liberalitate  est  ut  arbor  sine  fructu.) 

10.     Geen  beter  gemack 
Als  eijgen  Dack ! 
oder:  Noord,  Ost,  Sud,  West,  t'hujs  best. 

11.     Verre  van  zijn  goud,  na  bij  zijn  Schade. 

12.  Groen  hout,  heet  Brood,  en  nieuwe  wijn 
Kan  voor  t'hujs  niet  dienlijk  zijn. 

13.  Een  Wijf  draagt  meer  uit  met  een  Leepel, 
Als  een  Man  inbrengt  met  een  Schepel. 

14.     Stille  wateren  sijn  diep. 


Deutsche  Schreibeigenthüralichkeiten. 

„Dr.  Julius  Steiner  trat  dem  Naturalien -Kabinet  10  charakteristische 
Stücke  Petrefacte  vom  Wiener  Becken  ab,  was  ihm  hiermit  öffentlich  ver- 
dankt wird."  Programm  des  Gymn.  zu  Meran.  1870.  p.  23.  „Abermals 
raffte  der  Tod,  diesmal,  mit  schnellem  Griffe,  einen  Schüler  der  Lehranstalt 
dahin;  beim  Grabe  wurde  vom  Sängerchor  ein  theilnahmsvolles  Lied  treff"- 
lich  gesungen."  Programm  des  Gymn.  zu  Innsbruck.  1870.  p.  18.  „Das 
Ministerium  für  Cultus  und  Unterricht  hat  verfügt,  dass  an  den  Staatsgym- 
nasien, an  denen  von  den  öffentlichen  Schülern  die  Maturitätsprüfungstaxe 
von  6  Gulden  erhoben  wird,  von  den  Privatisten  eine  Taxe  von  18  Gulden 
zu  entrichten  kommt."  Programm  des  Gymn.  zu  Pilsen.  1870.  p.  34.  „Da 
in  Zukunft  jeder  Zwang  zur  Erlernung  der  zweiten  Landessprache  zu  ent- 
fallen hat."     Das.  S.  38. 

„Es  regte  sich  in  Kärnten,  so  wie  in  kärntischen  Kreisen  ausser  Landes 
der  pietätvolle  Wunsch,  den  Leichnam  des  Bildhauers  Hans  Gasser  in  die 
Heimat  zu  überführen  und  dem  Künstler  dort  ein  Denkmal  zu  errichten. 
Villach's  Bemühungen  gelang  es  ihn  für  sich  zu  erobern."  Programm  des 
Gymnasiums  zu  Villach.     1870.    p.  44. 


866  Miscellen. 


Absonderlichkeiten  im  Gebrauch  der  Muttersprache. 

Der  bochwürdige  Herr  Parzer  hat  als  Ausschussmitglied  das  Entstehen 
so  wie  das  bisherige  Gebahren  des  noch  so  jungen  ünterstützungsvereins 
diesem  Jahresberichte  angeschlossen.     Programm  Gymn.     Linz  1869.  S.  51. 

Die  Vorstehung  der  hiesigen  Schwimmanstalt.    Das.  S.  51. 

Den  7.  April  starb  in  wenigen  Stunden  Herr  Professor  Hötzl  am  Schlag- 
flusse.    Das.  S.  51. 

Die  Leistungen  der  glücklicher  Talentirten  weisen  manchen  schönen 
Erfolg  auf.     Das.  S.  40. 

Die  Lehrmittel  sind  sämmtlich  von  dem  Unterzeichneten  beigestellt 
Das.  S.  40. 

Auch  wurden  die  Fortschritte  der  Schüler  im  Gesänge  und  Turnen  zur 
beifälligen  Kenntniss  genommen.  Progr.  Realschule  zu  Oberhollabrunn 
1869.     S.  38. 

H.  H. 


Bibliographischer  Anzeiger. 


Allgemeines. 

A  Table  of  the  Aryan   (Indo-European)   Languages,   showing  their  classifi- 

,.  cation  and   affinities  by  Prof.   Attwell.     (London,    Williams  &   Nor- 

gate.)  71/2  Sh. 

Grammatik. 

K.  A.  Hahn's   mittelhochdeutsche    Grammatik.      Neu  ausgearbeitet  von  Fr. 

Pfeiffer.     2.  Ausg.     (Frankf.  a.  M.,  Winter.)  24  Sgr. 

Bayldon's  Icelandic  Grammar:  an  Elementary  Grammar  of  the  old  Norse 

or  Icelandic  language.     (London,  Williams  &  Norgate.)  7'/.,  Sh. 

G.  L.   Staedler,  Lehrbuch   der   italienischen  Sprache.     Neu  herausgegeben 

von  Dr.  Karl  St  aedler.     3.  Aufl.    (Berlin,  Haude  &  Spener.) 

1  Thlr.  6  Sgr. 

Lexicographie. 

Dictionnaire  Franco-Normand   ou    recueil   de    mots  particuliers  au  dialecte 
de  Guernsey  p.  G.  Metivier.     (London,  Williams  &  Norgate.)      12  Sh. 
N.  Leustroem,  Russisch-Deutsches  Wörterbuch.     (Mitau,  Behre.) 

IV2  Thlr. 

Literatur. 

K.  Goedeke,  Deutsche  Dichtung  im  Mittelalter.     (Bd.  II:  niederdeutsche 
Dichtung  v.  Herm.  Osterley.)     Sachregister.     (Dresden,  Ehlermann.) 

4V2  Thlr. 

Viga-Glum's  Saga.     Translated  from   the  Icelandic  with  notes  and  an  intro- 
duction  by  Sir  Edm.  Head.     (London,  Williams  &  Norgate.)         5  Sh. 

Dis,  li,  (lou  vrai  amiel.     Die  Parabel  von  dem  ächten  Ringe.     Französische 
Dichtung  des  13.  Jahrh.  herausgeg.  von  A.  Tob  1er.     (Leipzig,  Hirzel.) 

Shakespeare's  König  Richard  III.,  übei-s.  von  E.  Tiesson.  (Stettin,  Nahmer.) 

15  Sgr. 
Petöfi.    Auswahl  aus  seiner  LjTik.    Verdeutscht  von  H,  v.  Meltzl.     (Leip- 
zig, Kollmann.)  18  Sgr. 


368  Bibliographischer  Anzeiger. 


Hilfsbücher. 

H.  Kluge,  Geschichte  der  deutschen  National-Literatur.  3.  verb.  Auflapje. 
(Altenburg,  Bonde.)  15  Sgr. 

K.  Keller,  Elementarmethode  des  französischen  Sprachunterrichts.  2.  Curs. 
(Zürich,  Orell.)     4  Thle.  _  2  Thlr. 

G.  Ebert,  Der  Begleiter  zum  Unterricht  im  Französischen.  1.  und  2.Ab- 
thlg.     (Aarau,  Sauerländer.)  18  Sgr. 

J.  Schaefer,  Gereimte  Grundregeln  der  franz,  Sprache.  2.  Aufl.  (Bres- 
lau, Kern.)  4  Sgr. 

L.  Schmidt,  Manuel  de  Conversation  fran9aise.  (Leipzig,  Arnold.)    10  Sgr. 

Voelkel,  Vocabulalre  systematique.     (Braunschweig,  Vieweg.)  16  Sgr. 

B.  V.  d.  Lage,  Franz.  Conversat.-Grammatik.  Mittelstufe.  (Berlin,  Gut- 
tentag.)  11  Sgr. 

J.  Maximu,  Prakt.  Grammatik  der  romanischen  Sprache  nach  Ahn-Ollen- 
dorf's  Methode.     (Hermannstadt,  Filtsch.)  25  Sgr. 

G.  V.  d.  Berg,  Prakt.  Lehrgang  zur  Erlernung  der  engHschen  Sprache,  l. 
18.  Aufl.     (Berlin,  Simion.)  _  9  Sgr. 

Eshusius,    Poesies  fran9aises   choisies   et  arrangees.     (Leipzig,  Teubner.) 

12  Sgr. 

Montesquieu,  Considdrations  sur  les  causes  de  la  grand.  des  R.  Für  den 
Schulgebrauch  erklärt  von  Dr.  Wen  dler.     (Leipzig,  Teubner.)  Ih  Sgr. 

R.  R.  Fröhlich,  Kurzgefasste  Anleitung  zur  Erlernung  der  4  slavischen 
Hauptsprachen.     Neu  bearbeitet  von  Stacovsky.       (Wien,  Wenedikt.) 

1  Thb.  21  Ser 


Bemerkung. 

Der  Verfasser  der  im  4.  Hefte  des  XLVK.  Bandes  abgedruckten  Ab- 
handlung: „Die  französische  und  die  grammatische  Inversion  überhaupt." 
ist  Dr.  Bischof  in  Breslau. 


I. 

Die   römische   Novelle. 


Die  echte  römische  Novelle  unterscheidet  sich  wesentlich 
von  der  griechischen.  Während  es  dieser  letzteren  an  wahrer 
Lebensschilderung  fehlte,  sehen  wir  bei  dem  römischen  Novellen- 
schreiber das  Zeitbild  des  gesellschaftlichen  Lebens  in  bestimm- 
ten Kreisen  aufs  deutlichste  vor  Augen ;  hier  konnte  ein  chro- 
nologischer und  örtlicher  Hintergrund  aus  der  Erzählung  selbst 
nicht  recht  erkannt  werden,  dort  tritt  derselbe  ganz  offen  her- 
vor: hier  ist  meist  Nachbildung  und  Compilation  aus  anderen 
Schriftstellern  wahrzunehmen,  dort  frische  Originalität;  hier 
rhetorische  Ueberladung,  dort  einfache,  natürliche  Sprache,  fern 
von  allem  falschen  Pathos  und  Flitter.  Dies  können  wir  aus 
dem  einen  Werke,  das  die  Missgunst  der  Zeiten  uns  leider 
nur  in  Bruchstücken  überliefert  hat,  deutlich  erkennen.  Es 
sind  die  Satiren  des  Cajus  Petronius  Arbiter,  der 
unter  dem  Kaiser  Nero  lebte  und  auf  Befehl  desselben  Wüte- 
richs seinen  Tod  fand.  Der  Titel  „satura,"  den  er  seiner  No- 
velle verliehen  hat,  bezeichnet  eine  den  Römern  eigentümliche 
und  den 'Griechen  durchaus  nicht  entlehnte  Dichtungsart,  die 
übrigens  mit  den  bockfüssigen  Satyrn  gar  nichts  zu  tun 
hat;  derselbe  bedeutet  ein  Gemisch,  ein  Allerlei.  In  diesem 
Sinne  wurde  das  Wort  von  Gedichten  gebraucht  und  zwar  so- 
wol  wegen  der  Mannichfaltigkeit  des  Inhalts,  als  der  darin  an- 
gewandten Versarten.     Bei  den  Römern  haben  sich  zwei  Arten 

Archiv  f.  n.  Sprachen.      XLVIII.  24 


370  Die  römische  Novelle. 

dieser  satura  entwickelt:  die  ältere,  durch  Ennius  und  den  be- 
rühmten Terentius  Varro,  den  Oberbibliothekar  des  Kaisers 
Augustus,  ausgebildet,  bot  blos  eine  eigentümliche  Mischung 
von  Versen  und  Prosa;  die  jüngere,  mit  dem  Kennzeichen  des 
beissenden  Spottes,  durch  Lucilius,  Horaz,  Persius  und  Juvenal 
kultivirt,  gibt  in  einem  und  demselben  Versmaasse  (bei  den  drei 
letzten  im  epischen  Hexameter)  Betrachtungen  über  Leben,  Geist 
und  Sitten  des  damaligen  Roms;  es  sind  humoristische  Zeit- 
und  Sittengemälde.  An  die  erstere  dieser  Arten  dachte  jeden- 
falls Petron,  als  er  seinem  Werke  den  Titel  saturae  gab.  Er 
spottet  nicht  eigentlich  über  die  Torheiten  und  Laster  seiner 
Zeit,  sondern  bietet  in  einer  aus  Prosa  und  verschiedenen  Vers- 
arten gemischten  Form  Reiseabenteuer  allerlei  Art,  Ansichten 
über  Kunstwerke,  Poeten  u.  s.  w.  Ursprünglich  war  das  Werk 
auf  etwa  20  Bücher  angelegt;  doch  nur  aus  2  Büchern  sind 
Trümmer  erhalten.  Das  wichtigste  Bruchstück  ist  die  „Mahl- 
zeit des  Trimalchio,"  die  Beschreibung  eines  Gelages,  welches 
von  einem  reichen  ungebildeten  Emporkömmling  gegeben  wird. 
„Obwol  tief  in  Schmutz  getaucht,  ist  der  Roman  nicht  nur 
hochAvichtig  für  die  Geschichte  der  Sitten  und  der  Sprache, 
namentlich  für  die  Kenntnis  der  Volkssprache,  sondern  auch 
in  seiner  Art  ein  Kunstwerk,  voll  von  Geist,  feinster  Menschen- 
kenntnis, überlegenem  Witz  und  heiterem  Humor."  Der  Frei- 
gelassene Enkolpius  tritt  darin  auf,  ein  seltsamer  Abenteurer 
und  Verbrecher,  der  sich  unter  der  gemeinsten  Gesellschaft 
herumgetrieben  hat,  jung  und  schön,  von  seinen  Liebeshändeln 
lebend,  fein  gebildet  und  von  ästhetischem  Geschmack,  ein  Re- 
präsentant seiner  verworfenen  Zeit.  Dieser  Mann  beschreibt 
die  Abenteuer,  die  ihm  auf  einer  Reise  widerfahren  sind.  Diese 
macht  er  mit  einem  anderen  Freigelassenen  Askyltus  und  dem 
beiden  gemeinsamen  Knaben  Giton.  Die  Handlung  spielt  in 
Unteritalien :  das  meiste  in  einer  Colonie,  wahrscheinlich  Neapel, 
der  durch  griechisches  Wesen  und  grosse  Ueppigkeit  ausge- 
zeichneten Stadt;  ein  anderer  Teil  der  Handlung  auf  dem 
Meere;  der  letzte  in  Croton.  Die  Zeit  der  Novelle  wird  unter 
Tiberius  gesetzt;  Anspielungen  auf  Persönlichkeiten  aus  der 
Zeit  der  Kaiser  Caligula  und  Nero  sind  eingeflochten.  Die 
Beschreibungen   der   Feste   und   Vergnügungen    stimmen   völlig 


Die  römische  Novelle.  371 

mit  den  Orgien  dieser  Kaiser  überein,  wie  sie  uns  von  Sueton 
geschildert  werden.  „Meisterhaft  ist  die  Zeichnung  der  Cha- 
raktere, meist  durch  deren  Selbstdarstellung;  die  Personen  sind 
lebendig  gemalt  und  schön  dargestellt.  Dazu  stimmt  die  Sprech- 
weise; bei  Enkolpius  selbst  ist  sie  die  der  Gebildeten  aus  der 
besten  Zeit  der  Literatur,  nur  mit  der  Zwanglosigkeit  des  Con- 
versationstones  und  mit  giner  Anzahl  Wendungen  und  Construc- 
tionen  des  ersten  christlichen  Jahrhunderts ;  bei  den  meisten 
gelegentlichen  Sprechern  aber  ist  sie  volkstümlich,  voll  sprüch- 
wörtlicher Wendungen."  Letzterer  habe  ich  gegen  50  gefunden, 
die  meisten  derselben  in  den  w^ährend  der  Mahlzeit  gehaltenen 
Gesprächen.  Die  Stücke  in  gebundener  Form  sind  meist  dem 
eiteln  und  geschmacklosen  Dichter  Eumolpus  in  den  Mund  ge- 
legt :  so  die  „Einnahme  Trojas,"  mit  Anspielung  auf  ein  gleich- 
artiges Gedicht  des  Kaisers  Nero,  der  ja  gern  als  der  beste 
Dichter  und  Künstler  galt,  und  der  „Bürgerkrieg,"  durch  wel- 
chen er  auf  den  damals  lebenden  Dichter  Lucan,  der  ein  Epos 
„Pharsalia"  in  10  Büchern  schrieb,  sich  bezieht.  Bevor  wir 
nun  zu  der  Inhaltsangabe  übergehen,  citiren  wir  noch  aus  Ta- 
citus  Annalen  das  Ende  dieses  Mannes :  „Er  pflegte  den  Tag 
über  zu  schlafen ,  die  Nacht  den  Vergnügungen  zu  widmen ; 
während  andere  durch  ihren  Fleiss  berühmt  geworden  sind,  ist 
er  es  durch  seine  Faulheit  geworden.  Er  galt  für  einen  fein- 
gebildeten Schlemmer  und  Verschwender.  Doch  als  Proconsul 
Bithyniens  und  hernach  als  Consul  zeigte  er  sich  tüchtig  und 
den  Geschäften  gewachsen.  Später  wurde  er  wegen  seines  Ge- 
nies in  Erfindung  neuer  Laster  unter  Nero's  Vertraute  aufge- 
nommen als  elegantiae  arbiter,  Tonangeber  des  feinen  Geschmacks 
oder  Vergnügungsdirector,  und  wusste  sich  in  der  Gunst  seines 
Herrn  festzusetzen  und  unentbehrlich  zu  machen.  Als  er  trotz- 
dem später  zum  Tode  bestimmt  wurde,  Hess  er  sich  nichts  von 
den  Aussprüchen  der  Weisen  und  von  der  Unsterblichkeit  der 
Seele  vorlesen,  sondern  nur  leichtfertige  Gedichte.  Damals 
war  es  Sitte,  dass  ein  Verurteilter  sich  selbst  tödten  durfte,  und 
da  es  Mode  war,  sich  die  Adern  aufzuschneiden,  so  tat  er  dies. 
Tigellinus,  ein  anderer  Schlemmer  und  Günstling,  hatte  ihn  aus 
Neid  verläumdet."     Nun  eine  kurze  Skizze  seines  Werkes. 

Der   Anfang    handelt   von   der  verdorbenen  Beredtsamkeit 

24* 


372  Die  römische  Novelle. 

der  damaliofen  Zeit  und  von  den  Ursachen  dieser  Erscheinung, 
lieber  den  Knaben  Giton  gerathen  Enkolpius  und  Askyltus  in 
Streit  und  beschliessen,  sich  zu  trennen;  doch  wird  dies  einst- 
weilen noch  aufgeschoben.  Mit  einem  Bauer,  dem  sie  ein  Kleid 
gegen  einen  Mantel  vertauscht,  gerathen  sie  in  Zwist,  weil  sie 
hinterher  in  einer  Naht  desselben  Goldstücke  vermuten;  es  ent- 
steht ein  Auflauf  auf  der  Gasse,  Advocaten  drängen  sich  her- 
bei und  wollen  das  Streitobject,  um  aas  es  sich  handelt,  bei 
sich  aufgehoben  wissen,  um  es  bei  dieser  Gelegenheit  natürlich 
für  immer  verschwinden  zu  lassen;  da  wirft  der  Bauer,  um  der 
Sache  ein  Ende  zu  machen,  ihnen  das  Kleid  zu  und  nimmt 
seinen  Mantel  wieder.  —  Eben  haben  sIte  sich  in  ihre  Behau- 
sung begeben,  da  klopft  es  an  die  Türe.  Eine  Magd  der 
Quartilla,  die  in  jenem  Stadtviertel  wohnte,  trat  ein  und  sagte: 
ihr  habt  die  Feier  meiner  Herrin  durch  euern  Lärm  gestört. 
In  diesem  Moment  trat  die  Herrin  selbst  ein,  von  einem  andern 
Mädchen  begleitet  und  verlangte  Genugtuung  für  diesen  Fre- 
vel; die  Freunde  erklärten  sich  dazu  bereit  und  gingen  mit  ins 
Quartier  derselben.  Dort  wurde  eine  grosse  Gasterei  abgehal- 
ten, bei  der  sich  unsere  Freunde  so  erheiterten,  dass  sie  nebst 
den  übrigen  Gästen  und  Dienern  in  einen  tiefen  Schlummer 
verfielen.  Da  bewirkt  ein  komischer  Zwischenfall  das  Erwachen. 
Zwei  Syrer,  d.  i.  Sclaven,  schleichen  herein,  um  die  Eester  in 
die  gierige  Kehle  zu  schütten,  dabei  zerbrechen  sie  aber  eine 
Flasche  und  werfen  einen  Tisch  um ;  sofort  entsteht  Lärm,  und 
man  erhebt  sich,  die  zwei  Spitzbuben  aber  legen  sich  unter 
den  Tisch  und  tun,  als  ob  sie  schon  Stunden  lang  schliefen. 
Neues  Oel  wird  auf  die  schon  flackernden  Lampen  gegossen, 
und  das  Gelage  beginnt  von  neuem,  und  toller  wie  vorher. 
Was  der  Cinäde  getan  und  wie  die  Vermählung  zwischen  dem 
jungen  Giton  und  der  7jährigen  Pannychis  gefeiert  worden,  kön- 
nen wir  übergehen.  —  Es  erfolgt  die  Gasterei  des  Trimalchio, 
zu  welcher  die  zwei  Freigelassenen  geladen  sind.  Nachdem  sie 
ein  Bad  genommen ,  gehen  sie  zum  Palast  desselben.  Ueber 
dem  Eingang  stand  die  Inschrift:  jeder  Sclave,  der  ohne  Be- 
fehl seines  Herrn  das  Haus  verlässt,  wird  100  Hiebe  erhalten. 
Im  Eingang  selbst  stand  der  Türhüter,  in  lauchgrünem  Ge- 
wände, in  kirschfarbenem  Gürtel,  und  war  eben  damit  beschäf- 


Die  römische  Novelle.  373 

tigf,  in  silberner  Schüssel  Erbsen  zu  reinigen.  Ueber  der 
Schwelle  aber  hing  ein  goldener  Käfig,  in  welchem  eine  bunte 
Elster  sass,  die  jeden  Eintretenden  begrüsste.  Uebrigens,  so 
erzählt  Enkolpius,  während  ich  dies  alles  anstaune,  hätte  ich 
beinahe  rücklings  ein  Bein  gebrochen.  Denn  zur  linken  lag  an 
der  Kette  ein  gewaltiger  Hund  (freilich  blos  gemalt,  wie  ich 
hinterher  sah)  und  darüber  stand  mit  grossen  Lettern :  cave 
canem!  Meine  Mitgäste  lachten,  ich  aber  hörte,  selbst  als  ich 
mich  vom  Schreck  erholt  hatte,  nicht  auf,  mich  an  der  Wand 
hinzudrücken.  Auf  derselben  war  gemalt  ein  Sclavenmarkt; 
Trimalchio  selbst  hielt  den  Heroldsstab  und  zog  an  Minerva's 
Seite  in  Eom  ein.  Dann  hatte  der  sorgsame  Maler  mit  In- 
schriften dargestellt,  wie  er  rechnen  gelernt,  wie  er  kaiserlicher 
Schatzmeister  geworden.  Am  Ende  der  Säulenhalle  aber  sah 
man,  wie  ihn  Mercur  am  Kinne  fasste  und  hoch  auf's  Tribunal 
hob.  Neben  ihm  stand  Fortuna  mit  dem  Füllhorn;  daneben 
spannen  die  Parzen  goldene  Fäden.  Ausserdem  sah  ich  einen 
grossen  Schrank  in  der  Ecke,  in  deren  Nische  silberne  Laren 
aufgestellt  waren  und  eine  Marmorstatue  der  Venus  und  ein 
goldenes  Büchschen. 

Sehen  wir  in  diesem  Abschnitt  die  Einrichtung  eines  En- 
tree's  und  der  daran  sich  schliessenden  Halle,  so  wie  den  auf 
eiteln  Prunk  und  stolze  Selbstüberhebung  gegründeten  Ge- 
schmack des  Besitzers ,  so  lernen  wir  im  folgenden  nun  das 
Gastmahl  selbst  kennen,  das,  anschaulich  und  bis  ins  kleinste 
Detail  beschrieben,  ein  klares  Bild  des  damaligen  Lebens  bietet. 
Es  erinnert  sehr  an  die  Horazische  coena  Nasidieni,  der,  gleich- 
falls ein  reicher  Emporkömmling,  den  Mäcenas  bei  sich  be- 
wirtete. 

Unter  Gesang  wird  Waschwasser  herumgereicht;  dann  er- 
scheint Trimalchio  selbst  und  gibt  das  Zeichen  zum  Anfang. 
Unter  dem  Klange  der  Musik  wird  ein  Präsentirteller  aufge- 
tragen mit  einem  Korbe,  in  welchem  eine  Henne  aus  Holz  ihre 
Flügel  ausbreitet,  wie  sie  beim  Brüten  zu  tun  pflegt.  Sofort 
treten  zwei  Sclaven  ein,  untersuchen  die  Streu,  holen  Pfauen- 
eier daraus  hervor  und  verteilen  sie  unter  die  Gäste.  Dann 
wird  Wein  aufgetragen ,  ächter  hundertjähriger  Falerner  aus 
dem  Jahre  des  Opomius,  wie  auf  der  Signatur  der  Flasche  zu 


374  Die  römische  Novelle- 

lesen ist.  Trimalchio  lobt,  wie  beim  Horaz  Nasidienus,  seine 
Speisen  und  Getränke  selbst  und  preist  sie  den  Gästen  mit 
Witzworten  und  Sentenzen  an;  so  sagt  er  z.  B.  beim  Wein: 
„gestern  habe  ich  keinen  so  guten  gegeben ,  und  doch  waren 
weit  vornehmere  Leute  bei  mir  zu  Tische."  Dann  folgen  die 
einzelnen  Gerichte,  die  mehr  durch  die  Neuheit  ihrer  Zusam- 
menstellung und  durch  den  für  neue  Arten  der  Gruppirung  er- 
finderischen Geist  des  Besitzers,  als  durch  ihre  Güte  das  Inter- 
esse der  Gäste  in  Anspruch  nehmen.  Plötzlich  sieht  man  ein 
Weib  im  Saale  hin  und  her  gehen.  Enkolpius  fragt  seinen 
Tischnachbar,  wer  dieselbe  sei,  und  erhält  zur  Antwort:  „For- 
tunata,  Trimalchio's  Frau,  die  das  Geld  nach  Scheffeln  misst. 
Früher  hättest  Du  kein  Stück  Brot  aus  ihrer  Hand  genommen, 
jetzt  aber  ist  sie  ihres  Mannes  Factotum;  sagt  sie  am  Mittag, 
es  sei  Nacht,  so  glaubt  er  es.  Er  ist  steinreich  und  weiss  gar 
nicht,  wie  viel  er  besitzt;  aber  sie  ist  eine  Wölfin,  die  überall 
ihre  Augen  hat."  Nach^Herumreichung  von  Trauben  steht  Tri- 
malchio auf,  um  draussen  etwas  abzumachen;  in  Folge  dessen 
fuhren  nun  die  Gäste  freiere  Reden;  da  sprechen:  Dama,  Se- 
leucus,  Phileros,  Ganymedes  und  Echion  der  Flickschneider. 
Plötzlich  tritt  der  Hausherr  wieder  ein,  entschuldigt  sein  Fort- 
gehen mit  einem  Leibesübel  und  stellt  den  Gästen  frei,  hin- 
sichtlich etwaiger  Leibesbeklemmungen  sich  durchaus  keinen 
Zwang  anzutun.  Diese  danken  für  seine  liberale  Gesinnung 
und  suchen  ihr  Lachen  hinter  scharfem  Trinken  zu  verstecken. 
Von  neuem  beginnt  das  Essen:  drei  lebendige  Schweine  wer- 
den hereingetrieben  und  das  grösste  zum  Schlachten  bestimmt; 
die  Gäste  sollen  sehen,  wie  rasch  seine  Köche  dasselbe  zu  be- 
reiten verstehen.  Während  dessen  unterhält  er  die  Gäste  mit 
seinen  Prahlereien.  So  fragt  er  einen  seiner  Sclaven  mit  wah- 
rer Stentorstimme:  aus  welcher  Decurie  bist  Du?  „Aus  der 
vierzigsten."  Gekauft  oder  im  Hause  geboren?  „Keins  von 
beiden,  Herr,  sondern  durch  das  Testament  Pansa's  Dir  hinter- 
lassen." Dann  stellt  er  den  Gästen  anheim,  neue  Weinsorten 
zu  wählen.  Darauf  wendet  er  sich  an  den  Ehetor  Agamemnon 
mit  der  Frage:  Worüber  hast  du  heute  gesprochen?  Wenn 
ich  auch  kein  Sachwalter  bin,  so  habe  ich  doch  so  viel  gelernt, 
als  man  für's  Haus  braucht;   ich  interessire  mich  für  die  Wie- 


Die  römische  Novelle.  375 

senschaften,  zwei  Bibliotheken  sind  mein,  eine  griechische  und 
eine  lateinische."  Während  dann  der  Gastgeber  bei  Bespre- 
chung der  aufgestellten  Controverse  seinen  vermeintlichen  Scharf- 
sinn zeigt,  der  natürlich  unisono  beklatscht  wird,  fragt  er: 
Kennst  du  etwa  die  12  Arbeiten  des  Hercules  oder  die  Ge- 
schichte des  Ulixes,  wie  ihm  der  Cyklope  den  Daumen  ausge- 
renkt? Ich  habe  das  als  Knabe  im  Homer  gelesen.  Um  von 
anderem  zu  schweigen,  die  Sibylla  habe  ich  mit  meinen  Augen 
zu  Cumä  gesehen  in  einer  Flasche  hängen,  und  wenn  die  Kin- 
der ihr  zuriefen:  Sibylla,  was  willst  du?  so  antwortete  sie:  ich 
will  sterben."  Ein  allgemeines  Gelächter,  das  bei  diesen  von 
krasser  Ignoranz  zeugenden  Worten  herauszuplatzen  drohte, 
wurde  zum  Glück  dadurch  verhindert,  dass  eben  das  Schwein 
aufo-etrao-en  wurde.  Allgemeine  Verwunderung  über  die  Schnel- 
ligkeit der  Zubereitung;  wie  staunten  aber  die  Gäste,  als  sie 
sahen,  das  Schwein  sei  noch  einmal  so  gross  als  das  vorhin 
gezeigte.  Dasselbe  wird  zerlegt,  darin  stecken  Brat-  und  an- 
dere Würste.  —  Schon  ist  Trimalchio  ziemlich  benebelt,  da 
frao-t  er:  „Und  keiner  von  euch  fordert  mein  Weib  zum  Tan- 
zen auf?  glaubt  mir,  keine  tanzt  den  Cancan  besser."  Ascyltus 
und  Giton  müssen  laut  auflachen,  ein  Schmarotzer  des  Haus- 
herrn weist  sie  mit  ergötzlichen  Schimpfwörtern  zurecht.  — 
Dann  wird  ein  homerisches  Stück,  der  reinste  Blödsinn,  auf- 
o-eführt.  Demnächst  erzählt  Nikeros  eine  Spukgeschichte;  man 
sieht  daraus,  dass  damals  der  Glaube  an  Wehrwölfe  stark  im 
Schwünge  war.  Nach  einigen  komischen  Intermezzos  ein  neuer 
Gang:  Geflügel.  —  Fortunata  gibt  sich  viel  mit  Habinnas  ab, 
einem  neu  angekommenen  Gaste.  Dann  Nachtisch;  Vortrag  von 
Versen  aus  Virgil's  Aeneis ;  dann  Aepfel  und  Austern,  Bekrän- 
zung und  Salbung  der  Gäste.  Schon  war  die  Heiterkeit  all- 
gemein; die  Sclaven  hatten  sich  auch  auf  Triclinien  postirt,  — 
da  kommt  Trimalchio  auf  den  Gedanken,  sein  Testament  vor- 
zulesen und  Inschrift  nebst  Denksäule  zu  bestimmen.  Grosse 
Rührung  allerseits.  Während  des  allgemeinen  Aufbruchs  zum 
Bade  suchen  unsere  Freunde  sich  aus  dem  Staube  machen;  da 
dies  aber  mislingt,  weil  der  Ausgang  verschlossen  war,  so 
machen  sie  gute  Miene  zum  bösen  Spiele  und  baden  gleich- 
falls.  —  Darauf  werden   die  Gäste  in  die  prachtvollen  Zimmer 


37.6  Die  römisclie  Novelle. 

der  Fortunata  geführt,  der  krähende  Hahn  büsst  seine  Unvor- 
sichtigkeit mit  dem  Tode,-  bis  zum  Tagesanbruch  soll  fortge- 
trunken werden.  Die  alten  Sclaven  treten  ab,  neue  dafür  ein. 
Einen  schönen  Jungen  unter  ihnen  küsst  Trimalchio,  dies  setzt 
Streit  mit  Fortunata,  die  ihn  „Hund"  nennt;  zur  Erwiderung 
wirft  er  ihr  den  Becher  an  den  Kopf;  sie  Aveint.  Trimalchio  er- 
zählt darauf  einiges  aus  seiner  Jugend,  wie  er  reich  geworden 
sei.  —  Schon  lange  war  die  Sache  unseren  Freunden  zum 
Ekel,  da  Hess  der  Gastgeber,  um  dem  Ganzen  einen  würdigen 
Abschluss  zu  geben,  auch  noch  Hornbläser  eintreten  und  befahl 
ihnen,  einen  Leichenmarsch  zu  blasen;  dabei  stellte  er  sich 
todt.  Der  Ton  dieser  Hörner  wird  jedoch  ein  so  schriller  und 
schreckenerregender,  dass  die  Nachtwächter  in  der  Meinung,  es 
brenne  im  Hause,  mit  Wasser  und  Aexten  hereinstürzten,  um 
zu  löschen.  Diesen  Tumult  benutzen  unsere  Freigelassenen,  um 
dem  Hause  zu  entrinnen.     So  weit  reicht  die  Gasterei. 

Nach  mehreren  Streitigkeiten,  die  sich  zwischen  Enkolpius 
und  Askyltus  über  den  Besitz  des  jungen  Giton  erheben ;  nach- 
dem wir  noch  eine  Liebesgeschichte,  die  zu  Pergamus  in  Klein- 
asien sich  zutrug,  angehört  haben;  n^ph  einer  Klage,  die  ein 
Dichter  über  Verschlechterung  der  Zeiten  ausstösst,  —  finden 
wir  den  Enkolpius  nebst  Giton  und  einem  gewissen  Eumolpus 
auf  einem  Schiffe  wieder,  das  nach  Tarent  fährt.  Während 
der  Nacht  merken  sie ,  dass  Lichas  der  Besitzer  des  Schiffes 
ist  und  Tryphäna  mitfährt,  2  Personen,  zu  denen  sie  früher  in 
irgend  welcher  Beziehung  gestanden  haben,  denen  sie  aber  ent- 
laufen sind.  In  der  Angst  wollen  sie  am  Schiffe  sich  herab- 
lassen, doch  wohin?  Sie  beschliessen  also,  sich  zu  scheeren 
und  durch  Tättowiren  unkenntlich  zu  machen.  Dies  merkt  ein 
Matrose  und  macht  Lärm,  die  Schiffsleute  springen  auf  und  die 
beiden  werden  von  ihren  früheren  Herren  erkannt  und  wieder 
in  Besitz  genommen.  Bei  der  Schmauserei,  die  nun  abgehalten 
Avird,  erzählt  Eumolpus  eine  Geschichte,  die  sich  mit  einer 
Witwe  zu  Ephesus  zutrug,  als  Beweis  dafür,  dass  die  Frau  den 
todten  Mann  leicht  vergisst  und  ihre  Liebe  ohne  Bedenken 
einem  neuen  zuwendet.  Unterdessen  erhebt  sich  ein  schwarzer 
Sturm,  das  Schiff  zerbricht  und  geht  mit  seinen  Insassen  unter, 
nur  unsere    drei  Bekannte   retten   sich  schwimmend   ans  Land 


Die  römische  Novelle.  377 

und  kommen  nach  Croton,  einer  altberühmten  Stadt.  Hier 
geben  sie  sich  für  Afrikaner  aus,  die  eine  reiche  Erbschaft 
ebendaher  erwarteten,  und  finden  in  Folge  dessen  eine  treffliche 
Aufnahme;  jeder  bestrebt  sich,  ihnen  das  Leben  angenehm  zu 
machen,  in  der  Hoffnung,  sie  zu  beerben.  Circe,  eine  junge 
schöne  Frau,  ladet  den  Enkolpius  zu  sich  ein,  im  Platanen- 
wäldchen findet  das  Eendez-vous  statt.  Die  Schönheit  dieser 
Dame  wird  eingehend  beschrieben;  „die  kunstvoll  geflochtenen 
Haare  ergossen  sich  ganz  über  die  Schultern,  von  der  schma- 
len  Stirne  waren  die  Haarwurzeln  nach  hinten  gekämmt,  die 
Augenbrauen  reichten  bis  zur  Grenzlinie  der  Wangen  hin 
und  stiessen  über  den  Augen  fast  zusammen;  die  Augen  waren 
funkelnder  als  die  Sterne,  die  Nase  ein  wenig  gebogen  und  ein 
Mündchen,  wie  es  Praxiteles  der  Diana  gegeben  hat.  Ferner 
das  Kinn,  der  Nacken,  die  Hand,  die  von  goldener  Spange 
umwundenen  Füsschen!  gegen  sie  wäre  der  Parische  Marmor 
nichts  gewesen."  Wiederholt  ladet  sie  ihn  zu  sich  ein,  blos  um 
als  Erbin  eingesetzt  zu  werden.  Ein  anderes  vornehmes  Weib, 
die  nicht  mehr  schön  genug  war,  um  selbst  Erbschleicherei  zu 
treiben,  übergab  ihre  beiden  schönen  Kinder  dem  Eumolpus, 
damit  er  sie  erzöge  resp.  in  sein  Testament  aufnähme.  Wie 
es  zum  Schluss  den  Abenteurern  ergangen,  da  die  Eeichtümer 
aus  Afrika  doch  nicht  ankommen  konnten,  erfahren  wir  nicht, 
die  Erzählung  bricht  ab. 

Wir  sehen  aus  dieser  Skizze,  dass  die  Oertlichkeit,  die 
Zeit,  die  Personen  und  die  Verhältnisse  wahr  geschildert  sind. 
Da  ist  keine  verschwommene  und  fingirte  Ortsangabe,  sondern 
bestimmt  erkennbare  Lokalität ;  da  sind  keine  für  jede  beliebige 
Zeit  passenden  Zustände,  sondern  solche,  die  für  eine  ganz  be- 
stimmte Zeit  und  nur  für  diese  charakteristisch  sind ;  keine  rein 
aus  der  Luft  gegriffenen  Persönlichkeiten,  Schatten  ohne  reale 
Unterlage,  sondern  auch  aus  anderen  Autoren  uns  hinlänglich 
bekannte  Stände:  liederliche  aber  angesehene  Freigelassene, 
dünkelhafte  und  reiche  Emporkömmlinge,  eingebildete  Dichter, 
verdorbene  Kinder  und  Matronen ;  die  Verhältnisse  sind  nicht 
willkürlich  gemalt,  sondern  es  herrscht  darin  frisches  und  na- 
türliches, wenn  auch  unsittliches  Leben.  Das  Tun  und  Treiben, 
wie  es  eben  einmal  unter  jenen  Kaisern  war,  wird  mit  frischen 


378  Die  römische  Novelle. 

Farben  aufgetragen,  klar  und  unverholen  werden  die  Laster 
geschildert  und  gehandhabt ;  oberflächliche  Halbbildung  ist  an 
die  Stelle  der  tiefen  Gelehrsamkeit  getreten ;  reich  will  jeder 
werden  ohne  eigene  Anstrengung;  derbe  Witzesworte  würzen 
die  Unterhaltung.  So  bietet  Petron's  Schrift  ein  vielseitiges 
Zeit-  und  Sittengemälde,  und  dieselbe  würde  die  Bezeichnung 
„Roman"  verdienen,  wenn  grossartige,  aus  sittlichen  Gegen- 
sätzen entspringende  CoUisionen  darin  enthalten  wären.  Ver- 
gleichungspunkte mit  anderen  Autoren,  die  kurz  vorher  oder 
nachher  lebten,  springen  bei  der  Lektüre  leicht  ins  Auge:  so 
erinnert  der  Schluss  an  das  schon  von  Horaz  scharf  gegeisselte 
Laster  der  Erbschleicherei  und  die  Beschreibung  der  Vergnü- 
gungen mahnt  an  die  Bacchanalien,  wie  sie  nach  Livius  ums 
Jahr  186  v.  Chr.  G.  in  Italien  stattgefunden  haben. 

Ganz  verschieden  von  diesem  Petron  ist  der  um  100  Jahre 
später  lebende  Lucius  Ap  pule  jus.  Gebürtig  aus  Madaura 
in  Afrika,  Platoniker  und  Rhetor,  lebte  er  im  zweiten  Drittel 
des  2.  Jahrhunderts.  Wie  wir  aus  seinen  Schriften  ersehen, 
genoss  er  seine  Jugendbildung  zu  Carthago  und  Athen  und 
unternahm  dann  längere  Reisen,  auf  denen  er  hauptsäch- 
lich Mysterien  kennen  zu  lernen  begehrte.  In  diese  My- 
sterien zog  sich  damals  das  sinkende  Heidentum  zurück,  um 
einen  Schutz  gegen  das  eindringende  Christentum  zu  gewinnen. 
Die  damals  wieder  erwachte  Philosophie  eines  Pythagoras  und 
Plato  vereinigte  sich  mit  der  Naturforschung,  um  mystische  In- 
teressen zu  verfolgen.  Solche  Geheimkulte  (der  Novize  hatte 
vor  der  Aufnahme  eine  Prüfung  zu  bestehen)  waren  der  des 
Dionysos,  der  magna  mater  und  des  Mithras,  welcher  letztere 
seit  dem  Piratenkriege  sich  ausgebreitet  und  einen  grossen 
Spielraum  im  römischen  Heere  gewonnen  hatte.  Man  suchte 
nach  geheimen,  magischen  Kräften ;  namentlich  im  Orient  traten 
Betrüger  oder  Betrogene  auf  und  verübten  Wunder,  so  Apollo- 
nius  von  Tyana,  der  unter  Nero  und  Domitian  die  ganze  civi- 
lisirte  Welt  durchzog  und  nach  seinem  Tode  vergöttert  wurde. 
Man  suchte  eben  einen  inneren  Halt  gegen  die  zerfahrene  Zeit. 
Ein  solcher  Sucher  war  auch  Appulejus;  er  genoss  den  Ruf 
eines  Zauberers.  Von  seinem  sonstigen  Leben  wissen  wir  noch,  dass 
er  in  Rom  und  später  in  Afrika  als  Redner  und  Advocat  auftrat. 


Die  römische  Novelle.  379 

Phantastische  Wundersucht  und  Ungeschmack  kennzeichnen 
seine  Darstellung,  die  aus  allen  Zeiten  und  Stilarten  zusammen- 
getragen ist  und  Vorliebe  für  archaistische  Formen  bekundet; 
dabei  ist  er  lebendig,  originell  und  leicht  schaffend.  Kein 
Hauptwort  wird  ohne  Beiwort  gesetzt,  das  stärkste  ist  ihm  das 
bezeichnendste  und  richtigste,  alles  Einzelne  ist  stark  gehäuft; 
denn  das  damalige  Publikum  liebte  eine  scharf  gewürzte  Lee- 
türe. Im  Vergleich  zu  Petron  sieht  man  hierin  einen  grossen 
Unterschied ;  wenn  wir  nach  ähnlichen  Erscheinungen  in  der 
neueren  Zeit  suchten,  so  würden  die  Dichter  der  zweiten  schle- 
sischen  Schule  in  erster  Reihe  zu  nennen  sein.  Sein  Werk 
metamorphoses,  Verwandlungen,  wurde  auch  asinus  aureus  = 
goldener  Esel  genannt  (das  Beiwort  „golden"  will  blos  sagen, 
dass  das  Buch  sehr  beliebt  war)  oder  auch  Milesiae  d.  i.  Roman, 
Novelle.  Es  ist  eine  phantastisch-satirische  Sittennovelle,  ver- 
fasst  unter  der  Regierung  des  Kaisers  Marc  Aurel  und  dem 
liukios  des  Lucian  nachgebildet,  wenn  nicht  beide  eine  ältere 
Quelle  benutzt  haben.  Den  Inhalt  bilden  die  Erlebnisse  eines 
Menschen,  der  aus  Versehen  durch  Zauberei  in  einen  Esel  ver- 
wandelt wurde ;  der  Stoff"  ist  ganz  wie  bei  Lucian  und  unter- 
scheidet sich  von  jenem  nur  darin,  dass  die  Namen  verändert 
werden,  die  Darstellung  sich  erweitert,  die  Motive  ausführlicher 
behandelt  und  kleine  Abenteuer :  Spuk-,  Räuber-  und  Schmutz- 
geschichten meist  nicht  ungeschickt  eingeflochten  werden,  die 
sicherlich  dem  Boccaccio  vorgelegen  haben,  so  das  schöne  Ge- 
schichtchen von  Amor  und  Psyche,  dessen  Kern  wol  in  den 
Orient  zurückreicht  und  jedenfalls  einen  tieferen  philosophischen 
Sinn  birgt.  Einige  sind  auch  ernsten  Charakters,  so  die  Er- 
zählung vom  Tode  der  Braut,  welche  aus  der  Räuberhöhle  ge- 
rettet wird.  Es  ist  ähnlich  wie  beim  indischen  Epos  Maha- 
bharata,  in  welches  die  liebliche  Erzählung  Nala  und  Damaianti 
so  wie  andere  eingewebt  sind;  neuerdings  hat  auch  Gotha  in 
seinen  Romanen  es  nachgeahmt.  Für  uns  ist  Appulejus  dadurch 
das  Vorbild  der  Novellenliteratur  geworden  (cf.  O.  Jahn,  popu- 
läre Aufsätze  aus  der  Altertumswissenschaft,  Bonn  1868).  Alle 
diese  Erzählungen  sind  wichtig  wegen  ihres  kulturhistorischen 
Interesses.  Geändert  ist  namentlich  der  Schluss ;  bei  Lucian 
heiter,  hier  ernsthaft -phantastisch,     Der  Esel-Mensch  wendet 


380  Die  römische  Novelle. 

eich  an  die  Isis,  deren  Cultus  aus  Egypten  schon  längst  nach 
Kom  und  dem  Occident  verpflanzt  war,  mit  einem  Gebet  um 
Befreiung  von  der  Tiergestalt.  Dabei  erfolgt  eine  genaue 
Schilderung  der  Isisprocession,  welche  so  ziemlich  dem  rheini- 
schen Carneval  in  ihrem  Aeusseren  zu  entsprechen  scheint ;  der 
Verwandelte  wird  ins  Heiligtum  aufgenommen ,  geprüft  und 
eingeweiht.  Dieser  gewissermaassen  geistige  Abschluss  ist 
charakteristisch  für  Appulejus  und  seine  Zeit;  dies  ist  sein 
eigener  Zusatz,  aus  persönlicher  Anschauung  geschöpft.  —  Die 
Verwandlung  von  Menschen  in  Tiere  mit  Beibehaltung  des 
menschlichen  Bewusstseins,  aber  ohne  menschliche  Sprache  fin- 
den wir  schon  in  Homer's  Odyssee,  wo  Circe  die  Gefährten 
des  Odysseus  verwandelt: 

gleich  waren  sie  Schweinen  an  Haupt,   an  Stimm'  und  an  Bildung, 
borstenvoll,  nur  der  Geist  war  unzerrüttet,  wie  vormals! 

Indem  wir  es  unterlassen,  den  Gang  des  ganzen  Romans 
zu  entrollen,  halten  wir  uns  hier  blos  an  die  liebliche  Episode: 
Amor  und  Psyche.     Der  Inhalt  derselben  ist  kurz  folgender. 

Es  waren  einmal  ein  König  und  eine  Königin,  die  drei 
sehr  schöne  Töchter  hatten;  doch  bei  den  zwei  älteren  schien 
es,  als  ob  das  menschliche  Lob  noch  für  sie  genüge,  der  jüng- 
sten Schönheit  aber  überstieg  alle  menschlichen  Begriffe.  Von 
weit  her  kamen  die  Menschen ,  durch  den  Ruf  ihrer  göttlichen 
Schönheit  gelockt,  und  verehrten  sie  geradezu  als  eine  zweite 
Venus;  ihr  als  einer  menschlichen  Person  zu  nahen  wagte  Nie- 
mand. Kein  Mensch  ging  noch  nach  Paphus  oder  Knidus  oder 
Cythera,  um  Aphrodite  anzubeten;  ihre  Opfer  werden  vernach- 
lässigt, ihre  Tempel  verfallen,  ihre  Bildsäulen  bleiben  unbekränzt, 
die  verlassenen  Altäre  werden  entstellt  durch  kalte  Asche. 
Darüber  erzürnt  spricht  Venus  bei  sich:  „Ich,  die  alte  Mutter 
der  Natur,  die  Schöpferin  alles  Seienden,  muss  mich  mit  einem 
irdischen  Mädchen  in  die  Verehrung  teilen!  ich  soll  mich  be- 
gnügen mit  dem  ungewissen  Anteil  einer  stellvertretenden  An- 
betung! Vergebens  soll  mich  jener  Hirte,  dessen  Entscheidung 
selbst  Juppiter  gebilligt  hat,  wegen  meiner  unübertrefflichen 
Schönheit  so  hochgestellten  Göttinnen  vorgezogen  haben !  Nein, 
nicht  sich  zur  Freude  soll  diese,  wer  sie  auch  ist,   die  mir  ge- 


Die  römische.  Novelle.  381 

bührenden  Ehren  sich  angemasst  haben;  ihr  soll  diese  Schön- 
heit noch  leid  tun."  Sogleich  ruft  sie  ihren  Sohn  Amor  und 
befiehlt  ihm,  das  Herz  der  Psyche  für  einen  ganz  gemeinen 
Menschen  zu  entflammen.  —  Psyche  findet  indessen  keinen 
Gatten ;  man  staunt  sie  an  als  ein  göttliches  Wesen ;  aber  keiner 
wirbt  um  sie.  Schon  längst  hatten  sich  ihre  älteren  Schwestern 
benachbarten  Königen  vermählt,  Psyche  sitzt  ungeliebt  daheim 
und  verwünscht  ihre  Schönheit.  Dem  fragenden  Vater  verkün- 
det das  Orakel  des  Milesischen  Apoll:  „Stelle  die  Jungfrau 
als  Braut  geschmückt  auf  einen  hohen  Felsen  und  hoffe  auf 
keinen  irdischen  Schwiegersohn,  sondern  denke  auf  ein  wil- 
des und  grausames  Ungeheuer,  das  mit  Schwingen  die  Luft 
durchschneidend  alles  beherrscht  und  mit  Feuer  und  Schwert 
jedes  einzelne  Wesen  entkräftet;  vor  ihm  bebt  Juppiter  und 
der  ganze  Olymp,  das  AVasser  und  die  Unterwelt."  Unter 
allgemeinem  Jammer  wird  Psyche  auf  den  Fels  gestellt,  von 
dort  trägt  sie  ein  leiser  Zephyrhauch  in  ein  paradiesisches  Tal 
mit  prächtigem  Palast.  Denn  der  Schalk  Amor,  statt  das  Herz 
Psyche's  nach  dem  Gebote  seiner  Mutter  zu  verwunden,  wird 
selbst  entzündet  und  beschliesst,  sie  in  dieser  Einsamkeit  zu 
seinem  Weibe  zu  machen.  Ohne  Jemanden  zu  sehen,  wird 
Psyche  bedient;  sie  geniesst  die  köstlichsten  Speisen  und  Ge- 
tränke, den  herrlichsten  Gesang  und  die  treff'Iichste  Musik, 
nachts  hat  sie  den  liebenden  Gatten  neben  sich  im  Lager,  der 
freilich  am  Morgen  ungesehen  verschwindet.  So  verstreicht 
ihr  Tag  um  Tag,  und  die  Gewohnheit  macht  ihr  solch  ein  Leben 
angenehm.  In  einer  Nacht  warnt  sie  der  Gatte  plötzlich  vor 
ihren  Schwestern,  die  bald  erscheinen  und  oben  auf  dem  Berge 
um  sie  wehklao-en  würden.  Durch  Weinen  und  Jammern  be- 
wirkt  sie,  dass  der  Gatte  ihr  erlaubt ,  dieselben  zu  sehen  und 
zu  sprechen,  auch  ihnen  alles  Mögliche  zu  schenken;  nur  über 
seine  Gestalt  solle  sie  nichts  fragen,  noch  sagen.  Der  Zephyr 
trägt  die  Schwestern  zu  ihr  herab ,  die  ihnen  in  ihrer  Freude 
alle  Kostbarkeiten  zeigt  und  sie  reich  beschenkt  entlässt.  Unter- 
wegs klagen  die  neidischen  Schwestern  über  ihre  hässlichen 
Männer  und  das  Glück  der  Psyche;  sie  bereden  sich,  dasselbe 
zu  vernichten.  Wiederholt  warnt  Amor  sein  junges  Weib  vor 
den  Plänen  der  ränkevollen  Schwestern ;  sie  besteht  darauf,  die- 


382  Die  römische  Novelle. 

selben  wiederzusehen.  Dieselben  liebkosen  sie  und  gratuliren 
ihr  zur  Schwangerschaft;  dann  fragen  sie  nach  ihrem  Gatten. 
Während  nun  Psyche  beim  ersten  Besuche  gesagt  hatte,  es  sei 
ein  schöner  flaumbärtiger  Jüngling,  der  meist  im  Wald  und 
Feld  lebe,  so  sagte  sie  diesmal  in  ihrer  arglosen  Einfalt,  weil 
sie  sich  jener  Worte  nicht  mehr  erinnerte,  er  sei  ein  Kaufmann 
aus  fernem  Lande,  der  in  mittleren  Jahren  stehe.  Diesen 
Widerspruch  merken  die  Schwestern  recht  gut  und  machen  ihr 
Angst,  indem  sie  sagen,  ihr  Gatte  sei  ein  Ungeheuer  und  sie 
werde  ein  schreckliches  Untier  gebären.  Da  gesteht  Psyche, 
sie  habe  allerdings  ihren  Gatten  noch  nie  gesehen,  sie  möchten 
ihr  doch  helfen  und  sie  vor  dem  Schrecklichen  schützen.  Die 
Argen  raten  ihr,  sie  solle  ein  Lämpchen  verstecken,  nachts 
aufstehen  und  bei  Licht  das  Haupt  des  schlafenden  Drachen 
abhauen.  Dann  eilen  sie  davon,  Psyche  aber  trifft  ihre  Maass- 
regeln für  die  Nacht.  Statt  des  Ungeheuers  jedoch  sieht  sie 
den  herrlichen  Kupido  in  voller  Schönheit  daliegen;  vor  dem 
Bette  lagen  Bogen,  Köcher  und  Pfeile.  Während  Psyche  in 
freudigem  Schreck  alles  betastet,  verwundet  sie  sich  mit  einer 
Pfeilspitze,  so  dass  sie  heftige  Liebe  zu  Amor  in  ihr  Herz 
schHesst.  In  heisser  Leidenschaft  beugt  sie  sich  auf  ihn  und 
küsst  ihn  zärtlich;  dabei  fällt  ein  Tropfen  heissen  Oeles  auf 
die  rechte  Schulter  des  Gottes.  Er  erwacht  und  erzürnt  über 
das  Gebahren  seines  Weibes  fliegt  er  davon ;  von  der  nächsten 
Cypresse  aus  ruft  er  ihr  noch  zu :  „Ich  weiss,  du  hast  blos  aus 
Leichtsinn  gefehlt,  deine  Schwestern  sind  die  Schuldigen,  die 
ich  bestrafen  werde;  dich  strafe  ich  dadurch,  dass  du  mich 
nicht  mehr  siehst."  Verzweifelnd  stürzt  sie  sich  in  den  nahen 
Strom,  aber  dieser  trägt  sie  in  eine  liebliche  Aue.  Dort  ruft 
Pan  sie  zu  sich  und  rät  ihr,  sie  solle  den  Kupido  durch 
Bitten  und  Gehorsam  begütigen. 

Auf  ihrer  Wanderung  kommt  sie  zu  einer  der  Schwestern, 
erzählt,  wie  es  ihr  ergangen  sei,  und  sagt,  der  Gott  habe  er- 
klärt, er  werde  nun  sie  d.  i.  die  Schwester  heiraten.  Diese  eilt 
sofort  zum  Felsen  hin,  stürzt  sich  hinab  und  kommt  zerschmet- 
tert unten  an ;  dies  war  die  Rache  Amor's.  Dasselbe  Schick- 
sal erlitt  bald  darauf  die  andere  Schwester.  Der  im  Meere 
badenden  Venus  verrät  indessen  die  weisse   Möve,   was  ihrem 


Die  römische  Novelle.  383 

Sohne  passirt  sei.  Wütend  eilt  die  Göttin  ins  Gemach  des 
Sohnes,  schilt  ihn  aufs  heftigste  und  droht,  die  Sobrietas  d.  i. 
Nüchternheit  zu  rufen,  damit  ihm  diese  die  Waffen,  Haare  und 
Schwingen  nehme.  Vor  der  Türe  begegnen  ihr  Ceres  und 
Juno  und  fragen  erstaunt,  was  ihr  widerfahren  sei.  Sie  ver- 
langt, jene  sollen  ihr  Psyche  suchen  helfen,  dann  stürzt  sie 
hinaus.  Psyche  ist  unterdessen  in  einen  Tempel  der  Ceres  ge- 
treten; dort  begegnet  ihr  die  Göttin  und  teilt  ihr  mit,  dass 
Venus  sie  suche.  Sie  bittet,  einige  Tage  im  Tempel  bleiben 
zu  dürfen,  Ceres  schlägt  es  ab  mit  Rücksicht  auf  ihre  Freund- 
schaft zu  Venus.  Ebenso  geht  es  ihr  bei  Juno.  Da  beschliesst 
Psyche  in  der  Verzweiflung,  geradenwegs  zu  ihrer  Feindin  hin- 
zugehen und  sich  ihr  zu  stellen;  dabei  hegt  sie  die  geheime 
Hoffnung,  ihren  Kupido  zu  sehen.  Venus  hat  indessen  den 
ganzen  Himmel  zur  Hülfe  aufgeboten,  und  Mercur  muss  über- 
all auf  der  Erde  ausschnarren:  „Wer  die  entlaufene  Psyche 
herbeibringt  oder  ihr  Versteck  anzeigt,  erhält  von  der  Venus 
sieben  süsse  Küsse  und  dann  noch  einen,  der  durch  die  Berüh- 
rung der  Zunge  honigsüss  wird!"  Dies  veranlasst  Psyche  zur 
Beschleunigung  ihres  Vorhabens.  Vor  dem  Eingang  tritt  ihr 
Consuetudo,  eine  Dienerin  der  Venus,  entgegen  und  schleppt 
sie  an  den  Haaren  hinein.  Venus  ruft  sogleich  Sollicitudo  und 
Tristitia;  diese  geissein  die  Gefangene  und  schleppen  sie  dann 
wieder  vor  die  Herrin.  Diese  stürzt  auf  sie  zu,  zerreist  die 
Kleider,  rauft  die  Haare,  schlägt  ihr  Haupt  und  peinigt  sie 
auf  martervolle  Weise.  Dann  stellt  sie  ihr  folgende  Aufgaben: 
1)  muss  sie  einen  Haufen  bunt  vermengter  Körner  sondern ; 
statt  ihrer  besorgen  die  Ameisen  die  Arbeit;  2)  soll  sie  aus 
dem  nahen  Haine  die  Flocke  eines  goldgelben  Schafes  bringen; 
das  grüne  Schilf  gibt  ihr  an,  wie  sie  das  Wagnis  ausführen 
kann;  3)  soll  sie  von  der  Quelle  eines  nahen  Felsen  Styxwasser 
holen;  der  Adler  Juppiters  füllt  ihr  das  Gefäss.  Da  wird  Venus 
wütend  darüber,  dass  Psyche  alle  Aufgaben  so  rasch  und  leicht 
löse,  und  giebt  ihr  noch  die  allerschwerste:  sie  soll  4)  zur  Pro- 
serpina hinabsteigen  und  sie  bitten,  sie  möge  der  Venus  ein 
wenig  von  ihrer  Schönheit  zuschicken,  auch  wenn  es  nur  für 
einen  kurzen  Tag  genüge.  Psyche  will  sich  aus  Verzweiflung 
vom  Turme  stürzen,  dieser  aber  spricht  zu  ihr:  „Warum  willst 


384  Die  römische  Novelle. 

du  dich  tödten?  Höre  auf  mich!  Gehe  nach  Tänarum  bei 
Lakedämon  und  steige  hinab  in  den  Schlund,  doch  nicht  mit 
leeren  Händen,  sondern  Klöschen  von  Gerstengraupen,  mit 
Honig  versetzt,  trage  in  den  Händen  und  zwei  Goldstücke  im 
Munde,  letztere  für  den  Hin-  und  Eückweg,  erstere  für  den 
Cerberus  als  Ein-  und  Ausgangszoll;  ausserdem  darfst  du 
nichts  anrühren,  noch  essen  ausser  einfachem  Brote ;  das  Büchs- 
chen  aber,  das  dir  Proserpina  geben  wird,  öffne  ja  nicht!" 
Oben  wieder  angelangt,  kann  Psyche  der  Neugierde  nicht  wider- 
stehen, erblickt  aber  in  dem  geöffneten  Büchschen  nichts  von 
Schönheit,  sondern  blos  stygischen  Schlaf,  der  sie  sogleich  be- 
fällt. Unterdessen  ist  Cupido  seinem  Gefängnisse  entschlüpft 
und  gelangt  zufällig  dahin,  wo  Psyche  schläft;  er  weckt  sie, 
steckt  den  Schlaf  wieder  in's  Büchschen  und  trägt  ihr  auf,  das- 
selbe der  Venus  hinzutragen, 

Amor  selbst  eilt  schnurstracks  zu  Juppiter  und  trägt  ihm 
seine  Sache  vor;  dieser  verspricht  ihm  beizustehen  unter  der 
Bedingung,  dass,  wenn  jetzt  ein  schönes  Mädchen  wieder  auf 
Erden  sei,  dieses  ihm  zufalle.  Sofort  lässt  derselbe  durch  Mer- 
cur  eine  Götterversammlung  ansagen  und  gebietet  jedem  zu  er- 
scheinen, bei  10,000  Sesterzen  Strafe.  In  derselben  tut  er  seinen 
Willen  kund:  Amor  solle  die  Psyche  ehelichen  und  Venus  solle 
zustimmen,  zumal  er  Psyche  zur  Göttin  machen  werde;  dies 
geschieht  sofort  dadurch,  dass  sie  Ambrosia  geniesst.  Die 
Hochzeit  wurde  sogleich  gefeiert;  Vulkan  kochte,  die  Hören 
streuten  ßosen,  die  Grazien  Balsam,  die  Musen  sangen,  Apoll 
spielte  die  Cithara,  Venus  tanzte.  So  kam  Psyche  in  gesetz- 
licher Weise  in  Amor's  Besitz  und  gebiert  diesem  eine  Tochter, 
die  wir  Voluptas  nennen. 

Der  Bischof  Ful gen tius,  der  ums  Jahr  500  in  Afrika 
lebte,  erklärt  in  seinem  Mythologikon  den  allegorischen 
Sinn  der  Erzählung  also:  In  der  Welt  ist  Gott  und  die  Mate- 
rie ;  ihre  drei  Kinder  sind :  Fleisch ,  freier  Wille  und  Seele. 
Auf  diese  letztere  ist  Venus,  d.  i.  böse  Lust,  neidisch  und 
schickt  Cupido,  sie  zu  verderben.  Aber  weil  es  eine  Begierde 
des  Guten  und  des  Bösen  gibt,  so  gewinnt  die  Begierde  die 
Seele  lieb  und  mischt  sich  gleichsam  mit  ihr,  ermahnt  sie  je- 
doch, nicht  ihr  Antlitz  zu  schauen  d.  i.  nicht  ihre  Ergötzungen 


Die  römische  Novelle.  385 

zu  lernen  (wie  ja  auch  Adam ,  obwol  sehend,  seine  Nacktheit 
nicht  sieht,  bis  er  vom  Baum  der  Lust  isst);  sie  möge  ja  nicht 
gleich  ihren  Schwestern,  Fleisch  und  Freiheit,  ihre  Gestalt  zu 
erkennen  trachten.  Aber  von  jenen  verlockt,  deckt  sie  die  in 
der  Brust  verborgene  Flamme  der  Sehnsucht  auf  und  gewinnt 
die  so  gesehene  heb.  Diese  aber  soll  sie  durchs  Austropfen 
der  Lampe  entzündet  haben,  weil  jede  Begierde  so  erglüht,  wie 
sie  geliebt  wird,  und  den  sündigen  Flecken  ihrem  Fleische  an- 
heftet. Nach  Enthüllung  der  Begierde  wird  sie  ihres  Glücks 
beraubt,  in  Gefahren  gestürzt  und  aus  dem  Palast  getrieben. 
Das  Uebrige,  meint  Fulgentius,  kann  sich  jeder  Leser  aus  der 
Erzählung  selbst  zusammenreimen. 

Aehnliche  Märchen  mit  denselben  Zügen  finden  sich  in  der 
ganzen  indogermanischen  Welt.  Wenn  Appulejus  vier  Prü- 
fungen der  Psyche  ansetzt,  so  ist  dies  eine  ganz  willkürliche 
Steigerung,  denn  das  gewöhnliche  ist  die  Dreizahl  der  Prü- 
fungen; doch  ist  dies  dadurch  ausgeglichen,  dass  die  zwei  letz- 
ten Prüfungen  zusammenfallen.  „Wasser  aus  der  Stjxquelle 
holen"  hat  ebendieselbe  Bedeutung  wie  das  Hinabsteigen  in 
den  Hades  selbst  am  Tanaron.  Im  Hades  darf  sie  nichts  tun, 
weil  sie  sonst  diesem  verfällt ;  ferner  muss  sie  dem  Cerberus 
einen  Honigkuchen  reichen,  und  stillschweigen,  dreimal  wird  sie 
versucht.  Ferner  darf  sie  nichts  essen  ;  Appulejus  hat  diesen 
Zug  so  modificirt,  dass  sie  vom  lockeren  Mahle  nur  ein  Stück 
Schwarzbrot  essen  darf,  ein  Zug,  wie  er  im  Märchen  vorkommt 
und  ganz  für  dasselbe  passt.  Zweimal  wird  sie  von  Neugierde 
verleitet ;  doch  versöhnt  sie  sich  das  letzte  Mal  sofort  mit  Eros, 
ohne  dass  dies  im  mindesten  motivirt  wird.  Der  Zug,  dass 
Tiere,  sogar  leblose  Gegenstände  der  Psyche  helfen,  findet  sich 
im  Märchen  „von  der  weissen  Schlange"  bei  Grimm  Avieder. 
—  Die  Liebe  ist  in  dieser  Erzählung  auf  ihre  Prinzipien  zu- 
rückgeführt; Psyche  ist  die  Liebe  empfindende  Seele,  Eros  die 
liebende  Kraft,  Venus  hat  zu  Dienerinnen  die  consuetudo  d.  h. 
den  sinnlichen  Umgang,  ferner  die  Trauer  und  die  Wehmut; 
es  sind  dies  die  beiden  Seiten  der  Liebe:  Freude  und  Schmerz. 
Auffallend  bleibt  der  Schluss ;  sie  zeugen  eine  Tochter  Yolu- 
ptas,  während  man  doch  nach  der  früheren  Verheissung  Cupido's 
(infantem  divinitm)  einen  Sohn  erwarten  sollte.     Was  die  Dar- 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XLVm.  25 


386  r^ie  römische  Novelle. 

Stellung  anlangt,  so  ziehen  einfache  menschliche  Erapfindun- 
gen  durchs  ganze  Stück ;  die  Götter  des  Olymps  werden  alle 
srewissermaassen  burlesk  behandelt.  Venus  ist  nach  mensch- 
licher  Weise  eitel  und  stolz,  Ceres  und  Juno  wissen  den  gan- 
zen Liebeshandel  zu  entschuldigen,  Merkur  tritt  als  gemeiner 
Ausrufer  auf,  Juppiter  will  mit  Amor  halbpart  machen.  Es 
erinnert  dies  an  die  schon  bei  Homer  vorkommende  Episode 
von  Ares  und  Aphrodite,  an  den  Hymnus  auf  Hermes  und  an 
die  Behandlung  der  Götter  durch  die  Komödie. 

Allgemeine  Züge  des  Eros  und  der  Psyche, 
Darstellung  auf  Gemälden.  Schon  bei  den  ältesten  grie- 
chischen Dichtern  wird  Eros  personifizirt  als  allgemeiner  Schö- 
pfungstrieb, und  dieser  Zug  ist  für  alle  Zeiten  geblieben ;  alle 
feineren  geistigen  Beziehungen  knüpfen  sich  an  ihn,  nicht  an 
Aphrodite.  Plato  fasst  ihn  als  Vermittler  zwischen  Menschen 
und  Göttern,  als  Sohn  des  üeberflusses  und  der  Armut;  dieser 
Eros  facht  nicht  blos  die  Leidenschaft  der  Liebe  an,  sondern 
unterhält  und  weckt  alles ,  was  der  Mensch  geistig  producirt. 
Daher  verbindet  sich  Eros  mit  Psyche,  einer  ähnlichen  Perso- 
nificatlon  der  menschlichen  Natur.  Die  älteste  Vorstellung  vom 
Geiste  des  Menschen  als  einer  Potenz,  die  sich  ablösen  kann, 
findet  sich  bei  Homer ;  der  Atem,  der  den  menschlichen  Körper 
belebt,  verlässt  den  Menschen  durch  den  Mund  oder  die  Wunde 
und  lebt  in  der  Unterwelt  ein  Scheinleben  weiter  als  Nachtbild, 
Schatten;  um  menschliches  Tun  daselbst  zu  vollbringen,  muss 
die  Psyche  Blut  trinken,     cf  Hom.  Od.  11,  152: 

Aber  ich  harrete  dort  standhaft,  bis  die  Mutter  herankam; 

und  wie  des  schwärzlichen  Blutes  sie  trank,  so  erkannte  sie  plötzlich. 

und  mit  jammerndem  Laut  die  geflügelten  Worte  begann  sie  u.  s.  w' 

Die  Alten  nannten  auch  den  Schmetterling  „Psyche,"  mit 
Bezug  auf  die  eigentümliche  Entstehung  desselben  aus  der 
Puppe  oder  Raupe.  Der  Schmetterling  gleitet  wie  die  Seele 
leicht  und  unbemerkt  durch  die  Luft  hin,  daher  wird  derselbe 
auf  Bildwerken  geradezu  als  Symbol  der  Seele  aufgefasst.  Dass 
überhaupt  das  Märchen  einen  oft  gesuchten  und  reichlich  loh- 
nenden Vorwurf  für  den  Künstler  abgab,  Ist  leicht  erklärlich; 
gehört  doch  diese  Dichtung  zu  den  gehaltvollsten,  zugleich  ein- 
fachsten und  kindlichsten,    die  das  Altertum  je  geschaffen  hat. 


Die  römische  Novelle.  387 

„Der  Gedanke,  dass  Psyche,  die  Seele,  durch  ein  Vergehen 
ihres  ursprünglichen,  unschuldigen  Glückes  beraubt,  nach  man- 
nichfaltigen  Leiden  und  Prüfungen  ihr  höheres,  bewussteres, 
vergeistigtes  Glück  am  Herzen  der  ewigen  Liebe  wieder  fin- 
det,  ist  so  tiefsinnig  und  doch  so  allgemein  verständlich ,  dass 
sich  kein  reicherer  Stoff  für  den  Dichter  wie  für  den  Bildner 
erträumen  lässt.  So  wohnt  diesem  Märchen  eine  süsse,  my- 
stische Poesie  inne,  an  deren  berauschendem  Kelche  wir  uns 
nicht  satt  schlürfen  können."  Unter  den  neueren  Künstlern 
sind  zu  nennen:  Eafael,  der  die  Erzählung  in  zwölf  reizenden 
Compositionen  der  Decke  an  der  Villa  Farnesina  in  Rom  be- 
handelte, und  der  jüngst  verstorbene  Moritz  von  Schwindt,  der 
gleichfalls  den  Stoff  des  Märchens  zu  Gruppen  für  die  Aus- 
schmückung einer  Villa  benutzt  hat.  Die  Darstellungen  der  älte- 
ren Künstler  fassen  hauptsächlich  drei  Gesichtspunkte  ins 
Auge:  entweder  Eros  quält  die  Psyche,  oder  Psyche  quält  den 
Eros,  oder  beide  sind  glücklich  vereinigt. 

Eros  quält  die  Psyche.  Eros  nimmt  von  der  Seele 
Besitz ;  dies  zeigt  sich  in  Qualen,  die  er  ihr  zufügt,  gewöhnlich 
brennt  er  den  Schmetterling  oder  das  junge  Mädchen  mit  Schmet- 
terlingsflügeln durch  die  Fackel.  Die  Verbrennung  hat  man 
aufgefasst  als  ein  Symbol  der  Läuterung  durchs  Feuer.  Die 
Gruppe  ist  nach  einer  Gemme  des  Florentiner  Museums  (cf. 
O.  Jahn  in  seiner  Ausgabe  von  Psyche  und  Cupido)  folgende : 
Der  zürnende  Eros  hält  mit  der  Linken  die  mit  ausgestreckten 
Beinen  halb  knieende  Psyche  an  den  Kopfhaaren  fest,  den  lin- 
ken Fuss  auf  Psyche's  Schenkel  stemmend,  in  der  rechten  Hand 
mit  der  Fackel  ausholend;  Psyche  hebt  beide  Arme  angstvoll 
flehend  zu  ihm  empor  und  sieht  auf,  als  wolle  sie  um  Schonung 
bitten;  Eros  ist  geflügelt,  nackt,  Psyche  halbbekleidet,  mit 
Schmetterlingsflügeln.  Auf  diese  Situation  beziehen  sich  fol- 
gende Epigramme,  deren  Verfasser  Meleager  ist: 

1)  Brennest  du  noch  so  sehr  die  im  Feuer  befindliche  Psyche, 

dennoch  flieht  sie  davon;  hat  sie  doch  Flügel,  du  Tor! 

2)  Sage  mir,  weinende  Psyche,  warum  die  geheilete  Wunde, 

die  der  Cupido  dir  schlug,  wieder  im  Herzen  entbrennt? 
Sei  doch  nicht,  beim  Zeus,  so  mit  Willen  töricht  und  rühre 

Feuer  von  neuem  hervor,  während  die  Asche  noch  glimmt. 
Wenn  du  vergissest  die  Leiden  und  flüchtig  du  wieder  gefasst  wirst, 

wird  er  dich,  glaube  das  mir!  ärger  noch  kränken  fürwahr. 

25* 


388  Die  römische  Novelle. 

3)  Rief  ich  es  nicht  dir  zu,  bei  der  Kypris,  du  werdest  gefangen 

hängen  am  klebenden  Leim,  weil  du  zu  nah  dich  gewagt? 
Rief  ich  es  nicht?    Nun  fing  dich   die  Schlinge.     Du  zappelst  ver- 
geblich, 

dass  du  den  Fesseln  enteilst;  ist  doch  der  Flug  dir  gelähmt! 
Hart  an's  Feuer  gestellt  und  mit  Salben  besprengt  in  der  Ohnmacht 

bist  du,  während  den  Durst  Nass  aus  den  Augen  dir  stillt. 
O  schwerleidende  Psyche,   die   bald  von  dem  Feuer  verbrannt  wird, 

bald  sich  wieder  erholt,  wenn  auch  nur  wenig  erquickt. 
Aber  die  Schuld  trifft  dich.     Als  den  harten  Cupido  du  aufzogst, 

dachtest  du  nicht,  dass  nur  gegen  dich  jener  erwuchs? 
Also  das  ahntest  du  nicht?    Nun  trage  die  schöne  Vergeltung, 

dass  das  Feuer,  zugleich  eisiger  Schnee  dich  verletzt. 
Selbst  so  gewollt  hast  du;  nun  trage  die  Qual,  da  du.  leidest 

würdige  Strafe  dafür,  arg  von  dem  Wachse  verbrannt. 

Psyche  quält  den  Eros.  O.  Jahn  in  seiner  Miniatur- 
ausgabe „Psyche  und  Cupido"  gibt  uns  zwei  Gebilde  dafür. 
Auf  dem  einen  steht  Amor  nackt,  geflügelt,  mit  weinerlichem 
Gesicht,  auf  runder  Basis ;  die  Hände  sind  ihm  auf  den  Rücken 
gebunden.  Das  andere  ist  eine  grössere  Gruppe:  Amor  steht 
steif,  regungslos,  betrübt  auf  runder  Basis ;  Psyche  hält  ihm 
die  gebundenen  Hände  auf  dem  Rücken  fest.  Eine  andere 
Psyche,  nur  um  die  Hüften  abwärts  ein  Gewand  tragend,  steht 
sich  beugend  vor  ihm  und  hält  in  der  Rechten  eine  Fackel,  um 
die  ihm  abgenommenen  Waffen:  Köcher  mit  Pfeilen  und  den 
Bogen,  die  sie  in  der  Rechten  hält,  zu  verbrennen;  ihr  zur 
Rechten  steht  ein  bekleideter  Eros,  ratlos  dareinschauend,  das 
Gesicht  auf  den  erhobenen  rechten  Arm  stützend.  Auf  diese 
Lage  beziehen  sich  die  folgenden  von  Jahn  angeführten  Epi- 
gramme : 

4)  Ja  bei  der  Kypris,  Eros,  ich  werde  die  Waffen  im  Feuer 

tilgen:  den  Bogen  sowol,  wie  auch  den  spitzigen  Pfeil. 
Lache  nur  nicht  und  verspotte  mich  nicht  mit  Hohn  in  dem  Antlitz! 

Lache  nur  nicht;  du  wirst  gleich  nun  die  Miene  verzieh'n. 
Denn  dir  gedenk'  ich  zu  stutzen  die  Flügel,  die  Boten  der  Liebe, 

und  mit  erzenem  Band  werd'  ich  belegen  den  Fuss. 
Freilich  es  ist  kadmeischer  Sieg  nur,  den  ich  gewinne, 

wenn  mit  der  Psyche  verknüpft,  Wolf  in  den  Schafen  du  bist. 
Doch  wolan,  der  du  schwierig  besiegt  wirst,  hebe  die  Sohlen, 

breite  die  Schwingen  doch  aus,  nur  nicht,  das  bitt'  ich,  auf  mich! 

5)  Wer  hat  dich,  den  beschwingten,  in  Banden  gekettet,  und  wer  nur 

wagt  es,  den  feurigen  Brand,  der  aus  dem  Köcher  entspringt, 
greifend  zu  fassen  und  dir  die  zum  Schusse  gerüsteten  Hände 

einzuspannen  in's  Joch,  fest  an  die  Säule  gedrückt? 
Immerhin  ist  es  ein  Trost  für  die  Menschheit,  wenn  auch  ein  kleiner, 

Sage  mir:  den  du  da  quälst,  hat  er  nicht  selber  gequält? 

6)  Wer  hat  ohne  Befugnis  in  Ketten  dich  also  geworfen, 

dass  dich  jedermann  sieht?     Sage  mir:  wer  hat  gewagt, 


Die  römische  Novelle.  389 

dich  so  in  Ketten  zu  legen?  Der  garstige  Anblick!  Abscheulich! 

Wo  ist  das  rasche  Geschoss?     Wo  ist  der  bittere  Pfeil? 
Wahrlich,  nicht  recht  ist's,  dass   dich  der  Steinmetz  also  gemeisselt, 

der  du  die  Götter  bezwingst,  der  du  mit  Liebe  sie  zwingst. 

7)  Wer  ist's,  der  dir  die  Hände  mit  unentrinnbaren  Banden 

hier  an  die  Säule  anband?  Zwang  er  doch  Feuer  und  Licht! 
Trockne  doch  nur,  ich  bitte  dich,  Tor,  die  Tränen  im  Antlitz, 
denn  dich  freuet  ja  nur,  machst  du  den  Menschen  recht  Pein. 

8)  Weine  nur,  fest  an  den  Händen  gebunden,  willkürlicher  Dämon, 

weine  nur  immerhin  mehr,  locke  die  Thränen  hervor, 
welche  das  Mitleid  wecken,  du  sinnbetörender  Frevler! 

fliegendes  Feuer  der  Seel',  heimliche  Wunden  du  schlägst. 
Dass  du  gefesselt  hier  stehst,  ist  den  Menschen  ein  Ende  des  Leides ; 

bitte  und  flehe  du  nur!  stumm  ist  'der  Wind  und  die  Luft. 
Hast  du  auch  früher  die  Glut  in  dem  menschlichen  Herzen  entzündet: 

sieh!  jetzt  ist  sie  gelöscht,  ist  von  dir  selber  gelöscht. 

9)  Ja  weine  nur  und  suche  du  die  Hand  heraus 

zu  ziehen,  Schalk!  Denn  solches  ziemet  dir  zu  tun. 

Hier  löst  dich  niemand,  siehst  du  auch  recht  kläglich  drein. 

Du  selbst  hast  andern  Augen  Thr'änen  viel'  entpresst 

und  bittre  Pfeile  hast  du  tief  in's  Herz  gesenkt 

und  hast  das  Gift  der  Sehnsucht  vielfach  ausgesprengt, 

Eros !  denn  dir  macht  Freude  nur  der  Menschen  Qual. 

Gerecht  ist  deine  Straf;  du  leidest,  was  du  tatst. 

Das  vierte  dieser  kleinen  Gedichte  wird  dem  Meleager  zu- 
geschrieben, das  fünfte  dem  Satyros,  das  nächste  dem  Alkäos, 
das  folgende  dem  Antipater,  das  achte  dem  Mäkios,  das  neunte 
dem  Krinagoras. 

Glückliche  Vereinigung  von  Eros  und  Psyche. 
Appulejus  sagt  zum  Schlüsse:  „Auf  dem  obersten  Platze  lag 
der  Gatte  bei  Tische,  die  Gattin  im  Schoosse  umfasst  haltend." 
Diesen  Worten  entsprechend  sehen  wir  auf  einem  Marmorsar- 
kophage des  britischen  Museums,  wie  Eros  auf  dem  Triclinium 
liegt,  seine  Psyche  im  Schoosse  haltend,  die  Rechte  um  ihren 
Nacken  schlingend,  w'ährend  sie  ihre  Rechte  auf  seine  Schulter 
legt;  sein  Gewand  hat  sich  vom  Oberkörper  zurückgeschoben, 
während  das  ihrige  noch  oben  über  die  Brust  reicht.  Sie  naht 
mit  geöffneten  Lippen  denen  des  Eros,  die  sich  in  ähnlicher 
Bewegung  befinden.  Es  kann  kein  Zweifel  obwalten,  dass  der 
Künstler  den  Moment  gewählt  hat,  wo  der  Kuss  unmittelbar 
erfolgen  soll.  Das  Jugendliche  und  Kindliche  ist  beibehalten, 
um  das  Sinnliche  zu  vermeiden,  es  ist  eine  geschlechtslose  Zu- 
neifjuno^  im  Auo;enblick  des  inniijsten  Gefühls.  Kein  Kunst- 
werk  ist  späterhin  öfter  benutzt  worden,  um  die  glückliche  Ver- 
einigung auszudrücken. 


390  Diß  römische  Novelle. 

Das  andere  Bild  ist  folgendes:  Stehend  auf  runder  Basis 
halten  sich  beide  so  umschlungen,  dass  Eros  ganz  nackt  seinen 
Unterkörper  dem  Beschauer  zukehrt,  den  Oberkörper  nach  links 
biegend;  seinen  Mund  drückt  er  auf  den  der  Psyche,  so  dass 
wir  das  Profil  seines  Gesichts  sehen ;  mit  dem  im  rechten  Win- 
kel gebogenen  rechten  Arm  stützt  er  ihr  Kinn.  Psyche  ist 
von  den  Hüften  abwärts  mit  faltenreichem  Gewand  umkleidet; 
ihr  Oberleib  ist  nackt,  ihre  Brust  verdeckt,  teils  durch  die  Bie- 
Sfunff  auf  Eros  zu,  teils  durch  dessen  Arm  und  weil  sie  ihren 
linken  mitten  um  den  Leib  ihres  Geliebten  schlingt,  während 
sie  mit  dem  rechten  den  Kopf  des  Eros  an  sich  drückt;  ihr 
Antlitz  verschwindet  hinter  dem  des  Eros  so,  dass  blos  das 
linke  Auge  sichtbar  ist.  Die  Gruppe  befindet  sich  im  Capito- 
liuischen  Museum.  —  Endlich  ist  auf  einer  Gemme  im  Berliner 
Museum  die  unübertreffliche  göttliche  Schönheit  der  Psyche 
dargestellt,  wie  sie  von  Appulejus  gleich  zu  Anfang  der  Novelle 
beschrieben  wird. 


II. 

Die  deutsche  Novelle   und   der  deutsche  Roman. 


Die  Eigentümlichkeit  des  Appulejus,  dass  in  die  längere 
Erzählung  kürzere,  mit  jener  gar  nicht  zusammenhängende, 
episodisch  eingeflochten  werden,  finden  wir  bei  Göthe  namentlich 
in  „Wilhelm  Meisters  Wanderjahren"  häufig  wieder.  Solche 
Episoden  sind:  die  Flucht  nach  Egypten  und  Set.  Joseph,  Die 
pilgernde  Törin,  Wer  ist  der  Verräter?  Das  nussbraune  Mäd- 
chen, Der  Mann  von  fünfzig  Jahren,  Die  neue  Melusine,  Die 
gefährliche  Wette,  Nicht  zu  weit.  Daran  schliessen  sich  noch 
zwei,  die  wahrscheinlich  an  irgend  einer  Stelle  eingeschoben 
werden  sollten :  die  Reise  der  Söhne  Megaprazon's  und  die  No- 
velle vom  Kind  und  Löwen,  deren  letztere  wir  zum  Gegenstand 
unserer  Betrachtung  machen  wollen. 

Zu  Anfang  führt  uns  Göthe  auf  den  in  Nebel  gehüllten 
.Schlosshof,  in  dessen  Räumen  Menschen  und  Tiere,  zur  Jagd 
sich  vorbereitend,  auf  das  Erscheinen  des  Fürsten  warten.  Kein 
Name  wird  genannt,  während  andere  Schriftsteller,  der  natür- 
lichen Neugierde  der  Menschen  Rechnung  tragend,  solche  Namen 
fingirt  oder  war,  ganz  ausgeschrieben  oder  blos  mit  Anfangs- 
buchstaben anführen.  Wenn  Göthe  dies  vermeidet,  so  will  er 
der  Phantasie  des  Lesers  freien  Spielraum  geben,  sich  den  Ort 
der  Handlung;  beliebio-  auszumalen.  Der  Fürst  ist  erst  vor 
kurzem  getraut  und  lebt  in  glücklicher  Ehe;  der  Vater  hat  ihn 
zu  einem  rechten  Fürsten  ausgebildet,  der  für's  Wol  der  Unter- 
tauen sorgt,  besonders  für  Handel  und    Wandel,    wie  aus   der 


392  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsehe  Roman. 

eben  in  der  Stadt  abgehaltenen  Messe  hervorleuchtet.  Nach 
anwestrencter  Arbeit  findet  der  Fürst  an  diesem  schönen  Herbst- 
tag  Zeit  zur  Jagd,  von  welcher  die  Fürstin  ungern  zurück- 
bleibt; indessen  die  Entfernung  ist  für  sie  zu  gross.  Zum  Er- 
satz dafür  schlägt  er  ihr  einen  Spazierritt  vor,  auf  dem  der 
fürstliche  Oheim  Friedrich  und  der  Hofjunker  Honorio  sie  be- 
gleiten sollen.  —  So  kennen  wir  nach  wenigen  Worten  schon 
die  Hauptpersonen  der  Handlung  und  die  Hauptmotive  für  den 
Fortschritt  derselben;  letztere  sind  die  Jagd  und  der  Markt. 
Wir  sehen  den  Fürsten  wolmeinend ,  arbeitsam,  zärtlich ;  die 
Fürstin  gütig,  liebevoll,  ritterlich,  doch  zugleich  nachgiebig ;  den 
Pagen  jung  und  wolgebildet.  —  Das  Schloss  liegt  auf  einer 
Erhöhung,  mit  Aussicht  auf  das  Gebirsre,  das  Ziel  der  Jaa^d. 
Dadurch  kann  die  Handlung  im  wesentlichen  eine  einheitliche 
bleiben,  wenn  auch  nicht  dem  Orte  nach,  so  doch  dadurch,  dass 
beide  Punkte  durch  die  Gedanken  und  Sinne  der  Hauptper- 
sonen auf  einander  bezogen  werden.  Die  Fürstin  blickt  durchs 
Teleskop  dem  Zuge  nach  und  sieht  ihn  noch  einmal  am  Fusse 
der  alten  Stammburg  vorüberziehen,  die  von  Gebüsch  umwach- 
sen schon  längst  in  Trümmern  liegt.  Kaum  ist  dies  geschehen, 
so  verlieren  wir  den  Zug  aus  den  Augen,  erhalten  aber  durch 
Hinweisung  auf  die  Stammburg  das  Ziel  der  nächsten  Hand- 
lung schon  vorgezeichnet.  Dies  geschieht  noch  mehr  durch 
den  Eintritt  des  Oheims;  derselbe  überbringt  Zeichnungen  jener 
Burg  und  erläutert  sie  der  Fürstin  in  so  anziehender  Weise, 
dass  diese  dorthin  den  Spazierritt  zu  richten  beschliesst.  Nach 
Vorlegung  zweier  Blätter,  die  den  Schauplatz  des  folgenden 
anschaulich  beschreiben  und  die  Liebe  des  Oheims  für  die  wilde 
ungebeugte  Natur  kennzeichnen,  tritt  Honorio  ein  und  meldet, 
die  Rosse  seien  vorgeführt.  Die  Fürstin  verlangt,  über  den 
Markt  geführt  zu  werden  und  begründet  dies  mit  Worten, 
welche  ihrem  Verstand  und  ihrem  Interesse  für  die  Volkswol- 
fart alle  Ehre  machen.  Der  Oheim  gibt  ihr  Recht,  weigert 
sich  aber,  über  den  Markt  zu  reiten,  da  er  ein  grässliches  Un- 
glück, den  Brand  eines  solchen  Budenmeeres,  noch  vor  Augen 
habe,  welches  .  .  .  Seine  weiteren  Ergüsse  schneidet  die  leb- 
hafte Frau,  welche  dieselben  schon  öfter  gehört  hat,  dadurch 
ab,  dass  sie  aufs  Pferd  steigt ;  so  bleibt  ihren  Begleitern  nichts 


Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman.  393 

übrig,  als  ihr  zu  folgen.  —  Sehen  wir  hier  die  Kunst  des 
Autors !  Nicht  g-leich  von  Anfans^  an  gibt  er  uns  eine  Charak- 
terzeichnung  der  auftretenden  Personen,  sondern  fügt  wie  un- 
absichtlich Zug  um  Zug  hinzu:  wir  brauchen  blos  dieselben  zu- 
sammenzustellen,  um  ein  volles  abgerundetes  Bild  von  jeder 
Persönlichkeit  zu  gewinnen.  Zeigt  sich  hier  auf  der  einen  Seite 
die  rasche  Entschlossenheit  und  Furchtlosigkeit  der  Fürstin,  so 
tritt  auf  der  anderen  Seite  die  gutmütige  Plauderei  und  Aengst- 
lichkeit'des  würdigen  Oheims  hervor;  ferner  hören  wir,  dass 
Honorio  gerne  von  der  Jagd  zurückgeblieben,  ein  Wink  für's 
Folgende  :  Schon  können  wir  ahnen ,  dass  er  sich  zu  der  schö- 
nen Gebieterin  hingezogen  fühlt. 

Langsam  reiten  sie  über  den  Markt,  wegen  des  Gedränges ; 
freundlich  wird  die  Fürstin  von  allen  Umstehenden  gegrüsst. 
Dabei  macht  sie  scharfe  Beobachtungen  über  die  Tracht  der 
Marktleute,  welche  dieselbe  als  sparsame  Frau  kennzeichnen. 
Beim  Eintritt  in  die  Vorstadt  erblicken  sie  am  Ende  derselben 
die  Menagerie,  die  zum  Markte  gekommen  ist ;  furchtbares  Ge- 
brülle empfängt  die  Vorüberreitenden,  vor  wetchem  die  Pferde 
sich  entsetzen.  Die  bunten  Bilder  mit  dem  Tiger  und  dem 
Löwen  fallen  ihnen  in  die  Augen;  auf  dem  Rückwege,  sagt 
die  Fürstin,  wollen  wir  einmal  eintreten.  Haben  wir  den  Oheim 
vorhin  als  Liebhaber  der  Zeichenkunst,  als  Freund  der  Natur, 
als  wolwollenden  Beurteiler  kennen  gelernt,  so  finden  wir  jetzt, 
dass  er  während  seines  Lebens  auch  Erfahrungen  gesammelt 
hat,  die  er  gern  in  Sentenzen  verwertet.  So  sagt  er  hier,  der 
Mensch  wolle  immer  durch  Schreckliches  aufgeregt  sein,  um 
hinterdi'ein  erst  recht  zu  fühlen,  wie  schön  es  sei,  frei  Atem  zu 
holen.  In  dem  bangen  Abmahnen  des  Oheims,  in  der  Erinne- 
rung an  jenen  schrecklichen  Brand,  in  dem  Bilde  der  Bude  lie- 
gen schon  genug  Hindeutungen  auf  das  Folgende:  für  den 
Augenblick  wenig  beachtet,  gewinnt  das  in  die  Zukunft  vor- 
greifende Motiv  dadurch,  wenn  es  später  nun  wirklich  eintritt 
und  als  Folge  auf  jene  Ahnung  bezogen  wird. 

Gut,  dass  der  Leichtsinn  des  Menschen  Gef arte  ist !  Kaum 
ist  das  Tor  den  Reitern  im  Rücken,  so  verscheucht  der  lieb- 
liche Anblick  der  Natur  die  sorgenvollen  Gedanken;  die  Mena- 
gerie ist   vergessen.      Unter   heiteren    Gesprächen,    aufgeräumt 


394  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman. 

durch  die  ihrem  Inneren  entsprechende  Natur,  reiten  sie  am 
Laufe  des  Flusses  hinan.  Auch  sein  Name  wird  nicht  genannt; 
es  heisst  blos,  dass  er  nach  und  nach  als  grösster  Strom  seinen 
Namen  behalten  und  ferne  Länder  beleben  solle.  Auf  einem 
freieren  Standpunkte  angelangt,  ebenda  wo  kurz  vorher  der 
Fürst,  wie  seine  Frau  zu  erkennen  glaubte,  noch  einmal  sich 
nach  ihr  umgeschaut  hatte,  machen  sie  Halt  und  geniessen 
gleichfalls  das  schöne  Schauspiel  der  Fernsicht.  Erst  jetzt 
hören  wir  näheres  über  die  Lage  der  Stadt  und  über  den  zu- 
rückgelegten Weg:  die  Stadt  lag  teils  hoch,  teils  tief,  leichte 
Rauchwolken  erhoben  sich  über  ihr,  das  Schloss  war  glänzend 
von  der  Morgensonne  beschienen,  die  den  Herbstnebel  indes 
überwältigt  hatte ;  Mühlen  schaute  man,  die  am  Ufer  des  Flus- 
ses entlang  lagen.  So  überblicken  wir  die  Oertlichkeit  erst  all- 
mählich, und  zwar  immer  aus  der  Entfernung :  während  vorhin 
vom  Schlosse  aus  das  Gebirge  bis  zum  Stammschlosse  über- 
schaut wurde,  wird  jetzt  der  umgekehrte  Blick  gewonnen.  — 
Sie  reiten  weiter  hinan  und  kommen  an  den  Fuss  der  grünum- 
kränzten Felsenburg,  und  zwar  an  die  steilste  Seite  derselben. 
Gerade  dies  reizt  den  kecken  Mut  der  Fürstin ;  hier  soll  auf 
einen  Felsenvorsprung  geklettert  werden,  während  die  Pferde 
unter  den  Bäumen  halten  sollen.  Die  Sonne  steht  gerade  am 
höchsten  und  verleiht  die  klarste  Beleuchtung ;  das  Schloss,  die 
obere  und  untere  Stadt,  die  Buden,  die  Gegend  diesseit  und 
jenseit  der  Stadt  sind  durchs  Fernrohr  deutlich  zu  erkennen. 
Heitere  Mittagsstille  ruht  über  dem  Ganzen.  —  Warum  machen 
sie  aber  gerade  hier  Halt?  Erstens  ist  die  Burgruine  durch 
die  Vorlegeblätter  und  die  daran  geknüpfte  Interpretation  hin- 
länglich beschrieben,  so  dass  ein  Durchgehen  der  einzelnen 
liäume  unnütz  wäre;  ferner  will  ja  überhaupt  der  Oheim  ihr 
dieselben  nicht  eher  zeigen,  bevor  alle  Reparaturen  beendet 
sind.  Nun  lässt  sich  nicht  annehmen,  dass  die  lebhafte  Frau 
ihren  vorhin  so  energisch  geäusserten  Wunsch  ohne  alle  Ur- 
sache aufgegeben  habe.  Sie  hat  also  das  Endziel  noch  vor  sich, 
Göthe  lässt  sie  aber  hier  halten,  angeblich  der  Aussicht  halber, 
in  der  Tat,  damit  des  Oheims  Verbot  gewahrt  bleibe ;  das  nächst- 
folgende Ereignis  hindert  dann  die  Erfüllung  des  Vorhabens. 
Bis  jetzt  traten  der  Oheim  und  die  Fürstin  in  den  Vordergrund, 


ö 


Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman.  395 

Honorio  war  Nebenperson ;  jetzt  tritt,  damit  das  Interesse  gleich- 
massig  verteilt  werde ,  dieser  Page  in  den  Vordergrund.  — 
Eben  macht  die  Fürstin  die  Bemerkung,  „das  friedHche  Leben 
der  Natur  mache  den  Eindruck,  als  ob  gar  nichts  widerwärtiges 
in  der  Welt  sein  könne,"  da  ruft  Honorio,  der  durchs  Fernrohr 
nach  der  Stadt  sieht:  „Seht  hin!  auf  dem  Markte  fängt  es  an 
zu  brennen."  Man  sah,  wie  der  leichte  Eauch  plötzlich  in 
dicken  Dampf  sich  verwandelte,  und  rote  Flammen  hervor- 
brachen. Aus  dem  Herabsteigen  der  drei  Personen  sehen  wir, 
dass  sie,  was  vorhin  nicht  erwänt  war,  auf  jenen  Vorsprung 
o-eklettert  sind.  Der  Oheim  soll  mit  dem  Reitknecht  rasch  vor- 
aneilen,  die  Fürstin  will  mit  Honorio  langsamer  folgen.  Die- 
ser, indes  ruhiger  geworden,  warnt  die  Fürstin  vor  allzu  raschem 
Eeiten;  doch  diese,  jetzt  nur  allzusehr  die  oft  gehörte  Erzäh- 
lung vor  Augen  habend,  eilt  schnell  über  den  steinigen  Ab- 
hang. —  Waren  wir  durch  die  obige  Andeutung  schon  gespannt, 
den  Hergang  jenes  Brandes  genau  zu  erfahren,  so  erfolgt  jetzt 
als  rückgreifendes  Motiv  die  ebenso  fesselnde  als  frische  Be- 
Schreibung  desselben,  die  den  Leser  einerseits  auf  das  folgende 
Schrecknis  vorbereitet,  andererseits  einige  Zeit  lässt  für  die 
Annäherung  desselben.  Herrlich  ist  am  Schlüsse  des  Abschnitts 
der  Contrast:  die  eben  noch  heitere  Natur  erscheint  umnebelt 
und  verdüstert;  das  anmutige  Wiesental,  der  freundUche  Wald 
haben  einen  wunderbaren  bänglichen  Anschein. 

Eben  sind  sie  an  der  oben  schon  genannten  Quelle  vorüber- 
geeilt, als  von  unten  herauf  der  Tiger  heranspringt,  den  die 
Fürstin  bei  ihrer  Rückkehr  im  Käfig  hat  schauen  wollen.  Herr- 
lich ist  die  Form  der  folgenden  Schilderung,  wie  die  Fürstin 
denselben  Weg  zurücksprengt,  Honorio  mit  dem  ersten  Schusse 
fehlt,  dann  nachsprengt  und  mit  der  Pistole  das  Tier  durch  den 
Kopf  schiesst,  wie  es  eben  die  vom  Pferde  gestürzte,  aber 
schon  wieder  stehende  Frau  erreicht.  An  dieser  Stelle  lernen 
wir  passend  den  Jünghng  näher  kennen,  indem  hier  die  Schilde- 
rung an  die  eben  bewiesene  Geschicklichkeit  anknüpft.  Im  fol- 
genden tritt  er  etw^as  keck  und  leichtsinnig  auf,  so  dass  die 
fromme  Fürstin  ihm  dies  verweist.  Der  Page  benutzt  sein 
Knieen,  um  sich  eine  Gnade  zu  erbitten;  er  will  Urlaub  zu 
einer  grösseren  Reise  haben,   um  die  Welt  kennen   zu  lernen. 


396  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman. 

Ist  wirklich  dies  die  Veranlassung  seiner  Bitte  oder  ist  es  das 
Bestreben,  die  in  ihm  aufkeimende  Liebe  zur  Fürstin  durch 
andere  Eindrücke  zu  ersticken?  Ich  glaube  das  letztere.  Die 
Fürstin  sagt  ihm  die  Erfüllung  seiner  Bitte  zu,  und  zwar  bal- 
digst. Warum  zieht  in  diesem  Augenblick  Trauer  über  das 
Antlitz  des  Jünglings?  Bewirkt  dies  die  Sehnsucht  in  die 
Ferne,  gemischt  mit  der  Liebe  zur  Heimat  und  seiner  näch- 
sten Umgebung?  Einer  weiteren  Gefühlsäusserung  überhebt 
ihn  der  Schriftsteller,  indem  plötzlich  die  Wärterin  des  Tie- 
res und  ihr  Knabe,  welcher  die  Flöte  hält,  heranlaufen  und 
weinend  über  den  Leichnam  herstürzen.  Man  möchte  hier 
die  Frage  einwerfen:  woher  kommt  es,  dass  der  Oheim  und 
der  Reitknecht  dem  Tiere  nicht  begcegnet  sind,  da  sie  doch 
jedenfalls  denselben  Weg  einschlugen?  Doch  lässt  sich  darauf 
erwidern,  dass  der  Autor  nicht  über  jede  Möglichkeit  uns  Aus- 
kunft zu  erteilen  braucht. 

Es  folgt  das  Klagelied  der  Wärterin,  das  in  seiner  rühren- 
den Einfachheit  und  in  seinen  Gegensätzen  an  alttestaraentliche 
Sprache  erinnert.  Jetzt  sprengt  der  Jagdzug  heran,  der  gleich- 
falls das  Feuer  gemerkt  hat  und  dem  Rauche  zugeeilt  ist.  Erst 
sprachloses  Entsetzen,  dann  kurze  Erzählung  des  Geschehenen. 
Da  tritt  der  Wärter  des  Tieres  heran  und  bittet  um  Schonung 
für  den  Löwen,  der  ebenfalls  im  Gebirge  schweife.  Nachdem 
die  nötigen  Anordnungen  vom  Fürsten  getroffen  sind,  dessen 
militärische  Erfahrungen  und  Kaltblütigkeit  in  Gefahren  geprie- 
sen werden,  erzählt  der  Wärter,  naturgemäss  in  kurzen  drän- 
genden Sätzen,  warum  sie,  erschreckt  durch  das  Auffliegen  eines 
Pulverschlags,  die  Tiere  losgelassen.  In  diesem  Moment  er- 
scheint der  Wächter  der  Ruine  und  meldet,  der  Löwe  habe 
sich  am  Gemäuer  gelagert.  Die  Frau  und  das  Kind  erbieten 
sich,  denselben  zu  zähmen,  bis  der  Kasten  für  ihn  herangeholt 
sei;  Honorio  erhält  den  Auftrag,  den  einzigen  Hohlweg  zu  be- 
setzen, der  zur  Burg  hinanführe.  Nun  tritt  der  Wärter  nebst 
Frau  und  Kind  in  den  Vordergrund  der  Handlung.  Der 
Knabe,  die  Flöte  in  rührend  einfacher  Weise  spielend,  rückt 
den  Berg  hinan.  Unterdessen  hält  der  Wärter  „mit  anständi- 
gem Enthusiasmus"  eine  lange  Rede  über  die  Pracht  der  Schö- 
pfung und   die  Werke  [des    Herrn ,    in    bilderreicher   Sprache ; 


Die  deutsche  Novelle  und  dei-  deutsche  Roman.  397 

eine  genaue  Anschauung  der  Natur  prägt  sich  darin  aus.  Der 
Schluss  sagt,  dass  der  Mensch  auch  den  Löwen  zu  zähmen 
verstehe  ;  dabei  wird  auf  Daniel  in  der  Löwengrube  hingedeu- 
tet. Was  soll  diese  Rede?  Die  Kraft  des  Menschen  verherr- 
lichen? Mir  scheint  sie  für  den  Stand  eines  Wärters  zu  hoch 
gehalten.  Nachdem  zwei  )Strophen  vom  Knaben  allein,  die  dritte 
von  allen  dreien  o-esungen  sind,  herrscht  allgemeine  Rührungr. 
Der  Fürst  hält  seine  Gattin,  die  sich  fest  an  ihn  lehnt  und  mit 
einem  Tüchlein  ihre  Tränen  verbirgt;  sie  fühlt  die  jugendliche 
Brust  von  dem  Druck  erleichtert,  mit  dem  die  vorhergehenden 
Minuten  sie  belastet  haben.  Nachdem  die  Wärterin  nochmals 
versichert  hat,  sie  werde  den  Löwen  beruhigen,  reitet  der  Fürst 
mit  Frau  und  Gefolge  nach  der  Stadt  zurück. 

Älutter  und  Kind  fliegen,  vom  Wärtel  geleitet,  den  Berg 
hinan.  Die  Frau  bittet  den  tief  in  Gedanken  versunkenen  Ho- 
norio,  das  Feuer  im  Hohlweg  nicht  anzünden  zu  lassen:  er 
hört  nicht.  Unverwandt  schaut  er  nach  Abend,  wo  eben  die 
Sonne  sich  zu  neigen  beginnt.  Da  ruft  sie  ihm  zu:  Eile  nur 
hin,  du  wirst  überwinden ;  aber  zuerst  überwinde  dich  „selbst!" 
—  Ist  sie  eine  Zigeunerin,  dass  sie  zu  merken  vorgibt,  was  im 
Herzen  des  jungen  Mannes  vorgeht,  und  ihn  tröstend  zu  er- 
mutigen sucht?  Ihre  äussere  Erscheinung  wenigstens  und  die 
Kenntnis  der  Eigenschaften  der  Tiere  lassen  sie  als  ein  ausser- 
gewöhnliches  Weib  erscheinen.  Zu  beachten  ist  ferner  die 
Harmonie,  Avelche  zwischen  der  Stimmung  der  Handlung  und 
zwischen  der  Tageszeit  stattfindet.  Die  nach  dem  Nebel  sich 
öffnende  Aussicht  auf  einen  heiteren  und  schönen  Tag  entspricht 
der  hoffnungsvollen  und  freudig  erregten  Stimmung  am  Morgen; 
die  drückende  Mittagshitze  und  die  verdüsterte  Luft  stehen  par- 
allel dem  Brande  in  der  Stadt  und  dem  Kampfe  vor  der  Burg; 
die  in  goldigem  Rot  untergehende  Sonne  deutet  auf  die  Be- 
ruhigung und  stille  Verklärung  nach  dem  Sturme.  —  Wärtel 
und  Mutter  warten  oben,  Avährend  der  Knabe  hinter  der  Mauer 
verschwindet;  das  Flötenspiel  verstummt.  Nach  einer  für  den 
Wärtel  peinlichen  Pause  tritt  er  wieder  hervor,  der  Löwe  lang- 
sam und  müde  hinter  ihm  her.  Bei  einer  Lücke  in  den  Ruinen 
setzt  er  sich  und  beginnt  das  beschwichtigende  Lied  von  neuem. 
Der  Löwe  reicht  dem  Kind  seine  Tatze ;  dieses  sieht  darin  einen 


398  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman. 

scharfen  Dorn,  zieht  ihn  heraus  und  verbindet  die  Wunde.  Der 
Löwe  erscheint  dankbar,  freundlich,  beruhigt.  Das  Kind  flötet 
und  singt  die  Schlussstrophe: 

Und  so  geht  mit  guten  Kindern 

Seliger  Engel  gern   zu  Rat, 

Böses  Wollen  zu  verhindern, 

Zu  befördern  schöne  Tat. 

So  beschwören,  fest  zu  bannen 

Liebem  Sohn  ans  zarte  Knie, 

Ihn,  des  "Waldes  Hochtyrannen,  ^ 

Frommer  Sinn  und  Melodie. 

Hiermit  schliesst  die  Novelle,  ohne  dass  wir  erfahren,  wie 
das  Tier  wieder  eingefangen ,.  wie  es  Honorio  weiter  ergangen 
sei,  ob  er  seinen  Urlaub  erhalten,  wie  es  in  der  Stadt  ausge- 
sehen habe.  Doch  ist  der  Abschluss  in  anderer  Weise  erreicht. 
Erstens  tritt  der  Fürst  mit  der  Fürstin  ab,  die  im  Innern  beruhigt 
und  still  gerührt  ist;  der  über  ihr  Bündnis  ausgegossene  Friede 
bleibt  ungetrübt.  Dann  verlassen  wir  den  schwermütio^  lächelnden 
Honorio  in  einer  warhaft  maleriscen  Beleuchtung:  „eine  röt- 
liche Sonne  überschien  sein  Gesicht;  sie  glaubte  nie  einen  schö- 
neren Jüngling  gesehen  zu  haben."  „Wir  sind  sicher,  dass  auch 
er  überwinden  und  ein  neues  Leben  beginnen  werde,  wir  ver- 
lassen ferner  das  Kind  und  den  Löwen,  wie  sie  friedlich-idyl- 
lisch neben  einander  ruhen;  keine  Gefahr  ist  mehr  vorhanden. 
Fragen  wir  nach  ähnlichen  Zügen,  die  Göthe  als  Vorbild  könn- 
ten gedient  haben,  so  fällt  uns  sogleich  die  Geschichte  von  An- 
droclus  und  dem  "Löwen  ein,  welche  Gellius  überliefert  hat. 
Die  stumme  Beziehung  zwischen  Junker  und  Fürstin  erinnert 
an  die  in  mittelalterHchen  Ritterzeiten  häufig  vorkommende  Sage 
(nur  dass  sie  darin  bestimmter  ausgeprägt  zu  einem  tragischen 
Ende  fülirt),  welche  am  deutlichsten  sich  um  die  Burg  Kynast 
im  Hirschberger  Tale  rankt:  vom  Edelknaben  und  der  schö- 
nen Herzogin  von  Liegnitz.  Jener,  in  diese  verliebt,  leert  auf 
der  Turmzinne  einen  Becher  auf  das  Wol  seiner  Herzensköni- 
gin und  besiegelt  dann,  ihren  Namen  nennend,  seine  Liebesglut 
durch  den  grausigen  Sprung  in  die  Tiefe. 

Ueberblicken  wir  noch  einmal  die  Novelle!  Da  ist  keine 
verwickelte  Knoten  Schürzung,  ~-  einfach  und  ohne  Hindernis 
wickeln  sich  die  Ereignisse  ab;   keine  Masse  auftretender  Per- 


Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman.  399 

sonen,  —  sondern  wenige,  doch  scharf  gezeichnete;  keine  gross- 
artige Handlung  mit  grossen  Zwecken,  —  die  Heldentat  eines 
einfachen  Junkers,  durch  den  Zufall  hervorgerufen;  kein  Ver- 
heren  und  Finden,  kein  Hoffen  und  Lieben,  —  einfach  verstän- 
diges Gefühl,  liebende  Verhältnisse  zwischen  Mann  und  Weib, 
Kind  und  Tier.  Auch  finden  wir  nichts  Unerwartetes  in  der 
Entwickelung,  was  etliche  fälschlich  als  Charakteristicum  der 
Novelle  annehmen,  sondern  der  Verlauf  ist  ein  ganz  natürlicher, 
schon  im  voraus  angedeuteter.  Die  Zeit  beansprucht  als  Rah- 
men der  Handlung  einen  Tag  vom  Nebelgrauen  des  Morgens 
bis  zum  Untergang  der  Sonne;  ebenso  ist  der  Schauplatz  ein 
einheitlicher,  leicht  zu  überschauender,  da  wir  vom  Schlosse 
aus  die  Stammburg,  von  dieser  aus  das  Schloss  im  Gesicht 
behalten,  und  wenn  der  Fürst  auch  weit  hinten  in  den  Wäl- 
dern schweift,  so  wird  uns  dies  doch  blos  erzählt.  Mit  diesen 
Punkten  sind  überhaupt  die  Merkmale  der  Novelle  gegeben. 


Die  Wahlverwandtschaften. 

Der  berühmteste  Eoman  Göthe's,  der  die  vielseitio;sten  Be- 
urteilungen  erfahren  hat,  sind  die  Wahlverwandtschaften,  welche 
in  zwei  Teilen  ä  18  Capitel  erschienen  sind.  Die  zwei  ersten 
Capitel  bilden  die  Grundlage  des  Ganzen,  die  Exposition,  auf 
welcher  die  übrige  Erzählung  fusst.  Wir  lernen  einen  reichen 
Baron  in  besten  Mannesjahren  und  seine  ebenso  alte  Frau  ken- 
nen, Eduard  und  Charlotte,  die,  nachdem  ihre  Jugendliebe  ge- 
löst war  und  sie  andere  Ehe  eingegangen  hatten ,  durch  Zufall 
beide  wieder  frei  wurden  und  nun,  frei  von  stürmischer  Jugend- 
liebe,  verständig  neben  eihander  das  Leben  geniessen.  Dass 
sie  erst  seit  kurzem  verheiratet,  zeigen  Charlotten's  Worte: 
„ich  habe  mir  aus  allem  diesem  den  ersten  warhaft  fröhlichen 
Sommer  zusammengebaut,  den  ich  in  meinem  Leben  zu  genies- 
sen gedachte."  Von  dem  früheren  Leben  der  beiden  erfahren 
wir  durch  nachträgliche  Notizen  das  nötige.  So  erzählt  uns 
Ch.  selbst  ihre  frühere  Heirat,  ihre  nachmalige  Verbindung,  die 
Entfernung  ihrer  Tochter  Luciane  und  ihrer  Nichte  Ottilie  in 
eine  Pension,  die  Teilung  der  häuslichen  Arbeit.     Ferner  lernen 


400  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman. 

wir  aus  Ch.  Munde  das  Wesen  der  beiden  Pensionärinnen  ge- 
nau kennen  :  Luciane  ist  die  gewandte  Salondame,  für  Sprechen 
und  Musik  sehr  begabt,  gewandt  im  Umgang,  die  erste  in  ihrem 
Kreise;  wenn  auch  Ottilien's  Natur  noch  nicht  geschildert  wird, 
80  können  wir  doch  so  viel  schliessen,  dass  alles  eben  Genannte 
ihr  fehlt.  Ferner  hören  wir  etwas  von  Eduard's  fürsorgender, 
ängstlicher  Mutter.  E.  wird  geschildert  als  edel  und  gut,  als 
lebhaft  und  vieles  wollend ;  Ch.  als  ruhig,  verständig,  klug  über- 
schauend, sie  kennt  den  Charakter  ihres  Gatten  und  weiss  sich 
in  ihn  zu  finden;  gesellschaftsliebend,  so  viel  eben  nötig  ist, 
weiss  sie  das  gemütliche  Stillleben  recht  wol  zu  schätzen.  Hier- 
mit haben  wir  vier  Hauptpersonen  kennen  gelernt ,  doch  nicht 
alle;  denn  noch  treten  auf  als  abwesend  der  Hauptmann,  als 
anwesend  der  sogenannte  Mittler.  Von  beiden  werden  wir 
gleich  hören. 

Der  Anfang  ist  rein  idyllisch.  E.,  im  Park  spazieren- 
gehend, findet  Ch.  in  der  Mooshütte,  von  welcher  aus  ihre  unten 
angelegten  Schöpfungen  leicht  zu  übersehen  sind.  Der  Mann 
gesteht  ihr,  er  habe  schon  lange  einen  Wunsch  auf  dem  Her- 
zen :  er  wolle  den  Hauptmann,  seinen  alten  Freund,  der  unver- 
schuldet in  drückende  Verhältnisse  gekommen  sei,  zu  sich 
nehmen.  Ch.  rät  ab,  weil  ein  dritter  zwischen  zweien  leicht 
Unfrieden  stifte  und  weil  ihr  nichts  gutes  ahne.  E.  setzt  aus- 
einander, wie  viel  jener  ihm  nützen  könne ;  sie  schildert  die 
friedliche  Einsamkeit,  in  welcher  sie  jetzt  lebten,  die  aber  dann 
würde  gestört  werden.  Verdriesslich  will  E.  abschreiben,  da 
bringt  am  nächsten  Tage  die  Frau  das  Gespräch  von  neuem 
auf  den  Gegenstand  und  äussert  den  Wunsch,  Ottilien  ihrer 
peinlichen  Lage  in  der  Pension  zu  entreissen  und  zu  sich  zu 
nehmen.  In  diesem  Augenblick  wird  Mittler  angemeldet,  der 
seltsamste  aller  Menschen.  Früher  Geistlicher,  dann  Gutsbe- 
sitzer, fühlt  er  den  Beruf,  überall  vermittelnd  und  friedenstiftend 
aufzutreten ;  deshalb  verweilt  er  auch  blos  da,  wo  es  Uneinig- 
keit gibt.  Wie  ihm  die  Ehegatten  die  Sache,  um  die  es  sich 
handelt,  vortrugen,  ging  er  ärgerlich  weg,  stellte  aber  seine 
Dienste  für  später  etwa  vorkommende  Fälle  bereitwillig  in  Aus- 
sicht. Also  der  Hauptmann,  den  Ch.  schon  von  früher  her 
kennt,   wird  eingeladen,   und   das   musikalische  Duett,    welches 


Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman.  401 

Abends  stattfindet,  bringt  die  Gemüter  vollends  ins  richtjge 
Gleichgewicht. 

So  haben  wir  in  dem  harmonisch  sich  abrundenden  Ab- 
schnitt die  Grundlage  des  Ganzen.  Gab  uns  derselbe  einer- 
seits einen  Einblick  in  das  frühere  Leben  der  Hauptpersonen 
und  in  die  Gegenwart,  so  öffnete  es  auch  schon  den  Ausblick 
in  zukünftige,  bereits  geahnte  Verwickelungen;  unser  Interesse 
für  den  dritten,  der  in  den  Bund  so.  aufgenommen  werden,  ist 
lebhaft  erwacht.  Die  Zeit  der  Handlung  ist,  wie  gleich  zu 
Anfang  steht,  der  Aprilmonat,  der  Schauplatz  Eduards  Gut. 
Er  weiss  es  nicht,  wol  aber  der  Hauptmann,  dass  Ch.  einst 
wünschte,  jenem  Ottilie  zuzuführen;  nur  die  heissen  Wünsche 
des  lebhaften  Anbeters  hatten  sie  dazu  bestimmt,  ihm  selbst 
die  Hand  zu  reichen. 

So  stehen  die  Dinge,  als  der  Hauptmann  kömmt;  er  zeigt 
sich  welterfahren,  gewandt  und  dabei  bescheiden,  so  dass  Ch. 
völlig  beruhigt  ist.  Abends  führt  man  den  Gast  in  den  neuen 
Schöpfungen  umher  und  geuiesst  von  der  Höhe  die  Aussicht 
bis  zu  der  im  Grund  versteckten  Mühle,  die  mit  ihren  Um- 
gebungen als  ein  freundliches  Ruheplätzchen  er- 
scheint. (Diese  Stelle  ist  zu  beachten;  denn  nichts  ist  un- 
bedeutend bei  unserem  Schriftsteller,  eine  nebensächliche  Be- 
stimmung wie  hier  hat  Bezug  auf  Späteres.)  Die  beiden 
Freunde  machen  sich  ans  Vermessen  des  Gutes,  wobei  Char- 
lottens  Einrichtungen  vom  Hauptmann  kritisirt  werden ;  Eduard 
teilt  dieselben  später  seiner  Frau  mit.  Scherzend  widerspricht 
sie  erst,  verspricht  aber  dann,  die  Sache  zu  bedenken.  Da 
die  Freunde  meist  im  Freien  sich  bewegen,  so  sehnt  sich  Ch. 
nach  Ottilien  und  unterhält  mit  ihr  und  der  Pension  einen  leb- 
haften Briefwechsel.  Die  Vorsteherin  hat  nur  zu  tadeln,  da- 
gegen ein  männlicher  Gehülfe  am  Institut  urteilt  richtiger  über 
sie:  „Sie  trägt  verschlossene  Früchte,  die  sich  erst  später  ent- 
wickeln und  reifen  werden,  sie  schreitet  langsam  und  sicher 
vorwärts.  Sie  lernt  nicht  als  Schülerin,  sondern  als  künftige 
Lehrerin,  wenn  sie  auch  augenblicklich  hinter  ihren  Mitschüle- 
rinnen zurückbleibt.«  Ch.  merkte  recht  gut,  dass  unter  diesem 
wahren  und  offenen  Urteile  eine  mehr  als  gewöhnliche  Teilname 
zu  finden   sei;    denn   sie   verstand    sich  auf  die  Menschen.  — 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  XLVHI.  26 


402  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman. 

Einen  eio-entlichen  Fortschritt  sehen  wir  in  diesem  Kapite 
nicht:  nur  lernen  wir  das  Wesen  Ottiliens  und  den  Gehülfen, 
eine  ganz  neue  Person,  kennen. 

Die  Arbeiten  gehen  zur  Freude  aller  rüstig  fort,  und  na- 
mentlich Ch.  freut  sich  nicht  wenig,  dass  ihr  jetzt  durch  das 
Geschick  des  Freundes  mehr  als  früher  Gelegenheit  gegeben 
wird,  tätig  und  hülfreich  zu  sein.  Aus  solcher  Freude  entsteht 
oft  Hinneigung  zu  der  Person,  die  uns  dieselbe  verschafft. 
Abends  las  E.  gewöhnlich  vor ;  dabei  hatte  er  die  Manie,  sich 
nicht  ins  Buch  sehen  zu  lassen.  Wie  er  dies  einst  seiner  Frau 
in  ärgerlichem  Ton  verweist,  erkennen  wir  einen  neuen  Charak- 
terzug derselben;  sie  weiss  in  den  Cirkeln  jede  heftige  Aeusse- 
rung  zu  beseitigen,  jede  Unterredung  aufs  richtige  Maass  zu- 
rückzuführen. Wichtig  ist  die  daran  sich  knüpfende  Besprechung 
des  Begriffes  „AVahlverwandtschaften"  in  der  Natur;  denn  die- 
selbe weist  uns  sowol  auf  die  Veranlassung  zur  Benennung  des 
Romans,  als  auch  werden  wir  dadurch  vorbereitet  auf  die 
diesem  Naturgesetz  entsprechende  menschliche  Erscheinung,  die 
sich  bald  unter  unseren  drei  Personen  vorbereiten  wird,  dass 
nämlich  von  zwei  Stoffen,  die  bisher  in  innigster  Verbindung 
waren,  wenn  ein  dritter  hinzutritt,  der  eine  verwandte  sich  die- 
sem zugesellt  und  die  alte  Verbindung  aufgibt.  Charlotten  ge- 
fällt es  nicht,  dass  man  eine  menschliche  Ausdrucksweise  auf 
Naturstoffe  angewandt  habe  und  spricht  dieselbe  Befürchtung 
aus  wie  oben,  dass  ein  drittes  Element  den  Bund  zweier  leicht 
störe.  Im  Scherz  wird  ihr  geantwortet,  dann  müsse  ein  viertes 
eintreten  und  sich  mit  dem  nun  alleinstehenden  vereinigen. 
Dies  deutet  E.  auf  Ottillen,  die  nun  wirklich  gerufen  werden 
soll.  Dies  ist  der  einzige  Fortschritt  der  Handlung,  zugleich 
haben    wir   eine   wichtige  Andeutung  für   die  Zukunft  erhalten. 

Das  nächste  Kapitel  enthält  einen  Brief  der  Vorsteherin 
über  Luciane  und  einen  des  Gehülfen  über  Ottilie,  der  den  eben 
im  Scherz  gefassten  Entschluss ,  dieselbe  aus  der  Pension  zu 
nehmen ,  zur  Reife  und  sofortiger  Ausführung  bringt.  Der 
Gehülfe  schreibt  in  warmen,  ehrlichen  Worten  von  den  Demü- 
tigungen, die  das  Mädchen  ohne  ihr  Verschulden  beim  öffent- 
lichen Examen  erlitten  habe,  und  bezeugt  sein  Interesse  da- 
durch,  dass    er    auf  zwei    Eigenheiten    desselben    aufmerksam 


Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman.  403 

macht:  ^.erstens  werde  bei  jeder  unangenehmen  Erregung  ihre 
rechte  Wange  bleich  und  die  linke  für  einen  Augenblick  rot; 
zweitens  wenn  sie  etwas  ablehne,  mache  sie  eine  unwidersteh- 
liche Geberde,  indem  sie  die  flachen  Hände  zusammen  hebe 
und  dann  gegen  die  Brust  drücke,  mit  einem  bittenden  Blick." 
Wir  werden  im  folgenden  beide  Aeusserungen  kennen  lernen; 
sie  sind  mit  Absicht  hier  einstweilen  angedeutet. 

Ein  wesentlich  neues  Moment  tritt  in  die  Handlung  durch 
das  Erscheinen  Ottiliens;  bescheiden  und  emsig,  wie  sie  ist, 
wirkt  sie  sofort  ein  auf  die  Lebensverhältnisse  der  drei  und 
erweckt  für  sich  das  günstigste  Vorurteil.  E.  findet  etwas  an 
ihr,  was  sie  noch  gar  nicht  bewiesen  hat,  nämlich  Gabe  der 
Unterhaltung,  abends  kommen  er  und  der  Hauptmann  jetzt 
pünktlicher  und  bleiben  länger.  Ch.  sucht  dies  zu  erklären, 
vermag  aber  keinen  tieferen  Grund  zu  entdecken.  Die  Arbeiten 
der  beiden  Männer  gehen  rüstig  fort ;  neue  Projecte  zur  Ver- 
schönerung werden  gefasst;  Ch.,  praktisch  wie  immer,  verlangt 
Veranschlagung  derselben.  Da  sie  hierbei  viel  mit  dem  Plaupt- 
mann  zu  arbeiten  hat,  so  trifft  ein,  was  bei  gleichgesinnten 
Personen  häufig  vorkommt:  sie  werden  einander  unentbehrlich, 
und  Ch.  will  dem  Hauptmann  wirklich  wol;  während  sie  früher 
sich  heftig  darüber  ärgerte,  darf  er  jetzt  eine  ihrer  Anlagen 
zerstören,  ohne  dass  sie  die  mindeste  unangenehme  Empfindung 
dabei  fühlt.  So  hat  sich  denn  schon,  wenn  auch  nicht  ofien, 
die  Trennung  des  Ungleichartigen  und  das  Suchen  des  Gleich- 
artio;en  vollzogen. 

Zu  Anfang  des  nächsten  Abschnittes  tritt  ein  rein  äusser- 
licher  Gegensatz  zwischen  Mann  und  Frau  hervor ;  jener  kann 
die  Zugluft  nicht  leiden,  diese  liebt  sie.  Da  O.  sie  möglichst 
abzuhalten  sucht  und  in  allem  dienstfertig  gegen  ihn  ist,  so 
fühlt  er  sich  zu  ihr  hingezogen ;  sie  erzählen  sich  gern  von 
ihrer  Jugend.  Beiden  Männern  will  das  Arbeiten  nicht  recht 
mehr  gelingen,  beim  Spazirengehen  finden  sich  die  Paare  un- 
willkürlich zusammen.  So  eilen  E.  und  O.  einst  zu  jener  ver- 
steckten Mühle  voraus,  das  andere  Paar  folgt  langsamer.  E. 
bittet  O.  um  Entfernung  des  Miniaturbildes  ihres  Vaters  von 
der  Brust;  es  ist  ihm,  als  ob  durch  die  sofortige  Erfüllung 
dieser  Bitte  die  Scheidewand   zwischen  ihnen  gefallen  sei.     Zu 

26* 


404  Die  (kutsche  Novelle  unrl  der  deutsclie  Roman. 

Hause  wieder  angelangt,  freuen  sich  alle  über  den  angenehmen 
Spazirgang,  nur  soll  der  Weg  gerader  und  kürzer  gemacht 
werden.  Beim  Besprechen  des  Plans  verrät  sich  Eduards  Lei- 
denschaft :  er  findet  Ottiliens  Plan  wunderschön  und  durch- 
streicht die  saubere  Zeichnung  mit  derbem  Strich,  was  dem 
Hauptmann  sehr  misfällt.  —  Der  erste  Schritt  zum  Conflict 
der  Leidenschaften  ist  getan:  Eduard  und  Ottilie  haben  ein  Ge- 
heimnis mit  einander. 

Eduard's  Schritt  für  Schritt  wachsende  Neigung  bekundet 
sich  durch  neue  Aufmerksamkeiten;  er  kürzt  abends  die  Spa- 
zirgänge  ab  und  liest  dann  solche  Lieder  vor,  in  denen  sich 
eine  leidenschaftliche  Liebe  ausspricht.  Ferner  rückt  er  jetzt 
zu  ihr  hin ,  weil  sie  gern  ins  Buch  sieht.  Wie  ganz  anders 
früher!  Ch.  und  der  Hauptmann  sehen  es  und  lächeln  einan- 
der zu ;  also  haben  auch  sie  ein  stilles  Geheimnis.  Eines  Abends 
begleitet  O.  das  Flötenspiel  Eduard's  am  Ciavier  und  versteht 
ihm  dabei  besser  zu  folgen  als  Charlotte;  so  gut  hat  sie  sich 
eingeübt.  Wir  sehen  darin  die  still  aufkeimende  Neigung  Otti- 
liens, wie  auch  gleichzeitig  die  stetig  wachsende  des  anderen 
Paares;  denn  der  Hauptmann  sucht  Ch.  schon  auszuweichen, 
ein  Zeichen,  dass  er  etwas  für  sie  fühlt. 

An  Ch.  Geburtstag,  für  welchen  der  Hauptmann  vielfache 
Vorbereitungen  getroffen  hat,  findet  die  Legung  des  Grundsteins 
zu  einem  neuen  Hause  Statt;  unsere  vier  Personen  wohnen  der 
Feierlichkeit  bei.  Dabei  Avirft  O.  ihre  goldene  Kette,  an  welcher 
das  Medaillon  gehangen  hat,  zu  E.  Freude  mit  in  das  Loch, 
das  für  die  Aufnahme  solcher  Raritäten  bestimmt  ist.  Ein 
Fortschritt  der  Handlung  wird  in  Aussicht  gestellt  durch  die 
Ankündigung  des  für  morgen  kommenden  Besuches,  des  Grafen 
und  der  Baronesse,  deren  Leben  beschrieben  wird.  O.  erbietet 
sich ,  die  Abschrift  über  den  Vorwerksverkauf  anzufertigen. 
Am  nächsten  Morgen  erscheint  ungerufen  Mittler;  sowie  er  aber 
hört,  was  für  Besuch  eintreffen  werde,  eilt  er  entrüstet  fort, 
nachdem  er  offen  seinen  Abscheu  vor  den  beiden  und  seine 
düsteren  Ahnungen  ausgesprochen  hat.  So  sehen  wir  mit  Inter- 
esse, doch  auch  mit  banger  Ahnung  dem  Erscheinen  der  Gäste 
entgegen.  Warum,  so  könnte  man  fragen,  führt  GÖthe  diesel- 
ben überhaupt  ein?     Sie  sollen  meines  Erachtens  eine  Parallele 


Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman.  405 

för  das  noch  im  Entstehen  begriffene  Verhähnis  zwischen  E. 
und  O.  geben;  hier  wie  dort  ist  der  Mann  gebunden,  das  Weib 
frei.  Ferner  soll  ihr  Erscheinen  den  Anstoss  dazu  geben,  dass 
sich  die  Einzelnen  über  ihr  Verhältnis  völlig  klar  werden ;  denn 
bis  jetzt  leben  sie  noch  in  schuldiger  Unschuld  dahin. 

Die  Gäste  zeigen  sich  in  jeder  Hinsicht  als  gewandte  Welt- 
menschen, durchweg  fein  und  interessant.  Seltsam  fühlt  sich 
Ch.  berührt,  als  sie  bei  der  Frage  nach  einer  gemeinsamen 
Jugendfreundin  erfährt,  dieselbe  solle  ehestens  geschieden  wer- 
den. Darin  liegt  wieder  ein  hindeutendes,  vorbereitendes  Motiv. 
Unwillkürlich  drängt  sich  hier  die  Frage  auf:  warum  benutzt 
Göthe  in  seinen  Prosaerzählungen  meist  aristokratische  Gestal- 
ten? Ich  glaube,  nicht  blos  deshalb,  weil  er  selbst  in  solchem 
Sinne  dachte  und  lebte,  sondern  die  menschlichen  Verhältnisse 
sind  einmal  so  beschaffen,  dass  das  gemeine  Volk  zu  solchen 
wie  zu  höheren  hinaufsieht,  dieselben  also  ein  allgemeineres  In- 
teresse beanspruchen  können.  Ist  doch  seit  den  ältesten  Zeiten 
der  griechischen  Poesie  in  Epos  und  Drama  vorherrschend  von 
fürstlichen  Personen  die  ßede;  denn  sie  sind  es,  die  vermöge 
ihres  Einflusses  die  Geschichte  machen  und  die  Augen  der 
Menschen  auf  sich  kehren.  —  Das  Gespräch  geht  jetzt  über 
aufs  Gebiet  der  Ehe,  wobei  der  Graf,  erbittert  darüber,  dass 
die  Gerichte  seine  Ehe  nicht  trennen,  die  freisten  Ansichten 
über  dies  Institut  äussert;  Ch.  sucht  das  Gespräch  um  üttiliens 
willen  abzulenken,  doch  vergebens.  Der  Graf  macht  den  Vor- 
schlag, eine  Ehe  solle  blos  dann  unauflöslich  sein,  wenn  jemand 
sie  zum  dritten  Male  eingehe;  diesen  Fall  wendet  die  Baronesse 
scherzhaft  auf  unser  Ehepaar  an.  Dann  geht  das  Gespräch  zu 
Ch.  Freude  darauf  über,  wie  E.  und  Ch.  früher  das  schönste 
Paar  am  Hofe  gewesen  seien ;  die  Gäste  führen  dabei  fast  aus- 
schliesslich die  Unterhaltung.  Zuletzt  versteigt  sich  dabei  der 
Graf  zu  einer  argen  Blasphemie  der  Heiraten  überhaupt;  dann 
erst  gelingt  es  Charlotten,  die  Unterredung  auf  andere  Gegen- 
stände zu  lenken.  Sie  zeigt  durch  dies  wiederholte  Bestreben, 
dass  sie  einen  tief  innerlichen,  moralischen  Kern  besitze.  Um 
einen  guten  Schritt  rückt  die  Handlung  am  Schlüsse  des  Ka- 
pitels vorwärts,  insofern  als  das  eine  Verhältnis  zwischen  E. 
und  0.  der  Baronesse  durch  Gefühlsäusserungen  jener  klar  vor 


406  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Eoman. 

Augen  tritt,  so  dass  diese  aus  Neid  und  Aerger  über  das  män- 
nerbezaubernde Jüngferchen  beschliesst,  für  die  Entfernung 
Ottiliens  zu  sorgen;  doch  lässt  sie  von  diesem  Plane  nichts 
merken.  So  wissen  also  schon  dritte  Personen  von  dem  Ver- 
hältnis :  es  ist  ein  offenkundiges  geworden.  Auch  bei  Ch.  kommt 
die  bisher  still  genährte  Leidenschaft  zum  offenen  Durchbruch, 
wie  ihr  der  Graf  vorschlägt,  den  Hauptmann  zu  einem  seiner 
Bekannten  in  eine  sehr  günstige  Stellung  zu  bringen.  Unfähig, 
sich  länger  zu  beherrschen,  stürzt  sie  fort  in  die  Mooshütte, 
Tränen  machen  ihrem  gepressten  Herzen  Luft.  Von  diesem 
Verhältnis  merkt  am  Abend  selbst  die  Baronesse  nichts,  nur 
trennt  man  sich  ziemlich  verstimmt.  So  haben  also  die  beiden 
Gäste  Veranlassung  gegeben  zu  einer  freien,  nicht  mehr  zurück- 
haltenden Aeusserung  der  Gefühle ;  nur  ist  dieselbe  hier  schmerz- 
licher Art,  dort  freudig  angetan. 

Das  nächste  Kapitel  ist  eins  der  wichtigsten  im  ganzen 
Roman.  War  vorher  die  Trennung  noch  möglich,  weil  kein 
Kind  als  Pfand  der  Treue  vorhanden  war,  so  nimmt  die  fol- 
gende Nacht  durch  die  während  derselben  gepflanzte  Frucht 
auch  diese  Möo;lichkeit  we«;.  Allerdino;s  ist  der  Hero^ang  ein 
merkwürdiger.  Der  Graf,  von  E.  aufs  Zimmer  geleitet,  kömmt 
mit  diesem  auf  Charlottens  frühere  Schönheit  und  einen  gemein- 
sam ausgeübten  Jugendstreich  zu  sprechen  ;  dann  schleicht  er 
um  Mitternacht  zur  Baronesse.  E.,  der  ihn  begleitet,  sieht  sich 
vor  Ch.  Türe;  eine  sonderbare  Verwechselung  geht  in  seiner 
Seele  vor ;  er  klopft.  Sie,  die  eben  geweint  und  nur  an  Otto, 
so  heisst  der  Hauptmann  mit  Vornamen,  gedacht  hat,  wünscht 
einerseits  und  fürchtet  andererseits,  diesen  eintreten  zu  sehen. 
Beide  wissen  sich  jedoch  rasch  zu  sammeln  und  in  Scherz 
überzugehen;  er  glaubt  Ottilie,  sie  glaubt  Otto  im  Arme  zu 
haben,  cetera  quis  nescit  ?  Am  Morgen  schleicht  er  wie  ein 
Missetäter  davon,  er  glaubt  ein  Verbrechen  begangen  zu  haben. 
So  hat  denn  dieses  Kapitel  völlig  neue  Momente  in  die  Hand- 
lung hineingebracht ;  eine  ernste  Verwickelung  ist  vorhanden, 
ein  schwer  zu  lösender  Knoten  geknüpft.  Sonderbar  ist  mir 
bei  der  Unterredung  der  Wechsel  der  Anrede  vorgekommen: 
erst  sagt  der  Graf  „Du,"  K.  consequent  „Sie,"  dann  tut  letzte- 
res auch  der  Graf. 


Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman.  407 

Sehen  wir,  wie  sich  am  folgenden  Morgen ■"  die  Personen 
gegenübertreten !  Heiter  und  unbefangen  vermögen  dies  die  Gäste 
zu  tun;  denn  sie  haben  ihrer  Ueberzeugung  nach  etwas  ganz 
natürliches  verübt,  sich  von  neuem  ihrer  Liebe  versichert.  An- 
ders ist  es  mit  E.  und  Gh.;  da  jedes  von  ihnen  an  seiner  Liebe 
gesündiort  zu  haben  glaubt,  so  ist  ihr  Entgegentreten  ein  be- 
schärates  und  verlegenes.  Was  bisher  noch  still  im  Herzen  ge- 
schlummert und  höchstens  dritten  Personen  sich  verraten  hatte, 
das  tritt  nun  zu  voller  Klarheit  durch  die  offene  Kundgebung 
der  Liebenden.  O.  bringt  E.,  der  allein  im  Saale  verweilt,  die 
Abschrift,  an  der  sie  indessen  Tag  und  Nacht  gearbeitet  hat, 
und  o  Wunder !  wie  E.  dieselbe  durchblättert,  sieht  er,  dass 
auf  den  letzten  Seiten  seine  Handschrift  ganz  täuschend  nach- 
geahmt ist.  Da  kann  er  sich  nicht  länger  halten  :  beide  liegen 
sich  in  den  Armen  und  halten  einander  liebend  umschlungen. 
Jetzt  ruft  er,  das  gewohnte  „Sie"  verändernd:  „Du  liebst  mich! 
Ottilie!  Du  liebst  mich!"  Hiermit  ist  die  Schuld  begangen; 
sie  sündigt  einfach,  er  doppelt.  Die  anderen  beiden  kommen 
zu  früh,  obwol  es  schon  spät  Abend  ist.  Den  Abend  über  zeigt 
sich  E.  äusserst  nachsichtig  in  seinem  Urteil  über  die  wegge- 
fahrenen Gäste  und  überhaupt  heiter  angeregt.  Doch,  fragen 
wir,  wie  Ist  es  indessen  dem  Hauptmann  und  Ch.  ergangen? 
Um  nicht  unsere  Aufmerksamkeit  von  dem  ersten  Paar  ab- 
ziehen zu  müssen,  gebraucht  Göthe  den  geschickten  Kunstgriff, 
dass  er  Ch.  ihr  Zimmer  aufsuchen  und  das  vorgefallene  über- 
denken lässt.  So  erhält  er  Gelegenheit,  episodisch  dasselbe 
nachzuholen.  Auch  sie  haben  sich  gefunden  und  gesprochen. 
Wie  sie  auf  dem  Teiche  fahren,  läuft  der  Kahn  auf;  der  Haupt- 
mann muss  aussteigen  und  sie  ans  Land  tragen.  Wie  sie  an 
seinem  Halse  hangen  bleibt,  küsst  er  sie,  ruft  aber  auch  sofort 
auf  die  Kniee  fallend:  „Charlotte,  vergeben  Sie  mir?"  Also 
kein  süsses  „Du,"  keine  Liebes  Versicherungen,  kein  zärtliches 
Denken  in  die  Zukunft,  —  nein,  Zurückhaltung  selbst  in  dieser 
Aufwallung  der  Leidenschaft;  kurzes  Vergessen  ihrer  selbst, 
dafür  aber  auch  sofortiges  dauerndes  Erstarken  der  Willenskraft 
und  das  feste  gegenseitige  Versprechen,  sich  zu  trennen  und 
zu  beherrschen.  Wir  erkennen  die  strenge  Selbstbeherrschung 
und  eine  ernste  Auff'assung  des  Lebens.     So  ist  also  der  Con- 


408  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Koman, 

flict  in  der  ernstesten  Weise  da,  aber  auch  die  Lösung  dessel- 
ben scheinbar  angebahnt  und  leicht.  Sie  haben  sich  ausge- 
sprochen und  wollen  entsagen.  Welcher  Contrast  mit  gestern! 
Während  gestern  die  beiden  Gatten ,  einander  in  den  Armen 
liegend,  der  ehelichen  Zärtlichkeit  sich  erfreuten,  finden  sich 
einen  Tag  darauf  schon  beide  in  den  Armen  anderer  wieder, 
freilich  in  den  Armen  derer,  die  sie  gestern  zu  umfassen 
glaubten. 

Während  Ch.,  da  ihr  Gewissen  nach  dem  gefassten  Ent- 
schlüsse beruhigt  ist,  unter  heiteren  Ahnungen  einschlummert, 
treibt  sich  E.,  den  die  kochende  Leidenschaft  nicht  schlafen 
lässt,  ruhelos  in  Feld  und  Wald  umher.  Unruhig  wie  er  ist, 
findet  er  am  frühen  Morgen  alle  Arbeiter  zu  langsam,  keine 
Verschönerung  geht  ihm  rasch  genug  von  Statten,  alles  soll 
rasch  fertig  werden,  ohne  Rücksicht  auf  die  Kosten  —  nur  für 
Ottilie!  Wie  ganz  anders  verhält  sich  die  ruhige  Charlotte? 
Weit  entfernt  über  diese  Leidenschaft,  die  doch  im  Grunde  se- 
nommen  ihrem  Bedürfnisse  blos  entgegenkommt,  sich  zu  freuen, 
hofft  sie  vielmehr  auf  Dämpfung  derselben  und  wendet  Mittel 
an.  Doch  E.  merkt  die  Absicht  und  wird  verstimmt;  die  Folge 
ist,  dass  auch  O.  mehr  zu  ihm  hält  und  unbedachtsam  ihm  das 
harte  Urteil  des  Hauptmanns  über  seine  Flötendudelei  mitteilt. 
E.  fühlt  sich  furchtbar  verletzt;  denn  alles  andere  lässt  sich 
noch  verzeihen,  nur  nicht  der  Hohn  über  eine  Lieblingsneigung. 
Da  es  mündlich  nicht  mehr  angeht,  so  wird  ein  geheimer  Brief- 
wechsel zwischen  E.  und  O.  eingeführt.  Ln  folgenden  beachte 
man  die  Vorliebe  Göthe's  für  Zufall  und  Aberglauben!  Der 
Kammerdiener  versengt  den  ersten  Brief,  E.  fühlt  Gewissens- 
bisse ;  er  steckt  die  Antwort  Ottiliens  in  die  Tasche,  Ch.  gibt 
ihm  die  verlorene  ungelesen  wieder.  Eine  doppelte  Warnung, 
doch  E.  beachtet  sie  nicht.  Immer  mehr  verschliesst  er  sich 
gegen  Frau  und  Freund;  auch  zeigt  sich  E.  unedel  in  seiner 
Aeusserung  gegen  Ottilie,  Ch.  wünsche  selbst  eine  Scheidung, 
und  er  suche  dieselbe  nur  auf  anständige  Weise  zu  bewirken. 
Dabei  geht  das  Leben  in  der  alten  Weise  fort.  So  sehen  wir, 
dass  der  erste  Versuch  zur  Lösung  des  Conflicts  gescheitert  ist. 

Der  Hauptmann,  der  unterdessen  durch  Vermittlung  des 
Grafen    eine   Stelle  erhalten,    beschleunigt  die  Vorbereitungen 


Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman.  409 

und  Arbeiten,  die  nach  E.  Wunsche  zur  Verherrlichung  des 
Geburtstages  von  O.  dienen  sollen.  Ein  junger  verständiger 
Architekt  tritt  dem  Hauptmann  hülfreich  zur  Seite.  Reiche  Ge- 
schenke, ein  grossartiges  Feuerwerk,  Säuberung  des  Platzes 
unter  den  Platanen  werden  ins  Auge  gefasst:  O.  soll  glänzend 
gefeiert  werden.  Wieder  zeigt  sich  hier  die  Vorliebe  Göthc's 
fürs  ZufälHge,  die  hier  allerdings  ihren  tieferen  Sinn  hat,  darin, 
dass  E.  in  den  alten  Akten  findet:  der  Tag,  das  eTahr  jener 
Platanenpflanzung  sei  zugleich  der  Tag,  das  Jahr  von  Ottiliens 
Geburt. 

Die  Richtung  des  Hauses,  zu  dem  man  früher  den  Grund- 
stein gelegt,  erfolgt  an  ihrem  Geburtstag;  hinterher  ist  ein 
Tanz,  bei  welchem  E.  flott  mit  O.  tanzt ;  abends  soll  das  Feuer- 
werk bei  den  Platanen  abgebrannt  werden.  Bei  dem  Gedränge 
bricht  der  Damm  ein,  und  mehrere  Personen  stürzen  ins  Was- 
ser; der  Hauptmann  rettet  einen  Knaben,  der  als  todt  ins  Haus 
getragen  wird.  Hat  E.  anfangs  dem  Hauptmann,  der  das 
Feuerwerk  allein  besorgen  wollte,  scharf  erwidert,  so  tut  er  es 
jetzt  in  demselben  Tone  gegenüber  Charlotten,  die  das  Fest 
wegen  des  Zwischenfalls  eingestellt  Avissen  und  O.  mit  ins 
Haus  ziehen  will.  Also  die  erste  off^ene  Differenz  zwischen  den 
Gatten,  die  zeigt,  welche  Wand  sich  zwischen  beider  Herzen 
gelegt  hat.  E.  ist  so  liebetoll,  dass  er  weder  auf  die  Ermah- 
nung seiner  Frau,  noch  auf  das  Fortlaufen  der  sonst  schau- 
lustigen Menge,  noch  aufs  Anstandsgefühl  achtet;  das  Feuer- 
werk wird  abgebrannt,  während  er  mit  O.  unter  den  Platanen 
sitzend  zuschaut.  Durch  einen  einfachen  Zug  deutet  hier  Göthe 
den  Sinneswechsel  Eduard's  an,  ebenso  wie  vorher  bei  Charlotten. 
Er,  der  noch  kurz  zuvor  so  arg  über  die  Bettelei  schalt,  gibt 
jetzt  in  seinem  Liebesglück  demselben  ihn  ansprechenden  Bett- 
ler —  ein  Goldstück,  Am  Abend  teilt  der  Hauptmann  seinen 
Entschluss  zur  baldigen  Abreise  den  Freunden  mit;  ruhig  und 
gefasst,  im  Gegensatz  zur  früheren  Erregtheit,  hört  Ch.  es  an, 
erfreut  E.,  der  nun  hoff't,  der  Hauptmann  werde  bald  Ch.  hei- 
raten können  und  er  selbst  dann  am  Ziel  seiner  Wünsche 
stehen,  üeberrascht  ist  Ottilie,  wie  sie  in  ihrem  Schlafzimmer 
einen  Koffer,  mit  Geschenken  gefüllt,  vorfindet.  —  Auch  äusser- 
lich    vor  den  Leuten  ist  das   Band  zwischen  E.  und  Ch.  nun- 


410  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman. 

mehr  zerrissen,  weil  jener  heute  offenkundig  überall  O.  bevor- 
zuo-t  hat;  Ch.  auf  der  anderen  Seite  hofft  eine  bedeutende  und 
nicht  unglückliche  Zukunft,  zumal  der  Hauptmann  nun  bald 
scheidet. 

In  der  Nacht  verschwindet  derselbe  mit  Hinterlassung  eini- 
ger Dankeszeilen;  fein  gedacht  ist  es,  wenn  Göthe  auf  solche 
Weise  den  peinlichen  Abschied  uns  erspart.  Ch.  benutzt  dies 
Erei^cnis,  da  sie  ihrer  Liebe  entsagt  hat  und  völlig  rein  ihrem 
Gatten  entgegentreten  kann,  um  sich  mit  E.  ehrlich  auszu- 
sprechen. Da  E.  in  seinem  Schuldbewusstsein  der  aufrichtigen 
und  entschlossenen  Sprache  seiner  Gattin,  die  O.  Entfernung 
verlangt,  nicht  ebenso  entgegentreten  kann,  so  macht  er  unhalt- 
bare Ausflüchte  und  gibt  zuletzt  scheinbar  nach,  um  indes  auf 
Gegenmittel  zu  sinnen.  Ch.  steht  jetzt  bedeutend  hoher  in  un- 
seren Augen,  ihre  Willenskraft  und  klare  Auffassung  der  Dinge 
flössen  uns  Bewunderung  lür  sie  ein.  So  ist  der  Conflict  zu 
einer  offenen  Besprechung  zwischen  den  Hauptbeteiligten  vor- 
gerückt, ohne  aber  damit  seiner  Lösung  irgend  wie  näher  ge- 
kommen zu  sein ;  im  Gegenteil  die  Verwickelung  wird  schlim- 
mer, indem  E.  seiner  Frau  schriftlich  den  Entschluss  mitteilt, 
selbst  das  Haus  auf  unbestimmte  Zeit  meiden  zu  wollen,  nur 
damit  O.  bleiben  könne.  Am  Schlüsse  sehen  wir  den  Bettler 
zum  letzten  Male  auftreten;  E.  erblickt  ihn,  wie  er  in  der  Laube 
des  Wirtshauses  vom  gestrigen  Almosen  ein  reichliches  Mit- 
tagsmahl  zu  sich  nimmt;  er  vergleicht  sich  mit  ihm  und  rauss 
ihn  beneiden. 

Am  JMittag  fehlt  E.,  den  O.  hat  wegreiten  sehen,  zur  Be- 
stürzung derselben,  auch  die  folgenden  Tage;  der  Kammerdie- 
ner sucht  vergebens  sie  zu  sprechen  und  aufzuklären.  Erst 
allmählich  Avird  sie  ruhiger,  aber  nicht  ergeben  in  ihr  Schicksal. 
Ch.  sucht  sie  zu  beschäftigen  und  spricht  von  der  nahe  bevor- 
stehenden Heirat  des  Hauptmanns,  scheinbar  ohne  Absicht;  O. 
wird  aufmerksam  auf  diese  Aeusserungen,  scharfsinnig,  arg- 
wöhnisch, sie  entfernt  sich  innerlich  von  Ch.,  M'eil  sie  ihr  nicht 
traut.  Wie  der  Architekt  eine  Knabenschule  zur  Reinigung  des 
Parks,  so  richtet  O.  (blos  in  dem  Wunsche,  den  zurückkeh- 
renden E.  damit  zu  erfreuen,  auf  den  heimlich  ihr  ganzes  Sin- 
nen  gerichtet   ist)    eine  Mädchenschule  ein;   dabei   gewinnt    sie 


Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman.  411 

ein  junges  Mädchen,  Nanny,  besonders  lieb.  Ch.  hält  O.  für 
beruhigt;  doch  diese  hat  nicht  im  mindesten  entsagt,  sondern 
hofft  stets  auf  E.  Rückkehr.  Nachts  nimmt  sie  —  und  darin 
spricht  sich  eine  recht  kindliche  Naivetät  aus  —  die  Geburts- 
tagsgeschenke heraus  und  mustert  sie,  das  macht  ihr  Freude. 
Einen  Fortschritt  bringt  dieses  Capitel  nicht,  blos  die  Aussicht, 
dass  an  eine  Lösung  des  Conflicts  vorerst  gar  nicht  zu  denken 
ist;  E.  Entfernung  macht  das  Uebel  nur  schlimmer.  Uebri- 
gens  entspricht  die  beim  nahenden  Herbst  absterbende  Natur 
der  Stimmung  der  Personen. 

Zum  dritten  Male  in  diesem  Teile  erscheint  Mittler.  Kaum 
hat  er  vom  Schicksal  der  Freunde  Kunde  erhalten,  so  sucht  er 
E.  auf  und  findet  ihn  auf  einem  abgelegenen  Vorwerk  in  lieb- 
licher Gegend.  Allmählich  macht  ihn  E.  zum  Vertrauten  und 
schildert  ihm  in  leidenschaftlichen  Ergüssen  seine  Träumereien 
an  O.,  seine  Sehnsucht,  seine  Hoffnungen.  Mittler  macht  ihm 
Vorwürfe  und  hält  moralische  Predigten  des  Inhalts,  er  solle 
sich  ermannen.  E.  wird  bitter  und  glaubt  sich  verkannt;  zu- 
letzt verlangt  er,  Mittler  solle  zu  Ch.  hingehen  und  eine  Schei- 
dung erwirken.  Jenes  Glas,  mit  den  Anfangsbuchstaben  E.  und 
O.  geziert,  das  beim  Kichtfeste  in  die  Höhe  geworfen  und  auf- 
gefangen worden  war,  hat  E.  gekauft  und  schöpft  aus  diesem 
zufälligen  Umstände  Hoffnung.  Diesen  Aberglauben  verweist 
ihm  Mittler  mit  scharfen  Worten  und  eilt  zu  Charlotten.  Ruhig 
empfängt  ihn  diese,  teilt  ihm  das  Vorgefallene  mit  und  hofft 
für  sich  das  beste,  da  sie  guter  Hoffnung  sei.  Dies  Argument 
ist  für  ihn  so  einleuchtend,  dass  er  freudig  ruft,  nun  sei  alles 
gut,  hier  sei  für  ihn  nichts  mehr  zu  tun.  Ch.  schreibt  ihre 
Hoffnung  an  E. ;  dieser,  bestürzt  und  verzweifelt,  macht  sein 
Testament  und  geht  in  den  Krieg.  Ottilie,  die  nunmehr  Char- 
lottens  Geheimnis  auch  erfährt,  wird  noch  mehr  betroffen  als 
E.  und  zieht  sich  ganz  in  sich  zurück ;  Hoffen  und  Wünschen 
sind  vorbei.  —  So  ist  der  Conflict  unlösbar  geworden;  düster 
erscheinen  die  Aussichten  für  die  Zukunft,  und  eine  gewaltsame 
Zerhauung  des  Knotens  scheint  sich  vorzubereiten.  Warum 
schliesst  Göthe  nicht  hier  ab?  Er  konnte  ja,  sollte  man  mei- 
nen, Ch.  in  die  Scheidung  willigen  lassen,  und  dann  war  alles 
gut.     Nur  dem   gemeinen   Menschenverstand    kann    dies   so  er- 


412  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman. 

scheinen,  aber  es  würde  durchaus  der  poetiechen  Gerechtigkeit 
widersprechen ;  schlösse  die  Erzählung  hiermit,  so  müsste  man 
dem  Urteil  derer  beipflichten,  welche  den  Roman  für  verwerflich 
und  unsitthch  erklären. 

Der  zweite  Teil  beginnt  mit  einer  Einleitung,  gewisser- 
maassen  Entschuldigung  des  Autors,  Auf  ein  Grundprincip 
des  Epos  sich  berufend,  lässt  er  jetzt  die  Hauptpersonen  ein 
wenig  ruhen  und  Nebenpersonen  in  den  Vordergrund  treten. 
Ist  es  doch  auch  für  den  Leser  angenehm,  dass  jene  nach  den 
Stürmen,  die  sie  erschüttert  haben ,  auf  einige  Zeit  verschwin- 
den und  neue  Kräfte  sammeln!  Der  Architekt,  der  jetzt  her- 
vortritt, weiss  sich  durch  seine  bescheidene  Tätigkeit  so  unent- 
behrlich zu  machen,  dass  ihm  die  Ehre  der  Repräsentation  des 
Hauses  bei  eintretendem  Besuche  zu  Teil  wird.  Ein  Rechts- 
gelehrter kömmt  als  Vertreter  einer  benachbarten  Familie  und 
beschwert  sich,  dass  der  Kirchhof  auf  Ch.  Geheiss  völlig  geeb- 
net und  mit  Klee  bepflanzt  sei ;  in  folge '  dessen  will  er  eine 
Stiftunjj  zurückziehen.  Es  folfjt  dann  eine  längere  Discussion 
zwischen  den  beiden  Frauen,  dem  Architekten  und  dem  Rechts- 
gelehrten über  Wert  oder  Unwert ,  Stellung  und  Form  von 
Grabdenkmälern,  Sie  schliesst,  ohne  dass  wir  den  Erfolg  der- 
selben hören;  auch  der  Rechtsgelehrte  verschwindet  ohne  Ab- 
schied. Das  Kapitel  bezweckt,  den  Architekten  mit  seinen  ge- 
sunden Ansichten  und  Kenntnissen  in  ein  helles  Licht  zu  stellen ; 
die  Discussion  ist  der  Ersatz  für  mangelnde  Handlung. 

Der  Architekt  übernimmt  die  Verschönerung  der  Kirche, 
entdeckt  bei  dieser  Gelegenheit  eine  Seitenkapelle  mit  altmo- 
dischen Zieraten  undbeschliesst  dieselbe  heimlich  auszuschmücken. 
Auch  als  Sammler  alter  Waffen,  Münzen,  Kupfer,  Holzschnitte 
u.  s.  Av,  zeigt  er  sich  und  erfreut  abends  oft  die  Damen  durch 
Vorzeio;en  derselben.  Zuletzt  denkt  er  mit  Wehmut  an  das 
baldige  Scheiden ;  ein  Zeichen,  dass  er  eine  stille  Neigung  ge- 
fasst  hat.  Nun  beginnen  und  kehren  oft  wieder  Aufzeichnungen 
aus  O.  Tagebuche.  Wir  wissen  aus  „Wilhelm  Meister,"  dass 
Göthe  solche  Ergüsse  einer  edeln  Seele,  die  uns  tiefe  Einblicke 
ins  Innere  derselben  tun  lassen,  mit  Vorliebe  wiedergibt ;  dabei 
huldigt  er  der  Neigung  seiner  Zeit ,  die  (anders  wie  unsere 
schnell  lebenden  Generationen)  alles  ihr  begegnende  zusammen- 


Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Eoninn.  413 

stellte  und  sichtete,  gewissennaassen  sich  selbst  betrachtete. 
Solche  Tagebücher  findet  man  noch  in  vielen  Familien  von 
Gross-  und  Urgrosseltern  her.  Göthe  hat  hier  noch  einen  an- 
deren Zweck:  da  O.  sich  mit  Niemanden  über  E.  unterhalten 
kann,  auch  nicht  brieflich  mit  ihm,  so  werden  diese  Zeilen  ein 
Ersatz  für  das  Fehlende  und  lassen  uns  erkennen  das  geistig 
zwischen  den  beiden  Herzen  fortdauernde  Band.  Auch  würde 
ohne  diese  Hindeutungen  die  Hauptperson  zu  lange  verschwin- 
den. Die  erste  Sentenz,  die  O.  niederschreibt,  „es  sei  schön, 
dereinst  neben  dem  Geliebten  im  Grabe  zu  ruhen,"  ist  prophe- 
tisch für  die  Zukunft.  Fast  in  jeder  Zeile  lesen  wir  die  trau- 
rige Sehnsucht  des  Mädchens,  die  stillen  Gedanken  des  Todes, 
des  ewigen  Friedens. 

Das  dritte  Kapitel  beginnt  mit  einer  allgemeinen  Sentenz, 
die  Göthe  überhaupt  in  diesem  Teile  als  Einleitung  vorauszu- 
schicken liebt.  O.  hilft  dem  Architekten  in  der  Kapelle  malen, 
Ch.  wandelt  einsam  und  hängt  ihren  Betrachtungen  nach.  Wo- 
her diese  Sorgen  Charlottens?  Sie  hat  in  den  Zeitungen  ge- 
lesen, E.  habe  sich  bei  einer  Kriegsaffaire  ausgezeichnet ;  sie 
sieht,  er  ist  zum  Aeussersten  entschlossen.  Die  Engelsköpfis, 
die  der  Architekt  an  der  Decke  der  Kapelle  malt,  beginnen 
immer  mehr  Ottilien  zu  gleichen,  der  letzte  wird  ihr  ganz  ähn- 
lich. Acht  Tage  lang  reinigt  der  Architekt  allein ;  dann  ersucht 
er  eines  Abends  beide  Damen,  einzutreten ;  er  bleibt  zurück. 
Mit  Rücksicht  auf  ihren  Zustand  bleibt  Ch.  zurück;  O.  tritt 
ein,  freut  sich,  setzt  sich  nieder  und  träumt:  es  ist  der  Vor- 
abend von  E.  Geburtstage.  Sie  erinnert  sich  dabei  ihres 
Geburtstages  und  fühlt  sich  einsam  und  verlassen.  Die  Kapelle 
als  eine  für  zwei  Personen  passende  Grabstätte  hat  eine  tiefe 
Bedeutung.  Die  Sprüche  des  Tagebuchs  zeugen  vom  Verkehr 
mit  dem  Künstler,  bringen  auch  geschichtliche  Rückblicke  auf 
Begräbnisarten  der  Alten.  Wichtig  ist  der  letzte  Abschnitt; 
denn  das  Blasen  des  Windes  über  die  Stoppeln  und  der  Takt- 
schlag des  Dreschers  deuten  auf  den  nahenden  Winter. 

Das  folgende  Kapitel  bringt  einen  merkwürdigen  Contrast 
zum  vorhergehenden ;  dort  traurige  Stille,  hier  lärmende  Lustig- 
keit. Musste  uns  der  Autor  schon  so  wie  so  mit  Luciane,  der 
Tochter  Charlottens,  näher  bekannt  machen ,    so  tut   er   es  mit 


414  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman. 

gesundem  Takte  gerade  jetzt,  um  uns  vom  Ernste  der  Situation 
abzuziehen  und  dieselbe  mit  äusserer  Heiterkeit  zu  übertünchen  ; 
wir  vergessen  formlich,  wie  ernst  eben  das  Leben  gewesen  sei. 
Diese  Dame,  von  der  schon  oben  geredet  M'urde,  kommt  von 
der  Tante,  bei  der  sie  die  letzte  Zeit  zugebracht  hat,  und  bringt 
einen  reichen  Bräutigam  und  einen  ganzen  Wust  von  Sachen 
mit,  so  dass  O.  vollauf  zu  tun  hat.  Ist  sie  schon  an  sich  leb- 
haft, so  wird  sie  es  noch  mehr  durch  die  Besuche,  die  sie  so- 
fort in  der  Umgegend  macht.  Nun  wird  Leben  im  Schlosse, 
Herren  und  Damen  erscheinen  in  Menge,  Spiele,  Bälle  und 
lebende  Bilder  kommen  auf,  Luciane  weiss  jeden  zu  beschäf- 
tigen, jeden  sich  zu  verbinden ;  nur  mit  dem  stillen  und  ruhigen 
Architekten  will  es  ihr  nicht  gelingen.  Sie  will  gefallen,  ist 
flatterhaft,  für  äusseren  Tand  empfänglich,  launisch,  ohne  tiefes 
Gefühl.  In  Ottilien's  Tagebuche,  das  ein  ßeflex  der  jedesmaligen 
Stimmung  und  Lebensweise  ist,  drücken  die  ersten  und  letzten 
Sätze  Gefühle  aus,  die  sich  aufs  Verhältnis  zu  E.  beziehen;  sie 
handeln  von  Wünschen  der  Zukunft  und  von  der  schwierigen 
ßesiegung  der  Leidenschaften.  Die  übrigen  Sentenzen  beziehen 
sich  aufs  gesellschaftliche  Leben,  stehen  also  in  Zusammen- 
hang mit  dem  Ganzen. 

Auch  gute  Seiten  lernen  wir  an  Luciane  kennen  bei  allen 
ihren  Tollheiten  und  Wunderlichkeiten:  sie  verschenkt  gern  an 
Arme,  ist  hülfreich  gegen  Unglückliche  und  Aengstliche.  Bos- 
haft ist  sie  eigentlich  nicht,  aber  jeden  sucht  sie  zu  necken  und 
lächerlich  zu  machen ;  nur  gegen  O.  ist  sie  bitter.  Die  Blumen 
derselben  werden  leichtsinnig  verschwendet,  alle  Bälle  muss  sie 
trotz  ihres  Widerstrebens  mitmachen.  Dabei  zieht  O.  weit  mehr 
die  Männer  an  als  Luciane,  sogar  deren  Bräutigam ;  mit  diesem 
spricht  sie  namentlich  über  den  Architekten,  den  jener  bei  sich 
zu  beschäftigen  wünscht.  Auch  finden  wir  hier  wieder  einen 
Hinweis  auf  E. ;  Ottilien's  Herz  ist  ganz  vom  Gedanken  an 
ihn  erfüllt,  an  den  von  den  übrigen  Niemand  zu  denken  scheint. 
So  weiss  Göthe  durch  einen  kurzen  Fingerzeig  zu  bewirken, 
dass  wir  die  Hauptperson  nicht  aus  den  Augen  verlieren.  Da 
erschemen  der  Graf  und  die  Baronesse  wieder;  des  ersteren 
Frau  ist  endlich  gestorben,  und  die  Verbindung  soll  nächstens 
erfolgen.     O.  empfindet  Trauer,    wenn  sie  ihr  eigenes  Geschick 


Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman.  415 

damit  vergleicht.  Musiken  und  Concerte  folgen;  ein  Dichter 
soll  Luciane  verherrlichen,  feiert  aber  lieber  Ottilien.  Auf  Ver- 
anlassung des  Grafen  werden  lebende  Bilder  aufgeführt,  der 
Architekt  muss  das  Theater  dazu  erbauen.  Allmählich  verreisen 
einige  Gäste,  so  der  Graf  und  die  Baronesse,  die  nach  stattge- 
fundener Verbindung  wiederzukehren  versprechen.  Die  übrigen 
werfen  sich  nun  auf  benachbarte  Schlösser  und  ziehen  von  einem 
zum  andern,  immer  toller  in  Saus  und  Braus  lebend.  —  Das 
Tagebuch  enthält  Bemerkungen  über  Besuch,  welche  mit  frühe- 
ren Aeusserungen  Eduard's  übereinstimmen. 

Damit  ist  nun  die  ßuhe  bei  unseren  Lieben  wieder  einge- 
kehrt, doch  nicht  völlig;  denn  der  Besuch  hat  eine  Nachwir- 
kung hinterlassen.  Diese  kommt  daher,  dass  Luciane  überall 
einwirken,  namentlich  Kranke  und  Verstimmte  wieder  in  die 
Gesellschaft  ziehen  wollte.  Die  Geschichte  ist  kurz  folgende: 
„Ein  Mädchen,  das  am  Tode  eines  der  jüngeren  Geschwister 
schuld  war,  härmte  sich  seitdem  einsam  ab.  Luciane  führt  das- 
selbe in  eine  glänzende  Soiree,  das  Mädchen  stürzt  schreiend 
hinaus  und  wird  so  krank,  dass  sie  in  eine  Anstalt  gebracht 
werden  muss."  Auch  dieser  Vorgang  ist  ein  Hinweis  auf  die 
Zukunft.  Vor  seinem  bald  bevorstehenden  Weggang  will  der 
Architekt  noch  eine  Weihnachtsvorstellung  veranlassen,  bei  der 
O.  die  Mutter  Gottes  vorstellen  soll.  Dieselbe  gelingt  vortreff- 
lich, da  O.  in  die  Stimmung  der  bescheidenen  Ehre  und  des 
unverdienten  Glücks  sich  zu  versetzen  versteht.  Während  der 
Vorstellung  sieht  sie,  wie  neben  Gh.  der  im  vorigen  Teil  schon 
zweimal  erwähnte  Gehülfe  aus  der  Anstalt  sitzt.  Wir  können 
ahnen,  dass  damit  ein  neuer  Versuch  angebahnt  wird,  denCon- 
flict  zu  lösen.  Der  Architekt  hat  eine  innige  Neigung  zu  O. 
gefasst,  aber  er  kommt  gar  nicht  einmal  dazu,  sich  zu  äussern. 
Jetzt,  wo  derselbe  bald  scheiden  muss,  tritt  in  die  Lücke  der 
Gehülfe,  der  O.  Eigenheiten  früher  so  trefllich  erkannt  hat.  Er 
hat  O.  noch  nicht  vergessen  und  kommt,  um  frühere  Verbin- 
dungen wieder  anzuknüpfen  oder  vielmehr  noch  fester  zu 
knüpfen. 

Weder  die  Belustigungen,  noch  die  Beschäftigung,  welche 
der  Verkehr  mit  dem  Architekten  O.  bot,  haben  vermocht,  die 
Aufmerksamkeit  derselben  von  E.  abzulenken :  nun  versucht  es 


41 G  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman. 

der  Schriftsteller  mit  den  pädagogischen  Bestrebungen  des  Ge- 
hülfen. O  hat,  wie  derselbe  meint,  Geschick  und  Interesse 
für's  Unterrichten  ;  bei  den  pädagogischen  Discussionen  spricht 
er  seine  Zufriedenheit  mit  O.  Verfahren  gegenüber  ihren  Schü- 
lerinnen aus  und  verfehlt  dabei  nicht  die  Bemerkung,  wie  es 
ihm  in  seiner  Pension  an  einer  gleichgesinnten  treuen  Gehülfin 
fehle.  Wir  erfahren  nun,  wie  derselbe  überhaupt  auf  die  Idee 
gekommen  ist ;  es  ist  eine  neue  Verwickelung ,  von  der  Baro- 
nesse eingefädelt  und  von  Ch.  stillschweigend  gebilligt.  Der 
Graf  und  die  Baronesse  sind  ins  Institut  gegangen,  haben  das- 
selbe in  Begleitung  des  Gehülfen  gemustert  und  diesem  zuge- 
redet, hinzufahren  und  um  O.  Hand  anzuhalten.  Doch  so  oft 
er  auf  das  Thema  kommen  will ,  hält  ihn  eine  gewisse  Scheu 
zurück.  Endlich  bringt  Ch.  absichtlich  das  Gespräch  darauf, 
dass  O.  in  die  Pension  zurückgehen  solle ,  um  in  ihre  Kennt- 
nisse mehr  Zusammenhang  zu  bringen;  doch  einstweilen  soll 
sie  noch  bleiben.  Schaudernd  denkt  O.  daran,  mit  Hinbhck  auf 
die  Trennung  von  E.,  den  sie  über  alles  liebt.  Wir  sehen, 
auch  dieser  Angriff  von  aussen  wird  fehlschlagen.  —  Das  Tage- 
buch hat  Bezug  auf  Jüngsterlebtes,  auf  die  Scene  zwischen 
Luciane  und  den  AfFenporträts ,  sowie  auf  die  Ansichten  des 
Gehülfen  über  die  Natur. 

Nach  einer  einleitenden  Sentenz  folgen  Gespräche  wissen- 
schaftlicher Art  über  Menschen-  und  Zeiterscheinungen ;  Göthe 
tadelt  dabei,  dass  man  das  Alte  vernachlässige  und  dem  Neuen 
sich  zuwende.  Bei  einer  solchen  Unterredung  spricht  der  Ge- 
hülfe von  Charlottens  einstigem  Sohne  und  diese  fasst  es  als 
eine  angenehme  Prophezeiung  auf.  Da  erst  nach  der  Nieder- 
kunft über  das  Weitere  entschieden  werden  soll,  so  kehrt  er  in 
seine  Pension  zurück.  O.  tut  indessen  ihre  Pflicht  und  findet 
darin  ihren  einzigen  Trost;  was  sonst  werden  soll,  weiss  sie 
nicht.  Das  Kind  kommt  zur  Welt,  O.  findet  es  dem  Vater 
unähnlich.  Mittler  erscheint  und  besorgt  alles  auf  die  Taufe 
Bezügliche ;  nach  seiner  Ansicht  ist  nun  alles  gut  und  in  Ord- 
nung. Während  das  Kind  über  das  Taufbecken  gehalten  wird, 
erkennt  O.  in  den  Augen  desselben  ihre  eigenen,  Mittler  in  sei- 
nen Gesichtszügen  die  des  Hauptmanns.  Waren  Avir  durch  den 
obigen  Wink  schon  gespannt,  so  sind  wir  jetzt  überrascht ;    die 


Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman.  417 

Erklärung  der  Tatsache  liegt  in  den  Ereignissen  jeuer  Nacht. 
Während  der  langen  Rede,  die  Mittler  hält,  sinkt  der  Geist- 
liche um ;  das  lange  Stehen,  die  Anstrengung,  die  neutestament- 
liche  Anspielung  auf  Simeon  und  den  Heiland  hielt  der  hochbe- 
tagte Mann  nicht  aus;  er  lag  todt  im  Sessel.  Wie  bedeutungs- 
voll ist  es,  dass  er,  der  eben  das  Kind  getauft  hat,  nun  schon 
entschlummert  ist,  dass  O.  ihn  um  dieses  Loos  beneidet!  — 
So  ist  das  Kind,  an  dessen  Erscheinen  Ch.  und  Mittler  so 
grosse  Hoffnungen  geknüpft  haben,  da;  aber  nichts  ändert  sich 
dadurch.  Die  Handlung  hat  zwar  nach  dem  Stillstand,  der  zu 
x\nfang  des  zweiten  Teils  eingetreten  war,  einige  Fortschritte 
gemacht,  aber  ein  Kesultat  oder  auch  nur  eine  Annäherung  an 
dasselbe  wurde  nicht  erzielt ;    wichtiger   ist   dafür  das  folgende. 

Das  neue  Capitel  handelt  zunächst  von  O.  Fürsorge  für 
den  Garten  ;  alles  ist  auf  Eduard's  Erheiterung  berechnet.  Die 
Pflege  für  das  Kind,  welche  sie  übernommen  hat,  bringt  ihr 
viel  Freude,  und  indem  sie  an  dessen  Zukunft  denkt,  sieht  sie 
allmählich  ein,  dass  eine  Aenderung  eintreten  müsse:  sie  will 
ihrer  Liebe  entsagen.  Was  kein  Impuls  von  aussen,  was  keine 
Tätigkeit  noch  Zerstreuung  zu  bewerkstelligen  im  Stande  war, 
das  vermochte  ihre  eigene  gesunde  Seele,  ihr  eigenes  richtiges 
Gefühl.  Edle  Naturen  finden  von  selbst  das  Rechte.  Wie 
schön  sind  die  Hoffnungen,  welche  O.  auf  das  Kind  setzt!  Wie 
sollten  sie  getäuscht  werden !  Ein  wesentlicher  Fortschritt  ist 
es,  dass  die  Gefühle  bei  der  einen  hauptbeteiligten  Person  sich 
geklärt  haben,  dass  das  Gute  zum  Durchbruch  gekommen  ist; 
es  kommt  blos  darauf  an,  wie  sich  die  zweite  Person  zu  dieser 
Lösung  verhält.  —  Von  den  Gedanken  des  Tagebuchs  steht 
blos  der  letzter  „ein  Leben  ohne  Liebe  sei  nichts,"  in  Bezug 
auf  Eduard. 

Wie  der  Gute  überall  das  Beste  denkt,  so  auch  Charlotte; 
bei  ihr  unterHegt  es  gar  keinem  Zweifel,  dass  die  Aussöhnung 
erfolgen  werde.  Schon  plant  sie,  wie  sie  in  der  Mooshütte 
sitzt,  ein  Yerhältniss  zwischen  O.  und  dem  Hauptmann  an. 
Beide  Frauen  wohnen  jetzt  in  dem  neugebauten  Hause,  das 
oben  auf  dem  Berge  liegt.  O.  macht  mit  dem  Kinde  oft  Spa- 
ziergänge zu  den  Platanen,  wohin  sie  am  liebsten  geht;  nur 
aufs   Wasser   soll   sie  dasselbe   nicht   mitnehmen.      Da   kommt 

Arcl'.iv  f.  n  Sprach":'    XLVm.  27 


418  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman. 

wieder  Besuch:  ein  englischer  Lord,  Freund  Eduard's,  mit  sei- 
nem Begleiter ;  grosses  Interesse  für  neue  Anlagen  bewegt  ihn 
zum  Kommen.  Der  wolwollende  Engländer  verletzt,  ohne  es 
zu  wollen,  in  seinen  Plaudereien  Ottilie  durch  die  Bemerkung, 
dass  meist  der  Schöpfer  neuer  Anlagen  am  wenigsten  Genuss 
davon  habe;  denn  sie  muss  an  E.  denken,  der  dürftig,  freud- 
los, heimatlos  umherirre,  und  besehliesst,  sich  zu  entfernen,  da- 
mit er  heimkehren  könne.  Hat  sie  vorher  ihrer  Liebe  entsagt, 
so  will  sie  nun  auch  seinem  Anblick  entsagen.  Der  Begleiter, 
der  den  Misgriff  merkt ,  macht  den  Lord  darauf  aufmerksam ; 
dafür  soll  der  Begleiter  abends  eine  Geschichte  zum  besten 
geben,  welche  den  Übeln  Eindruck  wieder  verwische.  Doch 
auch  hiermit  soll  es  den  Freunden  nicht  glücken,  da  ein  noch 
weit  grösserer  Fehlgriff  begangen  wird  durch  die  Novelle  :  „die 
■wunderlichen  Nachbarskinder."  Der  Gang  derselben  ist  kurz 
folgender : 

„Zwei  Nachbarskinder  sind  seit  früher  Jugend  für  ein- 
ander bestimmt ;  mit  den  Jahren  zeigt  sich  aber  eine  wach- 
sende Feindschaft,  so  dass  die  Eltern  den  Plan  aufgeben.  Die 
Jungfrau  verlobt  sich  einem  anderen  Manne.  Später  kommt 
ihr  früherer  Verlobter,  der  indes  zum  herrlichen  JünoHnjr  her- 
angewachsen  ist,  wieder  vor  ihre  Augen ;  sie  sieht  ihn,  vergisst 
alles  und  gewinnt  ihn  leidenschaftlich  lieb,  er  aber  bleibt  kalt. 
Da  besehliesst  sie  zu  sterben.  Einst  macht  eine  Gesellschaft, 
zu  der  auch  diese  drei  Personen  gehören,  eine  Fahrt  auf  dem 
grossen  Strome;  der  Jüngling  steuert.  An  einer  gefährlichen 
Stelle  springt  sie  ins  Wasser,  der  Steuermann  sofort  ihr  nach. 
Nach  langer  Zeit  erreicht  er  •  sie  und  schwimmt  ans  Ufer.  In 
einer  nahen  Hütte  kommt  sie  Avieder  zum  Leben  und  fällt  ihm 
um  den  Hals.  Beide  schwören  sich  Liebe,  eilen  umgekleidet 
an  den  Strand,  treffen  das  eben  vorüberfahrende  Schiff  und  er- 
bitten den  elterlichen  Segen,  der  nicht  ausbleibt."  Dies  ist  der 
Inhalt.  Da  ist  zwar  ein  Conflict  der  Liebe,  aber  er  wird  ein- 
fach und  sofort  gelöst;  die  Entwickelung  ist  eine  unerwartete; 
grossartige  Seelenkämpfe  finden  nicht  Statt.  Die  Verhältnisse 
sind  klar  und  einfach,  ebenso  Ort  und  Zeit;  daher  kann  auch 
der  Umfang  der  Erzählung  nicht  gross  sein.  Charaktere  wer- 
den  nicht  geschildert;   die  leidenschaftliche  Braut,    der   gesetzte 


Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman.  419 

Bräutigam,  der  erst  ruhige,  dann  in  heisser  Liebe  entbrannte 
Liebhaber  sind  blos  in  einzelnen  Zügen  gemalt. 

Sehen  wir  uns  wieder  um  nach  unseren  Lieben!  Ch.  ver- 
lässt  bewegt  das  Zimmer,  O.  eilt  ihr  nach.  Die  zwei  Freunde 
sehen,  dass  sie  wieder  gefehlt  haben;  denn  die  Geschichte  hat 
zwischen  dem  Hauptmann  und  einer  Nachbarin  wirklich  statt- 
gefunden. Danach  ist  also  jener,  wovon  wir  früher  nie  gehört 
haben,  ein  Witwer;  denn  zum  Heiraten  muss  es  doch  gekom- 
men sein.  Oder  war  der  Schluss  noch  nicht  da  und  hätte  sich 
ein  Hindernis  eingestellt,  das  der  Engländer  nun  nicht  mehr 
erzählen  konnte?  —  Die  Fremden  empfehlen  sich.  Beide  Frauen 
finden  ihr  Glück  in  dem  heranwachsenden  Knaben,  dem  O. 
eine  zweite  Mutter  geworden  ist.  Mit  diesem  idyllischen  Bilde 
schliesst  das  Capitel;  Beruhigung  der  Leidenschaften  ist  einge- 
treten und  stille  Zufriedenheit  eingekehrt.  Der  Hauptzweck  der 
ganzen  Episode  ist,  uns  nachholend  noch  einiges  über  das 
frühere  Leben  der  Hauptpersonen  zu  berichten. 

Wie,  so  fragen  wir,  kann  der  Autor,  nachdem  völliger 
Stillstand  in  der  Handlung  eingetreten  ist,  einen  Fortschritt 
derselben  herbeiführen?  Nur,  indem  Eduard  wieder  auftritt. 
Deshalb  führt  er  uns  nach  der  langen  Abschweifung,  die  durch 
volle  elf  Capitel  des  zweiten  Teiles  sich  hingezogen  hat,  wie- 
der zu  dem  aus  dem  Feldzug  heimgekehrten,  der  sich  von 
neuem  auf  dem  Gütchen  aufhält.  Derselbe  will  nun  entschei- 
dende Schritte  tun  zur  Lösung  der.  Ehe,  selbst  der  Krieg  hat 
ihm  diesen  Gedanken  nicht  nehmen  können.  Wir  sehen  den 
oben  erwähnten  Charakterzug  völlig  bestätigt:  er  kann  den  ein- 
mal gefassten  Wunsch  nicht  aufgeben.  In  dieser  Entschlossen- 
heit beruft  er  den  inzwischen  zum  Major  avancirten  Haupt- 
mann; er  will  sich  aussprechen,  die  Scheidung  veranlassen  und 
ihm,  dessen  Liebe  zu  Ch.  er  kennt,  diese  als  Gattin  zuführen. 
Dieser,  eine  ernste  und  gesittete  Natur,  macht  ihm  eindringliche 
Vorstellungen;  erst  als  er  ihm  alle  Pflichten  gegen  Charlotte, 
gegen  das  Kind ,  gegen  die  Meinung  der  Welt  vergebens  auf- 
geführt hat  und  ihn  beharrlich  bleiben  sieht,  sowie  entschlossen, 
seinen  Willen  durchzusetzen,  es  koste  was  es  wolle,  willigt  er 
ein,  die  Sache  in  Erwägung  zu  ziehen.  —  Schon  zu  Ende  des 
ersten  Buches  war  dieses  Mittel  gewählt  worden;  allein  Mittler 

27* 


420  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman. 

war  bei  Nennung  der  Vaterfreuden  gar  nicht  erst  auf  die  Sache 
zu  sprechen  gekommen ;  diesmal  wird  nun  ein  gefährlicher  Un- 
terhändler, der  stillgeliebte  Freund,  vorgeschoben.  Jetzt  rückt 
die  Handlung  wieder  vor,  nun  aber  auch  Schlag  um  Schlag, 
immer  neue  Momente  bringend,  zum  Zerhauen  des  Knotens 
hindrängend. 

Vollends  sicher  und  freudig  erregt  in  der  Hoffnung  des 
baldigen  Gelingens  wird  Eduard,  wie  er  vom  Major  hört,  dass 
Ch.  selbst  einmal  ihm  O.  zugedacht  habe.  Wie  passend,  dass 
er  dies  erst  jetzt,  unter  solchen  Verhältnissen  erfährt!  Sogar 
das  Kind  will  E.  dem  Major  abtreten,  auch  Güter  und  Geld, 
soviel  er  haben  will.  Otto  muss  sich  gleich  auf  den  Weg  machen  ; 
E.  hält  sich  in  der  Nähe  verborgen,  um  sofort  den  Erfolg 
zu  vernehmen.  Doch  Ch.  ist  in  die  Nachbarschaft  gefahren, 
60  dass  der  Major  sie  nicht  gleich  sprechen  kann,  O.  sitzt 
lesend  am  Teiche.  Lange  vermag  E.  seine  Ungeduld  nicht 
zu  zügeln ;  er  schleicht  auf  geheimen  Wegen  in  den  Park,  sieht 
O.  und  eilt  auf  sie  zu.  O.  zaudert,  ihn  warm  zu  empfangen, 
sie  deutet  auf  das  Kind  als  Hindernis.  Jetzt  erst  erblickt  E. 
dasselbe  und  staunt  über  die  Aehnlichkeit,  die  dasselbe  mit 
dem  Major  hat;  O.  weist  ihn  jedoch  auch  auf  die  mit  ihr  statt- 
findende hin.  E.  entschuldigt  sich  wegen  jener  Nacht  und  sieht 
gerade  darin  nur  ein  schwerwiegendes  Motiv  zur  Trennung  der 
Ehe.  Hier  zeigt  sich  O.  wieder  als  die  energischere;  sie  ver- 
langt, E.  solle  sich  entfernerv  In  leidenschaftlicher  Freude  tren- 
nen sie  sich ;  nach  E.  Mitteilungen  scheint  ihnen  alles  geebnet. 
Zum  zweiten  Male  ist  es  hier  dem  Autor  vergönnt,  die  Sache 
einem  glücklichen  Ende  zuzuführen;  wieder  bedarf  es  blos  des 
Jaworts  von  Charlotte,  um  alle  des  Glückes  teilhaftig  zu 
machen.  Wir  haben  oben  schon  bemerkt,  dass  dann  die  poe- 
tische Gerechtigkeit  würde  vermisst  werden,  die  jede  Schuld 
verfolgt  und  bestraft.  Dem  höchsten  Glück  folgt,  wie  so  oft 
im  Leben,  der  herbste  Schmerz.  Ein  vorhin  nicht  geahntes 
Ereignis  tritt  ein,  welches  die  eben  noch  so  klare  Sachlage  völ- 
lig umändert  und  neue  Verwickelungen,  aber  die  letzten,  schafft. 
—  Nie  ist  O.  mit  dem  Kinde,  da  Ch.  dies  ausdrücklich  ver- 
boten hat,  über  das  Wasser  gefahren ;  diesmal  wagt  sie  es, 
durch  E.    so  lange   aufgehalten,    um   rasch    oben  im  Hause  zu 


Die  deutsche  Kovelle  und  der  deutsche  Koman.  421 

sein.  Sie  fährt  ab  mit  einem  heftigen  Stosse ,  das  Kind  fällt 
ins  Wasser,  von  O.  herausgezogen  ist  dasselbe  todt.  Der 
Kahn  bleibt,  da  ihr  das  Ivuder  entfallen  ist,  regungslos  in  der 
Mitte  des  Sees  stehen ;  sie  sucht  in  ihrer  Herzensangst  das 
Kind  wieder  zu  beleben,  doch  umsonst.  Nirgends  erscheint 
Hülfe;  da  wendet  sie  sich  zum  ersten  Male  an  den,  der  allein 
helfen  kann.  Ihr  Gebet  wird  erhört;  denn  ein  sanfter  Wind 
treibt  den  Kahn  ans  andere  Ufer,  Freilich  hätte  dies  auch  auf 
andere  Weise  bewerkstelligt  werden  können;  wenn  nun  Göthe 
hier  das  Wunderbare  vorzieht,  so  will  er  auf  die  entschiedene 
Sinneswandelung  hindeuten,  die  nunmehr  bei  O.  erfolgt.  Vor- 
her fest  entschlossen  zu  entsagen,  hat  sie  jetzt,  wo  es  zur  Prü- 
funo; gekommen  ist,  sich  in  selbstischem  Interesse  dem  Gelieb- 
ten  zwar  zögernd,  aber  doch  wieder  hingegeben,  ohne  zu 
bedenken,  dass  sie  Gottes  Strafgericht  herausfordere.  Rasch 
hat  sich  dieses  erfüllt;  indem  sie  das  erkennt  und  bereut,  ist 
sie  auch  für  E.   verloren. 

Nach  fruchtlosen  Bemühungen  des  Chirurgen  sinkt  O.  ohn- 
mächtig hin.  Ch.  kommt  und  erfährt  alles;  anfangs  will  sie  es 
nicht  glauben,  das  Grässliche ;  dann  setzt  sie  sich  gefasst  aufs 
Sopha,  das  Antlitz  Ottiliens,  die  stumm  und  unbeweglich  ver- 
harrt, auf  ihre  Kniee  hebend.  Auf  die  Kunde  von  dem  gräss- 
lichen  Unglück  eilt  der  Major  herbei,  sieht  mit  geheimem  Grausen 
sein  Ebenbild  und  setzt  sich  schweigend  ihr  gegenüber.  Der 
grösste  Schmerz  macht  stumm,  das  sehen  wir  an  diesen  beiden. 
Die  ganze  Nacht  hindurch  sitzen  sie  sich  so  gegenüber;  erst 
ain  Morgen  fragt  Ch.  den  Major,  was  die  Ursache  seines  Kom- 
mens sei.  Ch.  willigt  gefasst  in  die  Scheidung,  nachdem  sie 
seine  Rede  gehört,  und  macht  sich  noch  Vorwürfe,  dass  sie  so 
lange  mit  dieser  Entscheidung  gezögert  habe.  Verständig  ist 
ihr  ganzes  Raisonnement;  nur  indem  sie  von  Eigensinn  spricht, 
scheint  eine  kleine  Bitterkeit  «ces'en  E.  erkennbar  zu  sein.  Der 
Major  geht,  aus  Ch.  letzten  Worten  das  beste  für  sich  erhof- 
fend. Das  Ende  des  Kindes  vermag  er  nicht  zu  bedauern,  im 
Gegenteil  scheint  ihm  gerade  dadurch  ein  Hindernis  aus  dem 
Weo;e  o-eränmt  und  E.  stimmt  ihm  hierin  völlig  bei.  Nicht  so 
Ottilie,  deren  sittliche  Natur  sich  Bahn  gebrochen  hat.  Aus 
dem  Starrkrampf  erwacht,  in  welchem  sie  alles  Verhandelte  mit 


422  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman. 

angehört  hat,  weist  sie  zuerst  auf  einen  ähnlichen  Fall  hin,  der 
in  ihrer  Jugend  ihr  zugestossen  sei  und  mit  dem  jetzigen  viele 
Aehnllchkeit  biete ;  dann  erklärt  sie  bestimmt ,  sie  werde  nie 
Eduard's  Weib  werden,  und  droht,  wenn  Ch.  sich  würde  schei- 
den lassen,  im  See  ihr  Verbrechen  büssen  zu  wollen.  Bei  die- 
sem bedeutenden  Ereignis  hat  das  conventionelle  „Sie"  dern 
traulichen  „Du"  Platz  gemacht.  So  erheben  sich  von  einer 
Seite,  von  welcher  aus  dasselbe  früher  am  wenigsten  erwartet 
wurde,  Einwendungen,  welche  die  Aussicht  auf  eine  friedliche 
Lösung  trüben. 

Das  Kind  wird  in  der  Kapelle  beigesetzt  als  das  erste 
Opfer  eines  ahn  ungs  vollen  Verhängnis  se  s.  Beide  Frauen 
leben  ruhig  neben  einander  fort;  Ch.,  die  das  Abenteuer  mit 
E.  erfahren  hat,  schont  O.  möglichst,  in  der  Hoffnung,  ihr  Sinn 
werde  sich  doch  noch  ändern.  O.  dagegen  sucht  Charlotten 
möglichst  zu  unterhalten  und  zu  zerstreuen.  Dabei  ist  das 
Verhältnis  immerhin  ein  peinliches,  weil  sie  nie  vom  Vergange- 
nen sprechen  mögen;  auch  der  Ort  gefällt  ihnen  nicht  mehr. 
O.  ist  sich  ganz  klar  über  ihren  Zustand ,  ihre  Pflicht ;  in  die 
Welt  hinaus  mag  sie  nicht  gehen,  in  der  Pension  wünscht  sie 
jetzt  zu  verweilen  und  tätig  zu  sein.  Der  Einwand ,  den  Ch. 
hinsichtlich  des  Gehülfen  macht,  ist  für  O.  nicht  stichhaltig ; 
von  E.  will  sie  nichts  mehr  wissen.  Mittler  soll  erforschen, 
wie  E,  jetzt  gesinnt  sei,  ob  auch  er  entsagen  wolle ;  er  rät,  das 
Mädchen  sofort  in  die  Pension  zu  schicken.  O.  reist  ab,  ohne 
den  von  E.  geschenkten  Koffer  mitzunehmen.  So  scheint  noch 
einmal  durch  diesen  freiwilligen  Schritt  des  Mädchens  die  Sache 
ins  Gleichgewicht  kommen  zu  wollen;  hofft  doch  selbst  Ch.  jetzt 
noch  einmal  auf  Wiederherstellung  des  früheren  Verhältnisses ! 
Doch  die  Katastrophe  naht. 

Mittler  sucht  E.  auf,  teilt  ihm  die  Abreise  mit  und  findet 
ihn  resignirt  und  gleichgültig.  Kaum  aber  ist  derselbe  wegge- 
gangen, so  ergreift  ihn  die  Sehnsucht  nach  O.  unwiderstehlich. 
Er  eilt  in  dasselbe  Wirtshaus,  wo  sie  übernachten  wird.  Brief- 
lich will  er  sie  vorbereiten ;  in  der  Kammer,  die  sie  betreten 
wird,  legt  er  den  Brief  auf  den  Tisch ;  da  rasselt  schon  der 
Wagen,  er  kann  nicht  mehr  aus  dem  Zimmer  eilen :  sie  sehen 
sich.       Doch    welcher    Contrast    mit    der    letzten    Begegnung! 


Die  deutsche  Novelle  tuad  der  deutsche  Roman.  423 

Stumm  steht  sie  ihm  gegenüber  und  weicht  vor  seiner  Annähe- 
rung zurück.  Auf  seine  Bitte  liest  sie  den  Brief,  und  wie  sie 
ihn  gelesen  hat,  macht  sie  jene  oben  vom  Gehülfen  bezeichnete 
Bewegung,  vor  deren  unwiderstehlichem  Zauber  E.  hinausflüchtet. 
So  sehen  wnr,  wie  nichts  beim  Autor  ohne  Absicht  steht ;  die 
obige  Bemerkung  des  Gehülfen  findet  hier  ihre  Bestätigung, 
und  zwar,  wie  beim  Epiker,  in  denselben  Worten,  die  der  Ge- 
hülfe gebraucht.  Am  nächsten  Morgen  tritt  E.  noch  einmal 
vor  sie  hin;  nach  längerem  Schweigen  antwortet  sie  seinem 
Drängen  mit  einem  sanften,  aber  festen  Nein.  Willenlos  lässt 
sie  sich  bev/egen,   zu  Ch.  zurückzufahren. 

E.  sprengt  hinter  dem  Wagen  her  ins  Schloss ;   O.  drückt 
die  Hände  beider  Gatten  zusammen  und  stürzt   in  ihr  Zimmer. 
Erst  durch  den  Major,  der  sofort  gerufen  wird  und  von  E.  das 
Vorgefallene   vernimmt,    erfährt   Ch.   dasselbe  vollständig.      E. 
ist  krank,  unmutig,    hastig;    Ch.    muss    dem    Major    ihre    Hand 
versprechen,  die  Männer  wollen  sich  durch  eine  Keise  zerstreuen. 
O.  dagegen    schweigt   beharrlich,   isst    und    trinkt  nicht;    schon 
soll   der  Gehülfe   geholt    werden,    um    auf  sie  einzuwirken,    da 
schreibt   sie    an  die  Freunde    und   bittet,    man  möge    sie   ruhig 
leben  lassen  und  nicht  in  sie  dringen,    die  Zeit  brinj^e  manches 
ins  Gleichgewicht.     E.  fasst  sogleich  vermöge  seiner  natürlichen 
Anlage   die   besten    Hoffnungen  und  bleibt,    O.    verkehrt  ruhig 
und  lieiter  mit   den  Freunden.     Stets    sitzen  E.  und  O.   neben 
einander,  aber  ohne  Wort,  ohne  Geberde  von  ihrer  Seite.    Alles 
scheint  wieder  in  dem  alten  Geleise  zu  gehen,    wie   es   zu  An- 
fano;  des  ersten  Buchs  gewesen  war.  —  Herrlich  ist  dieser  Pa- 
rallelismus  des  wirklichen   und  des  Scheinzustandes,    sowie  der 
Contrast  der  durch  den  Zeitraum  eines  Jahres  getrennten  Situa- 
tionen.    E.  liest  abends  wieder  vor,  O.  sieht  ihm  ins  Buch  wie 
sonst ;  Violine  und  Ciavierspiel,  Flöte  und  Saiten  erklingen  wie 
früher;  man  lebt,  als  sei  nichts  vorgefallen.      So   rückt  E.  Ge- 
burtstag heran,    den    man   im   vorigen  Jahre   nicht   hatte   feiern 
können ;   diesmal   soll  er  still  begangen  werden.     Je   näher   der 
Tag  kommt,  desto  feierlicher  wird  Ottiliens  Stimmung.     Schon 
einmal    hat   sie   sich   auf  diesen  Tag  gefreut,   in  der  Hoffnung, 
selbstgezogene   Blumen    an    diesem    E.    darbringen    zu    können ; 
jetzt  hat  sie  E.  bei  sich,  und  die  Blumen  prangen  in  derselben 


424  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman. 

Weise.  Die  Empfindungen,  von  denen  O.  damals  in  der  Ka- 
pelle bewegt  wurde,  die  herbstlichen  Tage,  die  das  Absterben 
der  Natur  anzeigten,  —  sind  sie  nicht  die  leisen  Vormahnungen 
dessen,  Avas  jetzt  werden  sollte?  Es  ist,  als  ob  damals  die 
Natur  und  die  ganze  feierliche  Umgebung  hätte   sagen  wollen : 

üeber  allen  Gipfeln 

Ist  Ruh' ; 

In  allen  Wipfeln 

Spürest  du 

Kaum  einen  Hauch; 

Die  Vögelein  schweigen  im  Walde. 

Warte  nur,  balde 

Ruhest  du  auch. 

Und  jetzt  ist  es,  als  ob  das  leise  Gebet  zum  Himmel  stiege: 

Der  Du  von  dem  Himmel  bist, 
Alles  Leid  und  Schmerzen  stillest, 
Den,  der  doppelt  elend  ist, 
Doppelt  mit  Erquickung  füllest, 
Ach,  ich  bin  des  Treibens  müde! 
Was  soll  all  der  Schmerz  und  Lust? 
Süsser  Friede, 
Komm,  ach  komm  in  meine  Brust! 

Damals  konnte  O.  noch  reiche  Hoffnungen  hegen,  jetzt  ist  stilles 
Entsagen  ihr  Teil. 

Es  beseofnet  häufig  im  menschlichen  Leben,  wenn  Jemand 
an  seiner  althergebrachten  Gewohnheit ,  seiner  Lebens-  und 
Denkweise  etwas  ändert,  dass  wir  dann  sagen,  mit  dem  betref- 
fenden müsse  es  bald  zu  Ende  gehen ;  denn  wir  nehmen  an, 
dass  blos  das  nahende  Verhängnis  eine  solche  Wirkung  aus- 
üben könne.  Etwas  ähnliches  sehen  wir  zu  Anfang  dieses  letz- 
ten Capitels.  Während  O.  bisher  den  Koffer  nebst  Inhalt  gar 
nicht  beachtet,  ja  sogar  verabscheut  hat,  öffnet  sie  jetzt  den- 
selben und  fertigt  sich  ein  vollständiges  Gewand.  Ihre  Freu- 
digkeit wächst  immer  mehr  auf  Eduard's  Geburtstag  hin;  nie- 
mand aber  merkt,  dass  sie  zu  Zeiten  Anfälle  von  Schwachheit 
hat.  Mittler,  der  viel  im  Hause  verkehrt,  ist  sehr  schonend  in 
seinem  Auftreten ;  nur  wenn  er  auf  ein  moralisches  Thema  zu 
sprechen    kommt,    bricht    er    rücksichtslos    die    Zurückhaltung. 


Die  deutsche  Novelle  uud  der  deutsche  Roman.  425 

Während  er  zu  Ende  des  vorigen  Teiles  vergeblich  den  Mittler 
spielte,  ist  er  jetzt  dazu  ausersehen,  die  Veranlassung  zur  Lösung 
des  Knotens  zu  geben,  freilich  in  ganz  anderer  Weise ,  als  er 
zufolge  seiner  praktischen  Klugheit  es  erwartet.  Er  ist  eben 
im  besten  Eaisonniren  über  das  Unzweckmässige  einzelner  Ge- 
bote und  besonders  des  sechsten :  ohne  Ottiliens  Eintreten  zu 
bemerken,  fährt  er  lebhaft  fort,  seine  Ansicht  darüber  zu  ent- 
wickeln, —  da  geht  diese  plötzlich,  äusserlich  ganz  verwandelt, 
wieder  aus  dem  Zimmer.  In  ihrem  Gemach  angelangt,  fällt  sie 
in  Ohnmacht,  sei  es  nun,  dass  ihre  körperliche  Schwäche  dar- 
an schuld  war,  oder  dass  es  den  kräftigen  Ausdrücken  Mittler's 
zuzuschreiben  ist.  Nanny  gesteht  auf  Drängen  des  Arztes,  O. 
habe  heute,  sie  habe  seit  vielen  Tagen  so  viel  wie  nichts  ge- 
nossen. Was  sollen  wir  urteilen?  Entweder  es  war  eine  be- 
wusste  Absiclit  in  diesem  Fasten,  das  an  dem  folo-enden  Tage 
einen  tragischen  Abschluss  finden  sollte,  oder  es  war  ein  unbe- 
wusstes,  apathisches  Hinleben,  dem  der  Zufall  ein  Ende  gemacht 
hat;  dass  sie  wirklich  Avieder  die  Absicht  gehegt  habe,  E.  zu 
heiraten,  daran  können  wir  nach  ihren  Aeusserungen  und  Hand- 
lungen nicht  glauben,  —  Wie  O.  daliegt,  kommt  E.  und  stürzt 
in  leidenschaftlicher  Aufregung  vor  ihr  nieder ;  bald  darauf  ver- 
scheidet sie.  Anfangs  will  E,  verzweifeln,  dann  willigt  er  ein, 
dass  O.,  im  Glassarge  liegend,  in  der  Kapelle  beigesetzt  werde. 
So  ist  sie  denn  todt,  die  herrliche  Blume,  geknickt  in  der  Blüte 
der  Jugend !  Kaum  ins  Leben  eingetreten,  verlässt  sie  dasselbe, 
geliebt  und  betrauert.  Auf  Erden  war  ihr  nicht  verstattet,  dem 
Geliebten  anzugehören;  dies  brach  ihr  das  Herz.  Der  Tod  war 
das  einzige  Mittel  zur  Lösung  der  Verwickelung;  sie  büsst  da- 
durch ihre  Schuld.  Die  Uebertretung  des  Moralgesetzes,  die 
sie  sich  zu  Schulden  hat  kommen  lassen,  ist  gesühnt.  Am  fol- 
genden Morgen  wird  ihre  Leiche  hinübergetragen,  von  der  eben 
tiufgehenden  Sonne  bestrahlt.  Eine  zartsinnige  Hindeutung  auf 
die  Auferstehung  des  Geistes !  Nanny,  die  seitdem,  beinahe 
irrsinnig,  hinter  Schloss  und  Riegel  gehalten  wird,  springt  in 
den  vorübergehenden  Leichenzug  vom  Oberboden  hinab,  sie 
scheint  todt.  Plötzlich  springt  sie  auf,  Ottiliens  sanfte  Gesichts- 
züge scheinen  ihr  zu  vergeben.  Die  Leiche  wird  in  der  reich 
geschmückten    Kapelle   beigesetzt ,    und  Nanny,    die   wunderbar 


426  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman. 

unbeschädigte,  bleibt  neben  der  Lampe  als  Wächterin.  Abends 
tritt  der  Architekt  ein  und  naht  stumm  der  Leiche;  er  muss 
weinen,  wie  er  die  Inniggeliebte  sieht.  Seine  Stellung  gleicht 
derjeni<i-en,  in  welcher  derselbe  schon  einmal  vor  Belisar  bei 
Geleo-enheit  des  lebenden  Bildes  aufgetreten  ist,  das  auf  Lu- 
cianens  Geheiss  aufgeführt  wurde.  Nanny's  wolwollende  Reden 
trösten  ihn.  War  Nanny  bei  dem  Sturze  so  merkwürdig  un- 
verletzt geblieben,  so  schrieb  dies  das  Volk  einer  wundertätigen 
Kraft  der  Verstorbenen  zu;  von  weither  wallfahrtete  man,  um 
geheilt  zu  werden.  Dies  ist  das  zweite  Beispiel  eines  Wunder- 
glaubens. Kehren  wir  zurück  zu  Eduard!  Nie  tritt  er  in  die 
Kapelle,  trostlos  und  apathisch  irrt  er  umher,  Avenig  essend  und 
trinkend,  wenig  gesprächig.  Auch  hier  flicht  sich  wieder  die 
Liebe  zum  Wunderbaren  ein.  Eines  Tages  erscheint  ihm  das 
mit  E.  und  O.  gezeichnete  Glas,  das  er  stets  bei  sich  führte, 
nicht  mehr  dasselbe.  Er  fragt  den  Kammerdiener  und  hört, 
das  alte  sei  zerbrochen  und  ein  ähnliches  untergeschoben ;  er 
scheint  darin  sein  Schicksal  zu  lesen.  Er  ist  unmutig  darüber, 
dass  er  langsam  abstirbt;  endlich  wird  er  todt  aufgefunden. 
Dass  er  sich  nicht  selbst  getödtet  habe,  sondern  vom  Tode 
überrascht  worden  sei,  darauf  schien  der  Umstand  zu  deuten, 
dass  Locken,  Blumen,  Blättchen,  Erinnerungen  an  Ottilie,  aus- 
gebreitet vor  ihm  lagen,  auch  das  Papier,  welches  ihm  einst 
Ch.  so  zufällig  ahnungsreich  übergeben  hatte.  Seine  Leiche 
wird  neben  O.  in  der  Kapelle  beigesetzt.  —  So  ruhen  die  Lie- 
benden neben  einander;  was  ihnen  das  Leben  versagte,  das 
schenkte  der  Tod.  Dies  war  der  einzige  Abschluss,  den  Göthe 
dem  Roman  geben  konnte.  Beide  haben  eine  Schuld  begangen, 
beide  haben  die  sittliche  Weltordnung  nicht  anerkennen  wollen  ; 
beide  konnten  nicht  ohne  ein  Verbrechen  sich  hier  in  diesem 
Leben  angehören,  ebenso  wenig  aber  vermochten  sie  einander 
zu  entsagen ;  —  der  Tod  löste  den  Conflict  und  rächte  die  Ver- 
letzung des  sittlichen  Institutes  der  Ehe.  Die  tragische  Ka- 
tharsis ist  erreicht. 


Zum  Schlüsse  kommt  es  noch  darauf  an,    folgende  Punkte 
näher  zu  beleuchten;  die  scharfe  Charakterzeichnung,    die  feine 


Die  deutsche  Novt-Ue  und  der  deutsche  Roman.  427 

und  sichere  Durchführung  der  Gegensätze ,  die  künstlerische 
Einheit  des  Ganzen,  sowie  die  harmonische  Verknüpfung  und 
Gruppirung  des  Einzelnen,  das  Seelen-  und  Gemütsleben,  die 
Vorliebe  für  Ahnungen  und  Wunderglauben,  den  Stil  und  die 
Darstellung,  die  Bezeichnung  des  Romans  und  die  Beziehung 
auf  ähnliche  Werke. 

Die  Charaktere  sind  durchgehends  scharf  entwickelt  und 
rein  gezeichnet ;  wie  Bilder  und  Statuen  glauben  wir  die  Per- 
sonen vor  uns  zu  sehen :  in  so  scharfen  Umrissen  treten  sie  vor 
unser  geistiges  Auge.  Wir  sehen  Eduard  rasch  in  seinen 
Entschliessungen ,  keinen  Widerspruch  duldend,  etwas  einmal 
beschlossenes  bis  zur  äussersten  Consequenz  durchführend; 
lebhaft  vom  Temperament,  leicht  aufwallend,  ohne  rechte  Auf- 
merksamkeit auf  sich  selbst,  daher  sich  leicht  verratend,  arg- 
wöhnisch gegen  andere,  sich  selbst  widersprechend  in  seinen 
Handlungen;  heftig  und  leidenschaftlich  in  der  Liebe,  tapfer 
bis  zur  Verzweiflung  im  Kampfe,  freigebig  bis  zur  Verschwen- 
dung, edel  von  Gesinnung;  ahnungsvoll,  auf  Zufälle  und  un- 
bedeutende Ereignisse  viel  gebend;  keine  Moral  anerkennend, 
sondern  blos  das  Bedürfnis  des  Herzens,  dabei  kindliches  Wesen 
behaltend  bis  ins  Mannesalter.  Seine  Gattin  Charlotte  ist 
kühl  und  verständig,  selbst  im  Moment  der  Leidenschaft  zu- 
rückhaltend und  sich  beherrschend;  dasselbe  fordert  sie  von  an- 
deren. Sie  zeigt  sich  liebevoll  und  teilnehmend  gegen  ihre 
Mitmenschen,  selbst  gegen  ihre  Nebenbuhlerin.  Die  Kraft  des 
moralischen  Gesetzes  überschätzt  sie  so,  dass  sie  immer  wieder 
auf  Besserung  hofft.  Sie  ist  aufopfernd  und  entsagend,  ohne 
egoistisches  Interesse;  sparsam  und  einfach,  anregend  und  schaf- 
fend, tätig  im  Hauswesen;  das  zukünftige  leicht  erratend  mit 
praktischem  Verstände;  geistreich  in  der  Unterhaltung,  über 
philosophische  Materien  mit  Geschick  sich  verbreitend ,  dabei 
feingebildet  und  gewandt  im  Umgang.  Der  Hauptmann  er- 
scheint praktisch,  verständig,  vielseitig  gebildet,  im  Leben  schon 
vielfach  erprobt;  leicht  in  seine  Lage  sich  findend,  kühn  und 
mutig  in  Gefahren,  zartfühlend  und  gern  tätig  für  seine  Freunde; 
entsagend  durch  männlichen  Entschlu,ss,  weniger  durch  mora- 
lische Erkenntnis,  daher  auch  leicht  wieder  für  sein  Glück  hof- 
fend und  von   selbstischem   Begehreu.     Ottilie  ist  jugeudlieh- 


428  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman. 

schüchtern,  bescheiden  in  ihrem  Auftreten,  ungern  glänzend  und 
beachtet;  kindlich  giebt  sie  sich  hin  in  ihrer  Liebe,  ohne  Ah- 
nuno- der  darin  liegenden  Schuld;  wenig  mitteilsam,  zieht  sie 
sich  mehr  in  ihr  Inneres  zurück,  daher  tritt  sie  auch  hinter  an- 
deren Mitschülerinnen  zurück ;  dabei  ist  sie  dienend  und  ge- 
fallifT^,  tätig  und  arbeitsam,  einfach  und  sparsam,  zartfühlend  und 
zartbesaitet,  die  geringste  Kränkung  leicht  spürend  und  tief 
empfindend;  ausharrend  in  der  Liebe,  erst  leidenschaftlich  >sich 
hinsrebend,  dann  nach  Erkenntnis  ihrer  Schuld  standhaft  im 
Entsagen  trotz  aller  Versuche  des  Geliebten  und  der  Freunde, 
zuletzt  den  Tod  für  ihre  Liebe  erleidend.  Eine  merkwürdige 
Person  ist  Mittler,  sonderbar  in  seinem  ganzen  Auftreten, 
ein  närrischer  Kauz,  aber  gern  gesehen.  Er  tritt  jedesmal  auf 
kurz  vor  einem  wichtigen  Ereignis,  so  vor  der  Berufung  des 
Hauptmanns,  vor  dem  Besuch  des  Grafen  und  der  Baronesse, 
vor  dem  Tode  des  Geistlichen  und  Eduard's  Zuge  in  den  Krieg, 
vor  dem  Tode  der  beiden  Liebenden.  Streng  morahsch,  achtet 
er  bei  seinen  Forderungen  auf  nichts  anderes ;  Menschen,  die 
gegen  das  Moralgesetz  Verstössen,  meidet  und  hasst  er;  wenn 
auch  wolmeinend  und  für  das  Beste  der  Menschen  besorgt,  geht 
er  doch  blind  drauf  los  und  verletzt,  ohne  es  zu  wollen ;  san- 
guinisch in  seinen  Hoffnungen,  weil  das  seinen  Wünschen  ent- 
spricht, wird  er  leicht  und  bitter  getäuscht.  Luciane  ist  eine 
lebhafte  Weltdame,  ohne  Sinn  für  Häuslichkeit  und  Sparsam- 
keit, kokett  und  luxuriös,  nur  bei  geräuschvollen  Festen  sich 
wolfülend.  Leicht  auffassend,  glänzt  sie  äusserlich  durch  ihre 
Kenntnisse  und  blendet  durch  ihre  Eigenschaften.  Sie  ist  lustig 
bis  zur  Ausgelassenheit,  zumutend  bis  zur  Frivolität,  aufdring- 
lich bis  zur  Belästigung  und  Beschädigung  anderer,  überall 
glänzen  und  alles  an  sich  fesseln  wollend,  keinen  Widerspruch 
duldend;  dabei  zeigt  sie  sich  jedoch  auch  manchmal  woltütig 
und  mitleidig.  Der  Gehülfe  ist  ein  praktisch  und  theoretisch 
erfahrener  Pädagfoo-e,  vom  Ernste  des  Lebens  und  seines  Be- 
rufes  durchdrungen,  tiefer  Menschenkenner,  gebildet  und  welt- 
erfahren, angenehm  in  der  rnterhaltung.  Durch  das  Aeussere 
lässt  er  sich  nicht  bestechen ,  er  sieht  auf  den  inneren  Wert. 
An  jedem  Menschen  weiss  er,  wohvollend  in  seiner  Beurteilung, 
das  Gute   hervorzuheben ,    selbst  gegenüber   dem   oft    taktlosen 


Pie  deutsclte  Novelle  uufl  der  deutsche  Roman.  429 

Benehmen  der  gutmeinenden  Vorsteherin;  offen  begründet  und 
ruhicj  verteidiot  er  seine  entgegengesetzte  Meinung  vor  seinen 
Vorgesetzten,  In  seiner  Liebe  ist  er  verständig  und  gelassen; 
das  nil  admirari  des  Horaz  scheint  ihm  in  Fleisch  und  Blut 
übergegangen  zu  sein.  Die  Natur  des  Architekten  ist  eine 
ähnliche  wie  die  des  Gehülfen;  er  erscheint  gebildet,  tätig,  er- 
fahren. Doch  besticht  er  mehr  durch  seine  künstlerischen  Be- 
strebungen ,  als  jener  durch  seine  Erziehungsmaximen.  Beide 
ergänzen  sich  gegenseitig:  der  praktische,  belehrende  Verstand 
und  die  erheiternde  Kunst.  Dasselbe  zeigt  sich  in  der  Liebe 
zu  Ottilien ;  jener  sieht  in  ihr  die  treue  Gehülfin  bei  seinem 
schwierigen  Werke ;  dieser  schätzt  ihr  jungfräulich-zurückhal- 
tendes, kindliches  Betragen,  ihre  Liebe  zur  Malerei,  seine  Liebe 
hat  einen  poetischen  Anhauch,  welcher  bei  dem  Gehülfen  fehlt. 
Dabei  ist  er  ohne  Neidgefühl  gegen  den  Nebenbuhler,  durch 
den  er  sich  völlig  ersetzt  sieht;  zurückhaltend  in  seinem  Gefühl, 
äussert  er  erst  in  der  Scene  am  Grabe  Ottiliens  eine  tiefe  Lei- 
denschaft. —  Ebenso  wie  die  Charaktere  scharf  gezeichnet 
sind,  ist  auch  die  Darstellung  der  Situationen,  in  denen  sich 
die  einzelnen  Personen  befinden,  eine  sehr  anschauliche  und 
bietet  dem  Maler  vielfache  Motive;  daher  kann  es  auch  nicht 
fehlen,  dass  der  Pinsel  der  bedeutendsten  Künstler  der  Gegen- 
wart sich  dieses  Stoffes  bemächtigt  hat.  Wie  wunderbar  pla- 
stisch steigt  die  Scene  in  unserer  Phantasie  empor,  wo  Ottilie 
in  ratlosem  Jammer  das  Kind  in  ihren  Armen  hält,  „da  der 
Kahn  ohne  Bewegung  auf  der  Wasserfläche  steht!"  Kaulbach 
hat  diese  Scene  malerisch  gestaltet  mit  schöpferischer  Kraft. 

Ferner  zeichnet  sich  der  Koman  aus  durch  feinste  und 
sicherste  Durchführung  der  Gegensätze.  —  Ist  der  Kontrast 
überhaupt  ein  Mittel  von  hoher  Bedeutung  für  die  Zwecke  des 
Dichters,  —  denn  er  allein  ermöglicht  durch  die  herbeigeführ- 
ten Verwickelungen  den  Fortgang  der  Handlung,  spannt  das 
Interesse  und  bewirkt  eine  klare  Uebersicht  der  Personen,  — 
so  hat  er  namentlich  in  unserem  Roman  vielfache  Verwendung 
gefunden.  Da  stehen  sich  gegenüber:  der  lebhafte  Eduard  — 
der  ruhige  Hauptmann ;  die  sittliche  Charlotte  —  die  leichtlebige 
Baronesse;  die  gesetzte  Ottilie  —  die  flatterhafte  Luciane;  der 
egoistische  Eduard   —    die   entsagende    Ottilie;   die   ewig   sich 


430  Die  deutsche  Novelle  uml  der  deutsche  Roman. 

gleich  bleibende  Natur  und  das  friedliche  Schaffen  derselben  — 
das  aufgeregte  und  unruhige  Treiben  der  in  derselben  sich 
bewegenden  Menschen,  die  des  inneren  Friedens  erman- 
geln ;  die  Krankheit  —  die  oft,  aber  vergebens  versuchte  Hei- 
lung. 

Nicht  minder  ist  hervorzuheben  die  künstlerische  Einheit 
des  Romans,  sowie  die  harmonische  Verknüpfung  und  Gruppi- 
rung  des  Einzelnen.  Alles,  was  im  Roman  vorkommt,  hat  Be- 
zug auf  den  Conflict  der  Liebe  und  dessen  Lösung ;  die  Neben- 
personen treten  blos  in  so  weit  hervor,  als  sie  die  Hauptper- 
sonen in  helleres  laicht  stellen  sollen.  Dabei  zeigt  sich  eine 
harmonische  Verknüpfung  im  Auftreten  einzelner  Personen ; 
wie  deutlich  zu  erkennen  ist,  sind  oft  zwei  ähnliche  Erschei- 
nungen auf  einander  bezogen ;  etwas  lange  vorher  angedeutetes 
geht  später  in  Erfüllung,  z.  B.  der  Rückfall  des  kranken  Mäd- 
chens, welches  am  Tode  eines  seiner  Geschwister  schuldig  war, 
steht  parallel  dem  Wiedererwachen  der  Liebe  in  Ottiliens  Her- 
zen, die  gleich  darauf  den  Tod  des  Kindes  verursacht;  der  Lie- 
besbrief, den  Charlotte  einst  ihrem  Manne  so  zufällig  ahnungs- 
reich übergeben  hat,  kommt  wieder  zum  Vorschein  nach  Eduard's 
Tode,  auf  dem  Tische  liegend.  Nicht  minder  ist  zu  loben  die 
Gruppirung  der  Personen,  die  einander  suchen  oder  er- 
gänzen ;  solche  sind :  Eduard  und  Ottille,  der  Hauptmann  und 
Charlotte,  der  Graf  und  die  Baronesse,  der  Architekt  und  der 
Gehülfe. 

Das  Seelen-  und  Gemütsleben  der  Einzelnen  zeigt  die 
Kunst  des  Schriftstellers  in  ihrem  geheimsten  und  innersten 
Wesen ;  wie  geöffnet  liegt  dasselbe  vor  uns,  bald  in  klarer 
Freude,  bald  in  trüber  Stimmung.  Gross  sind  die  Leidenschaf- 
ten, welche  die  Herzen  der  Hauptpersonen  aufregen,  und  Avür- 
dig  der  Darstellung;  dieselben  werden  in  rein  objectiver  Weise 
geschildert.  Wir  tun  einen  Einblick  in  das  Räderwerk  des 
menschlichen  Herzens  mit  seinen  Fluten  und  Wallungen,  in  die 
Liebe  mit  ihren  Stufen  und  Gegensätzen  von  der  höchsten  Lust 
bis  zum  herbsten  Schmerz.  Wie  vielfach  tritt  dieselbe  auf! 
bald  ist  sie  zärtlich  und  leidenschaftlieh,  bald  ernst  und  ent- 
sagend.    Von  Stufe   zu  Stufe  sehen  wir   dieselbe  aufkeimen  in 


Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman.  431 

Ottlliens  Herzen:  anfangs  still  sich  äussernd  in  einzelnen  kaum 
zu  bemerkenden  Erscheinungen,  dann  plötzlich  sich  enthül- 
lend, unzerreissbar ,  stark,  wieder  enttäuscht  und  still  ent- 
sagend, dann  frische  Hoffnung  schöpfend,  durch  das  plötzliche 
Unglück  von  neuem  unmöglich  gemacht  und  zum  Tode  ge- 
brochen. 

Gradezu  auffallend  ist  die  Vorliebe  für  Ahnungen  und  für 
das  Spiel  des  Zufalls.  So  steigt  in  Chai'lotten  eine  schlimme 
Ahnung  auf,  wie  ihr  Eduard  sein  Vorhaben  in  BetreflF  des 
Hauptmanns  mitteilt.  Mittler  stellt  seine  Vermittelung  in  Aus- 
sicht, wenn  man  deren  bedürfen  solle.  Ferner  wird  das  zufäl- 
lige Auffangen  des  Glases  als  ein  glückliches  Zeichen  ange-» 
sehen,  und  wir  finden  im  folgenden,  dass  dasselbe  öfter  zu 
Eduard  in  Beziehung  steht.  Mittler  befürchtet  schlimmes  für 
die  Freunde,  wie  ihm  die  bevorstehende  Ankunft  des  Grafen 
und  der  Baronesse  mitgeteilt  wird.  Die  Erzählung  der  Baro- 
nesse über  die  Freundin,  die  demnächst  von  ihrem  Manne  werde 
geschieden  werden,  dient  dazu,  das  kommende  vorzuberei- 
ten ;  ebenso  die  Aeusserung  derselben  Dame  über  die  dritte 
Stufe,  welche  Charlotte  und  Eduard  im  ehelichen  Leben  noch 
zu  erreichen  hätten.  Seltsam  ist  die  Ahnung,  von  welcher  Ch. 
nach  der  Scene  mit  dem  Hauptmann  ergriffen  wird.  Zufallige 
Ereignisse  mahnen  E.  wiederholt  ab,  sich  in  einen  Briefwechsel 
mit  Ottilie  einzulassen.  Zu  beachten  ist,  dass  die  Zeit  der 
Baumpflanzung  am  See  und  der  Geburt  Ottiliens  auf  Tag  und 
Jahr  übereinstimmt.  Ahnungsreich  ist  ferner  der  Gedanke, 
dass  die  Seitenkapelle  zur  Grabstätte  für  zwei  Personen  wie 
geeignet  schien.  Von  Bedeutung  ist  auch,  dass  der  Gehülfe 
Charlotten  einen  Sohn  prophezeit,  sowie  dass  der  Geistliche  bei 
der  Taufe  stirbt.  Das  Kind  wird  in  der  Kapelle  beigesetzt 
als  das  erste  Opfer  eines  ahnungsreichen  Verhängnisses.  Auf 
das  Wunderbare  ist  früher  schon  hingedeutet  worden. 

Der  Stil  ist  glatt  und  graciös,  die  Sprache  künstlerisch  voll- 
endet. Unebenheiten  und  Absonderlichkeiten  des  Ausdrucks 
kommen  nur  höchst  vereinzelt  vor,  öfter  noch  in  der  zuerst  be- 
handelten Novelle  als  im  Roman.  Häufig  sind  Sentenzen  in 
das  Werk  eingestreut,   teils   in  Gesprächen,  teils  als  Einleitun- 


432  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman. 

gen  der  Capitel,  teils  als  Aufzeichnungen  im  Tagebuche;  hier- 
her o-ehören  auch  die  ethisch- philosophischen  Betrachtungen, 
namentlich  über  die  Ehe.  Begründet  sind  dieselben  dadurch, 
dass  das  Alter  seine  Erfahrungen  anbringen  will ;  eine  parallele 
Erscheinung  findet  sich  im  Wilhelm  Meister.  P]benso  bemer- 
ken wir  eine  Vorliebe  für  die  Natur  und  technische  Fertigkeiten. 
Davon  zeugen  die  chemischen  Beispiele  von  Verwandtschaften, 
die  Sprüche  des  Maurers  bei  der  Richtung  des  Hauses,  die  Er- 
klärung der  Benennung  der  rote  Faden,  die  Discussion  des 
Architekten  über  die  Baukunst,  die  Bemerkungen  Ottiliens  über 
die  Natur,  zu  denen  sie  durch  die  Affenporträts  veranlasst  wird, 
die  Unterhaltung  über  die  Gärtnerei,  die  Versuche  mit  dem 
Pendel,  die  Darstellung  lebender  Bilder  nach  Kupferstichen,  die 
Bemerkung  über  Declamation,  dass  beim  epischen  und  lyrischen 
Vortrag  Gesten  möglichst  zu  vermeiden  seien.  Ein  ferneres 
Merkmal  ist  die  Vorliebe  für  Pädao-oscik,  welche  gerade  so  her- 
vortritt  wie  im  Wilhelm  Meister.  Dies  beweist  zunächst  die 
ganze  Erscheinung  des  Gehülfen  ;  seine  zwei  Beilagen  an  Char- 
lotte, die  über  Ottilie  handeln,  enthalten  viele  feine  und  schätz- 
bare pädagogische  Kunstmittel  und  eröffnen  einen  weiten  Blick 
ins  Getriebe  dieser  Kunst.  Später  wie  der  Gehülfe  die  beiden 
Frauen  besucht,  teilt  er  denselben  ganz  eingehend  seine  Er- 
ziehungsgrundsätze mit,  durch  Ottiliens  Mädchenschule  dazu 
ano-eregt.  Dahin  gehört  auch  die  Ausleo;unof  des  fünften  und 
sechsten  Gebotes  durch  Mittler,  deren  Fassung  im  Katechismus 
derselbe  hart  tadelt. 

Vielfachen  Tadel  hat  hervorgerufen  die  Benennung  des 
Romans,  sowie  die  sittliche  Anschauung,  die  das  Werk  durch- 
zieht. Indessen  aus  der  Benennung  folgt  noch  lange  nicht  die 
von  Vilmar  aufgestellte  Behauptung,  dass  Göthe  dadurch  die 
Sittlichkeit  einem  Naturgesetz  unterordnen  wolle ;  dass  er  dies 
nicht  hat  sagen  wollen,  erhellt  hinlänglich  aus  der  Unterredung, 
die  zwischen  Eduard,  dem  Hauptmann  und  Charlotte  über  den 
Begriff:  „Wahlverwandtschaften"  stattfindet.  Wenn  aber  Vil- 
mar auch  vom  sittlichen  Standpunkt  aus  das  Werk  verurteilt, 
so  lässt  sich  erwidern :  die  Sünde  wird  nirgends  gelobt,  son- 
dern in  ihrem  Wesen  dargestellt;  auch  zeigt  der  Schluss,  in- 
dem  die  rächende   Nemesis   die   Schuldigen   ereilt,    dass    keine 


Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman.  433 

Apotheose  derselben  bezweckt  wird.  Jedenfalls  ist  es  gut, 
wenn  die  Wahrheit  offen  enthüllt  wird;  denn  nur  dadurch 
kommt  der  Mensch  in  die  Lage,  Klarheit  zu  gewinnen  und  das 
Böse  zu  fliehen.  Wenn  Vilmar  zuletzt  sogar  aus  künstlerischen 
Gründen  den  Schluss  verurtheilt,  so  hätte  er  seine  Gründe  da- 
für anführen  sollen.  Ihm  wäre  wol  die  liebste  Lösung  gewesen, 
wenn  Eduard  seine  Schuld  erkannt,  sich  gebessert  hätte  und 
zu  Ch.  zurückgekehrt  wäre ;  für  die  Moral  war  dies  freilich 
das  natürlichste,  nicht  so  für  den  Aesthetiker.  Denn  wer  möchte 
annehmen,  dass  das  Zusammenleben  beider  ganz  das  frühere 
geworden  wäre?  Wo  solche  Störungen  der  Ehe  stattgefunden 
haben,  da  ist  eine  völlige  Versöhnung  unmöglich ;  es  wäre  ein 
rein  äusseres,  gezwungenes  Zusammenleben,  das  den  Leser 
nicht  befriedigen  würde.  Dass  aber  Vilmar  einen  solchen 
Schluss  gewünscht  habe,  zeigt  die  Aeusserung,  Mittler  gefalle 
ihm  am  besten. 

Eine  Krankheit  der  Zeit ,  welche  durch  künstliche  Mittel 
der  Menschen  nicht  geheilt  zu  werden  vermag,  sondern  einer 
gewaltsamen  Lösung  durch  den  Tod  bedarf,  hat  Göthe  schon 
einmal,  volle  36  Jahre  früher,  in  einem  Jugendproduct  geschil- 
dert, in  den  Leiden  des  jungen  Werther.  Doch  ist  die  Ent- 
wickelung  jener  alten  Erzählung  eine  ganz  andere;  nur  der 
Ausoano;  und  die  Grundanschauung  sind  dieselben.  Hier  wie 
dort  hat  Göthe,  Avie  ja  so  oft  in  seinen  Werken,  eigene  Erleb- 
nisse und  Erfahrungen  zu  Grunde  gelegt;  es  kam  ihm,  wie 
bekannt,  selbst  darauf  an,  eine  derartige  in  ihm  aufkeimende 
Neiguno;  zu  hfeilen.  So  hat  man  denn  auch  in  manchen  Per- 
sonen  Aehnlichkeiten  mit  gleichzeitig  Lebenden  gefunden,  wor- 
über näheres  bei  „Stahr,  Göthe's  Frauengestalten"  im  Anhang 
sich  findet.  —  Die  Umgangssprache  ist  bei  der  Unterredung 
des  Lords  mit  den  beiden  Frauen  die  französische;  Lokal,  Um- 
stände und  Zeit  deuten  auf  eine  Gegend  Mitteldeutschlands,  in 
der  Nähe  eines  kleinen  Hofes  und  auf  das  Ende  des  vorigen 
Jahrhunderts. 

Bei  seinem  Erscheinen  erregte  der  Roman  eine  grosse 
Sensation,  wie  bei  der  Berühmtheit  des  Autors  und  bei  den 
darin  enthaltenen  Anspielungen  nicht  anders  zu  erwarten    war  ; 

Archiv  f.  n.  Sprachen.   XLVni.  28 


434  Die  deutsche  Novelle  und  der  deutsche  Roman. 

aber  auch  wir  lesen  ihn  stets  noch  mit  Vergnügen,  nicht  weil 
wir  vom  Namen  des  Dichters  bestochen  sind,  sondern  weil  der- 
selbe ßoman  in  jeder  Hinsicht  den  ersten  Rang  dieser  Gattung 
einnimmt  und  weil  derselbe  Quelle  und  Vorbild  einer  Haupt- 
gattung der  heutigen  Roman-  und  Novellendichtung  gewor- 
den ist. 

Sprottau. 

Dr.  Härtung. 


Die 
sprichwörtlichen  Formehi  der  deutschen  Sprache. 


Von 

Carl  Schvilze. 


I. 

„Die  Sprichwörter,"  sagt  Gervinus  in  seiner  literaturgeschichte, 
„sind  das  volksmässigste,  was  es  überhaupt  nächst  der  Sprache  nur 
immer  geben  kann."  Die  von  mir  beim  schürfen  nach  altdeutschen  Sprich- 
wörtern gesammelten  und  hier  mitgetheilten  Sprachformeln  möchte  ich 
als  eine  Übergangsstufe  vom  einfachen  wort  zur  sprichwörtlichen  redens- 
art  und  zum  Sprichwort,  also  als  den  der  spräche  am  nächsten  stehen- 
den volksmässigen  ausdruck  bezeichnen.  Die  Sprachformeln  sind 
Synonyma  der  Sprichwörter,  denn  beiden  haftet  der  Charakter  des  oft 
gesprochenen  wertes  an.  Dergleichen  formein  finden  sich  ohne  zweifei 
in  allen  alten  und  neuen  sprachen,  in  keiner  auf  der  ganzen  erde  aber 
wol  zahlreicher,  als  in  unserer  lieben  muttersprache,  namentlich  auf 
dem  gebiete  der  rechtspflege,  wo  ja  überhaupt  gesetz  und  feste  form 
herrschen,  wie  J.  Grimm  in  seinen  rechtsalterthümern  ausführlich  nach- 
gewiesen hat.  Freilich  sind  die  formein  aus  der  heutigen  Sprache 
der  gebildeten  zum  grossen  theile  gewichen.  Mehr  dem  concreten  zu- 
gewendet, haben  sie  sich  vor  unserer  immer  mehr  abstracter  w^erdenden 
ausdrucksweise  zurückgezogen  und  leben  nur  noch  im  volksmunde, 
im  munde  der  bürger  und  bauern. 

Schon  im  j.  1812  (ausgäbe  des  Hildebrandliedes)  sprachen  die 
altmeister  gebr.  Grimm  die  absieht  aus,  eine  Sammlung  deutscher 
Sprachformeln  zu  veranstalten,  wendeten  auch  in  der  folge  dem  gegen- 
stände dauerndes  Interesse  zu  (vgl.  rechtsalt.  IL  A.  Götting.  1854.   8. 

28* 


436  Die  sprichwörtlichen  Formeln  der  deutschen  Sprache. 

8.  6 — 27,  und  altd.  wälder  III,  108  ff.),  sind  aber  durch  grössere 
arbeiten  an  der  ausführung  ihres  Vorhabens  verhindert  worden.  Da- 
her unternahm  Eiselein  1841  „mit  minderem  geschick,"  wie  er  selbst 
gesteht,  eine  derartige  Sammlung  herauszugeben ;  dieselbe  führt  den 
titel:  „Die  reimhaften,  anklingenden  und  ablautenden  formein  der  hoch- 
deutschen spräche  in  alter  und  neuer  zeit,  gesammelt  und  erläutert  von 
professor  Eiselein.  Constanz  und  Leipzig.  (Fleischer.)  1841.  8. 
(VIII  u.  68  SS.)."  Dieser  versuch  enthält  indessen,  ebenso  wie  das 
Sprichwörterwerk  des  herausgebers  (Freiburg  1840),  nur  ein  leichthin 
zusammengerafftes,  unzuverlässiges,  schlecht  geordnetes,  durchaus  nicht 
aus  den  quellen  geschöpftes  und  die  mundarten  ganz  vernachlässigen- 
des material.  Statt  der  auf  dem  titel  versprochenen  formein  findet 
man  in  dem  sehr  unvollständigen  werke  bei  weitem  mehr  Sprichwörter 
und  onomatopoetische  ausdrücke;  das  ganze  ist  also  nur  eine  unreife 
frucht  zu  nennen.  Eine  recht  lesenswerthe,  eingehende  betrachtung 
der  Sprachformeln  gibt  Tobler  im  Schweiz,  museum  (IV,  185 — 207) 
bei  erklärung  des  ausdrucks  „wunn  und  weide." 

Was  sind  nun  Sprachformeln  ?  Sprichwörter  und  sprichwörtliche 
redensarten  sind  zwar  im  gründe  auch  formein  der  spräche,  im  beson- 
deren aber  bezeichnet  man  mit  diesem  worte  diejenigen  sprichwörtlich 
gewordenen  ausdrücke,  welche  aus  zwei  durch  verbindende  oder  tren- 
nende conjunctionen  mit  einander  verknüpften  Wörtern  bestehen  und 
dazu  dienen,  der  rede  mehr  nachdruck  und  schmuck  zu  geben.  Zu  be- 
merken ist  hierbei,  dass  immer  nur  Wörter  eines  und  desselben  rede- 
theils  sich  zu  einer  formel  vereinigen,  und  zwar  nur  substantiva,  ad- 
jeetiva,  verba,  pronomina,  adverbia,  in  einigen  fällen  auch  präpositionen 
und  interjectionen.  Zuweilen  kehrt  eine  formel  durch  ableitung  in 
mehreren  redetheilen  wieder,  z.  b.  schade  und  schände  =  schädlich  u. 
schändlich  =  geschändet  und  schadhaft  =  schaden  und  schänden ;  die 
Substantivformeln  haus  und  hof,  schlag  und  stoss,  scherz  und  schimpf, 
lehre  und  rath,  lob  und  preis,  ehre  und  preis,  ebenso  die  adjectivfor- 
meln  böse  und  besser,  kalt  und  kfihl  werden  auch  verbal,  und  die  for- 
mein laster  und  schände,  sünde  und  schände,  triwe  und  staete  finden 
sich  auch  adjectivisch  gebraucht. 

Die  sprichwörtliche  Zusammengehörigkeit  solcher  Wörter  wird  sehr 
oft  durch  ein  voraufgehendes  „beide"  (beidiu,  bede)  angedeutet,  z.  B. 
beidiu  berc  und  tal,  beide  geberde  und  bete,  beide  mit  gisel  und  mit 
gebe,  beide  an  gude  und  Gottes  eren,  beide  lip  und  laut  etc.,  ja  sogar 


Die  sprichwörtlichen  Formelu  der  deutscheu  Sprache.  437 

bei  mehreren  Wörtern :  beide  schild,  speer  unde  swert  (livl.  reirakr. 
9886).  Ihre  Zusammengehörigkeit  deutet  die  spräche  aber  auch  noch 
ausserdem  dadurch  an  ,  dass  sie  declination  oder  conjugation  auf  die 
formein  in  anwendung  bringt.  Man  sagt  z.  B.  eren  und  guotes,  stocke 
und  steine,  in  worten  und  werken ;  ja,  es  finden  sich  auch  beispiele,  in 
denen  die  formel  geradezu  als  compositum  erscheint,  wie  bei  Rachel 
(satir.  ged.  6,  533):  „dass  dieses  haut  und  bein  der  langen  jamerszeit 
nicht  solte  müde  sein."  Zuweilen  nimmt  eines  der  Wörter  adjectsform 
an,  z.  b.  statt  jamer  und  not  =  jaemerliche  not;  maidliche  muoter; 
gewalteskraft.  Manche  formein  waren  in  bestimmten  Zeitabschnitten 
vorwiegend  im  gebrauch,  manche  werden  von  einzelnen  dichtem  mit 
Vorliebe  angewendet.  Jede  grössere  dichtung  weist  hierin  eigentüm- 
lichkeiten  auf;  so  bietet  z.  b.  das  Nibelungenlied  nicht  viel  solcher 
formein,  aber  die  vorkommenden  kehren  oft  wieder:  lIp  und  guot,  ere 
und  lip  je  5  mal,  lieb  und  leit  6  mal,  liute  und  laut  1 1  mal,  mage  und 
man  sogar  22  mal.  Als  formelreiche  dichter  sind  Hartmann,  Rudolf 
von  Ems,  der  Stricker,  der  dichter  des  alten  passionale  und  Konr.  v. 
Würzburg  anzuführen ;  bei  Hugo  v.  Trimberg  zeigt  sich  zum  ersten 
male  ein  merklicheres  hervortreten  gereimter  formein. 

Meist  sind  diese  Wortverbindungen  zweigliedrig;  doch  sind  auch 
drillingsformeln  in  allen  3  klassen  nicht  selten,  z.  b.  A.  wort,  wille, 
werk,  —  wort,  werk,  wete  —  krig,  kumber,  kost  —  kerken,  klusen, 
kloster  —  wald,  wasser,  weide  —  sagen,  singen,  saitenspil  —  liute, 
lant,  lip  —  Sünde  schände,  schaden  —  B.  über  brock,  block  und  stock  — 
ez  ist  malz,  salz  und  schmalz  verloren  —  lehr-,  wehr-  und  nähr-stand  — 
C.  wille,  macht  u.  kunst  —  gedanken,  werk  u.  wort  —  saelde,  heil 
und  ere  —  frunde,  mage,  man  —  angst,  not,  arbeit  — .  Selbst  vier- 
gliedrige  finden  sich ;  lant,  leute,  bauer,  burger  —  in  klostern  und 
klusen,  in  hoven  u.  in  husen  —  froude  u.  ere,  gemach  u.  werdekeit  — 
über  herz  u.  ü.  muot,  li.  lip  u.  ü.  guot  —  liebes  u.  guotes,  eren  u. 
muotes.  Mehrgliedrige  formein  ohne  reim  u.  alliteration  weist  beson- 
ders die  altdeutsche  rechtssprache  auf,  wofür  J.  Grimm  (RA.  s.  15  — 19) 
zahlreiche  beläge  beibringt.  Ja,  es  finden  sich  stellen,  in  denen  sich 
formel  an  formel  schliesst,  wie  in  den  Dreysser  weisthümern  v.  jähre 
1588:  „weisen  dem  gotteshaus  zu  Echternach  mann  u.  bann,  wild 
u.  zahm,  zins  u.  zehend,  haupt  u.  haltung,  den  vogel  in  der  luft,  den 
fisch  im  Wasser,  fond  u.  bront,  fleck  u.  zeck,  gebot  u.  verbot,  so  weit 
u.  breit  des  guten   herren  s.  Willibrots  gotteshaus   gehet."     In   einer 


488  Die  sprichwörtlichen  Formeln  der  deutshen  Sprache. 

appenzeller  Urkunde  (Zellvveg)  heisst  es:  „ich  vergich,  dass  ich  ze  kof- 
fent  geben  an  haus  u.  heim,  an  wisen  u.  wasen ,  mit  studen,  stock  u. 
stein,  heg,  weg  u.  steg,  an  wygern  u.  wassern,  wunn  u.  weid,  trieb 
u.  tratt,  grünt  u.  grat,  mietzins  u.  zehent,  handel  u.  wandel,  mit  hub 
u.  hab,  ze  nutz  u.  niess,  nach  pfandrecht  u.  landrecht,  uf  zit  u.  zil,  u. 
hab  es  ihm  ze  banden  bracht  verriebt  u.  verschlicht,  ohne  bene  u.  pene, 
sunder  rathen  u.  gethaten,  ledig,  los,  ganz  u.  gar." 

Die  bildung  aller  sprachformeln  beruht  einzig  und  allein  auf  den 
begriffen  der  gleichheit  und  der  gegensätzlichkeit,  und  zwar  macht  sich 
das  simile  und  contrarium  nicht  allein  in  logischer,  sondern  auch  in 
sprachlicher  beziehung,  also  sowol  dem  inhalte,  als  auch  der  form  nach 
geltend;  oft  findet  sich  sogar  gleichartigkeit  oder  auch  gegensätzlich- 
keit des  gedankens  und  des  lautes  verbunden. 

Zwei  Sprachgesetze  sind  es,  deren  walten  innerhalb  unserer  sprach- 
formeln zu  tage  tritt,  nämlich:  der  gleichklang  und  die  ablautung. 

Der  gleichklang  kann  dreifacher  art  sein;  er  kann  in  den  anfangs- 
buchstaben  zweier  oder  mehrerer  Wörter  stattfinden  und  heisst  dann 
anreim,  Stabreim,  alHteration;  er  kann  sich  am  ende  der  Wörter  in  meh- 
reren lauten  zeigen  und  wird  dann  vorzugsweise  reim  oder  endreim  ge- 
nannt; oder  es  ist  consonantischer  oder  vocaler  gleichklang  innerhalb 
zweier  wörter,  und  er  wäre  dann  etwa  binnenreim  zu  nennen. 

Die  älteste  form  des  gleichklangs  ist  die  alliteration.  Sie  wurzelt 
in  dem  wolgefallen  des  menschlichen  geistes  an  harmonie  und  in  seiner 
neigung  mit  der  spräche  zu  spielen.  Ausgedehnte  Verwendung  fand 
der  Stabreim  namentlich  in  den  althochdeutschen  und  angelsächsischen, 
zum  theil  auch  noch  in  mittelhochdeutschen  dichtungen.  Die  allitera- 
tion ist  eine  einfache,  wenn  nur  der  erste  laut  in  den  zur  formel  ver- 
bundenen Wörtern  gleich  ist  (gold  und  gimme),  oder  eine  erweiterte, 
wenn  die  ersten  zwei  (brot  und  brunnen,  blatt  und  blute),  oder  drei 
(graben  und  graft),  oder  wenn  noch  mehr  laute  beiden  Wörtern  gemein- 
sam sind  (friede  und  freude,  fremde  und  freunde,  wisen  und  wasen  u.s.w.). 

Dass  der  Stabreim  auch  den  Lateinern  und  Griechen  nicht  unbe- 
kannt war,  ist  früher  vielfach  bezweifelt  worden ;  selbst  Lachmann 
wollte  nichts  davon  wissen  (s.  hallische  encyclopäd.).  Naeke  (rhein, 
museum  1829:  de  alliter.  sermonis  latini),  noch  eindringlicher  aber 
Maehly  (schweizer  mus.  1864,  s.  207 — 259)  haben  indessen  gezeigt, 
dass  dem  klassischen  altertum  gefiihl  für  sprachlichen  gleichklang  nicht 
fehlte.    Nicht   nur  in  Zusammenstellungen  von  personennamen  wie  in 


Die  sprichwörtlicben  Formeln  der  dfutscheii  Sprache.  439 

den  germanischen  sprachen  (Hengist  und  Horsa  —  Solarr  und  Sne- 
varr  —  Hildebrant  und  Hadubrant  —  Hettel  und  Heike  —  Günther 
und  Gernot  —  Letten  und  Liven  —  Reussen  und  Rassen)  findet  sich 
dort  die  alliteration  (Romulus  u.  Remus,  Seme  Sancus  etc.),  sondern 
auch  bei  der  sogenannten  reduplication  nsTzaidevxa,  fefelli)  und  gerade 
in  ähnlichen  formein  wie  bei  uns,  namentlich  aber  in  feierlichen  for- 
mein des  religiösen  cultus  und  der  rechtspflege,  in  sprichwörtlichen 
redensarten  wie  in  ausdrücken  des  bürgerlichen  Lebens,  wofür  folgende 
beispiele  vollkommenes  zeugniss  ablegen  werden. 

Zuerst  die  substantivischen  formein:  aves  atque  altiles,  a  capite 
ad  calcem,  cor  et  cerebrum  (herz  und  hirn),  domi  duellique,  facinus  et 
flagitium,  fama  atque  fortuna  (Cic.  Sallust.),  ferrum  et  flamma  (Erasm. 
503),  foedus  fidesque,  forma  factisque,  fruges  frumentaque,  locura  et 
lautia  (praebere,  Livius.  Gellius),  luctu  atque  lamentis,  Incus  locusve, 
in  manu  mancipioque,  inter  manum  et  mentum  (auf  einer  Alldorfer 
Schulprämie  vom  jähre  1593  bei  Imhof  II,  245  finden  sich  die  worte 
mente  manuque),  maria  montesque  polliceri  (Erasm.  472,  Sallust."), 
nomen  numenque,  noxa  et  nexu  solutus  (Erasm.  453),  oleum  et  operam 
(perdere)  in  ore  afque  oculis,  inter  os  et  ofl^am  (Cato),  panem  et  pugnum 
dare  (Erasm.  379.  772),  pastores  pascuaque  (Cato),  verba  sine  penu 
et  pecunia  (Erasm.  65),  pestis  perniciesque,  populo  plebeique,  praedam 
et  praemium  (Erasm.  697),  prora  et  puppis  (Erasm.  9),  inter  sacrum 
et  saxum  stare  (sprichwörtlich  bei  Plautus,  Capt.),  semen  et  stirps,  so- 
lemne  sacrum  (Sueton.),tabulis  et  testibus  (probare,  Gellius  14,  2),  templa 
tesquaque,  tot  tantaque,  venae  et  viscera,  vineta  virgetaque  (virgultaque), 
vinum  et  veritas  (Erasm.  450);  dann  die  adjectivischen:  elarus  cano- 
rusque,  dulce  et  decorum,  felix  faustumque  sit  (so  auch  auf  einer  Me- 
daille auf  die  Vermählung  kurfürst  Johann  Georg  I.  v.  Sachsen  v. 
1718,  Erasm.  555),  fluxus  et  fi-agilis,  lacerum  laesumque  (membrum, 
Gellius),  magnum  et  memorabile,  purus  piusque,  rebus  prolixis  atque 
prosperis  (Cato),  sacrosanctus,  sanus  salvusque,  serius  atque  severus, 
vivatus  et  viv'dus  (Festus);  ferner  die  adverbialen:  bene  beateque, 
blande  et  benivole,  longe  lateque  (auch  z.  b.  im  kreuzzug  Friedrichs  I., 
Sti^tg.  vereinsbibl.  bd.  IX),  palam  et  passim  (ebend.),  sane  sarteque, 
satis  superque ,  und  in  den  verbalen:  fundere  et  fugare,  injudicatus 
inconderanatus,  inscripta  insculptaque,  pudet  pigetque,  ut  sciam,  sentiam 
intelligamque,  vive  valeque  oder  bei  Erasmus  618  vivite  valete,  na- 
mentlich aber  in   den  juridischen  ausdrücken :  cogito  coerceto,   in  der 


440  Die  spiicbwörtlichen  Formela  der  deutschen  Sprache. 

Schlussformel  der  Strafgesetze:  dare  domino  damnas  esto,  oder  in  der 
forrael  des  praetors  :  „do,  dico,  addico,"  ferner  distribuatur  dividatur, 
6i  furtum  faxit  noxiamque  nocuit,  reddatis  restituatis,  reddatur  reficia- 
tur,  pecunia  capta  conciliata  etc. 

Ebenso  in  dem  vulgären  praeter  propter  (Gellius,  19,  10,  1),  und 
dis  dia  pason.  Es  wären  hierbei  auch  noch  vielfach  aus  den  dichtem 
ähnliche  stellen  anzuziehen,  wie:  molem  et  montes  insuper  altos  im- 
posuit  Virg.  Aen.  I,  61. 

Auch  in  den  ausgebildeteren  lateinischen  sprach  form  ein,  also  in 
sprichwörtlichen  redensarten  und  in  wirklichen  Sprichwörtern ,  halte 
ich  das  sehr  häufige  vorkommen  alliterirender  wörter  durchaus  nicht 
für  bloss  zufällig,  wie  denn  überhaupt  die  Wiederholung  desselben  Wor- 
tes in  sehr  vielen  Sprichwörtern,  wie:  a  bonis  bona  disce  (Erasm.  517), 
abyssus  abyssum  invocat  (481),  aequalis  acqualem  delectat  (641),  cum 
care  carizas  (643),  faber  fabro  invidet  (423),  homo  homini  Dens  (590), 
manus  manum  lavat  (568),  malus  malum  reperit,  par  pari  referre  etc. 
auf  wolgefallen  der  alten  an  gleichklang  unwiderleglich  schliessen 
lässt.  Als  einen  neuen  beweis  dafür  will  ich  von  den  zahlreichen  la- 
teinischen Sprichwörtern  mit  alliteration  nur  einige  anführen :  comatis 
et  calvis  pilos  velli  molestum  (383),  dicendo  dicere  discunt  (75),  faber 
cadit  cum  ferias  fullonem  (7),  facile  fustem  invenerit,  qui  cupit  caedere 
canem  (388),  ferire  frontem,  ferire  feraur,  ferre  fraenum,  flamma  fumo 
est  proxima  (206),  fortes  fortuna  adjuvat  (89),  inter  crura  caudam 
subjicit  (695),  lacerat  lacertam  Largi  mordax  Memmius  (736),  manum 
peteris  et  pedem  porrigis  (21),  mense  Majo  nubunt  malae  (418),  mes- 
sem  miseram  metere  (727),  non  novit  natos  (289),  paxillum  paxillo 
pellere  (646),  senex  secunda  saltat  (590),  vicinus  vocandus  ad  con- 
vicium  (44),  vestis  virum  facit  (215),  ad  restim  res  redit  etc. 

Die  mönchischen  deutschen  dichter  des  11.  und  12.  Jahrhunderts 
bedienten  sich  ebenfalls  in  ihren  lateinischen  erzeugnissen  zuweilen  der 
Stabreimformeln.  Wir  finden  da  z.  B.  nee  in  hello,  nee  in  bulla,  carm. 
buran.  93;  statt  haus  und  hof  =  in  curte  vel  in  casa,  Hattem.  I, 
352.  Haupt  z.  I,  290;  statt,  feil  und  fleisch  =  coriura  et  carnem, 
Reinardus  11,  296.  immundus  corde  et  cute  (::=  herz  und  haut)  carm. 
bur.  64.  longe  lateque,  palam  et  passim,  kreuzz.  Friedr.  I.  (Stuttgart, 
ver.  bibl.  IX);  modicum  — •  magnum,  ecbas.  1204.  vestes  et  victum 
(=  kleider  u.  kost)  Roswith  p.  133;  victum  vel  vestem  Ruodl.  fragm. 
in,  277  ;   cur   voce  et  vultu  minaris,   Roswith.  p.  22.      Andere  For- 


Die  sprichwörtlicheu  Formeln  der  deutschen  Sprache.  441 

mein  wie:  nutibus  et  verbis  (Ruodl.  6,  4)  (=;  mit  winken  und  Worten), 
daninum  et  maledictnm  (schaden  und  spott),  viduas  —  orbos  (wittwen 
u.  Waisen),  dictis  et  actis  (=  in  Worten  und  werken,  Ruodl.  1,  68, 
Walthar.  92,  135,  vitam  et  artus  (lip  u.  lider,  Walthar.  603)  sind 
bündige  beweise  dafür,  dass  die  Verfasser  genannter  dichtungen  aus 
Deutschland  stammten.  Stabreime  in  romanischen  sprachformeln  nach- 
zuweisen, wird  nicht  schwer  halten ,  in  germanischen  finden  sie  sich 
unendlich  zahlreich ;  hier  sind  sie  die  einfachsten  dichterischen  gestal- 
tungen  und  stehen  noch  heute  da  als  vertrocknete  bluten  aus  der  urzeit 
deutscher  poesie,  namentlich  bilden  viele  einen  theil  der  vom  altmeister 
Grimm  so  vortrefflich  nachgewiesenen  poesie  im  deutschen  recht. 

Ueberraschend  ist  es,  mit  welcher  leichtigkeit  man  vor  alters  bei 
Verknüpfung  gegensätzlicher  begriffe  die  alliteration  in  anwendung 
zu  bringen  verstand,  wofür  unter  anderen  der  Heljand  mannigfache 
beispiele  bietet.  Kunst  u.  natur  heisst  da  —  giuuarahtes  endi  giuuah- 
sanes,  iheorie  u.  praxis  =  giuuisda  endi  giuuarahta,  licht  u.  finster- 
niss  =  fnir  enti  finstri,  anfang  u.  ende  =  föne  erist  unz  in  ende, 
lebendes  und  todtes  =  ligentez  u.  lebentez,  berg  u.  thal  :=:  grat  u. 
grund,  vom  Scheitel  bis  zur  sohle  =  v.  der  swarte  biz  an  daz  swil, 
gold  u.  edelstein  =  gimme  u.  gold,  wasser  u.  brot  =  brot  u.  brunnen, 
weiss  u.  schwarz  =  härm  u.  harz  u.  s.  w. 

Es  ist  sehr  bemerkenswerth,  wie  auf  allen  lebensgebieten  deutsche 
anschauungsweise  in  alliterirenden  formein  ausdruck  gefunden  hat.  Da 
ist  in  der  kirch  liehen  gemeinschaft  die  rede  von  kirche  und  klerus, 
klöstern  u.  klausen,  kirchen  u.  kapeilen,  kelch  u.  kirchenschatz,  fasten 
u.  feiern,  mette  u.  messe,  gebet  u.  gesang ,  beichte  u.  busse,  busse  u. 
besserung,  worten  u.  werken,  wittwen  u.  waisen,  himmel  u.  hölle,  tod 
u.  teufel,  mutter  u.  magt,  propheten  u.  patriarchen,  pfarren  u.  pfrün- 
den;  da  scheiden  sich  die  stände  in  bürger  u.  bauer,  fürsten  u.  freie, 
kaiser  u.  könig;  der  ritter  spricht  von  land  u.  leuten,  mage  u.  mann, 
ross  u.  reiter,  ritter  u.  reisige,  Schild  u.  schirm,  stab  u.  stange  u.  swert, 
Speer  u.  spiess,  Stiefel  u.  sporn,  streit  u.  stürm,  bilden,  bogen,  büchsen 
u.  bolzen,  heim  u.  haube,  halsperc  u.  heim ,  halsperc  u.  hose,  heim  u. 
hut,  hämisch,  hemde,  gebe  u.  gisel,  boten  u.  briefe;  der  hausvater 
sorgt  für  haus  u.  hof,  haus  u.  heerd,  geld  u.  gut,  gaste  u.  gesinde, 
hält  thür  u.  thor,  schloss  u.  Schlüssel  in  Ordnung,  lebt  von  butter  u. 
brot,  von  fisch  u.  fleisch,  krume  u.  kruste,  brot  u.  brunnen,  trinkt  was- 
ser u.  wein,  muss  gift  n.  gäbe,   zins  u.  zoll  geben;   die  hausfrau  sorgt 


442  Die  sprichwörtlic-hen  Formeln  der  deutschen  Sprache. 

für  kind  u.  kucken,  füllt  kisten  u.  kästen,  keller  u.  kemenaten,  schafft 
für  küche  u.  keller,  hat  in  der  küche  putt  u.  pann,  topfe  u.  tiegel,  kan- 
nen,  krüo'e  u.  köpfe,  kelle  u.  kreuel,  aber  auch  rauch  u.  russ;  der 
richter  richtet  zu  haut  u.  haar,  hals,  haupt  u.  hand,  ertheilt  rath 
u.  recht,  verhandelt  über  eigen  u.  erbe,  lässt  feierlich  entsagen  durch 
hand  u.  halm,  gibt  den  Schuldner  zu  hand  u.  halfter;  der  handels- 
stand  umfasst  kaufmann  u.  krämer;  der  bau  er  hat  schiff  u.  schirr, 
k.orn  u.  kraut,  wein  u.  weizen,  halde  u.  holz,  wald  u.  wiese,  wald  u. 
weide  u.  wasser,  wunn  u.  weide,  hirt  u.  heerde,  halm  u.  hau,  saat  u. 
snit,  trib  u.  trat,  auf  seinem  hofe  sind  rind  u.  ross,  kuh  u.  kalb,  hahn 
u.  huhn,  er  füttert  haber  u.  heu;  der  schiffer  hat  schiff  u.  schalte, 
kocken  u.  kiele,  an  denen  segel  u.  seile  sind,  er  unterscheidet  sand  u. 
See;  der  j  äger  beizt  u.  birzt,  fängt  u.  fällt,  jagt  hase,  hirsch  u.  hund 
u.  huhn,  streift  durch  hau  u.  holz,  über  bühel  u.  berg,  stock  u,  stein, 
durch  distel  ii.  dorn,  führt  hörn  u.  hund,  sagt  schrank  u.  schritt;  der 
dichter  sagt  u.  singt,  dichtet  lied  u.  leich ,  singt  von  liebe  u.  leid, 
minnen  u.  meinen,  merken  u.  melden. 

Ebenso  werden  Vorgänge  in  der  natur  in  alliterirende  formein 
gebracht:  hagel  u.  beer,  nacht  u.  nebel,  tag  u.  thau,  wind  u.  wetter, 
welke  u.  wind,  wind  u.  welle,  dampf  u.  dunst. 

Endlich  treten  auch  die  namen  einzelner  theile  des  mensch- 
lichen körpers  in  formelhafte  Verbindungen,  namentlich  in  der 
rechtssprache  in  den  gesetzen  für  körperliche  strafen.  Man  unterschei- 
det leib  u.  leben,  leib  u.  lider,  feil  u.  fleisch,  haut  u.  haar,  haut  u. 
hand,  haut  u.  hals,  das  wort  „haupt"  wird  verknüpft  mit  haar,  hals, 
hand,  hirn,  herz ;  herz  u.  hirn,  herz  u.  hand,  köpf  u.  kragen,  lunge  u. 
leber,  kinn  u.  kehle,  rippen  u.  rücken,  bein  u.  blut. 

Ein  vergleich  der  alliterirenden  formein  meiner  Sammlung  ergibt, 
dass  ein  vocaler  anreim  nur  selten  vorkommt,  dass  dagegen  ein  conso- 
nantischer  sich  am  meisten  bei  dem  lauten  s  (seh)  findet,  dann  in  fal- 
lendem zahlenverhältniss  bei  den  gutturalen  g  —  k  —  h  und  den  la- 
bialen b  —  f  —  w,  weniger  oft  bei  den  liquiden  1  —  m  —  r,  noch 
seltener  bei  d  —  t  —  z  —  n. 

Für  die  klasse  der  formein,  welche  mit  endreim  gebildet  sind,  er- 
giebt  sich  aus  den  alt-  und  mittel-hochdeutschen  sprachquellen  nur  ge- 
ringe ausbeute.  Stärkeres  hervortreten  dieser  art  von  formein  finde 
ich  zuerst  bei  Hugo  von  Triinberg.  Die  meisten  der  hierher  gehörigen 
beispiele  sind  als  erzeugnisse  der  neuhochdeutschen  spräche  zu  bezeich- 


Die  sprichwörtlichen  Forinehi  der  deutschen  Sprache.  -üj 

nen,  da  der  sogenannte  reim  theils  ein  jüngeres,  theils  ein  kunstvolleres 
mittel  dichterischer  darstellung  ist,  als  die  alliteration.  In  vereinzelten 
beispielen  ist  er  auch  von  lateinisch  dichtenden  geistlichen  angewendet, 
z.  b.  nomen  et  omen,  victu  et  amictu  (Ruodl.  19,  8.  slauferlied  6,  20), 
welches  letztere  ganz  unserem  hülle  und  fülle  oder  noch  besser  „an 
spise  u.  an  gewande"  entspricht. 

Am  wenigsten  vertreten  ist  der  reim  in  den  rechtsformeln  und 
aus  seiner  Seltenheit  schliesst  Grimm  daher  mit  vollem  rechte,  dass 
sich  die  gerichtliche  spräche  unabhängig  von  anderen  einflüssen  in  ihrer 
wesentlichen  natur  behauptet  hat  und  dass  die  menge  ihrer  festen  alli- 
terationsformen  sehr  altertümlich  erscheinen  muss,  älter  als  man  den- 
ken sollte. 

Hin  und  wieder  verfährt  der  reim  in  den  formein  etwas  tyrannisch 
und  erlaubt  sich  vocalen  und  consonantischen  Umtausch,  z.  b.  winde 
(=:  winne)  u.  weide,  bind  u.  kind ,  gesaden  u.  gebraden,  kribbeln  u. 
wibbeln,  zibbern  u.  bibbern,  plaschen  u.  waschen,  sich  bögen  u.  rögen, 
flittern  u.  kittern,  schwellen  u.  källen,  jäke  u.  stäke  u.  s.  w. 

Eine  dritte  art  von  reim,  welche  ich  oben  binnenreim  nannte, 
entsteht  durch  den  gleichen  stimmlaut  in  der  Stammsilbe  der  beiden 
Wörter  einer  formel  und  zeigt  sich  bei  einer  grossen  anzahl  von  formein 
der  klassen  A.  und  C. 

a.  anger  u.  wald,  schwarte  u.  haar,  äs  u.  trank,  schaden  u. 
Ungemach,  acht  u.  mass,  wag  u.  zahl,  macht  u.  zahl,  acht  u.  bann, 
ambos  u.  hammer,  amt  u.  gewalt,  bart  u.  haar,  ablass  u.  gnade,  laster  u. 
arbeit,  dank  u.  gnade,  färbe  u.  kraft,  gewalt  u.  kraft,  haar  u.  gewand, 
jähr  u.  tag,  jammer  u.  klage,  kraft  u.  macht,  kraft  u.  mannheit,  land  u. 
mage,  -Stadt,  -wasser,  laster  u.  and,  laster  u.  schaden,  —  u.  schände, 
mass  u.  zahl,  tag  u.  nacht,  jamer  u.  karmen,  krank  u.  schwach,  schach  u. 
matt,  baar  u.  nackt,  hart  u.  schwarz,  alt  u.  krank,  —  u.  schwach,  angst 
u.  bange,  mari  endi  mahtig,  blank  u.  schwarz,  fangen  u.  schlagen 
(vahen  u.   slahen),  halten  u.  lassen,  trank  u.  ass,  gaben  u.  nahmen. 

Auch  mit  alliteration:  brak  u.  bafel,  gang  u.  gebaren,  gnade  u. 
gemach,  —  u.  gewalt,  band  u.  halfter,  —  u.  halm,  karn  u.  klage, 
graben  u.  graft,  mal  u.  makel,  barm  u.  harz,  schaden  u.  schäm,  schade 
u.  schände,  schände  u.  schmach,  wald  u.  wasser,  mage  u.  mann,  baar 
u.  blank,  ganz  u.  gar,  haben  u.  halten. 

e.  eher  u.  sne,  erde  u.  meer,  ehre  u.  selde,  ehre  u.  seele,  eigen 
u,   lehen,  bet   u.   flehen,  heller  u.  pfennig,    lehre   u.  predigt,  pech  u. 


444  Die  sprichwörtlicben  Formeln  der  deutschen  Sprache. 

Schwefel,  rede  u.  werk,  bette  end  flezzi,  hefel  u.  lege],  herz  u.  seele, 
hei  u.  hreni,  sengen  u.  brennen,  drehen  u.  wenden,  sterben  u,  genesen, 
heben  u.  legen,  kehren  u.  wenden,  reden  u.  sprechen,  geben  u.  nehmen, 
rennen  u.  sprengen,  wesen  u.  leben.  Mit  alliteration :  recht  u.  reden, 
recht  u.  redlich,  brechen  u.  brennen. 

i.  brief  u.  Siegel,  hieb  u.  stich,  wile  u.  zit,  spise  u.  win,  wip 
u.  kint,  strit  u.  kif,  wise  u.  zit,  friden  u.  schirmen,  sin  u.  liden,  liden 
u.  schicken,  milt  u.  linde,  tief  u.  wit.  Mit  alliteration ;  zit  u.  zil, 
Schild  u.  schirm,  sinn  u.  sitte,  wissen  u.  willen,  schiff  u.  schirr,  friden 
II.  fristen,  fliegen  u.  fliessen,  schiessen  u.  schirmen. 

o.  Schrot  u.  körn,  ton  u.  wort,  not  u.  sorge,  kost  u.  lohn,  spott 
u.  höhn ;  mit  alliteration :  bogen  u.  bolzen,  gelobt  u.  gelogen. 

u.  hunger  ii.  durst,  h.  u.  kummer,  müsse  u.  ruhe,  kurz  u.  gut, 
gut  u.  nuzze,  frut  u.  gut,  lütern  u.  süvern.  Mit  alliteration  :  geburt 
u.  gut,  mund  u.  muot,  krume  u.  kruste. 

ei.  bein  u.  fleisch,  zeit  u.  weile,  kleid  u.  kleinod,  zeichen  u.  zel- 
ten, fleisch  u.  geist,  weise  u.  rein,  sein  u.  bleiben,  scheiden  und  ver- 
einen. 

eil.     freude  u.  freundschaft. 

au.     braun  u.  blau. 

ü.     süss  u.  kühl. 

Neben  dem  gleichklange  erscheint  in  den  formein,  namentlich  in 
denen  mit  einsilbigen  Wörtern  (getrübt  bei  Wörtern  mit  mehreren  silben 
und  mit  doppelvocalen)  als  zweites  Sprachgesetz  die  ablautung, 
welche  am  deutlichsten  in  den  formen  der  Stammzeiten  der  starken 
conjugation  erkennbar  ist.  Bestimmend  sind  hierbei  die  beiden  vocale 
a  und  i,  als  die  mit  weitester  und  engster  niundstellung  gesprochenen 
stimmlaute.  Mit  beiden  treten  die  übrigen  vocale  e,  o,  u  in  gegensatz, 
auch  in  der  umkehrung,  ausserdem  finden  sich  aber  auch  noch  einige 
formein  mit  e  u.  o,  u  u.  o.  Unter  allen  diesen  combinationen  fallen 
auf  die  ablautung  i  —  a  die  meisten  belöge,  zahlreiche  auch  auf  a  —  i. 

i  —  a.  dienst  u.  rat,  lip  u.  wat,  gisel  u.  pfant,  gedinge  noch 
wan,  lip  u.  här,  zit  u.  fahrt,  fride  u.  gemach,  fr.  u.  gnade,  lip  u.  habe, 
—  u.  gebare,  —  u.  gewant,  —  u.  haut,  zit  u.  tag,  —  u.  jär,  —  u. 
stat,  spise  u.  trank,  —  u.  gewant,  —  u.  wät,  —  u.  lipnar,  gewin  u. 
schade,  list  u.  gewalt,  —  u.  macht,  —  u.  rät,  strit  u.  haz,  nit  u.  haz, 
gir  u.  trakheit,  site  u.  gebaren,  —  u.  raanheit,  wille  u.  gewalt,  —  u. 
macht,  —  u.   rät,   sinn    u.   gedank,   —  u.   macht,    —    u.   wän,    —    u. 


Die  pprichwörtlichen  Formeln  der  deutschen  Sprache.  445 

manheit,  schimpf  u.  togult,  gericht  u.  Wahrheit,  schin  u.  glast,  rieh  u. 
lant,  wip  u.  man,  witze  u.  manheit,  —  u.  getwange,  triwe  u.  warheit, 
■vvisheit  u.  macht,  pin  u.  klage,  misse  u.  sahnen,  pris  u.  manheit,  wile 
u.  tac,  spil  u.  tanz,  wistuom  u.  rät,  Ute  u.  täl,  lip  u.  gelaz,  spisen  u. 
warnen,  binden  ii.  fangen,  liden  u.  tragen,  siden  u.  braten,  riden  u. 
gän,  grifen  u.  tasten,  springen  u.  tanzen,  wil  u.  mak,  stricken  u.  fan- 
gen, berichten  u.  bewaren,  ringen  u.  fahren,  fliehen  u.  jagen,  swigen 
u.  gedagen,  miden  ii.  lan,  licht  u.  klar,  michel  u.  stark,  wild  u.  zam, 
grien  u.  anger,  wiz  u.  swarz,  schier  u.  dräf,  hie  u.  da.  Mit  allitera- 
tion:  bischof  u.  bader,  begin  u.  bejag,  gesin  u.  gedank,  gift  u.  gäbe, 
giks  noch  gaks,  gift  u.  galle,  gedinge  u.  gnade,  gelig  u.  geschlap,  giuuis- 
da  u.  giiiuarahta,  grind  u.  gnaz,  kipp  u.  kant,  kisten  u.  kästen  ,  kind 
u.  knabe,  klick  u.  klack,  klinke  u.  klanke,  spil  u.  sang,  schimpf- u. 
schände,  schippen  u.  spaten,  stich  u.  slac,  u.  swank,  stil  u,  stal,  sticht 
u.  Stadt,  stiege  u.  Strasse,  strimen  u.  Strasse,  trib  u.  trat,  wig  u.  wan, 
winke  u.  wanke,  blitzblank,  grim  u.  gradag,  klipp  u.  klar,  michel  u. 
manikfalr,  niet  u.  nagelfest,  singen  u.  sagen,  dichten  u.  trachten,  gigen 
u.  garren,  getiselt  u.  getaselt,  grisgramen,  kippeln  u.  klagen,  klingen 
u.  klappen,  knistern  u.  knastern,  triben  u.  tragen,  trippeln  u.  trappeln, 
winken  u.  wanken,  schinden  u.  schaben,  zittern  u.  zagen,  winnen  u. 
warren,  wie  u.  wä,  —  u.  wann,  —  u.  waz,  dies  u.  das. 

a  —  i.  acht  u.  wide,  antlitz  u.  lip,  art  u.  schick,  dank  u.  wille, 
kraft  u.  lip,  —  u.  list,  —  u.  sin,  —  u.  wille,  —  u.  wisheit,  ' —  u. 
witze,  jär  u.  frist,  stat  u.  frist,  kämpf  u.  strit,  schaz  u.  gedinge,  —  u. 
gewin,  Wasser  u.  gries,  sand  u.  wind,  gnade  u.  pris,  hals  u.  wide,  haz 
u.  nit,  man  u.  wip,  mass  u.  gewicht,  —  u.  ziel,  wald  u.  gefilde,  qua! 
u.  pin,  rang  u.  titel,  rät  u.  sin,  plan  u.  gefilde,  gewalt  u.  wiz,  —  u 
list,  —  u.  wisheit,  —  u.  wille,  —  u.  richeit,  raarter  u.  pin,  vahen  u. 
binden,  braten  u.  sieden,  tragen  u.  dinsen,  gän  noch  kriechen,  hazzen 
u.  niden.  arm  u.  rieh,  malät  u.  siech,  alt  u.  firn,  alt  u.  wise,  zart  u. 
fin,  halt  u.  schier.  Mit  alHteration :  gast  u.  gesinde,  läge  u.  list,  lant 
11.  liute,  manheit  u.  milde,  schade  u.  schimpf,  schaf  wie  schinder,  schall 
schirm,  schrank  u.  schritt,  swarte  n.  swil,  wag  u.  wind,  wän  u.  wille, 
Wasser  u.  win,  —  u.  wind,  spannen  u.  schiessen,  wänen  u.  wizzen, 
bald  u.  bilde,  manag  e.  mislik. 

a  —  e.  altar  u.  heerd,  amt  u.  ere,  gnade  u.  recht,  —  u.  reste, 
band  u.  leben,  land  u.  meer,  rät  u.  lere,  ach  u,  we,  angst  u.  leid,  mark 
u.  bein,  arm  u.  b.,  schände  n.  leid,  schaden  ii.  leid,  lang  u.  breit. 


446  Die  sprichwürÜichen  Formeln  der  deutsehen  Sprache. 

e  a.  "elfe  u.  gamen,  weinen  u.  klagen,  berg  u.  tal,  —  u.  hac, 

eilen  u.  kraft,  —  u.  macht,   erbe  u.  habe,   helfe  u.  rat,  feld  u.  graben, 

u.  lant   —  u.  wald,  hei  u.  salida,   ker  u.  wandel,  kessel  u.  pfanne, 

ere  u.  gemach,  —  u.  gewalt. 

a  0.     A  u.  O.     angst  u.  not,  marter  u.  not,  ban  u.  bodskepi, 

gewand  u.  gold,  schade  u.  spott,  schände  u.  spott,  schmach  u.  spott, 
laster  u.  spott,  zagel  u.  zopf,  jämer  u.  not,  schlag  u.  stoss,  abend  u. 
morgen,  amt  u.  brot,  wasser  u.  brot,  schaden  u.  fromen,  hals  u.  köpf, 
klage  u.  not,  marter  u.  not. 

o  —  a.  sorge  u.  angst,  not  u.  arbeit,  berof  u.  berade,  gebot  u. 
gewalt,  —  u.  gnade,  —  u.  rät,  hopfen  u.  malz,  köpf  u.  kragen,  schloss 
u.  band,  bomben  u.  granaten,  lob  u.  dank,  dorn  u.  hagen,  dös  u.  schall, 
form  u.  gestalt,  lob  u.  gesang,  trost  noch  gnade,  ross  u.  mann,  fromen 
u.  schaden,  fordern  u.  mahnen,  blöz  u.  nacket. 

a  —  u:  gemach  u.  gut,  gewalt  u.  gut,  gnade  u.  gunst,  grat  u. 
grund,  tratz  u.  trutz,  hahn  u.  huhn,  kalb  u.  kuh,  hass  u.  huld,  kraft 
u.  kunst,  last  u.  lust,  macht  u.  muth,  magenkraft  u.  m.,  manheit  u.  m., 
rast  u.  ruh,  saca  u.  sunda,  schade  u.  schuld,  Schätzung  u.  seh.,  statt 
u.  stunde,  acker  u.  pflüg,  graben  u.  bruch,  band  u.  mund,  —  u.  fuss, 
katze  u.  hund,  tragen  u.  dulden,  alt  u.  jung. 

u  —  a.  bürg  u.  land,  —  u.  Stadt,  dunst  u.  dampf,  gelust  u.  ge- 
lange, futter  u.  nagel,  —  u.  mahl,  gut  u.  habe,  —  u.  land,  —  u.  rät, 
ruhe  u.  gemach,  huld  u.  gnade,  schaden  u.  zuht,  loub  noch  gras,  gunst 
u.  macht,  mutter  u.  magd,  jubel  u.  schall,  tun  u.  län,  luter  u.  klar, 
krumm  u.  lahm,  kurz  u.  lang,  fruo  u.  spat,  kuon  u.  stark. 

i  —  e.  tisch  u.  bett,  wind  u.  regen,  bild  u.  lere,  himmel  u. 
erde,  pris  u.  ere,  wille  u.  ger,  grimm  u.  sere,  ritter  u.  knecht,  zins  u. 
pflege,  wille  u.  recht,  bitten  u.  flehen,  bitten  u.  geren,  venien  u.  beten, 
fliessen  u.  schweben,  irren  u.  engen,  strichen  u.  keren,  kiesen  u.  sehen, 
billig  u.  recht,  dick  u.  fett,  lieb  u.  werth,  fri  u.  ledig. 

e  —  i.  neffe  u.  niftel,  selde  u.  sin,  u.  sigenunft  u.  sieg,  weit  u. 
wile,  Wetter  u.  wind,  gebe  u.  gisel,  lebendez  u.  ligendez,  ere  u.  lip, 
—  u.  triwe,  —  u.  dienst,  senfte  u.  stille,  saete  u.  snit,  scherz  u. 
schimpf,  Schwert  u.  Schild,  leben  u.  lider,  —  u.  pris,  sper  u.  schild, 
herz  u.  lip,  —  u.  sin,  —  u.  wille,  ernst  u.  schimpf,  —  u.  spil,  mete 
u.  win,  eren  u.  zieren,  essen  u.  trinken,  fechten  u.  ringen,  setzen  u. 
gebieten,  wenen  u.  gillen,  edel  u.  fri. 

i  —  0.     bier  u.  brot,  distel  u.  dorn,  rind  u.  ross,  kiele  u.  kocken, 


Die  sprichwörtlichen  Formeln  der  deutschen  Sprache.  447 

liebe  u.  lob,  schimpf  u.  spott,  spiel  u.  spott,  vville  u.  gebot,  —  u.  wort, 
wisdom  u.  w.,  wise  u.  w.,  zins  u.  zoll,  site  u.  gewonheit,  bild  u.  wort, 
Silber  u.  gold,  gimme  u.  gold,  gewinnen  u.  erkobern,  michel  u.  gröz, 
dicke  u.  oft,  lieb  u.  holt,  —  u.  hoch,  frisch  u.  froh,  fri  u.  frö,  fier  u. 
frö,  billig  u.  wol,  blide  u.  frö,  getriuwe  u.  holt,  willig  u.  h.,  stille  u. 
offenbar. 

0  —  i.  donner  u.  blitz,  löp  u.  pris,  toll  u.  blind,  gröz  u.  wit, 
hoch  u.  nider. 

i  —  u.  wile  u.  stunde,  zit  u.  st.,  girde  u.  gut,  liebe  u.  lust, 
minne  u.  mut,  schirm  u.  schütz,  strit  u.  stürm,  wille  u.  wünsch,  — u. 
mut,  milch  u.  blut,  fride  u.  suon,  lip  u.  guot,  —  u.  gesunt,  Hute  u. 
guot,  Hinz  u.  Kunz,  sinn  u.  mut,  lip  u.  mut,  pris  u.  ruom,  pflicht  u. 
Schuldigkeit,  pin  u.  schuld,  glimpf  u.  fug,  stille  u.  überlut,  frisch  u. 
gesund,  risch  u.  gesund,  sinnic  u.  g.,  lieb  u.  gut. 

u  —  1.  kunst  u.  list,  —  u.  sinn,  —  u.  spil,  —  u.  witz,  muot 
u.  sinn,  stumpf  u.  stiel,  gelust  u.  girde,  hut  u.  schirm,  nutzen  u.  dienst, 
futter  u.  spise. 

e  • —  0.  leben  u.  tod,  —  u.  lob,  geld  u.  gold,  ere  u.  fromen,  — 
u.  löp,  bete  u.  gebot,  —  u.  drö,  helfe  u.  trost,  rede  u.  wort,  ernst  u. 
spott,  feld  u.  holz,  —  u.  mos,  helfen  u.  fromen,   setzen  u.  ordnen. 

o  —  e.  ort  u.  ende,  drohen  n.  flehen,  —  u.  schelten,  fordern  u. 
setzen. 

u  —  0.  grund  u.  boden,  nutz  u.  frommen,  hunger  u.  not,  kum- 
mer  u.  not. 

o  —  u.     gold  u.  gut,  Gott  u.  gut,  lob  u.  rühm. 

Ausser  der  lautlichen  gleichheit  u.  Verschiedenheit  in  den  sprach- 
formeln  ist  nun  aber  auch  ein  rhytmisches  gesetz  erkennbar.  Es 
verbinden  sich  nämlich  fast  immer  nur  einsilbige  Wörter  mit  einsilbigen 
(mann  u.  maus),  zweisilbige  mit  zweisilbigen  (mutter  u.  maget),  drei- 
silbige mit  dreisilbigen  (weder  gestochen  noch  gehauen),  oder  das  kür- 
zere Avort  geht  dem  längeren  vorauf  (heil  u.  saelde,  bomben  u.  grana- 
ten).  In  den  wenigsten  fällen  folgt  auf  ein  zweisilbiges  ein  einsilbiges 
wort,  und  findet  sich  dann  gewöhnlich  die  umkehrung  der  formel  eben 
so  oft.  Eine  grosse  anzahl  dieser  Wortverbindungen  bildet  daher  für 
die  mittelhochdeutschen  dichter  häufig  ein  willkommenes  material  zur  aus- 
füllung  ihrer  reimzeilen,  besonders  bei  kurzen  Strophen  und  in  helden- 
gedichten. 


448  Die  sprichwörtlichen  Formeln  der  deutschen  Sprache. 

Die  formein  der  klasse  C.  sind  unter  allen  am  häufigsten,  vor- 
nehmlich in  der  rechtssprach e,  wo  sogar  drei-  und  mehr-gliedrige  form 
den  ausdruck  belebt  und  den  rechtsbegriff  tautologisch  verstärkt  und 
verdeutlicht.  Alle  diejenigen  formein  unter  C,  welche  weder  durch 
assonanz  noch  durch  ablaut  an  einander  gebunden  sind,  bilden  unter 
sich  oft  die  mannigfaltigsten  Verkettungen  und  verschränkungen,  zu 
denen  sinnverwandtschaft  leicht  veranlassung  geben  konnte.  Es  sind 
vorzugsweise  folgende  begriffsgruppen:  ere,  guot,  lip,  leben:  —  lob, 
ere,  preis,  rühm ;  —  heil,  saelde,  glück ;  —  angst,  not,  jamer,  klage, 
leid,  sorge,  sere;  —  herz,  muot,  gedanke,  sinn,  witz,  wille;  —  laster, 
schände,  sünde,  schaden,  schäm,  ungemach. 

Wenden  wir  uns  nun  zur  betrachtung  des  logischen  Verhältnisses, 
in  welchem  die  einzelnen  Wörter  einer  formel  zu  einander  stehen,  so 
treten  uns  hier  folgende  Verschiedenheiten  entgegen: 

1)  Beide  Wörter  enthalten  parallele  begriffe,  die  sich  entweder 
vollständig  oder  fast  ganz  decken,  also  eine  sogenannte  tautologie 
bilden,  welche  den  einem  einzelnen  worte  innewohnenden  begriff  noch 
verstärken,  eindringlicher,  in  die  äugen  springender  machen  sollen. 
Solche  tautologien  finden  sich  auch  schon  in  manchen  compositis.  Zu 
dem  von  J.  Grimm  (gr.  II,  442)  angeführten  gothischen  marisäivs 
{Xiuvri),  dem  angelsächsischen  aha  —  ström  (flumen),  dem  althoch- 
deutschen öt  —  wala  (divitiae)  bei  Notker  (136,  3  u.  Boeth.  120), 
welches  Grimm  zu  dem  angelsächsischen  eäd  —  vila  (beides  :=.  spes, 
felicitas)  stellt,  will  ich  aus  dem  mittelhochdeutschen  noch  folgende 
beibringen:  Karlmann  (Hattemer  III,  267.  karle  =  ehemann),  Sprich- 
wort (in  den  anmerkungen  zur  windberger  psalmenübersetzung  ps. 
113,20:  benedico  daz  ist  ein  zesamene  gesacztes  wort  von  zwein 
sprichen,  „wole"  unde  „ich  spriche;"  in  den  nordischen  umgekehrt: 
ordsprog),  nötdurft  (Muspilli  s.  19  bietet  „dürft"  allein),  magenchraft 
(zuerst  bei  Hattemer  III,  233),  tagaltspil  (=  scherz  u.  spiel,  troj. 
266),  spelmaere  (beides  =  fabel,  sage,  lüge,  altd.  w.  II,  89),  diebstal 
(=  diuba  u.  stala  =  furtum,  MS  I,  136^),  schirmschilt  (Lanzel. 
4039),  niessbrauch,  schalksknecht  (Luther,  Matth.  18),  diekdamm 
(niedersächs.  =  deich  u.  dämm,  hochdeutsch  bei  Schleicher  81:  deichs- 
damm) ;  der  Ortsname  Zehlendorf  bei  Berlin  (=  cedel,  slavisch  =r  dorf), 
maria,  gertrute  =  gerte  u.  rute  (Ebner,  brief  4). 

Zum  beweise  dafür,  in  welchem  nahen  verhältniss  diese  tautolo- 
gischen  composita  zu  den  formein  stehen,  lassen  sich  beispiele  anführen, 


Die  sprichwörtlichen  Formeln  der  deutschen  Sprache.  449 

in  denen  zwei  Wörter  auf  beide  art  verbunden  erscheinen,  z.  b.  nöt- 
durft  (Alexdr.  2193  u.  in  einem  bruchstücke  des  14.  j.,  Haupt  z.  5, 
7:  daz  im  dürft  u.  not  was);  —  schalksknecht  (Gregor  1185:  sin 
schalk  u.  s.  knecht);  —  schirmschilt  (Parciv.  371,  2:  schirm  u.  schilt), 
muotwille  (Karl  79^  ra.  u.  w.),  gutwillig  (w.  u.  g.  Fribg. Trist.  1470), 
hörensagen  (Horneck  20^  hören  u.  sagen). 

Die  einfachste  art  und  weise  tautologischer  Verstärkung  in  sprach- 
formeln  ist  die  der  blossen  Wiederholung  eines  und  desselben  Wortes, 
wie  es  z.  b.  oft  im  alten  passionale  begegnet:  dicke  u.  dicke  (I,  263, 
7  und  noch  16  mal),  beite  u.  beite  360,  32,  lange  u.  lanc  137,  45. 
IJI,  386,  97,  vil  u.  vil  I,  359,  25,  er  stunt  u.  stunt  III,  397,  1, 
Pfenniges  wert  u.  pfenninc,  367,  34;  ein  u.  ein,  Engelh.  463;  gar  u. 
gar,  ßerthold  39  u.  ö.  Titur.  6150,  müs  wie  maus,  oder  in  dem 
Sprichwort :  ein  wort  ein  wort,  ein  mann  ein  mann,  auch  in  Wendungen 
wie:  er  heisst  so  u.  so,  wohnt  da  u.  da  u.  s.  w. 

Eine  zweite  bei  weitem  gewöhnlichere  art  tautologischer  formein 
enthält  zwei  ganz  verschiedene  Wörter,  welche  aber  vollständig  in  einer 
und  derselben  bedeutung  im  gebrauch  waren,  z.  b.  bruch  u.  mos,  mos 
u.  mör,  eilen  u.  kraft,  falsch  u.  mein,  form  u.  gestalt,  gift  u.  gäbe, 
graben  u.  graft,  gurre  wie  gaul,  hör  u.  mör,  maerte  wie  müs,  mal  u. 
makel,  rast  u.  ruh,  raub  u.  rappuse,  schütz  u.  schirm,  blöz  u.  bar, 
frank  u.  frei,  ganz  u.  gar,  ledig  u.  los,  starr  u.  steif,  sus  u.  so,  beiten 
u.  harren  u.  s.  w. 

2)  Beide  Wörter  enthalten  oft  convergirende  begriffe,  d.  h.  be- 
griffe, welche  sich  einander  nähern,  und  zwar  können  dieselben  in 
einem  verhältniss  zu  einander  stehen :  a)  als  theile  eines  ganzen :  dach 
u.  fach,  krume  u.  kruste,  köpf  u.  kragen,  b)  als  theil  u.  ganzes  (all- 
gemeines u.  besonderes):  jähr  u.  tag,  zeit  u.  stunde,  haus  u.  heerd, 
lip  u,  lider,  haupt  u.  hirn.  c)  als  arten  Einer  gattung  (synonyma): 
brunnen  u.  bach,  kloster  u.  klause,  steg  u.  Strasse,  hehler  u.  Stehler, 
lug  u.  trug,  rand  u.  band,  grund  u.  boden,  klage  u.  kummer,  geld  u. 
gut,  gnade  u.  gute,  liebe  u.  lust.  d)  als  ursach  u.  Wirkung:  knall  u. 
fall,  schände  u.  spott,  nacht  u.  nebel,  tag  u.  thau,  wind  u.  welle,  wille 
u.  werk,  e)  Häufig  ist  eines  der  beiden  Wörter  der  bedeutung  nach 
schwächer  als  das  andere  und  dient  dann  nur  zur  Verstärkung,  erwei- 
terung,  Verdeutlichung,  oft  nur  zur  poetischen  ausschmückung  des  an- 
dern; es  entsteht  dadurch  also  ein  pleonasmus,  den  auch  die  alten 
sprachen  kennen  (casu    et  fortuito,  forte  fortuna  etc.).      Wenn   aber 

Archiv  f.  n.  Sprachen.   XLYIII.  ■  29 


4a0  Die  sprich wöitllcheu  Fürmeln  der  deutschen  Sprache. 

Tobler  (a.  a.  o.)  behauptet,  es  sei  dies  meist  das  vordere  wort  der 
sprichwörtlichen  forrael  und  dieses  sei  nur  des  zweiten  wegen  da,  so 
kann  ich  diesem  urtheile  nicht  beistimmen ;  dergleichen  fälle  kommen 
im  vergleich  zur  gesamtzahl  nur  selten  vor,  mit  alliteration  am  sel- 
tensten. 

3)  Häufig  drückt  die  formel  wirkliche  gegensätze  aus,  die  be- 
griffe divergiren  also,  z.  B.  berg  u.  thal,  freud  u.  leid,  lieb  u.  leid, 
feind  u.  freund,  grat  u.  grund,  hass  u.  huld,  sand  u.  see,  wol  u.  weh, 
binnen  u.  butten,  auf  u.  ab,  hoch  u.  nieder,  alt  u.  jung,  arm  u.  reich, 
gross  u.  klein. 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 


lieber  Wolfram's  von  Eschenbach  Rittergedicht  Wilhehu  von 
Orange  und  sein  Verhältniss  zu  den  altfranzösischen  Dich- 
tungen gleiches  Inhalts.  Quedliubuig  und  Leipzig.  Von 
San  Marte.  Druck  und  Verlag  von  Gottfried  Basse.  1871. 
8.     165  S. 

Diese  Schrift  bildet  in  der  „Bibliothek  der  gesamoiten  deutschen  Na- 
tionalliteratur von  der  ältesten  bis  auf  die  neuere  Zeit"  den  5.  Band  der 
2.  Abtheilung. 

Der  Herr  Geh.  Reg.-Rath  im  Frovinzialschuleollegio  zu  Magdeburg 
A.  Schulz,  der  unter  dem  Namen  San  Marte  schon  so  viele  Studien  über 
Wolfram  von  Eschenbach  veröffentlicht  hat,  spricht  sich  in  dem  uns  vorlie- 
genden Werke  über  "Wolfram's  zweites  grosses  llitterepos  „Wilhelm  von 
Orange"  aus.  Lachmann  erwarb  sich  bleibende  Verdienste  um  Herstellung 
des  gereinigten  Textes.  Gervinus  bemerkte,  dass  die  Charaktere  mit  W'e- 
nigem  trefflich  geschildert  seien.  Ettmüller  erkannte  den  Wilhelm  von 
Orange  als  Wolfram's  feinstes  Werk  an.  Lachmann,  Gervinus,  Rosenkranz, 
Koberstein,  Simrock,  Gräfe,  Vilmar,  Eichendorf  Holland  u.  A.  gingen  je- 
doch auf  eine  ästhetische  Würdigung  des  Gedichtes  nicht  ein,  weil  sie  das 
Gedicht  für  unvollendet  hielten.  1841  trat  A.  Schulz  dieser  Ansicht  zu- 
erst entgegen. 

Ueber  seine  nordfranzösisch  geschriebene  Quelle  zum  Wilhelm  von 
Orange  sagt  Wolfram: 

Lantgräf  von  Dürkgen  Herman 
tet  mir  diz  maer  von  im  bekant. 
er  ist  en  franzoys  genant 
kuns  Gwilläms  de  Orangis. 

Seit  1854  ist  die  Sage  vom  heiligen  Wilhelm  und  der  Inhalt  der  davon 
übrig  gebliebenen  französischen  Dichtungen  durch  folgende  zwei  Werke  be- 
handelt: 1)  Jonckbloet,  Guillaume  d'Orange,  Chansons  de  geste  des  Xle 
et  XHe  siecles,  publice  pour  la  premiere  fois.      La  Haye,  Martinins  Nvhnff, 

29* 


452  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

1854.  2)  Ludwig  Clarus:  Herzog  Wilhelm  von  Aquitanien,  ein  Grosser 
der  Welt  ein  Heiliger  der  Kirche  und  ein  Held  der  Sage  und  Dichtung. 
Münster,  Theissing.  1865.  Durch  Jonckbloet  und  Clarus,  einen  Conver- 
titen,  ist  das  Material  auf  lange  Zeit  erschöpfend  gesammelt. 

A.  Schulz  stellt  sich  nun  nur  noch  die  Aufgabe,  Wolfram's  Verhält- 
niss  zu  den  gleichartigen  altfranzösischen  Gedichten  näher  zu  untersuchen 
und  festzustellen,  um  erkennen  zu  können ,  in  welcher  Weise  er  den  über- 
lieferten Stoff  behandelt  hat  und  welches  Verdienst  ihm  bei  dieser  Bearbei- 
tung desselben  etwa  zuzusprechen  ist. 

A.  Schulz  kommt  in  seinem  Buche  zu  folgenden  Resultaten :  Wolfram 
erhielt  vom  Landgrafen  Hermann  ein  französisches  Buch  über  die  Thaten 
des  H.  Wilhelm  von  Orange.  Er  Hess  sich  dasselbe  vorlesen  und  reprodu- 
cirte  den  Inhalt  in  deutschen  Versen.  Er  band  sich  jedoch  nicht  so  streng 
daran,  dass  seine  Worte  für  eine  treue  Uebersetzung  hätten  gelten  können, 
son'lern  modelte  ihn  frei  nach  seinem  eigenen  Geschmacke  und  seiner  künst- 
lerischen Einsicht  durch  Ausscheidung  des  ihm  Unpassenden  und  Hinzu- 
fÜ2ung  des  seiner  Idee  Entsprechenden.  Sein  Werk  schliesst  sich  im  All- 
gemeinen und  im  Einzelnen,  besonders  in  der  ersten  Hälfte,  so  eng  und  in 
langen  Stellen  oft  ^wörtlich  der  Chanson  Bataille  d'Aleschans  an, 
dass  bis  zum  stricten  Beweise  des  Gegentheils  anzunehmen  ist,  sie  liege 
seinem  Gediclite  zu  Grunde.  Es  sind  ihm  aber  auch  noch  andere  Dichtun- 
gen bekannt  gewesen,  aus  denen  er  Anspielungen  und  einzelne  Züge  ent- 
nahm, die  er  seiner  Erzählung  einwob. 

Nach  der  Ansicht  von  A.  Schulz  verstand  Wolfram  die  nordfranzö- 
sische Sprache,  in  welcher  die  Chansons  vom  H.  Wilhelm  geschrieben  sind, 
wie  sie  in  der  Champagne  gesprochen  ward.  Dass  Wolfram  von  Eschen- 
bach lesen  und  schreiben  konnte,  wird  von  A.  Schulz  im  Widerspruche  mit 
der  Erklärung  der  bekannten  Stelle  im  Parcival  durch  Lachmann  und  Hol- 
land in  Abrede  gestellt. 

In  seinen  eingehenden  Untersuchungen  citirt  A.  Schulz  auch  Bechstein. 
Hier  wäre  der,  soviel  wir  bemerkt  haben,  fehlende  Vorname  erwünscht  ge- 
wesen, da  wir  zwei  Germanisten  Bechstein  haben,  Vater  und  Sohn. 

Heinrich  Pröhle. 


E.  Böhmer,    Romanische   Studien.     Heft  I.     Halle,  Verlag    des 
Waisenhauses,  1871. 

Jede  Epoche  hat  ihre  eigenen  wissenschaftlichen  Bestrebungen.  Die 
letzten  Jahrzehnte  haben  das  Studium  der  historischen  Grammatik  und 
Sprachvergleichung,  das  der  altgermanischen  Dialekte  und  endlich  —  wir 
müssen  es  als  einen  Sieg  über  erhärtete  Vorurtheile  und  als  einen  Fort- 
schritt der  gesammten  Philologie  anerkennen  —  endlich  auch  das  der  alt- 
romanischen  Sprachen  und  Literaturen  aufblühen  lassen.  Zu  den  Bemühun- 
gen auf  letzterem  Gebiete  gesellt  sich  in  den  „Romanischen  Studien"  ein 
neues  Unternehmen:  In  zwanglosen  Heften  sollen  unter  diesem  Titel  Arbei- 
ten aus  dem  Gesammtgebiete  romanischer  Sprachwissenschaft  und  Literatur 
erscheinen. 

Heft  I.  der  „Romanischen  Studien,"  welches  uns  bis  jetzt  vorliegt,  ent- 
hält Beiträge  zur  italienischen  Literatur.  Eine  werthvoUe  Arbeit  von  Karl 
Witte  —  Ueber  Michelagnolo  Buonarroti's  Gedichte  —  führt  uns  in  den 
Kreis  der  Männer  ein,  mit  welchen  der  berühmte  Maler  und  Dichter  ver- 
kehrte, einen  Kreis,  welcher  für  die  literarischen  Bestrebungen  der  damali- 
gen Zeit  eine  hervorragende  Bedeutung   hat;    der  Verfasser  zeigt  uns   den 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  453 

Dichter  in  seinem  Verhältnisse  zu  den  einzelnen  Personen  desselben  und 
lässt  uns  zu  gleicher  Zeit  einen  Blick  in  die  poetische  Werkstatt  des  Mei- 
sters thun.  Die  nun  folgende  Inhaltsangabe  der  vaticanischen  Liederhand- 
schrift 3793,  eines  der  wichtigsten  Codices  für  die  Erforschung  altitalienischer 
Sprache  und  Literatur,  ist  wohl  geeignet,  unser  Augenmerk  auf  die  Fülle 
des  noch  unbenutzten  und  unedirten,  für  die  "Wissenschaft  und  Geschichte 
der  Sprache  und  Literatur  gleich  wesentlichen  Materials  zu  richten. 

Im  Uebrigen  scheint  uns  das  erste  Heft  darauf  hinzuweisen,  dass  in  den 
„Romanischen  Studien"  vorwiegend  die  literarhistorische  Richtung,  weniger 
<He  sprachhistorische  berücksichtigt  werden  soll.  Beiden  sollte  in  einem 
philologischen  Unternehmen  gleiche  Berechtigung  zuerkannt  werden.  Wir 
werden  uns  freuen,  wenn  unsre  Vermuthung  uns  tauscht,  und  die  Folge  lehrt, 
dass  den  Ansprüchen  beider  in  gleicher  Weise  genüjrt  wird,  ^^'i^  geben 
uns  dieser  Hofinung  um  so  leichter  hin,  als  wir  schon  im  2.  Hefte  eine 
sprachhistorische  Arbeit  zu  erwarten  haben:  De  lingua  Hispano -Romanica 
ex  glossario  Arabico  et  Latino  saeculi  VIII  vel  IX  illustranda  scripsit 
Eduardus  Boehmer.  —  Die  Namen  Boehmer,  Sachs,  Mussafia,  Stengel  etc. 
bürgen  dafür,  dass  die  „Romanischen  Studien"  unter  den  wissenschaftliehen 
Erzeugnissen  unsrer  Zeit  einen  ehrenvollen  und  hervorragenden  Platz  ein- 
nehmen werden. 

Eines  Gedankens  konnten  wir  uns  beim  Durchlesen  des  Prospects  zu 
diesem  neuen  Unternehmen  nicht  enthalten;  eines  Gedankens,  der  uns  gar 
zu  oft  schon  entgegengetreten  ist.  „Letztere  —  die  Romanischen  Studien 
—  werden  auch  auf  das  Gebiet  der  englischen  Sprache  nur  soweit  hinüber- 
greifen, als  die  betr.  Arbeiten  zur  Aufhellung  romanischer  Erscheinungen 
dienen."  Also  auch  diese  Blätter  wollen  dem  Altenglischen  ihre  Spalten 
nicht  öffnen.  —  Wir  beabsichtigen  keineswegs,  dem  Herausgeber  und  seinen 
Mitarbeitern  einen  Vorwurf  mit.  dieser  Erwähnung  zu  machen;  wir  vermuthen 
nur,  dass  ihnen  für  die  Erforschung  altenglischer  Dialekte  und  ihrer  Litera- 
turen keine  Kräfte  zu  Gebote  gestanden  haben.  Auf  allen  Gebieten  der 
Wissenschaft  hat  sich  das  Deutschland  unseres  Jahrhunderts  hervorgethan, 
auf  den  meisten  ist  es  maassgebend.  Und  hier?  —  Wir  wollen  Arbeiten 
wie  die  von  Sachs,  Koch  und  Mätzner  nicht  unterschätzen,  aber  dennoch 
können  wir  uns  niciit  verhehlen,  dass  auf  einem  Felde,  auf  dem  noch  so 
unen'llich  viel  zu  arbeiten  ist,  erst  sehr  wenig  geleistet  worden  ist.  Dass 
zunächst  im  Einzelnen  noch  viel  geforscht  werden  muss,  ehe  sich  für  das 
Problem  der  Entwicklung  der  englischen  Sprache  bis  zum  16.  Jahrhundert 
hin  neue  grosse  Wahrheiten  ergeben,  ist  selbstverständlich.  Hoffen  wir, 
dass  auch  auf  diesem  Gebiete  der  Geist  deutscher  Forschung  bald  mehr 
und  mehr  erkennbar  wird. 

Prenzlau.  Dr.  K.  Böddeker. 


Codicem  Manu  Scriptum  Digby  86  in  Bibliotheca  Bodleinna  as- 
servatum  descripsit,  excerpsit ,  illustravit  Dr.  E.  Stengel. 
Halle,  Verlag  des  Waisenhauses,  1871. 

Wir  haben  in  diesem  Werke  eine  werthvolle  Arbeit  vor  uns.  Ein 
grösserer  Codex  aus  einer  oxforder  Bibliothek,  abgefasst  in  der  wichtigsten 
Epoche  der  mittelalterlichen  französischen  Literatur,  die  zugleich  eine  nicht 
unwichtige  Periode  für  englische  Sprachbildung  ist,  wird  uns  derart  zugäng- 
lich gemacht,  dass  die  einzelnen  Abschnitte  desselben  in  der  Reihenfolge, 
die  der  Codex  selbst  zeigt,  ihrem  Titel  nach  angeführt,  beschrieben  und, 
wofern  sie  nicht  schon  anderen  Ortes  edirt   sind,   theilweise   oder  ganz   ab- 


454  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

cetlruckt  werden.      Wir   finden    auf   diese   Weise    anglo-normannische,    alt- 
ent^lische   und    lateinische   Sprachdenkmäler    <les   XIII.   Jahrhunderts    neben 

einander.  . 

Das  Buch  bietet  uns  Prosaisches  und  Poetisches.  Abhandlungen  über 
Glanbenss'atze,  Gebete  und  Legenden  treffen  wir  an  neben  Satyren  und 
weltlichen  p>zählungen,  sogar  an  obscönen  Gedichten  fehlt  es  nicht.  Es 
sind  mithin  alle  Gattungen  der  damaligen  Literatur  mit  Ausnahme  der  Ge- 
schichtsclireibung  vertreten.  Einzelnes  gehört  seiner  Form  nach  zu  den 
hervorrao-onden  Erzeugnissen  mittelalterlicher  Dichtkunst.  Abgesehen  von 
dem  o-rossen  Werthe,  den  eine  derartige  Ausgabe  für  das  Sprachstudium 
hat,  triebt  sie  auch  demjenigen,  welcher  selbst  sprachliche  und  literarische 
Quellenstudien  zu  machen  nicht  im  Stande  ist,  Gelegenheit,  einen  Einblick 
in  einen  wichtigen  Codex  zu  thun,  in  die  Art  und  Weise  seiner  Abfassung 
und  in  den  Umfang  der  poetischen  Ideen  und  Stoffe  der  betr.  Literatur- 
epoche. 

Leider  sind  die  altenglischen  Denkmäler  mit  geringerer  Sorgfalt  be- 
handelt als  die  altfranzösischen :  auch  ist  nur  von  einer  geringen  Anzahl 
derselben  der  Text  beigefugt.  Der  Herausgeber  giebt  zu  diesem  Umstände 
selbst  die  Erklärung  in  einer  Anmerkung  zu  Seite  IX  der  Einleitung:  Majo- 
rem francogallicorum  vel  anglonormannicorum  numerum  attuli  propterea, 
quod  anfjUca  carmina^  rpiae  si  linguam  respicirnus,  pluri7ni  facienda  sunt, 
propeiiiem  me  editurura  esse  spero.  Hoffen  wir,  dass  er  uns  auf  diese  sehn- 
lichst wiinschenswerthe  Ausgabe  nicht  zu  lange  warten  lässt.  —  Nur  auf 
eine  Einzelheit  in  einer  der  altenglischen  Partien  möchten  wir  noch  auf- 
merksam maihen.  In  dem  Gedichte:  Les  XV  singnes  de  domesday  (p.  53) 
ist  uns  die  4.  Zeile:  „After  pe  wordes  of  geromie"  aufgefallen.  Bekanntlich 
giebt  Jeremias  keine  Beschreibung  des  jüngsten  Gerichtes.  Nun  belehrt 
uns  Mätzner  in  seinen  „Altenglischen  Sprachproben,"  welche  p.  121  ein  Ge- 
dicht über  denselben  Gegenstand  enthalten,  wie  ibigt:  „Die  fünfzehn  Vor- 
zeichen werden  auf  den  heiligen  Hieronymus  zurückgeführt,  welcher  als 
Gewährsmann  im  Anticrist,  in  den  Metr.  Homilies  p.  25,  von  Hampole  v. 
4738,  4745,  im  MS.  Harl.  2255,  in  den  Chester  Plays  II,  147,  von  Lindsay 
u.  a.  ausdrückhch  genannt,  und  als  dessen  Quelle  Bücher  oder  ein  Buch 
der  Hebräer  bezeichnet  wird  (Anticr.  456,  Hampole  v.  4750,  4753,  Chester 
Plays  II,  147).  In  den  Werken  des  Hieronymus  ist  kein  Vorbild  für  die 
späteren  Darstellungen  aufzufinden.  Nach  Anderen  sollen  die  fünfzehn  Zei- 
chen von  des  Pomerius  oder  Julianus,  Erzbischofs  von  Toledo  680^690 
Prognosticorura  futuri  seculi  Libb.  III.  (ed.  Lips.  1535)  herrühren."  — 
Nirgends  ist  hier  von  Jeremias  die  Rede. 

"Da  beide  Redactionen,  die  von  Mätzner  und  die  von  Stengel,  offenbar 
von  verschiedenen  Verfassern  herstammend,  hinsichtlich  ihres  Inhaltes  genau 
übereinstimmen,  —  selbst  directe  Rede  an  entspreohenden  Stellen  und  gleiche 
Gedanken  in  derselben,  auch  einzelne  Sätze  in  entsprechender  Verbindung 
stimmen  wörtlich  überein  —  so  ist  es  uns  sehr  wahrscheinlich,  dass  beiden 
ein  gemeinschaftliches  prosaisches  Oi-iginal  zu  Grunde  lag,  dessen  Gedanken 
der  Dichter  des  Stengel'schen  Textes  ausführlicher  darstellte,  als  der  des 
Mätzner'schcn,  letzterer  aus'erdera  in  vierzeiligen  Strophen,  ersterer  als 
fortlaufende  Dichtung  ohne  Strophenabtheilung.  —  Nun  heisst  es  im  Mätz- 
ner'schen  Text  v.  149  : 

l)us  US  tellij)  Seint  Jeronime. 

Es  ist  daher  kaum  daran  zu  zweifeln,  dass  der  Dichter  aus  Willkür  oder 
Irrthum  Jeromie  für  Jeronime  schrieb.  Den  Abschreiber  kann  der  Vorwurf 
nicht  wohl  treffen  wegen  des  Reimwortes  prophicie.  Pomerie  wäre  eine 
andere,  aber  weniger  gegründete  Conjectur. 

Der  beschreibende  und  erläuternde  Text  des  Herausgehers  ist  lateinisch 
abgefasst.      Quum  extcrno  impulsu  tum    difficultates  quasdam  ,  quae   Anglis 


Benrtheüungen  und  kurze  Anzeigen.  455 

Francogallisque  In  libris  germanice  seriptis  videntur  inesse,  minuen(3i  studio 
adductus  sum,  ut  contra  ipsam  animi  sententiam  interpretatlones  latine  8cn- 
berem,  —  sagt  er  zu  seiner  Reditfertigung  in  dieser  Beziehung.  Du  sich 
für  ein  Buch,  das  auf  einen  so  bescbränkten  Leserkreis  angewiesen  ist  wie 
das  vorliegende,  schwerlich  eine  specielle  englische  und  französische  Aus- 
gabe lohnen  niöcbte,  da  ferner  keiner  derer,  welche  Interesse  an  demselben 
haben,  des  Lateinischen  unkundig  sein  dürfte,  so  müssen  wir  den  angeführten 
Gründen  beipflichten. 

Prenzlau.  Dr.  K.  Böddeker. 


A.  Tobler,  Li  dis  dou  vrai  aniel.  Die  Parabel  von  dem  ächten 
Ringe,  franzöv'^ische  Dichtung  des  13.  Jahrhunderts,  aus 
einer  Pariser  Handschrift  zum  ersten  Male  herausgegeben. 
Leipzig,  bei  Hirzel,  1871. 

Herr  Tobler  hat  dieser  Dichtung,  die  von  einem  verhältnismässig  ge- 
ringen Umfange  ist  —  sie  besteht  aus  nur  432  Versen  —  eine  sehr 
umfassende  und  gründliche  Behandlung  angedeihen  lassen.  In  der  Vor- 
rede zu  derselben  giebt  er  uns  eine  Uebersicht  über  den  Inhalt  des 
Codex,  nach  welchem  er  die  Parabel  edirt  hat  —  Nr.  25,566  der  natio- 
nalen Bibliothek  zu  Paris.  Er  führt  die  Titel  aller  der  Texte  dieser  Hand- 
schrift auf,  welche  bereits  Herausgeber  gefunden  haben,  mit  Angabe  wo? 
und  von  wem?  sie  edirt  sind,  um!  fügt  bei  Bezeichnung  eines  jeden  Textes 
die  anderweitig  noch  existirenden  Handschriften  desselben  bei,  soweit  sie 
zn  seiner  Kenntniss  gelangt  sind.  Es  folgt  eine  Zusammenstellung  der  in 
der  Handschrift  vertretenen  Autoren,  welche  darauf  schliessen  lässt,  dass 
der  Codex  wohl  eine  Sammlung  nordfranzösischer,  oder  specieller:  artesischer 
Werke  hat  sein  sollen.  Offenbar  ist  ferner,  dass  die  einzelnen  Theile  des- 
selben geschrieben  sind  von  verschiedenen  Händen  und  zu  verschiedenen 
Zeiten,  gegen  Ende  des  13.  und  Anfang  des  14.  Jahrhunderts.  —  Hieran 
knüpft  sich  eine  mit  Umsicht  und  Urtheil  geführte  Untersuchung  über  die 
Entstehungszeit  der  in  dem  Werkchen  veröffentlichten  Dichtung,  welche  ein 
bestimmtes  Jahr  freilich  nur  mit  annähernder  Sicherheit  als  das  der  Ab- 
fassung nachweisen  kann.  —  Auch  hat  der  Herausgeber  die  Dichtung  als 
einen  Beitrag  zur  Kenntniss  der  picardischen  Mundart,  zur  Kenntniss  ihres 
lautlichen  imd  graphischen  Verhaltens  ausgebeutet.  Die  Resultate  seiner 
Untersuchung  bilden  einen  in  sich  abgeschlossenen  Theil  der  Vorrede,  wel- 
cher zwei  Zwecken  zu  gleicher  Zeit  dienen  soll  und  dient.  Einerseits  bietet 
derselbe  eine  übersichtliche  Zusammenstellung  der  J^igenthümlichkeiten  des 
picardischen  Dialectes,  andererseits  dient  er  als  kritischer  Maassstab  der  von 
T.  angewandten  Orthographie  und  seiner  Textverbesserung.  Wo  letztere 
für  nöthig  gehalten  ist,  finden  wir  die  Lesart  der  Handschrift  unter  dem 
Texte.  —  Ueber  den  Werth  seines  Verfahrens  bei  der  Textkritik  spricht 
sich  der  Herausgeber  in  seiner  bekannten  Bescheidenheit  folgendermaassen 
aus:  „Dass  ich  nun  bei  der  Umsetzung  meiner  Vorlage  aus  ungleich- 
massiger,  schwankender  Sprache  in  das,  was  ich  für  alte  picardische, 
oder  unter  dem  Einflüsse  ausserpicardischer  Literatur  in  einigen  Punkten 
(che  für  ke,  g  für  w)  modificirte  iMundart  halte,  durchweg  das  Eich- 
tige ,  namentlich  das  richtige  ISIaass  getroffen  habe ,  dafür  kann  mir 
mein  guter  Wille  allein  keine  hinlängliche  Bürgschaft  geben.  Mir  selbst 
sind  Zweifel  genug  geblieben  .  .  .  Den  Versuch  wollte  ich  um  der  Möglich- 
keit des  Fehlens  willen  nicht  unterlassen ;  die  genaue  Wiedergabe  des  Ueber- 
lieferten,  wie    sie   bei   einem    ersten  Abdrucke   unerlässlich  war,    setzt  jeden 


456  Benrtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

in  den  Stand,  aus  dem  Materiale,  das  mir  vorlag,  herzustellen,  was  ihm 
besser  dünkt."  AVir  können  die  angewandte  Methode  nur  billigen,  und  ihre 
Würdigun"'  von  Seiten  des  Herausgebers  ist  so  frei  von  jedem  Vorurtheile 
zu  seinen  Gunsten,  dass  wir  kein  Wort  hinzuzufügen  haben. 

Schliesslich  giebt  T.  am  Ende  seines  Werkchens  in  einer  Reihe  von 
„Anmerkungen"  Beiträge  zur  Etymologie  und  Bedeutungslehre  altfranzösischer 
Wörter.  Jedes  neu  edirte  sprachliche  Material  wird,  gehörig  durchforscht, 
neue  Beiträge  dieser  Art  gewähren  können.  Es  ist  sehr  anzuerkennen, 
wenn  der  Herausgeber  die  neuen  Entdeckungen  auf  dem  Gebiete  der  Wort- 
kenntniss,  zu  welchen  ihn  der  betr.  Text  geführt  hat,  auch  dann  seinen 
Lesern  mittheilt,  wenn  sie  nicht  zum  Verständnisse  desselben  nothwendiger- 
weise  mirgetheilt  werden  müssen.  Als  Ergänzungen  zur  Kenntniss  des 
Sprachschatzes  werden  sie,  wie  es  denn  auch  von  T.  geschehen  ist,  am  vor- 
theilhaftesten    in   einem   besonderen   Anhange   zusammengefasst. 

Wir  brauchen  nicht  mehr  zu  erwähnen,  dass  ein  näheres  Einsehen  die- 
ses Werkchens  von  uns  einem  jeden  Freunde  der  altfranzösischen  Sprache 
und  Literatur  sehr  empfohlen  wird. 

Prenzlau.  Dr.  K.  Böddeker. 


W.  Shakeppeare's  dramatische  Werke.  Für  die  deutsche  Bühne 
bearbeitet  von  W.  Öchelhäuser,  Mitglied  des  Vorstandes 
der  deutschen  Shakespeare-Gesellschaft.  Berlin.  A.  Asher. 
8.     1870. 

Shakespeare  ist  und  bleibt  noch  immer  das  unerreichte  Vorbild  unseres 
Dramas,  und  seine  Werke  werden  so  lange,  bis  die  Deutschen  eine  wirklich 
originelle  Kunst  entwickeln,  den  Grundstock  unseres  Repertoires  bilden. 
So  sehr  ich  anerkenne,  dass  Shakespeare  unter  den  Dichtern  der  neuen 
Zeit  den  ersten  Platz  einnimmt,  so  kann  ich  mich  doch  nicht  denjenigen 
seiner  Bewunderer  anschliessen,  welche  hierin  ein  Glück  sehen  und  meinen,  die 
Zeit  würde  beklagenswei'th  sein,  wo  die  Erzeugnisse  der  Gegenwart  alleinige 
Herrschaft  auf  den  weltbedeutenden  Brettern  ausübten.  Meines  Erachtens 
ist  das  der  einzige  Zustand,  den  eine  wirkliche  Kunst  verträgt;  das  Leben- 
dige will  und  mag  keine  Concurrenz  mit  den  Schatten  der  Vergangenheit 
eingehen.  Wenn  das  Interesse  an  der  Leetüre  des  britischen  Dichters  auch 
von  Tage  zu  Tage  zunimmt,  muss  trotzdem  jeder  unbefangene  Beobachter 
schon  jetzt  gestehen,  dass  er  von  der  Bühne  herab  nicht  mehr  dieselbe  Be- 
deutung beanspruchen  kann,  wie  früher.  Der  Pulsschlag  unserer  Zeit  ist 
viel  zu  energisch,  und  die  aus  ihr  resultirende  AVeltanschauung,  wenn  auch 
in  noch  so  abgeschwächter  Form,  so  sehr  Gemeingut  eines  Jeden,  dass  er 
im  Theater,  wo  der  Lebendige  den  Lebendigen  gegenübertritt.  Fleisch  von 
seinem  Fleisch  und  Bein  von  seinem  Bein  sucht  und  die  ästhetischen  Doc- 
trinen  wie  alles  Andere  vergessen  will.  So  befriedigt  unser  Publicum  seine 
idealen  Bedürfnisse  in  der  Oper,  wo  ihm  die  Zauberkraft  der  Musik  mühe- 
los den  Weg  in  eine  andere  Welt  erschliesst,  im  recitirenden  Drama  aber 
feiert  nur  noch  der  ungenirte  Realismus  seine  Triumphe,  mag  er  die  lang- 
weilige Kleinbürgerlichkeit,  wie  im  sog.  deutschen  Lustspiel,  abconterfeien, 
oder  in  der  Posse  durch  Obscönität  zu  kitzeln  suchen,  oder  endlich  im 
Sensationsschauspiel,  wie  es  die  Franzosen  ausgebildet  haben,  und  ihnen  die 
Engländer  in  der  diesem  Volke  eigenthümlichen  brutalen  Manier  nachahmen, 
jServenaufregungen  erzeugen,  wie  sie  eben  so  gut  durch  Stierkämpfe  oder 
öfl'entliche  Hinrichtungen  zu  Wege  gebracht  werden  könnten. 

Es    gilt    indessen    dem   idealen   recitirenden  Drama   den  Platz   offen    zu 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen,  457 

halten.  Und  da  leider!  der  Vorrath  einheimischer  Producte  nicht  ausreicht, 
auch  viele  der  Schiller'schen  Tragödien  trotz  alles  patriotischen  Vorurtheils 
nach  Erreichung  einer  gewissen  Altersstufe  auf  die  Dauer  ungeniessbar  wer- 
den, so  niiissen  wir  beim  Auslande  um  Borg  gehen.  Natürlich  werden  wir 
dort  am  liebsten  zugreifen,  wo  dasjenige  zu  finden,  wiis  unserer  Art  am 
Verwandtesten  ist.  Dass  die  machtvolle  Gestalt  des  grössten  Uramatikers 
aber  vor  Allem  berufen  ist,  von  Zeit  zu  Zeit  auf  der  Bühne  als  zürnender 
Herakles  zu  erscheinen  und  der  Tagesliteratur  ihre  Unwürdigkeit  zu  Gemüthe 
zu  führen,  wird  der  begeistertste  Verfechter  des  „Modernen"  nicht  ableug- 
nen können,  zumal  seine  Werke  bis  jetzt  auch  der  Kunst  des  Schauspielers 
die  höchsten  und  schönsten  Aufgaben  bieten  und  so  den  entsetzlichen  Ver- 
fall derselben  immerhin  etwas  auflialten  mögen.  Ich  bin  zwar  weit  davon 
entfernt,  mit  Eduard  Devrient  die  Sliakefpeare'schen  Gestalten  als  das  Ein- 
zige, Mustergültige  hinzustellen.  Die  Schauspielkunst  verhalt  sich  zur  äusser- 
Hchen  Bühne  wie  die  Plastik  zum  Gebäude;  die  classischen  Figuren  der 
griechischen  Tempel  passen  nicht  in  eine  christliche  Kirche,  und  die  Detail- 
zeichnung der  Shakespeare'schen  Charakteristik  würde  in  einem  antiken 
Theater  absolut  unverständlich  bleiben.  Unser  Theater  ähnelt  aber  weder 
dem  griechischen,  noch  dem  englischen,  soll  desshalb  ein  ihm  dargestelltes 
Drama  ein  wahrhaftes  Kunstwerk  sein,  so  muss  es  seinen  Gesetzen  in  der 
ganzen  Composition  angepasst  sein.  Die  Composition  der  Shakespeare'schen 
Dramen  erscheint  mir  vom  Standpunkte  des  englischen  Theaters  aus  so 
vollendet  wie  möglich  —  einzelne  Fehler  haften  natürlich  allem  Mensch- 
lichen an.  In  unsere  Theater  werden  aber  Sliakespeare's  Werke  nie  voll- 
kommen hineinpassen,  man  mag  sie  drehen  und  wenden,  zuschneiden  und 
ausflicken  wie  man  will.  Wenn  man  auch  der  Venus  —  um  das  obige  Bei- 
spiel noch  einmal  zu  gebrauchen  —  einen  sittsamen  Rock  anzieht,  desshalb 
ist  sie  doch  noch  lange  keine  Madonna.  — 

Soll  indessen  Shakespeare  gegeben  werden,  so  muss  er  jedenfalls  in  der 
möglichst  besten  Weise  den  modernen  Verhältnissen  accommodirt  werden. 
Ueber  diejenigen  Stholastikcr,  welche  ihn  gern  mit  Haut  und  Haaren  vor's 
Lampenlicht  schleppten,  verlohnt  es  kaum  noch  ein  Wort  zu  verlieren.  Die 
Hauptaufgabe  aber  ist,  der  augenblicklich  auf  den  deutschen  Bühnen  herr- 
schenden Barbarei  und  Zerfahienlieit  ein  Ende  zu  machen.  Herr  Oechel- 
häuser  entwirft  in  seiner  Einleitung  („Grundsätze  für  die  Bühnenbearbeitung") 
ein  Bild  dieser  Zustände,  das  man  spassliaft  nennen  könnte,  wenn  sich  nicht 
alle  unsere  Nationaluntugenden  darin  spiegelten.  Nicht  einmal  die  Schlcgel'- 
sche  Uebersetzung  geniesst  unbedingtes  Anselin:  müssen  wir  uns  doch  z.B. 
den  Othello  hier  in  Berlin  in  einer  aus  der  berüchtigten  Voss'schen  P^ibrik 
stammenden  Verdeutschung  gefallen  lassen.  Ferner  hat  fast  jedes  Theater 
eine  andere  Bühnenbearbeitung,  von  irgend  einem  Aestheticus  loci,  Director 
oder  Regisseur  herrührend.  Letzteres  Ungemach  hat  übrigens  bekanntlich 
Shakespeare  nicht  allein  zu  erdulden,  sondern  auch  z.  ß.  Mozart,  dessen 
Don  Juan  an  jedem  Theater  anders  gegeben  wird  und  dann  von  den  ab- 
hängigen Blättern  als  in  dieser  Form  allein  maassgehend  gepriesen  wird. 

Die  Grundsätze  seiner  Bearbeitung  setzt  Herr  Oecheliiäuser  höchst  an- 
ziehend auseinander  und  können  wir  ihnen  ohne  jeden  Vorl)ehalt  zustimmen. 
Zu  loben  ist  auch  sein  Protect  gegen  die  allzu  unbesonnene  Verkürzung. 
Das  Streichen  ist  die  ganze  Wissenschaft  der  ungebildeten  Leute  vom  Metier, 
während  der  Gebildete  sich  zehnmal  bedenkt,  ehe  er  sein  eigenes  Urtheil 
über  das  des  Dichters  selbst  stellt.  Man  kann  nach  meiner  Ansicht  dem 
Publicum  dreist  etwas  mehr  zumuthen  als  eine  dreistündige  Dauer  der  Vor- 
stellung. Es  ist  absolut  nicht  zu  begreifen,  weshalb  Nerven,  welche  die 
fünfstündige  Dauer  einer  Meyerbeer'sJien  Oper  ertragen  können,  nicht 
auch  dieselbe  Zeit  es  bei  einem  Shakespeare'schen  Drama  aushalten  sollten. 
Man  wird  zwar,  wenn  man  den  Zuschauer  länger  in  Anspruch  nehmen  will, 
sein  Augenmerk  energisch   auf  die   Beseitigung   der  Verwandlungen  richten 


458  Beurtbeilungen  und  kurze  Anzeigen. 

müssen,  denn  nichts  ermüdet  mehr,  als  ein  fortwährendes  An-  und  Absetzen 
der  Aufmerksamkeit.  Dieser  unmotivirte  Veitstanz  der  CouHssen  bringt  das 
Auge  zuletzt  förmlich  zur  Verzweiflung:  die  Personen  kommen  und  gehen 
wie  auf  einer  Eisenbahnstation,  so  dass  man  endlich  froh  ist,  wenn  man  aus 
diesem  Wechsel  erlöst  und  wieder  zwischen  die  stabile  Decoration  seiner 
vier  Wände  gesetzt  wird.  Ich  glaube,  man  wird  in  dieser  Hinsicht  viel 
weiter  gehen  können,  als  bisher.  Unsere  Bühne  ahmt  zwar  die  Natur  nach, 
trotzdem  ist  aber  der  Schauplatz,  auf  welchem  sich  das  Drama  begiebt,  ein 
idealer,  und  nur  zu  vermeiden,  dass  sich  Alles  vor  derselben  Coulisse  in 
einer  geradezu  unglaublichen  Weise  trifft,  wie  meinetwegen  auf  Kaulbach's 
Reformationsbilde.  Durch  geschickte  Uebergänge  wird  die  Phantasie  leicht 
in  Stand  gesetzt,  von  den  rohen  Anforderungen  der  Wirklichkeit  zu  abs- 
trabiren. 

Herr  Oechelhäuser  bietet  den  Bühnen  eine  Bearbeitung  von  Richard  HI. 
Hamlet,  Heinrich  IV.  und  „AVie  es  euch  gefällt!" 

AVas  Richard  III.  betrifft,  so  unterscheidet  sich  die  vorliegende  Bearbei- 
tung von  allen  früheren  Versuchen  besonders  durch  das  nochmalige  Auftreten 
der  Anna  im  vierten  Acte  und  die  Beibehaltung  von  Richard's  Werbung 
um  die  Elisabeth.  Ueber  letzteren  Punkt  hat  sich  Herr  Oechelhäuser  selbst 
im  dritten  Bande  des  Jahrbuchs  der  deutschen  Shakespeare-Gesellschaft 
vernehmen  lassen.  Seine  Anschauungen  scheinen  unwiflerleglich  zu  sein : 
dass  ein  so  gewandter  Künstler  wie  Shakespeare  ohne  irgend  einen  Grund 
dasselbe  Motiv  in  einem  Drama  zweimal  benutzen  sollte,  ist  nicht  anzuneh- 
men. Die  berühmten  Geistererscheinungen  des  Schlusses  hat  der  Bearbeiter 
ihrer  AVorte  beraubt.  Auch  hier  giebt  man  ihm  vollkommen  Recht,  denn 
diese  redenden  Gespenster  sind  für  unseren  Geschmack  unerträglich.  Auch 
ist  der  Rathschlag  vortrefflich,  sie  mit  einem  Gewitter  zu  accompagniren, 
wohingegen  eine  Musikbegleitung  keinen  günstigen  Effect  zu  versprechen 
scheint.  Ueberhaupt  ist  es  bei  Inscenirung  eines  recitirenden  Dramas  durch- 
aus rathsam,  nun  und  nimmer  die  Musik  als  idealen  Factor  zu  verwenden, 
wie  es  hier  geschähe.  Die  AVeit  der  Musik  ist  eine  ganz  andere  als  die  des 
Schauspiels,  und  so  entsteht  für  feinfühlende  Gemüther  ein  unangenehmer 
Contrast.  Es  ist  etwas  anderes,  wenn  die  Musik  rein  realistisch  wirkt,  d.  h. 
auf  der  Bühne  selbst  vor  unsern  Augen  ein  Marsch  geblasen  oder  zum 
Tanze  aufgespielt  wird.  Alle  melodramatischen  Effecte  sind  unkünstU-risch. 
Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  man  bei  dieser  Scene  die  von  DIngelstedt 
getroffene  Anordnung  befolgen  muss  und  nicht  ein  Arrangement,  wie  es 
z.  B.  auf  der  Berliner  Bühne  im  Gebrauch  ist,  wonach  die  Heerlager  Ri- 
chard's und  Richmond's  durch  ein  bis  zu  den  Lampen  vorgeschobenes  ge- 
birgsartiges  A^'ersatzstück  getrennt  sind,  in  dessen  transparentem  Gipfel  die 
Geister  sich  sehen  lassen.  —  Eine  vollendete  harmonische  Bühnenwirkung 
ist  übrigens  mit  diesem  fünften  Acte  nicht  zu  erzielen:  das  Publicum  wird 
sich  stets  einzig  und  allein  an  Richard's  glanzvolle  Einzelheiten  halten  und 
dagegen  die  Gesammtwirkung.  der  an  und  für  sich  so  überaus  schön  gedachte 
Schluss  zu  Kurze  kommen.  Die  beiden  Scenen  Richmond's  erfordern  jedes- 
mal eine  Verwandlung,  ohne  jedoch  ein  abgeschlossenes  Gemälde  darzubie- 
ten. Die  Handlung  ging  auf  Shakespeare's  Bühne  in  einem  Flusse  fort,  auf 
der  unsern  aber  ist  sie  in  vier  Stücke  zerrissen.  — 

Am  „Hamlet"  ist  die  Streichung  der  ganzen  Eingangsscene  auffallend. 
AVenn  auch  der  Bearbeiter  dies  vortrefflich  zu  motivi^en  weiss,  so  wird  er 
dennoch  schwerlich  jemals  mit  seinem  Vorschlage  durchdringen.  Er  bringt 
deshalb  auch  selbst  schon  die  gestrichene  Scene  in  einemNachtrage.  So 
sehr  ich  principiell  Herrn  Oechelhäuser  Recht  gebe,  so  möchte  ich  doch  um 
keinen  Preis  diese  wundersame  Ouvertüre  missen.  Grabbe  in  seinem  vor- 
trefflichen und  leider  viel  zu  wenig  bekannten  Aufsatze  „über  die  Shakespearo- 
manie"  meint  zwar,  auf  derartige  brillante  Introductionen  sei  nicht  viel  zu 
geben,    da    das   Publicum    nur    ganz    allmälig    in  Stimmung  komme  und  sie 


Beurtbeilnngon  und  kurze  Anzeigen.  459 

(ieshalb  noth wendig  verloren  gehen  miissten.  Ich  glaube  indessen,  dass  ge- 
rade am  Anfang  ein  kräftiger  Ton  geboten  ist,  der  die  Aufmerksamkeit 
reizt :  Shakespeare  hat  diesen  Grundsatz  fast  immer  befolgt.  —  Die  Fortin- 
brasscenen  sind  ganz  fortgefallen;  ich  meine,  die  Reise  nach  England  unter- 
drückte man  ebenfalls  am  besten;  sie  ist  ein  gar  zu  novellistisches  Element, 
ein  unangenehmer  Zwischenact  in  der  Handlung  selbst.  Auch  der  Vers 
„der  Eine  weint,  der  Andere  lacht"  fehlt;  der  Bearbeiter  meint,  er  über- 
stiege die  Kräfte  des  Schauspielers.  Das  ist  wohl  ein  Trrthum;  wer  Dessoir 
z.  B.  als  Hamlet  gesehen,  muss  zugeben,  dass  dies  der  Höhepunkt  seiner 
Leistung  ist.  Das  Fehlen  dieses  Verses  bricht  der  ganzen  Scene  die  Spitze 
ab.  Vortrefflich  sind  <He  Bemerkungen  über  die  einzelnen  Stellen  des 
Stückes.  Hier  verfahren  unsere  Bühnen  oft  mit  einer  unverzeihlichen  Nach- 
]ä«sigkeit.  Die  ganze  Einleitung  zum  Hamlet  sagt  uns  überhaupt  sehr  zu. 
Herr  Oechelhäuser  hält  sich  nur  an  seine  Sache  und  vermeidet  in  Folge 
dessen  das  widerliche  Geschwätz,  wfis  meist  über  dies  tiefsinnige  Drama 
feilgeboten  wird.  Hier  zeigt  sich  in  der  That,  dass  es  nichts  Neues  unter 
der  Sonne  giebt.  Denn  wenn  man  untersucht,  ..zu  welcher  Zeit  Hamlet  sein 
Vcrhältniss  mit  Ophelia  angeknüpft  und  welchen  Grad  physischer  Vertrau- 
lichkeit es  erreicht  habe,  —  ob  Polonius  Mitwisser  des  königlichen  Ehe- 
bruchs gewesen  und  nebenbei  auf  Hamlet  als  Schwiegersohn  speculirt  habe, 
oder  nicht,  —  was  sich  Hamlet  bei  dem  Briefe  an  den  König  (Act  IV)  ge- 
dacht habe"  —  ist  man  da  nicht  auf  der  Fährte  des  Kaisers  Tiberius,  von 
welchem  es  im  Sueton  heisst  :  Grammaticos  ejusmodi  fere  quMCstionibus  ex- 
periebatur,  quae  mater  Hecubae,  quod  Achilli  nomen  inter  virgines  fuisset, 
quid  sirenes  cantare  sint  solitae. 

„Wie  es  euch  geföllt,"  bisher  nur  vereinzelt  dargestellt,  wird  gewiss  in 
Herrn  Oechelhäuser's  Bearbeitung  festen  P^uss  auf  unserer  Huhne  fassen. 
Die  Episode  des  Sylvius  und  der  Phöbe  ist  ganz  fortgefallen,  was  durchaus 
zu  billigen.  Ebenso  ist  die  Härte  im  Charakter  des  Oliver  beseitigt  und  zu 
diesem  Zwecke  die  Eingangsscene  unterdrückt. 

Das  letzte  Her  vorliegenden  Bändchen  endlich  enthält  den  kühnen  Ver- 
such, aus  den  drei  Theilen  Heinrich's  VI.  ein  einziges  Drama  herzustellen. 
Ob  die  deutsche  Bühne  viel  durch  die  Darstellung  der  gesammten  Shake- 
speare'schen  Historien  gewinnen  wird,  ist  etwas  sehr  zweifelhaft ;  und  ihr  Ge- 
winn soll  doch  am  Ende  der  einzige  Leitstern  sein.  Dingelstedt  hat  den  ganzen 
Cyclus  nach  seiner  Bearbeitung  aufgeführt  und  beabsichtigt,  wie  es  heisst, 
eine  Wiederholung  dieses  Experimentes.  Ich  glaube,  das  eigentliche  grosse 
Publicum  wird  schwerlich  jemals  derartige  Unternehmungen  patronisiren. 
Wenn  irgend  etwas  undramatisch  ist,  so  sind  es  die  Kämpfe  der  rothen 
und  weissen  Rose.  Der  Shake^peare-Oechelhäuser'sche  Heinrich  VI.  umtasstt 
einen  Zeitraum  von  über  26  Jahren.  Allerdings  fragt  man  im  Theater  nichg 
nach  der  Zeit ;  aber  diese  Frage  lässt  sich  nur  unterdrücken,  wenn  da_ 
Werk  so  dramatisch  ist,  dass  es  so  zu  sagen  die  Zeit  als  ein  Ideales  be 
handelt.  Bei  einer  durchaus  epischen  Behandlung  drängt  sieh  der  Zeitbegriff 
unabweislich  und  störend  auf.  Es  wird  kaum  gelingen,  Richard  II.  bei  uns 
einzubürgern.  König  Johann  hat  sich  nirgends  auf  dem  Repertoire  gehalten. 
An  Heinrich  IV.  interessirt  ganz  allein  JFallstaff'  und  sein  Kreis.  Nur  Ri- 
chard III.  ist  wirklich  in  unsern  Besitz  übergegangen,  aber  diese  ungeheure 
Tragödie  kann  man  nicht  zu  den  Historien  rechnen.  Es  heisst  zwar,  sie  sei 
nur  als  Schlussact  des  ganzen  Cyclus  verständlich,  das  ungelehrte  Publicum 
indessen  urtheilt  anders;  es  giebt  sich  dem  Drama  ohne  jeden  Hintergedan- 
ken an  seine  Vorgänger  hin.  Shakespeare's  Historien  haben  in  Deutschland 
eigentlich  nur  Unheil  gestiftet.  Eine  Unsumme  poetischer  Kraft  ist  verpufft, 
um  die  heimische  Geschichte  analog  zu  behandeln :  ein  unmögliches  Unter- 
fangen. Dazu  haben  sie  durch  ihre  lose,  sich  direct  an  die  Chronik  an- 
schliessende Form  viel  mitgewirkt,  einen  ganz  falschen  Begriff"  des  histori- 
schen Dramas  zu  erzeugen,  als  welches  nicht  die  Geschichte  selber,  sondern 


400  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

die  in  ihr  waltenden  Gerlanken  und  Ideen  darzustellen  hat,  nicht  eine  dra- 
matische Geschichte,  sondern  ein  geschichtliches  Drama  sein  soll!  Herr 
Oechelhäuser  hat  seine  Bearbeitung  derart  angelegt,  dass  der  erste  Theil 
vollständig  weggelassen  ist,  Act  1  und  2  des  zweiten  den  ersten  Act,  Act 
3  den  zweiten,  Act  4  den  dritten  bildet,  Act  5  aber  und  der  ganze  dritte 
Theil  sich  an  die  beiden  letzten  Acte  vertheilen. 

Wir  wünschen  Herrn  Oechelliäiiser's  Unternehmen  den  besten  Fortgang 
und  hoffen,  dass  die  Bübnenvorstände  von  ihm  Notiz  nehmen  werden. 

Hans    Herrig. 


Les  Femraes  Savantes,  mit  Einleitung  und  erläuternden  An- 
merkungen herausgegeben  von  Dr.  C.  Th.  Lion,  Rector 
der  höheren  Bürgerschule  in  Langensalza.  Leipzig  bei 
Teubner.     187L 

Der  Verfasser  setzt  sich  in  dieser  Ausgabe  den  Zweck,  seme  Leser 
einen  klaren  Blick  thun  zu  lassen  in  die  Verhaltnisse  der  Zeit ,  in  welche 
die  Ereignisse  des  Stückes  hineinfallen,  wie  besonders  in  das  Wesen  und 
die  Bedeutung  des  Cirkels,  welcher  in  demselben  näher  beleuchtet  wird. 
Er  will  eine  in  allen  Punkten  verständliche  Schullection  besonders  der  Art 
bieten,  dass  das  ästhetische  Urtheil  sich  in  derselben  ausbildet.  In  der 
Einleitung  giebt  er  daher  eine  ästhetische  Würdigung  des  Stückes,  welche 
kaum  kritisch-wissenschaftlicher  und  eingehender  hätte  sein  können.  Er 
legt  die  Hauptidee  des  Stückes,  die  Entwicklung  der  Handlung  und  die 
Zeichnung  der  Charaktere  mit  richtigem  Verständnisse  der  Absichten  des 
Dichters  und  mit  klarem  Einblick  in  die  Zeitideen  dar.  Sein  Urtheil  ist 
kein  subjectiv-willkürliches ,  sondern  ein  aus  dem  Studium  der  Zeit  heraus 
gewonnenes;  überall  belegt  er  dasselbe  durch  Citate  zeitgenössischer 
Schriftsteller,  durch  Aussprüche  von  Freunden  und  Feinden  des  Dichters, 
in  deren  richtige  Würdigung  er  ebenfalls  einzuführen  versteht.  Er  will 
zeigen,  was  das  Stück  an  sich  ist,  und  was  es  für  seine  Zeit  war.  Seine 
Aufgabeist,  „den  Sinn  und  die  Absichten  des  Schriftstellers 
dem  Verständnisse  möglichst  nahe  zu  legen."  Auch  für  die  Per- 
sonalnotizen, welche  mit  Hinzufügung  fleissig  gesammelter  Belege  angeiührt 
werden,  müssen  wir  ihm  dankbar  sein.  Die  lebendige  Zeichnung  des  so 
bedeutungsvollen  historischen  Hintergrundes  und  die  beständige  Hinweisung 
auf  die  einzelnen  Figuren  auf  demselben  erhöht  überhaupt  das  Interesse  an 
dem  Stücke  nicht  unerheblich. 

Die  Inhaltsangaben  zu  Anfang  jeder  einzelnen  Scene  müssen  wir  aber 
um  so  mehr  für  unnöthig  halten,  als  sie  das  selbständige  Sichhinein- 
denken in  die  Situation  gänzlich  verhindern,  und  dadurch  eine  nützliche 
ästhetische  und  intellectuelle  Uebung  aufheben.  Ein  Maasstab  für  die  Rich- 
tigkeit und  hinreichende  Feinheit  der  jedesmaligen  Auffassung  war  ja  an 
anderen  Orten  gegeben. 

Das  Sprachliche  und  Grammatische  ist  dem  Herausgeber  im  Ganzen 
Nebensache  gewesen.  Die  Noten,  welche  er  in  dieser  Beziehung  giebt,  die- 
nen im  Wesentlichen  seinem  Hauptzwecke:  richtige  Auffassung  des  Dichters. 
Eine  Menge  von  Anmerkungen  weist  daher  auf  den  Sprachgebrauch  des 
17.  Jahrhunderts  oder  specicll  auf  den  Moliere's  hin.  Doch  geht  Heraus- 
geber auch  hier  oft  zu  weit,  indem  er  zu  vielen  Versen  nichts  weiter  als 
eine  gute  Uebersetzung  hinzufügt.  Dies  dürfen  wir  ihm  da  gestatten,  wo 
nach  dem  heutigen  Sprachgebrauche  der  Sinn  oder  die  genaue  Würdigung 
eines  Verses  unklar  oder  unbestimmt  sein  könnfe,  wo  auf  eine  versteckte 
Ironie  oder  dergl.  aufmerksam  zu  machen  wäre,   die    herauszufinden    oder 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  4Cl 

herauszufühlen  vielleicht  schwer  fallen  möchte.  Aber  da,  wo  der  Sinn  eines 
Verses  unzweifelhaft  ist  und  offen  daliegt,  hatte  er  es  dem  Leser  iiberlassen 
sollen,  die  richtif;e  Uebersetzung  aufzusuchen.  Es  ist  dies  eine  nützliche 
und  bildende  Uebung,  die  vor  Allem  dem  Schüler  nicht  er.«part  werden  darf. 

Schliesslich  wollen  wir  uns  hinsichtlich  der  grammatischen  Notizen  noch 
eine  Bemerkung  erlauben ,  die  wir  aber  nicht  als  maassgebend  hinstellen, 
sondern  dem  eigenen  Urtheile  des  Lesers  anheimgeben  wollen:  Sollte  es 
nicht  wünschenswerth  sein,  dass  eine  Ausgabe,  die  in  Anbetracht  der  ästhe- 
tischen und  literar-historischen  Würdigung  mit  so  grossem  Fleisse  und  so 
treuem  Quellenstudium  —  wenn  wir  uns  so  ausdrücken  dürfen  —  angefer- 
tigt ist,  auch  ein  wissenschaftlicheres  Gepräge  in  Hinsicht  seiner  sprachlich- 
grammatischen Behandlung  trage?  Die  Erklärungen  grammatischer  Er- 
scheinungen sind  oberflächlich,  selten  oder  nie  ist  ihnen  eine  tiefere  Be- 
gründung beigefügt.  Einige  Beispiele  mögen  zeigen,  wie  wir  in  einer  Aus- 
gabe, die  auf  wissenschaftliche  Tiefe  Anspruch  macht,  die  grammatischen 
Anmerkungen  wünsclien,  —  falls  sie  überhaupt  in  dieselbe  aufgenommen 
werden  sollen.  Zu  folgenden  Versen  giebt  der  Herausgeber  beistehende 
Bemerkungen : 

545:  en  croire  qn.  =  s'en  rapporter  ä  qn.,  Glauben  schenken. 

858:  en  findet  sich  gerade  häutig  bei  dem  unpersönlichen  il  coüte,  z.  B. 
il  vous  en  coutera  la  vie. 

885 :  faire  un  traite  de  qc,  eine  Abhandlung  über  etwas  anfertigen. 

891:  je  veux  nous  venger  de  cette  indigne  classe  oü  nous  rangent  les 
hommes,  de  bedeutet  hier  wegen. 

917:  s'accomoder  de  qc,  sich  etwas  gefallen  lassen. 

1194:  en  etre  aux  prises  =  combattre. 

1368:  en  vouloir  beaucoup  ä  :=  böse  sein. 

1532:  vouloir  mal  ä  qn.  de  qc.  ^=  böse  sein. 

Nirgends  ist  hier  der  Gebrauch  von  de  erklärt,  und  doch  genügt  es 
dem  denkenden  Menschen  nicht,  das  Wie?  zu  wissen,  er  will  vor  Allem  das 
Weshalb?  erkennen.  Es  ist  dies  in  diesem  Falle  ebenso  leicht  als  vortheil- 
haft.  De  =  1)  lat.  de,  von  —  herab;  in  Betrefl,  über,  wegen,  =  2)  lat.  a, 
ab,  von  —  her.  Früher  bezeichnete  de  alle  diese  Beziehungen  mit  voller 
Energie;  wo  irgend  eine  derselben  auszudrücken  war,  wurde  dies  Wort  mit 
dem  vollen  Bewusstsein  seiner  Bedeutung  in  freier  Weise  als  Ausdrucksmit- 
tel gewählt.  Daneben  stets  en  =  inde,  mit  Beziehung  auf  etwas  Vorge- 
nanntes. Vouloir  ä  qn.  de  qc.  r=  Jemandem  wegen  einer  Sache  zürnen; 
en  vouloir  h  qn.  =  Jemandem  deswegen  zürnen.  — •  Später  verlor  sich 
die  Energie  dieser  Präposition  mehr  und  mehr;  sie  wurde  allmälig  blosses 
Formwort  ohne  verstandene  oder  bestimmt  gefühlte  präpositionale  Beziehung, 
—  nur  in  der  Bedeutung  von  —  her  wohnt  ihr  heute  noch  einige  präpo.«i- 
tionale  Energie  bei.  In  der  Bedeutung  „in  Betreff,"  „wegen,"  hielt  sie  sich 
in  einzelnen  Redensarten,  aber  ohne  begriffliche  Beileutung  für  das  Be- 
wusstsein des  Sprechenden.  In  anderen  erhielt  sie  selbst  sich  nicht,  wohl 
aber  das  ihr  entsprechende  en  als  unverstandenen  und  in  der  That  begriff- 
lich leeren  Rest.  —  In  dieser  leicht  zu  durchschauenden  Darlegung  haben 
wir  den  gemeinschaftlichen  Erklärungsgrund  für  alle  jene  de  und  en,  wie 
für  alle  de  und  en  überhaupt.  Einmal  verstanden,  leitet  sie  an,  jedes  de 
und  jedes  en  richtig  zu  würdigen,  wo  das  eine  oder  andere  uns  auch  be- 
gegnen mag.  Diese  Art  der  Erklärung  ist  also  der  Art,  dass  Praxis  und 
Wissenschaft  gleiches  Interesse  daran  haben. 

Zu  Vers  637  giebt  der  Herausgeber  ferner  folgende  Note:  Ne  dire  mot 
=  ne  point  parier.  Hierdurch  ist  lur  den  Denkenden  Nichts  erklärt.  War- 
um nicht  erinnern  an:  ne  r=3  nicht,  ne  —  mot  =  nicht  ein  Wort,  (wie 
deutsch  nicht  ein  Haar,  nicht  ein  Buchstabe  u.  s.  w.)  ebenso  ne-pas  = 
nicht  ein  Schritt,  ne-point  =  nicht  ein  Punkt.  Letztere  verloren  im  Ge- 
brauche ihre  gesonderten  Bedeutungen    und   wurden  zu  blossen  Negations- 


462  Beurtbeilungen  und  kurze  Anzeigen. 

furmen  geschwächt,  während  sie  früher  die  Negationspartikel  ne  verstärkt 
und  hervorgehoben  hatten.  Ne-mot  erhielt  sich  auch  formelhaft  als  Negi- 
rungsniittel,  naturgemäss  aber  nur  bei  den  Verben  des  Sprechens. 

Ferner  bemerkt  derselbe  zu  Vers  676  :  Mie  ein  in  der  älteren  Sprache 
ganz  gebräuchliches  Wort  für  amie:  Liebchen.  Diese  Erklärung  ist  sehr 
ungenau,  die  richtige  Erklärung  sehr  einfach  und  leichtverständlich:  Früher 
m'auiie  wie  l'amie:  später  mon  amie;  m'amie  für  „mein  Liebchen"  hatte  sich 
durch  den  häufigen  Gebrauch  im  Volksmunde  festgesetzt,  man  verstand  es 
neben  mon  amie  nicht  mehr  und  schrieb  es  ma  mie,  daraus  dann  la  mie. 
(Uebrigens  selten  anders  als  in  der  Verbindung  ma  mie  gebraucht.) 

Zu  Vers  845  linden  wir  die  Anmerkung:  llien  =:  etwas  (im  negativen 
Satze).  —  Weshalb  nicht  lieber  eine  solche  Erklärung  aus  einer  guten  Aus- 
gabe überhaupt  weglassen;  wenigstens  sollte  man  eine  verständliche  Be- 
gründung bieten,  etwa:  Rien  (rem)  =  eine  Sache,  etwas;  ne-rien  =  nicht 
etwas,  nichts.  Ist  die  Negation  nicht  durch  ne  ausgedrückt ,  sondern  durch 
ein  Wort,  welches  mit  dem  Begriffe  etwas  nicht  zu  einem  neuen  negirten 
Begrifle  zusammenfliessen  kann,  so  hat  man  natüilich  beide  getrennt  zu 
übersetzen,  und  zwar  rien  durch  etwas.  Uebrigens  rien  nur  für  das  ne- 
girt  e  etwas. 

Die  Bemerkung  zu  Vers  1336:  Le  prendre  aux  usages  des  mots  = 
s'en  rappoiter  ä,  muss  geradezu  als  unnütz  bezeichnet  werden.  W^eshalb 
nicht  ä  =  gemäss  (vielleicht  mit  Hinweisung  auf  den  früheren  Umfang  die- 
ser energischen  Bedeutung  von  a),  Gedanke  und  Ausdruck  sind  klar  und 
verständlich. 

Zu  Vers  113  lesen  wir:  croi  für  crois;  zu  Vers  1G32:  voi  für  vois.  Der 
Leser  erfährt  hierdurch,  dass  der  Dichter  sich  die  seltsame  Freiheit  genom- 
men hat,  das  Schluss-s  obiger  Formen  wegzulassen.  Erklärt  ist  für  sein 
Verständniss  hierdurch  nichts.  Einige  Worte  können  ihm  die  Erscheinung 
klar  machen:  Video  und  credo,  überhaupt  die  1.  Pers.  Sing,  im  Latein  kein 
s,  daher  auch  ursprünglich  im  Französischen  nicht.  Das  s  ist  daher  ein 
späterer,  unorganischer  Zusatz;  Formen  ohne  dasselbe  kommen  bei  den 
Zeitgenossen  Moliere's  noch  vor.  Sie  sind  nicht  als  unregelmässige,  sondern 
als  regelmässige,  aber  archaistische  Formen  anzusehen.  —  Auf  diese  Dar- 
stellung hin  behält  der  Leser  die  Erscheinung  besser,  denn  er  kennt  ihren 
Grund;  er  kennt  sie  ausserdem  in  ihrem  ganzen  möglichen  Umfange,  nach 
Obigem  nur  an  zwei  Beispielen;  vor  Allem  aber  ist  ihm  nicht  Gelegenheit 
gegeben,  sich  etwas  irrthümlicher  Weise  als  unbegründetes  und  unverständ- 
liches curiosum  einzuprägen,  wofür  er  den  Grund  einsehen,  was  er  durch- 
aus und  leicht  verstehen  kann. 

Aber  trotz  dieses  Mangels  in  Hinsicht  der  grammatischen  Erklärungen 
bleibt  die  Lion'sche  Ausgabe  eine  empfehlenswerthe.  Man  bedenke  nur, 
dass  die  meisten  Ausgaben  französischer  Autoren  in  dieser  Beziehung  nichts 
Besseres  und  in  anderen  Beziehungen  bei  Weitem  Geringeres  bieten. 

Frenzlau.  Dr.  K.  Böddeker. 


Egmont,    a    tragecly    bj    Goethe,     ed.    by     C.    A.    Buchbeim. 
Oxford  u.  London,  Macmillan. 

Der  Verf.,  Professor  am  King's  College  zu  London,  hat  es  übernom- 
men, Werke  unserer  Classiker  Lessing,  Goethe  und  Schiller  mit  Anmer- 
kungen herauszugeben.  Der  erste,  1869  in  der  Clarendon  Press  zu  Oxford 
erschienene  Band  dieser  Sammlung  bringt  uns  Egmont,  a  Tragedy  by  Goethe, 
und  enthält  eine  Vorrede,  ein  Life  of  Goetbe,  Historical  Litroduction,  Cri- 
tical  Analysis,  den  Text,  dann  die  Anmerkungen  dazu  und  endlich  ein  Ver- 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  463 

zeichniss  der  besten  englischen  Uebersetzungen  Goethescher  Werke,  so  dass, 
wie  man  schon  an  den  Titeln  dieser  einzelnen  Capitel  sieht,  einem  Englän- 
der, der  unsere  grossen  Dichter  nicht  kennt,  nicht  nur  eine  Erläuterung 
des  Egmont  speciell,  sondern  eine  Einleitung  zu  Goethe's  Dichtung  im 
Allgemeinen  durch  Herrn  Buchheim's  Werk  geboten  wird. 

In  der  übrigens  einfach  gehaltenen  Vorrede  nennt  uns  der  Verfasser 
die  Quellen,  aus  denen  er  geschöpft:  es  sind  immer  die  besten,  die  er 
braueben  konnte,  auch  muss  anerkannt  werden,  dass  sie  fleissig  und  gut 
verwerthet  worden  sind,  so  dass  wir  ihm  gern  glauben,  wenn  er  sagt,  dass 
er  Jahre  lang  an  seinem  Egmont  gearbeitet  habe. 

Auf  die  Preface  folgt  eine  verhältnissmässig  ausfuhrliche  Biographie 
Goethe's,  die  nicht  nur  die  Schicksale  des  Dichters  und  seine  Werke  auf- 
zählt, sondern  auch  berühmte  Streitpunkte  behandelt,  wie  z.  B.  den  Patrio- 
tismus Goethe's,  einen  Vergleich  Schiller's  mit  Goethe  u.  s.  w.  Auch  ent- 
hält es,  was  für  den  englischen  Leser,  der  sich  mit  Goethe's  Leben  und 
Charakter  eingehend  beschäftigen  will,  besonders  wichtig  ist,  einen  Nach- 
weis über  die  besten  Werke,  die  ihm  hierüber  befriedigenden  Aufschluss  ge- 
ben können. 

Nach  dem  Life  of  Goethe  kommen  wir  zu  der  Critical  Analysis.  Die- 
selbe geht,  um  den  Egmont  gegen  die  Schiller'sche  Kritik  zu  vertheidigen, 
auf  die  Aeusserungen  zurück,  die  Goethe  selbst  über  „seinen"  Egmont  ge- 
than  hat.  Aber  eine  Entkräftung  der  leider  so  gut  begründeten  Einwände 
Schiller's  geUngt  ihr  damit  doch  nicht,  hätte  auch  gar  nicht  versucht  wer- 
den sollen,  wenn  sie  nicht  eingehender  und  gründlicher  ausfallen  sollte  als 
Herrn  Buchheim's  Critical  Analysis. 

Die  Anmerkungen  sind  nicht  unter,  sondern  hinter  den  Text  gesetzt. 
Dies  ist  nun  zwar  nicht  bequem  für  den  Schüler,  aber  in  anderer  Hinsicht 
desto  besser  für  ihn.  Ausgaben  mit  Anmerkungen  führen  gar  zu  leicht  zu 
Unselbständigkeit.  Ist  eine  Stelle  auch  nur  einigermassen  schwierig,  ist  sie 
es  namentlich  in  sprachlicher  Hinsicht,  so  wird  jeder  Schüler,  der  nicht 
einen  besonderen  Grad  von  Eifer  und  Selbstüberwindung  hat,  die  Augen 
nach  unten  wenden,  um  sich  bei  einer  Anmerkung  Eath  zu  holen,  statt  ge- 
wissenhaft nachzudenken  und  die  Schwierigkeit  selbst  zu  lösen.  Durch  die 
von  Herrn  Buchheim  getroffene  Anordnung  dagegen  wird  der  Schüler  mehr 
zur  Selbstthätigkeit  angehalten  und  diejenigen  Anmerkungen,  die  für  ihn 
entbehrlich  sind,  dienen  ihm  zur  Bestätigung  des  selbständig  Gefundenen. 
Ein  noch  grösserer  Vortheil  aber  ist  vielleicht  der,  dass  man  den  Inhalt  der 
Anmerkungen  besser  behält,  wenn  man  weiss,  dass  man  sie  erst  eigens  auf- 
suchen muss,  sobald  man  sie  vergessen  sollte. 

Die  Notes  zu  Egmont  sind  theils  sprachliche,  theils  historische,  theils 
kritische.  Am  besten  gefallen  uns  die  der  ersten  Classe.  Die  schwierige- 
ren AVendungen  und  Idiotismen,  deren  es  in  dem  Egmont  so  viele  giebt, 
sind  durchweg  gut  erklärt  und  mit  Benutzung  der  besten  Uebersetzungen 
in  gutem  Englisch  wiedergegeben;  längere  und  besonders  schwierige  Stellen 
sind  gleichfalls  vollständig  übersetzt.  Ausserdem  finden  wir  viele  gramma- 
tikalische und  etymologische  Anmerkungen  (nach  Grimm  und  Becker)  und 
endlich  noch  Wörter  und  Wendungen,  die  nach  ihrer  Stilfarbe  (familiär, 
populär,  rare,  antiquated  u.  s.  w.)  beurtheilt  sind.  Und  alles  ist  gut  und 
erschöpfend  behandelt  bis  auf  einige  Kleinigkeiten.  So  können  wir  z.  ß. 
den  Glauben  des  Verfassers  an  expletives  nicht  theilen  und  glauben  viel- 
mehr, dass  die  von  ihm  als  solche  angeführten  Wörter  der  Stelle,  an  der 
sie  sich  befinden,  eine  besondere  stilistische  Färbung  geben  oder  auch  ihre 
Bedeutung  geradezu  ändern. 

Die  ebenfalls  zahlreichen  und  guten  historischen  Anmerkungen  sind  aus 
Schiller,  Prescott,  Motley  und  Strada  geschöpft  und  enthalten  Citate  aus 
diesen  Historikern,  namentlich  aus  Strada ,  dessen  lateinischer  Text  auch 
noch  ins  Englische  übersetzt  ist.     Leider   weisen    diese  Anmerkungen  nicht 


464        "  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

consequent  und  systematisch  auf  die  Abweichungen  des  Dichters  von  der 
Geschichte,  noch  geben  sie  eine  kritische  Würdigung  derselben.  Einzelnes 
finden  wir  freilich,  aber  es  genügt  bei  weitem  nicht.  Alles  zur  Kritik  des 
Dnmias  Gehörige  hätte  auch  wohl  besser  in  die  Critical  Analysis  gehört, 
so  dass  man  in  den  Anmerkungen  blos  darauf  hätte  verweisen  brauchen; 
jedenlalls  aber  ist  leider  die  Kritik  die  schwache  Seite  des  sonst  so  treff- 
lichen Buches. 

G.  Ä.  Volchert. 


E.  Burtin.  Recueil  de  Mots  Fran9ais  pour  les  Exercices  de 
Langage  d'apres  les  Tableaux  de  M.  Strübing,  2"^  Edition, 
revue  et  augmentee.     Berlin,  H.  Sauvage,  1872.     142  S.  8*^. 

Diese  Vocabelsammlung,  walcher  Ref.  im  43.  Bande  des  Archivs  ein 
günstiges  Progiiostikon  stellen  zu  können  glaubte,  erscheint  jetzt  in  zweiter 
Auflage.  Was  <ien  Zweck  des  Buches  betrifft,  so  möge  auf  den  Bericht 
über  die  erste  Auflage  verwiesen  sein;  in  Bezug  auf  die  Einrichtung  aber 
ist  eine  so  wesentliche  Neuerung  hinzugekommen,  dass  hier  naher  darauf 
eingegangen  werden  niuss. 

Der  Verf.  hat  bei  Anwendung  seiner  Sammlung  die  Erfahrung  gemacht, 
dass  die  Schüler  und  Schülerinnen  sich  an  dem  im  Anschluss  an  die  Strü- 
bing'schen  Anschauungstafeln  gegebenen  Wörtern  oft  nicht  genügen  lassen, 
diiss  sie  in  ihrem  Lerneifer  noch  oft  vom  Lehrer  zu  erfahren  verlangen,  wie 
diese  oder  jene  Dinge  heissen,  an  die  sie  durch  das,  was  ihnen  vorgeführt 
wiril,  erinnert  werden.  Ferner  hat  sich  der  Verf.  auch  überzeugt,  dass  Be- 
merkungen über  Grammatik,  Aussprache,  Orthographie,  über  Homonymen, 
leichtere  Synonymen  u.  dgl.  im  Anschluss  an  Sprechübungen  besser  haften, 
als  wenn  sie  dem  Schüler  bei  anderen  Gelegenheiten  gegeben  werden.  Um 
nun  dem  Lehrer  seine  Aufgabe  zu  erleichtern,  sind  alle  derartigen  Wörter 
und  Bemerkungen  in  einer  neu  hinzugekommenen  dritten  Spalte  mit  kleine- 
rem Druck  kurz  angedeutet,  meist  ohne  Angabe  des  Deutschen,  so  dass  es 
der  Auswahl  des  Lehrers  überlassen  bleibt,  was  er  davon  dem  Schüler  durch 
Erklärung  verständlich  machen  will;  doch  gewährt  bei  einer  Wiederholung 
diese  dritte  Spähe  auch  dem  Gedächtniss  des  Schülers  einen  Anhalt.  Hier 
finden  wir  z.  B.  louer  miethen  und  loben;  medecin  mit  durch  den 
Druck  hervorgehobenem  e  statt  des  deutschen  i  und  daneben,  zur  Vervoll- 
ständigung der  mit  dem  Arzt  verknüpften  Vorstellungen,  dient,  clien- 
tele,  eure;  le  linge  neben  la  ligne,  Feder,  plume  und  ressort, 
ferner  Hinweisungen  auf  Unregelmässigkeiten  in  der  Flexion,  auf  syntak- 
tische Schwierigkeiten,  ja  selbst  auf  bjkanntere  Gedichte  von  Beranger, 
Lamartine  etc.  Diese  kurzen  Andeutungen  werden  genügen,  um  zu  zeigen, 
auf  wie  reiehen  und  mannigfaltigen  Stoff'  in  dieser  dritten  Spalte  hingewie- 
sen wird,  vielleicht  nach  Manches  Geschmack  auf  zu  reichen  Stoff",  da  der- 
selbe den  Scluilern  zu  mehr  Fragen  Anlass  geben  kann,  als  dem  Lehrer 
lieb  ist.  Doch  diesem  bleibt  es  ja  unbenommen,  nur  das  zu  behandeln, 
was  ihm  passend  scheint.  In  solchen  Dingen  eine  Allen  genügende  Aus- 
wahl zu  treffen  ist  nicht  wohl  möglich;  vor  allem  aber  soll  der  Lehrer  sich 
nicht  durch  das  Buch  beherrschen  lassen,  sondern  umgekehrt  das  Buch  be- 
herrschen. Dass  dies  auch  des  Verf.  An-  und  Absicht  ist,  gibt  er  deutlich 
genug  zu  verstehen,  und  ertheilt  ausserdem  den  gewiss  beherzigenswerthen 
Rath  „de  ne  se  servir  des  tableau.x  que  lorsque  Tinstruction  directe  est  im- 
possible." 

Der  Verf.  weist  auch  kurz  darauf  hin,  dass  sich  nicht   alle  Bücher,   die 


Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen.  465 

ähnliche  Zwecke  wie  das  seine  verfolgen,  rein  von  unfranzösischen  Wendun- 
gen und  von  Germanismen  zu  halten  verstanden  haben.  Es  sind  eben  noch 
gar  viel  Lehrer  fremder  Sprachen  nicht  zu  der  Erkenntniss  gekommen,  dasa 
es  ein  gar  heikles  Ding  ist,  in  einer  fremden  Sprache  zu  schreiben.  Da  der 
Verf.  Zartgefühl  genug  besitzt,  die  Schriften,  die  er  im  Auge  hat,  nicht  zu 
nennen,  so  mögen  sie  auch  hier  ungenannt  bleiben.  Doch  sollen  einige 
St'.'llen  aus  denselben  angeführt  werden,  um  zu  zeigen,  dass  jene  Hindeu- 
tung ihre  volle  Berechtigung  hat.  In  einer  dieser  Schriften  lesen  wir: 
chauffer  une  chambre  moytnmuit  un  poele  und  andere  derartige  Wendungen 
mit  moyennant;  —  a  la  fin  de  trois  semaines  on  les  mot  (sc.  les  tiges  de 
lin)  dans  un  four  bien  chauife  et  ils  (zwei  Zeilen  vorher  findet  sich  derselbe 
Druckfehler)  sont  bris/s  etc.;  —  afin  que  les  oiseau.x  ne  mangent  les  se- 
mailles  et  que  les  grains  ne  perissent  en  hivre  (zweimalige,  doch  mindestens 
höchst  ungewöhnliche  Auslassung  von  pas) ;  —  des  qu'il  fait  dou.x  .  .  .  alors 
il  se  fond;  —  la  figure  (soll  heissen  die  Figur!)  d'une  personne;  —  le  chien 
meme  ri'est  pas  sür  cZ'etre  leur  dupe  (sc.  des  corneilles),  d.  b.  ist  nicht 
sicher  davor  etc. ;  —  la  robe  de  chambre  n'esi  portee  que  quand  on  est  chez 
soi,  und  mehrmals  ein  derartiger  Gebrauch  des  Passivs;  —  im  Questionnaire: 
Que  vient  le  chicn  de  faire?  --  In  einem  anderen  Buch''  lesen  wir:  (il) 
prdfera  ses  croissants  accoutumes  h  toutes  ces  friandes,  <1.  h.  doch :  seine 
an  Leckereien  gewöhnte  Hörnchen!  statt:  seine  gewohnten  Hörnchen;  — 
notre  patrie  septentrionale;  Verf  besitzt  oiTenbar  noch  immer  mehrere 
deutsche  Vaterländer,  wie  zur  Zeit  des  seligen  Bundestages;  —  arranger 
les  cheveux  a  l'aide  des  epingles  ä  cheveux;  ils  sont  de  bons  pietons  (mar- 
cheurs  wäre  hier  wol  auch  der  gewöhnlichere  Ausdruck);  und  gleich  in  der 
Vorrede:  Par  conscquence  ils  ne  sont  pas  ä  meme  de  s'entretenir  avec  faci- 
lite  des  objets  de  la  vie  ordinaire.  Or,  l'auteur  espere  remedier  par  ce  petit 
livre  k  ce  defaut  ci-dessus  mentionne.  Auch  Verstösse  gegen  den  Gebrauch 
der  Zeiten  finden  sich  verschiedentlich  in  diesem  Buch,  doch  ergeben  sich 
dieselben  ja  nur  aus  dem  Zusammenhang  und  können  deswegen  hier  nicht 
gut  aufgeführt  werden.  F.  S. 


Die  Menaechmen  oder  ZwilHngsbrüder  des  T.  Maccius  Plaulus. 
Für  deutsche  Leser  bearbeitet  von  Dr.  Carl  Chr.  Conr. 
Völker,  Oberlehrer  am  Gymnasium  zu  Elberfeld. 

W^erke  des  klassischen  Alterthums  so  übersetzen,  dass  sie  dem  heutigen, 
modernen  Geschmack  zusagen,  bleibt  stets  eine  schwierige  Aufgabe.  Wer 
sich  derselben  unterzieht,  hat  doppelten  Verpflichtungen  nachzukommen :  er 
muss  dem  ursprünglichen  Text  möglichst  wenig  Gewalt  anthun,  und  auf  der 
anderen  Seite  ist  er  doch  auch  gezwungen,  in  vielen  Punkten  den  Ton  des 
Alterthums  zu  ändern ,  zu  modernisiren.  Dass  Beides  In  angemessener 
Weise  zu  vereinigen  nicht  leicht  ist,  liegt  auf  der  Hand;  um  so  freudiger 
werden  wir  einen  jeden  Versuch  nach  dieser  Richtung  hin  als  etwas  Löb- 
liches und  Anerkennenswerthes  begrüssen. 

Eine  solche  Arbelt  liegt  uns  vor  unter  dem  obigen  Titel.  Der  Verfasser, 
von  Freunden  des  klassischen  Alterthums  längst  wegen  verschiedener,  tüch- 
tiger Arbeiten  geschätzt,  hat  sich  auch  hier  wieder  als  einen  gründlichen 
Kenner  der  lateinischen  Sprache  bewährt.  Die  Uebertragung  giebt  den 
Sinn  des  Originals  scharf  und  getreu,  soweit  nicht  die  versuchte  Modernl- 
sirung  In  Form  und  Inhalt  Aenderungen  nothwendig  erscheinen  Hess.  Dass 
der  Verfasser  die  oft  recht  complicirten  und  kühn  gehandhabten  Vers- 
maasse  des  Originals  nicht  wiederzugeben  versucht  hat,  Ist  entschiedeu  als 
ein  glückhcher  Griff  zu  bezeichnen;  wir  stimmen  in  diesem  Punkte  vollstän- 
Archiv  f.  n.  Sprachen.   XLVIH-  3Q 


466  Beurtheilungen  und  kurze  Anzeigen. 

dig  mit  dem  in  der  Vorrede  (pag.  5,  f.)  Gesagten  überein.  In  der  Moder- 
nisirung  hätte  der  Herr  Verfasser  wohl  etwas  weiter  gehen  können:  der 
antike  Ton  ist  nirgends  verfehlt,  im  Gegentbeil,  er  ist  oft  zu  getreu,  d.  h. 
auf  Kosten  des  modernen  Gesprächstones  wiedergegeben.  Manche  Aus- 
drücke in  der  Uebersetzung  erinnern  einen  Jeden,  der  mit  den  antiken 
Sprachen  bekannt  ist,  sofort  an  die  betreffende  lateinische  Wendung,  und 
dem  Leser,  der  jene  Kenntniss  nicht  besitzt,  werden  sie  fremdartig  vorkom- 
men. Nach  unserer  Ansicht  hätte  der  Verfasser  bei  der  Modernisirung  sich 
enger  an  die  Manier  einzelner  Vorgänger,  namentlich  Droysen's  (in  der 
Uebersetzung  des  Aristophanes),  anschliessen  sollen.  Dann  würden  ähnliche 
Arbeiten  noch  mehr  auch  bei  den  nicht  stieng  klassisch  Gebildeten  den  Bei- 
fall finden,  den  ihnen  Männer  von  Fach  längst  nicht  versagt  haben.  —  Der 
Uebersetzung  geht  eine  recht  hübsche  Einleitung  voraus,  welche  den  Leser, 
auch  wenn  er  ganz  ohne  Vorkenntnisse  an  die  Leetüre  des  Buches  heran- 
geht, in  practischer,  passender  Weise  einführt.  —  Auf  jeden  Fall  verdient 
die  Schrift  eine  weitere  Verbreitung,  wozu  auch  ganz  besonders  noch  eine 
durchweg  klare,  allgemein  verständliche  Sprache  berechtigt.  H. 


Miscellen. 


Göthe's  Euphrosyne. 

Göthe's  sinnige  Elegie  „Euphrosyne"  ist  bekanntlich  dem  Andenken  der 
Schauspielerin  Christine  Amalie  Louise  Becker,  geb.  Neumann,  geweiht, 
welche  von  dem  Augenblicke  an,  da  sie  (i.J.  1791),  ein  zwölfjähriges  Kind,* 
den  Altmeister  um  künstlerische  Ausbildung  angefleht  und  dieser  in  ihr 
„das  liebenswürdigste,  natürlicliste  Talent"  kennen  gelernt  hatte,  bis  zu 
ihrem  leider  schon  1797  erfolgenden  Tode  immer  höher  in  seiner  Gunst  ge- 
stiegen. „Sie  war  mir  in  mehr  als  einem  Sinne  lieb,"  schrieb  der  Dichter 
am  2ö.  Octob.  1797  an  Böttiger.**  „Wenn  sich  manchmal  in  mir  die  gestor- 
bene Lust,  für's  Theater  zu  arbeiten,  wieder  regte,  so  hatte  ich  sie  gewiss 
vor  Augen,  und  meine  Mädchen  und  Frauen  bildeten  sich  nach  ihr  und 
ihren  Eigenschaften.  Es  kann  grössere  Talente  geben,  aber  für  mich  kein 
anmuthigeres."  So  entstand  denn  die  tief  und  poetisch  empfundene  Ele- 
gie, „eins  der  naturseligsten  und  zartesten  Werke,"  wie  sich  Knebel  aus- 
drückt, „die  je  von  eines  Dichters  Seele  durcli  die  Feder  geflossen,  einzig, 
eigen  und  schön,  die  Verse  frei  wie  die  Natur."  „Unbezwingliche  Trauer," 
—  um  mit  Göthe's  eigenen  Worten  zu  reden  —  tritt  uns  hier  in  edel  an- 
tiker Einkleidung  entgegen.  Von  weit  geringerem  Werthe,  als  diese  Elegie, 
sind  drei  andere  Dichtungen,  welche  Göthe  schon  früher  für  seinen  Lieb- 
ling geschrieben:  Der  Epilog  zum  Jahresschlüsse  1792  und  die  Prologe  zu 
Goldoni's  „Krieg"  und  zu  Iffland's  „Alte  und  neue  Zeit."  Ob  die  Aehn- 
lichkeit  einiger  Zuge  in  den  Charakteren  einer  Marianne,  Melina,  Aurelie 
und  Philene  in  „Wilh.  Meister's  Lehrjahren«  mit  solchen  in  dem  Bilde  der 
Christine  Becker  eine  mehr  als  zufällige  sei,  wie  es  Wdh.  Hosäus  in  seinem 
verdienstlichen,  die  Euphro^yne-Literatur  zu  einem  völlig  befriedigenden 
Abschlüsse  bringenden  Werkchen  „Euphrosyne"***  anzunehmen  scheint,  lassen 
wir  dahingestellt  sein,  aber  um  so  entschiedener  theilen  auch  wir  die  An- 
sicht, dass  Mignon  in  mehrfacher  Hinsicht  eine  aufl'allende  Portraitähnlich- 
kelt  mit  der   Becker -Neumann   aufzuweisen   hat.      Namentlich    erinnert  die 


•  Am  15.  December  1778  geboren,   zählte    sie   damals  noch  nicht,  wie 
Göthe    in    seinen   „Jahres-   und    Tagesheften"    (Werke    in    40   Bdn.,     1869, 
XXXIX.  Bd.,  7.   S.)  schreibt,   14  Jahre. 
**  „Reise  in  die  Schweiz,"  XXVIII,  99. 
***  Dessau,  E.  Barth.     1871. 

30* 


4C8  Miscellen. 

Scene  am  Ende  des  zweiten  Buches,  in  welclier  Wilhelm  Meister  Älignon 
in  seinen  Armen  hält,  deutlich  an  einen  Vorfall,  der  sich  bei  einer  Probe 
zu  „Koni"-  Johann"  zwischen  Göthe  und  seinem  Günstlinge  ereignete.* 

Wegen  der  keineswegs  unbedeutenden  Rolle,  welche  somit  „Euphro- 
ßvne"  in  Göthe's  Dichtungen  zugefallen,  ist  es  von  allgemeinem  Interesse, 
d.-tss  es  nach  langem  vergeblichen  Suchen  endlicli  gelungen  ist,  das  Portrait 
Christlnens  aufzufinden,  welches  nach  zwei  Anfiaben  ilires  Biographen 
AriiüM"*  in  ihrem  zehnten  Lebensjahre  von  der  Herzogin-Mutter  Ainalie  in 
Oel  gemalt  worden  sein  soll.  Dasselbe  befindet  si(h  nämlich,  wie  Herr 
Hofrath  Dr.  Wilhelm  Hosäus  in  Dessau  glücklich  ermittelt  hat,  in  der  her- 
zoglichen Gallerie  des  Georgiums  bei  — •  nicht  aber,  wie  man,  irregeleitet 
durch  Musculus,  bisher  geglaubt  hat,  des  Schlosses  zu  —  Dessau  und 
hat  wahischeinlicli  im  Wesentlichen  den  in  Göthe's  Werken  oft  genannten 
Hofmaler  G.  M.  Kraus  zum  Urheber.***  Das  Bild,  wovon  Hosäus  eine  pho- 
tographische Nachbildung  seiner  Schrift  beigegeben  hat,  stellt  einen  lieb- 
lichen Mädchenkopf  mit  grossen  sinnenden  Augen,  einem  neckischen  Stumpf- 
näschen, schwellenden  Lippen  und  kurzem  dichten  Haar,  in  •welchem  ein 
bunt  zusammengestellter  Blumenstrauss  prangt,  dar.  Die  Zweifel,  welche 
gegen  die  Aeclitheit  des  Portraits  etwa  erhoben  Averden  könnten,  erweisen 
sich  bei  vorurtheilsfreier  Prüfung  als  hinfällig,  und  so  darf  denn  abermals 
ein  Problem  der  Göthe-Forschung  als  gelöst  betrachtet  -werden. 

Julius  Reuper. 


A  n  a  1  e  c  t  a    von   E.   Krüger. 

1.  Habere.     Mittellateinisch. 

Habet  facere  =  Er  hat  zu  thun  ist  eine  nicht  ungewöhnliche  Redeweise 
auch  im  Altlateinischen;  so  Cicero:  Habeo  dicere,  scribere  u.  s.  w.  Ein 
Beispiel  des  passiven  Infinitivs  ist  im  Altlateinischen  nicht  bekannt,  da- 
gegen im  Mittellatein  ziemlicli  häufig,  daher  auffallend,  dass  du  Gange  s.  v. 
Habeo  es  nicht  erwähnt.     Wir  lesen 

Quomodo    regula    habet   intelligi    Coussemaker.    Scriptores  de 
musica  med.  aevi  3,  246  a. 

Habet  nominari,  denominari  ib.  3,  194.  226.  235. 
.    Habet  fieri  ib.  3,  249. 

Compositiones  . . .  habent  cognoscl  his  [ligaturis]  et  per  modum  in 
quo  sunt  ib.  2,  243. 
Danach  ist  zu  corrigiren  das  seltsam  verwirrte  in  Forkel's  Gesch.  der 
Musik  2,  473  aus  der  Schrift  des  Prosdocimus  de  Beldomandis,  de  Cou- 
trapunctu  (1412) 

Contrapunctus   proprie   s.   stricte   sumptus    est    unius    solius    notae 

contra  alicjuam  aliam  unicam  solam  notam  contraposilio,   cum   hie 

vere  contrapunctus  nominari  habeatque  coatrapositio  vere  est 

interpretatio  istius  termini  contrapunctus, 

was  uns   nur    verständlich   schien   als   verschriebenes   nominari  habeat,  quae 

contrap.  .  . .  Die  neueste  Ausgabe  des  genannten  Schriftstückes  in  demselben 

Couss.  Scr.  3,  194  bestätigte  unsere  Vermuthung. 

Im  Italienischen  kann  man  sagen:  Tu  ai  ad  essere  lodato,  nominato. 


*  Vergl.    Eduard  Genast:    „Aus    dem   Tagebuche    eines  alten    Schau- 
spielers."    Leipzig,  1862.     I,  82. 

**  Im  Gotha'schen  Theateralmanach  von  1800. 
***  Vergl.  darüber  Hosäus  a.  a.  O.  S.  67  ff. 


Miscellen.  469 

Ob  Aehnliches  im  älteren  Italienisch  gebräuchlich,  habe  ich  nicht  gefunden 
dagegen  der  active  Infinitiv  kommt  vor:  Tu  hai  da  sapere  bei  Antonio  de 
Leno  (1400).  ebenfalls  bei  Couss.  I.  c.  3,  307. 

Im  Englischen  sagt  man:  It  is  to  be  done;  —  it  has  to  be  done 
scheint  nicht  üblich. 

Merkenswerth  ist  das  Oesterr eichi sehe:  Es  hat  zu  geschehen  = 
habet  fieri;  auch:  Die  Schrift  hat  alsbald  gefertigt  zu  werden  u.  s.  w. 
Goethe  in  seltener  Naivetät  verbindet  sogar: 

Romantische  Gespenster  kennt  ihr  nur  allein, 
Ein  acht  Gespenst  auch  classisch  hats  zu  sein. 

G.  W.  41,  109  (Faust  II.  Act  2  Homunculus.) 

Also   habet  audire   und   habet  audiri    sind  beide  mittellatein.     Während 

nun  jene  active  Form  Neuromanisch  als  angewachsenes  Hülfswort  dem  acti- 

ven  Futur    dient    servire    servira  =   servir   avra   =   habebit   habuerit    (erit) 

fccrvire,   so    ist   die  passive  Wendung,   wie   es    scheint,  verschwunden.     Man 

sagt:  il  vient  d'etre  puni,  aber  nicht:  il  a  ä  etre  puni. 

2.     a)  Bejahendes  verneinend  gebraucht 

ist  in  mehreren  Sprachen  nicht  seifen,  doch,  wie  es  scheint,  häufiger  in  den 
Perioden  abgebrauchter  Cultur  als  in  einfältiger  Grunds])rache,  z.  B.: 

yviöoj  Glieder  lähmen,  nicht:  gliedern,  Homer.  Hippocr.  —  ei'sxv- 
^ä'Qo}  pfänden,  Pfand  nehmen,  nicht :  geben.  Dem.  —  xe^alaioat 
Kopf  verwunden,  NT.  — 

Molior  Damm  machen,  Damm  zerbrechen,  —  obices,  portas  moliri 
Liv.  —  pilare,  Haare  rauben. 

Aedern  Adern  ausreissen,  schlesisch.  —  G  rasen  Gras  fressen.  -  Hau 
ten  Schlange  legt  Haut  ab  (empfängt  neue?).  —  Köpfen  Kopf 
nehmen,  abschlagen.  —  Krönen  die  Brustwehr,  Krone  der  Fe- 
stung, zerschiessen.  —  Lausen  Läuse  wegnehmen.  —  Pellen 
Kartoffeln  die  Schale  abziehen:  pelle  =  pellis.  IJambg.  —  Pfän- 
den =  si'ayvont,co.  —  Heuten  Roden  Grütli  (Gerodet)  Wurze^ 
ausreissen  (root :- radix). —  Schälen  vgl.  pellen.  —  Schuppen 
den  Fischen  die  Schuppen  abstreifen,  Ostfr.  Hambg. 

b)  Verneinendes  (scheinbar)  bejahend. 

Untiefe  bald  für  geringe  Tiefe,  bald  unergründlich  tief.  —  Un- 
masse, Unzahl,  Unsumme  scheint  einerlei  oder  sinnverwandt  mit 
unzählig.  —  Unthier  soll  ein  Thier  xar  i^o'/'y'^  bedeuten,  nicht 
ein  ISicht-Thier,  .'ondern  überthierischer  Mensch,  vgl.  noch  Un- 
kosten, Unkraut  u.  a. 

c)  Verneinende  Wertform  mit  Un-  (in  .  .  a  .  .  av) 

gehört  vernünftigerweise  nur  Dingwörtern  an,  weil  nur  an  Dingen  das 
Sein  und  Nichts,  Dasein  und  \Vegnehmen,  Nicht  und  Nichts  darstellbar  ist, 
während  die  l)ewegliche  Gedankenfigur  des  Verbs  jene  Form  ursprünglich 
verschinäht.  Die  Zeitbeweglichkeit,  aus  welcher  unsre  Väter  das  Zeitwort 
benannten,  lässt  inhaftende  Negation  nicht  zu:  sei  auch  die  Bewegung  in 
mathematisflicr  Fiction  positiv  oder  negativ,  logisch  bleibt  sie  immer  positiv 
als  Beweglichkeit.  Wir  können  denken  und  sagen:  Mensch,  Unmensch, 
nicht:  Unthun  —  Sehen,  nicht:  Unsehen,  unlieben,  untreffen.  ~  y^äyco, 
nicht:  dyoäfio  —  deleo,  nicht:  indeleo. 

Dassnn  Mittellatein  gesagt  wird  imperficio  für  unvollkommen  machen 
(Scr.  de  musica:  nota  perfecta  imperfieitur  =  die  dreizeitige  oder  perfecte 
Note  wird  zweizeitig,   imp^rfect,   gemaclit;  —  diese  abnorme  Bildung  möchte 


470 


Miscelkn. 


wohl  die  einzige  Ausnahme  von  jenem  Grundgesetz  sein.  *  —  Die  neu- 
deutschen Bildungen  verunreinigen,  verunzieren,  verunehren  sind  nicht  un-}- 
Verb  sondern  denoiuinativa,  so  auch  das  mhd.  uneret  mich,  von:  unrein, 
Unzier    Unehre ;  ingleiehen  invideo  v.  invidus,  aaxri^oveco  von  aa%r]fiu)v. 

Dagec'en  das  Englische  ist  auch  in  diesem  Gebiete  fessellos:  unbind 
entbinden,  Bande  lösen  —  undo  ungeschehen  machen,  vernichten  —  un- 
kiss,  unkinged  king,  unhorse  in  Shakesp.  Rieh.  III.  —  unlock,  un- 
know,  unloose  u.  a.  Der  Grund,  dass  solches  im  Englischen  möglich, 
scheint  darin  zu  liegen,  dass  jedes  Wort  stammähnlich  gedacht,  keinem 
sicheren  Redethell  angehört,  daher  bei  Wortangaben  nie  das  nackte 
Wort  ersclieint,  sondern  immer  gestützt  mit  the,  a,  to:  the  preach,  to 
preach.  Nicht  wie  im  Deutschen  heisst  es  dort  Berliner  Zeitung ,  oder 
Zeitung  für  Jedermann,  sondern  The  Times,  The  Saturday  Review,  The 
London  News,  The  medical  Journal;  —  nicht:  Englisch  W'örterbuch,  son- 
dern: The  .english  dictionary;  —  ebenso  nicht:  thun,  lieben,  sondern:  to 
do,  to  love  u.  s.  w.  Nackte  Wörter  werden  nur  adjectiv  oder  adverbiel 
gesagt   und  verstanden:  good,  gloomy,  thereby  —  oder  als  Nomina  propria. 

d)  die  Betonung  der  Un-Formen 
schwankt  im  Deutschen  auffallend,  und  ist  nicht  immer,  wie  C.  F.  Becker 
fausf.  Gr.  I,  §  75  S.   157)  annahm,  aus  dem  ISinne  zu  erklären,  was  folgende 
Vergleichtafel  beweist: 


Nichtbetontes  Un: 

unausstehlich, 

unbegreiflich, 

unendlich, 

unerträglich, 

unheilbar, 

unhörbar, 

unnachsichtlich,  auch  -^■ 

unnahbar, 

unnennbar, 

unsäglich,    unsagbar, 

untrennbar, 

unzertrennlich. 


Betontes  Un : 
unabsichtlich,  auch  '^■^■i-^ 
unartig,  --^ 
unanständig, 
unerzogen, 
ungeachtet, 
ungereimt, 
ungezogen, 
unhöflich, 

unmittelbar,  auch  — ^- 
(Unmittelbärkeit  Hegel  mündlich) 
unnütz, 
unordentlich, 
unschädhch, 
unthunlich, 

unverbrennlich  -^^-^  und  ^--i^ 
unvernünftig, 
unvorbereitet,  ' 

unvorhergesehen,  auch  -■^- — >^  i 

unvorsichtig,  i 

unwiderstehlich.  | 

Weder  der  Unterschied  in  Conträre  und  Absolute  (logische)  Negation, 
noch  etwa  diei  euphonische  Tonstellung,  noch  die  Ableitungsform  in  Adjecti- 
ven  oder  Part  cipien  lässt  sich  durchführen.  Dass  eine  feste  Regel  vielleicht 
unfindbar  bleiben  wird,  mag  man  schon  aus  der  provinciell  schwan- 
kenden Betonung  einiger  Beispiele  abnehmen.  Poetische  Wortstellung  er- 
laubt sich  in  diesem  Falle  häufiger  als  in  anderen  eine  gewisse  Lässlichkeit ; 
—  ähnliches  Schwanken  der  Willkür  bei  schwerwiegenden  Worten,  wie: 
Freiheit,  Wahrheit,  ist  bekannt  genug.  Schiller  betont:  Freiheit  ruft  die 
Vernunft,  Freiheit  die  wilde  Begierde,  --  und  --im  selben  Verse. 

*  Auch  das  ältere  Kirchenlatein  hat  Aehnlithes,  doch  substantivisch : 
Ep.  Jacobi  1,  13  Vulgata:  Dens  enim  intentator  malorum  est  =  6>«ö«  änei- 
paaros  xnxäv. 


Miscellen.  471 

3.    Constante  Betonung 

überhaupt  wird  angenommen  als  Vorzug,  als  Eigenthum  der  germanischen, 
insonderheit  deutschen  Sprache,  dergestalt,  dass  der  einmal  gültige  gram- 
matische Stammton  durch  keine  Ableitung  verändert  wird,  wie  etwa  in  dem 
wunderlichen  französischen  puisse-je  aus  je  puisse.  Doch  finden  sich  hier 
Ausnahmen ,  theils  aus  Willkür  lebendiger  oder  poetischer  Rede,*  theils 
aus  provinciellem  Eigensinn  ,  zuweilen  auch  von  grammatischer  Doctrin  ein- 
geschwärzte. 

Vielleicht  rhythmisch  euphonisch  wird  gewandelt: 

Augenblick:  augenblicklich  ■^^-  |  -^-^^  ]  ebenso:  Augenschein. 

Nachsicht:  unnachsichtlich  -->  \  -^-■^ 

Unterricht:  unterrichten  -^-  \  ^^^^ 
Provinciell  abweichend  sind: 

Andacht:  andächtig  --  |  -^^  ostfriesisch  ^--^ 

Vorsicht:  vorsichtig  ebenso  „  ^-^ 

wogegen  ostfriesisch  und  schwäbisch  ganz  stammgemäss  gesprochen  wird 
lebendig  -^-'  |  wo  das  Nhd.  schief  sagt  ^-•^. 

Die  feinsinnige  nhd.  Unterscheidung  von  übersetzen,  unterhalten  u.  ä., 
welche  sich  auch  in  der  Flexion  kundgibt:  übersetzt  -  übergesetzt  u.  s.  w. 
geht  durch  alle  nhd.  Mundarten,  während  das  Holländische  allerdings  nur 
das  Eine  zulässt:  overgezet,  —  das  Englische  überhaupt  diese  Art  Flexion 
nicht  kennt.  Bei  diesen  Wörtern  ist  offenbar  der  Sinn  an  die  Grundbedeu- 
tung geknüpft,  indem  übersetzen  --^-^  die  körperliche  Bewegung  aus  der 
Präposition  abnimmt,  dagegen  übersetzen  — -^  durch  das  Vorwalten  des 
Verbs  die  geistige  Uebertragung  abbildet. 

Ungleichheit  oder  Unregelmässigkeit  der  Betonung  kommt  noch  auf 
andre  Weise  vor,  und  zwar  insonderheit  bei  mehrsilbigen  Zusammensetzun- 
gen, worüber  nach  C.  F.  Becker  auch  Andre  behaupten,  es  gehe  derWort- 
accent  (Tt^oscoSia)  nicht  hinter  die  erste  Zusammensetzung  zurück.  Dies 
scheint  fast  dem  Griechischen  entlehnt,  wo  jedoch  der  Fall  nicht  über  das 
Dreisilbige  hinausgehen  kann,  also  drei  einzelne  (trennbare)  Wörter  in  sich 
fasst.  Solches  ist  daher  ausnehmend  selten;  sind  ausser  av/^Tigoes  und  disx- 
rcQO  noch  welche  bekannt?  Im  Deutschen  ist's  entweder  allgemein  ungültig 
oder  nur  zuweilen  provinciell.     Gewöhnlicher  Ton  ist: 

Hofmeister  Haushofmeister 

Lehrer  Schullehrer  Landschullehrer  Landschullehrerseminar 

Baumeister  Landbaumeister 

Meister  Schneidermeister  Hofschneidermeister 

Hauptmann  Feldhauptmann 

--  --^  nach  B.  — ^^ 

Generalfeldzeugmeister  mag  auf  der  4.  Silbe  betont  sein,   der  vox 
bybrida  schadet's  nichts. 
Andre    mögen   zweifelhaft    sein,   gehen  auch  als   seltnere  oder  gelehrt- 
wissenschaftliche der  Volkssprache  wenig  an,  z.  B. : 
Schwefelwasserstoffgas  —-«;!_ 


*  Von    poetischer    und   mündlicher  Rede   wäre   eines  der  seltenen  Bei- 
spiele die  Verschiedenheit  in: 

Wenn  der  Mond  aufgeht  -^---^  und 
Wird  der  Mond  nicht  aufgehn  -^-«-^^ 


472  Miscellen. 

Auffallend   sind   im  Ostfrie?ischen,  vielleicht   als  Attributivform   zu  ver- 
stehen, folgende  Betonungen: 

kerkhofsdöre  kellerdör  (Kirchhofs-,  Kellerthür)  — '--  \  — - 

karmelkerbree  (Buttermilchbrei)   ■^-^'- 

speckpankok  (Speckpfannkuchen)  -— 
und  ähnliche. 


Les  Matinees  Royales. 

Dies  berüchtigte  Machwerk  aus  der  Zeit  Friedrichs  des  Grossen  ist 
neuerdings  wieder  zu  einer  Mystification  verbraucht  worden,  worüber  die 
Correspondance  de  Berlin  untenstehenden  Bericlit  giebt ;  derselbe  erweckt 
eil)  um  so  grösseres  allgemeinf-s  Interesse,  da  er  über  das  sonderbare  Buch 
in  grosser  Selbständigkeit  alles  Geschichtliche  beibringt: 

Le  Figaro  a  commence  (le  18  septembre)  dans  son  feuilleton  la  publi- 
cation  du  , Testament  de  Frederic  11  dit  le  Grand.«  —  „Ce  testament  est 
^crit"  —  c'est  le  Figaro  qui  parle  —  „sous  forme  de  conseils  k  son  neveu." 
„Nons  avons  achete  le  droit  de  reproduire  ce  manuscrit  exfrö- 
mcment  curieux  et  dont  la  lecture  est  on  ne  peut  plus  attrayante.  Son 
histoire  notis  est  racontee.  II  est  rcste  dans  la  famille  de  Tun  des  secr^- 
tiiires  i!e  Freiieric  et  il  a  ete  vendu  ä  Londres  dans  une  vente  d'auto- 
graphes.  .  .  .  Ces  pages,  on  les  croiiait  ecrites  hier  par  le  prince  de  Bis- 
marck  ..." 

II  est  difficile  de  mystifier  plus  grossierement  le  lecteur,  —  ä  moins 
que  le  Figaro  n'ait  ete  le  jouet  lui-meme  de  quelquo  mystificateur  qui  aura 
specule  hardiment  sur  la  candeur  de  ce  Journal  en  matiere  de  bibliographie. 

Le  Tesiiiment  ou  Vart  de  gouverner  ddooile  n'est  autre  cliose  que  ces 
fameuses  Matinees  royales  ou  \!Art  de  regnir,  insigne  libelle  du  dernier 
siede,  que  la  presse  parisienne  semble  devoir  exhumer  de  temps  k  autre 
comnie  une  precieuse  decouverte  oflerte  en  prime  a  l'abonne. 

Voici  rhistoire  de  cet  opuscule,  —  un  peu  plus  authentique  que  celle 
du  manuscrit  achete  par  le  Figaro. 

Les  Matine'e^  royales  furent  imprimees  pour  la  premiere  fois  en  1766 
&  Paris  (naturellemeiit  sur  la  couverture  on  avait  indique  Berlin  comme 
Heu  (iimpression);  elles  eurent,  cette  nieme  annee,  deux  editions  que  le 
baren  de  Grin.m  envoya  au  Roi,  de  Paris  ä  Potsdam.  Le  lieuteuent-colonel 
Quintus  Icilins  ecrivit  a  ce  sujet,  le  4  mars  176G,  la  lettre  suivante  au  mi- 
nistre-resident  de  Prusse  k  Hambourg,  M.  de  Hecht: 

„Le  Roi  m'ayant  ordonne  de  faire  inserer  dans  les  gazettes  d'Al- 
tona  et  de  Humbourg  l'article  cijoint  contre  ['infame  aiiteur  des  Ma- 
tinees du  Eoi  de  Prusse,  j'oserai,  eher  ami,  m'adresser  a  vous  dans  la 
conviction  que  vous  me  preterez  volontiers  votre  aide  et  que  vous 
ferez  tout  ce  qu'il  denendra  de  vous  pour  fletrir  publiquement  cet 
execrahle  ecrit.^ 

L'article  dont  il  est  question  dans  cette  lettre  fut  public,  le  12  mars 
176G,  par  le  Correspondant  imparfial,  Journal  de  Hambourg;  il  denon(jait 
au  mepris  des  honnetes  gens,  dans  les  termes  les  plus  energiques,  cet 
opuscule  «candaU'ux,  „ceuvro  de  qtielque  grcdin  aux  gages  d'un  libraire" 
(e'est  ainsi  que  Voltaire  qualifiait  ks  libelles  semblables  qui  fi  isonnerent  de 
son  temps). 

Plus  tard,  les  Älatinees  royales  furent  maintes  fois  reimpriniees,  notam- 
nient  a  Paris  en  1801.  Une  "traduction  allemandc  en  avait  ete  publice  a 
BosUju  en  n8'2;  une  traduction  espagnole  du  meiue  pampldefe  parut  en 
178S.  —  II  y  a  vingt-cinq  ans  (1845),   le   Consiiiuiionnel  de  Paris  donna  — 


Miscellen.  478 

plus  ou  inoins  sincerement  —  dans  le  mcrae  pidge  oü  le  Figaro  parait  tom- 
ber  a  son  tour;  il  publia  la  ,^Copie  crtin  manuscrit  de  Fr^ckric-le-Grand 
trouve  dans  la  hibliotheque  de  Sans-Souci  dans  Vannee  1806."  Malheureuse- 
nient  le  Journal  officiel  de  Berlin,  Staatszeilung,  devoila  la  supercherie  (No. 
du  26  juin  1845);  et  le  Constitutionnel,  ainsi  convaincu  de  duper  ses  lecteurs 
ou  deire  dupe  lui-meme,  gMrda  un  silence  prudent,  comme  sans  doufe  le 
Figaro  se  taira  demain.  —  On  pouvait  croire  le  pamphlet  de  1766  decide- 
ment  enterre, .  lorsqu'il  reparut  encore  une  fois.  M.Nadaud  de  Bufibn  publia 
„los  Matinees  royales"  dans  la  Correspondance  inediie  de  Biiff'on;  le  nouvel 
dditeur,  ayant  trouve  le  manuscrit  dans  les  papiers  de  Buflon,  imsiginait  que 
Frcddric  II  lui-meme  en  avait  fait  present  au  celebre  savant  vers  1782. 
Un  Journal  allemand,  le  Magasin  de  iiltcratiire  ^trangere  (nuniero  du  10 
avril  1861)  eclaira  sur  la  vaieur  de  sa  pretendue  decouverte  M.  Nadaud  de 
BufTon,  lequel  reconnut  lionorablement  son  erreur  et  ecrivit  de  Chälons- 
sur-Saone  (25  avril  1861)  a  la  redaction  du  ]\Iagasin:  „J'en  avais  trouve  le 
manuscrit  ])armi  mes  papiers  de  famille,  ecrit  en  entler  de  la  main  du  Recri- 
laire  de  ßußon  .  .  .  Bientot,  je  pense  je  publierai  une  edition  nouvelle  de 
la  correspondance  de  Bußbn  et  je  m'empresserai  de  rcpandre  au  dehors  les 
lumieres  que  vous  aurez  bien  voulu  me  donner." 

Deux  ans  plus  tard  ecc'e  itcrum  .  .  . ;  c'est  en  Angleterre  que  renaissent 
les  Matinees.  —  Sir  John  Acton  en  publia  „le  vrai  texte  sur  un  manuscrit 
—  c!isait-il,  —  trouve  ä  Sans-Souci,  en  1806,  par  le  baron  do  Menneval, 
secretaire  du  portefeuille  de  l'empereur,  —  ä  l'epoque  oü  Napoleon  1"  oc- 
cupait  l'ancienne  residence  de  FreJeric  II."  Cette  fois  encore  s'eleverent 
des  voix  allemandes  contre  une  mystification  dejä  eventee,  mais  qui  se  re- 
nouvelait  sans  cesse  et  toujours  avec  ce  genre  de  succes  sur  lequel  on  peut 
compter  en  s'adressant  a  l'jgnorance  et  ä  la  malignite  publique.  L'illustre 
historien  Puinke  ecrivit  au  correspondant  bcrlinois  du  Times  une  lettre  oü  il 
deniontrait  sans  peine  la  fausscte  et  Tindifinite  de  ce  factum  attribue  au 
grand  Fiederic.  —  Un  peu  plus  tard,  dans  la  Revue  de  Leipzig:  Die  Grenz- 
boten, Charles  Samwer  (Ueber  Uyiechtheit  und  Ursprung  der  Älatinees  ro- 
yales) termina  la  controvcrse  de  maniere  a  couvrir  de  confusion  les  faussai- 
res  et  les  dupes  que  ce  libelle  centenaire  continuait  de  produire. 

Ce  qui  n'empecha  pas,  au  mois  d'aoüt  1870,  M.  J.  Janin  de  tirer  des 
Matinees  royales  (pour  les  besoins  sans  doute  de  la  cause  francj^aise)  50  pages 
inechantes  ou  50  mechantes  pages  sous  ce  (itre  nouveau:  „Le  breviaire  du 
Roi  de  Pruste."  Avec  le  vieiix  pamphlet  do  1766  M.  Janin  composait  un 
pasc/uin  de  circonstance,  dans  lequel,  disait-il,  „Frederic-le-Grand  se  montre 
en  son  plein  jour."  —  Cette  facetie,  assez  indigne,  parait  avoir  eu  quelques 
succes  ä  Paris,  dans  l'intervalle  de  ^A  oerth  ä  Sedan. 

Voilä  l'histoire,  un  peu  longue,  du  manuscrit  inedit  achete  par  le  Figaro, 
au  poids  de  l'or,  nous  aimous  a  le  croire.  Maintenant  que  ce  Journal  est 
ddifie  sur  la  primeur  de  son  acquisition,  s'il  desire  en  connaitre  exactement 
aussi  la  vaieur,  nous  lui  indiquerons,  comme  un  assez  bon  expert  et  romrae 
un  juge  qu'il  ne  recusera  pas,  l'eminent  historien  anglais  Themas  Carlyle. 
Dans  son  histoire  de  FreJeric  II  (tome  premier)  Cailyle  qualifie  les  prd- 
tendues  „Matinees  royales"  d'inrpttdent  libelle,  oü  Ton  fait  confe-sser  au  grand 
roi  que  le  machiavelisme,  qu"ii  a  combattu  Ini-meme  avec  une  si  sincere 
eloquence  dans  son  Anti-Machiavel,  est  le  genie  de  .'^^a  maison  et  celui  tle 
Ja  Prusse!  Carljle  ajoute  ~  dans  la  note  qu'il  ccnsacre  a  Topuscule  en 
(juestion: 

„Teile  est  la  doctrine  de  ce  pamphlet  ehonte,  dont  le  manuscrit  original 
rouve  encore  des  gens  assez  .  .  .  simples  pour  Tachtter  comme  une  curio- 
sitd  inestimable!" 


474  Miscellen. 

Tübingen's  Lob.* 

„Dann  durch  Gottes  miltreiche  Gnad  vnnd  Barmhertzifrkeit,  dise  Statt 
auch  gesegnet,  mit  seinem  heilsamen  vnnd  allein  Seeligmacbendem  Reinem 
Wort,  sie  ist  gesegnet  mit  den  lieblichen  Brünnlin  der  freyen  Künsten,  sie 
ist  gesegnet  mit  den  edlen  Cedern  Bäumen  der  Studierenden  Jugendt,  sie 
ist  gesegnet  mit  Milch  und  Honig  der  lieben  Frucht-  und  dess  Wein  Wach- 
ses, sie  ist  gesegnet  mit  den  starken  Mauren  des  Güldenen  Friedens,  sie  ist 
gesegnet  mit  der  kostbaren  Krön  der  Gerechtigkeit,  welche  allliie  als  vom 
Thron  Salomonis  bey  Statt-  und  Hoigericht  meniglichen  ertheilet  würdt, 
welche  der  himmlische  König  aller  König  auch  furohin  durch  sein  starken 
Arm  mit  den  Flügeln  seiner  Cherubim  vnd  Seraphim  gnädiglich  beschirmen 
vnd  erhalten  wolle."     S.  6.  7. 


Eberhard  III.,    ein  Constanzer  Bischof,  der  nicht  Deutsch 

versteht. 

Onangesehen  aber  er  ein  fast  gelehrter  Herr  gewesen,  doch  weil  er 
der  teutschen  Sprach  nicht  erfahren,  auch  jhme  die  Geschäft  oder  Sitten 
der  Teutschen  gar  nicht  bekannt,  so  kundte  er  sich  desto  minder  in  ein 
ordentliches  Regiment  schicken.  Dessenthalben  under  jhme  das  Bisthumb 
sich  nicht  sonders  in  den  zeitlichen  Sachen  gebessert. 

198.  Merk,  Costanz.  Chr. 


Eine  zeitgemässe  schwäbische  Dedication. 

Es  wollen  derowegen  E.  F.  Gn.  dise  mein  Chronik  gnädigst  auff-  und 
annemmen  und  ob  gleich  wol  dieselbig  von  mir  kein  Glanz  und  schein  hat, 
so  ist  es  doch  genug,  wenn  sie  von  den  Fürstlichen  Augen  einen  Blick  er- 
langt. 

Merk,  Constanz.  Chr.  1627.    Ep.  dedicatoria. 


Ehrenerschleichung. 

Solche  die  erlangte  Wurden  durch  allerlei  Laster  missbrauchen,  kann 
gesagt  werden,  „dass  sie  vom  underen  Gemach  in  das  mitle  per  cochleam 
durch  einen  Schnecken  oder  Wendelstein  hinauffsteigen,  das  ist,  nicht  grad 
und  rechtmässig,  sondern  krumb ,  steigen  ihre  Viel  zu  Geistlicher  Würde 
gleich  wie  man  durch  die  Schnecken  krumb  umhergeht." 

G.  Wittemweiler,  Ps.  III.     Cant.  203. 


Jacobus  Furnius  ein  Genueser  hat  in  lateinischer  und  griechischer 
Sprache  Carminae  nach  Davids  Weiss  disen  Psalmen  eben  also  beschriben 
dass  alle  Octonarii  und  versicul  mit  dem  Buchstaben  des  Griechischen  und 
Lateinischen  Alphabets  anfangen. 

Wittweiler,  Psalter  III,  201.     Constanz  1619.     4. 


*  Samuel  Hafenreffer,    Unda   Bethhestae  Repullulani.     Tüb.  b.  Dietrich 
Wedlin  1629.    (Bläsibad  b.  Tüb.) 


Miscelleu.  475 

Ihr  seydt  zuf'riden  mit  eweren  newerdichten  mehrthails  Schmachliedern 
vor  und  nach  dei'  Predig;  Kinder  in  Wiegen  singen  ewere  Mette,  wann  sie 
nach  ewers  Breviers  Milch  schreien.  S.  261  ff. 


Räthsel,  sicilianisch. 

Ich  bin  nichts  und  bin  die  Tochter  jedes  Wesens, 

Su  seegnu  nenti  e  su  frigghia  d'ogni  enti, 

Von  Natur  flüchtig  und  unbeständig. 

Di  natura  volubile  e  inconstanti. 

Wer  will  hat  im  Augenblick  mich  gegenwärtig. 

Cu  voli  'ntra  un  momente  m'ha  presenti. 

Und  im  Augenblick  entfernt  er  mich. 

E'ntra  un  momente  mi  leva  d'avanti. 

Ich  gehe  aber  empfinde  nicht. 

Camminu  nia  non  haju  sintinienti. 

Bin  taub,  blind,  stumm  und  bin  unwissend, 

Su  surda,  orva,  muta  e  su  gnuranti. 

Bin  lang  und  breit,  aber  wiege  nichts, 

Su  lunga  e  larga  nia  non  pisu  nenti. 

Bin  zweighaft,  rechter  Grösse  und  bin  riesig, 

Su  nana,  su  giustera  o  su  giganti. 


Wenn  die  zweite  über  die  vierte  läuft  und  fällt   in  die  dritte,    so  wird 
sie  die  erste.     Das  ganze  ist  ein  untergegangenes  deutsches  Fürstenhaus. 

A.  ßirlinger. 


Bibliographischer  Anzeiger. 


Allgemeines. 

Dr.  L.  Wiese,  Deutsche  Bildungsfragen  aus  der  Gegenwart.  (Berlin,  Wei- 
gandt  &  Grieben.)  8  Sgr. 

H.  Thilo,  Der  Sprachunterricht  auf  der  Mittelstufe  in  der  Volksschule 
(Osterburg,  Doeger.)  4  Sgr. 

K.  Bartsch,  Bibliographische  Uehersicht  der  Erscheinungen  auf  dem  Ge- 
biete der  g  rmanischen  Philologie.     (Wien,  Gerold.)  10  Sgr. 

H.  Deinhardt,  Lehrerbildung  und  Lehrerbildungs-Anstalten.  (Wien, 
Pichler.)  20  Sgr. 

L'interprete  universel  ou  langue  pour  toutes  les  nations  de  l'univers. 
üuvrage  pasigraphique  ä  2000  mots  radicaux  et  200  syllabes  de  forma- 
tion.     (Graz,  Leykam.)  12  Sgr. 

Archiv  für  Literaturgeschichte.  Hr^g.  von  Rieh.  Gosche.  2  Bd.  4  Hefte. 
(Leipzig,  Teubner.)  4  Thlr. 

H.  Neubauer,  Gymnasium  u.  Realschule.  Wider  Herrn  Direetor  Jäger. 
(Langensalza,  Veriags-Comptoir.)  5  Sgr. 

G.  Süssniann,  Die  sechsklassige  Bürgerschule.  Stellung,  Aufgabe  und 
Organisation.     (Hannover,  Blandes.)  1  Thlr. 


Lexicograph  ie. 

C.  Sachs,  Encyclopädisch  französisch-deutsches  und  deutsch-französisches 
Wörterbuch.     10.  u.   11.  Lfrg.     (Berlin,  Langenscheidt.)  a  9  Sgr. 

J.  J.  Lyragd,  Taschenwörterbuch  der  französischen  und  deutschen  Sprache. 
(Reutlingen,  Fleischhauer.)  18  Sgr. 

J.  &  W.  Grimm,  deutsches  Wörterbuch,  fortges.  v.  R.  Hildebrand  &  K. 
Weigand.  4.  Bd.  2  Abth.  4.  Lfrg.  Bearb.  v.  Mor.  Herne.  (Leipzig, 
Ilirzel.)  '  20  Sgr. 


Bibliographischer  Anzeiger.  477 

D.  Sanflers,  Wörterbuch   deutscher  Synonymen.     (Hamburg,  Hoffmann  & 
Campe.)     1.  Lfrg.  20  Sgr. 

J.    C.  A.  Heyse's   Fremdwörterbuch.     Neu  bearb.   u.    erweitert   von    Prof. 
Dr.  Carl  Bottger.     1.  Lfrg.     (Leipzig,  Fues.)  5  Sgr 

U.    Cubasch,    Neues    Fremdwörterbuch.      16.    u.    17.    Lfrg.      (Hamburg, 
Kirhter.)  ä  5  Sgr. 

M.  A.  Thibaut,    Vollst.  Wörterbuch    der  französ.   u.    deutschen   Sprache. 
Vollständig  umgearbeitet.     (Braunschweig,  Westermann.)  2  Thlr. 

S.  H.  Helms,  Vollst,  schwedisch-deutsches  und  deutsch-schwedisches  Wör- 
terbuch.    2  Bde.     (Leipzig,  Holtze.)  3  Thlr. 

Fr.   Booch  &  A.  Frey,    Hand-Wörterbuch   der  russischen  und   deutschen 
Sprache.     1.  Lfrg.     (Leipzig,  Haessel.)  10  Sgr. 


Grammatik. 

K.  Mülle.nhoff,  Paradigmata  zur  deutschen  Grammatik.  3.  Aufl.  Nebst 
Laclimann's   Abriss    der   mittelhochdeutschen   Metrik.      (Berlin,   Hertz.) 

71/2  Sgr. 

Erörterungen  über  deutsche  Orthographie  zur  Begründung  und  Erläuterung 
der  Schrift:  Regeln  und  Wörtervt-rzeichniss  hrsg.  von  dem  Verein  Ber- 
liner Gymnasiallehrer.     (Berlin,  Weidmann.)  5  Sgr. 

G.  Michaelis,  Ueber  die  Berliner  Gymnasial- Orthographie.  (Berlin, 
Ebeling.)  27.,  Sgr. 

A.  Mussafia,    Darstellung  der  romagnolischen  Mundart.     (Wien,   Gerold.) 

10  Sgr. 

L.  Wimmer,  Altnordische  Grammatik.    Aus  dem  Dänischen   übersetzt  von 

E.  Sievers.     (Halle,  Buchh.  d.  Waisenh.)  20  Sgr. 

A.  F.  C.  Vilmar,  Anfangsgründe  der  deutschen  Grammatik.  HL  Wort- 
bildungslehre.    (Marburg,  Elwert.)  6  Sgr. 

M.  Trautmann,  Bildung  u.  gebrauch  der  tempora  u.  modi  in  der  Chanson 
de  Roland.     1.  Heft.     (Halle,  Lippert.)  10  Sgr. 

Oesterlen  &Wiedmayer,  Schulgrammatik  der  franz.  Sprache.  H.Kurs. 

(Stuttgart,  Metzler.)  21  Sgr. 

J.  G.  Deutsch,  Internationale  Grammatik  f.  d.  Italienische,  Deutsche  u. 
Französische.     (Zürich,  Schabelitz.)  20  Sgr. 

Th.  Möbius,  Dänische  Formenlehre.     (Kiel,  Schwers.)  24  Sgr. 

A.  Benecke,  Die  französische  Aussprache  in  methodischer  Darstellung. 
(Potsdam,  Stein.)  15  Sgr. 

Grammaire  du  pensionnat  en  5  cours.     (München,  Leutner.)     1  Thlr.  2  Sgr. 


Literatur. 

C.  Lemcke,    Geschichte    der    deutschen  Dichtung    neuerer  Zeit.      1.  Bd. 

(Leipzig,  Seemann.)  1^4  Thlr. 

Sakantola  oder  der  entscheidende  Demantring.      Metrisch  übersetzt  von  A. 

Arthur.     (Dresden,  Schöpft".)  6  Sgr. 


478  Bibliographischer  Anzeiger. 

Hildebold  v.  Schwangau,    Minnelieder,   übers,  v.  Jos.  Schrott.     (Augs- 
burg, Kollmann.)  25  Sgr. 
P.  Wackernagel,  Das  deutsche  Kirchenlied.  34.  Lfrg.    (Leipzig,  Teubner.) 

20  Sgr. 

O.  Jänicke,  E.  Steinineyer  &  W.  VVillmanns,  Altdeutsche  Studien. 
Der  Ritte  von  Staufenberg.  Das  jüngere  Gedicht  vom  Riesen  Sigenot. 
Zur  Geschichte  des  Eckenliedes.     (Berlin,  Weidmann.)  1  Thlr. 

W.  Wackernagel,  Gothische  u.  altsäcbsische  Lesestücke  nebst  Wörter- 
buch.    (Basel,  Schweighauser.)  20  Sgr. 

H.  Kurz,  Geschichte  der  deutschen  Literatur.  4.  Bd.  von  Goethe's  Tod 
bis  auf  die  neueste  Zeit.     15.  Lfrg.     (Leipzig,  Teubner)  7Vj  Sgr. 

R.  Gottschall,  Die  deutsche  Nationalliteratur  des  19.  Jahrh.  3  Bde. 
3.  Aufl.     (Breslau,  Korn.)     1.  Lfrg.  12  Sgr. 

R.   Gosche,   Gervinus.     2.  verb.    u.   verm.   Abdruck.     (Leipzig,   Teubner.) 

10  Sgr. 

J.  Müller,    Remarques    sur    la    langue   des   classiques   fran9.  au  17.  sifecle. 

(Leipzig,  Dürr.)  18  Sgr. 

Fr.  Kreyssig,  Shakespeare-Fragen.  Kurze  Einführung  in  das  Studium  d. 
Dichters.     6  Vorträge.     (Leipzig,  Luckhardt.)  IVs  Thlr. 

Otto  Ludwig,  Shakespeare-Studien.,  hrsg.  v.  M.  Heydrich.  Leipzig. 
Cnobloch.)  2V4  Thlr, 

W.  Scott,  The  lady  of  the  lake.  A  poem  in  six  cantos.  With  a  glossary 
(Stuttgart,  Metzler.)  12  Sgr. 

W.  Scott,  Die  Dame  vom  See,  übers,  von  L.  Frey  tag.  (Bremen,  Küht- 
mann.)  20  Sgr. 

W.  Scott,  Die  Jungfrau  vom  See,  übers,  v.  K.  Overbeck.  (Oldenburg, 
Stalling.)  18  Sgr. 

Dante  Alighieri's  Göttliche  Komödie.  Metrisch  übertragen  v.  Philalethes. 
2.  Ausg.     3  Thle.     (Leipzig,  Teubner.)  3  Thlr. 

Romancero  del  Cid.  Nueva  ed.  p.  Carolina  Michaelis.  (Leipzig, 
Brockhaus.)  IV3  Thlr. 


Hilfsbücher. 

H.    Th.    Traut,    Lehrbuch     der    deutschen    Literaturgeschichte.      (Halle, 
Scbwetschke.)  28  Sgr. 

J.  Agrent  und  Kukula,  Deutsches  Lesebuch  für  untere  Klassen.    (Wien, 
Braumüller.)  20  Sgr. 

0.  Lange,  Deutscher  Lesestoff  f.  Schulen.     (Berlin,  Gärtner.)  12  Sgr. 

Dielitz  u.  Heinrichs,  Deutsches  Lesebuch  f.  d.  unteren Classen.   (Berlin, 
Reimer.)     3.  Aufl.  20  Sgr. 

Seffer    und    Dieckmann,    Anleitung    zur    Deutschen    Rechtschreibung. 
3.  Aufl.     (Hannover,  Rümpler.)  3  Sgr. 

J.  Riedel,   Lehr-  und  Lesebuch    der   franz.   Sprache.      (Mannheim,  Bens- 
heimer.j  28  Sgr. 

Moliere,  Les  femmes  savantes.     Mit  Anmerkungen  herausgegeben  von  C.  T. 
Lion.    (Leipzig,  Teubner.)  13V2  Sgr. 


Bibliographischer  Anzeiger.  479 

F.  Fäsch,  Ausgeführte  Stilarbeiten  zum  2.  Hefte  des  deutschen  Uebungs- 
buches.     (bt,  Gallen,  Huber.)  7  Sgr. 

F.  A.  Stützer,  Regeln  f.  d.  Unterricht  in   der  Orthographie.     (Eilenburg, 

Offenhauer.)  5  Sgr. 

R.    Benedix,     Der    mündliche    Vortrag.       3.    Aufl.       (Leipzig,    Weber.) 

7  7,  Sgr. 

C.  Chambeau,  Handbuch  z.  Uebersetzen  aus  dem  Deutschen  ins  Franzö- 
sische.    (Berlin,  Guttentag.)  15  Sgr. 

E.  Burtin,  Exercices  de  gymnasticjue  intellectuelle  ou   enigmes,   charades, 

logogriphes    et  jeux    pour   le  jeune    äge    recueillis.      (Berlin,    Plahn.) 

V/.,  Sgr. 

Bozzi's  Conversations-Taschenbuch  der  französischen  und  deutschen  Sprache. 
Ein  Mittel  durch  praktische  Anleitung  Anfangern  in  beiden  Sprachen 
das  Sprechen  zu  erleichtern.  Nach  J.  Perrm,  Mar],  de  Genlis  und 
Duvez.  Durchgesehen  und  mit  Anmerkungen  und  Gesprächen  etc.  er- 
weitert vom  Lehrer  J.  Grüner.  27.  Aufl.  12.  (XVL  436  S.)  (Wien, 
Lechner.)     cart.  V4  Thb:. 

S.  With,  Comeilies  et  proverbes  destines  aux  jeunes  fiUes.  (Berlin,  Hen- 
schel.)  18  Sgr. 

G.  Wolpert,    Militia,    Uebungen  im  Uebersetzen  aus  dem   Deutschen  ins 

Französische.     (Berlin,  Nicolai.)  10  Sgr. 

J.  Sandeau,  Madeleine.  Mit  Anmerkungen  u.  Wörterbuch  v.  Ed.  Hoche. 
(Leipzig,  Fleischer.)  12'/..  Sgr. 

Th.  Foetschke,  Choix  de  la  lyrique  fran9alse  du  XIX.  siöcle.  (Alten- 
burg, Pierer.)  15  Sgr. 

F.  H.    Ahn,    Manuel    theorique    et    pratique    de    compositions    fran9aises. 

(Mainz,  Kupferberg.)  227,  Sgr. 

W.  Gesenius,  Lehrbuch  der  engl.  Sprache.     2  Thle.     (Bremen,  Gesenius.) 

177,  Sgr. 

J.  Lehmann,  Lehr-  und  Lesebuch  der  engl.  Sprache.  (Mannheim,  Bcns- 
heimer.)  10  Sg«". 

W.  Ulrich,  Der  englische  Examinator  oder  Repetition  der  engl.  Gramm,  in 
Frage  u.  Antwort.     (Leipzig,  Luckhardt.)  12  Sgr. 

Appleton,  John  L.,  Neue  praktische  Methode,  die  englische  Sprache  in 
kurzer  Zeit  lesen,  schreiben  und  sprechen  zu  lernen.  Mit  Angabe  der 
enghschen  Aussprache  und  Betonung.  —  A  new  and  practical  method 
of  learning  the  english  language.  16.  Aufl.  8.  (558  Seiten  mit  einer 
Steintafel.)     Philadelphia,  Schäfer  &  Konradi.     geb.  Vj-i  Thlr, 

Boltz,  Prof.  Dr.  Aug.,  Neuer  Lehrgang  der  englischen  Sprache  nach  einer 
praktischen,  analytischen,  theoretischen,  synthetischen  Methode  von 
T.  Robertson.  Für  den  Schul-,  Privat-  und  Selbstunterricht,  unter 
Benutzung  der  neuesten  englischen  Sprachwerke,  und  mit  beständiger 
sehr  vollständiger  Angabe  der  germanischen  und  französischen  Analogien, 
nach  der  6.  Original-Auflage  zum  Gebrauch  für  Deutsche  vollständig 
neu  bearbeitet.    1.  Tbl     6.  Aufl.  gr.  8.    (VL  172  S.)  (Berlin,  Gasrtner.) 

n.  72  Thlr. 

C.  von  Reinhardstoettner,  Holländische  Conversations- Grammatik. 
2.  Aufl.     (Heidelberg,  Groos.)  1  Thlr.  10  Sgr. 

Bozzi's  Conversations-Taschenbuch  der  italienischen  und  deutschen 
Sprache.  Vom  Schulrath  Prof.  Dr.  Alois  Cäsar  Pavissich.  IG. 
durchgesehene  und  verbesserte  Auflage.     12.     (X,  364  S.)      Ebd.  cart. 

3/4  Thlr. 


480  Bibliograpliischer  Anzeiger. 

CoUot,  Prof.  A.  G.,  A  new  and  improverl  Standard  french  and  english 
anl  english  and  french  dictionary.  Kevised  ed.  gr.  8.  (1324  S.) 
(Philadelphia,  Schäfer  &  Koradi.)     geb.  4  Thir. 

Cornet,  Jules,  Manuel  de  la  conversation  Russe  &  Francjaise.     4.  Eii.     gr. 

16.     IX,  425  ö.     (Leipzig,  Hoitze.)  V,  Thlr. 

Fuchs,   Prof.    Paul,    Russische   Conversations-Grammatik    zum  Schul-    und 

Privatunterriclit.     gr.  8.    (VII,  365  S.)  (Heidelberir,  J.  Groos.) 

n.   IV3  Thlr.  (2  fl.  20  Kr.  rh.) 

Schlüssel  (143  S.)  geb.  n.   16  Sgr,  (54  Kr.  rh.) 

F.  Henschel,  A  collection  of  anglicisms,  germanisms  and  phrases  of  the 
germ.  and  engl,  languages.     (Berlin,  Henschel.)  20  Sgr. 

Easy  English  readings.  I.  Niebuhr's  tales  of  greek  heroes.  Aus  dem 
Deutschen  übers.     (Gotha,  Schioessmami.)  T^/,  Sgr. 

F.  H.  Ahn,  Theory  and  practica  of  english  composition.  (Mainz,  Kupfer- 
berg.) 18  Sgr. 

Macaulay's  Essays.  With  explanatory  not  es  by  J  Morris.  (Leipzig, 
Friese.)  12  Sgr. 

L.  Noire,    Italienische    Grammatik    für    obere   Klassen.     (Mainz,  Zabern.) 

7V.  Sgr. 

James  Worman,    A  first  course  in  the  german  language.    (Berlin,  Cohn. 

ly,  Thlr.) 


PB       Archiv  für  das  Studium 
3  der  neueren  Sprachen 

A5 

Bd. 48 


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LIBRARY 


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