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V
ARCHIV
FÜR DAS
STUDIUM DEK NEUEREN SPRACHEN
UND LITERATUREN.
HERAUSGEGEBEN
LUDWIG HERRIG.
XXVI. JAHKGANG, 48. BAND.
BRAUNSCHWEIG,
DRUCK UND VERLAG VON GEORGE WESTERMANN.
18 71.
9a
A
s
ßd Ifö
Inhalts- Verzeichniss des XLVIII. Bandes.
Abhandlungen.
Seite
Ueber Shakespeare's Würdigung in England, Franlireich und Deutschland.
Von Dr. Riedel . 1
Die Dichter der modernen französischen Literaturperiode. Von Dr. J. J.
S. May 41
Das Leben der heiligen Brigitta. Mitgetheilt von Dr. A. Tobias . . . 69
üngedruckta politische Gedichte aus dem 17. Jahrhundert. Von Dr. H.
Bieling 77
Chatten und Hessen. Von Dr. WilhelmKellner 85
Fran9ois Villon. Von Dr. AlbertStimming 241
Rechtsalterthümer aus dem Rolandsliede. Von Dr. Er esslau . . . . 291
Ein Wort zur Verständigung über den Accent tonique im Französischen.
Von Brunnemann 307
I. Die römische Novelle 369
n. Die deutsche Novelle und der deutsche Roman. Von Dr. Härtung . 391
Die sprichwörtlichen Formeln der deutschen Sprache. Von Carl Schulze 435
Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
Die Sprache als Kunst, von Gustav Gerber. (G. Weigand.) . . . . 175
Schwab und Klüpfel, Wegweiser durch die Literatur der Deutschen . . . 183
Hermann Oesterley, Die Dichtkunst und ihre Gattungen. Mit einem Vor-
worte von K. Goedeke. (Dr. Rothenbüfcher.) 184
Deutsche Gedichte zur deutschen Sage und Geschichte. Von H. A. Nie-
meyer. (Kölscher.) 184
F. W. Culemann, Schlüssel z. Studium d. Deutschen. (Dr. K. Büddeker.) 188
Baensch's Pocket Miscellany 190
L. Geiger, Der Ursprung der Sprache. (Dr. K. Böddeker.) . . . . 317
Les femmes savants, comedie de Moliere. Für den Schulgebrauch bearbeitet
von Dr. C. Tb. Lion. (Th. Ameis.) 320
Sicilianische Märchen. Aus dem Volksmunde gesammelt von Laura Gonzen-
bach. (B. t. B.) 327
Dr. Hermann Franz: The English SpeUing Book and First Reader. (Alb.
Benecke.) 331
E. Marggraff: Frecis de l'Histoire d'Allemagne. (Alb. Be necke.) . . . 335
Traitd de Versification fran9aise par Gustave Weigand. (P. de Ri viere.) 336
Alb. Benecke, Die französische Aussprache in methodischer Darstellung u.
schulmässiger Fassung. (H.) 338
Ueber Wolfram's von Eschenbach Rittergedicht Wilhelm von Orange .und
sein Verhältniss zu den altfranzösischen Dichtungen gleiches Inhalts.
Von San Marte. (Heinrich Pröhle.) 451
E. Böhmer, Romanische Studien. (Dr. K. Böddeker.) 452
Codicem Manu Scriptum Digby 86 in Bibliotheca Bodleiana asservatum
descripsit, excerpsit, illustravit Dr. E. Stengel. (Dr. K. Böddeker.) 453
A. Tobler, Li dis dou vrai aniel. (Dr. K. Böddeker.) 455
Seite
W. Shakespeare's dramatische Werke. Für die deutsche Bühne bearbeitet
von W. Oechelhäiiser. (Hans Herr ig.) 456
Les Femmes Savantes, mit Einleitung und erläuternden Anmerkungen her-
ausgegeben von Dr. C. Th. Lion. (Dr. K. Böddeker.) .... 460
Egmont, a tragedy by Goethe, ed. by C. A. Bucbheim. (G. A. Volcher t.) 462
Die Menaechraen oder Zwillingsbrüder des T. Maccius Plautus. Für deutsche
Leser bearbeitet von Dr. Carl Chr. Conr. Völker. (H.) 464
E. Burtin. Recueil de Mots Fran9ais pour les Excercices de Langage d'apres
les Tableaux de M. Strübing. (F. S.) 465
Programmenschau.
Grundsätze zur regelung unserer deutschen Orthographie. Von 'Dr. Paul
Wessel 192
Das Sprachbewusstsein unserer Tage. Von Dr. Kohl 193
Zur Geschichte der Wortbedeutungen in der deutschen Sprache. Von Dir.
Dr. Ed. Cauer 193
Die neuhochdeutsche Suhstantiv-Declination. Vom Oberlehrer W. 0. Gort-
zitza 195
Darstellung der Form und des Gebrauchs der appellativen Deminutiva in der
neuhochdeutschen Sprache mit Berücksichtigung des Mittel- und Alt-
hochdeutschen. Von Dr. Gustav Müller 195
Geschichte und Bedeutung des reimlosen fünffüssigen jambischen Verses in
der deutschen Dichtung. Von Dr. Dannehl 198
Reimbrechung und Dreireim im Drama des Hans Sachs und anderer gleich-
zeitiger Dramatiker. Vom Oberlehrer Dr. Rachel 199
Der deutsche Michel. Vom Oberlehrer Dr. Alb. Muncke 201
Bemerkungen zu Shakespeare's Julius Caesar. Vom Oberlehrer Dr. Wiarda 202
Bild und Gleichniss in ihrer Bedeutung für Lessing's Stil. Vom Dr. Cosack 203
Lessing's Verhältniss zu Shakespeare. Von Dr. L. Rovenhagen .... 203
Lessing als Lustspieldichter. Von Franz Graul 204
Goethe's Stellung zu den Naturwissenschaften. Von Dr. Ed. Krüger . 204
Zu Goethe's Iphigenie. Vom Oberlehrer Dr. Köpke 206
Ueber Goethe's Elpenor und Achilleus. Vom Dir. Dr. Fr. Strehlke . . 206
Schiller und die praktischen Ideen. Vom Conrector Dr. Tepe .... 207
Schiller's Jungfrau von Orleans, neu erklärt und nach ihrem christlichen
Gehalte gewürdigt. Vom Dir. Dr. G. Fr. Eysell 208
Ueber den Charakter des Schicksals in Schiller's Tragödie. Von Dr. Th.
Nölting 210
Schicksal und Schuld in Schiller's Braut von Messina. Vom Subrector Jul.
Drenckmann. (Hülse her.) 210
Analyse der französischen Verbalformen für den Zweck des Unterrichts. Von
Dr. Lücking. (Dr. Q. Steinbart.) 344
Dr. Bärwald. Zur Erinnerung an Lazarus Geiger. 2. Eugene Peschier,
Lazarus Geiger. Sein Leben u. Denken 355
A. Zauritz. Ueber Voltaire 's Charles XII. — Dr. Ludwig Bossler, Voltaire's
Glaubwürdigkeit in seiner Histoire de Charles XII. (Harry Bresslau.) 356
Dr. Carl Christian Redlich, Die poetischen Beiträge zum „Wandsbecker
Bothen" gesammelt und ihrem Verfasser zugewiesen. (R.) .... 358
Miscellen.
Seite 212—238. 360—366. 467—475.
Bibliographischer Anzeiger.
Seite 239—240. 367—368. 476—480.
Ueber
Shakespeare's Würdigung in England, Frankreich
u. Deutschland.
Von
Dr. Riedel in Altena.
I.
Es ist ein wunderbares Bild, das sicli vor unsern Blicken
entrollt, wenn wir die Schicksale der dramatischen Dichtungen
Shakespeare's uns vergegenwärtigen, Schicksale, die so ernst
und einzig in ihrer Art sind, dass sie zu interessanten Betrach-
tungen anregen. Vor Allem wird uns die Untersuchung der
Gründe nahe gelegt, w^elche die geistigen Erzeugnisse eines
Dichters der neueren Zeiten fast zwei Jahrhunderte hindurch,
obwohl gekannt, dennoch nahezu unbekannt haben bleiben las-
sen, die, bekannter, alle Art von Schmähungen und Tadel haben
erfahren müssen, deren Werth von hochgeachteten Kritikern
kaum dem des durch die Schriftzüge zur Makulatur gewordenen
Papieres gleich geachtet wurde, und die jetzt den herrlichsten
Productionen aller Zeiten und Völker nicht sowohl als ebenbürtig
an die Seite gestellt, sondern von den besten Geistern vmd
klarsten Denkern als unübertrefflich geschätzt und gepriesen
werden.
Es sind die Schicksale dieser Werke einzio; in ihrer Art :
weder haben die Flammen, noch hat barbarische Wuth sie je den
Augen der folgenden Geschlechter entzogen, auch hat sie nicht
eine un<?e!ieure Umw'alzunfr in dem Cultursanoie der Welt als
schädlich oder nutzlos in den Schatten gedrängt. Entstanden
Archiv f, n. Sprachen. XLVm. l
2 Shakcspeare'a Wih'digung
7.U einer Zeit, In der das Streben nach freierer Kntfaltun<r des
geistigen Lebens, nach allgemeiner Bildung, und nach Befreiung
von den Fesseln hergebrachter Denkweise ein mäclitiges war,
hat dennoch der Vertreter dieser seine Zeit bewegenden und in
der Nachzeit noch wirksamen Eichtung in das Dunkel der Ver-
gessenheit gehüllt bleiben müssen, bis es einer späteren und
vergleichsweise noch jungen Zeit gelang, ihn auf die Stufe zu
erhöhen, die ihm mit Recht gebührt. Ernst aber ist dieses I'jild
darin, dasa es uns ein Abglanz des Geschickes ist, das im Laui'o
des individuellen Lebens so vieles Gute und Schöne in Gedanken
und That in Fesseln schlägt und Hindernisse vor ihm aufthürmt,
welche es in günstigen Fällen zu Zeiten mühsam durchbricht,
die es in ungünstigen aber verbergen oder zerschmettern. P^rnst
ist es ferner darum, dass es uns auf der einen Seite die blind(>
Macht des Princips der Autorität, auf der andern die traurigen
Folgen des Vorurthells und der oberflächlichen Schätzung ver-
gegenwärtigt, und ernst und dringend ist die Lehre, die aus
diesen Betrachtungen zu uns spricht.
jNIan kann es wohl sagen, dass die Verfolgung des Fort-
schritts der Shakespeare -Würdigung in den drei hervorragend-
sten Culturländern uns einen eigenthümlichen, docii sicheren
Maassstilb für die Bcurthcilung der literarischen Fortbildung
dieser Nationen an die Hand giebt. Sie, die Jahrhunderte hin-
durch so verschieden von einander gewesen, stimmen jetzt zu-
sammen in dem J^obe des einen grossen Geistes, den sie, jede
an ihrem Theile und nach ihrer Art wetteifernd sich rühmen
ganz zu verstehen, zu lieben, und sich an den von ihm aus-
gehenden belebenden Hauche zu begeistern. AVenn sie nun nicht
alle das Opfer einer Hallucination geworden sind, sondern kla-
ren Geistes und richtigen Verständnisses den Wcrth dessen er-
kennen, dns sie preisen, mit welchem Gefühl von Beschämung
müssen sie nicht auf die vorurtheilsvollc und sinnlose Kritik
der beiden letztverflossenen Jahrhunderte zurückblicken 1 Es
braucht sich in dieser Beziehung wahrlich keine der drei Natio-
nen über die andere zu erheben, denn wenn englische Kritiker
im Ganzen weniger schroff in ihren tadelnden Urtheilen über
Shakespeare gewesen sind, so muss man in Betracht ziehen,
dass sie immerhin in ihm den Landsmann ehrten, seine patrio-
in England, Frankreich und Deutschland. 8
tischen Gesinnungen, die in England manchen Fehler verdecken,
nie in Zweifel zogen und dass sie ferner das Idiom voUkom-
men verstanden, dessen Kenntniss von den Fremden erst mit
grosser Mühe erworben werden musste, dessen Unkenntniss aber
in vielen Fällen der Grund falscher Auffassung und mangel-
haften Verständnisses war. Waren die Franzosen Shakespeare's
erbitterte Gegner, so rauss auch hier nicht ausser Acht gelas-
sen werden, dass sie zur Zeit, wo sich ihre Kritik seiner be-
mächtigte, alle dramatischen Erzeugnisse nach Norm der von
Corneille zusammengefiissten und von ihm, seinen Zeitgenossen
und den Späteren befolgten Regeln beurtheilten, welche dem
AVortlaute nach aristotelisch, dem Geiste der griechischen Tra-
gödie aber durchaus fremd waren, und dass sie Alles, was ge-
gen diese Regeln verstiess, völlig verdammten. Weiter verhin-
derte sie der Nationalstolz, Erzeugnisse fremder Völker genügend
und vorurtheilsfrei zu würdigen, ja selbst ihnen die Ehre einey
Vergleichs mit den eigenen angestaunten Dichterwerken anzu-
thun. Vor Allem aber muss hier die grosse Verschiedenheit in
den socialen Verhältnissen der beiden Nationen und die aus der-
selben entspringende Verschiedenheit in der Anschauung beach-
tet werden, die es den Franzosen kaum möglich machte, anders
als in sehr guten üebertragungen Sh. auch nur annähernd zu
verstehen. Eine meisterhafte Uebersetzung des Sh. ins Fran-
zösische ist aber wiederum der grossen Verschiedenheit des
Idioms wegen unendlich schwierig und ist selbst heutigen Tages
noch ein desideratum, obwohl uns die letzten Jahre vergleichs-
weise wohlgelungene gebracht haben.* Wir aber, die wir in
unserer Denkweise dem englischen Volke so nahe verwandt sind,
deren Sprache sich mit Geschmeidigkeit dem Ausdrucke der
englischen leiht, wir müssen mit Schmerz zurückblicken auf
eine Zeit, in der wir so völlig vom Einflüsse des französischen
Geistes beherrscht waren, dass unsere Wieland und Gottsched
Kritiken wie die in der Folge näher zu beleuchtenden dem
deutschen Volke anbieten konnten. Aber wir haben dieselben
* Guizot. Oeuvres completes de Sh. 1S62.
V. Hugo „ „ „ „ 1862.
Benj. Laroche,, „ „ „ 1864.
4 Shakespeare's \^"drdigung
längst gesühnt. Jene befangenen Urtheile waren nur wie ein
Schleier, der in der Zeit unserer literarischen Knechtschaft den
kritischen Blick der Kunstrichter trübte, wir konnten nicht be-
ständig die eigene Natur verlaugnen, die uns unwiderstehlich
zog, das Wahre, das Edele, das Tiefe anzuerkennen, wo wir es
fanden. Wir mussten bewundernd stehen vor der Macht des
Dichters, der das Gemeine des Alltagslebens in das ewig junge
und hohe Reich der Kunst hinüberzog, der uns das Walten
einer ewig wachenden und liebevollen Vorsehung in dem Ge-
triebe, das jeder Morgen neu erstehen iLisst und jeder Abend
zur Ruhe besänftigt, in erschütternden Bildern vor die Seele
führte, der aber auch die strengsten Consecjuenzen zog und das
unheimliche Schreiten der unerbittlichen Nemesis an unser Ohr
schlagen Hess in ehernen Tönen. Mit ihm verloren in die Zau-
berwelt der jungen fröhlich grünenden Liebe, jauchzend mit ihm
in dem endlichen Siege des unerschütterlichen Willens, dem
Lohne der herrlichen That, scliaudernd bei dem Schreckens-
Gefülge der Leidenschaft, fühlen wir Ihn als den unsern und
folgen ihm willig in die heiteren, in die tiefen Regionen, in die
uns sein Geist unwiderstehlich dahinzieht.
Die Stellung der deutschen Kritik in ihrer Intensität zu
diesem einer fremden Nation angehörenden Dichter ist in hohem
Grade eigenthümlich, sie ist ganz einzig in ihrer Art, da sie in
der Vorliebe, mit der sie sich seiner bemächtigt, die Bestre-
bungen der Nation, welcher Sh. angehörte, in Bezug auf ihren
Werth und ihre Gründlichkeit um ein Bedeutendes übertroffen
hat; sie ist aber eben so characteristisch für unsern kritischen
Scharfsinn und die Macht der aesthetischen Bildung unter uns,
die alle Schranken, welche die Würdigung dieses Dichters um-
gaben, siegreich durchbrochen haben. Es sei gestattet, an die-
ser Stelle treffende Worte anzuführen, die einer unserer noch
lebenden, hervorragenden Kritiker jüngst gesprochen:* „Man
sagt uns wohl, eben desshalb sind wir Deutschen so tief in das
Verständniss Sh.'s eingedrungen, eben desshalb ist dieser Dich-
ter ein solcher Liebling unserer Nation geworden, weil seine
* Aus: Prof. Lemcke's zu Marburg Rede, gelialten zur Feier des SOOjäh-
rigen Geburtstags Sh.'s 1864.
in England, Frankreich und Deutschland. 5
Nation der unsrigen stammverwandt, weil der Geist, der uns
aus des Dichters Werken anmuthet, vorherrschend ein germa-
nischer ist. Es heisst meiner Ansicht nach dem deutschen
Geiste ein Armuthszeugniss ausstellen, wenn man jene Stamm-
verwandtschaft als die Brücke betrachten will, die uns zu Sii.
geführt hat. Legen wir auch in diesem Falle einmal unsere
sprichwörtlich gewordene Bescheidenheit bei Seite und sagen
wir es offen heraus: nicht die Stammverwandtschaft mit seiner
Nation, nicht die Kundgebungen germanischen Geistes in seinen
Dichtungen sind es, was uns Sh. so nahe gebracht, sondern es
ist jene uns Deutschen vor anderen Völkern verliehene Götter-
gabe, vermöge deren wir den ächten Genius, welcher Nation er
auch angehöre, besser als andere Nationen, besser oft als seine
eigene, zu begreifen, seine Gaben besser zu geniessen und uns
anzueignen vermögen. Wir verstehen und lieben Sh. vermöge
desselben deutschen Geistes, welcher auch den Italienern ge-
holfen hat, ihren Dante zu verstehen, welcher den Spaniern
geholfen hat, ihre Romanzen zu ordnen, und welcher jetzt noch
immer den Franzosen hilft, die Schätze ihrer mittelalterlichen
Literatur zu erforschen. Wir verstehen und lieben Sh. vermösre
jener Faustnatur unserer Nation, welche instinctmässig den Geist
wittert, wo die Wagnersaugen anderer Nationen nichts sehen als
einen schwarzen Pudel, mit einem Worte: Wir verstehen und
lieben Shakespeare, weil wir wirklich jenes „Volk von Den-
kern" sind, als welches die anderen Völker uns so oft schon
mit schlecht verhehltem Unmuth anzuerkennen genöthigt ge-
wesen sind." —
W^as die Engländer Werthvolles zur Förderung der Sh.-
Studien geleistet haben, ist meist auf die Verbesserung des
Textes beschränkt geblieben, und es rauss die angewandte un-
geheure Mühe und Beharrlichkeit Bewunderung erregen; den
aesthetischen Maassstab an die Werke ihres grossen Dichters
zu legen haben sie im Vollgefühl des Genusses, den sie aus
ihnen zogen, mit wenigen Ausnahmen, unterlassen. Abgesehen
davon, dass die aesthetische Kritik überhaupt in England noch
nicht auf der Stufe der Ausbildung steht, die sie bei uns er-
reicht hat, ist Sh. dort so tief in das Bewusstsein des Volkes
gedrungen und ist so bestimmend für die Gefühls- und Ge-
6 Shakespeare's Würdigung
dankenrichtung desselben geworden, oder vielmehr repräsentirt
Sh. diese Richtungen des Volkes so vollkommen, dass man es
für überflüssig hält, das in vielen Worten zu sagen, was jeder
fühlen muss. Dass die künstlerische Seite Sh.'s dabei nicht zur
Geltuno- kommt, liegt auf der Hand, aber es ist ein eigenes,
nicht unnatürliches Gefühl der Pietät, welches die Engländer
davon abhält, die Werke ihres grossen Dichters — ihnen ist er
mehr der grosse Weise — zu zerklauben und durchzuhecheln,
sie wollen den Gesammteindruck derselben auf sich wirken
lassen. Die eigentlich philosophische Kritik Sh.'s ist, wie schon
im Vorhergehenden angedeutet, von Deutschland ausgegangen,
und es gebührt uns nicht nur der Ruhm, mächtig die Feder zur
umfassendsten Würdigung des Shakespeare'schen Genius ge-
führt, sondern auch dies früher gethan zu haben, als Sh.'s
eigene Landsleute.
Diesen Ruhm hat uns vor Allen Lessing erworben.
Das Verdienst der Franzosen auf diesem Felde ist Im gün-
stigsten Falle ein negatives. Sie haben sich nur langsam und
mit schlecht verhehltem Unmuth der nun ein für allemal offen-
kundigen allgemeinen Anerkennung Sh.'s gefügt und noch in der
jüno-sten Zeit haben Avir das unwürdige Schauspiel vor Augen
gehabt, dass eine der Vierzig hterarischen Grössen, die auf den
Sesseln der französischen Academie thronen, von wo sie den
o-uten Geschmack und die literarische Kritik in Frankreich lei-
ten und verbreiten sollen, Ponsard semen Eintritt in diese ge-
lehrte Körperschaft in einer Rede feierte,* die in bedauerlicher
Welse alle die alten längst bei Seite gelegten Vorurtheile und
den längst einer gerechteren und billigeren Auffassung gewiche-
nen Tadel vergangener Tage mühsam wieder zusammentrug.
Es muss jedoch hierbei bemerkt werden, dass Aeusserungen
dieser Art keineswegs ein Criterium für die gegenwärtig all-
o-emelne Stlmmuns; über Sh.'s Verdienste in Frankreich sind;
die grosse Zahl der Gebildeten verschllesst sich dort keineswegs
mehr der gerechten Sh. zu zollenden Anerkennung, wie denn
auch NIsard, der verdienstvolle Herausgeber der Chefs-d'oeuvre
de Sh. in seiner Antwort auf die oben erwähnte Rede vom
* Discours prononce a l'academie fran9aise. 185G.
in England, Frankreich und Deutschland. 7
Standpunkte des vorurtheilsfreien Philosophen aus in kühnen
und mächtigen Zügen die wahre Stellung Sh.'s den Angriffen
Pousard's gegenüber würdig characterisirte.
Es ist eine wohlbekannte, und wenn man den Glanz be-
trachtet, der den Namen des Dichters jetzt umstrahlt, auf den
ersten Blick höchst befremdende Thatsache, dass Sh.'s Werke
in den auf seinen Tod im Jahre 1616 folgenden hundert
Jahren von seinen eigenen Landsleuten mehr oder minder ver-
nachlässigt waren, während man ihn in Deutschland und Frank-
reich nicht einmal dem Namen nach kannte. Sie ist jedoch einer
genügrenden Erklärung, wenn auch nicht voller Entschuldiounjr
fähig, und es verliert das Erstaunen über diese Erscheinung an
Intensität, sobald man sich die Umstände der Zeit, in welcher
Sh. schrieb, vergegenwärtigt, das theatralische Leben derselben
und der darauf folgenden Periode und des Dichters Eigenart,
die seinen dramatischen Werken aufgeprägt ist, in Betracht ge-
zogen hat. Die Grenzen dieser Abhandlung gestatten nicht,
auf das Nähere der höchst ausgedehnten und befriedigenden For-
schungen über diesen Gegenstand einzugehen,* es können nur
die wichtigsten Resultate derselben hier hervorgehoben werden.
Das Zeitalter, in dem Sh. schrieb, w^ar, wenn auch der
Dichtung, dem Dichter selbst nicht günstig. Mächtig gährte es
auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens. Es war die Periode
des thatsächlichen Ueberganges vom Mittelalter in die Neuzeit;
die grossen weltstürmenden Begebenheiten, an denen das Ende
des fünfzehnten und der Anfang des sechszelmten Jahrhunderts
so reich ist, übten damals ihre ersten Wirkungen aus, das so-
ciale Leben gestaltete sich auf einer ganz neuen Basis und die
volle Energie der starken Menschen, die ihre Zeit begriffen,
ward in Anspruch genommen mächtig in dieselbe einzugreifen,
und den ungewissen und schwankenden Impulsen eine Form zu
verleihen, die Segnungen aus ihnen zu machen fähig wäre. In
einer solchen Zeit, die zwar dem Dichter und dem Philosophen
mannigfachen Stoff zu dichten und zu denken vor die Seele
führt, gilt der, welcher sich mitten in die Wogen der Zeitströ-
* Vergl. Nathaniel Drake, Shakespeare and bis times. 1817; Ch. Knight,
Studies of Sh. 1749; Colliers verschied. Schriften. 1835 — 40; ferner Gervi-
nus, Shakespeare. 1850. 1862; Kreissig, Vorlesungen über Sh. 1858.
8 Shakespearc's Würdigung
mung stellt, mit dem Tage lebt und was den Tag bewegt wirkt
und bereitet, nicht aber derjenige, welcher von den Höhen der
Menschheit herab das bunte Treiben überschaut und es in sei-
ner Seele zum Bilde gestaltet. Da Averdcn rauhere Seiten in
der Brust der Menschen angeschlagen, die reale Welt fordert
ihre Rechte, und will man ihr genügen, so übertönt ihr Geräusch
die zarteren Töne der sanften Leyer.
War also der Character der Zeit der Beschäftigung mit
dichterischen Erzeugnissen überhaupt ungünstig, so kamen noch
tief eingreifende äussere Umstände hinzu, welche dazu angethan
waren, dieselbe noch mehr zu verdrängen.
Die Deformation bedurfte zu ihrer Einführung und Befesti-
gung in den Gemüthern des Volks einer eingehenden Contro-
vers-Literatur, die alle namhaften Talente in Anspruch nahm,
und besonders die Gebildeten so sehr beschäftigte, dass ihnen
zum Genuss und Studium von Dichterwerken weder Müsse noch
Lust blieb. Hierzu kam in England noch ein stärker als bei
andern Nationen ausgeprägtes Vorurtheil gegen theatralische
Darstellungen, die nicht mehr wie ehedem unter dem besonderen
Schutze und unter Mitwirkung der Geistlichkeit ausgeführt wur-
den, wo sie den ausgesprochenen Zweck hatten, in erster Linie
zu belehren, in zweiter erst zu unterhalten. Dass sich zu die-
ser Parteinahme gegen das Theater die Avichtigsten und ein-
flussreichsten Klassen des Volkes, selbst wenn man die Geist-
lichkeit ausnimmt, verstanden, darauf wirkte die Reformation ohne
Zweifel mittelbar, sie hatte bei dem auf das Reale und Nüch-
terne gerichteten Sinne des Volkes den Widerwillen gegen alle
Schaustellung und alles Gepränge, dessen höchsten Ausdruck
es in den Ceremonien und Processionen der katholischen Kirche
sah, übermässig gesteigert, man wollte Alles verbannen, das von
dem Wege des alltäglichen, gesetzten und ruhigen Lebens ab-
führte, daher waren Schauspiele und Schauspieler allen Denen
ein Dorn im Auge, die sich unter die in England damals wie
jetzt mit Vorliebe erstrebte Klasse der „respectable people" ein-
zuordnen drängten. Zu dieser rechneten sich besonders die ein-
flussreichen und begünstigten Kaufherren, die zu jener Zeit, wo
Englands Handel einen so ungeheuren Aufschwung nahm, eine
weit bevorzugtere Stellung behaupteten, als es selbst heute der
in England, Frankreich und Deutscbland. 9
Fall ist. Sie führten mit grosser Beharrlichkeit den Kampf ge-
gen das Entstehen von Theatern im Umkreise ihrer Jurisdiction^
der City von London und würden gewiss erfolgreich die Auf-
führung von Schauspielen in der Hauptstadt ganz verhindert
haben, wenn sie nicht auf geheimen von Seiten des Hofes aus-
gehenden Widerstand zu Gunsten der Theater gestossen wären.
Wenn nun aber auch in der City selbst keine Theater entstan-
den, so ertheilte doch Graf Leicester mit der stillschweigenden
Billigung Seitens der Königin den Schauspielern, die er im
Solde hatte, im Jahre ]574 eine Concession zur Ausübung ihrer
Kunst, die unter die Bezeichnung eines Gewerbes fiel und so-
mit die Erlaubniss gewährte zum Bau geeigneter Localitäten im
ganzen Umfang des Königreichs, die City allein ausgenommen.
So entstanden allerdings Theater dicht vor den City-Thoren,
wie 1579 das Blackfriars Theatre in einem ehemaligen Kloster
der schwarzen Brüder an dem jenseitigen Ende der Brücke glei-
chen Namens, und 1594 das Globe Theatre an der Südseite von
London Bridge, wo in beiden Fällen die Themse die City-Grenze
bildete. Wenn diese Bühnen, an deren letzterer Sh. einen nam-
haften Antheil besass, auch während der Regierungszeit der
Königin Elisabeth und Jacob I. vom Adel und von dem nie-
deren Volke begünstigt wurden, immerhin wurden sie nur durch
künstliche Mittel vor oänzlicher Vertils-uno; bewahrt und die
Localgeschichte von London in jener Zeit ist reich an den er-
götzlichsten Wiukelzügen, durch die der Hof und der Adel das
Fortbestehen derselben überhaupt ermöglichten. Nicht aber aus
Mangel an penügender Einnahme geriethen sie in Verf:^ll, denn
es w'ar diese vielmehr so bedeutend, dass die Antheilhaber, wie
also auch Sh. nicht unbeträchtliches Vermögen aus dem Ertrage
zogen,* aber der Hass und die Verfolgung der an Zahl bestän-
* Die Einnahme des „Globe" betrug bui gefülltem Hause etwa 20 Pfund
über die Tageskosten. Man machte aus ihr 40 Antheile. 15 davon erhielten
die Eigenthümer des Hauses, 3 wurden zum Ankauf neuer Stücke (also für
die Dichter) bestimmt und 22 theilten die Schauspieler unter sich. So
mochten die Schauspieler ersten Ranges jährlich etwa auf 90 Pfd. (600 Thlr.)
kommen, eine Summe, «lie freilich wenigstens mit 5 multiplicirt werden
müsste, um sie heutigen Einkünften vergleiolien zu können. — Der Dichter
verkaufte sein Werk entweder ein für allemal der Gesellschaft, oder er
behielt sich das Recht der Veröfientlichung vor, und nahm dann mit einem
Benefiz, der 2. oder 3. Aufführung vorlieb. Für den Hamlet soll Sh. 5 Pfd.
10 Shakcspeare's Würdigung
dig zunehmenden und zu immer grösserer Geltung gelangenden
Puritaner gegen das Theater steigerte sich allmählich so sehr,
und ihr Einfluss auf das niedere Volk, dessen Lehrer sie waren,
wurde so bedeutend, dass es ihnen schliesslich unter der Re-
gierung Karls I. im Jahre 1G42, nach Aufgebot aller ihrer
Kräfte in Spott und Verdammung gelang, die gänzliche
Schliessung aller Theater durchzusetzen.
Hier nur eine Probe der Art, in welcher man zu jener Zeit
gegen die Theater und ihre Besucher eiferte. Prynne sagt in
seinem Histrio-mastix : „Tanz ist die Hauptehre, Schauspiel
das Haupt vergnügen des Teufels. In zwei Jahren sind 40,000
Schauspiele verkauft worden, besser gedruckt und mehr gesucht
als Bibeln und Predigten. Die Schauspielbesucher sind nicht
viel besser als eingefleischte Teufel ; sie befinden sich wenigstens
auf dem breiten Wege der Verdammniss, gleich denen, welche
jagen, Karten spielen oder Perrücken tragen. Und doch ist ihre
Zahl so gross, dass man schon eine sechste Teufelskapelle in
London errichten will, während Rom zu Nero's Zeit deren nur
drei hatte."
Aus den im Vorstehenden angeführten Gründen ist es klar,
dass Sh. bei seinen Lebzeiten nie vollkommen in das ßewusst-
sein der Gesammtheit seiner Nation eingedrungen ist: war sein
Name auf den Lippen gewisser Klassen des Volkes und wurde
er von diesen hochgehalten, so war er einer anderen und zwar
der grossen Klasse des gebildeten Mittelstandes eben nur dem
Klange seines Namens nach bekannt. Denn man bemühte sich,
ihn und seine Werke überhaupt nicht kennen zu lernen, was
damals leicht war, wo dieselben im Druck nicht existirten, und
Avo man eine Kenntniss derselben nur durch den Besuch der
Theater erlangen konnte; dieses aber erschien Vielen fast einer
Sünde gleich zu sein, wie oben gezeigt worden. Man kann al-
lerdings wohl annehmen, dass einzelne Mitglieder des Adels,
wie unter Andern Graf Southampton, Sh.'s mächtiger und fein-
bekomnien haben. In seiner besten Zeit bezog er als Dichter, Schauspieler
und Theaterbesitzer ein jährliches Einkommen von beinahe 400 Pfd., das
einer heutigen Revenue von 12000 Thlr. vollkommen gleich zu achten sein
möchte. Drake, IL S. 233 etc. Kreissig, I. P. 56.
in England, Frankreich und Deutschland. 11
gebildeter Gönner, etwas Anderes an einer Aufführung dieser
Werke gefunden haben mögen, als eben nur eine Unterhaltung
ihre müssigen Stunden auszufüllen, aber lesen oder gar stu-
diren konnten sie dieselben nicht, weil sie ein eifersüchtig be-
wachtes Eigenthum der Theaterbesitzer waren und diese durch
die Mittheilune: derselben möglichenfalls eine bedeutende Ein-
busse in ihren Einnnahmen erlitten hätten.
Ganz ausser Frage war dies natürlich bei der zweiten Classe
der Zuhörer, dem niederen Volke. Da dieses übrigens den weit
grösseren Theil der Zuhörerschaft bildete, so hat man geglaubt,
dass es nahe liege, aus dieser Thatsache zu folgern, dass Sh.
die vielfachen lockeren Redensarten und Schilderungen aus dem
Leben des Pöbels nur darum in seine dramatischen Werke ein-
geflochten habe, weil er die Ohren dieser seiner Zuhörer damit
habe kitzeln wollen. Dieser Vorwurf scheint dem oberflächlichen
Kenner Sh.'s alsobald sehr einzuleuchten; wer sich aber die
Mühe gegeben hat, durch ein gründliches Studium seiner Werke
tiefer in sein Wesen einzudringen, dem wird es klar werden,
wie sehr eine solche Auffassung den Dichter missversteht und
herabwürdigt. Treffend sagt Herder von ihm: „Seine Seele ist
weit wie die Welt, sein Schauplatz ist für alle Sitten und für
alle Völker. Eine ähnliche Seele gehört auch dazu Sh. zu um-
fassen und wie er angewandt sein will anzuwenden." Nichts
erscheint ihm gering, Nichts unbedeutend, das dazu dienen kann,
den Eindruck eines grossen Ganzen herzustellen, er weiss, ein
tiefer Kenner menschUcher Verhältnisse und Schicksale, sehr wohl,
dass nicht nur das Bedeutende, das Gewaltige oder das Erha-
bene die eigenthümliche Gestaltung irgend eines Zeitraums oder
eines Processes in dem Leben der Nationen wie der Einzelnen
bedingt, sondern grosse und folgenschwere Ereignisse irp äusse-
ren Leben, so wie tief eingreifende und bestimmende Wand-
lungen in der Gestaltung des Innern oft an geringen Ursachen,
an kaum merkbaren Anstössen hängen. Es stehe hier Sh.'s eige-
nes Wort (Hamlet Act IIL Sc. H.): „Es war von Anfang des
Schauspiels Zweck* und er ist es noch jetzt, der Natur gleich-
* Wie dies auch Goethe gethan. Vergl. in „Shakespeare und kein
Ende" seine Bemerkungen über d. Amme und Mercutio in Romeo u. Julie.
12 Shakespeare's Würdigung
sam den Spiegel vorzuhalten : der Tugend ihre eigenen Züge,
der Schmach ihr eigenes Bild und dem Jahrhundert und Kör-
per der Zeit den Ausdruck seiner Gestalt zu zeigen."
Als im Jahre 1660 die Königs-Familie der Stuarts zurück-
gekehrt und -wieder in ihre Rechte eingesetzt worden, war es
eine der ersten INIaassnahmen Königs Karl II. die Theater in
erhöhtem Glänze wiederherzustellen, weil ihm den Traditionen
seiner Familie gemäss eine wohleingerichtete Bühne zur Erhöhung
des Glanzes des königlichen Hofes nöthig schien, und weil er
den Puritanern an dieser ihrer besonders wunden Stelle zeigen
wollte, dass ihre Herrschaft jetzt gänzlich zu Ende sei. Aber
ach ! die Generation, die den Shakespeare'schen Stücken mit lau-
tem Beifall zugejauchzt hatte, die Cavaliere, die ihm ihre frohe
Gunst gezollt, der Pöbel, der sich an den Ausfällen und Scher-
zen seiner Clowns ergötzt, waren entweder dahin, oder nach-
dem die Schrecken des Büro-erkrieges über das Land gezogen
und der Protector die Kräfte und Talente des Volkes in neue
Bahnen gelenkt hatte, waren sie der theatralischen Darstellungen
so entwöhnt, dass fürs Erste die Begünstigung der letzteren
nur vom Hofe ausgehen konnte. Aber Karl, der seine Er-
ziehung und mit ihr alle das spätere Leben bestimmenden Ein-
drücke in Frankreich erhalten hatte, so wie die wenigen Cava-
liere, die sich aus dem Sturze des Königthums mit ihm in das
gastliche Land gerettet, hatten zu sehr die fianzösische Art zu
denken angenommen, um dem von Sh. zur Blüthe erhobenen
nationalen Drama wieder Eingang zu verschaffen.
Während der Zeit ihres Exils wollte man in Frankreich
Aristoteles und seine dramatischen Regeln neu entdeckt haben,
jedes dramatische Erzeugniss sollte sich nach ihnen in der Art
wie die Franzosen dieselben auffassten und auslegten, richten;
eine Folge davon war, dass die englischen Theater mit elen-
den, nach französischem Muster angefertigten Schau- und Sing-
spielen, die aber einen grossen Aufwand von Decorations - und
sonstigen Bühnencflecten zuliessen, überschwemmt wurden, ja
dass man die Shakespeare'schen Stücke grenzenloser Verstösse
gegen die aristotelischen Regeln zieh und dass befangene Schrift-
steller, selbst Leute von Talent wie John Dryden viele dersel-
in England, Frankreich und Deutschland, 13
ben nach ihrem Belieben ganz umgestaheten, d. h. nahezu werth-
lo9 machten.*
Diese für nothwendig eraclitete Bearbeitung Shakespeare'-
scher Stücke führt uns auf eine weitere Ursache, welche der
Vernachlässigung unseres Dichters zu Grunde liegt. Es ist diese
in der Natur seiner Werke selbst zu finden. Da nämlich auf
der einen Seite der Geschmack jenes Zeitalters sich so sehr ver-
ändert hatte, dass das Volk sein eigenes Leben und Schaffen
in den Bildern, die Sh. ihnen vorführte, nicht mehr erkennen
konnte, so war man auf der andern noch nicht so weit in kri-
tischem Verständniss gediehen, dass man von Zeit und Gewohn-
heit so vollkommen abstrahiren konnte, das Grosse und Schöne
in ihnen objectiv zu würdigen. Man konnte sich zu jener Zeit
nicht dazu aufraffen, das Ausserordentliche seines Schaffens,
die Hohen und Tiefen seines mächtigen Geistes zu erfassen,
man wollte in ihm nur den Sohn seiner Zeit erkennen und ver-
gass oder erkannte nicht, dass er weit über dieselbe und die
Scholle der vaterländischen Erde hinausreichte.
Dryden,** dessen schon oben erwähnt ward, ein Mann von
durchdringendem Verstände und glänzenden Geistesgaben, aber
ein inconsequentor Kritiker und characterlos den Zeitströmungen
und der Geschmacksricbtuno; des Monarchen fuliiend, ein Kunst-
richter, dessen Urtheil leider den grössten Theil der Regierung
Karls II. hindurch als maassgebend angesehen wurde, erkannte
Sh.'s Grösse wohl,*** aber aus serviler Huldigunfj des Zeitire-
schmacks gab er vor, dass diese Werke völliger Umarbeitung
bedürften, um für die verfeinerte Gesellschaft jener Tage ge-
niessbar zu werden, und warf jene traurigen Machweike auf
das Papier, die zum Glück längst vergessen sind, obgleich sie
ihrem Verfasser nicht verziehen werden können. Und leider stand
Dryden hierin nicht allein, auch Schriftsteller von untergeord-
neten poetischen Gaben zerstückelten und zerstörten Sh. auf
c;anz ähnliche AVcise. Selbst ein Mann wie der berühmte Heraus-
* So wandelte Dryden Sh.'s Anthony and Cleopatra in: All für love, so
auch den „Sturm" in eine Art Oper um, Davenaut Mensure for measure in:
The law against lovers etc.
** Er wurde nach Sir W. Davenant's Tode im J. 16G8 „Poeta laureatus."
*** Vergl. Dryden: Essay on dramatic poetry.
14 Shakespeare's Würdigung
geber des Tatler konnte damit zufrieden sein, einzelne Cltate
in seiner Zeitschrift aus Sir W. Davenant's Bearbeitung des
Macbeth zu ziehen, als wenn diese eine Verbesserung wäre,
und Lord Shaftesbury, der feingebildete und geistreiche Staats-
mann und Schriftsteller konnte noch zu Anfang des. vorigen
Jahvluinderts sich zu keinem besseren Urtheil über Sh. beg:ei-
stern, als zu der Klage über seinen „rüde unpolished style and
his antiquated phrase and wlt." Wer sieht nicht hierin den
Einfluss des französischen Geistes, der auch bei uns so lange
dem Verständniss des englischen Dichters sich entgegen-
stellte. Es war hier nichts Geringeres nöthig als ein gänzlicher
Umschwung in der Denkweise und eine Läuterung der Grund-
sätze der Kritik, wie sie sich in der zweiten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts vollzog. Damals erst erkannte man die mächtigen
Adern reinen Goldes, die sich durch Sh.'s Werke hinziehen,
man wurde aber, als man ihren Reichthum wahrgenommen, der
mühsamen und angestrengten Arbeit sich bewusst, die nöthig
wäre, diesen Schatz zu heben, und unablässig hat man seitdem
an ihm gefördert.
Die oben angeführten Gründe sind hinreichend zu erklären,
warum Sh. sich der Kenntniss der grossen Zahl seiner Lands-
leute fast hundert der auf seinen Tod folgenden Jahre hindurch
entzog, es wäre jedoch ein Irrthum anzunehmen, dass man ihn
während dieser Zeit gänzlich vergessen habe. Die fünfmaligen
Ausgraben seiner Werke innerhalb dieses Zeitraums bis zum
Jahre 1709 beweisen dies zur Genüge, derselbe war aber iiöchst
imgünstig für die Verbreitung literarischer Erzeugnisse in Eng-
land, selbst derer, die zu ganz anderen Gebieten zählten als
dem der Dichtkunst. Denn vor Allem waren Bücher zu jener
Zeit theuer und die grosse Masse des Volkes auch der elemen-
tarsten Bildung fremd, ferner aber traten in der Hauptstadt des
Landes, auf die sich die vorhandene fast allein concentrirte,
zwei für die Verbreitung von Büchern verhängnissvolle Ereig-
nisse auf, das grosse Feuer des Jahres 1666, welches einen sehr
grossen Theil des damaligen London in Asche legte und in dem
alier Wahrscheinlichkeit nach viele der ersten Ausgaben der
Shakespeare'schen Werke vernichtet worden sind, und die Pest
im Jahre 1667, welche die Einwohner decimirte und ihnen auf
in England, Frankreich und Deutschland. 15
die zunächst folgenden Jahre ausschliesslich die Sorge für das
allernothwendigste des Lebens nahelegte.
Shakespeare starb im Jahre 1616 und sieben Jahre nach
seinem Tode, 1623, erschien die erste von den Schauspielern
Heminge und Condell, seinen Freunden und Testamentsvoll-
streckern, besorgte Ausgabe (editio princeps) seiner Werke in
Folio-Format. Diese beiden Männer waren mit Sh. zusammen
Besitzer des Globe-Theaters, und da sie bei seinen Lebzeiten
in einem freundschaftlichen Verhältniss mit ihm gestanden hat-
ten, so ist wohl anzunehmen, dass er ihnen die Erlaubniss er-
theilt habe, nach seinem Tode zu geeigneter Zeit seine Werke
herauszugeben, was er selbst, sei es aus übergrosscr Beschei-
denheit, sei es weil er einen Verlust an Geld bei diesem Un-
ternehmen fürchtete — denn er musste den Erfolg oder Kicht-
Erfolg desselben am besten beurtheilen können, — unterlassen
hatte. Schauspieldichter verkauften zu jener Zeit ihre Werke
meist ein für allemal an die Besitzer der Theater — ob nur an
die zeitweiligen Besitzer oder das Theater als Institut ist nicht
o-enügend klar, — und konnten daher ohne deren Erlaubniss
dieselben nicht dem Druck übergeben; auch dies mag zur Er-
klärung der Thatsache dienen, dass Sh. selbst nicht eine Heraus-
gabe seiner Werke besorgte und dass ein Abkommen wie das
obige zwischen dem Dichter, zugleich aber Mitbesitzer des Thea-
ters und den Ilauptbesitzern aller Wahrscheinlichkeit getroffen
wurde. Es scheint jedoch aus der Vorrede zu dieser Ausgabe
hervorzugehen,* dass Sh. selbst die Absicht gehabt habe, am
Abend seines Lebens sich der Durchsicht seiner Manuscripte zu
unterziehen; sein früher Tod im kaum vollendeten 53. Lebens-
jahre verhinderte ihn daran. Selten aber sind Versprechungen
bei der Ankündigung eines Werkes gemacht, welche weniger
treu gehalten wurden als diejenigen, welche mit grosser Zu-
versicht hier vorgetragen werden :** denn es ist in dieser Samm-
* Es heisst darin: It had been a thing, we confess. worthy to liave heen
wished, that the autlior biinself had lived to have set forth and overseen bis
own writings ; but since it hath been ordained otherwise, and he by death
departed from that right we pray you do not envy his friends the office of
their care and pain to have collected and published them — ** and so to
have published them, as where (before) you were abused with diverse stolen
and surreptious copies, maimed and deformod by the frauds and stealths of
jg Shakespeare's Würdigung
lung kaum eine Zeile zu finden, die nicht einen groben gram-
matischen, orthographischen oder sinnentstellenden Fehler auf-
zuweisen hätte, Fehler, die theila aus der Nachlässigkeit und
dem Mangel an Bildung Seitens der Herausgeber, theils aus
Fahrliissio-keit des Setzers und aus Nachlässigkeit bei der Cor-
rectur entstanden sind.
So erhielt die Nachwelt Sh.'s Werke in einer Form, die
unmöglich zum Studium derselben reizen und irgend einen Ge-
nuss gewähren konnte. Man wies sie als unverständliche und
verworrene Compositionen zurück, und in diesem Grunde mag
das oben angeführte Urtheil des Lord Shaftesbury wohl seine
Erklärung finden. Die Zeitgenossen Sh.'s aber, die ihn über-
lebten und jene Folianten aufschlugen, um sich in der Erin-
nerung an die Glanzzeit der Theater zu ergehen, in der sie der
Auff'ührung der Stücke mit Vergnügen gelauscht, mussten die-
selben enttäuscht wieder aus den Händen legen, denn die feh-
lerhaften und unverständlichen Zeilen spiegelten ihnen die Ge-
müthsbewegungen nicht zurück, die sie einst bei der Aufführung
empfunden hatten. Der traurige Zustand dieser ersten Sh.-Aus-
o-abe hat vielleicht mehr als irgend etwas Anderes dazu bei-
getragen seine Werke lange der Geringschätzung anheimzugeben ;
dersetbe Umstand aber ist es, der auch das Interesse an der
beständigen Verbesserung derselben, um sie endlich makel-
los wiederherzustellen, zwei Jahrhunderte hindurch wach er-
halten hat.
Die zweite Folio-Ausgabe, ein Abdruck der ersten, erschien
im Jahre 1632, die dritte Ausgabe 1664, die vierte 1685 ; die
Zahl der Abdrücke dieser verschiedenen Ausgaben ist leider
unbekannt geblieben.
Im Jahre 1709 endlich trat Nicholas Rowe mit einer ver-
besserten Octav-Ausgabe der Shakespeare'schen Werke auf, die
einen bedeutenden Fortschritt bezeichnet und dieselben überhaupt
erst lesbar machte, und von dieser Zeit an beginnt die schnelle
Folge der Ausgaben, die bis in unsere Zeit zu einer ungemein
grossen Zahl angewachsen sind. So erschienen während des
injarious impostors, that expose-l them: even those are now offered to your
View cured and perfect of their limbs, and all the rest, absolute m their
numbers, as he conceive'l them.
in England, Frankreicb und Deutschland. 17
achtzehnten Jahrhunderts im J. 1725 eine Quart-Ausgabe von
Pope mit einer werthvolien Vorrede und einer Sammlung der
bisherigen bedeutenderen Kritiken versehen, doch mit willkürlich
verändertem Texte, im Jahre 1733 eine solche von Theobald,
in Bezug auf Correctheit des Textes die beste der bis dahin
erschienenen, im J. 1774 die Oxford-Ausgabe von Hanmer,
1747 von Pope und Warburton, 1753 von Hugh Blair, 1765
von Dr. Johnson, 1766 von Steevens, 1773 von Johnson und
Steevens, 1790 von Malone etc.
Im Jahre 1693 leistete ein gewisser Rymer den Werken
Sh.'s den unfreiwilligen Dienst, dui'ch eine schnöde Kritik der-
selben die Aufmerksamkeit eines grösseren Publicums auf sie
hinzulenken. Sein Urtheil ist jedoch nur bemerkenswerth durch
die Verkehrtheit desselben und durch die Bitterkeit, die er aus
Lust an Widerspruch gegen die durch Betterton's Spiel noch
immer hin und wieder mit rauschendem Beifall begrüssten Stücke
ausü'iesst. Er o-ab aber doch den Anstoss zu näherer kritischer
Untersuchung derselben, so ungünstig sie auch zu jener Zeit
ausfallen mochte, wo man noch immer mit den französirten Re-
geln des Aristoteles wie mit der Elle messen wollte. Ein gün-
stigeres Urtheil über dieselben wagten die damals nach und nach
entstehenden viel gelesenen Wochenblätter, hauptsächlich der
Tatler imd Spectator, zu fällen:
Einen weit grösseren Einfluss auf die Wiedereinführung
Sh.'s in die Herzen des Volks als ihn diese häufigen Ausgaben
seiner Werke und diese Kritiken gehabt, äusserten die unüber-
trefflichen Darstellungen Siiakespeare'scher Charactere gegen
Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts durch Betterton
und besonders seit 1741 durch David Garrick. Wie überhaupt
dramatische Werke ihrer Natur nach eine ergreifende Wirkung
in der scenischen Darstellung äussern sollen,* ist früher an-
erkannt worden, wie es noch jetzt anerkannt wird,** dass von
* Vergl. Johnson's Vorrede zu s. Sh.-Ausgabe wo er sagt: His language
not beinji designed for the reader's desk was all he desired it to be, if it
conveyed his meaning to the audience.
*• Gervinus sagt darüber Th. II, S. 490: Ein ganz Wesentliches zu der
ideellen Wirkung eines Shakespeare'schen Dramas thut die Aufführung;
durch sie erst kommt die ganze Macht des Dichters zu Tage etc. AVir wer-
den von der Aufführung gezwungen, nicht wie beim Lesen auf Worten zu
Archiv f. n. Sprachen. XLVIU. 2
18 Shakespeare's Würdigung
den Dramen der Neueren dieser allgemeine Ausspruch auf Sh.
am meisten Anwendung findet; er ist so frisch und lebenswahr,
dass, um ihn recht zu erfassen, man das natürliche Bild des
Lebens und Handelns, das er uns darstellen will, an sich vor-
beiziehen lassen muss. Dies erklärt zur Genüge den gewaltisren
Umschwung, den Garrick's Darstellungen in der damaligen
Schätzung Sh.'s hervorriefen. Garrick hatte das richtige Gefühl
und besass den tiefen Einblick in die Eigenthümlichkeiten seiner
Landsleute, dass er zur Hervorrufung grösserer Begeisterung
für Sh. den Erfolg, den er durch seine Darstellungen errungen,
durch eine öflfentliche glänzende Demonstration zu krönen be-
schloss, und so entstand auf sein Betreiben die grosse Feier,
das „Jubilee" zu Stratford on Avon, Sh.'s Geburtsort, am 6.
September 1769, also ohngefähr 200 Jahre nach des Dichters
Geburt. Es war dies, obwohl nach unserem Geschmacke nicht
so recht sinnig arrangirt, der englischen Art der Demonstration
aber vollkommen angepasst, das grosse Versöhnungsfest der
Nation mit ihrem so lange verkannten und vernachlässigten Dich-
ter und der eigentliclic Zeitpunkt, von dem an der Strom der
Sh. -Verehrung und des Sh.-Studiums immer mächtiger anschwoll
und unaufhaltsam fortströmte.
weilen, sondern auf dem, was das Schauspiel darstellen will, auf der Hand-
lung etc. Sh.'s Werke sollten streng genommen durchaus nur durch Auf-
führung verständlich gemacht werden. Denn dafür und dafür uliein sind
sie geschrieben worden; die Trennung der dramatischen Dichtung von der
Schauspielkunst, durch die bei uns beide Künste gelitten haben, bestand in
Sh.'s Zeiten nicht. Die Hauptschwierigkeit des Verständnisses seiner Stücke
liegt auch nur darin, dass wir sie lesen und nicht sehen. Denn vollgedrängt
wie sie sind von dichterischen Schönheiten, von psychologischer Charac-
teristik, von moralischer Lebensweisheit, von Beziehungen und Anspielungen
auf Zeitverhältnisse und Personen, zerstreuen sie die Aufmerksamkeit auf
die verschiedensten Puncte und lassen schwer zur Zusammenfassung des
Ganzen und schwer zu seinem leichten Genüsse gelangen. Wenn sie aber
dargestellt werden von Schauspielern, die dem Dichter gewachsen sind, so
tritt eine Arbeitseintheilung ein, die uns durch Einschreiten einer zweiten
Kunst die erste zum leichteren Genüsse vermittelt. Die Spieler, die ihre
Rollen begriffen haben, überheben uns jener erschwerenden Mühe beim Le-
sen, vielleicht zwanzig verschiedene Charactere auseinander zu halten, und
in sich in ihrem gegenseitigen Verhältnisse zu verstehen. Erscheinung, Spra-
che, Benehmen des einzelnen Spielers erklären uns mühelos wie im Gemälde
die Figuren und Hebel der Handlung; sie geben uns die feinsten Fäden
durch deren Verwickelungen an die Hand und leiten uns zu dem Innersten
und Ailerheiligsten des Kunstbaues auf ebnerem Wege. Gervinus, l'h. I,
S. 26 u. 27.
in England, Frankreich und Deutschland. 19
Wie gross der EInfluss Garrick's auch auf Deutschland
war, ist daraus abzunehmeu, dass in demselben Jahre 1741, in
dem dieser Schauspieler zuerst in dem kleinen Theater von
Goodman's fields in London in der Holle Richards III. auftrat
und seine Zuhörer zu Schauer und Thränen hinriss, Ritter W.
von Borck, der zur Zeit preussischer Gesandter in London war,
ohne Zweifel weil auch er das mächtiof Ergreifende des Sh.-
Geistes in ebenbürtiger Darstellung erfahren hatte, die erste
üebersetzung eines vollständigen unverfälschten Trauerspiels
von Sh., den Julius Caesar, herausgab.
Es waren allerdings schon vor dieser Zeit einzelne Bruch-
stücke und selbst ganze Dramen von Sh. nach Deutschland
hinübergebracht und in der bekannten Sammlung der „Wiener
Ifaupt- und Staatsactionen" veröffentlicht worden, aber in einer
so entstellten Form, dass wenn nicht Namen und einzelne Theile
der Handlung einen Anhaltepunkt gewährt hätten, man Sh. nim-
mermehr daraus würde erkannt haben, wie denn auch des Dich-
ters Name aus nahelieo-enden Gründen verschwiegen worden
war. Diese Stücke und Bruchstücke rührten von englischen
Schauspielern her, die gegen das Ende des sechszehnten Jahr-
iiunderts ihren Weg über Holland nach Norddeutschland und
den Rhein hinauf nach Süddeutschland fanden. Es können die-
ser Stücke aber nur wenige gewesen sein und man kann sich
nicht darüber wundern, dass diese von den enghschen Schau-
spielern selbst in der höchsten Verunstaltung aufgeführt worden
sind, da, Avie oben angeführt, dramatische Werke Eigenthum
der Theaterbesitzer waren und letztere natürlich mit Argus-Augen
über ihrem Schatze wachten, damit nicht andere Gesellschaften
sich der Stücke bemächtigten und iene zur Erreichung grösserer
Erfolge allein auf die Tüchtigkeit ihrer Schauspieler angewiesen
gewesen wären. Es waren daher diesen englischen Schauspie-
lern ältere Stücke weit eher zugänglich, welche als veraltet von
den Theater-Directoren den Buchhändlern übergeben worden,
oder wenigstens handschriftlich leichter zu erlano-en waren als
die Shakespeare's, aus deren ausschliesslichem Besitz die Di-
rectorcn des „Globe" gerade zu jener Zeit bedeutende Reich-
thümer zogen. Diejenigen derselben daher, die in Deutschland
zur Aufführung gelangten, müssen durch Nachschreiben bei der
2*
20 Shakespeare's Würdigung
Darstellung, durch fragmentarische Mittheilungen von Personen,
welche dem Theater nahe standen, oder auf ähnliche Weise zu-
sammengestellt worden sein.
Schon im Jahre 1620 erschien ein Band von Verdeutschungen
unter dem Titel : „Englische Komödien und Tragödien, wie sie
von den Engländern in Deutschland an königlichen, kur- und
fürstlichen Höfen, auch in vornehmen Reichs-, See- und Han-
delsstädten agieret und gehalten worden," in dem sich zwei
Stücke befinden, die entschieden an die „beiden Veroneser" und
das Sh. von Vielen zugeschriebene, richtiger aber überarbeitete
Stück „Titus Andronicus" erinnern, wie Tieck gezeigt hat.*
Das erste grössere, leicht erkennbare Bruchstück eines der
Shakespeare'schen Werke, das in deutschem Gewände, allerdings
ganz umgearbeitet, bekannt geworden, ist die Episode der Hand-
werker-Comödie im Sommernachtstraum. Sie ist verflochten in
das Lustspiel von Gryphius: Absurda comica oder Herr Peter
Squenz, in dem Herr Squenz der Pedant die Hauptrolle spielt.
das um die Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts erschien. Ob
der Sommernachtstraum als Ganzes von den englischen Schau-
spielern nach Deutschland gebracht worden sei, oder nur diese
Episode allein, wie sie in England von Cox bearbeitet um die-
selbe Zeit unter dem Titel : „The merry conceited humours of
Bottom the weaver" bekannt war, ist nicht erwiesen, jedenfalls
ist sie doch auf das (englische) Shakespeare'sche Stück zurück-
zuführen.
Wir wissen genau, dass ausser dieser Episode drei Shake-
speare'sche Dramen früh ihren Weg nach Deutschland gefunden
haben und in deutschen Uebertraguno-en von deutschen Wander-
truppen aufgeführt wurden; es sind dies „Romeo und Julie,"
das unter dem Namen „Romeo und Julieta" nicht zu verkennen
ist, wie Ed. Devrient, der es aufgefunden,^* durch Auszüge
daraus hinlänglich gezeigt hat, ferner Hamlet, der unter dem
Titel: „Eine Tragödie, der bestrafte Brudermord oder Prinz
Hamlet von Dänemark" unter des Schauspielers Eckhoflf Nach-
Vergl. Tieck, Deutsches Theater I, S. 27 etc.
*" Vergl. Devrient, Geschichte d. deutschen Schauspielkunst I, S. 289 ff.
in England, Frankreich und Deutschland. 21
lass gefunden und aus dem im Gothaischen Theater-Kalender
von 1779 ein Auszug verofFcntlicht wurde, und zuletzt der Kauf-
mann von Venedig. Die beiden letzteren scheinen jedoch etwas
später übertragen worden zu sein als das erste, das schon in
der zweiten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts durch deutsche
Schauspieler zur Aufführung gelangt sein muss. Üebrigens
sollen nach Fr. Thimm's Angabe schon im Jahre 1614 Hand-
schriften von Romeo u. Julie, Hamlet und Ben Jonson's Vol-
pone, die in der Züricher Bibliothek aufgefunden worden sind,
von Joh. R. Hess, nachmaligem Senator in Zürich, aus England
gebracht worden sein.
Da bei den deutschen Bearbeitungen der genannten Stücke
die Quelle, aus der sie geschöpft waren, verschwiegen worden,
so Avar Sh.'s Name in Deutschland noch immer unbekannt, als
Spätere, z. B. Dryden, der 17 Jahre nacli Sh.'s Tode geboren
wurde, sich der Kenntniss deutscher Literar-Historiker bereits
dargeboten hatten. Die erste Erwähnung des Namens Sh. ge-
schieht, soAveit bis jetzt bekannt, in einem im Jahre 1682 er-
schienenen Buche von Georg Daniel Morhof, der in seinem
„Unterricht von der deutschen Sprache undPoesie"
sao-t: „John Dryden hat gar wohl gelehrt von der dramatica
poesi geschrieben. Die Engelländer, die er hierinnen anführet,
sind Shakespeare, Fletcher und Beaumont, von welchen ich
nichts ofesehen habe." Eine zweite Notiz über ihn findet sich
erst iu den im Jahre 1708 erschienenen „Gedanken von der
Oper" von Berthold Feind, und zwar in folgender Stelle: M. le
Chevalier Temple in seinem Essai de la poesie erzählet p. 374,
dass etliche, wenn sie des rennomierten englischen Tragioi
Shakespeare Trauerspiele verlesen hören, oft lautes Halses an
zu schreien gefangen und häufige Thränen vergossen." Bald
darauf erwähnt Bentheim in seinem „englischen Schul und Kir-
chenstaat" (Kap. 29) Shakespeare folgendermassen : „William
Shakespeare kam zu Stratford in Warwickshire auf die Welt.
Seine Gelehrsamkeit war sehr schlecht, und daher verwunderte
man sich um desto mehr, dass er ein fürtrefflicher poeta war.
Er hatte einen sinnreichen Kopf, voller Scherz, und war in
Tragödien und Comödien so glücklich, dass er auch einen He-
22 SLake.^peare's Würdigung
raclitum zum Lachen und einen Democritum zum Weinen be-
wegen konnte."*
Von dieser Zeit an bis zum Jahre 1740 findet man Shake-
speare's Namen in keinem deutschen Werke. In dem bezeich-
neten Jahre aber erwähnt Bodmer eines englischen Dichters,
den er Saspar und bald darauf in den „Betrachtungen über die
poetischen Gemälde" Sasper nennt,** worunter Shakespeare zu
verstehen ist. Die sonderbare Orthographie hatte er aller Wahr-
scheinlichkeit nach einer falschen Aussprache oder Abkürzung
des Namens nachgebildet.
Als aber im Jahre 1741 des Ritters von Borck Ueber-
setzunjr des Julius Caesar erschienen war und somit das Pu-
blicum zum ersten jNIale ein Shakcspeare'sches Trauerspiel voll-
ständig in ziemlich gelungener Uebersetzung, (sie war in
Alexandrinern, einer damals durch die französischen Classiker
den Deutschen geläufig gemachten Versart geschrieben,) lesen
konnte, da glaubte Gottsched, als wenn er ahnte, dass der kri-
tischen Zwingburg, die er mühsam und unter grosser Anstrengung
in langen Jahren aufgebaut hatte, und vor der sich alle Kritiker
seiner Zeit ehrfurchtsvoll neigten, Gefahr drohe, mit scharfem
Tadel o-egen diese Uebersetzung zu Felde ziehen zu müssen.
Die auf dieselbe bezügliche Stelle in den Beiträgen zur kriti-
schen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit
lautet folgendermassen: „Die Uebersetzimgssucht ist so stark
unter uns eingerissen, dass man ohne Unterschied Gutes und
Böses in unsere Sprache bringt; gerade als ob alles, was aus-
ländisch ist, schön und vortrefflich wäre und als ob wir nicht
selbst schon bessere Sachen aus den eigenen Köpfen unserer
Landsleute aufzuweisen hätten. Die elendeste Haupt- und
Staatsaction unserer gemeinen Comödianten ist kaum so voll
Schnitzer und Fehler wider die Regeln der Schaubühne und
gesunden Vernunft als dieses Stück Shakcspeare's ist. Der
Herr Uebersetzer also, wenn er, wie er drohet, noch mehr über-
* Vergl. Eschenburg-, Ueber Shakespeare 1787. p. 498.
** Dass Shakespeare unter diesem Namen gemeint sei, geht aus zwei
Stellen der oben angeführten Abhandlung hervor, von denen die eine sich
auf des Theseus Beschreibung seiner Hunde im Sommernachtstraura (Act 4,
Sc. 2), die andere sich auf die Erscheinung des Geistes im Hamlet bezieht.
Q{. Krit. Betrachtungen üb. d. poet. Gemälde. S. 170 u. 593.
in England, Frankreich und Deutschland. 23
setzen will, beliebe sich unmassgeblich bessere Urschriften zu
wählen, womit er unsere Schaubühne bereichern will, ehe er
sich diese Mühe giebt, sonst '\\ird ihm Deutschland keinen
grösseren Dank dafür wissen, als unseren Komödianten, die
uns auch eine Menge Stücke aufFühren, die sie aus allen kleinen
Geistern der Franzosen übersetzet, die von ihren eigenen Lands-
leuten ausgezischet und verworfen werden."
Noch in demselben Jahre und in derselben Zeitschrift er-
schien eine Vergleichung Sh.'s mit Grjphius von Joh. Elias,
dem Bruder von Joh. Heinrich Schlegel. Abgesehen von der
nach unserer heutigen Schätzung höchst sonderbaren Wahl der
zu vergleichenden Dichter, muss man Joh. Elias Schlegel die
Gerechtigkeit widerfahren lassen, zu sagen, dass er nach dem
Stande der dramatischen Kritik seiner Zeit, bei den herrschenden
Vorurtheilen zu Gunsten des französischen Classicismus ein
recht gesundes und freimüthiges Urtheil über Shakespeare ge-
fällt hat, das erste in Deutschland, das diesen Namen überhaupt
verdient. Er betonte darin besonders Sh.'s ausserordentliche
iMeisterschaft in der Zeichnung der Charactez'e, und den rich-
tigen Ausdruck, den er den Gefühlsbewegungen leihe im Gegen-
satz zu Gryphius, dessen dramatische Oeconomie er dagegen
über der Sh.'s lobend erhob. Auch ihm war die ewig wieder-
holte und bis zum Ekel angepriesene Einheit des Orts, der Zeit,
der Handlung nach den französischen Mustern unumstösslichcs
Gesetz und er konnte bei aller richtigen Würdigung Sh.'s im-
mer noch nicht über den scharfen Stein des Anstosses, dass
Sh. dieselbe nicht beobachtet, hinweg. Man darf ihm wohl ver-
zeihen, dass er in den Fehler verfiel, in den häufig in die Sh.'schen
Stücke eingeflochtenen Scenen aus dem Volks - und Alltagsleben
eine Abschw-ächung der durch die pathetischen Stellen hervor-
gerufenen Regungen zu sehen ; es ist dasselbe von späteren
Kunstrichtern, die mit weit mehr Praetensionen auftraten, be-
ständig nachgebetet worden, bis Gervinus endlich in schlagender
und geistvoller Ausführung den ächten poetischen Werth dieser
Episoden kennen und würdigen lehrte.
Es stehe hier noch ein zweites Urtheil über Sh. aus jener
Zeit, das Gottsched fällte, dessen Aussprüche ja damals auch
dem grossen gebildeten Publicum Orakelsprüche waren, weil es
24 Sliakespeare's Würdigung
in schlagender Weise den Contrast der vor 100 Jahren aus-
geübten Sh. -Kritik und der jetzigen darstellt. Gottsched sagt
von einem Aufsätze in dem englischen Blatte The Spectator,
in dem Sh.'s Regellosigkeit als durch die vielfachen Schönheiten
in seinen Werken vollkommen aufgewogen erklärt wurde: „Das
klingt nun recht hoch, und w^er von Sh.'s Sachen nichts gelesen
hat, der sollte fast denken, es müsste doch wohl recht was
Schönes sein, welches den Abgang aller Regeln so leichtlich
ersetzen kann. Allein man irrt sich sehr. Die Unordnung und
UnWahrscheinlichkeit, welche aus dieser Hintansetzung der Re-
geln entspringen, die sind auch bei dem Sh. so handgreiflich
und ekelhaft, dass wohl Niemand, der nur je etwas Vernünf-
tiges gelesen, daran ein Belieben tragen kann. Sein Julius
Caesar, der noch dazu von den Meisten für sein bestes Stück
gehalten wird, hat so viel Niederträchtiges an sich, dass ihn
kein Mensch ohne Ekel lesen kann. Er wirft darinnen alles
unter einander. Bald kommen die läppischen Auftritte von
Handwerkern und Pöbel, die wohl gar mit Schurken und
Schlingeln um sich schmeissen und tausend Possen machen,
bald kommen wiederum die grössten römischen Helden, die von
den wichtigsten Staatsgeschäften reden. Die Zeit ist so schön
darinnen beobachtet, dass dies Trauerspiel mit der Verschwö-
rung wider den Caesar anfängt und mit der pharsalischen
— so steht da — Schlacht aufhört. Auch die Gespenster sind
darinnen nicht vergessen, vor welchen Brutus eine recht kin-
dische Angst hat, ohngeachtet er sich kurz zuvor einen derben
Rausch getrunken (!) um den Tod seiner Gemahlin Portia zu
verschmerzen. Wenn nun solche saubere Sachen einem Lieb-
haber der Dichtkunst die Verwerfung der Regeln angenehm
machen können, so muss er ein trefflich Geschick zur englischen
Leichtgläubigkeit haben."*
Zu dieser Zeit treten die Franzosen thätiger in der Kritik
Sh.'s auf als wir Deutsche, wmc denn auch einige ihrer Kritiker
viel früher die Aufmerksamkeit der Gebildeten auf ihn hingelenkt
hatten. Dieses findet seinen Grund augenscheinlich in dem bei
Weitem grösseren Verkehr der Franzosen mit den Engländern.
Beiträge zur kritischen Historie ctc,
in England, Frankreich und Dcntscliland. 25
Schon 1699 hatten St. Evremond,* der den grössten Thcil
seines Lebens in England zubrachte, auch dort starb, später
La Motte und La Fosse sowie der Abbe Prevost in seiner
Zeitschrift le Pour et le Contre sich eingehend mit Sh.'s Wer-
ken beschäftigt, und schon in den Jahren 1745 — '18 erhielten
die Franzosen im Theatre anglais von de la Place eine Ueber-
setzung von Antonius u. Cleopatra, Cymbeline, Hamlet, Henry VI-,
Julius Caesar, Macbeth, Merry wives of Windsor, Othello,
Richard HL und Timon of Athens. Leider hatte de la Place
nicht den Muth mit einer Uebersetzung der vollständigen Stücke
hervorzutreten, er Hess die charakteristischen Volksscenen wie
überhaupt Alles, was in jener überfeinerten Zeit in Frankreich
irgend einen Anstoss erregen konnte, aus,** so dass man in
seinen Uebertragungen immer noch nicht den Shakespeare hatte ;
aber sie gewährten doch den Vortheil das grössere Publicum
mit Sh.'s Namen bekannt zu machen, die Kritik herauszufordern,
und Anresuno; zu vollständigen Uebersetzungen der sämmt-
liehen Sh.'schen Werke zu werden. Diese Kritik, fast ohne
Ausnahme eine heftig tadelnde aber höchst unberechtigte und
aller vernunftgemässen Beweisführung entbehrend, wurde von
verhältnissmässior unbedeutenden literarischen Grössen ausgeübt,
bis sie im Jahre 1755 in Voltaire's Lettres sur les Anglais ihren
Culrainationspunkt erreichte, und sich nun, da ein so bedeu-
tender Kämpfer in die Arena getreten war, die besten Geister
in Deutschland und Frankreich es angelegen sein Hessen, den
(jrund oder Ungrund eines so absprechenden und in sich selbst
widerspruchsvollen Urtheils zu untersuchen. Da in Frankreich
jedoch, wo man vielfach mit Voltaire's als des literarischen Dic-
tators Augen sah, diese Periode nicht von bedeutendem Einfliiss
auf die Verbreitung des Shakespeare-Studiums war, auch keine
besonders wichtige Momente in der Sh. -Kritik zu Tage förderte,
so möge hier nur Voltaire's Kritik ganz kurz characterisirt
werden.
* St Evremond Oeuvres. Paris, 1699. P. 245. 260.
** Vergl. mit diesem ein ähnliches rnglisches Unternehmen der Neuzeit,
das dem Heransgeber, den nach dem Namen eines feinfühlenden Mannes
verlangte, mit Recht den eines Barbaren einzutragen geeignet ist, den sogen.
Family Shakespeare v. J. Bowden.
2ß Shakespeare's Würdigung
In Deutschland waren seit der oben angeführten SchlegeP-
schen Vergleichung Sh.'s mit Gryphius bis zu diesem Zeiträume
keine selbstständigen und eingehenden Kritiken erschienen, es
war aber Sh.'s hin und wieder bei der Anzeige fremder Beur-
theilungen in den von Gottsched herausgegebenen Zeitschriften,
so besonders in dem „neuen Bildersaal der Weltliteratur" in Bemer-
kungen, meist tadelnden oder spöttischen Inhalts gedacht worden, wo
sie nicht dieses Inhalts sind, geben sie nichts als Uebersetzungen
aus englischen Schriftstellern; hier und da nur ist eine kurze Notiz
lobender Art von einem deutschen Kritiker eingeflochten, aber
Gottsched wies allen Antheil daran auf das Ernsteste von sich.*
Noch im Jahre 1750 findet sich eine höchst eigenthümliche
Notiz in einem damals weitverbreiteten Universahverke, dem
Jöcher'schen compendiösen Gelehrten-Lexicon, das bis zum Jahre
1819 sich eines sicheren Bestehens erfreute, vor, aus der erhellt,
eine wie fast mythische Persönlichkeit Sh. selbst den damaligen
Gelehrtenkreisen war. Die Stelle lautet folgendermassen: „Shake-
speare (Wilh.), ein englischer Draraaticus, geboren zu Stradford
1564, war schlecht auferzogen und verstund kein Latein. Er
hatte ein scherzhaftes Gemüthe, konnte aber doch sehr ernsthaft
sein, und excellierte in Tragödien. Er hatte viel sinnreiche und
subtile Streitigkeiten mit Ben Jonson, wiewohl keiner von beyden
viel damit gewann. Er starb zu Stradford 1616 am 23. April
im 53. Jahre. Seine Schau- und Trauerspiele, deren er sehr
viel geschrieben, sind in VI Theilen 1709 zu London zusam-
mengedruckt und werden sehr hoch gehalten."
Die Jahre 1755—56, in denen Voltaire's Kritiken erschie-
nen,** bezeichnen den Zeitpunkt, in dem man sich allen Ernstes
* Vergl. Vorrede zum neuen Büchersaal. Bd. 8, S. 136.
** Vergl. folgende Stellen in den Lettres sur les Anglais;' dix-liuitieme
lettre: de la tragedie anglaise 1755: Sluikespeare que les An<;lais prennent
pour un Sophocle crea le th^ätre anglais. 11 avait un genie plt-in de force
et de fecondite de naturel et de sublime sans la moindre etiiicelle de bon
goüt et Sans la moindre connaissance des regles. II y a de si helles scenes,
des morceaux si grands et si terribles repandues dans ses farces monstrueuses,
qu'on appelle tragedies que ces piecces ont toujours ete jouees avec un
grand succes. Und an einer anderen Stelle: Shakespeare le Corneille de
Londres, grand fou d'ailleurs, mais il a des morceaux adniirables. Ferner :
Lettre a Tacademie fran^aise, 25. Aug. I77ß. Prem. partie: Une partie de
la nation anglaise a erige dupuis peu un temple au fameux comedieii-poeto
Shakespeare et a fonde un jubile en son bonneur. Quelques Fran^ais ont
iu England, Frankreich und Dcui.^cliland. 27
an eine vorurthellsfreie Verstandes - und zeitgeniässe Beurthei-
lung Sh.'s machte, und dies um so mehr, als gerade in dem-
selben Jahre, 1755, Lessing's Miss Sarah Sampson erschien, und
die Deutschen in diesem ersten „bürgerlichen Trauerspiel" von
hervorragendem Werthe einen Weg der productiven Dramatik
beschritten, welcher dem der französischen Heldentragödie
geradezu entoeo-engesetzt war. Das Stück ward bekanntlich
mit allgemeinem Jubel besrüsst.
Es war diese Keaction geo-en den franz. Geschmack zwar
der Zeit nach vorbereitet worden durch die Opposition von
Bodmer und Breitinger gegen Gottsched's bis dahin allgemein
als gültig anerkannte Kunstregeln, aber Lessing ging seinen
Wes; doch ganz selbstständicr und er war es, der von nun an
im Verein mit Nicolai mit mächtigen und genialen Streichen"
Gottsched aus dem letzten literarischen Gebiete verjagte, auf
dem er sich noch mit Mühe gehalten hatte, und uns Sh. in
seiner ganzen Würde und Erhabenheit darstellte. Es ist dies
einer der kühnsten und mächtigsten Griffe, die je in das Ge-
triebe der deutschen Literatur gethan worden sind und unbe-
rechenbar sind seine Folgen für das ganze Gebiet derselben
geworden.
Während Lessing selbst durch die Production eines bahn-
brechenden Dramas, ähnlich wie Lillo es in England durch den
Kaufmann von London gethan, das Gefühl und den Geschmack
seiner Landsleute auf eine neue Bahn leitete, um sie das lange
verkannte Wesen ihrer eigensten Richtung und Neigungen wie-
derfinden zu lassen, überliess er es vor der Hand Nicolai, in
dem Hinweise auf Shakespeare und der Auslegung seines dem
deutschen Character so verwandten Wesens den Deutschen kri-
täche d'avoir le nieme enthousiasme. Ils transporterent chez nous une Image
de la divinite de »Shakespeare. Deuxieme partie. Personne assurement
ne respecte plus que moi les grands hommes que cette ile a produits et j'en
ai donne assez de preuves. La verite qu'on ne peut deguiser devant vous
m'ordonne, de vous avouer, que Shakespeare, si sauvage, si bas, si effrene
et si absurde avait des etincelles de genie. Und später: Figurez-vous,
Messieurs, Louis XIV. dans sa galerie de Versailles entoure de sa cour
brillante, un gille couvert de lambeaux perce la foule dos hercs, des grands
hommes et des beautes, qui composent cette cour; il leur propose de quitter
Corneille, Racine, Moliere pour un saltimbanque (jui a des saillles heureuses
et qui falt des contorsions. Croyez-vous que cette oflire serait re9ue?
28 Shakespeare's Würdigung
tisch vorzuführen, wo sie ihre Vorbilder zu suchen hätten, ihnen
die Quelle zu zeigen, aus der allein es ihrer würdig wäre, tief
und freudig zu schöpfen. Er hob in den Briefen „über den
jetzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland"
bei der Besprechung des deutschen Theaters besonders Shake-
speare's meisterhafte Characterzeichnung hervor, die ihm trotz
der Vernachlässigung der gangbaren dramatii^chen Kegeln einen
hohen ßang über den französischen Dramatikern einräumte.
„Wem," sagte er, „das englische Theater bekannter ist, der
weiss, dass es in seiner Art so viel Vorzügliches hat, als das
französische. Die Grösse und Mannigfaltigkeit der Charactere
ist eines der Vornehmsten, worin die Deutschen von den Eng-
ländern lernen könnten. Es ist wahr, ihre Wildheit, ihre Un-
regelmässigkeit, ihr übelgeordneter Dialog ist nicht nachzuahmen:
aber die Regeln sind dasjenige, was ein Deutscher am ersten
weiss, und mit einer massigen Kenntniss derselben sind diese
Fehler, bis auf den letzten, sehr leicht zu vermeiden. Ihre Un-
regelmässigkeit bringet ihnen zuweilen auch Avirklichen Vortheil ;
die Franzosen gestehen es selbst, dass ihre allzugrosse Zärt-
lichkeit und Weichlichkeit ihnen nicht erlaubt, viele Charactere
auf ihr Theater zu bringen, die auf dem engländischen Theater
die glücklichste AVirkung thun. Der Stoff der engländischen
Comödie ist daher viel manniwfaltisfer. Ich sehe in derselben
allezeit die Menschen unter den verschiedensten Gestalten und
sehr öfters mit den feinsten Auswickelungen ihrer Neigungen.
In den meisten französischen Comödien weiss ich schon voraus,
was ich sehen werde : einen verliebten Herrn, einen lustigen
Diener und ein Kammermädchen, das witziger ist, als ihre Ge-
bieterin."
Ebenso wies er auch in einem 1756 o;eschriebenen Artikel in
der „theatralischen Bibliothek," in dem er die Geschichte der
englischen Bühne behandelte, rühmend auf Shakespeare, Beau-
mont u. Fletcher und Ben Jonson hin, indem er zugleich die
Behauptung aufstellte, dass ein Vorrang vor den dramatischen
Werken jener Dichter nur .den Griechen zuzugestehen sei.
Das eigentlich belebende Feuer aber in diese kritischen Be-
strebungen warf erst Lessing durch seine Abhandlungen über
Sh. in den „Briefen die neueste Literatur betreffend," in denen
in England, Frankreich und Deutschland. 29
er, wie es stets seine Art war, mächtig an der trägen Nach-
ahmungssucht für die französischen Muster rüttehe und mit
feurigen Worten dem Bhtzstrahl gleich die ungesunde litera-
rische Atmosphäre reinigte. Der siebenzehnte Brief des an-
geführten Cyclus vom Februar 1759 kann mit Recht als ein
Aufruf an alle vorurtheilsfreien und klaren Köpfe gelten, an alle
Gebildeten seiner Nation, zu erkennen, wie ungehörig sie bisher
auf falschen Altären geopfert und das wahrhaft Erhabene und
Meisterhafte unwürdiger Vernachlässigung anheimgegeben hätten,
und sich fortan mit Ernst und Liebe zu der Würdigung des
grossen und reinen Genius zu begeistern, den er ihnen in so
hellem Lichte und in so scharfen Umrissen darstellte. Lessing
war der Mann dazu, eine solche Revolution in den Gemüthern
hervorzubringen, denn er besass nicht allein die durch Klarheit
der Anschauung hervorgebrachte überzeugende Kraft des Wortes,
sondern auch die Beharrlichkeit, das Erkannte zur Geltung zu
bringen, und die stete Schlagfertigkeit, jedem Angriffe, wo und
in welcher Form er hervortrat, zu begegnen; und es ist wohl
eine Fügung, die wir Späteren allen Grund haben anzuerken-
nen, dass diese grosse Sache in die Hände eines solchen Sach-
walters fiel. Er wandte zuerst seine Waffen gegen die Auto-
rität und die kritische Begabung Gottsched's, als gegen den
offensten und gefährlichsten Widersacher der richtigen Wür-
digung Sh's.
„Niemand," hatte Nicolai gesagt, „wird läugnen, dass die
deutsehe Schaubühne einen grossen Theil ihrer ersten Verbes-
serung dem Herrn Professor Gottsched zu danken hat." Darauf
antwortete Lessing: „Ich bin dieser Niemand, ich läugne es
geradezu. Es wäre zu wünschen, dass sich Herr Gottsched
niemals mit dem Theater vermengt hätte. Seine vermeintlichen
Verbesserungen betreffen entweder entbehrliche Kleinigkeiten
oder sind wahre Verschlimmerungen." „Den elenden Zustand
der Bühne einzusehen," sagt er weiter, „brauche man eben nicht
der feinste und grösste Geist zu sein. Es hätten auch andere
denselben wohl eingesehen, aber Gottsched habe sich vor An-
dern die Kraft zugetraut, Ihn zu verbessern, indem er aus dem
Französischen übersetzt, französische Reimerei ermuntert und
den Harlequin feierlich vom Theater vertrieben habe. Er habe
30 Shakespeare's Würdigung
nicht sowohl das alte Theater verbessern, als der Schöpfer eines
ganz neuen französirenden werden wollen, ohne zu untersuchen,
ob dies der deutschen Denkungsart angemessen sei oder nicht.*
Dass so kühne Behauptungen nicht ohne Erwiderungen
bleiben konnten, liegt auf der Hand, sie sind aber von zu ge-
ringer Bedeutung und Hegen dem Vorwurf dieser Zeilen zu fern,
als dass ihrer hier speciell Erwähnung geschehen sollte.
Das grosse Publicum war indessen bis hierher und noch
bis in die vier folgenden Jahre dem richtigen Verständniss und
der Parteinahme an diesem literarischen Streite, der auf Les-
sings Seite auch von den Mitarbeitern an den Literaturbriefen
Nicolai und Mendelssohn geführt worden, ganz fern geblieben,
da ihm die Grundlage des Verständnisses desselben in einer
deutschen Uebersetzung der Shakespeare'schen Werke fehlte.
Es war jedoch durch denselben bei den Gebildeten der Wunsch
rege geworden, zu einer gründlicheren Kenntniss der englischen
Dramatik durchzudringen, und es war daher ein mit Freuden
begrüsstes Ereigniss, als 1762 der erste Band der Wieland'schen
Uebersetzung von Sh.'s Werken erschien, die nach und nach
bis zum Jahre 1766 auf 8 Bände anwuchs. Sie enthielt von
den historischen Stücken nur die beiden Theile von Heinrich IV.,
es fehlten in derselben ferner: Cjmbeline, die lustigen Weiber
von Windsor, Ende gut, Alles gut, die bezähmte Widerspänstige,
Coriolanus, Troilus u. Cressida, Verlorene Liebesmüh und die
von Sh. nur überarbeiteten Pericles und Titus Andronicus. Sie
war leider bis auf die meisten der Reim-Verse im Sommer-
nachts-Traum in Prosa abgefasst, ein Umstand, der keineswegs
geeignet war, den deutschen Lesern eine richtige Anschauung
von den Originalen zu geben. W^ieland hatte diese Form ge-
wählt, Aveil, wie er in einer Anmerkung zu einem der gereimten
Verse sagt, Sh. jegliches Talent Verse in Reimen zu schreiben
abgesprochen werden müsse, und entschuldigt damit in vielen
Füllen seine eigene schlechte Prosaübersetzung, da er so viel
wie möglich w'örtlich habe wiedergeben wollen, was er gefunden,
und Sh. häufig sich nicht nur nicht vor groben Unschicklichkeiten,
sondern auch nicht einmal vor offenem Unsinn gescheut habe,
* Siehe den 17. Litorrtturhrief.
in England, Frankreich und Deutschland. 31
um einen Eelm zu Stande zu bringen. Dass es nur äusserst
wenige oder vielleicht nie einen Schriftsteller gegeben, dem ein
Kenn immer sogleich bei der Hand gewesen i^st, und der sicli
beim Schreiben gereimter Verse nie einen Z^vang hat auflegen
müssen, daran wird jetzt wohl Niemand zweifeln, und es solhen
daher Sh.'s Reime nicht härter beurtlieilt werden, als die anderer
Schriftsteller, aber man wird wohl kaum umhin können zu füh-
len, dass Sh.'s reimlosen Jambenversen jene hinreissende Gewalt
innewohnt, die den vollen augenblicklichen Ausguss tiefen Ge-
fühls und kräftigen Gedankens so wunderbar kennzeichnet.
Dass Wieland aber ganz anderer Meinung war, geht aus den
vielfach unter die einzelnen Stücke gesetzten Anmerkungen her-
vor, deren Abgeschmacktheit gegenwärtig in hohem Grade lächer-
lich erschemen muss, Wieland aber auch schon damals die hef-
tigsten Angriffe und manchen Spott zuzog.* Diese tadelnde
Kritik beschränkt sich aber nicht allein auf den Reim der Sh '-
sehen Verse, sie ist ungemein fruchtbar in der Auffindung der
m-schiedenartigsteu Fehler und stellt Alles, was auf dfesem
Felde vor und nachher geleistet worden, gänzlich in den Schat-
ten. Es möge hier Einiges aus derselben Platz finden, welches
zeigen soll, wie befangen das Urtheil eines so hervorragenden
und geistreichen Schriftstellers und noch dazu nicht einmal ab-
gesagten Feindes der Sh.'schen Muse war, wie dies sowohl aus
verschiedenen Stellen der Vorrede zu der Uebersetzung, als
auch aus einem im Folgenden angeführten Briefe hervorgeht.
So sagt er in der Anmerkung zu dem Selbstgespräch Ed-
munds vor dem Eintritt Edgars in König Lear, Act 1. Sc. 2 :
„Dieses nonsensicalische Gewäsch hat man beinahe so verworren^
als es im Original ist, zu einer Probe stehen lassen wollen von
einer dem Shakespeare sehr gewöhnlichen Untugend, seine Ge-
danken nur halb auszudrücken, übel passende Metaphern durch-
einander zu werfen und sich von allen Regeln der Grammatik
zu dispensiren." Ferner bemerkt er zu der prophetischen Rede
des alten Gaunt auf dem Sterbebette (Rieh. IT. Act. II. Sc. 1),
die in so überaus herrlicher Sprache den ohnmächtigen Schmerz
desjcheidenden Patrioten vergegenwärtigt: „Was für eine Rede
\vl "f^^^- ^n-^\¥- Götter Helden u. Wieland, u. was Goethe darüber in
„Wahrheit u. Dichtung-,« 3. Theil S. 200 sa^t.
32 Shakespeare's Würdigung
in dem Munde eines alten sterbenden Prinzen, der eich über
Engbrüstigkeit und kurzen Athem beklagt! Indessen war dieses
schülerhafte rhetorische Gewäsche, diese auf einander gehäuften
übel zusammen 2)assenden Metaphern und diese abmattenden
Tautologien die allgemeine Mode in unseres Autors Zeit." Ist
dieses nicht eine Versündigung an dem ewig wahren Geiste der
Poesie, dessen Wehen in diesem schönen Monologe nur dem
geistig Stumpfen, sollte man meinen, nicht fühlbar ist? Am
lustigsten aber ist die Kritik der unvergleichlichen Scene im
„Eberkopfe" in Eastcheap, wo der Prinz und FalstafF abwech-
selnd den König darstellen. (Henry IV. Act II. Sc. 4). Es
heisst hier: „Diese unvollkommene Probe — denn man hat den-
noch einige Blümchen auslassen müssen — wird den Leser ver-
muthüch geneigt machen, dem Uebersetzer in Absicht der fal-
staffischeu Scenen Vollmacht zu geben, darüber nach eigenem
Belieben zu schalten. Man muss ein Engländer sein, diese Sce-
nen von Engländern spielen sehen und eine gute Portion Punsch
dazu im Kopfe haben, um den Geschmack daran zu finden, den
Sh.'s Landsleute grösstentheils noch heutigen Tages an diesen
Gemälden des untersten Grades von pöbelhafter Ausgelassenheit
des Humors und der Sitten finden sollen.* Wer ausser Wieland,
der sich nicht ganz in einen Panzer von Vorurtheilen gesteckt
hat, möchte wohl je in vollem Ernst ein solches Urtheil haben
fällen mögen? Hatte er es wirklich heute gethan, so würde
* Ich kann hier der Versuchung nicht widerstehen, im Gegensatz zu die-
sem geringschätzigen Urtheile Wielands über die Scenen in Eastcheap, eine
Schilderung eines neueren ebenso gemüthvollen wie mit kritischem Scharf-
sinn begabten Schriftstellers über den Eindruck, den dieselben Scenen bei
ihm zurückgelassen, herzusetzen, obwohl dies eigentlich dem Vorwurf dieser
Arbeit liemd ist, des Americaners Washington Irving. Er sagt in dem
öketchbook (Tauchnitz-Ed. S. 106): „Ich möchte den fetten Jack nicht für
die Hälfte der grossen Männer in den alten Chroniken aufgeben. Was
haben die Helden vergangener Tage für mich oder meinesgleichen gethan?
Sie haben Länder erobert, von denen ich nicht einen Streifen besitze, sie
haben Lorbeern errungen, von denen ich kein Bhitt geerbt, sie haben toll-
kühne Thaten vollführt, die ich weder die Gelegenheit noch die Neigung
habe, nachzuahmen. Aber der alte Jack FalstaiT — der freundliche Jack
Falstaff" — der süsse Jack Falstaff — hat die Grenzen des menschlichen
Vergnügens erweitert, er hat weite Regionen von Witz und Humor eröffnet,
in denen auch der ärmste Mann sich ergötzen mag, und er hat eine endlose
Erbschaft von fröhlichem Gelächter hinterlassen, die Menschen lustiger und
besser zu machen bis in die spätesten Zeiten."
in England, Frankreich und Deutschland. 33
er sicherlich morgen unter einer unwiderstehlichen Anwandlung
von Lustigkeit das Schriftstück zerrissen haben.
Wie wenig "Wieland überhaujDt den wahren Werth der
Sh.'schen Dichtungen erfasst hatte, geht daraus hervor, dass er
an verschiedenen Stellen statt der Sh.'schen Scenen kurze In-
haltsangaben derselben liefert, als ob im Grunde dasselbe Re-
sultat und mit weniger Worten erzielt würde, wenn man statt
einer treuen Uebertragung nur kurz den Faden der Handlung
angiebt. So erklärt er eine solche Manipulation, die er mit dem
letzten Act von „Was ihr wollt" vorgenommen, mit folgenden
Worten : „Dieser ganze letzte Aufzug enthält nichts mehr als
eine Entwickelung, welche leicht vorherzusehen ist. Man weiss
schon, dass die Anles^ung des Plans und die Entwickeluno; des
Knotens diejenigen Theile nicht sind, worin unser Autor vor-
trefflich ist. Hier scheint er, wie es ihm mehrmal in den fünften
Aufzügen begegnet, begieriger gewesen zu sein, sein Stück fertig
zu machen, als von den Situationen, worin er seine Personen
gesetzt hat, Vortheil zu ziehen." Allerdings mass er hier, seiner
Richtung gemäss, Sh. nach dem Maasse französischer Stücke
und den Corneille'schen Regeln, nach denen freilich die durch
die Begebenheiten und Verwickelungen der ersten vier Acte an-
gefüllte Schaale bersten und das fertige Resultat auf den Zu-
schauer auf einmal ausgiessen musste. Ausserdem verleitet die
geringe Bekanntschaft mit dem Gange der englischen Cultur
Wieland zu häufigem ungerechten Tadel: Sh. ist selten ten-
denziös, aber wo er es ist, da muss billiger Weise den Um-
ständen Rechnung getragen werden, die ihn zu dieser oder jener
Schreibweise bestimmten. Wenn Sh. im „Kaufmann von Ve-
nedig" und an manchen andern Stellen den übertriebenen Hang
seiner Landsleute nach dem Gebrauch einer möglichst latei-
nisirten Sprache geisselt, so ist es ungereimt, Avenn Wieland
„alle nur möglichen Fehler des Ausdrucks findet." Dies näm-
lich ist sein Urtheil über das obige Stück, dass „alle Fehler
eines ungereinigten Geschmacks und einer übertriebenen Gefäl-
ligkeit gegen den verdorbenen Geschmack seiner Zeit in keinem
Stücke vielleicht auf eine beleidigendere Art vorherrschen, als
im „Kaufmann von Venedig," indem die häufigen und rührenden
Schönheiten desselben alle Augenblicke durch ungereimte Ab-
3
Arcliiv r. 11. Sprachen, XLVHI.
34 Shakespeare's Würdigung
fälle, aufgedunsene Figuren, frostige Antithesen, Wortspiele und
alle nur mögliche Fehler des Ausdrucks entstellt seien." „Der
Uebersetzer hat es daher," fährt er fort, „vorgezogen, manche
Stellen in veränderter Form wiederzugeben, um nicht durch
eine allzu schüchterne Treue dem Sh. zu schaden und den Le-
ser ungeduldig zu machen."
Man sieht aus allen diesen hier angezogenen Urtheilen, mit
wie grosser Voreingenommenheit Wieland den Sh. betrachtete,
man erkennt leicht den allzu getreuen Anhänger der französischen
Schule, aber er konnte das deutsche Wesen, das in ihm war,
doch nicht so ganz ertödten, dass er nicht angezogen worden
wäre von dem verwandten Geiste, der aus Sh.'s Dramen zu ihm
sprach. Dies zeigte er, indem er sich mit ganzem Ernst und
Eifer gegen die leichtfertige Kritik Voltaire's auflehnte, und
wir müssen uns wieder mit ihm versöhnen, wenn wir lesen,
was er in einem Briefe an Zimmermann schrieb, im Jahre 1758,
einer Zeit, wo er sich noch nicht berufen fühlte, mit einer strengen
Kritik hervorzutreten, und wo noch die geistige Grösse des bri-
tischen Dichters gewaltig rührend vor ihm aufzog.*
Eine wie wunderbare Umwandlunoj aber hatten wenige
Jahre in der Denkweise dieses Mannes hervorgebracht, der im
Jahre 1758 diesen Brief und 1762 — QQ die oben beleuchteten
Anmerkungen schreiben konnte.
So ungerecht und beschränkt seine Auffassung auch war,
so hätte es doch den Gegnern derselben besser angestanden,
das Verdienstvolle einer Uebersetzung der Sh.'schen Werke
überhaupt, zumal einer solchen, die doch trotz ihrer Fehler bei
* Er schreibt: Sie kennen ohne Zweifel diesen ausserordentlichen Men-
schen durch seine Schriften. Ich liebe ihn mit allen seinen Fehlern. Er ist
ihst einzig darin, die Menschen, die Sitten, die Leidenschaften nach der
Natur zu malen: er hat das köstliche Talent, die Natur zu verschönern,
ohne dass sie ihre Verhältnisse verlöre. Seine Fruchtbarkeit ist unerschöpf-
lich. Er scheint nie etwas Anderes studirt zu haben als die Natur, ist bald
der Michel Angelo, bald der Correggio der Dichter. Wo fände man mehr
kühne und doch richtige Entwürfe, mehr neue, schöne, erhabene, treflfende
Gedanken, mehr lebendige, glückliche, beseelte Ausdrücke als bei diesem
unvergleichlichen Genie? Zum Geier mit dem, dereinem Genie von solchem
Range Regelmässigkeit wünscht, und der vor seinen Schönheiten die Augen
zuschliesst, oder kein Auge dafür hat, blos weil es die nicht sind, welche
das kläglichste Stück von Pradon in weit höherem Grade besitzt als der
Cid." (Gruber, Wieland's Leben, I. S. 233.)
in England, Frankreich und Deutschland. 35
Weitem nicht unbrauchbar war, hervorzuheben, statt sich in
(lern herbsten Tadel und sarkastischen Angriffen gegen Wieland
zu ergehen.* Denn Dank ist man dem Manne immerhin schul-
dig, der zuerst ein anerkannt schwieriges Unternehmen angreift,
mögen Andere es später auch noch soviel besser und gedie-
gener ausführen. Dies erkannte Lessing sehr wohl, und es ist
ein nicht zu unterschätzender Beweis seines richtigen Blicks,
dass er nicht in den von allen Seiten ausgesprochenen Tadel
einstimmte, obgleich er wohl mehr als die meisten Anderen von
der Unzulänglichkeit der Uebersetzung und den Schwächen der
Anmerkungen Wieland's überzeugt sein musste.**
Im Anfange des Jahres 17G7 erschienen die ersten Briefe
seiner „Hamburger Dramaturgie," in denen er die in den Lite-
raturbriefen begonnene Polemik gegen das französische Theater
wieder aufnahm, und wo immer sich die Gelegenheit bot, auf
das englische und besonders auf Sh. hinwies und dieses Dich-
ters Dramen denen der französischen Classiker kritisch gegen-
überstellte. Diese Abhandlungen sind mehr als irgend welche
andere Bestrebungen wirksam gewesen Sh. in Deutschland ein-
zuführen und heimisch zu machen, denn sie waren die ersten
eingehenderen dieser Art, die von Grund aus die Frage der
Classicität des französischen Theaters sowie der vermeintlichen
Superiorität derselben über das englische Theater ergriffen und
mit Scharfsinn und gründlicher Gelehrsamkeit erörterten. Hatte
Lessing die erste dieser Fragen siegreich bekämpft, so war mit
ihr auch die zweite gefallen und es war dann die Nothwendig-
keit eingetreten, seine Behauptungen und Beweise durch ein-
gehendes Studium der englischen dramatischen Werke, beson-
ders derer Sh.'s, zu prüfen.
* So unter Anderen Gerstenberg, der in den Schleswiger Literatur-
briefen mit grossem Aufwände von Genialität stinen Tadel gegen die Ueber-
setzung zu persönlichen Angriffen auf Wieland benutzte. Dieselben Briefe
bieten uns eine eintrehcndere Beurtheilung Sh.'s, die aber an ebenso grosser
Ueberschwenglichkeit im Loben, wie die Angriffe gegen Wieland im Tadeln
leiden. Gerstenberg wollte an Sh. nur Tugenden und Schönheiten finden,
Fehler oder Mangel cxistirten nach ihm an Sh. nicht, doch enthalten die-
selben manche treffende Bemerkung u. sind daher immerhin ein werthvoller
Beitrag zur Sh.-Literatur. Sein Ugolino entstand unter dem Einflüsse dieser
Studien (1768).
** Siehe darüber: Hamb. Dramaturgie. 15. Stück, v. 19. Juni 1TG7.
3*
36 Shakespeare's Würdigung •
Aber nicht allein dadurch, dass er die Autorität der so-
genannten französischen Classiker untergrub, wirkte Lessing
vortheilhaft auf das Studium Sh.'s ein, er that es, um auch den
vorsichtigen Kunstkennern zu genügen auch dadurch, dass er
die Berechtigung Sh.'s als dramatischen Künstlers nachwies.
Zu einer Zeit, avo die Pedanterie in allen, besonders aber den
wissenschaftlichen Bestrebuno-en sehr gross war, genügte es
nicht, die Shakespeare'sche Welt dem Gemüthe zu erschliessen,
es musste auch gezeigt werden, dass man es nicht mit einem
dramatisch ungebildeten, alle Kegeln der Kunst ignorirenden
wenn auch geistvollen Naturkinde zu thun habe, dargethan
werden, dass man, selbst wenn man auf dem Boden der aristoteli-
schen Regeln stehen bliebe, Sh. dem Geiste seiner Schöpfungen
nach als einen weit treueren Schüler des griechischen Weisen an-
erkennen müsse, als die französischen Nachahmer der griechischen
Tragödien. Dieser zweite Punkt stand in Wechselwirkung zu
dem ersten ; scharf untersucht und schlagend bewiesen, mussten
beide zusammen unfehlbar der ßeurtheilung Sh.'s eine ganz an-
dere Richtung geben.
Bedenkt man ferner die Armuth der dramatischen Muse in
Deutschland zu jener Zeit, und den immer stärker hervortre-
tenden Conflict des französischen Geschmacks mit dem deutschen,
dem die pomphaften Tragödien der Franzosen auf die Dauer
nicht entsprechen konnten, und vergegenwärtigt man sich dann
die durch die „Hamburger Dramaturgie" hervorgerufene Stim-
mung und angezeigte Richtung, so hat man darin den Schlüssel
zu der nunmehr immer allgemeiner werdenden Würdigung Sh.'s
in Deutschland gefunden.
Es seien hier zwei Stellen der „Hamb. Dramat." hervor-
gehoben, die für Lessing's Schätzung von Sh. characteristisch
sind. Die eine findet sich in dem bereits angeführten Briefe
V. 19. Juni 1767 im Verlauf seiner Beurtheilung von Voltaire's
Zaire. Dieser hatte gesagt, es sei diese Tragödie in Folge
einer an ihn von verschiedenen Damen ergangenen Auffor-
derung ein Stück zu schreiben, in dem die Liebe eine hervor-
ragende Rolle spiele, entstanden: Lessing bemerkt hierzu, „die
Liebe selbst," habe ein Kunstrichter artig genug gesagt, „habe
Voltaire die Zaire dictirt," richtiger hätte er gesagt: „die Ga-
in England, Frankreich und Deutschland. 37
lanterle." „Ich kenne", fährt er fort, „nur eine Tragödie, an
der die Liebe selbst hat arbeiten helfen; und das ist „Romeo
u. Julie" von Shakespeare."
Die andere im Briefe v. 12, Januar 1768 knüpft bei der
Beurtheilung des Richard III. v. Chr. Weisse an eine Bemer-
kung des Verfassers an, dass er in der Abfassung seiner Tra-
gödie kein Plagium an Sh. begangen habe, obwohl „es vielleicht
ein Verdienst gewesen wäre, an dem Sh. ein Plagium zu be-
gehen." Auf diese Bemerkung erwidert Lessing an der betreffen-
den Stelle in trefflicher Weise.
Hatte sich Lessing das grosse Verdienst erworben der
erste gewesen zu sein, der die Deutschen auf dem Wege der
vorurtheilsfreien Kritik gründlicher mit Sh. bekannt machte und
Wieland gegenüber einen richtigeren Maassstab an seine Beur-
theilung legte, so ward ihm ferner der Ruhm, zwei unserer
herrHchsten Männer zu immer tieferem Eindringen in den Reich-
thum des Sh.'schen Geistes angeregt zu haben, Herder und
Goethe.
Herder, um 5 Jahre der Aeltere von den Beiden, hatte
sich schon einige Jahre vor dem Erscheinen der Wieland'schen
Uebersetzung viel mit Sb. in der Original- Sprache beschäftigt.
Er erkannte zwar das Verdienstvolle dieser Verdeutschung als
einer solchen gerechter Weise an, da er die Schwierigkeiten
dieses Unternehmens sehr wohl zu würdigen wusste, war
jedoch, selbst ein gewandter Uebersetzer, mit derselben kei-
neswegs, weit weniger aber noch mit den Anmerkungen Wie-
land's zufrieden, wie er dies unter anderem in einem Briefe aus
dem Jahre 1771 ausspricht.* Goethe urtheilte nicht so streng
* Er sagt in diesem aus Strassburg an seine Braut gerichteten Briefe:
So hat Ihnen Romeo u. Julie gefallen! und doch haben Sie dieses vortreff-
liche himmlische Stück, das einzige Trauerspiel in der Welt, was über die
Liebe existirt, nur in der Uebersetzung gelesen. Denn das muss ich sagen,
dass unter allen Sh.'schen Stücken Wieland's keins so verunglückt ist, als
dieses. Der Grund ist vielleicht der, dass Wieland nie selbst eine Romeo-
Liebe gefühlt hat: sondern sich nur immer mit seinen Pantheen und Sera-
pbins den Kopf voll geweht, statt das Herz je menschlich erwärmt hat;
und so sind ihm die schönsten Augenwinke, in denen die Liebe mehr als
durch Worte redet, eine ganz unbekannte Sprache gewesen. Dazu hat Sh.
in diesem Stück viel Reime, auf die Wieland in den Noten schimpft, die
freilich einem Uebersetzer auch den Kopf und die Feder toll machen kön-
nen, die aber im Original so sehr zur wahren Romanzenspracbe der Liebe
38 Shake?peare's Würdigung
über dieselbe, er vertheidigte sogar noch in „Dichtung u. Wahr-
heit," deren erster Theil erst 1811 erschien, die von Wieland
o-ewählte Prosa-Form der Uebersetzung gegen die vielen kurz
nach dem Erscheinen derselben auf sie gerichteten Angriffe.
Der Freundeskreis, der sich in den Jahren 1770 — 72 in Strass-
burg gebildet hatte, zu dem neben Goethe, Lenz und Klinger
auch Herder zählte, war der eigentliche Herd, auf dem die
Flamme der Begeisterung für Sh. hell aufloderte, wo das Er-
götzen an ihm und die Hinneigung sich ganz in seine Denk-
weise und AuflPassung hineinzuversetzen, von Tag zu Tage in
dem Maasse wuchs, als man sich mehr in ihn vertiefte.* Hier
soo" man den Geist ein, der eich darauf in der hauptsächlich
von Herder, Goethe und Mendelssohn verfassten Zeitschrift:
Von deutscher Art und Kunst nachhaltig wirkend und fördernd
für das Studium Sh.'s in Deutschland offenbarte.
Unter dem mittelbaren oder unmittelbaren Einfiuss dieser
Shakespeare-Studien entstand bei Goethe, wie er selbst andeutet,
die Idee zum „Götz von Berlichingen," und wie dieses W^erk
mächtig in den Gedankengang der Gebildeten Deutschlands ein-
griff, so erregte es auch wechselsweise den Wunsch in ihnen,
die dramatischen Werke kennen zu lernen, die zu dem Götz
und zu denen er in so naher Verbindung stand. Goethe hat
durch denselben der Verbreitung Sh.'s in Deutschland auf in-
directem Wege einen grossen Dienst erwiesen, einen Dienst,
dessen Werth er durch seine spätere unübertreffliche Kritik ein-
zelner Sh. 'scher Tragödien erhöhte, Herder erfasste ihn mit der
ganzen Tiefe seines innigen Gemüths und stellte ihn, indem er
uns ihn empfinden machte, zugleich unserem Verstände in sei-
ner ganzen Grösse dar, nicht nur, dass er ihn gegen die so oft
erhobenen Anklagen seines Mangels an Kenntniss der drama-
gehören, als sie dem Fühllosen freilich närrisch vorkommen können. Eine
Probe sei z. B. das Gespräch zwischen Romeo und Julie auf dem Ball, wo
immer die Allegorie von andächtigen Pilgrimen in Frag' und Antwort, bei
Händedrücken und Kuss fortläuft, dass es so heimlich wird, als es freilich
romantisch, und wenn Sie wollen, abentheuerlich im Deutschen heraus-
kommt. Um so mehr freut es mich, dass durch alle dies Missrathen der
Geist Sh.'s Sie hat erwärmen können. (Herder's Leben I. S. 170 von Ca-
roline von Herder.)
* Vergl. hierüber: Dichtung u. Wahrheit, Theil HI. Buch 11. S. 45.
in England, Frankreich und Deutschland. 39
tischen Regeln vertheidigte, sondern dass er sogar den zu jener
Zeit kühnen Satz aufstellte, dass man, statt Sh. wegen seiner
Verstösse gegen die aristotelischen Regeln (im französischen
Sinne) zu entschuldigen, in ihm vielmehr den Schöpfer einer
neuen, der Neuzeit allein angemessenen Dramatik bewundern
müsse.
Wie wohlthuend wirkt nach allen den widerwärtigen und
sinnlosen Kritiken verständniss - und gefühlloser Beurtheiler der
Ausguss tiefer Bewunderung und Verehrung in einem solchen
Manne. „O Shakespeare! wie kehrst Du das Innere hinaus!
machst sprechend den stummsten Abgrund der Seele! Alles ist
Dir Verhängniss, und ohne innere Theilnahme doch Nichts Ver-
hängniss. Zu jedem Deiner Ereignisse, seien sie Gräuel oder
edele Thaten, stimmt die ganze Natur bei, frohlockend oder
schaudernd. Das Ungewitter in Lear, da der Himmel seinen
ganzen Zorn wegen des Undanks der Töchter ausgiesset, trifft
das nackte Haupt des unbedachten dachlosen Vaters, der an
seinem Unglück selbst Schuld ist. Das Klopfen an Macbeth's
Thür, sobald der König ermordet ist, und was der Wächter
dabei saget ; die Furchtereignisse nach König Hamlets Tode,
sonst jede Zustimmung der Natur zu der von Dir dargestellten
That; sie zeigen alle Deine stille, grosse in's Weltall ergossene
Seele, in die sich alles spiegelt, aus der sich alles herausspie-
gelt, Verhängniss und Character, Character und Schicksal.
Grosser, stiller Dichter, Du führtest die Wage menschlicher
Gesinnungen und des waltenden Schicksals in Glück und Un-
glück mit Treue, mit Wahrheit. Keines Deiner Stücke ist dem
andern gleich; in jedem haucht ein anderer Welt-, Zeit- und
Lebenso;eist ; das Band der Begebenheiten ward immer anders
geschlungen, anders geleitet; und doch ist's allenthalben nur
Dein unsterblicher Griffel, der von den Tafeln des
Verhängnisses uns diese Gemälde darstellte und unser in-
neres Auge ihnen aufs c bloss."
An einer anderen Stelle: „Die Liebe, nie ist sie bei Sh.
Galanterie, als wo sie es sein muss. Wahre Liebe dagegen
mit allen Vorbereitungen und Wendungen, mit jedem süssen
Spiel, das ihr gehöret, geschweige mit den verschiedenen Aus-
gängen ihres Schicksals — wer hat sie reiner, tiefer, vollen-
40 Shakespeare's Würdigung in England, Frankreich u. Deutschland.
deter dargestellt als Sh.? Romeo u. Julie, Desdemona, Imogen,
so manch anderes Gemälde mit anderen Farben gemalt, in an-
deren Situationen dargestellt, sind ewig lebende Bilder im Gar-
ten der Liebe ! Ihr und jeder Leidenschaft wies Sh. das Gebiet
an, das jeder gehöret."
Diese Bewunderung für Sh. und dies Hineinleben und Sich-
hineinfühlen in seine Denk- und Empfindungs weise hielt Herder
jedoch nicht ab, ernst zu prüfen, in wie fern er dieser Bewun-
derung auch vom künstlerischen Standpunkte würdig wäre, und
er stellte so in einem in den „Blättern für deutsche Art und
Kunst" im J. 1773 erschienenen Aufsatze die Grundzüge einer
ganz neuen Beurtheilung des künstlerischen Werthes der Sh.'schen
Werke auf, indem er die Abweichung des modernen Dramas
von den Tragödien der Griechen klar und alli2;emein fasslich
erörterte und seine Berechtigung nachwies.
Die Dichter der modernen französischen
Literaturperiode.
Von
Dr. J. J. S. May in München.
Die französische Literatur bietet in ihrer Entwickelungs-
gesehichte ein Phänomen dar, welches, wenn sich auch AehnU-
ches in den Literaturen anderer Völker, namentlich der Spa-
nier, der Italiener und selbst der Deutschen, findet, doch nir-
gends so auffallend erscheint und so consequent durchgebildet
worden ist, als bei den Franzosen, nämlich ein gänzliches Ver-
lassen und Aufgeben einer früheren Nationalliteratur und die
Aufnahme einer neuen, durchaus abweichenden, von aussen her
gekommenen Richtung, welche mit Verdrängung des eigentlich
.Volksthümlichen zu allgemeiner Geltung gelano-t ist und alle Fii-
eher der Literatur durchdrungen und beherrscht hat und im
Ganzen noch jetzt beherrscht. Die französische Literatur bis
auf die neueste Zeit , wo man endlich einigermaassen zur Be-
sinnung gekommen zu sein scheint, bietet daher das auffallende
Beispiel einer durchaus künstlich gemachten Bildung, welche
auf gelehrtem Wege entstanden , mit dem Nationalgeiste aber
freilich nun innig verschmolzen, sich doch von allem echt Na-
tionalen vollkommen losgerissen hat, um einem conventioneilen
Ideal zu huldigen.'
Man ist wol darüber einig, dass die Franzosen das am we-
nigsten poetische Volk In Europa sind, In dem Sinn, dass sich
die Poesie im poetischen AVort und Bild ausdrückt. Denn In
der Poesie des Heldenthumes , der Thaten sind sie gross vor
andern, und sie gleichen darin den alten Römern, die auch
42 Die Dichter der modernen fianzösischen Literaturperiode.
nicht die ausgezeichnetste Poesie schrieben, aber die grösste
Poesie auf den Schhichtfeldern wie auf dem Marktplatz Eoms,
auf der Weltbühne spielten. So geht auch bei den Franzosen
die wahre Tragödie öfters durch die Strassen von Paris als über
die Bretter des Schauspielhauses, und ein grösseres Heldenge-
dicht ist mancher Heereszug, als das beste Gedicht ihres be-
sten epischen Dichters. Darum ist auch, wie bei den Römern,
ihre Geschichtsschreibung wahrhafter poetisch, als ihre Ge-
dichtschreibung, wiewol sie auch in der Geschichte bis jetzt
mehr auf Pracht des Gedankens und Wortes, auf glänzenden
und hinreissenden Styl ausgingen, als auf die einfache Hoheit
der Wahrheit und den stillen Geist der Schönheit.
Fast noch an der Grenzscheide des Mittelalters und der
modernen Zeit tritt uns ein Mann entgegen, der, indem er der
Unnatur der Romantik, die sich, wie wir gesehen, in immer in-
haltlosere Allegorien verflüchtigt hatte, die concrete Natur und
den gesunden Menschenverstand gegenüberstellte, noch seine
eigenen, wenn auch seltsamen Wege wandelte. Wenn auch
die meisten Anekdoten, die man von Franz Rabelais erzählt,
wol nicht allzu begründet sein möchten, so ist doch so viel ge-
wiss, dass er ein Mann von höchst umfassender Gelehrsamkeit
gewesen und ein sehr bewegtes Leben geführt hat, wie er denn
nach einander Franziscaner und Benedictiner, dann Doctor und
Docent der Medicin in Montpellier, Herausgeber medicinischer
Schriften, Arzt in Lyon, zuletzt Kanonicus und Pfarrer in
Meudon bei Paris gewesen, wo er auch 1553 mit den Worten
„ich gehe, ein grosses Vielleicht zu suchen," gestorben ist.
Sein Testament lautete : Ich habe nichts, ich bin viel schuldig ;
ich gebe den Rest den Armen. Das war der Meister, der den
grossen satyrischen Roman Gargantua und Pantagruel schuf,
einzig in seiner Art durch die Kühnheit seiner Zusammenstel-
lungen und seiner Wortschöpfungen, durch die Kraft der Zeich-
nung mit wenigen gewaltigen Strichen, durch die Schärfe des
Witzes und den Humor der Weltanschauung, durch die Tiefe
seiner Satyre, womit er die Gebrechen seiner Zeit und der
Menschen überhaupt, der Grossen und Kleinen geisselte, durch
die glücklichsten Sprünge vom Ernst in den Scherz und vom
Scherz in den Ernst, durch eine grossartige Weisheit unter
Die Dichter der modernen französiscben Literatui-periode. 43
dem Ueberwurf von scheinbaren Ruchlosigkeiten, und durch
einen grossen Styl. Diese Compositionen sind in der Poesie
in der That dasselbe, was die ungeheuerlichen Gestalten eines
Höllenbreughels oder Hieronynius Bosch in der Älalerei. Es
sind kecke Satyren auf die Sophisterei der Scholastik , auf die
Verderbtheit des Klerus, auf die Zuchtlosigkeit der damaligen
Pariser Sitten , die bis in die geringsten Einzelheiten geschil-
dert werden, auf die Völlerei und Schlemmerei des Zeitalters,
<Te2;en Ende auch auf die Politik desselben. Gargantua ist ein
Fresser, Pantagruel ein Säufer. Die Anlage ihrer Geschichte
ist nun zwar biographisch, allein ohne irgend ein psychologi-
sches oder ethisches Interesse. Eabelais überlässt sich mit sei-
nem unendlichen Talente zur Komik jeden Augenblick den Ein-
fällen, die ihm gerade kommen, unterdrückt keinen Witz, der
sich ihm darbietet , und wühlt sich mit Behagen gern in den
schlammigsten Cynismus hinein. Das ritterhche Ideal behan-
delt er mit nicht geringerer Verachtung, als das mönchische.
Er ist voller Witz, Laune, Schalkheit, Phantasie und hat, im
Gegensatz zur höfischen Poesie, die Sprache des Volkes aufge-
nommen, die er mit der genialsten Willkür durch die kühnsten
Schöpfungen erweiterte, allein im Ganzen haftet ihm eine Form-
losigkeit an, die auch bis zur Rohheit sich verläuft. Die er-
götzlichste Figur seiner bunten Erzählung, der vielgereiste
Panuro-e wird schon nach Beendigung des Krieges des Panta-
gruel mit den Dipsoden vom dritten Buche ab die Hauptper-
son. Er möchte gern heirathen. Die Bedenken gegen diese
Neigung werden mit gründlicher aber äusserst cynischer imd
widriger Breite erörtert und zuletzt will Panurge das Orakel
der heiligen Flasche darüber befragen ; dies giebt die Veran-
lassung zu einer Reise nach den Inseln der Nirgendheimer und
des Laternenvolkes. Panurge gelangt endlich auch zu seinem
Zweck. Die heilige Quelle, aus welcher er die Flasche
empfängt, murmelt ein Orakel, welches die Priesterin für das
bedeutendste erklärt , das sie je vernommen. Es heisst näm-
lich: Trink! Der Gehalt seines wunderlich krausen, göttlich-
tollen Buches ist ein ewiger; er gehört nicht nur seiner Zeit,
sondern jeder Zeit an, weil im Besonderen das Allgemeine ge-
zeichnet ist, weil er tief aus der menschlichen Natur nahm.
44 Die Dichter der modernen französischen Literaturperiode.
Man stosse sich nur nicht an dem Seltsamlichen seiner Bildun-
gen: er sollte und wollte das Ungeheure des Burlesken geben.
Man ärgere sich nicht am Gemeinen : das ist ein unentbehrli-
ches Ingredienz einer solchen Komik, wenn sie ist, was sie sein
soll. Er schuf die neufranzösische Literatur, mit ihm fing die
neufranzösische Sprache, die in den Zeiten Franz I. zu allge-
meiner Herrschaft gelangte, an; Viele lernten von ihm, aber sie
wussten nicht, wie er, die Sprache weiter zu bilden und zu
bereichern.
Das Genie Rabelais', des phantasie- und geistreichsten fran-
zösischen Dichters, vererbte sich nicht. Statt wie er die Sprache
immer freier und beflügelter zu machen und ihr schöne sinn-
liche Anschaulichkeit zu geben, banden und beschnitten sie ihr
die Flügel und zogen ihr alles Fleisch ab. So wurde die fran-
zösische Sprache das, was sie bis zur Revolution blieb, — un-
frei , kaltblütig , abgezogen , abgeblasst , unvolksthümlich, vor-
nehm , reich an Ausdrücken für praktische Dinge , arm an
Bezeichnungen für das, was in der Tiefe der Seele vorgeht,
für alles Ideale. Erst die Revolution, welche alles Ueberkom-
mene umkehrte, und alles Gebundene freigab, führte auch der
Sprache wieder aus der Hütte und vom Markt, aus den ur-
sprünglichen lebendigen Quellen neue Lebenskräfte zu und ge-
stattete ihr einen freieren und höheren Schwung. Unter uner-
müdlichem Säubern und Klären durch solche, welche kalte
Schönredner aber keine Dichter waren, war die Sprache frei-
lich zu einer eigenen Klarheit und geschmackvollen Einfachheit
gekommen. Sie zeichnet sich vor den meisten modernen Spra-
chen durch logische Präcision, Nettigkeit und Durchsich-
tigkeit aus , ist aber eben deshalb gebundener und unbiegsa-
mer, als alle übrigen, wegen ihrer Einförmigkeit in der Beto-
nung der Bilduugssilben und der meist consonantisch abge-
stumpften oder in tonlose Vocale abgeschwächten Auslaute, är-
mer an Wohllaut und unrhythmischer: ihre Hauptstärke ist da-
her die Prosa und sie eignet sich vorzugsweise zur Umgangs-
sprache.
Ebenso wurden Grundgesetze und Grenzen der Poesie für
immer und ewig festgestellt, Glaubenssätze der Dichtkunst, von
denen keiner abweichen durfte, und zwar Grenzen und Gesetze
Die Dichter der modernen französischen Literaturperiode. 45
sowol für die Form als für den Inhalt. Unerlässlich war in
Sonderheit für das Schauspiel die Beachtung der hochheiligen
Reo;el der drei Einheiten und die Scheiduno- des Komischen
und Tragischen, des Ernstes und Witzes. In der Tragödie
war der Wärmegrad des Gefühls und der Leidenschaft vorge-
schrieben, alles Starke war verboten, und nur das Zarte, an-
ständig Gemässigte der Gesinnung und des Ausdrucks, eine ge-
wisse Vornehmigkeit beider, was man so Adel und fürstlichen
Anstand in den gebildeten Kreisen nannte, war zugelassen.
Weiter war das Feld für die Posse und das Intriguenstück,
doch musste auch der Inhalt dieser hoffähig, eine höflich feine,
nach dem Beo^i'ifFe der gesellschaftlichen Etikette anständio-e
Kurzweil sein. Wehe dem, der etwas geschrieben hätte, das
vom Athem des Volkslebens nur von fern angehaucht gewesen
wäre, nur einen einzigen Ausdruck! Alles musste aus der soge-
nannten guten Gesellschaft genommen sein. Und
„Gute Gesellschaft hab' ich gesehn; man nennt sie die gute,
Weil sie zum kleinsten Gedicht keine Gelegenheit giebt."
In solchen Fesseln musste sich die französische Poesie be-
wegen. Sie konnte keine Palme werden, das Genie wird gross
nur in der Himmelsluft der Freiheit ; sie wurde ein hübscher
Zierbaum im Hofgarten.
Was das Zeitalter Franz des I. vorbereitet hatte, ging in
dem Zeitalter Ludwig des XIV. in Erfüllung. Die Bourbons
vollendeten das Werk der Valois. Aus dem Feudalstaat war
das souveraine Königthum, aus diesem die raffinirte Despotie
geworden, welche ihr schnödes Princip in dem berüchtigten
Worte des vierzehnten Ludwigs : l'etat c'est moi ! aussprach ;
die nationalen Erinnerungen waren verwischt , die Volkskraft
gebrochen oder entnervt, ein stehendes Heer, Polizeibrutalität
und das unter dem Titel „Finanzwürthschaft" organisirte Aus-
saugesystem gaben die Regierungsmittel dieses Königthums ab,
welches mit wahnwitzigem Eifer den Schlund aushöhlte, in
den es zu Ausgang des 18. Jahrhunderts versinken sollte.
Ludwig XIV. hat das seltene Glück gehabt, überall mühelos
zu ernten, was lange vor ihm von Andern unter Kämpfen aller
Art ausgesäet und herangereift war. Durch Richelieu's eisernen
Willen und durch alle Künste der Schlauheit und Gewalt war
46 Die Dichter der modernen französischen Literaturperiode.
die letzte Macht der Grossen und der Widerstand der Prote-
stanten o-ebrochen; denn die geringen fast lächerlichen Unruhen
der Fronde, welche die Jugend des Königs berührten, verdie-
nen kaum erwähnt zu werden. Die Macht des Königs war un-
umschränkt, und wenn er nur einigermaassen den Umständen
entsprach, so rausste seine Regierung kräftig und glänzend sein.
Durch Ronsard, Jodelle u. A. war die Sprache ihrer Voll-
endung nahe gebracht und feste Grundzüge für literarische Pro-
ductionen aufgestellt worden; man wusste, was man wollte, und
es kam nur darauf an, dass sich Talente fänden, das auszufüh-
ren, was längst schon angebahnt war. Ludwig war aber ge-
rade der Mann, der als die Sonne, um Avelche sich Alles
drehte, diese Keime zu reifen verstand. Mit massigen Fähig-
keiten beo-abt, ohne alle eigenen Kenntnisse und Bildung, wurde
er doch getragen von dem erhebenden Gefühl seiner königli-
chen Würde und nicht ohne einen gewissen Tact für das Edle
und Grosse hat er seinem Hofe und seiner ganzen Zeit das Ge-
l)räge des Hohen, Vornehmen und Anständigen aufgedrückt.
Alles drängte, sich dem Feenreiche dieses glänzenden Hofes
zu nähern, alle Augen waren auf den Hof gerichtet , und wie
dort nur das Feine, das Abgeschliffene geduldet werden konnte,
so war es ganz natürlich, dass auch die ganze Literatur diesen
Charakter annahm. Was nicht in Gegenwart eines solchen [Kö-
nios, was nicht in dem Kreise eines solchen Hofes gesprochen
und gethan werden durfte, das musste als roh und gemein er-
scheinen, woo-egen dann freilich ebenso natürlich das Vornehme
an die Stelle des Erhabenen, das Zierliche und Geleckte an
die Stelle der Leidenschaft und der Innigkeit, das Künstliche
und Gemachte an die Stelle der Natur und Wahrheit treten
rausste. Selbst die Schwäche des Königs für das schöne Ge-
schlecht war mit einer gewissen vornehmen Decenz verbunden
und eine zierliche Sittenlosigkeit, welche wenigstens vor Roh-
heit und Zügellosigkeit bewahrte, verlieh den Frauen ein ent-
schiedenes Gewicht und einen mächtigen Einfluss auf literarische
Gegenstände, die nun in ihrer Gegenwart, ja unter ihrer un-
mittelbaren Mitwirkung verhandelt wurden. Selbst die Gelehr-
samkeit und die ernste Wissenschaft konnten sich diesem
Einflüsse der höfischen Sitten und des höfischen Geschmackes
Die Dichter der modernen französischen Literaturperiode. 47
nicht entziehen und strebten nach gefälliger , lichtvoller , allge-
mein verständlicher Darstellung, ein Vorzug, welchen Frank-
reich bis auf den heutigen Tag behauptet hat. Wie wenig
gründliche Bildung aber und Kunstsinn diesem Glanz und die-
ser AbgeschlifFenheit zu Grunde lag, das sieht man an dem
kläglichen Zustande, in welchem sich damals die Künste befan-
den. Die Musik y.'ar elende Stümperei, in den plastischen
Künsten der Bildhauerei und Architektur begnügte man sich
mit einer überkünstelten Nachahmung der Italiener, und wie
wenig Schönheitssinn vorhanden war, zeigen schon die über
alle Begriffe geschmacklosen Moden in der Kleidertracht der
Männer und Frauen, Avelche natürlich auch die Malerei zur
Carricatur machten. Die Alten — das stand nun fest für alle
Zeiten — wurden als die allein ewig gültigen Muster betrach-
tet, mit dem stillschweigenden Vorbehalte jedoch, dass sie ihrer
oft etwas derben Natürlichkeit entkleidet sich den feinern Sit-
ten und der zahmen Abgeachliffenheit eines unsittlichen Hofos
unterwerfen müssten. Correctheit der Sprache und des Vers-
baues, durchgängig sich gleichbleibende Zierlichkeit und Ange-
messenheit des Ausdruckes, und das, was bei Hofe als Würde
galt, das waren die Maassstäbe, womit nunmehr Alles gemes-
sen und beurtheilt wurde, wobei durchaus kein wesentlicher Un-
terschied zwischen Poesie und Prosa gemacht wurde, die nämli-
chen Regeln für beide galten, so dass die echt französischen
Kunstrichter das dem Buffon häufig beigelegte Wort stets zu
dem ihrigen gemacht haben, von einem Gedichte, das sie rüh-
men Avollten, zu sagen: cela est beau comme de belle prose.
Die ganze Literatur war formell und conventioneil, der Hof
war der Parnass und die von dem Cardinal Richelieu im Jahre
1635 gestiftete französische Academie decretirte Unsterblich-
keit und Verdammung. Die Classik der Franzosen ist demnach
ein Product der Gelehrsamkeit, wie die Literatur der alexan-
drinischen Griechen, daher — bei aller Achtung vor den emi-
nenten Talenten, die sie aufzuweisen hat, muss es gesagt wer-
den — ihre Vernachlässigung und Missachtung der Natur, ihre
Gemachtheit, ihr gefrornes Pathos, ihre bloss rhetorische Be-
geisterung, welche die hölzernen Dämme der Convenienz nie
oder doch nur höchst selten zu übcrfluthen kräftig und kühn
48 Die Dichter der moflorncn französischen Literaturperiode.
genuo- ist. Nicolas Boileau Despreaux war es, der den ästheti-
schen Kanon des classischen Zeitalters aufstellte. Wer seine
versificirte Poetik kennt, der kennt auch den Geschmack der
Franzosen im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, der
kennt, sobald er nur urthellen kann, das Gute, aber auch das
Erbübel der französischen Poesie. Sieht man auf Form, Dar-
stellung, Sprache, Versification ^es Werkchens, so ist es vor-
trefflich und verdient die staunende Bewunderung, welche die
Franzosen ihm als einem Symbol erweisen. Verlangt man aber
in einem kritisch-ästhetischen Lehrgedichte etwas Andres, als
eine Kritik der Fehler, welche Dichter gegen Sprache, Styl
und Eleganz begehen können, ist man nicht zufrieden, bloss zu
erfahren, dass der Poet Genie haben und dem bon seus getreu
bleiben müsse, genügt Einem eine Anweisung zum Reimen, die
Warnung sich vor dem Niedrigen zu hüten, nicht; will man
nämlich wissen, was denn eigentlich Poesie ist, so fragt man |
Boileau vergebens. Die Einkleidung eines mittelmässigen Ge-
dankens in edle, gut versificirte Worte, die man bei Hofe hören
lassen könnte, das ist ihm Poesie.
Die ganze Eigenthümlichkeit des modern-antiken Ideals
kam in der dramatischen Poesie der Franzosen zum Vorschein.
Im Roman konnte dasselbe, der Natur der Sache nach, weniger
durchdringen. In der Lyrik herrschte es zwar, allein in einer
unvollkommenen Weise, denn die alten Töne der ursprünglich j
proven^alischen Lyrik kehrten immer zurück: die italienischen ]
Formen, deren man nicht mehr entrathen konnte, waren ja
theilweis aus ihr hervorgegangen. Die quantitätslose Sprache
und der Reim machten hier eine völlig servile Nachahmung der
Alten unmögHch. Im Drama aber konnte das modern-antike
Ideal bis zu einer Vollständigkeit und Reinheit sich durchsetzen,
wie sie in der Lyrik und Epik unmöglich war. Dennoch ist
es ein Irrthum, wenn man sich , wie es sehr häufig geschieht,
vorstellt, dass die Franzosen das romantische Element des
Drama's ganz auszuschliessen vermocht hätten. Man überzeugt
sich nämlich bei näherer Betrachtung, dass eine sehr umfang-
reiche Assimilation des spanischen Dramas stattfand; dass die
strenge Scheidung der Tragödie und der Komödie sehr allmälig
erfolgte und das Extrem der pieces ä scenes detachees , so wie
[Die Dichter der modernen französischen Literaturperlode. 49
die Farcen des Volkstheaters immer neben sich liatte, und dass
in der Entstehung der sogenannten comedie larmoyante sich im
Grunde nichts Andres als das romantische Element wieder gel-
tend machte. Die französische Tragödie hat als reines Kunst-
werk der gelehrten Berechnung den unpopulärsten Ursprung.
Weil man die griechische Tragödie für die vollkommenste hielt,
so strebte man ihrer regelmässigen Form nach. Weil bei der
grossen Einfachheit der von den Griechen behandelten Stoffe
man leicht bemerken musste, dass die Handlung des Dramas
bei ihnen in der ßegel an einem und dem nämlichen Orte und
an einem und dem nämlichen Tage vor sich ging, auch Aristo-
teles diese Bemerkung schon gemacht hatte, Horaz aber, man
weiss nicht recht woher, die Eegel aufstellt, das Drama müsse
fünf Acte, nicht mehr und nicht weniger, haben, so glaubte man
in diesen Gewohnheiten der Alten die lange gesuchten Regeln,
die sogenannten drei Einheiten, die Einheit der Handlung näm-
lich, die sich freilich von selbst versteht, mit eingeschlossen, ge-
funden zu haben, und dies von Boileau ausgesprochene Gesetz
galt seitdem für einen Fundamentalartikel des ästhetischen Glau-
bens bei den Franzosen. Weil man ferner mit Aristoteles
glaubte, der Zweck einer Tragödie bestehe in Erregung der
Affecte der Bewunderung und des Mitleids, so legte man es
auch hierauf lediglich und geflissentlich au. Man betrachtete
das Theater als einen galvanischen Apparat zur beliebigen Er-
regung interessanter Nervenzuckungen. Man operirte mit der
Behutsamkeit und der ausgeklügelten Vorsicht eines experimen-
tirenden Physikers. Man berechnete Scenen für möglichst
starke und möglichst interessante Empfindungen. Um die
Empfindungen stark zu haben, wählte man lauter heroische
Charaktere und nahm daher die Personen am liebsten aus der
heroischen Eömerzeit. Die Folge jenes ersten zwingenden Ge-
setzes war einerseits der Ausfall aller grossen , wahrhaft er-
schütternden Scenen, die nur in der Wechselwirkung des heroi-
schen Individuums mit der Masse, die nur in der Berührung
mit den ewigen Mächten der Natur, mit Wald und Berg, Strom
und Meer, Erde und Himmel möglich sind; andrerseits die
Nothwendigkeit, den breiten Hintergrund eines V^olkslebens und
der Natur doch zur Anschauung zu bringen, was man nur
Archiv f. n. Siaachcn. XLVIH. 4
50 Die Dichter der modernen französischen Literaturperiode.
durch ärmliche Surrogate vermochte, durch Beschreibungen von
Schlachten, Ungeheuern, Stürmen, durch Briefe, Monologe, na-
mentlich aber durch die sogenannten Vertrauten, welche dem
Helden oder der Heldin von allem Wichtigen und Geräusch-
vollen, was sich draussen begiebt, erzählen. Die Declamation
musste daher der Mittelpunkt der ganzen Darstellung werden;
denn ihr ward es zugemuthet, alles das für die Phantasie des
Hörers hervorzuzaubern, was er selbst hätte sehen und hören
sollen. Die Folge dieses zweiten Irrthums aber war, dass man,
um seltene, interessante und kostbare Empfindungen zu bekom-
men, die Personen in widersprechende Verhältnisse setzte, wo
ihre Seelen einen seltenen und unverhofften Farbenwechsel der
Aflfecte entwickeln mussten. Hieraus entsteht ein Antithesen-
spiel. Man strebt nach Antithesen in den Verhältnissen der
Personen gegen einander, in ihren Situationen, in ihren Leiden-
schaften und endlich auch iu ihren Worten. Der Begründer
dieses tragischen Schachbretts ist Corneille, sechs Jahre jünger
als Calderon. Pierre Corneille bewegt sich in der Dialectik
der Collision , dass die Erfüllung der Pflicht zugleich die
Pflicht verletzt.
In Cinna ist ein Kampf des Gefühles der Dankbar-
keit mit dem der Liebe gesetzt. Der Kaiser Augustus
überhäuft den Cinna mit Vertrauen und Wohlthaten. Dies er-
regt seine Dankbarkeit in hohem Grade. Aber Cinna liebt auch
Emilie, und diese schenkt ihm ihre Liebe nur um einen hohen
Preis. Der Preis ist, dass er sich ihr durch einen Schwur ver-
pflichten muss, den Kaiser zu ermorden. Das Resultat dieser
Antinomie ist ein chamäleonischer Farbenwechsel seiner Ge-
fühle, welchem dadurch ein Ende wird, dass der Kaiser die
Gefahr entdeckt und dem Cinna verzeiht. Emiliens Gefühle
aber bilden durch ihren reinen Heroismus gegen die des Cinna
eine interessante Antithese. Auch sie empfängt vom Kaiser
Vertrauen und Wohlthaten, wie Cinna; aber je höher dieselben
steigen, desto mehr stählt sie ihr Gemüth zum Widerstand.
Die Ursache ist, weil der Kaiser ihren Vater durch Proscrip-
tion hatte hinrichten lassen und weil sie, je grösser des Kaisers
Wohlthaten sind, desto mehr fürchtet, von ihnen im Gemüthe
bestochen zu werden, und folglich desto mehr den Rachege-
Die Dichter der modernen französischen Literaturperiode. 51
danken mit künstlicher Energie in sich hervortreibt. Der
Heroismus der Emilie ist noch höher gesteigert im Charakter
der Pulcheria in der Tragödie Heraclius. Pulcheria ist die
Tochter des Kaisers Mauritius , durch dessen Ermordung sich
Phokas den Weg zum Throne gebahnt hat. Sie wolint mit dem
Tyrannen in einem Hause, sie empfängt Wohlthaten von ihm,
er will sie sogar mit seinem Sohne vermählen. Sie aber wi-
dersetzt sich nicht allein dieser Verbindung, sondern behandelt
den Phokas als einen Niederträchtigen und sagt ihm in's Ge-
sicht , dass sie auf seinen Tod sinne. In eben so hohem
Grade, als dies Betragen, frappirt im Contraste dazu der Gleich-
u^uth, womit der Tyrann dasselbe erträgt. Im Polyeukt stellt
der Dichter die siegreiche Macht und die Wahrheit der Ideen
vor Augen und berührt darin die damals viel besprochenen Strei-
tigkeiten über Gnade, Vorherbestimmung und Freiheit. Po-
lyeukt ist Christ, seine Gemahlin Pauline eine Heidin. Pauliiie
liebt ihren Gemahl aber nicht, sondern ihre Liebe hat sich auf
den Sever gewandt, welcher dieselbe erwiedert. Nun treten
zwei interessante Stellungen der Verhältnisse und Gefühle nach-
einander ein. Erstlich: Polyeukt strebt nach keinem Gute so
sehr, als danach, den Tod eines Märtyrers zu sterben. Dies
ist im Grunde das Interesse aller drei Personen , wonach alle
mit gleicher Macht hinneigen. Dahingegen sucht Pauline aus
Pflicht auf alle mögliche Weise den Tod ihres Mannes , den
dieser wünscht, zu verhindern und Sever leistet ihr darin Bei-
stand. Zweitens : Polyeukt stirbt den Märtyrertod. Die Stunde
der Erfülluno; lange geheofter Sehnsucht ist für die Liebenden
gekommen. Nun hingegen lässt sich Pauline durch das glor-
reiche Märtyrerthum ihres Mannes rühren, Wittwe zu bleiben
und zum Christenthume überzugehen. In dieser Tragödie hält
folglich das Hinderniss der Liebe die Liebe aufrecht und die Ver-
tilgung ihres Hindernisses vertilgt zugleich die Liebe mit. Im Tode
des Pompejus gesteht Cleopatra, den Cäsar auf's Feurigste zu lie-
ben. Aber der Ruhm bewegt sie noch mehr und zwingt sie,
Alles für den Pompejus gegen ihren Geliebten zu thun. Sie han-
delt also für den, den sie hasst, und streitet gegen den, welchen sie
liebt. Dieselbe Complication der Gefühle ist angebracht irii Cid,
den die Franzosen als ihr grösstes Meisterwerk zu bewundern
52 Die Dichter der modernen französischen Literaturperiode.
gewohnt sind, obschon er keineswegs Original ist, sondern nach
Plan und Ausführung nur eine verschmelzende Bearbeitung
und stellenweis wörtliche Uebersetzung zweier gleichnamigen
spanischen Stücke von Guillem de Castro und Juan Bautista
Diamante, die Corneille nach gehöriger Entfernung des Roman-
tischen für die französische Bühne gewann. Eodrigo liebt Xi-
mene und wird von ihr wieder geliebt. Ximenens Vater be-
leidigt den Vater Rodrigo's aufs Schimpflichste und dieser
trägt dem Eodrigo für ihn die Rache auf. Rodrigo tödtet Xi-
menens Vater im Zweikampf. Ximene fleht den König um Rache
an gegen ihres Vaters Mörder, den sie nicht allein auf das leiden-
schaftlichste liebt, sondern in dem sie noch dazu den Rächer seines
Vaters ehrt. Die Horatier sind das Meisterwerk Corneilles. Hier
schlägt jeder Schlag verschiedenartige Verbindungen. Die Fi-
guren sind mit der Regelmässigkeit eines Schachspiels einander
gegenüber geordnet. Die drei Brüder Horatier in Rom haben
eine Schwester Camilla, welche Braut des einen Curiatiers ist,
und die drei Brüder Curiatier in Alba haben eine Schwester
Sabina, welche Gemahlin des einen Horatlers ist. Nun folgen
drei Schläge, welche entgegengesetzte Empfindungen in den
Personen erregen. Die Horatier werden beordert , gegen die
Curiatier auf Leben und Tod zu fechten. Die Gefühle der
Freundschaft treten mit denen des Patriotismus in Conflict.
Beim Gemahl der Sabina bewirkt die Furcht, durch die Freund-
schaft gegen die Interessen des Vaterlandes bestochen zu wer-
den, ein künstliches Hinauftreiben der patriotischen Gesinnung.
Er spricht : „Mit einer ebenso grossen und aufrichtigen Freude,
als womit ich die Schwester heirathete, werde ich den Bruder
bekämpfen." Beim Bräutigam der Camilla dagegen zeigen
sich beide Gefühle im einfachen Conflict. Der Horatier spricht
zum Curiatier: „Geh, Alba hat dich ernannt, ich kenne dich
nicht mehr." Der Curiatier antwortet ihm: „Ach, ich kenne
dich noch, und das ist's, was mich tödtet." — Es kommt die
Nachricht, dass zwei Horatier getödtet seien, und der dritte,
nämlich der Gemahl der Sabina, fliehe. Sabina, welche durch
diese . Nachricht sowol ihren Gemahl als ihre Brüder gerettet
sieht, empfängt davon eine stille Freude. In Camilla vermischt
sich der Schmerz über den Verlust zweier Brüder mit der
Die Dichter der moderneu französischen Literaturperiode. 53
Freude über die Rettung ihres Geliebten. Der Vater der Ho-
ratier aber tobt in Verzweiflung über die Feigheit des fliehenden
Sohnes. Er Avünscht sich Glück zu dem Verluste der beiden
andern und klagt nur um die Erhaltung des letzten Zweiges
seines Geschlechts. Doch bald meldet ein Bote den Ausganir
des Kampfes. Der Horatier hat durch seine verstellte Flucht
gesiegt. Sabinens frohe Stimmung sinkt. Camillens Seele
taucht sich in heimliche Verzweiflung. Den alten Horaz bringt
der Sieg Roms, der Ruhm seines Stammes , die Erhaltung sei-
nes Sohnes zu hoher Entzückung.
In allen seinen Stücken rollt Corneille eine Welt toU
grossartig angeregter und energischer Naturen vor uns auf, und
sein Sinn war, nicht allein durch Schrecken und Mitleid, son-
dern auch durch Bewunderung den ethischen Zweck der Tra-
gödie, die Reinigung der Leidenschaften, zu erreichen. Von
der stillen Schönheit, in der der höchste poetische Genius sich
kund thut, von jener Einfachheit und Wahrheit, mit der Shake-
speare malt, ist nichts in Corneille. Corneille's Cleopatra
wird der shakespearschen gegenüber fast lächerlich. Viel
Schein-Grosses waltet bei geringem innern Zusammenhange an
seinen Stücken; die innere Nothwendigkeit kommt in allen zu
kurz. Corneille's Ilauptverdienste bestehen in dem Adel seiner
Gesinnung, Avelche ihn vor der Gemeinheit und Plattheit seiner
Vorgänger bewahrte, und in dem männHchen, oft erhabenen
Tone seiner Sprache ; Verdienste, welche aber nicht selten, auch
in den bessern Stücken, durch Härte des Ausdrucks, Geschro-
benheit der Gedanken und politischen Bombast verdunkelt wer-
den. Die französische Kritik hält pich vorzüglich an gewisse
Schlagworte und glänzende reparties, welche in seinen bessern
Stücken vorkommen, etwa wie die Italiener während der genial-
sten Oper plaudern, um nachher diese oder jene Arie zu be-
wundern.
In diesen Formen, welche Corneille mit correcter Schroff-
heit festsetzte, dichtete Racine fort, mit minderer Affection
der Empfindung und mehr Wirkung auf's Herz. Racine hat
auch die Entzweiung des sittlichen Gefühls mit sich selbst zum
tragischen Ausgangspunkte, allein ohne den subtilen Antago-
nismus Corneille's , ohne die Unnatur in der Lage seiner Hei-
54 Die Dichter der modernen französischen Literaturperiode.
den und Heldinnen. Jean Racine, um 33 Jahre jünger als
Corneille, behauptet unter allen französischen Dramatikern unbe-
stritten den ersten Rang. In der Kunst des poetischen Aus-
drucks und des Versbaues hat ihn kein Anderer erreicht, und
wenngleich er das System der französischen Tragödie nun schon
80 fest ausgebildet fand, dass es ihm gar nicht einfallen konnte,
davon abzuweichen, so gaben ihm doch seine gründliche Kennt-
niss des ^Iterthums und namentlich der Griechen, sein natürli-
cher richtiger Tact und sein für Zärtlichkeit und Religion
empfängliches Gemüth einen unendlichen Vorzug vor allen sei-
nen früheren und späteren Kunstgenoseen. Geht man einmal
von der Voraussetzung aus, dass die Helden des Alterthums un-
sere Vorstellungen, Sitten und Gefühle haben konnten, dass ihre
bürgerlichen und häuslichen Verhältnisse den unsrigen ähnlich
gewesen, übersieht man einige Widersprüche, welche allerdings
aus diesen Anachronismen unvermeidlich hervorgehen, wie
z. B. , dass moderne Liebe und moderne Stellung der Frauen
mit Menschenopfern und mit den Vorstellungen der alten My-
thologie sich schlecht vertragen; übersieht man diese und ähn-
liche Mängel, welche den Zeitgenossen auch dadurch weniger
fühlbar wurden, dass die tragischen Helden in dem damaligen
Hofcostüme auftraten, so wird man gestehen müssen, dass Ra-
cine Alles geleistet hat, was unter solchen Umständen und Vor-
aussetzungen nur möglich war, und man begreift, dass mehrere
seiner Stücke noch in diesem Augenblicke mit Enthusiasmus
auf dem Theater begrüsst werden. Im Allgemeinen muss man
gestehen, dass ihm die Frauenrollen bei Weitem besser gelun-
gen sind, als die der Männer, was seinen Grund wol nur in
seinem eigenen, etwas weichen Charakter hatte.
Mit Uebergehung einiger schwächeren, aber doch immer
noch bedeutenden Jugendarbeiten stützt sich der Ruhm Racine's
vorzüglich auf seine Andromache, worin zum ersten Mal die
Liebe einen natürlichen und wahren Ausdruck gefunden; auf
seine Phädra, in welcher wenigstens die Hauptrolle von entzü-
ckender Schönheit ist; auf seine Iphigenie, an der nur das zu
tadeln, dass in diesem Stücke mehr als in den meisten übrigen,
die Sitten allzu sehr modernisirt und die antik feststehenden
Charaktere zu sehr alterirt,/ sind. Ebenso vortrefflich , ja im
Die Dichter der modernen französischen Literaturperiode. 55
Ganzen sogar den früher erwähnten Stücken vorzuziehen, ist
der Britanniens, worin man sieht, mit' welchem tiefen Geiste
der Dichter den Tacitus gelesen. Hier ist die Schilderung des
verfeinerten, von Tücke und Ränken umstrickten römischen Ho-
fes zu Nero's Zeit besonders interessant und gelungen, weil die
ähnlichen Zustände des französischen Hofes unter Ludwig XIV.
dem Dichter dabei vor der Seele standen, was seinem Gemälde
Farbe und Leben giebt. Denn ein unbedingtes , rücksichtslo-
ses Ergreifen und Wiedergeben des Gegenstandes wurde nur
da recht durchführbar, wo das gesellschaftliche Leben selbst
denselben bildete. Mehr ein höfisches Idyll als eine Tragödie
ist dagegen Berenice, welche ihr Glück nur den obwaltenden
Hofverhältnissen verdankte. Der Verdruss darüber, dass eine
Partei den alten Corneille gegen den jungen Dichter zu halten
suchte, eine andere gar ihm einen ganz unwürdigen Nebenbuh-
ler entgegen setzte, verbunden mit religiöser Aengstlichkeit, da
die Geistlichkeit das Theater perhorrescirte, bewogen den Dich-
ter, sich ganz vom Theater zurückzuziehen, und nur die Er-
munterungen und der Befehl der Frau von Maintenon konnten
ihn dahin bringen, wieder dramatische Arbeiten zu unterneh-
men. Aber diese Arbeiten sollten wenigstens nicht im Sinne
der Welt sein. So entstand die Esther, ein schwaches Pro-
duct, welches indessen, durch die frivolen Anspielungen auf da-
malige Hof intriguen , welche die Höflinge darin fanden, mit
grossem Beifall in der Erziehungsanstalt für junge adlige Mäd-
chen in St. Cyr von diesen selbst dargestellt wurde. Seine
Athalie dagegen, der Schwanengesang des Dichters und zu-
gleich sein grösstes Werk, wie das gediegenste Drama der
französischen Literatur überhaupt, ward so kalt aufgenommen,
dass sie nur einmal dargestellt wurde und den Dichter veran-
lasste, sich nun in gerechtem Unmuthe gänzlich von der theatra-
lischen Laufbahn zurückzuziehen. In der Athalie waltet statt
der französischen Convenienz, welche sonst das Theater zum
Wohnsitz der Unnatur machte, wirklich die tragische Würde
der Griechen, ein sophokleischer Hauch, d. h. ein harmonischer
Einklang von Zartheit und Hoheit, Anmuth und Kraft durch-
zieht das Ganze, das grossartige Element des^ hellenischen
Chors ist in echt antikem Sinn in die Handlung verflochten.
56 Die Divhter der modernen französischen Litcraturperiode.
die Handlung hat die Majestät einer nationalen Krisis, die
Scene die OefFentlichkeit und Weite des Volkslebens , und die
fromme Begeisterung des Dichters, welche das Stück durch-
ü-liiht, lest ihm kühne und erhabene Worte heiligen Eifers auf
die Lippen , welche gegenüber der Despotie Ludwigs XIV.,
o-eirenüber der raffinirten Genusssucht eines verworfenen Hofes,
iregenüber dem schwelgenden Uebermuthe des Adels und der
Geistlichkeit, gegenüber endlich dem Elend und der Blosse
eines beraubten und misshandelten Volkes wie eine prophetische
Ankündigung des Gerichtes der Revolution klingen :
Was bleibt von all dem Glück, das ihnen lacht?
Was von dem Traume bleibt, wenn man erwacht.
O des Erwachens Schreckensaugenblick !
Indess an deinem Tisch, o Herr, der Arme
Sich laben wird am ewig süssen Glück,
Gesunden wird von jedem Erdenharme,
Trinkt der Verbrecher Schaar in ew'gen Qualen
Die unerschöpflich bittern Leidensschalen,
Wozu dein Zorn, am Tage des Gerichts entflammt,
Das ganze schuldige Geschlecht verdammt.
Das gute Glück Ludwigs XIV. wollte es, dass zugleich
mit jenen Meistern der tragischen Kunst auch der grösste Lust-
spieldichter der Franzosen auftrat. Wenngleich die Bewunde-
rung der französischen Kunstrichter, welche ihren Moliere unbe-
dingt für den ersten Komiker aller Völker und aller Zeiten
halten, eine entschieden unbegründete und verkehrte zu nennen
ist, so ist doch ebenso gewiss, dass ihm wenigstens in Frank-
reich kein früherer und kein späterer Komödiendichter auch nur
entfernt zu vergleichen ist. Es gab eine Zeit, in welcher Mo-
liere's Verdienst in der Weise überschätzt wurde , dass das
durch ihn begründete Lustspiel für die in jeder Hinsicht voll-
endetste Form der Komödie galt. Auch gegenwärtig wird die
unbefangene ästhetische Kritik aussagen, dass Moliere das Le-
ben, insofern es innerhalb der Formen geselliger Verhältnisse
sich bewegt, nach den vielseitigsten Richtungen hin, unüber-
trefflich dargestellt hat. Die Thorheiten, Narrheiten und sittli-
chen Verirrungen, die beim Anbhck des Weltlebens uns zunächst
entgegentreten, erkennen wir auch in Moliere's Dramen so treu
und wahr wieder, dass wir an jenen Ausspruch des alten Gram-
matikers über den berühmtesten Dichter der neueren griechi-
Die Dichter der modernen französischen Literaturperiode. 57
sehen Comödie , Menander, von Neuem erinnert werden:
„O Leben, o Menander! Wer von euch Beiden hat dem An-
dern nachgeahmt?" Nur Einzelnes dieser Portraitmalerei er-
scheint uns gegenwärtig als veraltet und erweckt, indem nur je-
ner Zeit Anfjehörio^es berührt wird, kein eigentliches Interesse
mehr. Welt häufiger jedoch ist es, dass Moliere solche Züge
dem Individuellen ablauscht, die der menschlichen Natur we-
sentlich sind, und die daher auch in dem gegenwärtigen Zeit-
alter nicht fehlen.
Bei dieser Liebe zur Portraitmalerei ist dem französischen
Lustspieldichter eine Feinheit und Schlauheit der Beobachtung
eigen, welche auch das Im Innern des Menschen Verborgene
ungemein glücklich auffindet und Andern sichtbar zu machen
weiss. Daher kommen denn hier die feinsten Nuancen und
Schattlrungen des Seelenlebens zum Vorschein , und die durch
den Dichter in uns hervorgerufenen Gestalten entbehren selbst
der mimischen Lebendigkeit nicht. Wie nun aber Mollere's
Talent In der Darstelluns; der Portraitwahrheit als eines der
grössten ?ich zeigt, so ist andererseits auch einzuräumen, dass
der eigentliche Humor, der das Endliche dem Unendlichen ge-
genüberstellt, diesem Dichter mangelt. Das Leben, insofern es
an die socialen Verhältnisse gebunden ist, wird von diesem
oder jenem Gesichtspunkte aus ungemein hell beleuchtet, aber
an dem Individuellen kommt nicht, wie dies in den Schöpfun-
gen der höchsten Kunst stattfindet, die volle Wahrheit, die dem
Menschen innewohnt , zur Erscheinung. Indem nun Mollere
nicht die Welt überhaupt, Insofern sie der Thorheit ergeben ist,
belacht, sondern einzelne Momente der Wirklichkeit, die lächer-
lich sind, als solche herausstellt, so Ist es einmal das sub-
jectlve, oder das allein aus psychologischer Beobachtung her-
vorgegangene Komische, das andre Mal dagegen das objective
Komische, oder der an dem äussern Gegenstande leicht wahr-
nehmbare Contrast, was uns vorgeführt wird. Diese beiden
Extreme des feinen und derben Komischen , die in dem Hu-
mor zur Identität vermittelt sind, treten In Mollere's Drama so
schroff einander gegenüber, dass die sämn)tllchen Schauspiele
In zwei Klassen, als die dem gewöhnlichen Ernste nahe kom-
menden Charakterstücke und als die den eigentlichen Scherz
58 Die Dichter der modernen französischen Literaturperiode.
darstellenden Possen sich von einander sondern. Die Charak-
terstücke, denen Tartüffe, der Geizige, der Misanthrop, die ge-
lehrten Frauen u. a. angehören , sind schon dem Geiste des
soa'enannten bürgerlichen Drama sehr verwandt und mit Aus-
nähme einiger rein komisch gehaltenen Scenen beruht hier das
Lächerliche gewöhnlich in solchen Zügen, die in Folge seiner
Beobachtungen den Charakteren abgewonnen sind. Man hat
den Charakterstücken als Tadel vorgeworfen, dass in denselben
eine bestimmte didactisch-satyrische Tendenz geltend gemacht
und dadurch dem Interesse des eigentlichen Drama Abbruch
gethan werde. O bschon aber diese Schauspiele hin und wie-
der einen gewissen Ernst, der an die Prosa des gemeinen Le-
bens erinnert, verrathen, so sind sie doch keine nur in drama-
tischer Form abgefasste Lehrgedichte. Moliere versteht die
Kunst, das Interesse des eigentlichen Bühnenspiels und das
didaktische Element miteinander auszugleichen. Wie er das
Letztere mitspielen lässt, ist es in den meisten Fällen der Art,
dass die wirkliche Handlung, die derselben nothwendige Bewe-
gung und der in Folge der Leidenschaft hervortretende Con-
flict, nicht beeinträchtigt wird. Wenn moralische Lehren beitje-
seilt werden, so entsprechen diese gewöhnlich den Charakteren
und den Situationen, worin jene sich gerade befinden. So wird
das Abstracte , Dürre, Avas die gewöhnliche Moral als solche
an sich trägt, vermieden und das didaktische Interesse verdrängt
nicht mehr das individuelle Leben. Die Hauptcharaktere dieser
Dramen wurden , was die psychologische Wahrheit betrifft, mit
Recht von jeher bewundert, und manche derselben dürfen auch
noch gegenwärtig als Repräsentanten der Gattung betrachtet
werden. Das Typische einiger dieser Charaktere finden wir
freilich bereits in der griechisch-römischen Comödie, die über-
haupt auf die ganze Darstellung des französischen Lustspiel-
dichters sehr vielen Einfluss ausübte. L^nter denjenigen Cha-
rakteren, die erst durch Moliere auf die Bühne gebracht sind,
bleibt Tartüffe der bedeutendste. In diesem ist das Bild des
Heuchlers in so scharfen, bestimmten Zügen aufgestellt, dass
ähnliche Versuche späterer Dichter geAvöhnlich nur als matte
Abschattungen jenes Molierischen Originals erscheinen. Ueber
den Geizigen urtheilt Lessing: „Moliere und Plautus haben
Die Dichter der modernen französischen Literaturperiode. 50
statt der Abbildungen eines geizigen Mannes uns eine grillen-
hafte niedrige Schilderung des Geizes gegeben." Obschon
solchem Tadel Wahrheit zum Grunde liegt, so ist doch die dem
Bilde des Geizes verliehene mimisch-dramatische Lebendigkeit
der Art, dass dieses Bildes Züge und diejenigen, die wir an
dem Geizigen des gemeinen Lebens wahrgenommen haben, für
die Erinnerung unwillkürlich in einander übergehen.
Noch vortrefflicher als Charakterbild erscheint uns der
Misanthrop. Viele Individuen, die bei Adel der Gesinnung und
entschiedenem Talente doch zu leidenschaftlich bewegt sind,
um die innere Idealwelt mit dem wirklichen, gemeinen Leben
auso'leichen zu können, «glaubt man im AIcest wiederzusehen.
In der Schule der Frauen verdient vor Allem der Charak-
ter der Agnes grosses Lob. Wie in dem naiven, kindlichen
Gemüthe, ohne dass es sich dessen eigentlich bcAvusst wird,
die Liebe erwacht, und dann das Mädchen auch der Intrigue
nicht widerstehen kann , — dies ist hier überaus schön darge-
stellt.
Ebenso müssen wir in den gelehrten Frauen eine seltene
psychologische Wahrheit bewundern. Diese Damen haben durch
das Studium der (jrrammatik keineswegs die höhere, ideale Na-
tur ausgebildet und Gefallen an dem Echten und Wahren der
Dichtkunst gewonnen. Sie sind im Gegentheil lächerliche, ab-
geschmackte Pedantinnen geworden, die, dem Natürlichen feind,
auch das Absurde, Geckenhafte anstaunen können. Zugleich
lässt der Dichter, ganz in Uebereinstimmung mit dem wirkli-
chen Leben, die Leidenschaft des Weibes auch an diesen ge-
lehrten Damen in aller Grellheit hervortreten. Verschieden von
den Charakterstücken sind, was die Auffassung des Lebens
überhaupt und die künstlerische Composition anlangt, die ei-
gentlichen Possen unsers Dichters , wie der Bauer als Edel-
mann, Herr von Pourceaugnac , der eingebildete Kranke , der
Arzt wider Willen u. a. Das Bild des Lebens, welches Me-
liere in seinen Possen uns aufstellt, ist ein sehr treues. Die
Arroganz und Unwissenheit der Aerzte, die Schwäche der
unter dem Pantoffel der Frauen stehenden Ehemänner und die
Aufgeblasenheit derjenigen Individuen , die bedeutender erschei-
nen möchten, als sie wirklich sind, wird überaus witzig und in
CO Die Dichter der modernen französischen Literaturperiode.
sehr glücklich gewählten Situationen zur Anschauung gebracht.
Nicht minder zeigt sich Moliere's Meisterschaft in Darstellung
gewisser weiblicher Charaktere ; denn sowol die Verschroben-
heit verbildeter Bürgertöchter, die Interesse für Naivetät und
Genialität affectiren, als auch die Intrigue und Unverschämt-
heit, vermöge der das lieblose, herrschsüchtige Eheweib den
Mann ganz umstrickt hält, weiss der Dichter in sehr sprechen-
den, frappanten Zügen der Einbildungskraft vorzuführen.
Was an der Moliere'schen Posse weniger zu loben ist, ist
dies, dass das Ganze eine gewisse Beschränktheit zeigt, dass
nicht die Welt überhaupt, vielmehr das Einzelne es ist, was
komisch behandelt wurde. Indem der wirkliche Humor, der
Scherz und Ernst in einander übergehen lässt, fehlt, muss der
Dichter, um seinem moralischen Bewusstsein Genüge zu thun,
der lächei'lichen Welt noch den Ernst, als ein zufälliges, ab-
stractes Moment mitgeben. Dieser Ernst nimmt nun aber nicht
selten die Form der eigentlichen Strafrede an und verhindert
dann, dass in uns die rein komische Heiterkeit, das behagliche
herzliche Lachen sich einfindet. Eine gewisse Abstraction, ein
Vorherrschen des nüchternen Verstandes verhindert, dass der
französische Lustspieldichter die Idee, in der auch der Gegen-
satz des gewöhnlichen Scherzes und des gewöhnlichen Ernstes
sich ausgleicht, gewinnen kann. Die schwächste Seite an Mö-
llere ist die Erfindung, und man weiss , wie er Bezugs dersel-
ben einerseits der italienischen Volkskomödie wie dem spani-
schen Intriguenstücke, andererseits dem Plautus und Terenz
wie den altfranzösischen Fabliaux und dem grossen ßabelais
viel verdankt.
Es ist eine auffallende Thatsache, dass, während die dra-
matische Poesie in ihrer Art den Gipfel einer freilich höchst
einseitigen Vollkommenheit in diesem Zeiträume erreichte, die
epische dagegen nur äusserst schwache und gradezu verunglückt
zu nennende Versuche aufzuweisen hat. Der Grund liegt nicht
darin allein, dass sich die Franzosen, wie für das Drama, so
auch für das Epos aus den Werken der Alten wunderliche,
beengende Regeln abstrahirt haben, sondern er scheint vielmehr
tiefer zu liegen in dem innersten Wesen des Nationalcharak-
ters, welcher weder die Geduld hat, ein grosses Ganze mit
Die Dichter der modtmen fianzüsisclicn Literaturperiode. Gl
Ruhe auszuführen, noch auch den Ernst, ein solches auch nur
zu ertragen. Daher die Vorliebe der Franzosen für kleine,
meist komische oder erotische Erzählungen und ihre gänzliche
Unfähigkeit, eine heroische Zeit zu begreifen, darzustellen und
zu geniessen. Den meisten Dichtern, welche es unternommen,
epische Dichtungen zu schreiben, fehlt es keineswegs an Er-
findung, an Phantasie, zum Theil sogar an wahrhaft poetischen
Elementen ; aber was Allen fehlt, das ist die Ehrfurcht vor dem
selbst gewählten Gegenstande; sie glauben selbst nicht an die
Wunder, die sie uns erzählen, und verfallen daher alle mehr
oder weniger in leeren Schwulst , hochtrabende Phrasen und
Bilder, welche den Leser nur ermüden, aber keineswegs zu
fesseln im Stande sind. Es ist nicht etwas innerlich Erlebtes
und Geschautes, etwas sie selbst Hinreissendes und Fesseln-
des, was sie vortragen, sondern nur ein künstliches Machwerk
ohne inneres Leben. Die Lust der Franzosen an komischen,
besonders erotischen Erzählungen und Schwänken, wie sie
sich in den zahlreichen contes und fabliaux der ältesten Zeit
kund giebt, findet sich in jeder Periode ihrer Literatur wieder.
Hier sind in dieser Art zu nennen die sittlich allerdino-s ver-
werflichen aber in der Darstellung einzigen poetischen Erzäh-
lungen Lafontaine's, ewige Muster einer heitern, geistreichen
und anmuthigen Erzählung schalkhafter Begebenheiten, welche
er meist aus jenen alten fabliaux, zum Theil aber auch aus dem
Ariost und Boccaccio geschöpft hat. Denselben Älann , der
überhaupt einer der eigenthümlichsten und wunderlichsten iMen-
schen seiner Zeit gewesen ist, haben wir auch als Fabeldichter
Avahrhaft zu bewundern. Seine Fabeln muss man durchaus
meisterhaft nennen, sobald man nur nicht vergisst, dass auch
die Natur sich bei jedem Volke dem Geiste auf eine ei-
genthümliche Weise offenbart; und eben dies, dass Lafontaine
sich ganz als Franzose in die Natur und in die Verhältnisse
der Thiere versenkt, dass ihm die Thiere, man möchte sagen,
als seine Landsleute erscheinen, dass er sie mit denselben Au-
gen betrachtet, Avie er die Menschen betrachtet, das giebt seinen
Fabeln den unaussprechlichen Reiz , und wird sie nie veralten
lassen. Es ist in ihm etwas von dem, was wir an unserm He-
bel bewundern. An Innerlichkeit und Wahrheit, an Schalk-
G2 Die Dichter der modernen französischen Literaturperiode.
lieit, Gutmüthigkelt und Laune hat ihn keiner seiner Lands-
leute erreicht. Die lyrische Poesie bildet keineswegs einen
Glanzpunkt in der französischen Literatur, wie sehr auch
manche Producte dieser Art von den Franzosen bewundert
werden. Von den verschiedenen Gattungen der Lyrik fehlen
ihnen einige so gut wie ganz. Zuerst das Lied, welches die
innio-sten Beweojun2;en des Herzens in Liebe und Andacht aus-
haucht. In den früheren Perioden finden sich noch manche
schöne, naive und innige Anklänge dieser Art, welche aber bei
der immermehr über das ganze Volk sich verbreitenden höfi-
schen und galanten Bildung entweder in fades Liebesgeschwätz,
oder in ebenso widrige Sentimentalität und Schäferlichkeit aus-
arten. Dann das Kirchenlied, eins der edelsten Juwele der
deutschen Literatur, welches in Frankreich ganz fehlt. Selbst
das Volkslied im germanischen Sinne ist in Frankreich von
jeher unbekannt gewesen; es existirt nur in der Form von
Spottliedern, chansons, und der oft giftigen politischen Satire.
So bleibt denn der französischen Lyrik nur die emphatische,
mit grossen Ansj)rüchen und wenigem Gehalte auftretende
Ode und allenfalls das lustige und gesellige Trinklied übrig.
Die erstere musste jawol ein Gegenstand des Ehrgeizes für
Dichter sein, welche gewohnt waren, ihre Literatur als ein Rin-
gen mit dem Alterthume zu betrachten und es daher nicht
lassen konnten, mit Pindar und Horaz zu wetteifern. An heroi-
schen Oden fehlt es daher der französischen Literatur keines-
Avegs, aber, wie bedeutend auch das Talent einiger Dichter die-
ser Gattung sein mag, sind die französischen Oden doch meist
alle entweder durch niedrige Schmeichelei gegen die Fürsten
und Grossen, an die sie gerichtet, oder durch Steifheit, Schwulst
und mühsam erzwungenen frostigen Enthusiasmus ungeniess-
bar. Selbst der Poman schlug in jener Periode keine neuen
und wahrhaft eigenthümlichen Bahnen ein, da er sich durchaus,
wie wir dies an seinen beiden Hauptvertretern , Lesage und
Scarron, im Einzelnen nachweisen könnten, an spanische Mu-
ster mehr oder minder frei anlehnt.
Geschmack in seiner Reinheit! ist das Losungswort der
classischen Schule der Franzosen: geniale Schöpferkraft, Kraft ^
des Genius, der mit der Natur die wahre Schönheit, die ideale,
Die Dichter der modernen französischen Literaturperiode. 63
zeugt, ist die Losung, an der man die echte Poesie erkennt.
Das Schöpferische wie das Naturwahre, die echte Poesie haben
die französischen Classiker nicht in sich, Racine ist nur davon
angehaucht, und auch bei ihm thut der Zwang weh, der die
Handlung in die Einheit des Ortes und der Zeit, in dieselben
Wände und in den engen Zeitraum eines Tages einzwängt,
nicht auf freien Plätzen die Handlung entfaltet, wie in der Tra-
gödie der Griechen, noch weniger im freien Wechsel des Orts
und der Zeit, wie bei Shakespeare. Die Folgen davon, Ar-
muth und Unwahrscheinlichkeiten, lassen sich durch nichts ver-
decken, selbst Kälte und Langweiligkeiten hängen mit dieser
Einförmigkeit zusammen und national ist diese classische Poe-
sie gar nicht, ob sie gleich die Griechen und Römer und Tür-
ken in der Tracht, der Sprache und den Sitten des französi-
schen Hofes vorführte. Und diese Poesie sollte es sein, die
auf die vaterländische deutsche einen so wesentlichen Einfluss
auszuüben berufen war. Hauptsächlich war es die Erbschaft
der übertriebenen Ausländerei, wodurch das selbstständige Auf-
leben des nationalen Geistes in unsrer damaligen Literatur zu-
rückgehalten wurde. Das siebzehnte Jahrhundert hatte sich,
besonders in seiner zweiten Hälfte, in diesem Bezüge geo-en
das Vaterländische schwer versündigt, von den marinistischen
Italienern den unnatürlichen Schwulst, von den Franzosen Wort
und Wendung leichtfertig entlehnend, beides mit der latinisi-
renden Styhstik der schlesischen Schule vielftxch durchwirkend,
so dass ein buntes Allerlei den deutschen Grundton kaum mehr
hervortreten liess. Was die Productionen selbst angeht, so
zeigten sie meist dasselbe Gepräge. Bei unnatürlicher Auffas-
sung und haltungsloser Ausführung ermangelten sie aller volks-
thümlichen Bedeutung und innerlichen Belebung. Unnatur, Ge-
suchtheit und Zufälligkeit, sinnlicher Luxus und Pretiosität,
falsche Erhabenheit nebst gesinnungsloser Frivolität bei selbst-
gefälliger Breite bildeten die Haupteigenschaften dieser vorgeb-
lich deutschen Literatur um den Anfang des achtzehnten Jahr-
hunderts. Wie wenig auch verkannt werden darf, dass mit den
national-literarischen Strebungen des achtzehnten Jahrhunderts
eich allerdings Bewusstsein und Absicht einer Reaction ge-
gen die Undeutschheit und Geschmacklosigkeit jener unmit-
G4 Die Dichter der modernea tVauzosiscben Literaturperiode.
telbar vorhergehenden Literatarrichtung verband; so kann es
doch der unbefangenen ästhetischen Anschauung nicht ent-
gehen, dass mit wenigen Ausnahmen die Geistlosigkeit und der
Mangel an aller originellen Belebung die Grund züge dieser poe-
tischen Erstlinge des Jahrhunderts bilden. Reinheit und Selbst-
ständigkeit de° Muttersprache und Verbesserung der Form war
es vornehmlich, worauf es ankommen sollte. Obwol gegen die
Undeutschheit gerichtet, tragen diese regenerativen Versuche doch
den Stempel ausländischer Waare. Die Macht des französi-
schen Regelzwanges herrscht über sie und nur hie und da lässt
sich, wie bei Günther und Brockes, eine freiere Bewegung,
welche mehr von enghschem Geiste getrieben wird , erkennen.
So entstand eine Literatur, welche gleichsam französisch in
deutscher Sprache redete und sich durch das Streben nach
technischer Gebildetheit bei Mangel an innerem Gehalte und le-
bendiger Natürlichkeit charakterisirt und die Vertreter derselben
waren meist Männer, die in der grössern gebildeten Welt sich
bewegten, wo französische Gewohnheiten und Lebensansichten
vorzü°glich ihre Herrschaft übten. Mit der Rückkehr der Stuarts
aus Frankreich nach England fand auch der französische Ge-
schmack sofort in diesem Lande eine günstige Aufnahme, wed
sich eine höfische Poesie nach dem Vorbilde von Paris und
Versailles entwickelte. Es war besonders John Dryden, nächst
ihm Joseph Addison, welche dem französischen System huldig-
ten. Aber dies System herrschte nicht nur in Deutschland und
England, sondern breitete sich über ganz Europa aus. In
Spanien wurde es durch Luzan, in Itahen durch Goldoni und
Alfieri, in den Niederlanden durch van der Vondel, in Däne-
mark durch Tullin, in Schweden durch Dalin vertreten. Ueber-
all hat es eine Reaction der nationalen Richtung der Poesie zur
Folge, war aber durch den Kampf mit derselben für die Her-
vorbildung einer höheren rationellen ästhetischen Kritik sehr
wichtig, die sich aus der Widerlegung der Pseudoclassicität als
Resultat ergab. In Frankreich selbst ging ein bedeutsamer
Anstoss zu einem Umschwünge der ästhetischen Anschauungen
zunächst von einem Manne aus, der uns überall in dem folgenden
Zeiträume entgegentritt, von Voltaire. Ein schöpferischer Dich-
ter im höhern Sinne war er gar nicht. Gross ist sein klarer
Die Dichter der modernen französischen Literaturperiode. 65
Verstand, scharf sein Witz, aber nur beweglich und in Vorge-
fundenes sich einschmiegend ist seine Einbildungskraft nicht
neu und gross.
Wenn wir zunächst von dem Tragiker Voltaire reden, so
müssen wir gestehn, dass es ihm unstreitig gelungen, sich sei-
nen beiden grossen Vorgängern als dritter würdig an die Seite
zu setzen, und wenn er auch allerdings nicht die Vollendung
der Sprache ßacine's und vielleicht auch das erhabene Pathos
Corneille's nicht ganz erreicht hat, so zeichnet er eich dagegen
von anderen Seiten vortheilhaft aus, welche eben seinen Vor-
nränoern abirehen. Er war längere Zeit in England gewesen,
O O O O CD o ^
und oboleich er zu seiner Schande zeitlebens oft sehr unver-
ständig über Shakespeare gesprochen, so hatte er sich doch so
viel oremerkt , dass er wohl fühlte , es fehle der französischen
Tragödie an Wahrheit, an geschichtlichem Sinne, an Innigkeit
und Tiefe in der Darstellung der Leidenschaften, besonders
der Liebe, an Llannigfiiltigkeit und theatralischer Wirkung.
Das Alles suchte er nun in seinen Werken zu erreichen ; des-
halb erweiterte er schon den Kreis der darzustellenden Gegen-
stände und führte mit richtigem Takt den ritterlichen Sinn wie-
der in seine Rechte ein ; auch kann man nicht leugnen, dass
ihm der Ausdruck der Liebe unendlich besser gelungen, als
seinen Vorgängern, dass er mehr allgemein menschliche, nicht
bloss höfische Gesichtspunkte und Gefühle darstellt, mehr allge-
meine, philosophisch-religiöse Interessen aufs Theater bringt,
und dass er eben dadurch ergreifender und rührender ist, als
sie. Unter seinen Tragödien zeichnen sich aus: Merope, bei
welcher er indessen sehr Vieles dem MafFei verdankt; Zaire,
in welcher die Darstellung der Liebe und des ritterlichen Sin-
nes vortrefflich ist, dagegen die orientalische Seite des Stückes
ziemlich verfehlt. Sein Meisterstück ist vielleicht Alzire, ein
rein erfundener, aber mit Würde ausgeführter Stoff, in welchem
der Contrast der Civilisation und der amerikanischen Wildheit,
des Christenthums und des Heidenthums, so wie die ritterliche
Liebe vortrefflich aufgefasst und dargestellt sind. Auch Tancrede
verdient alles Lob. Als ganz verfehlt muss dagegen der Ma-
homet erklärt werden. Hier hat der liass gegen Priester thum
und o-eoffenbarte Keligion den Dichter zu den entsetzlichsten
Archiv f. n. Sprachen. XLVllL 5
CG Die Dichter der modernen fra;^zösischen Literaturperiode.
Ungerechtigkeiten gegen seinen Helden, zu einer argen Ent-
stellung der Geschichte und zu den widerwärtigsten Gräueln
hingerissen.
Merkwürdig ist, wie unbedeutend und geradezu schlecht
die vt'enigen Komödien Voltaire's sind; zum deutlichen Be-
weise, dass die vis comica sich auf keine Weise durch \'\'itz
ersetzen lässt.
Voltaire's Henriade ist, trotzdem dass sie an Eleganz der
Sprache und des Versbaues und an einzelnen gLänzenden Par-
tien Alles, was sonst die Franzosen im epischen Fache produ-
cirt haben, weit übertrifft, zu einer blossen historisch-jDoetischeu
Erzählung herabgesunken, die durch ihre frostigen Allegorien
allerwege störend auf den poetischen Genuss wirkt.
Es ist Voltaire gelungen, in seiner schamlosen pucelle die
einzige romantische Heldengestalt Frankreichs im Mittelalter
zu entweihen und das, was der Stolz seines Volkes sein sollte,
in den Koth zu treten. Dabei ermangelt dieses burlesk epische
Gedicht alles Plans, aller Ordnung, alles Interesses ; es ist dem
Verfasser bloss darum zu thun gewesen , seine ohnmächtige
Wuth gegen Alles auszulassen, was einer früheren Zeit ehrwür-
dig und heilig erschien.
Die Bedeutung Voltaire's , der auch im Gebiete des Ten-
denzromanes anregend wirkte, ist eine weltgeschichtliche, und
diese näher zu entwickeln, liegt ausserhalb der Grenzen unse-
rer Aufgabe.
Etwas von deutscher Natur und Innigkeit , welches auch
den Schweizern französischer Zunge nie ganz fehlt, ist in
J. J. Rousseau unverkennbar, und war es eben, was sein Ver-
hältniss zu den Franzosen nie recht innerlich und ungetrübt
werden Hess. Die Schriftstellerlaufbahn hat er ziemlich spät
betreten. Seine erste Schrift, womit er den Preis der Akade-
mie von Dijon erhielt und worin er den Satz durchführte, dass
die Geistesbildung die Menschen zu ihrer Verschlechterung
führe und dass das unmittelbare Naturleben der ideale Zustand
des menschlichen Geschlechtes sei, machte schon grosses
Aufsehen, und wie er mit einem Paradoxon begonnen, so haben
auch die meisten seiner Werke einen paradoxen Charakter.
In seinem contrat social erhebt er dasselbe Thema in eine Art
Die Dichter der modernen französischen Literaturperiode. 67
systematisch-politische Theorie mit bestimmter demokratischer
Tendenz. Besonders aber wurde diese neue Lehre durch seinen
berühmten Roman „Die neue Heloise" für das grössere Publi-
cum vermittelt , welches , durch das romanhafte Interesse leb-
hafter angeregt, hier den naturalistischen Liberalismus in seiner
Gesellschaft mit der feineren Weltsitte sich um so leichter an-
eignen mochte, je fasslicher und eindringlicher zugleich der
Ton ist, womit der Verfasser die Erörterung der wichtigsten
Anoreleocenheiten und Beziehungen des menschlichen Lebens in die
zarten Empfindungen der Liebe zu verweben gewusst hat. Was
die Heloise in dieser verführerischen Form mehr nur gelegent-
lich gab , sollte der einige Jahre später erscheinende Emil in
ernsterer Darstellung vortragen. Es ist hier vorzüglich die
Erziehung und Keligion, auf welche die Lieblingsgrundsätze
des Verfassers angewendet erscheinen. In der Erziehung sucht
Rousseau die Zwecke des physischen Lebens und die unmittel-
bare Brauchbarkeit dem idealen Menschenthume und der stren-
gen Methode gegenüber zu behaupten ; in der Rehgion weiss
er die natürliche Berechtigung des Gefühls und des gesunden
Verstandes der positiven Dogmatik und dem Offenbaruugsglau-
ben, wie der ungläubigen frivolen Genialität gleichmässig ent-
geo;enzusetzen.
Neben Voltaire und Rousseau ist noch Diderot als vor-
nehmster Träger der Polemik gegen den Despotismus, die Un-
natur und die Unwissenheit hervorzuheben. Diderot war der
grosse Lehrer der Franzosen nicht nur, sondern Europa's, der
die technische Cultur durch die geistvollen Artikel seiner Ency-
clopädie, in denen er die Gewerbe vom Standpunkte des Fort-
schritts der Menschheit schilderte, bei der Aristokratie der
Bildung zur Anerkennung brachte; der in der Kunst dem
steifen akademischen Modell gegenüber die Naturwahrheit
empfahl; der im Drama den Triumph des natürlichen Gefühls
über die Schranken der Convenienz feierte. Diderot ist nicht
ohne hohen Einfluss auf Deutschland geblieben. Denn als sich
hier jene grosse classische Periode der Literatur, die in der
Geschichte ihresgleichen nicht hat, vorbereitete, war es Diderot,
dem sich Leasing anschloss, waren es die Griechen und Rö-
mer, aus deren Studium Klopstock seinen Formensinn erkräf-
68 Die Dichter der modernen französischen Literaturperiode.
tigte, waren es die Griechen, Franzosen und Italiener, denen
Wieland nacheiferte ; waren es die Bibel und Shakespeare, de-
nen Herder und die Jünger der Sturm- und Drangperiode hul-
digten ; allein alle diese fremden Ausgangspunkte wurden in ein
Ideal der Humanität aufgelöst, welches dem deutschen Geiste
eigenthümlich geblieben ist und seine höchste Vollendung in
dem Dichter gefunden hat, der von seinem erhabenen Berufe
und der Macht der Poesie hoch, wie kein anderer, gedacht hat.
„Der Dichter, sagt Göthe, fiihlt das Traurige und das Freu-
dige jedes Menschenschicksals mit. Seine empfängliche, leicht
bewegliche Seele schreitet wie die wandelnde Sonne von Nacht
zu Tage fort, und mit leisen Uebergängen stimmt seine Harfe
zu Freud und Leid. Eingeboren auf dem Grunde seines Her-
zens, wächst die schöne Blume der Weisheit hervor — er lebt
den Traum des Lebens als ein Wachender. Er ist zugleich
Lehrer, Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen."
Das Leben der heiligen Brigitta.
Mitgetheilt von
Dr. A. Tobias in Zittau.
Die Stadtbibliothek in Zittau besitzt unter den Handschriften
(Litt. B. nr. 216) das Leben der heiligen Brigitta in deutschen
Versen von WolfF Grün Hiltmar genannt aus Nürnberg, aus
dem Jahre 1611. Das Gedicht ist auf Pergament sehr sauber,
zum Theil mit rothen Buchstaben geschrieben, auf 30 Blatt,
die 10 V2 Centimeter hoch und OVa Centimeter breit sind. Wie
diese Handschrift hieher gekommen, lasst sich nicht mehr be-
stimmen, jedenfalls rührt sie von einem Exulanten aus Böhmen
her, deren viele hier ihren Aufenthalt im 17. Jahrhundert nah-
men und ihre literarischen Schätze der hiesigen Stadtbibliothek
widmeten. Wir lassen eine getreue Copie der Handschrift
folgen :
Zu sonderlichem wolgefallen der Edlen vnd VilEhrntugentreichen
Frauen Brigitam von Wirschberg gebornen Stiberin von
Butten he im Frauen auf Mehrn etc. Wittib auf den heutigen die-
ser Wolgenanten Frauen Ehrlöblichen geburtstag der Heih'gen Sanct
Brigita, zu Lobwürdigem gedechtnuss dedicirt vnd in Reimen gebracht
durch Wolffen Grün Hiltmar genant, an der zum Gosstenhof
bei der Kayserlichen Reichs Stat Nürnberg, Im lar 1611. (Color.
Zeichnung der H. Brigitta.)
Sanct Brigitta Auss Schweden landt,
Geboren ward in Edlem standt,
Ihr Anherr vnd vr Anherr wisst,
Eins grossen Gschlechts gewessen ist.
An Ehr vnd Gut allsambt gar mechtig,
Gottsförchtig, fromb, keusch vnd einträchtig,
Wie dann Sanct Brigitta zuhandt,
selbst hat besucht das heilig Landt,
Als ein Pilgrin zu Gottes Lob,
gewallet ist, zu Sanct Jacob
70 Das Leben der heiligen Brigitta.
Darumb Gott sie in Lieb erkhennt,
Behüettet hat, biss an Ihr endt,
Darfür kein müeh noch fleiss thut sparen,
Wollt vebers wilde Möer auch fahren,
Zubesuchen das heilig Grab,
Dauon hielt sie gross vrsach ab,
Das der Babst vnd vil BischofF gleich,
Ein Samblung betten in dem" Reich,
von des Christlichen glauben wegn,
Ihr Vatter thet gewöhnlich pflegn,
sambt seinem Sohn vnd Brigitta,
Mit grosser Rew vnd Andacht da,
zu Hayll vnd Trost Ihrs gwissens Leichtn,
All Freytags Ire Sündt zu beichtn,
Demütig fridlich sich vertrugn,
Heimblich Ihr Leib mit Geissein schlugn,
Brigitta Mutter war mit Namen,
Ein Edle Fraw von hohem Stammen,
Auss einem Königlichem Gschlecht,
Gottsförchtig, Tugentsamb gerecht,
Vil Gottsheusser vnd Clöster Neu,
Schulen vnd dergleichen gebew
hat sie gestifft vnd begabt Reich,
vngeacht dessen, ob Ir gleich,
Nach Ihrem Adell, Ehr vnd Standt
gebürt zu tragen köstlich gwandt,
Hat siess vnd Brigitta vrlacht,
sich stets beflissen schlechter tracht,
Allss Nun Sanct Brigitta drey Jahr,
von Mütterlichen Brüsten war.
Freudenreich Tugentlich erhalltn,
Da Thette Gottes wunder walltn,
Das dises heillig Zweiglein frumb,
Wurd drey Jahr nacheinander Stumb,
Aber zu vnd des dritten Jahr
Fieng es recht an zureden gar,
mit verstandt deutlich ganzen wortten
Das alle wundert dieser orttn,
Ob dieser rainen sprach so Pur,
Wider die gewonheit der Natur,
Do Nun Brigitta Muter eben,
volstrecken wollt Ir Zeitlichs Lehn,
Da fiell sie in grosse schwacheit,
verschied selig bey kurtzer Zeit,
Sanct Brigitta Ir Tochter frumb
Das Leben der heiligen Brigitta. 71
Befahl sie Irer Lieben Mumb,
solche fürbass an diesem Ort,
Zu ziehen auf nach Gottes worlt,
Allss aber Sanct Brigitta wahr,
Irs Allters im Siebenden Jar,
Das Christlich zweig vnd Edle Frucht,
Zu aller Jungkfreulichen Zucht,
vnd grosser Andacht ward geneigt,
Einstmalss ein gsicht zu nachts sich zeigt
vor Ireni Bettlein in vertrauen
Gestaltsam einer schön Junckfrawen
Mit leichten klaidern sizent ganz,
vmbgeben mit sehr hellem glänz.
Gebildet vnd gezieret schon
habend in Irer band ein krön.
Die Schön Jungkfraw Nun sprach zu Ihr
Brigitta, komb du her zu mir,
Das Maidlein sich nicht saummen thett,
Mit freuden sprang aus Ihrem Bett,
Die Junckfraw redt Brigitta an,
Brigitta wilst du habn die krön.
Auf Ihr Jawortt ganz vnuerlezt
Hat siess Sanct Brigitt aufgesezt.
Mit hellem glänz gar liechtem schein.
Bald ward entzückt diess Junckfreulein,
in starcker lieb durch Gottes k rafft
AVie Nun Sanct Brigitt TugenthafFt,
Ir Allter in das Zehent Jar
Erraicht, vnd wol aufgehen war,
Alss ein Schön Lyllg vnd Edler Stamb,
in allen Tugenten zunamb,
Ihr Junckfreuliche rainigkeit
Bewahret hertzlich allezeit,
vnstrefflich in dem gwissen rein.
Mit höchster demut geziert fein,
Biss entlichen vnd darnach baldt
S : Brigita war zwölfF Jar allt,
Da sie bey Ihrer lieben Mummen,
Zu eim hochen verstandt ist kummen,
Nicht allain in Geistlichen Sachen,
Sie khundt zwar auch vil schönss dings machon,
Von Nehwerck würcken, wiess hat Namb,
Alssdann ein Engel zu Ihr kamb,
Einer Jungkfreulichen Persohn,
Welchen die Mumb Ins Hauss sah gohn,
72 Das Leben der heiligen Brigitta.
Der sich alssbalden vnuerletzt,
Zu S. Brigittam dargesetzt,
vnd hat mit Ihr durch Gottes krafft,
gearbeit Künstlich Maisterschafft
Darob von Menniglich besunder,
All Menschen ghabt ein grosses wunder,
Aber die Ehallten im hauss
haben nicht gsehen gar durch auss
Den Engel Nur die Mumb allein,
denselbigen sah gehen ein,
Da Nun die Mumb solch schön gewandt
genummen hat in Ire handt
vnd es beschaut mit allem fleiss
so wars gewürckht in solche weiss
Das Jederman bekennet frey
Wiess von Gott selbst gewürcket sey,
DaraufF behielt Ir liebe Mumb,
solchs forthan für gross heiligt humb
Nachdem die Selig Junckfraw zart
Züchtig erwuchss, bald Manbar wardt
Namb an Geistlicher Zierung zu,
Da liess der vatter Ir kein Ruh,
Ernstlichen von Ir haben wollt
Das sie den Ehstandt zieren sollt
Allen Ehfrawen züchtig rein
vnd den Mannen ein Spiegel sein.
Der Tugent ein vorleuchte wem,
Auf solchen beuelch vnd begern,
Sie Irem Vater ghorsamb war.
Zu eim Gemahl Ir gstellet dar,
Ein Edler Tugenthaffte Man
Mit Gottsförchtigkeit angethan,
Darzu vermüfftig (sie) Schön vnd Millt,
S Brigitam gleichmässigs Billdt,
Also kamen löblich zu handt,
Diss Junge Volck in Ehling Standt,
Lebten beysamb im gewissen rein,
Fridsamb Gottsfürchtig, Still gar fein,
Demüttig gegen Arm, vnd reich,
. Das man nit fand bald Ires gleich.
Der Junge Man vnd Christiichs Weib,
Geiselt vnd schlagen Ire Leib,
Beichten vnd Büesten Ire Sündt
vilfältigmal, wie man den findt,
Geschrieben, das die Beicht mit fleiss.
Das Leben der heiligen Brigitta. 73
Auffschleuss das heilig Paradeiss,
vnd Schleust dargegen zu die Höll,
Erlediget von Angst vnd Quoll,
Wiewoll die Ehleut baide ander,
Ein Strenges Leben mit einander,
Fiirtten, so thet doch dises weib,
Vil mehrers Quöllen Iren Leib,
vngeacht all Irs grossen Guts,
het sie darbey gar Wenig Muts
So Pflag sie sonderlich darnebn,
Gross AUmoss täglich ausszugebn
Enthielt sich auch mit allem fleiss.
Köstlich gedrannk vnd theurer speiss,
vnvi'issent Ires herrn zwar
Heimblich souil Ir Möglich war,
Zu dem, diss heilig Edl w^eib.
Mehr Peinigt Iren zarten Leib,
Mit geissein Fasten vnd Cassteyen,
Auf Erd, nichts mehr sie thet erfreuen,
Dann Predig hören Gottes wortt,
Ir hauss war Stets ein offne Pfortt,
Den Armen krancken überall,
nit änderst, dann wie im Spittal,
Denen sie zwug, kleidet vnd speist
allensambt Christlich fraw beweist,
Aber, wie heilig Keusch sie was,
mit schmertzen gross, Ihr khinder gnass,
Wie dann hierauff geschah geschwindt,
Das sie Arbeitet zu eine kindt,
Daran sie hart lag, biss an Thodt,
vnd als sie war in höchster Nott,
Das man verzweiflfelt Ires leben,
So thet Gott Ir in Sinne gebn,
Das sie ganz Inniglich zu handt,
AnrufFt zu Trost, HülfF vnd Beystandt,
Die Muter vnsers herrn Christ,
welche Ir drauff erscbinnen ist,
In der Nacht, als die Hebamb war,
vor Müdigkeit entschlaffen gar,
In einem weissen Seiden gewandt,
Namb Brigitam bey Irer handt,
vmbgriefF Im Leib vnd alle glidr,
Zuband kamen all krefFten widr,
Sobald das gross heilthumb verschwandt,
S: Brigitta sich wol befandt.
7'1 Das Leben der heiligen Brigitta.
Gebar aus lieb frölichem hertzn,
Ein Tochter Schön on allen schmerzen,
Ihr Junger herr vnd Ehlich Man,
sich gar weisslich thet nemen an,
Dem Vatterlande zu Ehr vnd Preise,
Zu diennen stets mit grosem fleise,
Inraassen zu Rom in der Statt,
Dem Senat, vnd dem ganzen Rath,
Er vnu erdrossen beigestanden,
Alles, was im kummen zu banden,
vernünfftiglich hat helffen richten,
Nun thet S. Brigitta draufF dichtn.
Wie sie mit lieb beschaidenlich
Könt Iren Man vernünfftiglich,
von dieser wellt Irrdischen Sachen
Abwendig, vnd in selig machn,
Zu dem Gott würcket sein gedeyen,
vnd thet darzu genad verleihen
Dann sie sprach hertzen Lieber Herr,
Welltlich geschafft bringt gross beschwer,
Ist misslich an der Seligkeit,
Das Ewig aber bringet Freudt,
Folgt mir durch Gott, meim blöden Rath,
Weill er vns hoch begnadet hat,
Mit Ehr, vnd Gut, gesundem leib,
Drumb bitt ich auch als euer Weib,
Lasst Gott vns darfür danckbar sein,
vnd ist Jetzt das begeren mein,
Das baide wir nemen vor gut,
Geben vns willig in Armut,
vmb der Lieb Jesu Christi willen
sein heilligs Gebot zuerfüllen,
Darauff sie dann baide behendt,
verliessen allss, giengen elend.
Mit schlechter Wath vnd Zerung schnell,
kamen dahin gen Compastell
Die frommen ehleut baide sandt
Widerumb in S. Jacobs Landt,
Alss sie auch viel heiliger Stett,
Besucht vnd als vollendet het.
In dem kein müeh noch fleiss gespart.
Da fiellm solcher widerfart
Zu Atribato mit herzleidt,
Brigita heir in gross Kranckheit,
Bettriess am Thodt er ligen was.
Das Leben der heiligen Brigitta. 75
Biss ira verkündet wurde das
Durch den würdigen Bischoff frumb
Willigen Dionisium,
Das er auch nit sollt lassen ab,
hinrayssen zum heiligen Grab,
Mit Brigitam seim lieben Weib
Bald er das globt, da wurd sein Leib,
Alssbalden in derselben stund
Wideriimb starck, frisch vnd gesund,
Wie sie das auch vollenden thetten,
Allss gar verriebt, vnd gsehen betten,
Körtten sie wider heimb zu Landt,
Frölich: vnd wurden baide sandt
Bey gsundem Leib noch zu betrachtn
Das gar nichts höchers wer zuachtn.
Nach dem Spruch Salomonis holdf,
Das weder Edelgstain noch Gollt,
Berlein, Silber, vom höchsten Werth,
Nichts sey zu schetzen auf der Erdt,
gegen ainer Seel keusch vnd rein,
Die Dortt hat Ewig freud, ohn Pein,
Darumb sie kürzlich diesen Rath,
Beschlossen, das sie Gottes gnad,
vnd sein Millte Barmhertzigkeit,
Welltlicher Ehr, vnd Eytelkeit,
Fürziehen, das sie billich sollten,
auch alle beede willig wollten
Sich Jedes bey gesundem leben.
In Geistlichen Stande vnd Orden gebn,
Drauff Spendtens Ir haab Gut vnd gellt,
Den Armen auss, wol in der Wellt,
Schickten sich darzu allebaidn,
Willig von einandr zu schaidn
Das also Nimmerraer hernach
Eins, das ander mit äugen sacb,
Alss Nun der Edel Fürst vnd Herr,
All Ding geschickt, dann zog er ferr.
Mit wenig Gut gen Alustra
Ward Geistlich in dem Orden da.
Dienet vil Jahr Gott an dem endt,
Biss die Seel Fuhr in seine hendt,
S : Brigitta, das Christlich Weib,
Gedultig, Still, Ainmüttig bleib,
Mit Bitten Fassten grossem Traurn
Alss wie ein Turtteltaub thut Dauern,
76 Das Leben der heiligen Brigitta.
Ihra Gatten vnd gesellen trew,
Trug wahre Buss vnd grosse Rew,
Nach Ihres Ehmans Thot der Zeit,
So Iheillt sie vnter Arme Leut
vnd Ihr kinder, alls haab vnd Gut,
Namb an sich gar betrübten muth
verwandelt auch Ir Leibgewandt,
Zog Arm gen Rom Ins wälische landt,
Alss sie hinkamb in Armer Nott,
Trieben mit Ir den höhn vnd Spot,
Die vebermüttig grossen Frauen,
kuntens nit gnug dadlen noch schauen,
hieltens für vnsinnig on mass,
Allain der vrsach, vnd vmb das,
Sie ein Gross Fürstin war zuuorn,
vnd Jetzt so Gähling elend worn,
Denen sie antwort bschaidenlich,
von eurentwegen nicht hab ich.
Mein gwandt vnd mein verworffen Lehn,
verwandelt, also will ich ebn,
von eurentwillen solcher massen,
Mein vornemen nicht vnterlassen,
Nach dem S. Brigitta all tag,
Irs Leibs, mit grosser Martter Mag,
vnd diss Andächtig Edel Weib,
BetraifFt offt Iren Zarten Leib,
mit hizigen wachstropfFen baldt
Macht in verwundt sehr vngestalt,
Ob gleich die wunden heulten zu,
het sie doch weder Rasst noch Ruh,
Grumbts mit scharpfF Nägeln wider ab.
Damit sie im gedechtnuss hab,
Das Bitter leiden Jesu Christ,
Der für sy vnd vns gstorben ist,
Dise histori ist fürwar
Als man gezelet 1000 Jar
Dreihundert Siebentzig vnd Siebn,
Do zumal an der Zal ist bliebn,
Zu Rom vnd sonst warhafll ergangen,
Gott helfF, das wir die gnad erlangen,
Zubessern, vnser Sündlichs lehn,
vns Christum ganz vnd gar erheben,
Wie solche baide Ehleut frumb.
Das Jedes glaubig Mensch hinkumb,
Ins höchstgelobte heiligthumb, Amen:
Ungedruckte
politische Gedichte aus dem XVII. Jahrhundert.
Von
Dr. H. Bieling in Berlin.
1. Das folgende Gedicht auf den Tod des Königs Gustav Adolf
befindet sich zu Oxford in der Bodleian Library, Cod. Thom. Tanneri
Nro. 306. Fol. 267. Es gehört einer Sammlung an, welche Corre-
spondenzen, Berichte u.dgl. meist lokaler Art enthält, die aber derselben
Zeit zu entstammen scheinen, nämlich den dreissiger Jahren des 17.
Jahrhunderts, und wohl alle in Oxford ihren Ursprung haben. Das
Gedicht ist anonym. Der unbekannte Verfasser schildert in lebhafter
Weise den Eindruck, welchen die Nachricht von der Schlacht bei
Lützen und dem Tode des Königs in England, speciell in London her-
vorrief. Es scheint unmittelbar nach dem Eintreffen derselben geschrieben
zu sein; darauf deutet, ausser dem Gesammteindruck des Gedichtes,
der Schluss desselben: „. . . for none can sav ther euer went two
kinges of Sued this way." Es scheint hieraus hervorzugehen, dass
dem Verfasser die Art der Thronfolge in Schweden und die Fortsetzung
des Krieges noch nicht bekannt waren. Das Gedicht ist in gothischer
Currentschrift, deren alterthümliche Zeichen, den bei uns noch üblichen
verwandt, jetzt bekanntlich in England ganz ausgestorben sind, ge-
schrieben und durch viele Schnörkel oft schwer lesbar. Eine spätere
Hand, die wir durch eckige Klammer bezeichnen, hat einige Zusätze
gemacht.
[on Gustavus Adolphus death]
Th'exchange where sadde truthes, finde lesse faith,
and wheare no freind or alley euer dyes,
which mightier farr then fate keepes men aliue
past there iust days and kills those that surviue:
78 Ungedruckte politische Gedichte aus dem XVII. Jahrh.
Hath yet confest him dead, and in mens cloathes,
wee See enough, to saue th'expence of oathes,
and further proofe, eaeh countenance betrayes
moie than the common robbers, one highwayes.
and the whole towne doeth looke farr more vndone
then in a plague, er longo vacation.
The clergie hath the very face putt on
That it did weare, at the great disolution
of all the abbyes, and the tradesman lookes
as if [hee] had lost the debts in his shopp bookes.
the Puritan that loue[d] no Crosse before
for this Crosse fate, doth hate it now much more.
the vserer [is] turnd vnthrift, and his greefe
is such, as if some Parliament releefe
were come agayne for vse, no man is free
lawyers that liue by mischeife, mourners bee
and cannot finde in all there bookes, one case
80 hard as this : a prince slayne in the place
where he did stand victorious, in the pride
of all his glorie, victory like a bride
that court[s] her choyce, smilinge upon hira still
waytinge but night to crowne his wish and will
and this too, by a band vnknowne, may bee
one that had kild, his father, safer hee
and with a better conscience, might haue done
on him then here the exequution
But oh what will become of all, hees dead
and left behinde an army without head.
a cause a iust one too, and heauen does know
whither it shalbe foUowd soe or noe.
Hees gone, and all the good intents he hadd
haue the same fate, as if they had beene badd.
Here each man weeps* and greefe beginns to rage
and would it seife in showers of tears asswage
Butt letts denie him passage through our eyes
Lett sorrowe once be passionate and wise.
for shold it know but this one way of bent
what would become of any continent.
This is no common losse for none can say
ther euer went two kinges of Swed this way.
2. Wir schliessen hieran ein, so viel uns bekannt, noch unge-
drucktes französisches Gedicht von Gumbauld, das denselben Gegen-
* Ms. meets.
Ungedruckte politische Gedichte aus dem XVII. Jahrh. 79
stand behandelt, wie das vorhei'gehenJe englische. Dasselbe befindet
sich im British Museum, Sloane Collection 895. Fol. 55. 1. in einer
Papierhandschrift des XVII. Jahrhunderts , die durchaus von einer
und derselben scharf markirten Hand geschrieben, französische
Sonnette meist politischen Inhalts, von verschiedener, zum Theil
hugenottischer Färbung enthält ; die Gedichte sind theils anonym,
theils von Theophile, Colletet, Gumbauld , manche bereits ge-
druckt. Im Ganzen enthält die Handschrift 60 Blätter in 8., auf
jedem Blatte 2 Sonnette; der Schreiber hat sich nicht genannt; eine
auf dem ersten Blatte befindliche Notiz: "In Northgate Street at Mr.
Dennis walkers" ist von späterer Hand und augenscheinlich nichts als
Buchhändlernotiz. Wir haben hier von den interessanteren einige
ausgewählt, und lassen zunächst das auf Gustav Adolfs Tod folgen.
Sonnet par Gumbauld.
II est mort ce grand Roy, dans le champ de Bellone,
ce guerrier qui for^ant bataillons, et remparts,
Du nid des Aquilons portoit ses estendarts
oü le bruit de son trosne ä grand peine resonne.
C'et exces de valeur, qui les peuples estonne,
alloit enfin borner la gloire des Caesars
Et mettre sur son front viue image de mars,
De l'Empire Du nord la preniiere couronne.
Mais son astre fatal le tire dans les cieux
Quand sa foudre ecrasant les plus audacieux,
De ses propres* ardeurs luy-mesme il se consomme.
On l'admire, on le pleure en tant de lieux divers,
Que d'un deiiil sans exemple en la mort d'un seul homine,
11 semble que Dieu veüille affliger l'uuivers.
3. Es reiht sich hieran ein zweites Gedicht derselben Sammlung
auf den Tod Gustav Adolfs, von anonymem Verfasser.
Sonnet
Sur la mort de Gustave Adolphe, Roy de Suede.
Lorsque par des exploits que la foy ne peut croire,
ie terrasse l'orgueil des plus ambitieux,
la sacriledge main du sort audacieux,
vient borner de ma vie et le cours et l'histoire.
* Ms. propre.
80 Ungedruckte politische Gediclite aus dem XVII. Jahrb.
une si belle fin eternize ma gloire,
ie m'eleue en tombant iusqu'au plus haut des cieux.
ie cueille en mes cipres des lauriers precieux.
Et de mon propre sang i'acchette la victoire.
Apres Ie coup fatal dont ie fus mis a bas,
mon nom faisoit encore l'office de mon bras,
Et combattoit pour moy qui n'estoit plus que terre,
Alexandre viuant submit tout* a sa loy,
Et Ccesar en ses iours fut un foudre de Guerre,
mais nul apres sa mort ne s^eut vaincre que moy.
4. In derselben Sammlung befindet sich ein anonymes Gedicht
auf den Tod eines anderen berühmten Vorkämpfers des Protestantis-
mus und jüngeren Zeitgenossen des grossen Schwedenkönigs, Oliver
Cromwells. Abscheu und Bewunderung mischen sich auf eigenthüm-
liche Weise in diesem Gedichte. Es ist abgedruckt in: Poesies Gail-
lardes et Heroiques de ce temps. 12. o. D. p. 92. Diese Samm-
lung dürfte jedoch ziemlich selten sein , und wir lassen deshalb das
kleine Gedicht, welches ein nicht uninteressantes Spiegelbild der Volks-
meinung über diese hervorragende Erscheinung ist, hier folgen.
Sonnet
Sur la Mort de Cromwel.
que contre mon pouuoir toute la terre gronde,
que tous les potentats m'attaquent ä la fois,
Et que ie sois blasmee d'une commune voix,
ma gloire durera tout autant que Ie monde.
i'ay fait voir mon pouuoir sur la terre et sur l'onde,
au seul bruit de mon nom i'ay fait trembler des Rois,
de mon propre pays i'ay renverse les loix,
Et enfin ie suis mort dans une paix profonde.
De ** mes propres amis ie me suis defie,
a mon ambition i'ay tout sacrifie,
Et mesme de mon Roy, i'ay fait une victime,
il est vray que ie suis criminel en effet,
mais iamais un mortel n'a sQeu pousser Ie crime,
auec plus de succez et plus loin que i'ay fait.
5. Auch auf den Tod Karls I., des Königs, der Cromwells Opfer
wurde, befindet sich in unserer Sammlung ein Sonnet, Fol. 1.1, eben-
falls ohne Namensangabe.
* Ms. toute. ** Ms. Des.
Üngedruckte politische Gedichte aus dem XVII. Jahrh. 81
Sonnet
Sur la Mort Du Roy D'Angleterre.
Brutaux que* l'ocean separe Des humains,
k qui le sang Des Rois rend le visage blesme,
vos Boureaux ont ils droit de battre un** diademe,
vos Rois sont ils suiets, *** estes vous souuerains,
Themis ne le veut pas, mais ses efforts sont vains,
a conseruer son temple et la raison qu'elle aime,
Et si iadis les iuifFs s'en prindrentf a Dieu mesme,
faut il que son image ensanglanta vos mains.
cruells imitateurs du ff plus noire de leursfff crimes,
vos Rois*f passent pour dieux, et souuent des victimes,
Selon que vous changez l'usage des autels,
en un mot leur destin, depend de vostre enuie.
Et de peur qu'on crut qu'ils fussent immortels,
vous avez trouvez l'art de leur oster la vie.
6. Ein anonymes Gedicht Fol. 11. 1 der genannten Sammlung
bebandelt die traurigen Umstände, unter denen die einst so mächtige
Königin Maria von Medicis das Ende ihres vielbewegten Lebens er-
reichte.
Sonnet
Sur la Mort de Marie Medicis.
Le palais florentin m'a donne le berceau,
le Louvre de Paris a veu briller ma gloire,
le nom de mon espous d'immortelle memoire,
reluit dedans les cieux comme un astre nouveau.
i'eus pour gendres**f trois Rois, pour fils un clair flambeau,
de qui le nom fameux reluira dans l'histoire,
apres tant de grandeur le pourra***f t'on bien croire,
ie suis morte en exil, Coloigne est mon tombeau.
Coloigne oeil de citez de la terre Alemande,
si iaraais le passant curieux te demande,
le funeste recit des maux que i'ay soufFerts,
disf* ce triste cercueil fatalement enserre,
La Reine dont le sang regit tout ff* l'univers,
qui n'eut en mourant un seul pousse de terre.
* Ms. qui. ** Ms. un. *** Ms. suiet. f Ms. priadra.
ft Ms. de. ftt Ms. leur.
*f Ms. Roys; sonst immer im Pluriel Rois.
**t Ms. gendre. ***f Ms. poura.
t* Ms. dit, mit starkem <, unter dem ein früheres s zu stecken scheint,
ff* Als. toute, offenbar nur Schreibfehler.
Archiv f. n. Sprachen. XLVIIL 6
82 Ungedruckte politische Gedichte aus dem XVII. Jahrh.
7. Noch ein Gedicht, anonym wie alle noch übrigen, welche uns
geeignet erschienen, an dieser Stelle abgedruckt zu werden, hat das Ab-
leben eines berühmten Zeitgenossen zum Gegenstaude, Heinrichs von
Lothringen, des letzten Herzogs von Guise. Es steht Fol. 5. 1.
Sonnet
Sur la Mort de Monsieur de Guise.
Sans fleches et sans carquois, sans arc et sans flambeau,
Amour tout en desordre et Bellone enchaisnee,
Accusent hautement l'aueugle destinee,
Et poussent de longs cris aupres d'un grand tombeau.
La venus vranie, se fondant tout en eau.
Et la france k ses pieds de cipres couronnee.
s'arrache les* cheueux comme une forcenee,
de perdre en un matin ce qu'elle a de plus beau.
le grand De Guise est mort et cette ame si belle.
Des princes le miroir et des Rois le modelle,
ne regne plus icy, eile est dedans les cieux.
ce heros plein d'honneur ennuye de la terre,
Charge de mille exploits et de paix et de Guerre,
tient a present son rang dans le nombre Des Dieux.
8. Die rothe Eminenz und ihr selbstgewählter Nachfolger wer-
den in einem Fol. 14. 2 befindlichen Sonnet verglichen; Veranlassung
ist der berühmte Friedensschluss von 1659.
Sonnet.
Sur deux grands Cardinaux qu'on vante egalement,
Et dont l'on met tousiours le merite en balance;
Qui tous deux ont tenu le timon de la France,
heureux qui pourroit faire un iuste iugement!
L'un n'entreprenoit rien qu'il ne fit hautement;
il ne pouuoit soufFrir la moindre resistance;
Et lautre se conduit auec tant de prudence,
Que Selon le besoin il relasche aisement.
Richelieu pour regner broüilla toute** la ferre,
pour estre craint par tout, ietta par tout la guerre,
Et mesme aux plus puissans il s^eut donner la loy:
au lieu que Mazarin voyant perir le monde,
pour estre aime par tout comme il Test de son Roy,
a mis tout l'univers dans une paix profonde.
* Ms. le. ** Ms. tout.
Ungedi'uckte politische Gedichte aus dem XVII. Jahrh. 83
9. 10. 11. Auch die nachfolgenden drei Sonnette sollen nach
einer im Specialkatalog befindlichen Notiz sich auf den Frieden von
1659 beziehen, das erste (Fol. 15, 1) die Rückkehr des grossen Conde,
das zweite (Fol. 16, 1) die spanische Heirat angehen; es erscheint
dies durch den Inhalt der Sonnette als unzweifelhaft; bei dem dritten
Sonnet (Fol. 16, 2) ist die politische Beziehung schwer erkennbar.
9. Sonnet
au retour de Monsieur le Prince.
prince miracouleux dont les faits heroiques,
de leurs * fruits eclatans estonnent l'univers,
vous qui passez l'efFort de la prose et des vers
Et rendez iraparfaits tous les panegyriques.
vos desseins ont trompe les plus fins politiques;
vostre bras indomptable en cent combats divers
y fait voir que du sort les plus fameux revers
ne sont pour ses vaillans que d'heureux pronostiques.
L'Espagne en vous rendant, nous rend tout nöstre bien ;
ce que nous luy rendons au prix de vous n'est rien,
puisque vous n'avez point de pareil sur la terre;
Et quand vous revenez pour combler nos souhaits
on** dit que le retour du grand Dieu de la guerre
Est*** un des raeilleurs fruits que produise la paix.
10. Sonnet.
iaraais en deux Amans on ne vit tant de charraes,
et rien de si parfait ne s'est veu sous les cieux:
Daphnis par cent exploits s'est rendu glorieux,
Et Diane par tout a fait rendre les armes.
Sa fierte redoutable a bien couste des larmes,
Quand sa beaute s'est faite adorer en tous lieux,
Et Ton a veu Daphnis d'un front audacieux
Demeurer intrepide au milieu des alarmes.
Cepeudant ce grand coeur se soumet ä l'amour.
cependant cette fiere est vaincüe a son tour :
tous deux se sont rendus Tun ä l'autre sans guerre :
ils se trouuent cent fois plus heureux dans leurs fers,
Que si Tun par son bras domptoit toute la terre,
Ou l'autre par ses yeux surmontoit l'univers.
* Ms. leur. ** Ms. ont. *** ils. Et.
84 üngedruckte politische Gedichte aus dem XVII. Jahrh.
11. Sonnet.
Vous allez donc quitter Paris.
Seiour, oü le plaisir abonde,
Ou Bacchus, l'amour, et les Eis,
Se plaisent mieux qu'en lieu du monde.
tous les passe-temps sont taris
pour celuy qui va dessus l'onde
l'on ne voit la point de Cloris
DJ noire, ny brune, ny blonde.
icy l'on goute entierement
ce qui se trouue de charmant
Dans les delices de la vie:
l'on contente ses appetits,
Et l'on dort avecque Siluie
plus seurement qu'avec Thetis.
12. Zum Schlüsse geben wir noch ein Sonnet, das einen ganz
anderen Geist athmet, als die letzten, die einen höfischen Ton zeigen;
es liegt etwas von dem Geiste der alten hugenottischen Prediger darin ;
die harte Herrschaft des Roy Dieu-Donne führt zu einem Vergleich
mit Saul, dem Könige, welchen der Herr seinem undankbaren Volke
im Zorne gab, einer alttestamentarischen Erinnerung, wie sie in den
religiös-politischen Kämpfen des 17. Jahrhunderts in Frankreich so-
wohl, als besonders in England sehr zahlreich sich vorfinden.
Le peuple que iadis Dieu conserua luy meme,
Lasse de son bon-heur vouleut auoir un Roy.
he bien dit le seigneur peuple ingrat, et sans foy,
tu sentiras bien tost le ioug du Diademe.
celuy que ie mettray sur ce degre supreme,
comme un cruel vautour viendra foudre sur toy,
ses seules volontez luy seruiront de loy.
Et rien n'assouuira son auarice extreme.
il trouuera touiours mille nouveaux moyens,
pour te rauir l'honneur, la fortune, et les biens,
en vain tu te plaindras de sa toute puissance,
ce peuple en vit l'eßet il en fut estonne.
ainsi regne auiourd'hui, par les voeux de la France
le monarque absolu qu'on nomme Dieu Donne.
Chatten und Hessen.
Eine Untersuchung über die Herleitung des Nanaens der Hessen aus dem
der Chatten, vorzüglich an der Hand der Ortsnamen-Erforschung.
Von
Dr. Wilhelm Kellner in Hanau,
1. Einleitung.
Die ursprünglichen drei ersten Capitel dieser Untersuchung als
1. Einleitung. Kurze Geschichte der Untersuchung; 2. Die Schrei-
bung des Namens der Chatten und Hessen; 3. Gewicht der Ueber-
lieferung des Tacitus, Annal. I, 56, 57, und die Beschaffenheit der
hier vorausgesetzten Landschaft als geeignet für einen Volksmittel-
punkt — finden sich im Juliheft 1870 der Zeitschrift für Preuss. Ge-
schichte und Landeskunde (herausgegeben von Dr. Paul Hassel)
S. 425, ff.* Es ist daselbst dargestellt, wie schon seit Beginn des
18. Jahrhunderts von bedeutenden Gelehrten, deren Meinungen aufge-
führt sind, die hier von Neuem aufgenommene Untersuchung ventilirt
und von den hervorragendsten, namentlich von Wenck, Hessische Lan-
desgeschichte 1783. 1789, ff. und Jacob Grimm, die Ansicht festge-
halten worden ist, dass der Name Hessen aus dem Namen Chatten
erwachsen sei, bis Zenss (die Deutschen und die Nachbarstämme 1837)
und Vilmar (hessisches Idiotikon 1866) aus dem Gesetz der Lautver-
schiebung und dem Mangel der Schreibung Hazzi den Schluss zogen,
dass der Name Hessen aus dem Namen Chatten nicht abgeleitet wer-
den könne. Dem gegenüber wird nun hier versucht, "Wenck's und
J. Grimm's Ansicht als richtig aufrecht zu erhalten und zunächst in
* Der vollständige Abdruck der Abhandlung in der hier genannten Zeit-
schrift wurde von der neuen Redaction derselben als mit dem neuen Pro-
granam der Zeitschrift unvereinbar abgelehnt.
86 Chatten und Hessen.
dem oben angeführten zweiten Capitel die alte Schreibung des Na-
mens der Chatten von Livius bis Sidonius ApoUinaris (ca. 455 p. Chr.),
so wie die des Namens der Hessen oder Hassen von 720 bzw. 738
an bis gegen das Ende des 13. Jahrhunderts verfolgt und festgestellt,
dass die im Oberland vorherrschende Aussprache und Schreibung des
Namens des Volksstammes wie des Landes Hassi und Hassia, nicht
wie Vilmar will, Hessi etc. war, welche letztere allerdings mehr nach
Niedersachsen hin , wo das a so häufig zu e verquetscht wird, vor-
kommt, und dass, worauf grosser Nachdruck zu legen ist, noch heut
zu Tage, wie aus einer Frankfurter Mundartenquelle neuesten Datums
nachgewiesen wird,] im Fuldaer Oberlande Hassen (mit a) gesprochen
wird. Im folgenden Capitel wird sodann in Anknüpfung an die Ta-
citeische Erzählung, wonach Germanicus den Hauptort der Chatten,
Mattium , jetzt Maden bei Gudensberg im alten Chattenmittelpunkte,
einäscherte, nachgewiesen, wie diese Landschaft noch heutigen Tages
sowohl in landschaftlicher zum Theil romantischer Schönheit als land-
wirthschaftlichen Vorzügen einen hervorragenden Rang einzunehmen
berechtigt ist und schon in alter Zeit würdig befunden werden konnte,
zum Mittelpunkt eines alten germanischen Volksstammes auserkoren
zu werden. Am Schluss des Capitels ist die Ansicht ausgesprochen,
dass die Chatten zum Frühesten wenigstens eine Colonie der nahe
wohnenden Cherusker gewesen und deshalb das nächste hier folgende
Capitel der Widerlegung der ebenfalls schon frühe und bis auf den
heutigen Tag festgehaltenen, aber ebenso früh auch schon bekämpften
Ansicht gewidmet, dass die Chatten Sueben gewesen seien. Auf die-
ses Capitel folgt , wie unsere Leser unten sehen , die Untersuchung
über das Gewicht des Einwandes, welchen die germanistischen Sprachge-
lehrten aus der Lautverschiebung gegen die hier festgehaltene Na-
mensherleitung erheben, sodann der Nachweis, wie die meisten Völ-
kernamen aus Landschafts- und Städtenamen entstehen, endlich der
Schluss mit der hier versuchten Erklärung des Namens Chatten und
Hassen oder Hessen.
2.
Die Schreibung des Namens Chatten und Hessen.
Wie in den in der Zeitschrift für preuss. Landeskunde, Juliheft
1870, S. 435 gegebenen Sprachproben der heutigen Zeit und aus dem
Munde von Bergländern das kehlige a für das von den Niederländern
Chatten und Hessen. 87
vorn im Munde gepresste e zu erkennen ist — man betrachte nur die
Formen sachs für sechs, Massr für Messer, ahr für eher, gepatz für
petzen und namentlich das für unsere Untersuchung maassgebende
„Korhasee" für das gewöhnliche Kurhesse — so ist noch viel
mehr in den altern Zeiten das a bei den Oberländern vielfach statt des
e maassgebend gew^esen. Der Bewohner der Tiefebene spricht aber
überhaupt, auch aus physiologischen Gründen , die Laute scharf zwi-
schen den Zähnen herausstossend, das e mehr als der Hochländer, der
die Kehllaute vorherrschen lässt, und das beobachtet man in alter und
neuer Zeit. Was der auf und in den Bergen wohnende Norweger
Odal nennt und der alte Normann von audh (Eigen) herleitete, nennt
der Angelsachse im Niederland von alt eath, modern edel (eatheling).
Odalman oder gar Udalman ist unser Edelmann (Adel mitteldeutsch)
in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes so viel als Eigenmann,
Freier Mann. Auster Oster wird bei dem Angelsachsen East u. s. f.
Man vergleiche dazu das e ausgesprochene a des Englischen , wie die
parallelgehende Neigung des a im süddeutschen Munde nach dem o,
ao hin: we were, you were, wir waren, ihr wäret, oberdeutsch wo-
ren, woret: thou hast, du hast, dou host (oberdeutsch), I can, ich
kann, Eich kaonn (oberdeutsch).
So erklärt sich auch am einfachsten das Vorkommen der Formen
Hassi und Hessi neben einander, das Vorwiegen der Form Hessi bei
den Niedersachsen, wie auch der Angelsachse Winfried (Bonifacius)
den Namen gesprochen zuerst nach Rom brachte, so dass er ebenso in
dem Empfehlungsbriefe des Papstes geschrieben ward, so wie endlich
der Umstand, dass in der nächsten päpstlichen Urkunde für Hersfeld,
also im „Fuld'schen" von 774, wahrscheinlich von einem Hersfelder
Oberländer Mönch entworfen, die breitere Form Hassia zu lesen ist.
Einen Mittellaut zwischen a und e mögen die Hessen im eigenen
Hessenlande eingehalten haben, wie man an der Form Haesi sieht,
welche Willibald gleich mit der Form Hessi gebraucht. Obwohl jetzt
im Mittelpunkte des Hessenlandes im alten Landgericht Maden, um Gu-
densberg, der Bauer selbst nicht mehr anders wie auch der Gebildete,
Hesse mit geschärftem e, nicht aber Hasse spricht, so ist das doch le-
diglich Ergebniss des amtlichen und geschäftlichen Verkehrs, dessen
Einfluss nicht bedeutend genug anzuschlagen ist, wie denn auch die ge-
bildeten Fulder jetzt nicht anders als „Hessen" sprechen , und ein Be-
weis dafür, dass früher Haesi gerade im Gudensberger Lande gespro'
88 Chatten und Hessen.
chen worden sein mag, der Umstand, dass noch heute der Name des etwas
seitab liegenden Dorfes Besse (alt Passahe) von seinen Bewohnern mit
breitem nach e hinklingendem ä gesprochen wird: Bässe. Wie leicht
das a nach dem e hinübergleiten kann, sieht man auch in einer Spi'ach-
probe aus dem 8. Jahrhundert, in einem Vater-Unser mit Auslegung,
in welchem sich der Ausdruck des mezzes für unser „des Maasses"
findet. * So haben wir also sicher einstweilen wenigstens das Vor-
herrschen des a in der ältesten Namenform für Hessen , also Hassen
imd auch die innere Erklärung dazu gegeben; Hassen liegt natürlich
der Namenform Chatti Chatten näher als Hessen. Damit kommen wir
nun zunächst wieder auf die Chatten.
3.
Gewicht der Ueberlieferung des Tacitus (Anna).
I, 56, 57) und die Beschaffenheit der in derselben
Vorausgesetz teil Landschaft als geeignet für
einen Volksmittelpunkt.
Wir stellen an die Spitze dieses Capitels die Thatsache, die Taci-
tus in seinen Annalen I, 56, 57 von dem Zuge des Germanicus gegen
die Chatten wie folgt erzählt .... dadurch kam er (Germanicus) den
Chatten so unerwartet , dass die durch Alter und Geschlecht Wehrlo-
sen sogleich gefangen oder getödtet wurden. Nur die waffenfähige
Mannschaft war über den Adranafluss gesetzt und suchte die Römer,
die sich anschickten, eine Brücke zu schlagen, zurückzuhalten, liess
aber, als sie durch das Geschütz der Römer vertrieben wurde, vergeb-
lich Friedensunterhandlungen versucht hatte, und auch Einige zu den
Römern übergegangen waren , Gauen und Dörfer im Stich und zer-
streute sich in die Wälder. Germanicus aber steckte Mattium, den
Hauptort des Stammes, in Brand, verwüstete das offene Land und
wandte sich .... nach dem Rhein.
Es besteht jetzt unter den Gelehrten kein Streit mehr darüber,
dass unter dem hier genannten Mattium kein anderer Ort als das heutige
*) Man vergleiche Wülcker Dr. E. , Beobachtungen auf dem Gebiete
der Vocalschwächung im Mittelbinnen-Deutschen , besonders im Hessischen
und Thüringischen. Frankf. a. M. 1868.
Chatten und Hessen. 89
Dorf Maden, der frühere Hanptort des nach ihm genannten Landgerich-
tes, mit einem alten Centhofe (jetzt Domaine) , zu verstehen sei,*
auch die Adrana wird allgemein als der Fluss Eder betrachtet, in wel-
chen der Bach Ems, an welchem Maden liegt, nicht gar Aveit von letz-
terem einmündet und den man, von Süden herkommend, bei Fritzlar oder
in dessen Gegend überschreitet, um nach Ucbersteigung einer massigen
"Wasserscheide in das Emsthal zu gelangen. Dass der alte Hauptort
jetzt keine Bedeutung mehr hat, ergiebt sich einfach aus der geschicht-
lichen Entwickelung der mittelalterlichen Staatszustände, nach welcher
mit der Entstehung der Ritterzeit der offene Hauptort Maden , Avelcher
den freien Bauern ausgereicht hatte , keinen genügenden Schutz mehr
gewährte und den Sitz der Regierung nach der Feste Gudensberg, eine
Viertelstunde davon, zu verlegen zur Nothwendigkeit ward. Dieses
Gudensberg wurde von da an bis zur Uebersiedlung des Regierungs-
sitzes der neuen hessischen Landgrafen nach Cassel im 13. Jahrhun-
dert, Mittelpunkt des Landes und dieses nach Wenck, Hessische Lan-
desgeschichte, IL ürkundenbuch, S. 294, 295 benannt als „das Nie-
derland" zu Hessen, darin Gudensberg liegt; woneben jedoch die Be-
nennung „das Landgericht Maden" bis in's H.Jahrhundert fortbesteht.
Wir nehmen also an, dass nach dem Zeugniss des Tacitus Maden im
1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung (der Zug des Germanicus fällt in
das Jahr 15. nach Christus) bereits der Hauptort der Chatten, wie im
Anfang der Ritterzeit Sitz des Landgerichtes zu Hessen war.
Betrachten wir nun die Landschaft , in welcher dieser Hauptort
liegt. Die folgende Schilderung enthält den Eindruck , den das Gebiet
des alten Chattenmittelpunktes bei wiederholten Durchwanderungen zu
Fuss und zu Wagen auf den Verfasser dieses gemacht hat.
Geographisch und geologisch zunächst kennzeichnet sich die Land-
schaft als eine Hochfläche mit mehreren Bergreihen zwisclien den Fluss-
läufen der Eder und Fulda auf der Süd- und Ost-Seite und den im
Westen von Nord nach Süd verlaufenden Berghöhen des Habichtswal-
des mit seinen südlichen Ausläufern , des Baune- und Langenberges,
und den dahinter im Westen verlaufenden Ostausläufern des Kölnischen
Sauerlandes. ** Es ist ein von Bergzügen und Flussläufen eingeschlosse-
* Vgl. u. A. Nipperdey, Com. Tacitus I, Annal. S. 57. 4. Aufl.
** Einen sehr wohl orientirenden Blick auf die Landschaftsentwickelung
gewährt E. v. Sydow's Method. Hand -Atlas, Supplementheft Karte IX,
Mittel-Gruppe des Norddeutschen Berglandes.
90 Cbatten und Hessen.
nes Landschaftsviereck, im Süden und Osten von der aus dem Wal-
deckischen kommenden und unterhalb Fritzlar bei Nieder-Möllrich um
die Südostecke biegenden Eder, von deren Einmündung bei Gunters-
hausen in die Fulda an, von dieser weiter im Osten umflossen, ange-
lehnt im Norden an die Südabhänge des Reinhardswaldes und im We-
sten, wie schon erwähnt, an die Ostverläufer des niederrheinischen
Schiefergebirges, hier im Theile des Kölnischen Sauerlandes. Denken
wir uns in einen Zeitabschnitt zurück, in welchem die Flussthäler der
Eder und Fulda bis an den Rand noch mit Wasser gefällt waren, so
haben wir das chattische Landschaftsviereck als eine im Westen an
höhere Berge angelehnte Fläche mit baubarem Boden und dazwischen
liegenden Bergen. So fällt denn auch jetzt, wo die Wasser mehr ver-
laufen sind, nach den Flussgrenzen hin die Hochebene in meistentheils
steil abfallendem Rande in tiefer liegende Thäler ab; der Rand ist nur
regelmässig durchrissen durch die Ausmündung der Wasserrinnen,
welche die Hochfläche entwässern. Diese Wasserrinnen sind vom Sü-
den angefangen 1) als der bedeutendste die Ems, deren oberes und
mittleres Thal hinter dem Höhenzuge des Habichtswaldes , Baune- u.
Langenberges in einem mit Eder und Fulda in deren unterem Laufe
parallel gehenden Längenthaie verläuft und im untern Laufe abwärts
Dorla den vorliegenden Höhenzug durchbricht, um unterhalb Felsberg
in die Eder zu münden. Dann folgt 2) der Deuter-Bach, 3) der Bes-
ser-Bach, 4) die Baune, 5) der Zwehrenbach, 6) die Druse und 7) die
Ahna, letztere beiden Bachthäler südl. und nördl. Cassel umfliessend
lind zugleich mit ihrem Wasser speisend. An den Ausflüssen dieser
Bäche aus dem dahinter liegenden Hochlande liegen immer mehr oder
minder geschichtlich merkwürdig gewordene menschliche Anlagen; so
diesmal von Norden gerechnet, an der Mündung der Ahna einer der
merkwürdigsten Entstehungsanfänge der Stadt Cassel, das Kloster
Ahnaberg mit dem Meierhof Cassela; an der Ausmündung des Zweh-
renbaches das alte Dorf Zwehren (Tuerun , niederdeutsch Twe-
ren); an der Baune-Mündung der Bahnhof Guntershausen ; an der
Ausraündung des Besser-Baches aus dem Hochlande neben dem Dorf
Grifte die Höhe , auf der noch jetzt 4 Höfe sich finden , genannt die
Heystatt, ein alter Burgsitz mit die Gegend weithin beherrschender
Aussicht (die Ritter von Grifte spielen in der ältesten hessischen Ge-
schichte eine Rolle) ; am Ausfluss der Ems das Dorf Böddigern (alt
Buthigern mit echt niedersächsischer Namensform, vgl. Bevergern) mit
Chatten und Hessen. 91
einer Flur , die den Namen „Burg" führt. Der kirchengeschichtlich
wichtigste Punkt aber findet sich in dem Bachgebiet der Elbe, das
schon nicht mehr ganz dem Chattenlande angehört und hinter der Berg-
region verlaufend, welche die Grenze des Chattenmittelpunktes nach
Westen ausmacht, im obern Laufe und Quellgebiet bei Wolfhagen die
Verbindung mit dem niedersächsischen Bevölkernngsgebiete herstellt
Im Thal dieser Elbe liegt, nahe dem Ausfluss derselben in das Eder-
thal, hinter Fritzlar, Geis mar mit dem bis in die neuere Zeit als
hessischer Gesundbrunnen besuchten Sauerbrunnen, das alte Dorf, in
dessen Nähe Bonifacius die heilige Eiche niederhieb, aus deren Holz er
sodann eine Zelle, vermuthlich auf der Anhöhe, errichtete, auf welcher
noch jetzt der Dom von Fritzlar steht.
Da, wo nun aufwärts nach seiner Quelle hin der Elbebach zu der
flachen Wasserscheide zwischen Eder- und Diemel-Gebiet bei Wolfha-
gen führt, berühren sich die Sprachgrenzen der hessischen und platt-
deutschen Mundart, wie fast in der Ebne ; Wolfhagen, die Dörfer Isthe,
Brundersen , Ippinghausen reden plattdeutsch — gegenüber dem Main-
zer Gebiet von Naumburg bis Fritzlar mit den Dörfern Altenstädt,
Balhorn, in welchem die Mundart süddeutsch influirt worden ist. Hier
finden wir auch die natürliche Nordgrenze des Chattenlandes sich süd-
wärts Wolfhagen auf der Höhe des Habichtswaldes und des nach Nord-
ost damit zusammenhängenden Dörnberges hinziehen bis nach Wolfs-
anger unterhalb Cassel, wo zur Zeit Karls des Grossen Franken und
Sachsen mit einander wohnten und die Fulda in eine enge Bergspalte
tritt, in der ebenfalls schon niedersächsisches Sprachgebiet beginnt, und
auf den Höhen rechts der Fulda auch das Gebiet des ehemal. König-
reichs Hannover seinen Anfang nahm. Nach Osten zu ist die Grenze
des Chattenlandes dann mehr eine offene, streitige, zwischen Cherus-
kern und Hermunduren oder Thüringern. Sie hat schon zu der Zeit,
wo Tacitus die Germania niederschrieb, sich über Cheruskerlandschaf-
ten hinausgeschoben gehabt.
Nach vorstehender Feststellung der äusserlichen Umgrenzung des
Chattenlandes bleibt uns noch die Aufgabe, einen Blick auf das Innere
und dessen Gestaltung zu werfen. Ausser der Ems, welche, wie be-
reits ausgeführt, in einem längern Laufe zuerst ein Eder und Fulda pa-
rallelgehendes Längenthal hinter der ersten Bergreihe des Hessenlandes
entwickelt und dann erst im rechten Winkel auf die Eder zufliesst, die
vor ihr liegenden Höhen durchbrechend, haben die vorher aufgeführten
92 Chatten und Hessen.
Bäche sämmtllch in ihrem obern Laufe eine sehr leichte Muldenbildung,
so dass die Wasserscheiden zwischen ihnen nur massige Bodenerhebun-
gen darstellen, und das ist am meisten der Fall im Gudensberger
Lande, das zwischen dem untern Lauf der mitten im Sommer mit reich-
lichem und klarem "Wasser und in munterem Fall einherstürzenden
Ems und dem Zwehrenbache verläuft, während das Gebiet des Zweh-
renbaches weiter von Druse und Ahna wieder durch bedeutendere Berg-
rücken geschieden ist. In dem Gudensberger Lande nun bilden die
oberen Bachrinnen und ihre "Wasserscheiden eine an die hohe und dun-
kel bewaldete Bergreihe des Bauns- und Langenberges angelehnte
Ebene , aus der wiederum in fortwährender Abwechslung basaltische
Bergkegel schroff aufragen. Diese meist kahlen Berghäupter geben,
inmitten einer reichen Feldflur, abwechselnd mit den saftigsten, frisch-
grünen Wiesen in der nächsten Nähe der Bäche, mit dem Hintergrunde
der dunkelen Waldberge und der weitem Ausschau von der Hochebene
aus auf die jenseit dieser Landschaft, jenseit der Flussthäler der Fulda
und Eder verlaufenden Bergreihen , an einem heitern Sommermorgen
oder Abend das Bild einer reizenden , malerischen und von romanti-
schem Hauche umwobenen Landschaft.
Bei der noch heute vorhandenen , sofort empfundenen Abgeschie-
denheit derselben macht sich zugleich bei jenem Eindruck der andere
geltend, dass die Natur hier ein natürliches Festungsviereck geschaffen,
innerhalb dessen ein deutscher Volksstaram sich sicher wähnen mochte.
Die hohen Thalränder nach Eder und Fulda hin verstecken dies frucht-
bare Wiesen- und Bauland mit seinen malerischen Berggruppen und
Kuppen und den üppigen Wäldern in vorsorglicher Weise. So wie
man noch jetzt von der neuen Eisenstrasse (Main- Weserbahn im Ge-
gensatz zu der älteren durch Gudensberg führenden Frankfurter Land-
strasse), die im Eder- und Fuldathale hinläuft, aus keine Vorstellung
von der hinter den Thalrändern versteckten Herrlichkeit erhält, so noch
vielmehr mag in grauer Vorzeit erst recht Niemand diese natürliche
Volkszufluchtsstätte von aussen her wahrgenommen haben, da damals
der Blick von den umliegenden Bergeshöhen aus durch die dichte Be-
waldung unthunlich gemacht war. Aber während man draussen von
dem Innern, so zu sagen Heiligthum, keine Ahnung erhält, hat dieses,
namentlich zwischen Eder und Baune die Eigenthümlichkeit, dass man
von vielen wohl ursprünglich nicht bewaldeten Basaltkuppen aus immer
weit hinaus über die umliegenden Landschaften den Blick schweifen
Chatten und Hessen. 93
lassen konnte und die fernem, den Horizont umgrenzenden Bergreihen
zum Hinausspähen in die Weite herausforderten. Es mag sich so jener
durch die Ausschau von hochher geschärfte Habichts-Späher-Blick ent-
wickelt haben , zufolge dessen die Chatten gierig nach der vor ihnen
liegenden Landschaft griffen und u. A. um das Jahr 100 nach Chri.
stus die Herren der Cherusker und Foser waren. Es erklärt sich aus
der geschilderten Lage und Beschaffenheit der Landschaft auch, wie der
römische Kriegsherr Germanicus im J. 15 n. Chr. so bald in dersel-
ben Halt und linksura nach dem Rheine zu machte. Es musste ihm,
nachdem er den steilen Uferrand an der linken Seite der Eder zwischen
Fritzlar und Nieder-Möllrich erzwungen und Maden (Mattiura), das
jenseits dieses Bergrandes an einem Seitenbache der Ems, etwas zurück
von dieser, liegt, eingeäschert hatte, nach der ersten ßecognoscirung
vor der schaurigen Stille der dunkeln Bergschluchten, in welche sich
die Bewohner geflüchtet hatten, unheimlich zu Muthe werden ; er konnte
doch zu leicht in die Lage kommen , in welcher Varus untergegan-
gen war.
Der Eindruck, den die Landschaft mit ihren durch Form und Fär-
bung mitunter auch gespenstisch auf den Sinn drückenden Basaltke-
geln macht, erklärt aber zugleich, wie ein alter, germanischer Volks-
staram, der diese fruchtbare, wiesenreiche, für Viehzucht und Ackerbau
gleich günstige, vom grossen Verkehr abgeschlossene Landschaft, eine
gleichzeitig für den Anbau so geeignete Naturfeste, aufsuchte, dieselbe
zu seinem Mittelpunkt machte und in einer Gegend, in der die Natur-
kräfte in ihrer unheimlichen Gewalt dunkle, gespenstige, hohe Berges-
gestalten in reicher Fülle aufgeworfen hatten, den Hauptsitz eines heid-
nischen Götterkultus errichtete ; denn es wird sich jedem Wanderer in
jener Gegend die unwillkürliche Empfindung aufdrängen , die basalti-
schen Durchbrüche der Erde ragen hier geisterhaft , Götterfurcht er-
weckend, empor und haben sicher in alter Zeit noch mehr wie jetzt in
den Gemüthern die Stimmung heimlichen Grauens erzeugt. Darum
auch wandte sich Bonifacius gerade hierher, als er den Hessen das
Licht des Christenthums bringen wollte, und errichtete an der Grenze
des alten Chatten-Götterheerdes den Altar seines Gottes, gegenüber
den Wodansbergen (Gudensberg und Odinberg) und der alten G°erichts-
stätte zu Maden die aus der heiligen Eiche gezimmerte Zelle.
Solche Gestaltungen der hier gezeichneten und schon von Tacitus
als chattisch genannten Landschaft macht es durchaus einleuchtend,
9^ Chatten und Hessen.
dass sie das Herz, der Culmlnirungspunkt eines germanischen Stam-
mes gewesen, der von hier aus sich ausbreitete und wieder dahin zu-
rückwich, seitdem die Römer durch die Siege des Drusus die germani-
schen Stämme überhaupt vom Rheine landeinwärts zurücktrieben. Es
ist eine Verstärkung dieser Aufstellung, dass man den Mittelpunkt
z B. der Marser am sichersten in der Nähe der Chatten, in dem heuti-
gen westfälisch-waldeckisch-preussisch- (hessischen) Gebiet an der obern
Diemel, namentlich bei den Orten Volkmarsen und Marsberg,
dem unter Karl dem Grossen als Eresburg hervorragenden Orte,
sucht. Erklärt es sich so doch am besten, wenn Tacitus zu dem er-
wähnten Zuge des Germanicus gegen die Chatten erzählt, dass des
Germanicus Untergeneral Caecina mit einem Hilfscorps die Marser
durch eine Niederlage verhinderte, den Chatten zu Hilfe zu kommen,
wonach die Marser nicht eben weit entfernt wohnen konnten; und
wenn ebenso Caecina durch Hin- und Herziehen die Cherusker vom
Beistande der Chatten abhielt, so müssen auch diese mehr in der Nahe
gesucht werden, wie auch bereits eine Ableitung des Namens der Che-
rusker von dem Dorfe Heerse, südlich Paderborn, versucht worden ist
(wie Thüringer von Anwohnern der Tyra und Bataver von Batuwe),
und hat vielleicht Segest in der Nähe seinen Wohnsitz auf der Hohen
Siburg hei Carlshafen gehabt.
Abgesehen nun davon, ob wir der vorstehenden Ableitung des
Namens der Cherusker beipflichten, der Name lässt auch noch eine an-
dere Ableitung zu, ist es doch das einfachste, die Mittelpunkte der
Chatten, Marser und Cherusker ziemlich nahe beieinander zu suchen,
ein Verhältniss, das uns auch auf dem Wege nach der richtigen Er-
klärung des Namens Chatten eher fördern als seitab führen wird.
Nehmen wir den Mittelpunkt der alten Chatten in dem späteren ei-
gentlichen Hessenlande an, so wird damit nicht nur der Identität der
beiden Namensformen eine nicht leicht abzuweisende sichere Unterlage
ge-eben, sondern auch die Annahme einer ursprünglichen nahen Stam-
me^sverwandtschaft zwischen Marsern, Cheruskern und Chatten nahe
gelegt, eine Annahme, die dann wieder die Nöthigung auferlegt, die
Sondernamen der Stämme zufälligen ausser ihrer Stammeseigenthum-
lichkeit liegenden Ursachen zuzuschreiben.
Vielfach steht dem nun die bis in die neueste Zeit unbesehens als
richtig immer von Neuem verbreitete Annahme entgegen, dass die
Chatten Sueben gewesen und vom Rheine her in das Binnenland gezogen
Chatten uud Hessen.
95
seien , wie denn allerdings die Chatten zu Drusus Zeit (12—9 vor
Christus) nach der Darstellung des Dio Cassius ihre Sitze bis am Rheine
hatten, so dass Drusus sogar in ihrem Gebiete, hart am Rheine,
ein Fort anlegte, das Germanicus auf seinem Zuge 15 p. Chr. wieder
erneuerte, auch ihnen vorübergehend Land anwies, bis sie entschieden
auf Seite der Feinde der Römer traten und in das Innere zurückge-
drängt wurden.
Wenn sich dies nun aber damit erklären lässt, dass die Chatten
von ihrem Mittelpunkt um Maden aus sich ausbreitend bis an den
Rhein vordrangen, so ist es doch angezeigt, auf die Einreihung der
Chatten unter die Sueben einen kritisch-prüfenden Blick zu werfen.
Eine Verwandtschaft der Chatten mit den Sueben würde eine Stam-*
mesgleichheit mit Cheruskern ausschliessen.
Indem wir aber zu dieser Frage übergehen, constatiren wir noch
einmal als das Ergebniss der hier schliessenden Betrachtung, dass nach
Tacitus Bericht die alten Chatten ihren Mittelpunkt im spätem Hes-
senlande hatten und diese Hessenlandschaft noch heute alle Eigenscliaf-
ten aufweist, welche sie befähigten, zum Mittelpunkte und Heiligthum
eines alten germanischen Volksstammes auserkoren zu werden.
4.
Ob die Chatten Sueben gewesen?
Aehnlich wie sich eine vorgefasste Meinung verschiedener Gelehr-
ten für die Unmöglichkeit entschieden, den Namen Hessen von der Na-
mensform Chatten abzuleiten (siehe oben), hat sich eine andere vorge-
fasste Meinung dafür gebildet, dass die Chatten Sueben gewesen wä-
ren. Selbst der für die hessische Landesgeschichte so verdiente Wenck
a. a. O. II, S. 14, besteht mit einer für seine sonstige so unbefangene
Würdigung der Chattengeschichte schwer erklärlichen Befangenheit°auf
jener Meinung, namentlich der, dass Cäsar, als er den Zug gegen die
Sueben unternommen, die Chatten vor sich gehabt habe. Auch Justus
Moser in seiner Osnabrückischen Geschichte I, S. 136 meint wenig-
stens, dass die Chatten (in Hessen) oft freie, aber keine untergeordne'te
Bundesgenossen der Sueben gewesen zu sein schienen. Diese Mei-
nung setzt sich dann, obwohl schon der Pfarrer Kraus von Idstein
im Hanauer Magazin 1785, St. 51, S. 477 [Beweis, dass die Chatten
96 Chatten und Hessen.
keine Sueben und keine Sueben jemals Chatten gewesen sind] , die
triftigsten Gründe dagegen angeführt hat, bis in die neueste Zeit fort.
Es folgen ihr unter Andei-n, umnichtAlle zu erwähnen, Rommel, Ge-
schichte von Hessen, I, S. 10 u. Anm. 21; Mommsen in seiner röra.
Geschichte III, S. 238, zu vergleichen Kraner, zu Cäsar de belle Gal-
ileo 409 , Cäsars Sueben sind wahrscheinlich die Chatten ; Landau,
Hessengau, Essellen, Geschichte der Sigambern, Einleitung S. 3., Anm,
Auch Endemann im Januarheft 1870 der Zeitschrift für Preuss.
Gesch. u. Landeskunde „Ueber Markenverfassung", hält noch an dieser
Auffassung fest, wie sie auch Dr. Henning's, über die agrarische Ver-
fassung der alten Deutschen nach Tacitus und Cäsar, Osterprogramm
1869 der Gelehrten-Schule zu Husum, S. 59 und sonst, als selbstver-
ständlich betrachtet.
Eine erste unbestreitbare Thatsache ist jedoch : Cäsar hat in sei-
nen Commentarien des Gallischen Krieges die Chatten nicht ge-
nannt, und Tacitus hat ^150 Jahr später ausdrücklich die Sueben
und Chatten als ganz verschiedene germanische gentes* dargestellt.
Gegen diese Thatsache lässt sich, wie hier nachgewiesen werden wird,
mit unnöthigen Voraussetzungen, wie sie eben die meisten Anhänger
der Meinung, dass die Chatten Sueben gewesen, aufstellen , nicht auf-
kommen. Von den zwischen Cäsar und Tacitus nach dem Zeitalter
stehenden Schriftstellern nennt auch Strabo Geogr. V p. 445 Amelov.
die Chatten nicht unter den Sueben, sondern vielmehr unter „andern
kleineren Stämmen;" Plinius i. d. Hist. Natui". IV, 28 nennt die Chat-
ten neben den Sueben als einen Theil der Hermionen, also nicht als
zu den Sueben gehörig. Von Vellejus Paterculus wird ferner II, 108
ausdrücklich berichtet, dass die Sueben unter dem Namen Marco-
mannen und der Anführung des Marbod um das Jahr 9 vor Christus
nach Böhmen zurückwichen, und demgemäss lässt Tacitus eben auch
ihre Sitze erst neben den Hermunduren nach Osten zu beginnen , am
obern Main um den Thüringer Wald, Fichtelgebirge, Bayr. und Böhm.
* Germania cap. 38 : Nunc de Suebis dicendum est, quorum non una,
ut Chattorum Tencterorumve gens: majorem enim Germaniae partem obti-
nent, propriis adhuc nationibus nominibusque discreti; quamquam in com-
mune Suebi Tocantur. Hätte Tacitus die Chatten und Tencterer zu den
Sueben gerechnet, so würde er sie nicht schon vorher, sondern erst jetzt
unter den einzelnen nationibus der Sueben aufgeführt haben. Vgl. noch
die Stelle German. Cp. 38: Sic Suebi a ceteris Germanis .... sepa-
rantur.
Chatten und Hessen. 97
Wald bis zur Donau, während Germanicus 15 nach Christus vorzugs-
weise mit den Chatten zu thun hat und zu den Sueben gar nicht ge-
langt. Nach Tacilus Zeit erwähnt Julius Capitolin. a. M. Antonin. 22
unter den vielen zum marcomannischen Bunde getretenen Völkern (vgl,
Wenck's Hess. Landesgesch. II, lOl) die Chatten gar nicht; dage-
gen führt Wenck II, p. 117 selbst aus, dass die Chatten den Aleman-
nen (ehemals Sueben) nicht angehörten.
Denen gegenüber, welche Sueben und Chatten so gern vermen-
gen, müssen wir uns genauer ansehen , was Tacitus in der Germania,
Cp. 29 , 30 und 38 über die Sitze der Chatten und Sueben sagt.
Die Chatten wohnten zu seiner Zeit und nach seinen Quellen nördlich
von den Decumatischen Aeckern , also von dem Zehentlande der rö-
mischen Grenzler, und zwar giebt Tacitus zur genaueren Zeichnung
ihrer Südgrenze Cp. 29, Ende, nachdem von den agri decumates die
Rede gewesen, an : mox limite acto promotisque praesidiis sinus Im-
perii et -pars provinciae habentur. (Cp. 30.) Ultra hos Chatti initium
sedis ab Hercynio saltu inchoant. Also erst nördlich vom limes der
Römer, wo der Wald anfing, begannen auch die Sitze der Chatten,
d. h. nördlich von dem Winkel, welcher , durch den römischen Grenz-
wall nördlich des Maines bis an die Buchonia und den Voselsberir
gebildet, zu Tacitus Zeit noch zum Gienzlande und zur Provinz ge-
hörte. Dass dies Verhältniss schon früher bestand (mox limite acto,
Tacitus;* nachdem der Grenzwall sehr bald errichtet war), d. h. bald
nach Drusus Ankunft am Niederrhein , unter Drusus schon und noch
mehr unter Tiberius, wird von einzelnen Notizen in den alten Schrift-
stellern bezeugt: wie (Dio Cass. LIV, 33) Drusus im Lande der
Chatten, unmittelbar am Rhein, das Castell anlegt, das Germanicus 15
p. Chr. wieder herstellt, Tacit. Annal. I, 56 (positoque castello super
vestigia paterni praesidii in monte Tauno) ; wie Vellejus II, 120,
sagt , penetrat interius , aperit limites , was von Erweiterung der
Grenzwehren durch Tiberius zeugt , um von andern Andeutungen zu
schweigen. Von den so gezeichneten Sitzen der Chatten nun , von da
an, wo der Hercynische Wald, nördlich vom Main, beginnt, bis dahin,
wo dieser Wald sich zur Ebene (norddeutsche Tiefebene) senkt, setzt
* Vgl. hier namentlich Dederich, die Feldzüge des Drusus und Ger-
tnanicus in dem nordwestlichen Germanien, Köln u. Neuss. 1869. L. Schwan ;
S. 77.
Archiv f. n. Sprachen. XLVIII. 7
98 Chatten und Hessen.
Tacitus die Hermunduren als einen Zweig der Sueben östlich cf. Taci-
tus Annal. XIII. 57, nach welcher Quelle um das Jahr 58 nach Chr.
sich die Hermunduren und Chatten um Salzquellen streiten. Die Her-
munduren sind zu jener Zeit der westlichst wohnende Theil der Sueben,
welche sich nach Osten zu über die heutigen Landschaften von Thü-
ringen, Böhmen, Prov. Sachsen, Schlesien, Posen, Polen, West-
und Ostpreuseen , Pommern, die dänischen Inseln und Skandinavien
erstreckten.
Tacitus scheidet zudem in seiner Germania deutlich die nord-
westdeutschen Germanen von den nordöstlichen Sueben;
die Elbe ist die natürliche Grenze im Norden, die obere Werra im Sü-
den ; dass die Scheidung in natürlichen Ortsverhältnissen ihren Ur-
sprung gehabt haben kann, ergiebt sich aus dem Umstände, dass in
der Gegend der Mündung der Hörsei in die Werra über die Nesse
nach der Unstrut, bei Gräfentonna, fast keine Wasserscheide erkenn-
bar ist und hier in ältester Zeit, in Verbindung mit den Naturbollwer-
ken der Bergmassen des Harzes und des Thüringer Waldes, undurch-
dringliche Sümpfe zwischen Weser und Elbe auf der genannten Linie,
also über Hörsei, Nesse, Unstrut, Saale bis zur Elbe, das Vordringen
der Völkerstämme sehr erschwert haben müssen.* Dieser Umstand er-
klärt auch das Vorherrschen der Verbindung des Nordosten
Deutschlands mit dem Südwesten über |die niedrige Wasserscheide
des Frankenwaldes, des Mittelgliedes zwischen Thüringer Wald auf
der einen und Fichtelgebirge mit Erzgebirge (Hercynia) auf der an-
dern Seite, von welcher Kutzen, das deutsche Land, I, S. 357 f. sagt:
„So sind denn gerade in der Nähe der höchsten einschliessenden Ge-
birge von der Natur Verbindungsbahnen nach und aus der Mitte
Deutschlands angelegt, auf denen von jeher ebenso ganzen Völkern und
Heereszügen, wie den Waarenzügen der Uebergang ermöglicht wurde.
Durch das Werrathal und unfern den Quellen der Saale über den
Frankenwald drangen in den Zeiten der Römer mehr als einmal
* Finde ich doch zufällig in der besonderen Beilage des K. Pr. Staats-
anzeigers vom 5. März 1870 No. 9 nach einem Aufsatze Carl Meyer's in
der Harzzeitung ausgezogen, wie sich bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts zu
beiden Seiten der Helme von Kleinwerther bis zu ihrem Einfluss in die
Unstrut und an den Ufern der letzteren von Sachsenburg bis nach Memle-
ben unabsehbare Sümpfe und Moräste ausdehnten, welche durch die all-
jährlich wiederkehrenden Ueberschwemmungen dieser beiden Gewässer ent-
standen waren.
Chatten und Hessen. 99
germanische Völker — denn der Germanen Hauptmacht war im Nor-
den Deutschlands — in das Mainland vor. Ueber den Frankenwald
hin gelang es später den Thüringern, ihrem grossen Reiche das Main-
gebiet, mit Ausnahme des Untermains, einzuverleiben. Und als mit
ihnen und den Alemannen die Franken im Kampfe lagen, setzten sich
theils, wie es scheint, gleich den Thüringern über den Frankenwald,
theils aus dem Egerthale hinauf über die Pässe des Fichtelgebirges,
Slaven an dem obern Main und an der Rednitz, bis zu beider Zusam-
menfluss , fest. . . . Im 15. Jahrhundert brachen die Hussiten von
Böhmen aus verwüstend auf denselben Wegen ins Mainland ein ....
und in verschiedenen Kriegen der neuesten Zeit bedienten sich die
Heere derselben Passagen. Endlich, in Rücksicht auf Verkehr und
Handel, ward der Verbindungsweg [zwischen dem Süden und Norden
über den Frankenwald, seit frühen Zeiten als eine Haupthandelsstrasse
vom Main- ins Eibgebiet, namentlich zu dem grossen Markte von Leip.
zig, gepflegt. Jetzt wird in derselben Richtung eine Eisenbahn (die
Bairische Nord- und die Sächs.-Bairische Staatsbahn) befahren."
Es ist diese natürliche Völkerstrasse , auf welcher sicher diejeni-
gen Schaaren der Sueben , die unter Ariovist bis nach dem Oberrhein
zu den Sequanern kamen, gezogen sind, auf welcher mit ihrem Neben-
wege den Main hinauf denn auch die vom Oberrhein nach dem Nie-
derrhein herunter gedrückten Marcomannen im Jahre 9 vor Christus
sich wieder zurückzogen. Die Sueben aber, die 58 vor Christus von
Cäsar beiMümpelgard geschlagen wurden und sich dann auf den Nie-
derrhein warfen, hier zunächst die Ubier bedrängten, sind zunächst
vom Süden hergekommen, und brauchen keine Chatten gewesen zu
sein ; sie dehnten sich überschwemmend in der Ebene um den Tau-
nus herum aus und kamen so im Rheingau mit den Ubiern in Berüh-
rung, wie sie die Usipier und Tencterer ebenfalls vor sich hergetrieben
hatten , Caes. d. b. Gallico, IV. 1 ff. Es stimmt'ganz und gar zu der
Zeitrechnung, welche Cäsar aufstellt, was er von den Usipetern oder
Usipern und Tencterern da erzählt, dass nämlich die Ursache ihres
Ueberganges über den Rhein der Umstand gewesen, dass sie, von den
Sueben aufgescheucht, mehrere Jahre mit Krieg bedrängt und am Acker-
bau verhindert wurden; wie es genauer zu Cap. 4 heisst, nachdem von
der civitas der Ubier auf der andern Seite des Rheins die Rede gewe-
sen ist , dass wie die Ubier von den Sueben tributpflichtig gemacht
worden seien, in derselben Lage die Usipeter und Tencterer sich be-
7*
100 Chatten und Hessen.
funden hätten , welche mehrere Jahre lang den Andrang der Sueben
aushielten, zuletzt aber aus ihren Aeckern vertrieben und nach dreijäh-
rigem Umherirren in vielen Gegenden Germaniens an den Rhein , da,
wo die Menapier wohnten und an beiden Seiten des Flusses Lände-
reien bebauten , angekommen waren. Bekanntlich schlug Cäsar den
Ariovist im Jahre 58 und traf 3 Jahre später, von den Ubiern um
Hülfe angerufen, die Sueben wiederum als Feinde dieser wie der Usi-
peter und Tencterer am Niederrhein.
Könnten wir hier nun unsere Beweisführung sofort durch eine sehr
interessante Untersuchung über die Herstammung des Volksnaraens der
Usipeter und Tencterer stützen, so müssen wir doch vorläufig darauf
verzichten, um die Frage, die vorliegt, nicht zu sehr auseinander zu
dehnen. Es ist hier bei so detaillirter Schilderung der niederrheini-
schen Völkerverhältnisse, wie sie schon Cäsar giebt, der Beweis ex ei-
lentio, die Nichtnennung der Chatten, ein vollständig schlagender.
Cäsar hatte es mit den Chatten nicht und diese nichts mit den Sueben
zu thun. Die Sueben aber, einmal in Bewegung, ergossen sich natür-
lich über das ganze ihnen von Süden her offenstehende , durch Thäler
geöffnete Gebiet. Noch heute bezeichnet die Sprachgrenze des Sü-
dens und Nordens, längs der Wasserscheide zwischen Rhein und We-
ser , die Wasserscheide abwärts hin nach dem Main u. s. w. , schwä-
belnde Mundart, und die Wasserscheide nach dem Norden abwärts , mit
Ausnahme einzelner schwäbischer Einbuchtungen, der Grundzug nie-
dersächsischer Mundart und diese selbst. Wer z. B. die Ruhr-Sieg-
bahn von Hagen nach Betzdorf über Siegen fährt, nimmt nach der
Uebersteigung der Wasserscheide zwischen Lenne und Sieg, in dem
Thal der letzteren, sofort die schwäbelnde Mundart wahr; sie ist von
der Wetterau das Dillthal hinauf in das Siegthal gedrungen; ebenso
das Lahnthal hinauf bis über Marburg in Hessen hinaus ; ebenso das
Kinzigthal hinauf bis in den obern Theil der Fulda. Die schwäbelnde
Sprache beherrscht Nassau bis in den Westerwald, wo sich neben ein-
ander Sachsen und Schwaben scheiden. Essellen in seiner Geschichte
der Sigamberer, S. 12, zeichnet ebenfalls ganz genau die Sprach-
grenze: „Die Sigambrer, nach allen Seiten, die südliche allein ausge-
nommen , von Niederdeutschen umgeben , können sich auch nur der
niederdeutschen (plattdeutschen) Sprache bedient haben. Diese hören
wir noch in dem eben bezeichneten Gebirgslande bis zu den Quellen
der Ruhr und Lenne und der in diese Flüsse sich ergiessenden grosse-
Chatten und Hessen. 101
ren und kleineren Bäche, kurz in dem Gebiete der genannten Flüsse.
Nur einige Tausend Schritte über die Quellen der genannten Flüsse
hinaus, von jeder Quelle an, die ihr Wasser der Eder (?) , Lahn oder
Sieg zusendet, herrscht eine hochdeutsche Mundart. Wir stehen da an
einer Wasserscheide und zugleich an einer Sprachgrenze, die unzweifel-
haft von den ältesten Zeiten her bestanden hat." Essellen führt auch
an, dass ein Theil des Kothaar-Gebirgs-Kammes noch „die Grenze"
heis?t, und bei den Bewohnern der Länder an der einen und andern
Seite des Gebirges sich eine auffallende Verschiedenheit nicht blos hin-
sichtlich der Sprache, sondern auch derKörpergrösse, Lebensweise u. s. w.,
zeige, die Bewohner namentlich in der Brodbereitung ganz und gar,
im Häuserbau erheblich von einander abweichen. Nimmt man in die-
ser Darlegung die Eder aus, so hat man das ganz richtige Verhältniss ;
die Eder aber muss ausgenommen werden, weil sie sich nach der We-
ser hin öffnet und namentlich in ihrem obern Theile unzweifelhaft nie-
dersächsische Bevölkerung enthält.
So weit also, wie wir gezeichnet haben, ergossen sich die Sueben
auch zu Cäsars Zeit. Nun kam er bei seinem ersten Rheinübergang
nur mit den Sigambern , die sich jedoch sammt den Tencterern und
Usipetern in die Wildniss zurückzogen und denen er nur einige Dör-
fer und Ilöfe verwüstete, in Berührung. Weiter wird dann De b. G.
VI, 9 erzählt, dass die Germanen vom jenseitigen Rhein, also die Sue-
ben, die damals die Ubier zins- und kriegspflichtig gemacht hatten
den Tencterern Hülfstruppen geschickt hatten und deshalb Cäsar zum
zweiten Male über den Rhein zu gehen beschloss, diesmal paulum supra
eum locum, quo ante exercitum traduserat.
Er deutet hier ihre Wohnsitze noch durch eine genauere Bestim-
mung an; denn da er die Zugänge und Wege der Sueben ausforschen
liess, erfuhr er durch die Ubischen Kundschafter, dass die Sueben alle
ihre Truppen und Habe bis tief ins Land hinein an die Grenzen des-
selben geflüchtet hätten, wo ein Bacenis genannter Wald von un-
endlicher Ausdehnung sei, der weit landeinwärts sich erstrecke und
wie eine natürliche Mauer die Cherusker von den Sueben und die Sue-
ben von den Cheruskern scheide bezw. vor ihren Eingriffen und Ein-
fällen schütze. Am Beginne dieses Waldes, also mit der Front nach
dem Rheine hin, hatten die Stieben die Ankunft der Römer zu erwar-
ten beschlossen.
Ist nun noch immer Streit unter den Gelehrten darüber, was un-
102 Chatten und Hessen.
ter dem Walde Bacenis zu verstehen sei , so liegt doch nichts näher,
als dass es der meist Buchonia im Mittelalter genannte "Wald ist.
Wenck in seiner Hess. Landesgeschichte verbreitet sich an verschiede-
nen vStellen über die Ausdehnung des unter diesem Namen begriffenen
Gebietes; II, S. 489 rechnet er mit CroUius das westliche Grabfeld
mit zur Buchonia, S. 492 führt er aus, dass als Waldnamen Bu-
chonia ausser dem Fuldischen auch den grössten Theil des Oberlahn-
gaues sammt einem Stück des Hessengaues begriff, bis an die fränki-
sche Saale und über einen Theil des Spessartes reichte. Nach Eberh.
Monach. VI. n. 25 heisst es: Ruthard tradidit capturam unam in
silva B ocon ia juxta fluvium Anatrafa in Pago Hassiae Provinciae etc.-
nach Urkunden 81 3 bei Falke Trad. Corbej. p. 377 ist Havukebrun
in silva Bochonia gelegen , das ist also zwischen Cassel und Münden,
wenn es sich nicht um Hachborn bei Marburg handelt. Fulda lag in
der Buchonia und Hersfeld sogar noch, wie Wenck dann weiter sagt:
eigentliche Grenzen lassen sich von einem Walde nicht bestimmen, und
der Name verschwand allmälig unter den verschiedenen politischen
Abtheilungen, welche innerhalb seiner weitern Ausdehnung allmälig
eintraten , selbst die verschiedenen Unterabtheilungen des Waldes
(S. 460) Salzforst, Branforst, Zunderhardt treten in den Vordergrund,
doch ist unter den Gebirgsgegenden des Oberlahngaus sicher der Vo-
gelsberg (Fugalisberc) im Amt Ulrichstein diejenige Abtheilung,
welche ihren Namen bis in die alte Zeit zurückführen kann. So weist
denn auch bereits Gatterer synchron. Universal-Gesch.', S. 703, den
Namen Boconia dem Bacenis Cäsars zu. Anklingende Schreibungen
des Mittelalters sind Bochenne, 8, Laur. sec. 8 n. 36, 30 p. Gozfeld;
Baconia, Pertz. Monum. Germ. XII, 371 gest. abb. Trad. ; woneben noch
vorkommen die Schreibungen Boconia aus dem 6. Jahrhundert; Boko-
nia Dr. a. 838, n. 524; Bocconia, Pochonia, Buconia, Buchonia,
Buochonia, Buochunna, Puohunna etc.; vgl. Förstemann, Altd. Orts-
namen, S. 258.
Die vorstehenden Schreibungen Bochenne und Baconia stehen der
Lesart des Jul. Cäsar möglichst nahe; wir haben es offenbar mit dem
weit ausgedehnten Buchenwald zu thun , welcher , vom Sigamberland
beginnend, die Wetterau im Norden umsäumend, sich nach Osten zu
zog und von welchem der heutige Vogelsberg wahrscheinlich die Höhe
ist, an der sich die Sueben sammelten, um Cäsar's Herannahen zu er-
warten. Der Buchwald, in der möglichsten Ausdehnung gedacht, er-
Chatten und Hessen. 103
klärt auch am besten die Ueberlieferung, dass der König Siegbert von
Ripuarien von Köln aus sich zur Jagd in die Buchonia begab, wie denn
auch Justus Moser Osnabr. Gesch. I, d. 137, Anm. 6 wieder ganz
richtig bemerkt: Man muss aber sylvam Bacenem infinitae magnitu-
dinis Caes. d. b. G. VI für Alles nehmen, wofür er genommen werden
kann, und sich vorstellen, dass man oft von einer Seite alles Schwarz-
wald und von der andern alles Harzwald nenne! Wenn er aber weiter
meint: Die Chatten, quos Saltus Hercynius prosequebatur et depone-
bat Tac. Germ. 30 müssen es ihrer Lage wegen mit den Sueben oder
mit den Sachsen halten, so ist doch da ein Drittes möglich, nämlich,
dass sie noch gar nicht im Gange waren, d. h. noch keinen besonders
hervortretenden Stamm darstellten und von den Sueben so zu sagen
angefasst und herausgefordert waren. Ganz verständig macht in einem
in Cassel erscheinenden belletristischen Blatte aber im März 1870 ein
Herr K. H. die Bemerkung, dass die Cherusker in einer von ihm ange-
nommenen vorchattischen Zeit sich den Mittelpunkt um Maden ausge-
sucht und hierhin von Alten-Heerse bei Willebadessen aus ihr Macht-
gebiet ausgedehnt hätten ; denn Maden sei friesisch ; der Oberdeutsche
sagt Matten. In Dronke trad. Fuld. S. 48 n. 168 a. heisst es: Ego
Orbalt prbr. Ratbraht et Liuteger fratres mei donavimus ad Sem.
Bonifacium in fuidensi monasterio in pago wertingewe in villa que di-
citur Astolfesheim parteni pratorum, quod lingua nostra dici-
tur Macla. Es ist da von den Besitzungen des Fulder Klosters in
Friesland die Rede. Man vergleiche hierzu, was Hermann Meyer
in dem Buche: Ostfriesland in Bildern und Skizzen etc., Leer 1868,
Bock, S. 85, von dem wildromantischen Charakter der Meeden,
Grasflächen im Haidelande, sagt. Für vom deutschen Niederland
ausgehende Besiedlung der Gudensberger, also echt hessischen Gegend,
sprechen noch die Namen andrer noch bestehender und ausgegangener
Ortschaften jenes Bezirks, so die ausgegangenen Dörfer Fenne, bei
Gudensberg, vgl. z. B. Venne bei Lüdinghausen,* ein Name, der
• Man braucht hier nur die zu J. Möser's Osnabrück. Geschichte gege-
benen Noten und Documente auf die vorkommenden Ortsnamen anzusehen
und zu vergleichen, Venne I, S. 117, Ander venne II Docum. S. 80; zu
Deute Rotholfus de Thuite II .Docum., S. 71, de Thuthe S. 73; zuDissen:
Disna I, S. 56, Anm. f. Eckhart de Dissene II. Doc, S. 112 öfter; Dissen
kommt übrigens auch in den Niederlanden, südl. Osterwijk zw, Nordbrabant
und Kempenland, vor; zu Haldorf, Holtorpe II. Doc, S. 119 ff.; zu Lahie,
villa Lare II. Doc, 81 : hierbei findet sich die Bemerkung ad fluvium Emese
104 Chatten und Hessen.
im Niederland so häufig für Niederlassungen ist, der noch bestehenden
Deute, Dissen, Ilaldorf, Holzhausen, Dorla, Castorf, Wabern, Zenuern
Lohre (alt Lar), Lohne (alt Lone), Balhorn u. s. w.
Es werden später noch mehr Gründe entwickelt werden , aus de-
nen sich ergibt, dass die ersten germanischen Besiedlungen chattischer
Landschaft durch einen Stamm geschah , der früher an der Ems , in
Friesland u. s. w. sass, einstweilen muss hier dahin abgeschlossen
werden, dass, was die äussern geschichtlichen Zeugnisse be-
trifft, Cäsar noch nichts von den Chatten wusste. Wenn er an der
angegebenen Stelle im VI. Buche sagt: exploratores nuntiant: Suebos
omnes posteaquam certiores nuntii de exercitu Romanorura venerint
cum oiTinibus suis sociorumque copiis , quas coegissent, penitus ad
extreraos fines se recepisse, so folgt daraus noch gar nicht, dass unter
den Sociis die Chatten gewesen, und wären sie darunter gewesen, so
folgt höchstens auch hieraus wieder, dass sie dann keine Sueben wa-
sita, und eine Ems fliesst auch im Gudensberger Lande; zu Holzhausen,
Holtzhusen H. Doc, S. 42, Holthusen sehr oft . Zu dem westfälischen Lies-
born L Poe. p. 10 vergleiche man noch den Namen eines am Odinberge bei
Gudensberg entspringenden Brunnens Gliesborn, dessen weiches Wasser in
den umliegenden Dörfern einen so ausgezeichneten Ruf genlesst , dass die
Bauernweiber derselben an dem Brunnen ihre sjrossen Wäschen besorgen.
Zu Dorla (alt Thourisloon) vergleiche man die Wüstung Uorslon im Al-
niengau bei Brilon (Becker, Beiträge zur Geschichte von Brilon. Osterbe-
richt des Gymnas. Petrin, zu Bril. 1869, S. 30); zu Balhorn das westfä-
lische Balhorn bei Sendenhorst, südöstl. von Münster und die sogenannte
Wüstung bei Paderborn; zu Castorf Castrop westl. Dortmund; zu Wabern
nur das durch die Schlacht von Waterloo berühmt gewordene Wavre ; zu
Zennern zu dem im Saallande Prov. Ober-Yssel (Holland) vorhandenen.
Andere im Hessenlande im weitern Sinne und in Westfalen gleich vorkom-
mende Ortsnamen sind noch: Hesslar bei Felsberg — Kesslar zwischen
Lippstadt und Hamm; Beuern, Amt Felsberg — Buer, Buren, Moser Os-
nab. Gesch. H. Doc, S. 122; Berge, bei Homburg — Berge, Moser a. a.
O. H, S. 122; Isthe bei Wolf hagen — Esethe Moser H. Doc, S. 57; Ip-
pinghausen bei Wolf hagen — Evinckhusen, Mos. IL Doc, 64; Malsburg —
Maltbergen, H. Doc,, S. 71 Auch sonst vergleiche man noch Affbldern
im Waldeckischen, nahe der hess. Grenze, mit Apeldorn, Amt Meppen, Ma-
den mit Tbacmade (Vorwerck) bei Moser a. a. O., Waltersbrück bei Dorheim
mit WalJenbruck, Kappel bei Fritzlar mit Capele, den Namen der Land-
schaft Hessen mit dem Namen des Dorfes Hesnon, Mos, Osnabr. Gesch. II,
S. 12, Hessum, Bauerschaft im Kirchspiel Holte, hinter Löningen und dem heu-
tigen Heessen bei Hamm ; MöUrich bei Fritzlar mit Mellrich bei Soest ; Verne
bei Homberg mit Verne bei Lippstadt; Dörnhagen bei Cassel mit Dören-
hagen bei Paderborn; Holzheim hess. Amt Niederaula mit Holtheim bei
Paderborn; Velmede in Hessen mit Velmede Herrsch. Meschede in Brilon;
Zusehen an der waldeck-hess. Grenze mit Zusehen bei Winterberg; Dalwig
im Waldeckischen mit Dellwig bei Unna, zu welchem Namen auch wahr^.
scheinlich das verkürzte Dillich bei Homberg gehört.
Chatten und Hessen. 105
ren, sondern socii Sueborura. Von den Chatten ist noch nicht einmal
die Rede, als im Jahre 25 vor Chr. römische Kaufleute , die über den
Rhein gekommen waren , von den Germanen ermordet wurden , wofür
sie M. Vinicius Dio Cass. LIII, 26, züchtigte; ebenso wenig werden
sie aufgeführt, als nach Dio Cass. LIV, 20, Scholiast Acron. zu Ho-
rat. Od. IV, 2, Römer oder gar römische Centurionen von Sigambrern,
Usipetern und Tencterern gekreuzigt wurden, worauf diese sogar über
den Rhein gingen und Gallien verwüsteten. Auch nach Strabo VII,
waren es die Sigambrer, welche dergleichen stifteten. Lollius, der die
Rache dafür zu nehmen hatte (Jul. Obseq. de Prod. 131), verlor da-
mals den Adler der 5. Legion, Vell. II, 97, Sueton. Oct. 23. Tacit.
Ann. 1. 10, worauf Kaiser Augustus selbst an den Rhein kam und
nach Dio LIV. 20 die Germanen Frieden schlössen und Geissein stell-
ten, 16 vor Christus. Im Jahre 13 kehrte dann Augustus Dio LIV,
25, nach Rom zurück und überliess seinem Stiefsohne Drusus den
Oberbefehl am Niederrhein. Auch dieser kommt auf seinem ersten
Feldzuge nach Germanien im Jahre 12 nur mit den Usipetern und Si-
gambrer in Berührung, zieht (Dio LIV, 32) durch das Land der
Chauken und besiegt nach Strabo VII die Bructerer. Erst im Jahre
11, wo er durch das Land der Cherusker bis zur Weser vordringt
und die Germanen durch die Anstalten des Drusus aufs äusserste arg-
wöhnisch gemacht worden waren und sich zu gemeinsamer Abwehr
vereinigten , traten Sigambrer, Cherusker und Sueben zusammen und
die Sigambrer versuchten da , auch die Chatten zum Bündniss zu
zwingen; bei dieser Gelegenheit also werden die Chatten zum er-
stenraale ei'wähnt, sie gehörten auch nach dieser Ueberlieferung
nicht zu den Sueben , sonst wären sie nicht abgesondert neben den
Sueben genannt worden, und waren nach den Andeutungen einer an-
dern Stelle Dio LIV, 36, wie man annimmt, durch Landanweisung
im rechtsrheinischen ehemaligen Ubierlande, also gerade gegen die
Sueben, für Drusus gewonnen. Damals zog Drusus vom Rhein aus
durch das Land der Usipeter, fiel, über die Lippe gehend, verwüstend
in das Land der im Kriege gegen die Chatten ausgezogenen Sigambrer
ein, drang durch das Land der Cherusker zur Weser vor und erlitt
von den Cheruskern , Sueben und Sigambrern auf dem Rückzuge
empfindliche Verluste, nach Plinius H. n. XL 17. Jul. Obseq. de Pro-
dig. L 132 bei Arbalo (vielleicht Erpenlrup am Hambach im Egge-
gebirge). Im Jahre 10 zog dann Drusus auch geradezu gegen die
106 Chatten und Hessen.
Chatten in ihrem eigenen Lande, d. h. vertrieb sie wahrscheinlich wie-
der vom Rhein weg, wo er das Castell gegen sie im Taunus anlegte.
Also fällt nach den äusseren Zeugnissen das erste Auftreten der
Chatten als eigner Germanenstamm in das Jahr 11 vor Christus,
44 Jahr nach dem ersten Zuge Julius Cäsars über den Rhein ; es ist
das ein Zeitraum, lang genug, um einen Auswanderungszweig der
Cherusker im Chattenlande zu einem selbstständigen Auftreten heran-
reifen zu lassen. So erklärt es sich auch ganz gut, wenn Cäsar d. b.
Gall. VI. den Wald Bacenis, also den weit ausgedehnten Buchenwald
um die Nordgrenze der Wetterau herum bis ins heutige Fulder Land,
die Grenze zwischen Sueben und Cheruskern sein lässt. Ein ähnliches
Verhältniss, wie mit den Chatten, besteht auch mit den Marsen.
Strabo VII, 1, heisst es von dem Oberbefehl des Tiberius in Germa-
nien vom Jahre 7 vor Christus ab: Von den dortigen Stämmen (von
denen an der Ostseite des Rheines) haben die Römer einige nach Gal-
lien versetzt, andere, wie'die Marsen, zogen weiter in das Land
hinein, einige wenige blieben, darunter ein Theil dep Sigambrer.
Der grössere Theil der letzteren wurde bekanntlich von Tiberius im
Linksrheinischen, Strabo IV, 3 , im noch unbebauten Landgebiete der
Menapier angesiedelt.
Wie hier die Marsen weiter ins Binnenland hineinziehen, so zie-
hen sich die Chatten wieder vom Rhein zurück, wie die Chatten im
Jahre 10 zuerst als eigner Stamm auftreten, so die Marsen zuerst 7
vor Christus; sie waren auch ursprünglich wohl nichts als ein Theil
der Bructerer oder Sigambrer und es ist S. 94 bereits ihr vermuthlicher
Nationalmittelpunkt in dem heutigen Stadtberg oder Marsberg neben
Volkmarsen angegeben. Wie bei den Hessen sich neben dem alten
Landgericht Maden das Landgericht Dietmelle, jetzt Kirch-Ditmold bei
Cassel, ein viel älterer Volksmittelpunkt als eben das daneben liegende
Cassel, findet, wie sich dann von Maden der Mittelpunkt nach Gu-
densberg, später der Mittelpunkt von Maden sowohl als von Dietmellen
nach Cassel zieht, so findet sich im Lande der Marsen Volkmarsen
neben Eresburg, und darf man wohl dieses Volkmarsen in Analogie zu
Dietmarsen in Holstein betrachten. Hierzu dienen zu Anhaltspunkten
Orts- und Flurbezeichnungen in der Umgegend von Volkmarsen. So
findet sich zwischen Welda und Volkmarsen an der Twiste eine Flur,
genannt „In der Marsch;" oberhalb Volkmarsen der grosse Stadtbruch,
darüber Wiesen, die „Alern" genannt; man hat es hier also mit einer
Chatten und Hessen. 107
Gegend zu thun, in welcher der niederdeutsche Ausdruck „Marsch"
geläufig und passend war und noch ist. Nehmen wir nun an, dass
sich die Marser von Volkmarsen aus noch weiter die Diemel und
deren Seitenzufliisse aufwärts in das heutige Waldeckische hineinzo-
gen, so haben wir, da Arolsen oberhalb Volkmarsen an der Twiste,
Volkmarsen selbst am Zusammenfluss von Twiste und Erpe, und an
letzterm Bache oberhalb Volkmarsen wieder Wolfhagen liegt, die Mar-
sen als nächste Nachbarn der Chatten im Alterthum , wie die heute
noch niederdeutsche Mundart redenden Waldecker als nächste Nach-
barn der Hessen, deren Mundart später von der Mainzer und Thüringer-
landherrschaft inficirt worden ist und zwar so, dass, wer sich heute
noch in dem hessischen Grenzort Ungedanken eines Sonntag Nachmit-
tags ins Wirthshaus unter die Bauern setzen will, sofort die hessischen
Bauern an der Mundart unterscheiden kann von der Mundart der eben
aus dem nächsten waldeckischen Grenzort Mandern anwesenden Gäste.
Die heutige Mundart entscheidet natürlich nicht mehr über die Mund-
art der alten Zeit, welche unter den verschiedenen germanischen Stäm-
men sehr wenig unterschieden gewesen sein wird , aber sie bezeichnet
heute noch die Spur alter natürlicher, durch die geographische Lage
vorgezeichneter Stammesgrenzen.
Damit ist wohl zur Genüge dargethan , dass nach äussern Zeug-
nissen die Chatten keine Sueben gewesen sind und nach dem Innern
Gange der Dinge es nicht wohl haben sein können ; wären sie Sueben
gewesen, so wären sie vor Drusus nicht nach Norden zu den Cherus-
kern, sondern nach Süden zu den Sueben zurückgewichen.
Nun untersuchen wir noch die betr. der Chatten und Sueben über-
lieferten Sitten- und Gewohnheitsschilderungen, bezw. die sachlichen
Unterschiede, welche namentlich nach Tacitus Bericht zwischen Sueben
und Chatten bestanden. Die Sueben sind nach Tacitus wie nach Cä-
sar gute Reiter, und die Chatten nach Tacitus vorzugsweise Fussgän-
ger, wie das ihr Wohnen in den Waldbergen mit sich brachte, wäh-
rend den aus der Ebene kommenden Sueben die Reiterei näher lag. Von
der Kriegskunst der Chatten macht Tacitus German. 31 eine Beschrei-
bung, welche sie in einem besonders vorgerückten Stadium erscheinen
lässt. Sie wählen sich Offiziere, hören auf deren Commando, kennen
Marschiren in Zügen, verstehen es, passende Gelegenheiten zu benutzen,
den Angriff auf eine günstige Zeit zu verschieben, den Tag einzuthei-
len. Nachts sich zu verschanzen, mehr Gewicht auf die Führer als auf
108 Chatten und Hessen.
das Heer zu legen. Omne robur in pedite, quem supra arma ferra-
mentis quoque et copiis onerant, ganz wie es die Römer machen. Die
Chatten zogen in den Krieg, rühmt Taritus , nicht wie die andern
Völkerstämme in Scharmützel. Den Gegensatz zur Kampfesart der-
selben schildert Tacitus Annal. II, 14 non loricam Germano, non ga-
leam, ne scuta quidera ferro nervove firmata .... primam utcunque
aciem hastatam ; caeteris praeusta aut brevia tela . . . sine pudore fla-
gitii sine cura ducum abire, fugere. Den Sueben freilich rühmt Taci-
tus auch nach : „Freilich ist es eine Eigenthümlichkeit der Reiter-
kräfte, schnell den Sieg zu bereiten und schnell zu weichen (wie die
Nomadenstämme es machten);" aber, Avendet er selbst ein, wie die
Schnelligkeit neben der Flucht und Furcht wohnt, so steht die zau-
dernde Langsamkeit der Beharrlichkeit nahe.
Wie nun Cäsar de b. Gall. IV , 2 von den Sueben ihre Stärke
in der Reiterei rühmt, so jedoch, dass sie auf eingebornen , schlechten
und missgestalteten Rossen ritten, die nur gut eingeübt seien , so ent-
spricht das ihrem damals vorherrschenden Nomadenleben , ihrer Nach-
barschaft mit slavischen Stämmen und ihrer damaligen Agrarverfas-
sung, welche selbst nach Cäsars Schilderung 1. 1. IV, 1 mit der sla-
vischen, grossrussischen, serbischen u. s. w. übereinstimmt: Sed pri-
vati ac separat! agri apud eos nihil est neque longius anno remanere
uno in loco incolendi causa licet. Neque multura frumento, sed maxi-
mam partem lacte atque pecore vivunt multumque sunt in venationi-
bus etc. Hierzu sagt v. Haxthausen, die ländliche Verfassung Russ-
lands, Leipzig 1866, Brockhaus, S. 416, Anmerk. : „Man glaube übri-
gens nicht, dass diese Ackerverfassung bloss den Russen (die Russen
vom Stamme Ros stammen aus Schweden, dem alten Suebenlande des
Tacitus, Anm. d. Verf.) eigenthümlich ist , sie bestand auch bei den
Germanen. Cäsar beschreibt sie ganz deutlich, aber was mehr ist,
sie hat noch bis in die neuesten Zeiten in einzelnen Theilen Deutsch-
lands bestanden. Ich fand noch 1834 auf dem Hochwakle von Trier
die sogenannten Geheberschaftsgemeinden, wo alle 1 3 Jahre aller Grund
und Boden von Neuem unter alle Gemeindeglieder vertheilt ward etc. "
Diesen Zustand der Agrarverfassung bei den Sueben scheint auch Ta-
citus im Auge gehabt zu Ihaben , wenn er Germania c. 26 sagt: Die
Aeeker werden nach der Zahl der Bebauer von Allen insgesammt wech-
selsweise besetzt; und sie theilen dieselben dann unter sich je nach der
Würde, Die Leichtigkeit der Theilung wird durch die weite Ausdeh-
Chatten und Hessen. 109
nung der Felder bedingt. Sie wechseln die Gefilde alle Jahr und im-
mer ist dann noch Land übrig. Hiernach sehen wir selbst zu Tacitus
Zeit noch nomadenhafte Gewohnheiten bei den Sueben vor uns und
es ist bezeichnend für die vorher geschilderten agrarischen Zustände
der eigentlichen Germanen, wenn Tacit. Germ. 16 sagt: „Es ist hin-
länglich bekannt, dass die Völker der Germanen keine Städte bewoh-
nen, ja dass sie nicht einmal untereinander verbundene Sitze dulden.
Sie bauen sich getrennt und verstreut, wo eine Quelle, ein Feld oder
ein Hain ihnen gefällt, an, Sie errichten Weiler, nicht nach unserer
Sitte durch aneinander gehängte und verbundene Gebäude, sondern
jeder umgiebt sein Haus mit einem leeren Räume, entweder als Mittel
gegen Feuersgefahr oder aus Unkenntniss anderer Bauart." Justus
Moser verweist schon in seiner Osnabrück. Geschichte auf diese auf
altsächsische Art der Niederlassung hinweisende germanische Sitte im
Gegensatz zu der im Süden noch gewöhnlicheren nomadenhaften Sitte
der Sueben. Dass die Chatten hierin dem alten sächsischen System
näher gestanden haben, als dem suebischen, ergiebt sich aus dem heute
noch erkennbaren Vorherrschen der Anlagen von Einzelsitzen in ihrem
Lande. Ich habe an einem andern Orte* ausgeführt, wie in ganz
Hessen die Ortsnamenbildung auf — Hausen den bedeutendsten
Prozentsatz bildet; für Niederhessen allein ist der Satz noch viel be-
deutender: zu verweisen ist hier auch noch auf Endemann's Vortrag
im Januarheft 1870 der Zeitschrift für Preuss. Gesch. und Landes-
kunde, S. 7, wo er das eine System der Einzelhöfe als u. A.
auch besonders in Niederhessen verbreitet angiebt, womit nur
nicht gut zu reimen ist, dass er S. 9 kurz darauf das andere System
der Dorfverfassung durchweg als in Althessen herrschend auffuhrt,
worin sich Hessen von Niedersachsen geschieden. Es ist auch nicht
gerechtfertigt, dass Endemann ohne Weiteres die Chatten zu Sueben
macht, da die auch von ihm als ursprünglich angenommene Mark-
verfassung bei den Westfalen, also den Niedersachsen, so alt ist,
als die Einzelhofverfassung. Beide decken sich gerade ; wie denn auch
wieder die Dorfverfassung in Niedersachsen anzutreffen ist, wo die ber-
gige Oertlichkeit oder die Nothwendigkeit, hinter Dorfraauern vor dem
Fehdewesen Schutz zu suchen, die Zusammensiedlung zu Dörfern er-
* Etymologische Spaziergänge durch Hessen; Zeitschrift des Vereins
rur hessische (iesch. und Landeskunde. Neue Folge, Bd. II, S. 87.
jj(j Chatten und Hessen.
zwangen hat. So kommen Vlietberge im Holländischen, Heuberge im
Eider°tädtischen , die trup , dorps, terpen u. s. w. gerade so gut im
niedersächsischen Tiefland wie im Hochland vor; die Terpen im
Meergebiet sind sogar so viel als die Houks oder Wurts, Warpen oder
Wurden im Chauken- und Friesenlande, welche künstlich erhöhte Erd-
aufwürfe sind , auf denen die Höfe sich vor der Meeresfluth des Tief-
landes schützen. (Kampen, Gesch. d. Niederlande, I, 6 , Terpen oder
Vlietberge, wo sie ihre gemeinschaftlichen Zufluchtsörter fanden, welche
davon den Namen dorp (Dorf) erhielten.) Also suebisch ist die Mark-
oder Dorfverfassung ebenso wenig ausschliesslich, wie etwa die eine
niedersächsisch; sie haben sich auseinander oder ursprünglich entwi-
ckelt, je nach gegebenen Verhältnissen im hohen Norden wie im Sü-
den ; so ist auch aus dem Vorkommniss der Dorfverfassung bei den
Chatten kein Schluss auf ihr Suebenthum zu machen; die Nieder-
hessen, also die ursprünglichen Chatten, hatten aber vorzugsweise das
niedersächsische Einzelhofsystem.
Sie unterschieden sich auch in einzelnen Sittenzügen von den Sue-
ben, welche letztere Tacitus etwas wilder in ihrem Aeusseren schildert,
als die Chatten sich darstellten. Germ. 38 sagt er : „Besonders eigen
ist es diesem Stamme (genti), das Haar in einem Knoten zusammenzu-
binden. So unterscheiden sich die Sueben von den übrigen
Germanen (unter welchen letzteren er auch die Chatten aufgeführt
hatte) und die Freien unter den Sueben von den Sklaven. Bei andern
Stämmen ist, sei es durch irgend eine Verwandtschaft mit den Sueben
oder, was oft geschieht, in Folge Nachahmung, diese Sitte wohl, aber
selten, und nur bei der Jugend zu finden ; bei den Sueben aber kämmt
man bis ins graue Alter das starrende Haar rückwärts und bindet
es oft in einen einzigen Scheitelknoten. Die Vornehmen haben die-
sen auch wohl mehr geschmückt; das ist ihre Sorge für Schönheit,
aber eine unschuldige, denn weder um zu lieben noch um Liebe zu
erregen schmücken sie sich, sondern kämmen sich eher zu einer beson-
dern Höhe und zum Schrecken, wenn sie in den Krieg ziehen wollen,
für die Augen ihrer Feinde auf." Das ist, wie schon Wenck, Hess.
Landesgesch. H, p. 108, ganz richtig vergleicht, als wenn man die
Irokesen oder irgend einen andern Indianerstamm schildern hört. An
die Sitten der Indianer erinnern die Sueben sehr und die Aehnlichkeit
wird noch dringender, wenn man bei Amraian. Marcellin. XXI, cp. 2,
also noch im 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung von den Alanen
Chatten und Hessen. 111
liest, dass sie den Erschlagenen die Kopfhaut abzogen und ihren Pfer-
den als Schmuck anhingen, wie die Indianer die Skalpe benutzen. Und
zwar werden auch die Alanen geschildert als Germanen, von langem
Wüchse, schöner Gestalt mit gelbem Haar, den Feinden fürchterlich
durch den zornigen Blick ihrer Augen. * Eine andere Schilderung
von Sueben erinnert an die Kanoefahrten und das persönliche Gebah-
ren von Indianern bezw. deren Häuptlingen. Vellej. Patercul. erzählt
II, 107: Als wir das diesseitige Ufer des vorgenannten Flusses (der
Elbe) mit unsrem Lager besetzt hielten und das jenseitige Ufer von
der bewaffneten Mannschaft der Feinde (Semnonen und nach Tacitus
Germ. 39 doch auch Sueben) , welche auf jede Bewegung unserer
Schiffe sofort zurückflohen, blitzte, bestieg einer von den Barbaren, von
vorgeschrittenem Alter, ein körperlich hervorragender Mann, eine aus
einem Baumstamm gehöhlte Wanne, wie es bei ihnen Sitte ist, und
kam, allein jenes Art Fahrzeug lenkend , bis in die Mitte des Flusses ;
er erbat sich, es möchte ihm erlaubt sein, ohne Gefahr an jenem Ufer,
das wir mit unsern Waffen besetzt hielten, zu landen und den Cäsar
zu sehen. Seine Bitte ward ihm gewährt. Dann sprach er, nachdem
er den Kahn gelandet und lange schweigsam den Cäsar betrachtet
hatte: „Unsere Jugend tobt, die, da sie doch Euren Wink in Eurer
Abwesenheit ehrt, wenn ihr da seid, lieber Eure Waffen fürchtet, als
dass sie Treue hält. Aber ich habe mit Deiner Wohlthat und Er-
laubniss, o Cäsar, die Götter, von denen ich vorher hörte, heute gese-
hen, und ich habe mir keinen glücklicheren Tag meines Lebens ge-
wünscht und gedacht. " Nachdem er es noch erlangt hatte, dass er je-
nem die Hand anrühren durfte, kehrte er in sein Schifflein, unverwandt
auf den Cäsar rurückblickend, zurück und landete wieder am Ufer
der Seinigen. So hatten also die suebischen Semnonen an der Elbe,
die Gegenwohner der Hermunduren , auch die Kanoefahrten der
Indianer. Von diesen haben sich die Germanen freilich gründlich
dadurch unterschieden, dass sie sich so ausgezeichnet für den sesshaf-
ten Ackerbau eigneten, dessen Uebung sie übrigens schon aus dem
Osten mitbrachten und wahrscheinlich auf der langen Wanderung mehr
* So sagt auch DIodor. Sicul., ein Zeitgenosse Cäsars, V, 28, von den
Galliern zu beiden Seiten des Rheins: „Den gefallenen Gegnern nehmen sie
die Köpfe und hängen sie an die Hälse ihrer Pferde." Unter diesen Gal-
liern (KsXtcov des Dio Cass.) waren auch die german, Sueben, mit weisser,
durchsichtiger Haut und goldgelbem Haar.
^^2 Cbatten und Hessen.
oder wenio-er ausser üebung hatten kommen lassen. So erklärt sich
am besten auch jene Stelle bei Cäsar de b. Gall. IV, 2 , wo Ariovist
erzählt dass er mit seinen Eeitern seit 14 Jahren nicht vom Kriegs-
pfad und von den Rossen gekommen sei.
Viel sesshaftere Anlagen scheinen bereits die Chatten zu haben.
Von ihrem Haarschmuck sagt im Gegensatz zu dem der Sueben Taci-
tus Germ. 31: „Bei den Chatten herrscht die übereinstimmende Sitte,
so wie sie erwachsen sind, Haar und Bart lang wachsen zu lassen,
und bevor ein Feind getödtet ist, diesen angelobten und der Tapferkeit
geschuldeten Gesichtsschmuck nicht abzulegen. Erst über Blut und
Beute enthüllen sie die Stirn (die Sueben also kämmten die Haare zu
einem Knoten zurück) und glauben dann erst den Preis für ihre Ge-
burt bezahlt und sich des Vaterlandes und ihrer Eltern würdig gemacht
zu haben." An diese Sitte erinnert auch die Erzählung des Tacitus
Hist. IV, 61, von Claudius Civilis, dem Führer der Bataver, welche
ja aus dem Stamme der Chatten von Tacitus hergeleitet werden. Er
Hess, einem Gelübde zufolge, sein Haupthaar wachsen, bis er eine hin-
reichende Anzahl Feinde getödtet hatte. Das ist ganz chattisch. Dass
Tacitus Germ. 29 von dem chattischen Ursprung der Bataver berich-
tet, ist so plausibel, wie nur etwas und wird bestätigt dadurch, dass
er es an zwei verschiedenen Stellen seiner Werke betont und zwar
Hist. IV, 12 sagt: seditione domestica pulsi (Batavi pars Chattorum)
extrema Gallicae orae vacua cultoribus simulque insulam Batavam a
se dictam occupavere , quam mare Oceanus in fronte, Rhenus amnis
tergum ac latera circumluit. Hierin ist nur falsch , dass die Bataver
der Insel den Namen gegeben; die Insel hat den sie besiedelnden
f Chatten den Namen gegeben; denn noch heute heisst die Insel zwi-
schen Waal und Rhein die Batuwa und ihr Name entspringt aus der
Zusammensetzung von dem holländischen bat — . gut, fruchtbar von ba-
ten, fördern, helfen (vgl. Kampen, Geschichte der Niederlande, Heeren
Ukertsch. Sammlung 1831, I, p. 3)* und ist die gut baubare Aue im
Gegensatz zu Meeruwe oder gar Veluwe, welche ihr anliegt. In Vel
oder Fei steckt der Begriff Fels wie in dem schwedischen Worte Fiel-
* Jetzt spaltet er (der Rhein) sich in zwei Arme, i^ie Waal und den
Rhein, welche die reiche fruchtbare Landschaft Batuwe (Bat-aue) umfassen.
Im Norden erhebt sich der Boden wieder in malerischen Höhen, hinter
welchen ein dürrer Sandboden, die Fortsetzung der Haideländer, die sich
von der Spitze von Jütland bis an den Ausfluss der Scheide erstrecken,
den Namen Vel-uwe (schlechte Aue) trägt.
Chatten und Hessen. 113
fräs der Felsbewohner, wie denn auch heute noch der felsige sandige
Boden der Veliiwe in dem Grade wenig fruchtbar, wie der Marschbo-
den der Batuwa fruchtbar ist. Man vergleiche hierzu die Ortsnaraen-
form Velmar bei Cassel zu dem nahe liegenden Weimar, das eine ist
der schlechte Moor, das andere das weiche ackerkrunu-eiche. Wir ha-
ben dann auch den Beweis dafür, dass die Insel Batuwa so hiess, ehe
von Chatten die Rede ist, an der Stelle bei Cäs. d, bell. Gall. IV, 10,
wo Cäsar sagt, dass die aus dem Wasgau (Vosegus) kommende Maas
nach Aufnahme eines Theiles vom Rheine, der Vacalus (Waal) genannt
werde, die Insel der Batavi bewirke. Wir haben hier zwei Beispiele
zugleich, an denen wir sehen , wie die Namen , welche die römischen
Geschichtsschreiber aus Germanien und Gallien anführen , germani-
schen Ursprungs sind. Vosegus ist nichts als die lateinisirte Form vom
altdeutschen Wasgau und Batavi die latinisirte Form des altdeutschen
Wortes Batuwer. Von der Landschaft oder einem Wohnmittelpunkte
rühren auch die meisten Volksnamen her, wie wir weiter unten sehen
werden. Für die Auswanderung der Chatten nach Batavien sprechen
aber die natürlichen Verhältnisse. Schon Wenck a. a. 0. II, S. 11 3,
sagt: „Die Kriege der alten Deutschen waren, so oft sie nicht gerade in
ihrem Lande angegriffen wurden, doch immer nur eine Art von Streif-
zügen; bei dem Allen (nämlich wenn man auch an Heere der Deut-
schen denken konnte) war die Bevölkerung immer noch gross genug,
um sich wundern zu können, wie die deutschen Wildnisse für ihre Er-
nährung hinreichten . . . die einfache Lebensart macht's allein nicht
aus; man kann vielmehr weit richtiger sagen, das sie wirklich nicht
hinreichten, und dass bei den Chatten und andern deutschen Völkern
das Plündern feindlicher Provinzen , noch mehr aber die häufige Aus-
sendung von Colonien, nicht blosse Raubgier oder Wanderungssucht,
sondern ein nothwendiges Uebel waren, das den Plunger oder die
Furcht davor zur ersten Quelle hatte." Es geht durch die ältesten Ge-
schichtsschreiber das Motiv für die Auswanderungen der Volksstämme,
dass die seitherigen Wohnsitze nach der damaligen Kunst, den Boden
auszunutzen, für die üeberschüsse der Bevölkerung nicht ausgereicht
oder zu üppig gemacht hätten ; so berührt dieses Thema , um nicht zu
weit zu greifen, Thukydides in der Einleitung zu seinem Geschichts-
werk und ebenso Livius bei Gelegenheit der Auswanderung der Bojer
aus Gallien theils nach der Donau , theils nach dem Po (abundans
multitido Liv.V, 33, 34). Natürlich wirkte, wie Livius auch angiebt,
Archiv f. n. Sprachen. XL.VIU. S
114 Chatten und Hessen.
die Anlockung cultivirterer Landschaften mit, und zu der Germanen
Zeiten namenth'ch die Cultur der römischen und römisch -gallischen
Landschaften, weil die „Barbaren" lieber in ein fertiges Werk als Ei-
genthümer hineintraten, als sich mühsamer Urbarmachung noch wüster
Striche unterzogen.
In solche aber müssen die Chatten eingezogen sein, als sie die Li-
sel Batuwa besetzten, wie auch von der Uebersiedlung der Sigambrer
erzählt wird, Strabo IV, 3: Zuletzt kommen die Menapier an beiden
Seiten der Mündung (des Rheins) , wo sie ein sumplSges und waldiges
Land bewohnen. Der Wald ist zwar nicht hoch (kein Hochwald),
aber dicht und dornig. Dort sind die Sigambrer aus Germanien angesie-
delt. Nach Sueton. Oct. 21, Tiberius Nero 9, Eutrop VII, 9, versetzte
Tiberius nämlich 40,000 Sigambern nach dem Menapierlande ; noch
heute findet man ihrem Volksnamen entsprechende Ortsnamen in jener
Gegend. Auch stammt wohl der Frankenkönig Chlodwig, den der
taufende Bischof mit Sicamber anredet, aus dieser Sucambern-Colonie.
Aehnlich aber werden die Chatten in die Batuwe gekommen sein, als
Ansiedler einer von Natur fruchtbaren, aber wegen ihrer sumpfigen
Beschaffenheit nicht allzu sehr gesuchten Landschaft; Kampen, siehe
oben, nimmt an, dass sie nach dem Vorüberbrauseu des Cimbern- und
Teutonen-Sturmes in die menschenleer gewordenen Gegenden gewan-
dert seien. Natürlich war es, dass die Chatten leicht Mangel in ihren
Bergen fanden , wie die Hessen noch heutigen Tages sehr stark, na-
mentlich periodisch ins Bergische, ins Münsterland und auch nach dem
Holländischen auswandern. Dass sie aber ihren Zug ins Niederland
haben, ist ein deutlicher Fingerzeig dafür, dass sie ursprünglich aus
dem Niederlande kamen.
Endlich führen wir für die anzunehmende grössere Wildheit der
Sueben noch an, dass von Ariovist erzählt wird, er habe zwei Frauen
gehabt, Caes. de b. G. 1, 53, eine suebische und eine norische, Schwe-
ster des Königs Vocio. Sonst ist von den Germanen immer die Monoga-
mie hervorgehoben. Dass aber Ariovist auch eine norische Prinzessin
zur Frau hatte, beweist, wie weit östlich er hergewandert kam, und dass
Tacitus Germ. 44 die Gothen und Suionen in Schweden auch noch
zu den Sueben rechnet, und Adam von Bremen in seiner Hamburg.
Kirchengeschichte IV, 21 von den Schweden sagt: „Nur in dem Ver-
hältniss zu den Weibern kennen sie kein Maass ; Jeder hat nach der
Grösse seines Vermögens deren zwei oder drei oder mehrere zugleich,
Chatten und Hessen. H5
die Reichen und Fürsten aber unzählige u. s. w.," beweist weiter, wie
wenig die Sueben des Ariovist mit den Chatten zusammenzubringen sind.
Diese Ausführung hat sich nun etwas weiter ausgedehnt, als auf
den ersten Anblick angemessen erscheinen möchte, allein es gehört
mit in den ganzen hier eingehaltenen Beweisgang, möglichst festzu-
stellen, dass die Chatten kein von Süden nach dem Norden bewander-
ter germanischer Volksstamm sind und vielmehr zu den nordwest-
deutschen Germanen gerechnet werden müssen. Es kommt auch gar
nichts dabei heraus, wenn man eigensinnig an dem Suebenthum fest-
hält ; es liegt weder etwas Schmeichelhaftes noch für das Verständniss
irgend einer Erscheinung Beweiskräftiges in der Identifizirung der
Chatten mit den Sueben , so dass man der Ueberlieferung der Alten
einen Zwang anthun müsste.
Es kommt aber für die Herleitung des Namens Hessen aus dem
Namen Chatten ausserordentlich viel darauf an , den Zusammenhang
der Chatten mit den Cheruskern festzuhalten.
ßecapituliren wir also die seither gewonnenen Ergebnisse, so ha-
ben wir festgestellt, 1) dass die Ueberlieferung der alten Schriftsteller
dahin geht, es sei der Mittelpunkt der alten Chatten im heutigen Nie-
derhessen, um Gudensberg und Maden zu suchen, 2) dass die Land-
schaft um ]\Iaden sich ganz ausserordentlich zu einem altheidnischen
Mitt%unkt eignet, 3) dass die Chatten keine Sueben, sondern eher ein
mit den Cheruskern in der niederdeutschen Ebene verwandter Stamm
gewesen sind. Kommen wir nun zu den von den Germanisten aus
sprachlichen Gründen, namentlich dem Gesetz der Lautverschiebung
hergeleiteten Einwänden gegen die Identität der Namenformen Chatten
und Hessen.
5.
Das Gewicht der gegen die Identität der Namen
Chatten und Hes s en namentlich aus dem Laut-
verschiebungsgesetz erhobenen Einwände.
Erörtern wir auch hier wieder zuerst Thatsachen! Allgemein
zugestanden ist, dass die lateinische Sprache kein z kennt. So
schrieb der päpstliche Secretair, welcher Bonifacius das Empfeh-
lungsschreiben an die Grossen der verschiedenen Landschaften in
Germanien ausfertigte, nach dem Gehör Winfried's mit lateinischen
8*
116 Chatten und Hessen.
Lettern Hessi, dagegen der Mönch, welcher die päpstliche Urkunde für
Hersfeld vom Jahre 774 aufsetzte (vgl. oben) lateinisch Hassi. So
haben alle die lateinisch geschriebeneu Urkunden und andere, deutsche
haben wir bis zum Ende des 13, Jahrhunderts nicht, Hassi, Hassia, Hessi
oder Hessen. Seit wann dagegen kennen wir diejenige Rechtschrei-
bung, welche das z und zz in die deutsche Sprache brachte ? Noch
der 842 gesprochene Eidschwur Karls des Kahlen hat die Schreibung
gewisci, wo die regelrechte wäre gewizzi. Ueberhaupt war auch in
diesen und in andern Punkten die Rechtschreibung der Gelehrten des
8. und 9. Jahrhunderts noch sehr verschieden: pist neben bist; cot
neben got(t); thaz neben daz; paum u. bäum u. s. w. Wenn aber
die Orthographie , welche von den damaligen Gelehrten-Schulen zu
St. Gallen, Weissenburg, Wessobrunn, Fulda, Hersfeld ausging, für
Hessen namentlich doch erst nach der Gründung dieser Schulen in Fulda
nnd Hersfeld, seit Bonifacius Einwirken in diesen Gegenden , maassge-
bend werden konnte, so war ihre Anwendung sicherlich nicht voraus-
zusetzen vor oder gleichzeitig mit Bonifacius Eintreten als Missionar.
War aber einmal für die Missionare eine Landschaft in einer maassge-
benden Urkunde in ihrem Namen festgestellt, was konnten sie noch
für einen Grund haben, den Namen anders zu gestalten ? Gewiss kei-
nen, wie wir ja auch heute noch die Eigennamen nach ihrer einmal
festgestellten Form, nicht nach den Regeln der Rechtschreibung, schrift-
lich wiedergeben. Hiernach einmal kann nicht wohl ein Einwand daraus
genommen werden, dass Hassi sich keinmal mit Hazzi geschrieben findet.
Das wird sich aber sofort aus einem weiteren Beispiel ergeben.
Ganz abgesehen für's Erste von der Frage, ob es nöthig sein
wird, für die etymologische Herleitung des Namens Hessen aus dem
Namen Chatten auf das Gesetz der Lautverschiebung zurückzukommen,
betrachten wir einmal einen Eigennamen , in welchem die Lautver-
schiebung ähnliche Erfordernisse erheischt und ihr die historisch ge-
wordene Schreibung doch nicht gerecht geworden ist, den Namen der
Landschaft Nassau, wie doch auch Vilmar den Namen in seiner
Hess. Chronik schreibt. Obwohl die Etymologie dieses Namens in
höchst natürlicher Weise auf den Begriff Nasze Au zurückweist, wird
er fast durchgängig in allen Urkunden bis zum 14. Jahrhundert nicht
nach dem Gesetz der Lautverschiebung Nazzau, sondern Nassau wie
Hessen geschrieben. Ja, obwohl ein Anhänger Vilmar's in der Frage,
dass wegen Mangels der Schreibung Hazzi Hessen nicht von Chatti
Chatten und Hessen. 117
stamme (H. Pfister, über den chattischen und hessischen Namen, Luck-
hardt, Cassel 1868, S. 17 u. 43), auf die richtige Ableitung des Na-
mens Naszau kommt, nimmt er doch keinen Anstoss an der Schreibung
Nassau. Die Etymologie von Nassau aber, die wir aufstellen, ist be-
reits im Antiquarius der Neckar-, Main-, Mosel- und Lahnströme, von
J. H. Diethelm, II, S. 780, * in folgender Argumentation zu lesen :
Dass ein Graf von Laurenburg auf dem Berge (Stein-Nassau) sich
eine Burg erbaute, und es Nassau nannte , und das aus der Ursache,
weil der Berg umher mit lauter naszen Auen und Wiesen um-
geben gewesen, wozu hernach der Flecken angelegt wurde." Die in
älteren Zeiten sicher viel mehr als jetzt hervorgetretene Nässe der
Oertlichkeit ergiebt sich ja schon aus der Menge von Gesundbrunnen,
die hier quellen. Auch an Schloss Nassau entspringt ein Sauerbrun-
nen. Zudem liegt Nassau gegenüber die Landschaft mit dem Namen
Gudenau, d. h. wohl Gute Au im Gegensatz zu der ursprünglich nicht
baubaren nassen Au.**
Trotzdem wird bereits im 10. Jahrhundert der Name nicht Nas-
zau oder Nazzau, wie doch nach den Regeln der Lautverschiebung
stehen raüsste, sondern 915 Cortem Nassowe (in utroque latere flumi-
nis Logene in duobus comitatibus Sconenberg et Marvelis), in einer Ur-
kunde, in welcher Graf Konrad den gen. Hof dem Stifte Weilburg
schenkt, geschrieben und wie gesagt , so lautet es fast durchgängig in
allen alten Urkunden bis zum 14. Jahrhundert. Nur einmal in einer
Urkunde vom 11. Januar 1276, kraft welcher Gerhard von Eppenstein,
Graf Eberhard von Katzenelnbogen u. A. bezeugen , dass Heinemann
von Katzenelnbogen den obern Hof von Klingelbach an den Abt
Einolf in Bleidenstadt verkauft habe, wird als einer der Zeugen auch
Adolphus comes de Naszau*** (mit dem |]- Zeichen geschrieben)
aufgeführt. Eine Urkunde von 1289 hat aber sofort wieder Adolphus
de Nassauwe und erst im Jahre 1314, in einer deutschen Urkunde
vom 9. October, wird eine Grevin , Heinrichs Dochter von Naszowe,
ein Gerlach von Naszowe, wieder in dieser Orthographie des Namens
* Frankfurt a. M. Esslinger; 1781.
** Es mag' zur Bestätigung der Erklärung des Namens Nassau, wie 'sie
hier aufgestellt ist, beiläufig angeführt werden, dass in einem für den
Schulunterricht bestimmten Buche, F. Hermes „Unsere Muttersprache,"
5. Auflage, 1867, Guttenberg, BerHn, S. 120, ganz selbstverständlich der
Name Nassau ebenfalls auf nasze Au zurückgeführt wird.
*** AVenck H. L. I. Urkundenbuch, S. 42.
118 Cbatten und Hessen.
genannt. Ja unter dem 19./28. Febr. 1359* wird ein Testament
Graf Emych's von Nassau erwähnt, worüber Schultheis und Schöffen
zu Nürnberg ein Instrument ausfertigen, darin herrscht dann durchge-
hend die Rechtschreibung mit zz in Heinrich Grozz, Schultaizz; daz,
Her Emche Graf zu N a z z a w ; Eymiz = Ems , alz = als , unser
Kastner Ulrich wol waizz (weiss), di'uzzig (dreissig) , dez Geschätz,
Gericht'z, ** vor. Auch in einer Urkunde vom 5. Mai 1429 steht
die Schreibung Naszawe einzeln zwischen der Schreibung Nassau.
Wie nun diese Schreibung sz u. zz die Etymologie von Nasze
Au (Nat niederdeutsch; natz althochdeutsch; nasz neuhochdeutsch)
bestätigt und befestigt , so thut aber auch die zuerst allein vorkom-
mende und später vorherrschend bleibende Schreibung Nassau dar,
dass dieselbe keinen Beweis gegen die Etymologie abgiebt und es sich
hier ebenso verhält wie mit der Schreibung Hessen.
Wendet man bei dieser ein, dass bei derselben gar keine, bei
Nassau doch wenigstens einige Schreibungen nach dem Gesetze der
Lautverschiebung vorliegen, so ist auch dieser Einwand nichtig. Denn
etwa gleichzeitig mit der Schreibung Naszau findet sich auch eine
Schreibung Heszen in einer Urkunde von 1303,*** wornach Land-
graf Heinrich mit Ritter Johann Ryetesel Güter und Rechte vertauscht
und in der es heisst: Wir Heinrich von Gottes Gnaden Landgrave
und Herre Heszenlandes etc. Der Schreiber schreibt auch Brunsz-
lar für Brunslar, besetzen = besessen, ditz = diesz, wiszentlich. In
einer Urkunde von 1305 f heisst es: „Landgrave Heyeriche von
Heszin" und finden sich die Schreibungen: ez, gelazzin, lazzin (ge-
lassen, lassen), wazzere für Waszer, dez , fluzit , dezhalb, daz = das,
vz = aus , vorbaz , genyzen (genieszen) , Haszungen für Hasungen
u. s. w. In einer Urkunde von 1311, ff nach welcher sich Land-
graf Otto erbietet, alle Schulden seines Bruders , Bischof Ludwig zu
Münster, zu bezahlen, heisst es : Wir Otto etc. Herre Heszin Landis,
ferner Bischovisz, nochmals Heszin, gelazin für gelassen , daz für
* Wenck I. U., S. 171. ** Warum schreibt denn Vilmar (vgl. s. hess.
Chronik, S. 6) nicht Naszau statt Nassau ? Kremer hat sein Buch doch
auch Origenes Nassoicae betitelt.
•** Wenck, H. L. II, U. S. 507 (Anhang"). Ja in dem Extract einer "Ur-
kunde von 1265, Wenck, S. 107, heisst es bereits Landttgrawe Henrichen
zu Heszen e; es ist nur nicht ersichtlich, wann dieser Auszug gemacht ist
und wahrscheinlich, dass die Urkunde ursprünglich in lateinischer Sprache
abgefasst war.
t Wenck, S. 258. tt Wenck, S. 270.
Chatten und Hessen. 119
das, und in einer Urkunde von 1325, Wenck 11, U. S. 299, in wel-
cher Ulrich von Bickenbach das Urtheil eines zwischen Erzbischof'
Matthias zu Mainz und Landgraf Otto von Hessen wegen der Mainzi-
schen Leben des verstorbenen Landgrafen Johann niedergesetzten Mann-
geriehts bekannt macht, kommt die Schreibung Heszen neben ver-
schiedenmals genanntem Naszow vor, ferner die Schreibung wyszcn
liir weisen, daz = das , vorbaz (ferner) , Sloz für Schloss , latzet für
laszet, Biszdums u. s. w. neben andern alterthümlichen Ausdrücken,
wie erkobern (erobern^?) , entphan. So findet sich die Schreibung
Heszen noch in einer ganzen Reihe von Urkunden neben andern
in dasselbe System gehörenden Schreibungen, * woraus sich unter
allen Umständen des Weitem ergiebt, dass der Mangel der Schreibung
Häzzen keinen Beweis gegen die Ableitung des Namens Hessen von
Chatti , der Lautverschiebung wegen , liefern kann , weil eben die
Schreibung schliesslich nicht mangelt. So wie nämlich
die Orthographie der gelehrten Theologen von St. Gallen , Fulda
u. s. w. in die endlich deutsch gewordene Sprache der Urkundenschrei-
ber des Mittelalters einzudringen begann , finden wir auch sofort das
Bewusstsein der eigentlich richtigen Schreibung auch der Eigennamen,
Dabei ist aber wohl zu beachten, dass die Sprache der
Geschichtsschreiber wie der Urkundenschreiber sehr
lange lateinisch geblieben ist, und als sie deutsch zu Aver-
den anfing, sich diese weitlich und praktisch gesinnten Herren oflen-
bar ebenso massig um die regelrechte Rechtschreibung der Theologen
und Dichter bekümmerten, wie sich heute unsere Geschichtsschreiber und
Diplomaten , überhaupt die amtliche Regierungssprache , um die
Grimm'sche Rechtschreibung und die Schreibung unserer gelehrten
Sprachverbesserer überhaupt Sorge machen. Es ist bei wichtigen
Geschichtsdarstellungen und Staatsakten die Orthographie eben
nicht die Hauptsache.**
* Urkunde von 1334, Wenck, II, S. 337, deme Landtgrebin Heinriche
von Heszin. Husz = Haus; ez, dez == des. — v. 1350, Wenck, S. 357,
wo es bei fast ganz plattdeutscher Mundart des Schreibers heisst : Hern
Henrieke Landgrafen tho Heszen; sonst noch isz = ist, desze = diese;
laszen ; weszen = sein. — v. 1359, AVenck, S. 399, Landgrafe zu Heszne,
dieszem z:: diesem , uszgenommen ; usz; Masze. — v. 137S, Wenck, S. 455,
Herman Lantgrave zu Heszen neben Wiszem = Wissen ; daz , diz Briefes
= dieses Briefes. — v. 1385, Wenck, 485 (zwei Urkunden), v. 1398, und
wahrscheinlich finden sich noch mehr Urkunden dieser Art.
** Per Landfriedc zu Würzburg 1287 ist der Erste in deutscher
120 Chatten und Hessen.
Ohne diese Bemerkung bleibt uns die ganze Geschichte der deut-
schen Rechtschreibung unklar und verführt sie uns zu ganz von dem
We"-e der Wahrheit leitenden voreiligen Schlüssen. Man darf den
"Wirrwarr unsrer deutschen Rechtschreibung * namentlich nicht ausser
Acht lassen bei der Anwendung des Laut verschieb ungsge-
setzes, auf welches wir hier ebenfalls noch einen kritischen Blick
werfen müssen.
Vergleichen wir die gewöhnliche Aufstellung des Lautverschie-
bungsgesetzes: 1) Urverwandt indogermanisch , griechisch lateinisch,
2) gothisch, 3) hochdeutsch:
1) b p bh 9 g k gh d t dh i?
2) p f b k h g t th d
3) ph, f, pf fv p b ch, hh, k h kg zz d t
mit der wirklichen Wortforraentwicklung , so finden sich sofort so viel
Ausnahmen — es unterblieb im Hochdeutschen die zweite Lautver-
schiebung des p und b; es findet sich gothisch b, k, g nur in dem
sogen. Streng- Althochdeutschen regelrecht in p , ch , k , verschoben,
während Gemein- Althochdeutsch , Mittel- und Neuhochdeutsch dafür,
besonders im Anlaut b, k, g, also ebenfalls die Mutae des Gothischen
behalten, und haben die letztern nur für T-laute und b die zweite
Lautverschiebung im Anlaut durchgeführt — dass das erste Gesetz
fast einem zweiten Platz machen muss.
Dazu kommt, dass jede Sprache in sich selbst die Lautverschie-
bung durchmacht und dass sich entsprechende Stufen der Verschiebung
in allen Sprachen gleich wieder finden. Nehmen wir z. B. das Grie-
Sprache und sonst noch merkwürdig, weil er zugleich die Andeutung von
Landständen enthält: „Was auch die Fürsten in ihrem Lande mit des Lan-
desherren Rate setzent und machent diesem Landfrieden zu Besserunge —
das müssen sie tun." Pfeffing Vitriar. M. I, p. 163 u. 415. Souchay 3, 63.
* In dem eben erscheinenden Glossar der Volksmundarten von Nord-
und Mittelfrankreich von J. Baumgarten, Coblenz u. Paris, 1870 sind S. 9
auch die verschiedenen Rechtschreibungen für das Französische und Eng-
lische nach Diez und Webster angegeben und die passende Beobachtung
gemacht, dass erst mit der Ausbildung der Buchdruckei-ei die Schreibun-
gen sich mehr und mehr fixirten. 1316 gab Landgraf Otto von Hessen
den Herrn von Schonenberg partem nostram judicii super curiam dictam
Cathwinkel (lag unter dem ßastholze) etc. Landau Wüstungen, S. 22;
1554 heisst der Ort Katzenwinkel. Streng nach dem Gesetz der_ Lautver-
schiebung müsste hier Kadwinkel stehen, allein die Orthographie jener Zeit
.schrieb wie sie sprach, ohne Rücksicht auf Lautverschiebungsgesetze. Der
Niedersachse sagte Cat und schrieb Kath. Der Hesse sprach und schrieb
Katze.
Chatten und Hessen.
121
chische nnd zwar erst die Zahnlaute als die charakteristischesten und
auch im Deutschen am regelmässigsten veränderten.
Aeolisch ^ wird jonisch d, attisch o o&[^ij oS^rj oG/^oj-idfiev
ia(JL£v ;
Dorisch Jsvg^ (lat. deus), attisch Zsvg, (auch äolisch u. dorisch ^öfu?),
[ladöa, „ [lä^a, (Matte in Käsematte, Mazzen,
jüdisch Osterbrot),
ciQidtßog, „ aQi'^tßog,
bvoyov, „ ^vyov, latein. jugum, deutsch Joch,
umgekehrt äolisch ^a, „ d(d,
Cd^fog sehr göttlich =; Stdüsog.
Jonier und Dorier sprechen dv&^i/j ßa&iiog, Attiker dvGfi/] ßaafiog,
» •>■> n « oQxy&i-iogj „ 0QX>jGfi6g,
Böotier und Aeolier rv, „ <yv,
» » 5, te, „ as.
Umgekehrt alt
Ilotidav Tlotiddcav, „ Tloaeidtav,
cpati, „ q)aGi,
nXovtiog, „ nlovaiog etc.,
TiQdooM, attisch TiQdrroo,
»» n n iJggcjV, „ i^TtCOV,
n j; „ ß-dXaaaa, „ &dXatra.
Man vergleiche hiermit das Niederdeutsche im Verhältniss zum
Neuhochdeutschen. Wo die Niederdeutschen t, sprechen die Hochdeut-
schen s und z ; wo der Angelsachse und Bremer th, hat der Hoch-
und Mitteldeutsche d. Es ist im Griechischen entsprechend dem Deut-
schen ebenso mit den andern Gaumen-, Hauch- und Lippelauten.
Makedonisch war Bilmnog, attisch (Inhnnog,
n „ BQvyeg, „ <liQvyeg, BQvyoi, Yi.^i.NI[,lZ,
« „ BsQsvixij, „ (psQen'xt], vergleiche ungekehrt
das Neualtgriechische BdQQcov, BiQyiXiog für das lateinische Varro und
Virgilius.
Die alten Jonier hatten qxutQa, die Attiker tzutiIq, Vater.
Umgekehrt Aeolier,
Dorier, Jonier navög^ „ „ cpavög, die Fackel,
Aeltere Attiker -Avoog, „ „ xvoog^
Jonier -Aid-tbv, „ „ litcöv,
Herod. öi'y.oiiai, „ „ dtjo^ca,
„ ßdd-na-Aog, „ „ ßdzQaxog,
122 Chatten und Hessen.
Herod. oi^'x/', die Attlker ov'it,
„ atQEXt'g, „ „ axQBxig.
Man vergleiche hiermit das niederdeutsche biunde Bünde, Bunte
mit dem bayrischen piunt, eingehegtes Feld ; das niederdeutsche up mit
dem hochdeutschen auf; das niedersächsische Garden mit dem im heu-
tigen Sachsen gesprochenen Carte; maken niederdeutsch mit hoch-
deutsch machen u. s. w. Diese Beispiele müssen hier genügen,* um
auf eine Gesetzmässigkeit in der Sprachentwicklung hinzuweisen, ohne
welche das Gesetz der Lautverschiebung doch immer nur zum Chaos
zurückführen wird: es ist dies die Gesetzmässigkeit in dem Ueber-
gang niederländischer Mundarten in den Mund der Hochländer.
Dabei kommen drei Haupteinflüsse in Betracht.
1) Das natürliche Gesetz des Gegensatzes: ein Volk, das eine
neue Sprache, z, B. von seinen Eroberern erhält, spricht gewöhnlich
die Laute umgekehrt.
2) Der natürliche Einfluss des Berglandes auf eine rauhere, här-
tere Aussprache.
3) Das unvollkommene Verständniss der neuen Sprache von
Seiten Derjenigen, welche sie aufnehmen.
Zu dem ersten Punkte ist an die eben schon berührte Verände-
rung zu erinnern, welche die niedersächsische Mundart in Obersachsen
im Munde der Bewohner der preuss. Provinz und des Königrefichs
Sachsen erlitten hat. Man lese nach , was darüber richtig in einem
neuestens erschienenen schätzenswerthen Beitrag zur Kenntniss der
deutschen Mundarten, Schatzmayr, Dr. E., Nord und Süd u. s. w.,
1869, Braunschweig u. Wien, S. 96 ff., gesagt ist, wo folgende Pro-
ben „Daitsch" aufgeführt werden: Ter Dorf licht in t'n Torf (der
Torf, eigentlich Braunkohle, liegt in dem Dorf), dräche te prieb uf de
Bast. Bekleider = Begleiter. Fleeze tich toch nich so hin , Essl,
* Man vergleiche hierzu noch die folgenden Beispiele :
ahd. pluot neuhochdeutsch Blut, englisch blood,
„ pruoder „ Bruder, „ brother,
„ pidenchan „ bedenken,
„ prot „ Brod u. Brot, „ bread,
„ stunta „ Stunde.
Zum Lateinischen vergleiche man nur das Harte des auf den Eugubini.
sehen Tafeln vorhandenen, augenscheinlich mit fremden Elementen gemisch-
ten Latein mit dem Aveichern Latein der lateinischen und campanischen EbnC'
Chatten und Hessen. 123
tnramer. S. 113 : Ja häre Sc, sahn Se, mei kutster Harre, des kenn
ich se kanz kenau Sache, das wecsz ich selber niche. Säre kut. *
Wir haben hier ein sehr lehrsanies Beispiel von Lautverschiebung
innerhalb der neudeutschen Sprache vor uns : das Niedersächsische
kam in den Mund von mit Wenden , Slaven vermischter Bevölke-
rung, wurde nach dem natürlichen Gegensatz in entgegengesetzter An-
wendung der Sprachorgane ausgesprochen, kam 2) in's höher gelegene
Bergland (Lausitz z. B.) und [3) in den Mund unvollkommener, weil
nicht ihre angestammte Sprache redender Leute.
Das ist auch, um zum zweiten Punkte zu gelangen, der Entwick-
lungsgang des Deutschen , welches aus der Niederung in die süd-
deutschen Berge gekommen ist. Nach dem natürlichen Gesetze, wel-
ches in der Bequemlichkeit, der Trägheit des Beharrens, liegt, nahmen
die germanischen Einwanderer natürlich zuerst die Ebnen und frucht-
bareren flachen Landstriche ein, vertrieben die schon vorgefundenen
Bewohner derselben zum Theil in die Berge und Wälder und folgten
den Vertriebenen dann bei durch das Wachsen der Bevölkerung spärlich
werdendem Flachlande auch in das Hochland nach. So musste sich
zum Dritten allmälig das Niederländische im Munde der Hochländer
in sein Gegentheil verkehren und auch an Reichthum der Formen im
Munde der unvollkommener Redenden einbüssen.
Daher hat das niederländische Gothische, das indess schon in
seiner Rückwanderung von den Gestaden der Ostsee an die Gelände
der Donau an Ursprünglichkeit eingebüsst haben mag, noch mehr ver-
loren im Munde der Oberländer in den Alpen und benachbarten Mit-
telberglandschaften und Hochebnen, namentlich im Munde der schon
stark romanisirten Bewohner des von den Schwaben wiedergenommenen
Zehntlandes. So fand die Sprache der Sueben , ursprünglich wie die
der Gothen eine niederländische, ebenfalls entlang der Donau und am
obern Rhein ihre Umwandlung in das Althochdeutsche ; so fand end-
lich das Niedersächsische die Elbe, die Weser mit Werra und Fulda,
den Rhein aufwärts seine Umwandlung, dieses aber im Verhältniss,
wie man an dem mitteldeutschen Misch-Charakter der hessischen und
thüringischen Mundart erkennt, am wenigsten.
* Ich selbst pflegte scherzweise bei meinem Aufenthalte hi Leipzig mit
meinen Bekannten zu sagen, dass ich in Gupier's Gaffeekarten (Kupfer's
Kaff'eegarteu) speise.
124 Chatten und Hessen.
So hat die ursprünglich niederländische Mundart der Aeolier in
Illyrien und Italien, die der niederländischen Jonier in Attika und
Achaja, der Dorier in Lakonien u. s. w. ihre Verwandlung und Ver-
härtung erfahren; so die Sprache der Meder und Perser in den höher
gelegenen Nachbargebieten. Derselbe Gang wiederholt sich parallel in
allen Sprachen und man kommt reichlich aus, wenn man zwei Laut-
verschiebungen annimmt und eine dritte nur in so fern constatirt, als
ziemlich regelmässig bei der Entwickelung der Literatur eines Volkes
schliesslich die Einwirkung des Niederlandes auf die zuerst im Hoch-
lande vorgeschrittene Schriftsprache wieder eintritt; wie in der deut-
schen Sprache das Neuhochdeutsche durch die Niederländer Gotsched
(aus Königsberg in Preussen) und Adelung (aus Pommern) von der
harten Aussprache und der entsprechenden Rechtschreibung des Luthe-
rischen bezw. Meissnischen Hochdeutsch vielfach zur weichern Form
des Niederdeutschen zurückgeführt worden ist.
Dieses Verhältniss* ist auch in Betracht zu ziehen bei der hier
vorliegenden Untersuchung und bei den allein in Frage kommenden
Formen Chatti und Hassi, jener als niederdeutschen, dieser als ober-
deutschen Form.
Da wäre also, um wieder zu recapituliren , von den erhobenen
Einwänden zuerst als irrelevant derjenige zu bezeichnen, welcher sich
nach Gründen der Lautverschiebung auf den Mangel der Form Hazzi
beruft (Zeuss, Vilmar), weil a) die altdeutsche Orthographie mit z bei
J * Vergl. hierzu die sehr lehrreiche Abhandlung: lieber die nieder-
deutschen Elemente in unserer Schriftsprache vom Oberlehrer Dr. Oskar
Jänicke. Jahresbericht Ostern 1869 der höheren Bürgerschule zu Wriezen.
S. 6 heisst es da u. A. : Die gesammten germanischen Sprachen zerfallen
der Lautstufe nach in zwei Klassen: 1) niederdeutsche, zu der das Go-
thische, Angelsächsische, Altsächsische, Altnordische und von lebenden Spra-
chen das EngUsche, Holländische, Schwedische, Dänische gehören (doch
wohl auch das Plattdeutsche! Kelln.) ; 2) die Hochdeutsche. In der hoch-
deutschen Sprache sind die stummen Consonanten um eine Stufe weiter ge-
schoben; ein paar Beispiele werden diese hochdeutsche Lautverschiebung
anschaulich machen :
Gothisch: gaifs,
boka,
thaurnus, taggo, vato, greipan.
Angelsächsisch : gät,
böc.
thorn, tunge, väter, gripan,
Englisch: goat,
book,
thorn, tongue, water, gripe,
Hochdeutsch : Geiss,
Buch,
Dorn, Zunge, Wasser, greifen,
Gothisch :
thik,
laufs, airtha, fotus, suts,
Angelsächsisch:
thec.
leaf, eordhe, föt, svete.
Englisch :
thee,
leaf, earth, foot, sweat,
Hochdeutsch:
Dich,
[Laub, Erde, Fuss, süss.
Chatten und Hessen. 125
der ersten Schreibung des Namens Hassi, Hessi noch nicht vorhanden
oder nicht über die Mauern einzelner Klöster hinausgekommen war;
b) die einmal in päpstlichen und kaiserlichen lateinisch geschriebenen
Urkunden angenommene Schreibung für alle spätem lateinischen Ur-
kunden, namentlich bei einem solchen Eigennamen , maassgebend sein
musste; c) die für die Ableitung des Namens Hassi aus Chatti nach
der Lautverschiebung nothwendige Mittelform von dem Zeitpunkt an,
wo es deutschgeschriebene Urkunden für die betreffende Landschaft
gab, in der Form Heszen wirklich vorhanden ist; d) das Lautver-
schiebungsgesetz überhaupt bis jetzt in ungeeigneter Weise gestaltet
und angewendet worden ist.
Gegen Vilmai''s in seinem Idiotikon ausgesprochene Gründe
kommt hier noch hinzu, dass die von ihm angeführte Thatsache, die
Form Hessi überwiege bedeutend im Gebrauch der ersten Zeit die
Form Hassi, falsch ist, und es ist hier ausserdem nunmehr noch
folgender Grund Vilmar's zu entkräften: Er sagt, die Annal. Bertin.
hätten zum Jahre 839 noch den Namen Chattuarii, welcher in seinem
Haupttheile nach allgemeinem Einverständniss mit dem Namen Chatti
identisch sei, in der Form Hatoarii, die Annal. Fuldens. noch zum
J. 715 als Hazzoarii beide Male dicht neben dem Namen Hessi, Hes-
sli, Hessiones. Hiernach wäre ihm, wenn man nicht das ganze ur-
kundlich feststehende Lautverhältniss umstossen wolle (siehe S.85), die
Annahme der Identität Chatti und Hessi eine sprachliche Unmög-
lichkeit.
Dieser Einwand ist geradezu in einen Beweis für die Identi]-
tät umzuwandeln. Die Landschaft der Chattuarier liegt bekannt-
lich im niederdeutschen Gebiet; der Hattergau, wie er noch im Mit-
telalter heisst (vgl. Rettberg, Deutschlands Kirchengeschichte, II,
S. 379; zum Jahre 870 werden neben einander aufgeführt die Co-
mitatus Testrabant, Batua, Hattuarias), liegt nach dieses Kirchenge-
schichtsschreibers Angabe am rechten Ufer der Ruhr, dem Borocktera-
gau am linken Ufer dieses Wassers gegenüber. Zum Jahre 715 wird,
um besonders] auf die von Vilmar hervorgehobene Schreibung zu kom-
men, in verschiedenen Quellen erzählt: von den Annal. Fuldens.
Pertz M. 9, I, 343, Dogobertus rex mortuus est et Saxones devasta-
verunt terram (B) Hazzoariorum. Annal. Petav. (Bouquet Tom. II),
Dagobertus rex mortuus est Et Saxones devastaverunt terram Hattua-
riorum ; Annal. Tilian. P. I, 67. Saxones devastaverunt terram Ha-
126 Chatten und Hessen.
tuariorum (Hattuarii), * Chron. Fontan. P. I, 7. Eodem anno (715)
Dc^obertus Rex mortuus est. Quo tempore terra Hattuariorum a
Saxonibus depopulata est. Sed ipsi non multo post dignas a Franco-
rum populo poenas perpessi sunt eorumque terra usque Wiseram flu-
vium incendiis, rapinis, interfectionibus attrita est; Annal. Met. P. I,
323. Saxones terram Hattariorum vastaverunt. Es ist das heute die
Gegend, wo Schloss Broich mit der alten Bauerschaft, gegenüber die
Orte Kettwig a. R., Hattingen , Hasslinghausen , Wetter u. s. w. lie-
gen. Schon Veliej. Paterculus 2, 105 berichtet von der Zeit des Ober-
commandos Tiberius am Niederrhein von diesem: intrata protinus
(a Tiberio) Germania, subacti Caninefates, Attuarii, Eructeri, re-
cepti Cherusci, und Strabo führt sodann unter den Völkern, den Gefan-
genen, welche Germanicus im Triumphe den Römern zeigt, unter Ka-
thylkern, Ampsanern, Bructerern, Nusipern, Cheruskern, Chatten auch
die Chattuarier auf, worauf noch die Lander und Subattier folgen.
Was hat man nun hieraus zu folgern ? Die Chattuarier, vorausge-
setzt, dass ihr Name vom Namen der Chatti gebildet ist, behielten auf
niederdeutschem Sprachgebiet ihren niederdeutschen Namenklang und
die Chatten verloren im hochdeutschen Sprachgebiet ihren niederdeut-
schen Naraenklang, da sie als niederdeutscher Stamm später nicht
mehr in Betracht kamen. Dass der Mönch, welcher die Annales Ful-
denses schrieb, den oberdeutschen Namenklang Hassi — wie er nach
der gelehrten Orthographie würde geschrieben haben der Hazzi — auf
die Chattuarier übertrug, ist lediglich ein Beweis dafür, dass, wenn die
althochdeutschen Chronikenschreiber mit voller Ueberlegung nach
ihrer Schreibweise an den Namen Hessen herangetreten wären , sie
Hazzi würden geschrieben haben. Also leistet die vereinzelte Schrei-
bung Hazzoarii gerade den Ersatz der Schreibung Hazzi. Zum we-
nigsten beweist sie das Vorhandensein des Bewusstseins, dass eigent-
lich nach Hassi Hazzi wäre zu schreiben gewesen.
Weiter beweist auch das gleichzeitige Vorkoramniss der Schrei-
bungen Chattuarii, Hazzoarii, Hessi , Hessiones nur die auch zu jener
Zeit herrschende Verwirrung in der deutschen Rechtschreibung, welche
bis auf den heutigen Tag einen der Nation unwürdigen Wirrwarr auf-
weist. Wer Urkunden liest, kennt diese Verwirrung nicht bloss bei
den Personen-, Volks-, und Ortsnamen, sondern auch in der gewöhnli-
* An derselben Stelle die Annal. S. Amandi Chatuarü.
Chatten nml Hessen. 127
clien Schreibung, Man sehe nur das Verwitterte und Verderbte in
der lateinischen Sprache der mittelalterlichen Urkunden ! Ad montibus
z= Bergen Wagner, Wüstungen u. Grossh. Rhein-Hessen, S. 48
(Darmst. 1865), und in sonstigen vielfältigen Beispielen. Da wir nun
nach allem bisher Betrachteten die Identität der Namenforraen Chatten
und Hessen glauben festhalten zu dürfen, kommen wir auf die Erklä-
rung des Namens, zu der wir indess , um eine möglichst breite Grund-
lage zu gewinnen , zuvörderst eine Anzahl andrer Volksnamen aus
ihrer natürlichsten Entstehungsweise abzuleiten versuchen wollen.
6.
Ueber die Entstehung alter gallischer und ger-
manischer Volksnamen überhaupt.
Zur Lösung dieser Aufgabe ist es zunächst nöthig, die am si-
chersten nachzuweisenden Volksstamm-Naraen, namentlich der germani-
schen, festzustellen.
Gehen wir auf den ersten römischen Schriftsteller zurück, welcher
uns ausführliche Ueberlieferungen über gallische und germanische
Volksstämme gegeben hat , auf Julius Cäsar , so ist bei den von ihm
angegebenen Stammnamen bei den meisten zugleich eine gleichna-
mige Lau dschaft oder Ha up tvolks Stätte nachzuweisen. Ge-
hen wir einfach in alphabetischer Reihenfolge vor, so haben wir zu
Ambiani heute Amiens ; zu Ambibarii in der heutigen Normandie Stadt
Ambieres ; zu Ambivariti auf dem linken Ufer der Maas Anvers (öst-
lich Antwerpen) ; zu Andecavi Anjou ; zu Arverni Auvergne ; zu
Atrebates Arras in der Provinz Artois; zu Aulerci Brannovices Brien-
nois, Aulerci Eburovices Evreux in der heutigen Landschaft Perche ;
zu Bellovaci Beauvais ; zu Bigerriones Bigorre an den Pyrenäen ; zu
Bituriges Berry; zu Cadurci heutiges Quercy im alten Aquitanien,
mittelalterlichem Guienne ; zu Caeroesi im belgischen Gallien wahr-
scheinlich Gau Caros an der Eifel, nördlich Bitburg; zu Caleti Land-
schaft Caux (Normandie) ; zu Caturiges Chorges in der Dauphine ;
zu Ceutrones jetziges Centron im Thale Tarantaise in Savoyen, sowie
in der Nähe des jetzigen Courtray; zu Cocosates in Guienne Cocos;
zu Condrusi Dorf und Landschaft Condroz ; zu Curiosolites Courseult,
in der Nähe von St. Malo (Normandie); zu Elusates in Aquitanien
128 Chatten und Hessen.
Eauze (woselbst Ruinen, der Name der alten Stadt war Elusa); zu
Gabali heutiges Gevaudan in den Cevennen ; zu Helvii in den Ceven-
nen Alps , alt Alba Augusta ; zu Lemovices Limousin mit Limoges ;
zu Leväci Löwen (Louvain); zu Lexovii Lisieux in der Normandie;
zu Lingönes, in den Vogesen um heutiges Langres, Ligny; zu Medio-
matrici Landschaft Messin um Metz (mittelalterlich Metis, Metzerwiese) ;
zu Meldi Meaux und Melun (Melodunum) ; zu Namnetes Nantes; zu
Paemani bei Lüttich heutige Landschaft Famene; zu Petrocorii Peri-
gord mit der Hauptstadt Vesunna (Perigueux^; zu Pictönes Poitou;
zu Redönes Rennes in der Bretagne ; zu Remi Rheims ; zu Ruteni
Roanne an Loire; zu Santones Santonge; zu Senönes Sens an der obern
Seine in Champagne ; Sequani von der Sequana oder Sauconna her ;
zu Sibuzates das jetzige Sobusse oder Saubusse an den Pyrenäen; zu
Suessiones Soissons; zu Tarusates Tartas Dep. des Landes; zu Tolo-
sates Bewohner von Tolosa ; zu Turones Touraine ; zu Vellavi Velay
in den Cevennen; zu Veliocasses Landschaft Vexin um Rouen; zu
Veneti Vannes ; zu Viromandui Vermandois.
Dies sind alte gallische und belgische Stammesnamen nach Haupt-
orten oder Landschaften entstanden, wie denn noch heutigen Tages die
Völker nach Landschaften oder Hauptstädten benannt werden, als Nas-
sauer, Holländer, Engländer Pommern, fSchlesier, Esthländer, Kurlän-
der, Oesterreicher, Pfälzer, Thüringer, Jütländer, Amerikaner, Braun-
schweiger, Hannoveraner, Mecklenburger, Würtemberger , Badener,
Schleswiger, Brandenburger, Oldenburger u. s. w.
Ein höchst bezeichnendes und beweisendes Beispiel nun , wie ur-
alte belgische oder germanische Ortsnamen von den Römern latinisirt
worden sind, giebt Wattrich „Der deutsche Namen Germanen", Pa-
derborn 1870, Schöningh, S. 95, Anm. , in einem Namen bei Am-
mian. Marcellin. XVII, 8, wo es zu Jahr 358 heisst: dass Kaiser Ju-
lian zuerst gegen die gewöhnlich Salier genannten Franken zu Felde
gezogen sei, ausos olim in Romano solo, apud Toxandriam-lo-
cum (Lesart des Codex Vaticanus, früher Fuldensis) habitacula sibi
figere praelicenter. Cui cum Tungros venisset occurrit legatio etc.
Die Sprache der „Taxandri" war nach Nicolaus can. Leod., gesta s.
Lambert! (Chapeaville I. 389) deutsch: Tunc beatus Lambertus,
qui teutonicae linguae peritus erat et sine interprete sermo infereba-
tur, coepit eis (Taxandris) retexere etc. Schon Wendelinus (Legea
Salicae illustratae, Antwerpiae 1649, S. 82, herausgegeb. von ChifFletii
Chatten und Hessen. 129
opp. politico-historica , Antw. 1650) hat richtig gesagt: Et sonat
quidem nomen hoc Taxandricam silvam (Loo enim silva est);
sed Romani ad suae linguae adfinitatem omnia trahentes,
ex Loo fecerunt Locum. * So ist also Toxandria- locus, ganz
äusserlich latinisirt, der noch heute nördlich von Tongern im Bezirk
Hasselt, in der belgischen Provinz Limburg liegende Flecken
(von 2 — 3000 Einw.) Tessenderloo, dessen Name ebenso zu er-
klären ist, wie die der benachbarten Tongerloo , Westerloo, Beverloo
(jetzt das Uebungslager der belgischen Armee), dann bei Lö-
wen Corbeekloo, Kesselloo u. s. w., namentlich als eine in jener Ge-
gend so häufige Zusammensetzung aus dem Namen des alten Gau
Taxandria und loo = Gehölz, Busch, unseren dei;tschen Loh in
Hohenlohe etc.
Wenden wir das hier herausgefundene Prinzip auf die Stammes-
namen der Germanen an und zwar zunächst auf die von Jul. Cäsar
genannten. Dieser erwähnt De b. Gall. II, 4 ausdrücklich die oben
schon genannten Condrusi in der Landschaft Condroz, Eburones, Pae-
mani in der 'Landschaft Famene und Caerosi im Caros an der Eifel,
als Germanen ; aber es wird von ihm auch auseinandergesetzt, dass die
meisten Belgier von den Germanen herstammten und in alter Zeit
über den Rhein gezogen, wegen der Fruchtbarkeit des Bodens sich da nie-
dergelassen und die Gallier , welche dortselbst gewohnt . vertrieben
hätten. Sie allein hätten dann auch die Teutonen und Cimbern vom
Eindringen in ihr Gebiet zurückgehalten. I, 51 wei-den vorher schon
neben den Sueben des Ariovist als dessen germanische Hilfsvölker ge-
nannt die Haruder, Marcomanen, Tribocer, Wangionen, Nemeter, Se-
dusier. So gehören ferner die Ubier zu den Germanen rechts des Rhei-
nes, von deren civitas schon Cäsar spricht, als von einer nach dem Bil-
dungsstand der Germanen ansehnlichen und blühenden, Buch IV.
Dann werden die Tencterer und üsipeter genannt und die Sugambern,
zu welchen sich die geschlagenen Tencterer i;nd üsipeter zurückziehen.
Diese Namen werden auch nach der Analogie von Tessenderloo alle
deutsch sein. Im Buch IV, 10 braucht ferner, wie oben schon berührt
ward, Cäsar zwei unzweifelhaft deutsche Namen in lateinischem Ge-
wände: den Wasgau und die Batuwa. Mosa profluit ex monte Vo-
* Hätte, wären die Römer iler Sprachvergleichung schon mächtig gewe-
sen, lucus (Hain, Loh) helssen müssen.
Archiv f. n. Sprachen. XLVIII. 9
130 Chatten unil Hessen.
sego, qui est in finibus Lingonum, sagt wörtlich Cäsar. Bis heute
heisst der Gau der Wasgau ; im Mittelalter finden wir die Schrei-
bungen Wosega Silva, "Wenck Hess. Landesgesch., III, n. 18, Jahr
802; in nemore Wessigen Annal. academ. Theodor. Palat. VI,
263 zum Jahre 987; die Formen Vosagus (Latein Vosacus)^ Wosago,
Uosago, Vosogo, Wosogo, Wosoco, Vosecus, Wasagus, Wasacus, Wa-
sagon, Uosgo, Fosagus, siehe Förstemann, „Altdeutsche Ortsnamen,"
S. 1567, sie finden sich von Eginhard's Annalen im 8- Jahrhundert
bis ins 10. Jahrhundert. Es ist hiernach kein wesentlicher Unter-
schied zwischen der Schreibung des Lateiners und der deutschen mit-
telalterlichen Urkunden; der Name ist nach dem alten Wort Wassem
für Rasen, Wiese gebildet und bedeutet Wiesengau; die Hügel darin
haben entweder nach einer öfter vorkommenden Lautumstellung von
ihm den Namen Vogesen erhalten, wie schon zu Caes. IV, 10 die
Variante Vogesus vorliegt und hernach wiederholt der Name gestaltet
ist, oder durch schon bei den alten Galliern wie bei den heutigen
Franzosen maassgebende Verschluckung des s vor Consonanten , wie
in Basle von Basel, Pdques von Pascha (Ostern), gäter von vastare,
pacage von pascua, bouquet von Busch, mesquin, fagot von fascicul etc.
Die heutige Benennung Departement des Vosges spricht für die letz-
tere Annahme und mit dieser ist das esus an Vogesus zu erklären, wie
in den Namen der Berge von Lyonnais, Vivarais, Charolais, Forez, Ni-
vernais etc., das ais oder ez mit der lat. Endung us. In allen Hand-
büchern der Erdbeschreibung lesen wir , dass der Wasgau , der obere
Theil des jetzigen Departements der Vogesen mit den trefflichsten
Wiesen bedeckt ist und demnach auch viel Butter und Käse erzeugt.
Auf den Grasebenen oberhalb der AValdregion (vgl. den hessischen
Wissener oder Meissner mit seinen Bergwiesen) weiden zahlreiche
Heerden von Kühen , in den Sennhütten bereitet man Käse, ähnlich
dem Greyerzer der Schweiz.
Zu der oben S. 112 schon erwähnten Etymologie des deutschen
Wortes Batuwe ist hier nun noch hinzuzufügen die Thatsache, dass
auch in Hessen die Redensart , es bat' nichts = es hilft nichts , vor-
kommt und das Wort Pathe — Gothe für Stellvertreter des Vaters,
Guter oder Gutsprecher bei Täuflingen denselben Ursprung hat. Ver-
suchen wir jetzt, den Namen der Ubier festzustellen. Da von civitas
Ubiorum bei Cäsar bereits die Rede ist, so muss es sich um eine Art
städtischer Gemeinde handeln, und diese findet sich in jener Gegend in
Chatten und Hessen. 131
dem auch sonst historisch gewordenen Städtchen Caub am Rhein mit
der am Rhein liegenden Pfalz. Bei Guden, Codex diploraat. I, 13, z.
Jahr 983 findet sich die Schreibung Cuba, welche die Naraenbildung
Ubier dann hinlänglioh rechtfertigt; denn das. C vor dem u hier ist nicht
ausschliessender als k in kaymen, littauisch für heim, was nicht aus-
schliesst, dass es derselbe Stamm mit heim oder ham, oder cham, hamen ist.
So heissen die Ghattuarii oder Hattuarii auch Attuarii (Ammian, Mar-
ceil. XX, 10,* wozu man vergleiche Dederich, der Gau der Attua-
rier, Mittheilungen an d. Mitglied, d. Ver. für Gesch. u. Alterth. in
Frankf. a. M. , Bd. II, Nro.'3), die Kampsaner auch Ampsaner. So
nennt Strabo VII bei einer Aufzählung der Völker zwischen Rhein und
Elbe: Cherusker, Chatten, Gamabrivier, Chattuarier, Sigambern,
Chauber (unser Caub?), Bructerer, Cnnbern, Kauker. Für Xd/iaßoi.
und Kdfiaßoi findet sich auch Amabia. Es ist ebenso mit dem c in
der Mitte der Wörter : Vacalus zu Cäsars Zeit ist jetzt^Waal ; und am
Ende vergleiche man die alte Schreibung Hoenloch zu dem modernen
Hohenlohe wie das lateinische lucus zu dem deutschen Loh für Ge-
hölz.** Die Beispiele finden sich in allen Sprachen. Es handelt sich
um den gurgelnd oder kehlig anlautenden Vocal, der im Niederlande
heute eben noch so zu hören ist, wie in der Schweiz ; er jkommt selbst
vor Consonanten vor, wie bei Chlodwig für Ludwig, Chlotar für
Lothar, Luther, Hrutanstein (Moser, Osnabr. Gesch.), für Rothenstein
u. s. w. Als ein hessisches Beispiel sei noch aufgezählt die Schrei-
bung Hundesbüren , z. Jahr 1088, für Gundesbüren , Landau, Wü-
stungen 1, woraus dann (S. 17) wieder 1596 Gotzbeurn geworden
ist. Für die in der Mitte der Wörter vorkommende Gutturalvermeh-
rung vergl. noch die Schreibung Meygerhoue für Meierhof, Landau
a. a. O., S. 26, Sugerland für Suerland, Egger für Eier etc. Endlich
denke man hier noch an Sassen für Sachsen. Es werden uns noch
mehrere schlagende Beweisbeispiele vorkommen !
Also die Ubier können die Einwohner von Caub, alt Cuba, sein;
der Begriff ist entweder das alte Kufe, die Hohle, dessen Stamm auch
in Kübel vorkommt, oder Haube, Kuppe, vgl. Kuffstein weiter oben
am Rhein. Dass das C nicht zu hart gesprochen ward, ergiebt sich
aus einer Urkunde von 1294 (Wenck, Hess. Landesgesch. , I. Ur-
* Vgl. noch oben S. 126.
** Vgl. die Form Ka7Äneluf/hogen , Wenck, Hess. Landesgesch. I, Ur-
kundenb. z. Jahr 1294, S. G2, "für Katzenelnbogen.
9*
132 Chatten und Hessen.
kund., S. 60), wo Chuba für das castrum des Pfalzgrafen Ludwig ge-
schrieben ist, und aus einer andern Urkunde von 1333, wo ehenfalls
Chuba geschrieben ist.*
Kommen wir nun zu den Sugarabern, eine Schreibung, welche
die neuesten Texte der Editoren Jul. Cäsars vor der Lesart Sigam-
bern festhalten. Was bedeutet dieser Name? Jacob Grimm in seiner
Geschichte der deutschen Sprache hat an gambar der Streiter und Sigi
der Sieg, also an das Volk der sieghaften Streiter wie GrafF und Zeuss
gedacht; allein welches Volk dürfte sich so nennen nach der gewöhnli-
chen Erfahrung, welches andre Volk würde einen so prahlenden Na-
men dem sich selbst so rühmenden Stamme nachgesprochen haben?
Andere haben an die Bewohner der Sieg gedacht, allein sie wohnten
nicht lediglich an der Sieg (vgl. Essellen, die Sigambrer), auch passt
hierauf die Schreibung /S'wgambri schlecht. Die Frage ist : Wo wohn-
ten zu Cäsar's Zeit die Sugambrer ? Und da ist die einfachste Ant-
wort: Im heutigen sogenannten Kölnischen Sauerland,** dessen
Name heute überall von den besten Erklärern als Süder- bezw. modern
Südland verstanden wird, wie auch die mittelalterlichen Schreibungen
Sunderland, Sounderland anzeigen und entsprechende Ortsnaraenbil-
dungen im höheren Norden erhärten z. B. Nörre, Sonder; Nörrehald,
Sönderhald, Orte im jütischen Amte Rauders, Nörlyng, Sönderlyng
im Amte Viborg. So heisst von Schweden wiederum der südliche
Theil Gothaland oder Gotha-Rike. der Mittlere Swea Rike, wozu man
Suithiod alte Form für Schweden, die Suiones des Tacitus Germ. 44
und Sueonen des Adam v. Bremen, Hamburg. Kirchengesch. IV, 21,
* Dass die Ubier früh auf's linke Rheinufer neben dem heutigen Köln
übergesiedelt wurden, hindert nicht, dass das Chuba bestehen blieb und in
suebisch-alemanischer Hand weiter lebte.
** Der Name ist, sagt E. Keller, der Norddeutsche Bund, Berlin, Gut-
tentag 1870, S. 64, Anmerk. , falsch in's Hochdeutsche übertragen: er
sollte nicht Sauerland, sondern Süderland, im Gegensetze zu dem Mün-
ster'schen Nordlande, heissen: Becker, Beiträge zur Geschichte von Bri-
lon (im Buchhandel bei M. Friedländer in Brilon erschienen) im Oster-Be-
richt des Gymnas. Petrinum zu Brilon 18G9 sagt S. 20 Anmerk.: Sauer-
land ist eine verkürzte Form von Sugerland, Sugambrer- oder Sigambrer-
land und bezeichnet das Land , worin die alten Sigambrer wohnten. Die
Bezeichnung Suerlandia kommt im 11. Jahrhundert vor. Vgl. Seibertz Ur-
kunden III, Nr. 1063, Anm. Wir sollten das Suer nicht in Sauer überge-
ben lassen, sondern einfach auch im Hochdeutschen sagen: Suerland. —
Welche Rolle die Bezeichnung der Himmelsgegenden bei den Oertlichkeits-
namen spielt, ergiebt sich auch aus dem Umstände, das die Normannen die
Nordsee Vestersalt, die Ostsee Oestersalt nannten und die Dänen heute
noch die Nordsee Westsee oder Westmeer nennen (Keller).
Chatten und Hessen. 133
der dabei auch an die Sueben denkt, vergleichen muss, der nördliche
Theil Nordhmd, Norrige, Dänisch Norge. So trennt Adam v. Bre-
men (|. c. 1070) auch die Gothen von den Nordmannen (IV, 23) und
theilt die Gothen in West- und Ostgothen zwischen Sconen (da-
mals dänisch) südwärts und Sueonen nordwärts. In Ostgothland', das
jetzt Dalland heisst, lag Scaraborg. Dies alles sind Analogien zu dem
Verhältniss auf dem Festland und zwar im Gebiet der Sachsen, welche
nach der nordischen Mythen Überlieferung wiederum als Suormenn
dem Stamme der Normen entgegengestellt werden , in welchen zwei
Stämmen Odin die Gothen vorfand.
Im Sachsenland selbst haben wir nun später Westfalen, Engern
und Ostfalen; es fehlen dazu noch die Nordfalen und Südfalen, um
uns einmal dieses nachgebildeten Namens zu bedienen. Sind die En-
gern schon zu Zeiten des Tacitus in den Angrivarii vorhanden, so kann
man die Südländer in den Sugambri finden. Dass die Namen West-
falen und Ostfeien nun appellativisch sind und erst im Lauf der Zei-
ten sich festgesetzt haben, ergiebt sich aus folgenden Stellen: Widu-
kind R. G. Sax. I. c, 12, Pertz m. V, 425 werden die Ostfali Orientales
genannt, Poeta Saxo ad ann. 772 f^agt, Westfales vocitant in parte
manentes Occidua — regionem solis ad ortum inhabitant Osterliudi,
quos nomine quidam Ostvalos alio vocitant. Annal. Einh. ad a.
775 ist die Rede von den Ostfalais unter Hessi; Annal. Laur. von
den Austreleudi unter Hassione (zu derselben Begebenheit : die Ostfa-
len stellen sich Karl dem Grossen zur Unterwerfung unter Anführung
des Hessi) ; Reg. Chron. von den Orientales Saxones unter Hassino,
Ann. Laur. an e. and. Stelle von d. Austrasii. Hierzu kommen dann
auch noch die Nor diente, Ann. Laur. ad ann. 780: ites peragens
partibus Albiae fluvii et in ipso itinere oranes Bardengauenses et multi
de Nortleudis baptizati sunt in loco, qui dicitur Orhaim ultra
Obacro fluvio. Diese Nordleute wohnten also an der Ocker und wa-
ren ebenfalls Sachsen. Die Ocker entspringt im Harz und fliesst über
Braunschweig in die Aller.
Bei Tacitus in der Germania treten übrigens neben den Angriva-'
riern noch keine nach Himmelsgegenden bezeichnete Stämme der Sach-
sen ein, selbst die Sugambern fehlen bei Tacitus' Aufzählung der ger-
manischen Stämme, eben weil sie von Tiberius so massenweise über
den Rhein verpflanzt worden waren und zu jener Zeit hier mit ihrem
Sondernamen' um so weniger auftreten konnten, als ihre Sitze nicht
134 Chatten und Hessen.
mehr im Süden im Gegentatz zu verwandten Landschaften lagen.
Tacitus nennt an rechtsrheinischen Stämmen im altsächsischen Gebiete
nur Usiper, Tencterer, die nach seiner Ansicht aber damals ausgetilg-
ten Bructerer, Chamaver, Angrivarier, Dulgubiner, Chasuarier, Friesen,
Chauken, Cherusker, Foser, Chatten und Cimbern, also die einzelnen
kleineren Stämme, die erst später zu grösseren Ganzen zusammenflös-
sen. Dann folgen bei ihm von Cap. 38 an die Sueben. Dass die
Namen aber wechselten, ergiebt sich eben daraus, dass weder die Bruc-
terer noch auch die Marser, die er ebenfalls nicht nennt, für immer
verschwunden waren. Kehren wir jetzt zu unsern Sugambern zurück,
so ist im Allgemeinen der "Weg dahin geebnet, dass es erlaubt ist, in
den Sugambern Süderländer, Südheimer zu suchen im Gegensatz zu
den Nordländern im Münsterlande. Da finden wir denn auch sofort
an der Nordgrenze des Sugambernlandes , da wo die Liese in die
Glenne mündet, eine Bauerschaft Suerlage, nach Essellen Gesch. der
Sugambern S. 76 soviel als Süderlage. Dieses Su* mit Ausstos-
sung des d-th-Lauts fanden wir nun schon in dem schwedischen Su-
thiod angedeutet; es findet sich auch in andern dem Altsächsischen ent-
sprossenen Mundarten noch heute, wie in Suflfolk, Gegensatz von Nor-
* Zu dem Su finden sich in Kuhn's Zeitschrift f. vgl. Sprachforschung
XX, 1. Heft, S. 34 f. in einer Abhandlung von Sophus Bugge schätzens-
werthe Andeutungen. Su = gut steht dem dus (^i;s)= tadelnd gegenüber,
so wie im Altirischen su, so im Gegensatz zu du, do Zeuss Kelt. Gramm.
1. Ausg., 17, 832, 86ö f; so in andern Sprachen: goth. svikns Stamm
svikna = ayvog, altnord. sykn, griechisch = evayi^s opp. Svsnyijg, mit schwe-
rer Schuld beladen, gottlos. Bugge hat nun die Ansicht, dass sudus latein.
= serenus ai&Qios, svSios heiter, |aus su-diva-s hervorgegangen sei, und
führt aus der Vedasprache sünrta, sünari (altbaktrisch hu cf. huzvaresch)
an. Wie wenn das su nun auf Sonne geht? Wo die Sonne hoch steht,
woher der heitre Himmel kommt, das ist im Norden und in der gemässig-
ten Zone der nördlichen Halbkugel der Süden, wie auch die alte deutsche
Form Sund lautet. Also wo Sonne ist, da ist es heiter a'i&Qio? (ätherisch),
Plat. Legg. XII, 96, E: k'vye xEii-iwoi -y.al sv svSiais. In dieser Stelle haben
wir auch den Gegensatz von Winter und heiterer, d. h. Sonnenzeit; wie
auch Sommer die Sonnenzeit ist. Hiervon leiten sich in L'ebertragung die
andern Bedeutungen ab, Pott. etym. Forschung, 2. Ausg. I, p. 747, nach
Wilkins Sanscr. Gramm, p. 93, sanskr. sudiva = happy, daily, sudio — having
a fine sky (epithet of a fine day); davon auch suavis süss, d. h. lieblich,
angenehm, i]8vs, suadeo u. Corssen, sanskr. ^udh, Qundh, purificare, lustrare;
wo die Sonne am Himmel steht ist es heiter, rein von Wolken etc.
Der ältere Begrifi' Süd steckt nun meist in dem Su der Volksstammna-
men Suormen, Suthiod in Suerlage, Suerland — noch nicht der abgeleitete
angenehm, gut. Es mag hier anzudeuten erlaubt sein, dass er auch in dem
Namen der Sueben, als Sudaner (vgl. den betreffenden Stamm der alten
Freussen) enthalten ist, wovon weiter unten.
Chatten und Hessen. 135
folk, Sussex Gegensatz von Wessex, im letztern Fall mit Assimilirung.
Ein Beispiel für die Ausstossung des d in sud, süd findet sich auch
auf niederhessischem Sprachgebiet, Landau Wüstungen 34, Süberg =
Südberg; wozu vergleiche Zeitschrift für Hess. Geschichte, I, Fal-
ckenheimer: lieber die ältesten Grenzen der Diöcesen Mainz und Pa-
derborn, S. 152, ff., die Schreibungen Sutberg 1254, Suthberg 1258
neben Suberg in ders. Urk. Süberg, Süggeberg, Sauberg. Es wird
auch die Möglichkeit offen bleiben, den Namen der uralten Stadt Soest
Sosatium auf den Begriff Südsassen zurückzufüren; ausserdem wim-
melt das bergige Land südwärts Soest von Ortsbezeichnungen mit dem
Zusatz Süd , so liegt ein Sundhelle bei Gummersbach, ein anderes bei
Altena, ein Sundewig in jener Gegend, ein Süggerath bei Geilen-
kirchen, Südheramern (Summern) neben Hemmern, ferner 14 Orte mit
dem Namen Sundern in Westfalen überhaupt, ein Sundern mitten
im Sunderland oder Kölnischen Sauerland. Das eigentliche Süder-
land liegt nach Klöden Polit. Geogr. v. Europa, II, 1035 um die
bergige Hochfläche, welche das steil eingeschnittene Thal der Lenne
durchfurcht und das ganze obere Ruhr- und Diemel-Gebiet , worin in
cigenthümlichem Namenanklang an den zweiten Theil des Namens Su-
gamber auch das Hommert-Gebirge zwischen Allendorf und Graven-
stein liegt. Dabei ist das Süderland der südliche Theil der Grafschaft
Mark, deren nördlicher Theil der Hellweg genannt wird, und welche
also für das Süderland umfasst die Kreise Hagen, Altena, Iserlohn,
Arnsberg, Meschede, Brilon, Olpe, Sieg und Wittgenstein. Im letzte-
ren liegt ferner der Ort Gamborn mit entschiedenem Anklang an
gambri in Sugambri , im Kreis Sieg, Postdistributionsort Stolzenbach,
Gommersbach mit Mühle; während an der Südwestgrenze des
Sugamberngebiets nach den Ubiern hin die alte Grafschaft Gim bor n-
Neustadt ebenfalls wieder an den Namen Gamborn im Wittgenstein-
schen erinnert. Ebenso liegt zwischen Eder und Diemel der Ort Hem-
merveldun , vgl. noch Hammorbikie in Westfalen in der Nähe von
Ennigerloh.
Entsprechende Ortsnamenbildungen finden sich dann wieder vor
in dem Gebiete, in welchem die von Tiberius versetzten Sugambern
angesiedelt wurden; so findet sich ein Ort Gommersbach bei Crefeld.
ein Garaeren, alt geschrieben Gamberen, Urkunde von 1031, M. Germ.
205, auch Gamberera bei Bommel zwischen Waal und Maas,
Conimern noch heute südwestlich Bonn bei Euskirchen; ein Hemmerfc
J36 Chatten und Hessen.
(Op- und Neer-) an der Waal zwischen Tiel und Bommel (als Hamma-
ritda Ann. Laur. n. 106 zum 9. Jahrhundert, auch Hammerethe, Ha-
merthe und Hemerthe wie Hemraerde bei Unna S. v. Hamm alt Ha-
marithi Pertz (vita S. Liudgeri) H, 418. Was liegt da näher als. a»
den Geo-ensatz des alten Hammerlandes Hammer marca Laur. see 8,
n. 1451; Hamarlant Pertz I, 435 (Prud. Trec. ann.) H, 139 (ann.
Bertin.) HI, 373 (Hlud. I. capit.) an die südlich wohnenden Hameri
zu denken mit der Verdichtung des h zu g oder c, wie denn auch die
Schreibung Sicambri vorliegt, und der wohllautlichen Einschiebung des
b zwischen m und r, wozu die Analogie dfiß^orog a^ißQOGia, der
Name der in den Ammersee fliessenden Ammer, bekannt aus dem Na-
men des Oberammergaues, welche unterhalb des Sees Ämper heisst;
der Name Cimbri für Cimmerii wahrscheinlich von Kinnemer =
Sumpfmeerbewohner = KififitQioi.* Die Emmer, welche bei Pyr-
mont vorbei in die Weser fllesst, wird alt Ambra, Gommern bei Mag-
deburg alt Gumbre, Emmerken bei Hildesheim alt Ambrichi, Emme-
rich alt Ambreki geschrieben. Finden wir nun die Lieblingsortsna-
men der Sugambrer im linksrheinischen Colonielande wieder, so fin>
den wir dasselbe in der Gegend im Osten, wohin ebenfalls eine su-
o-ambrische Cohorte verlegt ward, wir finden ein Gamern im Juden-
burger Kreise in Steiermark, und auf den Namen Chamerauer ist auch
wahrscheinlich der Name des alten Stammes zurückzuführen , auf wel-
chen Tacitus Germ. 2 zurückverweist, der Name der Gambrivii, welche
schon Zeuss S. 83 für identisch mit den Sugambern hält, was aber
nicht nothwendig ist, und Strabo VH raf.ißQiovnoi nennt, während
eine Handschrift des Tacitus Gambruni aufweist. Es können diese
Gambrivii in früherer Zeit zuerst entdeckte Bewohner von Gamber em
an der Waal sein. Dass diese Namen sehr verschieden ausfielen, je
nachdem sie ein Schriftsteller vorfand, ergiebt sich auch aus den ver-
schiedenen Namensformen für die Chamaver: Chamavi Tacit. Ann.
Xin, 55; Germ. 33, Amm. Marceil. XVJI, 8, 9, tab. Peuting. Grego.
Tur. II, 9; Chamäves Auson. Mosell. 434; Xßjwavo/ Ptolem. Xdfiaßoi
Julian ; Eunap. exe. legatt. ed. Bonn p. 42. Man vergleiche nur hierzu
die mittelalterlichen Namensformen für unsere heutige Wetterau:
* Das Hollandsdeep hat ehemals das Wijve-Keen geheissen. Zum
Kennemerland gehören Orte wie Alkmaar, Scbermer, \yormer, Waterland,
Beverwyk, Oterleek, Brug, Zaandaui , Edam , alles JSIamen , die auf die Be-
schaffenheit des Landes deuten.
Chatten und Hessen. 137
Pagus wetrabensis ürkde. v. 782, Wenck II, Urkundenb. 11; We-
drevi, im Schreiben des Papstes an St. Bonifacius; Wettereibe (häu-
figste Form) und Wedrebe zum Jahr 1057, Wagner, Wüstungen im
Grossh. Hessen, Prov. Oberhessen, Nachträge S. 462, oder die ver-
schiedenen Schreibungen von Suebi, Suevi bei Cäsar, Tacitus u. s. w.
Jovijßoi Ptol., Strabo VII, p. 290, Dlo Cass. LI, 22, Suaevi PertzII,
13 (vit. St. Galli); Suabi P. I, 3C8 (ßuod. Fuld. ann.) Sovdßoi Pro-
cop., Suavi öfters beiPertz, man vergleiche auch noch die Nordosquavi
an der Bode (Pertz I, 330. ann. Mett.).*
Da wir nun für den Namem Sugambern auch verschiedene For-
men haben, als Sugambri bei Cäsar de b. Gall., J^ovyafißqoi Strabo VII,
p. 291, 294, Sugambri Tacitus Ann. II, 26, IV, 47, XII, 39. Si-
cambri Martial. de spect. 3, 9 ; Flor. IV, 12; Suet. Aug. c. 21 , Pro-
pert. IV, 6; Greg. Tur. II, 31; Sigambri Ovid. consol. ad Liv. 13,
311: Juvenal. 4, 147; Sygambri Hör. Od. IV, 2, 14. Claudian.
IV. cons. Hon. 446 ; Syamber (!) Venant. Fortun. 6, 4, IvyaiißQoi m\i
Var. ^ovyaftßQoi PtoL, Dio Cass. LIV, 32 ; ^vy,diA,ßQoi und ^ovxa^ißQoi
Appian., Sicambri = Franci Pertz. IX mehrmals, so wird es mit dem
* Zum Namen der Sueben, von Strabo (zw. 19 u. 24p. Chr. schrei-
bend) als das grösste im Hereynischen Walde wohnende Volk zwischen
Elbe und Rhein und über die Elbe hinaus bis zum Ocean genannt (die
Chatten aber ausdrücklich neben ihnen genannt), giebt Dilthey, das Ge-
biet des Grossherzogthums Hessen in den Zeiten der Völkerwanderung im
Archiv für hess. Gesch. und Alterthumskunde VI, 1851, S. 187 eine Ueber-
sicht der bis dahin versuchten Erklärungen : Schwaben von Schweifen;
die Friedfertigen (Grimm) ; die Schläfrigen (Wackernagel) ; die Freien
(wieder Grimm); von See, mare suevicum; Suiones, Suethiod Schweden,
Schwyz. Schweiz, Tellsage (Duncker lässt die Sueben die Elbe hinaufzie-
hen); Sueben = Sabiner (Müller) u. s. w. Dilthey selbst erinnert an die
Orte Pfafienschwabenheim, Suaboheim 776, Sauerschwabenheim, Schwaben-
rod, Schwabsburg u. s. w. Alle versuchten Erklärungen reichen nicht aus.
Man wird aber auf die Analogie mit andern von allgemeinen Landschafts-
nanien entstandenen Volksnamen zurückkommen müssen. Im Gegensatz zu
Normen, Norwegen. Norrige lag dem germanischen Altorthum im hohen
Norden das Südland, die Südau, Sundau, Sonnenau. Was darin wohnte,
waren Suaben , Sueben, Suaven, je nach den verschiedenen Formen für
Aue, die oben entwickelt sind für Wetterau wie für Suabia. Die Sueben
beginnen im Norden mit dem Suethiod in Schweden, dessen heutiger Theil
Südermannland genug besagt. Da es unstreitig Schwaben, Sueben sind,
welche die deutsche Schweiz besetzt haben , so ergeben sich aus ihrem ur-
sprünglichen Heranreichen bis an Norwegen hinlänglich die Bezüge zwischen
Schweizern und Schweden auch u. A. in der Teilsage. Sind Sueben nach
Spanien gezogen, warum sollten sie nicht auch aus Schweden nach der
Schweiz gekommen sein. Sind doch auch die später weiter südlich wohnen-
den Normannen bis nach Süditalien gezogen und haben hier das Reich des
Robert Guiscard gegründet!
138 Chatten und Hessen.
Theil yafxßQOi gambri, xafjißQoi und cambri nicht eben anders wie mit
den verschiedenen Schreibungen des Namens Chamavi sein.
Im nördlichen Theil der Grafschaft Mark, welche ihren Namen
trägt von dem bei Hamm und beim alten Dorfs Mark gelegenen
Schlosse Mark , war offenbar die hervorragendste Landschaft die um
Hamm, das Gebiet eben der Chamavi. Die ältere Form für Hamm
findet sich dabei in dem Namen des Ortes Camen an der Sesike, für
den auch vielleicht die Schreibung Gamen (curtis an der Lippe, vgl.
Erhard regesta historiae Westfaliae, Münster 1847 n. 870 zum Jahr
1016) angenommen werden darf; denn die Sprachvergleichung weist
fiir den appellativischen Begriff Dorf, Heim nach die Entwickelung :
griech. ycofit],* littauisch (kaymen) kemas, gothisch haims, altnordisch
heimr, angelsächsisch ham, wie es auch einfach im Oberdeutschen lau-
tet, und im niedersächsischen Sprachgebiet. Die Hamm's sind sehr
häufig vorhanden. Denken wir uns nun die Gamabrivi des Tacitus
neben den Marsern in der untern Grafschaft Mark und Hamm, die sich
dann bei der allgemeinen Weiterschiebung der östlichen Stämme nach
Westen zu bis zum Orte Emmerich am Rhein** hinziehen, also in den
Kreisen Hamm, Soest, Amt Hemer, Bochum, Dortmund, Lippstadt etc.,
so haben wir südwärts davon im Süderlande die Sudgamerer, Sugam-
brer oder Sügambrer, d. h. die Sudheimer, Sundheimer in ältester Na-
mensform und ältester Bedeutung des Wortstammes cham. Ihr Stamm
und Name breitet sich ebenso nach Südwesten aus bis zum Ubier-
lande, wie die der Gambrivi bis nach Emmerich. Hieraus erklärt sich
auch, wie die Usipeter und Tencterer nach ihrer Zurückdrängung durch
Cäsar im Gebiete der Sygambrer Wohnsitze fanden.
Wie nun hiemach der Name der Sügambrer auf einen Land-
* Fick, Wörterb. der indogerm. Sprache ; Götting. 1868, S. 40, zu
käma von Sanskrit (jam = ruhen. Es ist aber auch altpreussisch kaymen
hierherzuziehen. Der Lappländer nennt seine Wohnung Gamen und das
nordische heim-r findet sich wohl in dem norwegischen Ortsnamen Hammer,
Fredericshammer wieder. Auch der Flecken Gemen, Kreis Tecklenburg-Lingen
ist mit seinem Namen herbeizuziehen; wie der Namen Gamm in dem Vier-
lande bei Hamburg. Die Burg Hamburg wurde beim Dorfe Ham angelegt.
** Hamaland um Emmerich heisst auch Amorland. Dedericb, die Feld-
züge des Drusus und Tiberius in den nordwestlichen Germanien. Köln und
Neuss, 1869, Schwan, S. 118: „Ueberdies gehörte das Gebiet von Emme-
rich als Untergau unter dem Namen Amabia zum Comitat von Hama-
land" wozu der Verfasser dieses Werks verweist auf seine Geschichte der
Römer, S. 193 f. und seine Abhandlung über den Gau der Attuarier. ]^
Chatten und Hessen. 139
schaf'tsnamen zurückgeht, so findet sich auch der Sitz der alten
Chattuarii, Hattuarii, Attuarii und der Hozzoarii noch heute
angedeutet durch eine Landschaft, welche jetzt noch die Hetter (von
Spaen Jul. Bd, I, p. 152 u. 193) geheissen , im Mittelalter als pagus
Hattera zwischen Emmerich und Rees erscheint und ostwärts weiter
zu suchen ist in dem Hatteragau an der Ruhr, welcher dem Boroctera-
gau gegenüber lag, Rettberg, Deutschi. Kirchengeschichte wie oben II,
379. Man vergleiche auch hierzu noch den Namen des Dorfes Brack-
wede-Brock im Kreise Bielefeld, welcher das t im Namen der Bruc-
terer erklärt.
Ebenso erscheinen die Tubantes des Tacitus als Bewohner der
heutigen Landschaft Twenthe, der Name der Bructerer, ursprünglich
im Borocteragau um die uralte Landschaft Broich mit Schloss angesie-
delt, repräsentirt durch die unzähligen Broich's, Broek's , Bruchs
u. s. w., welche sich als simplicia wie als Composita, Grevenbroich,
Imgenbroich u. s. w. bis nach Niederland und Belgien hinein finden.
Man findet auch zum Namen der Usipeter eine genügende
Ortsnachweisung. Es liegt südlich von Arnhem der Ort Huys-
sen und im Kreis Rees der Ort Huisberden. Im letzteren Namen
liegt das niederdeutsche Börde für fruchtbarer, tragbarer Strich [Lan-
des, wie wir die Namen der Soester, Warburger, Magdeburger Börde,
verschiedener Börde's im Lüneburger Lande der Longobarden haben
und in einzelnen Gegenden an der Weser (vgl. Wippermann Buckigai:)
denselben Namen verschiedentlich für kleinere Striche wiederholt fin-
den. Es steckt darin das niederdeutsche boren, tragen, englisch to
bear, lateinisch fero (tuli latum), ferre und das griechische cptQsiv , wie
unser neuhochdeutsches Bahre (das deutsche Wort Börde ohne d findet
sich in der schwäbischen Baar bei Tutttlingen, Spaichingen u. s. w.
sowohl wie in dem Barrois in Frankreich mit Bar le Duc, Bar sur
Aube, Bar sur Seine etc.). Bürde, Gebären, Geburt u. s. w. Zu die-
sem Zusatz berden bleibt also in Huisberden der Vorsatz Huis als
Glied des Namens Usipetes, worin der Zusatz petes auch wieder nie-
derdeutsch zu erklären ist. Was wir hochdeutsch treten, betreten,
nennet der Niedersachse petten; es ist das Griechische ;T«Tfri' u. ßai'veiv
mit den nahestehenden Formen ßddfjv schrittweise, ßadog , ßdCoj und
ßißd^co , vielleicht das lateinische petere, und findet sich weiter in den
Völkernaraen Atrebates, Caninefates, denn p erweicht sich in diesem
Wortstamra auch zu b und f wie die Lautverschiebung novs noSog^
140 Chatten und Hessen.
pes, Pfote, foot, Fuss mit dem mundartliche^ Pote, Pfote, Patze dar-
thut. Die Atrebates wohnten um das heutige Arras. Dazu das noch
heute in Schweden gebräuchliche Wort päd für Land, Medelpad die
Landschaft zwischen Angermannland und Helsingland, wozu das grie-
chische mdov Boden, Ort, ßädog Gang, ndtog = deutsch Pfad, narsTv
ein Land bewohnen, das französische Patois, Bauernsprache und pas =
Schritt, passer wandern, patte die Pfote, das englische path Pfad, to
päd wandern, padder Strassenräuber zu Fuss ; to pedle Hausirengehen
u. s. w. Es führen sich diese Bedeutungen bis auf das Sanskrit zu-
rück, wo päd gehen, päd und päda der Fuss und pada Standort, Bo-
den, Land bedeutet ; wie ebenfalls im Zend päd und pädha der
Fuss, pada das Land. Frage ist auch noch, ob das Sundevede (Sunde-
witt) nicht so seinen Namen erhalten.* Wir hätten in den Usipetes
also Bewohner des Uselandes vor uns, wie eine Use auch bei Usin-
gen im heutigen Nassauischen vorbeifliesst und in die Wetter in der
heutigen Wetterau einmündet. Dort giebt es auch Orte wie Espe,
Utphe u, s. w. und mit diesem früheren Sitze der üsipeter stimmt
nicht nur ihre Angabe, dass sie von den Sueben aus ihren früheren
Sitzen vertrieben worden seien zu Cäsar's Zeit , sondern auch die
Ueberlieferung des Tacitus, Histor. IV, 37, dass sie im Aufstande des
Bataver Civilis zusammen mit den Chatten und Mattiakern Mainz be-
lagern, was auf ihr damals noch fortdauerndes Wohnen um Usingen mit
Nothwendfgkeit hinführt. Dass sie also fast gleichzeitig in so weit
getrennten Gebieten wohnen, erklärt sich einfach daraus, dass die
Sueben ursprünglich nicht alle Anwohner des Usethales in der Wet-
terau austrieben, sondern nur die mit der Herrschaft der Eroberer Un-
zufriedenen , und dass diese nach Sjährigem Umherziehen mit den
Tencterern einen neuen Wohnsitz im Lande der Sugambern am
Niederrhein erwarben , wohin sie dann ihren alten Namen trugen,
wahrscheinlich auch der Yssel Ussala den Namen gegeben haben.
Dass sie hier eine gute Gegend getrofien , bemerkt Dederich a. a. O.
S. 134, wo er von den gesegneten Fluren um Rees, Grinthausen,
Warbeye, Kellen, Huisberden, Wissel u, s. w., und ihrer sprich-
* Es wird festzustellen sein, ob nicht auch der Namen der Helvetii
vom Niederrhein stammt ; wie denn die Maas (Kampen, Gesch. d. Nieder-
lande I., S. 4) in einem stundenbreiten Bette (Helium) dem Meere zu-
fliesst und hier Helvoetsluis liegt. Die Helvetier waren ja ehedem Bewoh-
ner des ganzen Rheingebietes.
Chatten und Hessen. 141
wörtlichen Fruchtbarkeit spricht. Dass es sich bei der Erwähnung der
Usipher in dieser Gegend um die Bewohner einer ordentlichen Civitas
handelt, beweist noch das von Th, Mommsen (Abhandl. der phil. hist.
Klasse der k. Acaderaie der Wissensch. zu Berlin, Jahrg. 62, S. 489)
veröffentlichte Verzeichniss der römischen Provinzen aus dem Jahre
297 p. Chr., wo unter den nomina civitatum trans renum fluvium zu-
erst Usiphorum genannt wird, wie es dann bei Tacitus Hist. IV, 37
auch heisst nicht Usipetes sondern Usipii, woraus man sieht, dass Use
der Hauptstamm des Wortes und der Zusatz petes oder ipii , iphi gleich-
gültiger ist.
Diese Auslassung über Usipetes und die Zurückführung auch
ihres Namens auf einen Landschafts- oder Gemeindenamen mag uns
nun noch auf zwei andere nach demselben Prinzip zu erklärende wich-
tige Namen führen , um durch die Analogie unsere Beweisführung
möglichst zu kräftigen, auf die natürlichste Erklärung des Namens der
Germanen und der Preussen.
Was den Namen Germanen betrifft, so hat noch einmal Schacht
Dr. C. über Geschichte der deutschen Sprache von der ältesten Zeit
bis zum Althochdeutschen (Herbstprogramra der Realschule I. 0. zu
Elberfekl 1868) die Ansichten über die Entstehung des Namens zu-
sammengestellt als: Jak. Grimm's Ansicht kelt. gairm wyn = schreien-
der Krieger; Garman = Nachbar (Mahn, Ursprung der Bedeutung
des Namens Germanen, Berlin 1864, ähnlich wie Leo, Waitz, Zeuss) ;
Germani = leibliche Brüder, oder Wehrmänner, Spiessmänner. Alle
diese Deutungen leiden an etwas Unvereinbarem. Das Schreien der
Krieger passt nicht bloss auf die Germanen, auch die Gallier hatten
dieselbe. Gewohnheit des Schlachtenrufes ; der Begriff Nachbar ist erst
später entstanden durch das Nebeneinanderwohnen eines sesshaften
ackerbautreibenden Volkes; die Erklärung leiblich, Bruder ist nur ein
Wortspiel und von Ger, Speer, Spiess u. s. w. konnten die Mannen
nicht wohl genannt werden, weil die alte gotli. Form gaisa für Speer
ist, und auch diese Bewaffnung nichts besonderes Germanisches Avar. Die
erstgenannte Erklärung Grimm's aber hapert an der noch unvollkom-
menen Aufdeckung der keltischen Sprache.
Schacht hebt nun selbst schon hervor, dass die germanischen
Stämme sich ursprünglich selbst nicht Germanen nannten , sondern
jeder Stamm mit dem ihm eigenthümlichen Stammes-, meist von einer
Oertlichkeit hergenommenen Namen. Li den Augen der Römer, des
142 Chatten und Hessen.
Jul. Cäsar waren die Usipeter und Tenctercr ebenso gut Germanen
wie die Sueben, aber jene nannten diese eben nur Sueben, auch traten
die Sueben gleich feindlich gegen Römer wie gegen dte stammesver-
wandten Usipeter und Tencterer auf. Cäs. nennt De b, Gall. 2, 4
die Condruser, Eburonen, Caeroser und Paeraaner Germanen , schätzt
ihre Mannschaft auf 40000; schon Tacitus nennt ihre Namen nicht
mehr und an ihrer Stelle die Tungern (Germ. 2, Hist. II, 28, IV, 16,
55, 66, 79, cf.Plin. IV, 17, XXI, 28, Sil. Ital. VII, 681, not. dign.
occid. c. 38, Amm. Marcell. XV, 11. Tab. Peut. Advaca Tungrorum).
Ebenso verschwinden die Cäs. d. b. G. 2. 4. 16. 29. 31 ; 5, 27. 38.
39. 56; 6, 2. 33 genannten Aduatuci, wie es scheint, unter dem Na-
men der Tungri, und doch erzählt auch von ihnen schon Cäsar, dass
sie eigentlich von den Cimbern und Teutonen zur Bewachung hier zu-
rückgelassenen Gepäckes aufgestellte Germanen gewesen. Alle diese
einzelnen Stämme nahmen daher ihre Namen nicht nach der allgemei-
nen Herkunft von den Germanen, sondern nach der Ortschaft oder Land-
schaft, in welcher sie sassen, oder von dem Volke, welchem sie sich unter-
warfen. Wenn Cäsar, wie oben schon erwähnt worden, über die Beigen
erzählt bekam, dass es von den Germanen jenseits des Rheins herüberge-
kommene Stämme seien, so erhielt er diese Kunde von den Galliern, nicht
von den Beigen selbst, und auch ihre Namen, wie die der Atrebaten
lassen sich aus niederdeutschen Wortstämmen erklären. Z. B. ge-
hört der Name Bellovaci zu der Bildung waag, vagen , wie wir es in
Norwegen, Hückeswagen im Bergischen, Ost- und Vestvaagen, In-
selmann im Nord-Drontheimschen Gebirge, Honningvaagfjeld, Klöden,
pol. Geogr. v. Europa, S. 779 u. 788, Nymvegen , Unter- und Ober-
Schön- Matten waag im Odenwald an den von einander entlegensten
Orten wieder finden. Wie schön von scheinen , so kommt das hello in
Bellovaag — Bellovaci von sanskrit bhäla Glanz, griechisch qialog,
licht, hell, altnord. bäl, angels. bael, kirchenslav. bela weisses Kleid,
belü weiss ; wovon bei beau französisch , jetzt die Gegend der Bello-
vaci Beauvais heisst. So ist es auch mit dem Namen der Veroman-
dui, jetzt der Bewohner von Vermandois. Es liegt in Vermandois ein
Vermand am Omigeon. Entweder ist dieser Name gebildet nach der
Analogie des Namens Normandie, Normannenland, denn „man" heisst
im Zend „bleiben," griechisch fitvsiv, lateinisch manere, davon mansus
das Bauerngut, davon auch noch der durch ganz Deutschland vor-
kommende Zusatz in Ortsnamen wie in Bodman am Bodensee, Mett-
Chatten und Hessen. 143
mann * bei Elberfeld, Rodeman im Hessischen, Todemann bei Rinteln.
So vermacht ein Arcgoz Dronke trad. Fuld. S. 34 n. 12 Güter in
Witmane (Lohngau); ibid. S. 66, Cap. 36, wird unter den Gütern des
Klosters Fulda Rotenmannen aufgeführt (Pahmannun, Frienmannun ?
Westarmann, Leizmann, Förstemann II, 978). Auch mit mand kommt
es' vor, z. B. in Flamand, (Flamengrie, ein Ort in Belgien, östlich
Valenciennes), also dass Vläminger, Flamland neben Flandern steht, **
wie denn sanskr. mandira Haus, raandurä Stall, Hürde, griechisch
fiavÖQa ebenfalls Stall, Hürde bezeichnet und im Waldeckischen, im
alten Marserlande der Ort Mandern *** nahe der hessischen Grenze
liegt, wo auch das Appellativum Wega für Waag vorkommt. Oder
es führt sich der Name Vermand auf das holländische mond und mand
für Mündung zurück, zu vergleichen Dendermonde, und wirklich liegt
Vermand an der Mündung des Wassers in einen der vielen Seen,
welche in der Landschaft vorhanden sind. So kommt für Dortmund
die Schreibung Trothmanne vor.
Nehmen wir zu Germani, f das niemals Gerraamii geschrieben
* Schwäbisch-Alemannisch, Kuhn's Zeitschrift XV, 257 aus der Zimmer-
schen Chronik : wie der hirt vilmals fürgeben hette, wellte er den hosten
ochsen in seiner rindermänni daran zu bawstewr geben. Im Zend heisst
maetbman Vereinigung; maethana Wohnung.
** Vergl zu dein eingeschobenen d das nieder!. Hendrik zu Heinrich.
*** Derselbe Ortsname kommt auch im Depart. Moselle zwischen Perl
und Büdingen vor.
f Was z. ß. auch ferner den Namen der Chauken betrifit, ein Volks-
stamm, der nach Tacit. Germ, sich über den ganzen Nordseestrand von den
Friesen im Westen ab bis östlich im Bogen herum zu den Chatten erstreckte,
so sind seine Wohnsitze zu Tacitus Zeit heute deshalb nicht leicht an Oert-
lichkeiten wieder zu erkennen, weil die Küste der Nordsee seit der Zeit
durch grosse Sturmfluthen zerrissen , um den Zuydersee, den Dollart
u. s. w. vermindert worden ist. Doch erinnert an den Namen z. B. im
Osten des bezeichneten Gebiets, was über die HaUigen im Amte Husum
gesagt wird v. Klöden, a. a. O. S. 1050: die Halligen sind neuangedeichte
Inseln, auf denen die Häuser auf erhöhten Warfen stehen ; bei hohen Sturm-
fluthen geht das Wasser aber dennoch in die Häuser oder nimmt diese
ganz fort. Hooge hat 100 Häuser, Langenes und Nordmarsch haben 90. — In
Hooge haben wir das Appellativum zu dem Namen der Chauken wieder,
wie sich denn im Holländischen der Name in der Form t'Hoek, Hoek, Lief-
kenshoek, Futtershoek an Oude-Maas wiederfindet. Man vergleiche hierzu
nun die Heuberge im Eiderstädtischen , Gebäude, welche auf den Warlen
oder Wurthen stehen, die doch wohl ihren Namen von Hochberge haben,
wie denn der Name hoch in manchen Gegenden zu höe, hoe (Itzehoe) oder
zu Huy bei Maestricht und der Huy bei Halberstadt oder Hoya eine Hoch-
landschaft verkürzt wird. Auf der andern Seite ist wieder das H zu K ver-
dichtet, wie im Namen des Dorfes Koog in Nordholland bei Zaandam. So
nennt man in den dänischen Marschen und Dünen erhöhte Watten, wenn
^44 Chatten und Hessen
wird, noch die Namen Marcomani,Alemania (französ. Allemagne; davon
allemand der Deutsche, wie er hier dem Franzosen zunächst im Elsass
u. s. w. sich darstellte, wie der Deutsche in Holland zunächst dem Eng-
länder stand und daher den Namen the Dutch allein auch für die Eng-
länder behalten hat, während für uns eigentliche Deutsche der gelehrte
Name Germans aufgekommen ist), Cenomani in Maine mit dem Ort
Le Mans, die französischen Landschaften Lomagne im Herzogthum
Gascogne, eine weite Ebne, Limagne eine fruchtbare Ebne des AUier-
thales von Brioude bis Vichy, Pacmani verglichen mit den KaQfidvioi,
persisch, Strabo, Ptolem. 6, 8, 12, KaQfiavia am indischen Meere,
Ol KaQfiavoi Bion. P. 1083, KaQfidnog Steph. Byz., als bes. Form
KuQfiavig Bion. 606, die ^Qixtviot. am Ararat, Herodot. I, 194, reQ^dvtoi
Herod. I, 125, welche zu den Ackerpflügern unter den persischen Stäm-
men zählen, lA&afiävEg in Idd^ufinvia der Landschaft in Epirus, ein von
denLapithen vertriebener thessalischer Völkerstamm, der sich dann am
Pindus niederliess (Strabo, Polybius) , so haben wir eine ansehnliche
Sammlung von Orts- und Volksnamen , in welchen der Zusatz mania
wohl auf den Begriff Wohnstätte , Land u. s. w., zurückgefürt werden
kann; es ist nun noch der Vorsatz ger zu erklären. Da haben wir
denn zunächst das altpersische (Zend) gairi, Sanskrit giri (Dawalagiri
sie mit dem Festland noch zusammenhängen Vorland; wenn sie zur Insel
geworden sind, Hallig ; sichern sich Anwohner derselben gegen die Sturm-
fluthen durch ringsumlaufende Deiche, Koog. Hiermit vergleiche man nun
die Beschreibung des PHnius von den Wohnsitzen der Chauken, ob sie nicht
auf die Friesen passen. Dass der Name Koog noch allerlei lautlichen Ver-
änderuno-en ausgesetzt gewesen, beweist der Name des Gudskougsees in
Danemark und des Ortes Blaeskoeg in Island. Are Frodi, 3, Geschichts-
Schreiber der deutsch. Vorzeit, Ad. v. Bremen, S. 222, Anmerk. 3. Was
die oben angedeuteten Sturmßuthen betrifft, so wird z. B. allein für das
Amt Tondern daran erinnert, dass vor dem Jahre 1240 der nordfriesische
Inselcomplex sich 20 Meilen in der Länge und 12 Meilen in der Breite,
von der Ostseite des Dreiinsellandes (Eiderstedt) bis zu dem untergegange-
nen Ameringer Barren ausdehnte. 1634, in der Nacht zum 12. October,
verloren allein in dieser Sturmlluth 15000 Nordfriesen ihr Leben. Die
Frao-e ist noch, ob nicht auch die Namen der Inseln Wangerooge, Spicker-
Oo<?e, Rottumer-Oog, Schiermannik-Oog etc. hierher zu ziehen sind, als
Reste des nun zu Inseln zerrissenen Chaukenlandes , das sich die ganze
Kiiste der Nordsee entlang erstreckte. Hier ist noch anzuführen, was Van
den Bergh (Verdeeling van Neederland in het Eomeinsche tijdvak, S. 14,
Biidrao-en voor Vaderl. geschiedenis en oudheidkunde deel X, von dem
alten Orte Hugmerchi sagt : „mark of district der Chauken die dus hier
midden onder de Friezen enne Kolonie gesticht hedden.« Man denke auch
noch an den Strich Landes nördlich von der Mündung der alten und neuen
Maas, o-enannt der Hoek von Holland. Ob auch der Name der Insel Kaa,-
gen bei Drontheim hierher zu ziehen ist?
Chatten und Hessen. 145
Montblanc) für Berg; kirchenslaviscli gora, littau. gira, gire für Wald,
Forst; denselben Bggriff in dem Namen der Berggruppe der Hercy-
nia in dem niederdeutschen Haar in Harstrang, Rothäargebirge, so dass
Hermania mit dem verdichteten Gaumenlaute G statt H Germania das
Bergland wäre, aus welchem die Germani in immer neuen Stämmen
hervor wanderten, um die besser bebauten Gefilde der Gallier und Rö-
7iier zu besetzen. Zum Namen Germania passt der Begriff Hercynia
Haardt- oder Harzgebirge, denn überall längs des Eheines stossen uns
die Haardten auf; sowohl in der pfälzischen, linksrheinischen Haardt,
wie in dem rechtsrheinischen Spesshardt, den Haardten im Schwarz-
wakl, im Schwäbischen u. s. w. bis zum obengenannten Haarstrang und
zum ostniederdeutschen Harz, nicht zu gedenken der un«ähligen klei-
nen Berge und Wälder, welche mit diesen Namen im lieben Vater-
terlande bezeichnet sind. Man denke dabei auch an das mit dem mo-
dernen Namen „das Bergische" bezeichneten Bergland rechts des
Rheins. Der Wortstamm kar, gar, ker, ger, gir u. s. w. ist offenbar
eine Verschleifung von dem ursprünglichen skar, der den ursprüngli-
chen Begriff des Empor- und Hervorspringenden in sich enthält. So
heisst Sanskrit (jri kochen , ^irra flammend ; Zend 9kar springen,
9kaira der Wälzeplatz der Pferde, griechisch axaiQO}, axiQtäv-Hv sprin-
gen, hüpfen, gothisch skreitan ; altnordisch skardh; althochdeutsch
scera der Maulwurf (Muilaufwerfer) ; man vergleiche hierzu das
griech. anÖQÖa'i = '/.öoSa^ , das skandinavische skära für die hervor-
springenden Klippen der norwegischen Küste, unsere Worte Scharte,
Scheere ; ferner das littauische szirdis für Herz, welches das ursprüng-
liche s noch bewahrt, w^o es das Sanskrit bereits verloren hat, ssk.
hrd, hardi Herz, lateinisch cord-is (cor), der Hüpferim thierischen Körper.
Hierzu gehören die Formen y,aQÖtd, aÖQ&vg, Erhebung, Haufen, cornu
latein.;, haurn gothisch; Hörn neuhochdeutsch ; cervus der Hirsch, Ge-
hörnte; äol. KSQuFog-, angelsäch. heorot ; althochdeutsch hiruz; engl,
hart, unser Hirzebock, Hirsch; Sanskr. 9iras Herr, zend. 9ara, rus-
sisch Czar, griech. y.aq Haupt, latein. cerus , Schöpfer, wovon creare,
xaQuvog, HOtQavoig , Aqscov , altnordisch harri, herra, angelsächsisch
herra, gothisch harja, althochdeutsch herro, unser Herr. Littauisch
szeras , szerys Borste , griech. xan Haar , latein. crinis , angels.
althochd. hfir Haar, sanskr. kesara Haupthaar, Mähne, latein.
caesaries das Lockenhaar, littau. kasa Flechte, kirchenslav. kosa
Haar; sanskrit. khara eine Art Dorn, griech. wie oben naQÖia
Archiv f. n. Siiiaclieii. XLVIU. 10
146 Chatten und Hessen.
Erhebung, deutsch Haardt, abgekürzt in Haar, Rothaar-Gebirgc,
Haarstrang. «
Die Entwickelungsreihen lassen sich noch weiter ausführen, so
z. B. von ghars starren , rauh sein ans sanskrit harsh , davon unser
„Gerste," latein. hordeuni von horrere, starren; so heisst gharmen,
germen auch der Schössling, Keim. — Doch vi'ir kehren zu unserem
Ger für gairi , Berg , zurück und erklären den Namen Germania als
Bergland, in welchem die Hercynia liegt und die Germani als
B erg-H ochläuder wohnen. Die Heicynia hat natürlich ihren Na-
men ebenfalls von demselben Stamme wie die Menschenwohnstätte Ger-
mania, so heisst bei Erich, ann. Pertz. I, 192 die Hercynia, nämlich
der Böhmerwald nahe dem Erzgebirge, ganz bezeichnend Hircanus sal-
tus. wie hircus der Bock (Hirzebock) vom Springen den Namen hat,
wiesaltus, die Waldschlucht, ebenfalls von salire, springen, tanzen
entwickelt ist. In transl. S. Dionys. Pertz. XHI, 352 heisst Hercy-
nia Hircania u. s. w.
Hätten wir nun so den Gesammtnamen der Stämme, welche aus
den rechtsrheinischen Berglandschaften heraus auf die gallischen und
römischen Gebiete losbrachen , näher zu bestimmen gesucht und wie-
der gefunden, dass wir auf einen Namen gekommen sind, welcher der
natürlichen Bodenbeschaffenheit entsprungen ist , so wollen wir nun
das Exempel auch noch an dem Namen der Preussen zu machen
versuchen.
Wo das Volk der Preussen zum ersten Male, so zu sagen,
in die geschriebene Geschichte eintritt, wohnt es um die Mündung
der Weichsel; der Erzbischof von Gnesen , Adalbert, wird hier von
einer Schaar Preussen 997 erschlagen; in der 999 geschriebenen Vita
S. Adalb. Canapar. Pertz VI, 593, 9G. 97 wird das Volk genannt
Pruzzi mit der Variante Prusi , das Land Pruzzia oder Pruzia. Als
der deutsche Orden die Bekehrung der heidnischen Preussen unter-
nimmt, beginnt er sie von Cuhn aus; in den in jener Zeit ergange-
nen päpstlichen Schreiben wird das Land einmal nach lateinischer
Aussprache Epist. Honori III, Cod. dipl. Pruss. I, Ni. 1217, Prus-
sia und 1218 epist. Honor. daselbst No. 2 das Volk in plattdeut-
scher Mundart Pruteni genannt ; das Land aber hier wieder Prussia,
wie auch in Urkunden von 1222, 1226, w^o der Volksname platt-
deutsch geschrieben ist. Das Land nun , das hier ins Auge gefasst
ist, wird in der Abhandlung: Land und Leute von Preussen, v. F.W.
Chatten und Hessen. 147
Schmidt Dr. phil. Zeitschrift für prcuss. Gesch. u. Landeskunde, 1870,
Junnarheft S. 41, 42 in Betreff seiner Naturbeschaffenheit also geschil-
dert: „Da die westpreussische Platte — ■ auch im Ganzen genommen —
die höchste Erhebung des Bodens auf dem Gebiete des norduralischen
Höhenganges ist, so wird begreiflich, dass die beiden Strömungen,
welche um den Besitz der Lüfte beständig im Kampfe liegen, hier vor-
zugsweise hart aneinander stossen. Westpreussen wird von
Winden mehr als ein anderes Land gepeitscht. Zu jeder
Jahres- und zu jeder Tageszeit kann man in "Westpreussen das Ge-
räusch des Windes hören; und wie man von England sagen kann, dass
„der Hegen dort regnet jegliclien Tag," so kann man von Westpreus-
sen mit Recht behaupten, dass „der Wind dort alle Tage pfeift'' etc.
Hr. Schmidt führt noch an, dass ein Reisender das Land Wind-
preussen genannt habe.
Betrachten wir nun zunächst eine Anzahl Ortsnamen, welche im
Bereich des zuerst als solchen bekannt gevvoidcnen preussischen Kul-
mer-Landes liegen und deren Namen auf den ursprünglichen Stamm
im Namen Preussen sich zurückführen lässt: Gr. Brudzaw, Prussy
oder Pruszy im Kreis Kuhn, Brosowken bei Stulim, südl. Marienburg,
Prussy auch in den Kreisen Konitz und Pleschen ; Pruski, Prust in
Kr. Seh wetz; Prust auch in den Kreisen Konitz und Greiffenberg;
Praust an der Radaune, südl. Danzig; Prothanien (vgl. die Form Pru-
theni) in Kr. Mohrungen , Prüssau , Kr. Neustadt (Cassuben), Pritz-
nau daselbst; Prusnalonka, Kr. Thorn ; Prussewice , Kr. Schroda ;
Pruszinowa, Kr. Neidenburg; Briesen zwischen zwei Seen (Briesen-
und Schlosssec) südl. Graudenz ; Pruszczeck in Posen; Proszysk,
Kr. Inowraclaw ; Prusiec, Kr. Wongrowiec; Prusira, Kr. Birnbaum;
Prittisch , Kr. Birnbaum; Prossen , Kr. Chodziesen; Preusshof, Kreis
Osterode.
Die Namen aller der hier aufgezählten Orte scheinen auf einen ge-
meinsamen Wortstamm zurück zu gehen , der sich im Neuhochdeut-
schen in Brausen (vom AVinde), Windsbraut ; Briese (Schifferausdruck
für Wind), Brust, das Luft holende und ausschnaubende Körperorgan,
preisen ::= laut loben , prusten wiederfindet ; aus dem Alt- und Mit-
telhochdeutschen gehört hierher: prädam, bradem , brödem Hauch,
Brodem , angels. braedh Hauch, engl, breath; auch briezen = dem
englischen to breeze wehen, to breath athmen ; brisk englisch für
frisch vom Winde, to brustle rauschen, knirschen. Im Französischen
10*
148 Chatten und Hessen.
entspricht bniir brausen, bruit das Geräusch (particip. bruissant). Im
Lateinischen scheint der Wortstamm nur sehr vereinzelt aufzutreten,
"Wohl führt sich darauf fretum, das Brausen, Wallen (Hitze) die gegen
das Gestade antobende Fluth (eine Meerenge) , der Stamm pret in
dem Worte interpretari und vielleicht auch der Name procella Sturm,
und Name der Bruttier des auf der schmalen Landzunge zwischen
zwei Meeren wohnenden Volksstammes in Süditalien zurück, womit
wir denn auch zu dem Namen der zu beiden Seiten des äusserst stürmi-
schen Canals von La Manche liegenden Küsten Britannien und Bretagne,*
kämen, wie denn das lateinische Bruttii griech. BQtTtiot, wie ihr Land
BQsrrid lautet. Es wäre auch dieses Land wie eine Art Brauseland
aufzufassen. Heisst doch auch Hibernia, lerne, Ireland wahrscheinlich
nach hiems,L'hiver( Winter-Regenzeit), imber, hibernia(Winterquartierc),
nichts anderes als Regenland. Im Griechischen entsprächen dem ange-
führten Wortstamrae die Worte ?r(j(jöT/J() = heftiger Sturmwind, nQiarig
der Sprüh- oder Wallfisch, TlQovaa der Name eines Ortes mit warmen
Quellen, IlQojtEvg der Meergott, /7^cot<V eine Plejade, ßgvaig (fco?) das
Aufquellen, Hervorcfhellen (Suid., Eust. etc.)
Es muss erlaubt sein, auf gleiche Entstehung zu schliessen, wenn
man die Namen für hochgelegene oder dem Meersturm ausgesetzte
Orte an den entlegensten Enden ebenso wiederfindet , so im russischen
Gouvernement Grodno Am Muchanez, an dem auch der Ort Prushany
liegt, in Litthauen die Festung Litthauisch Brest = Brzesc-Litowiky
*) Findet sich doch auch, wie für den Namen Pruthenl die Schreibung
Brnteni, so für Boett- die Schreibung ITosTravixrj^ , Diodor. 5, 22 nach Ti-
maeus ; ebenso Strabo p. 114 noETTavixMv ; MüUenhoff", deutsche Alter-
thumskunde 1870, I, S. 94, sagt zu der Lesart n^sTTnvixni {in^aoi') in der
Anmerkung : Denn dies scheint die ältere den Griechen ehedem allein ge-
läufige Form, die erst durch spatere Abschreiber aus dem Texte des Strabo,
Diodor, Ftolemaeus u. A. verdrängt wurde. K. Müller G. M. I, CXXXV,
516, ff. vgl. wälsch ynys Frydein insula britannia Zeuss Gramm. S. 46, 793.
Ein Zeugniss zu einer hier durchaus passenden Analogie, aber auf einem
ganz unverfänglichen Gebiete, giebt der Name des Ortes Bretzeuheim bei
Mainz. Es heisst Scriba, liegesten der Urkunden des Grossh. Hessen, IL Ab-
theil., Rheinhessen S. 1, villa Prittonorum in einer Urkunde von 753 ; a. a. O.
S. 9 Brittenheimer marca und Britcenheim neben einander in 767 : weiter
770 Brizenheim; 772 wieder Brittenheim; 773 in monte Prittonorum neben
vil. Brittanorum ; 775 Brizzenheim; 777 in marca ßrettonorum; 778 Brez-
zenheim; bei Eberh. Monach. Brisenheim; 779 Brezzenheim; 782 Britten-
heim; 1056, 1073 Brizcenheim; 114U Brieenheim; 1151 Brizzenheim;
1200 Britzenheim; 1290 Bretzenheim u. s, w. Diese Wandlung thut zur
Genüge dar, dass es erlaubt ist, gemeinsame Wortstammentwickelung vor-
auszusetzen.
Chatten und Hessen. 149
und der Hauptort in der Bretagne, der erste Kriegshafen Frankreichs
Brest mit dem Fort Brethume.
Kommen wir hiermit nun auf weitere Wortanklänge im Preus-
senlande an der Weichselmündung. So haben wir nahe Elbing das
frische Haff und die frische Nehrung, das aus dem Frietzener Forste
kommende Gewässer Frisching ; an der Spitze der Halbinsel, welche
das frische Haff von dem Kurischen Haff scheidet, das Cap B r ü s t e r
0 r t. Da Ort nach der Analogie des Schuhmacher- Werkzeuges so viel
als Spitze bedeutet, was also gleichbedeutend wäre mit Vorgebirge,
Nase (Skudesnäs) und andern bildlichen Ausdrücken für Küstenvor-
sprünge, so wird der Ausdruck Brüster nicht unthunlich zurückzufüh-
ren sein auf den Wortstamm Brust (prusten) und der Name frisch in
Frisching, Frisches Haff etc. auf das englische brisk, vom Winde =
brausig, preussisch, d. h. ursprünglich windisch, stürmisch.
Dass Ortsbezeichnuugen dieser Entstehung eine INIenge vorhanden
sind, braucht keines schwierigen Beweises. Um sofort an dem hier
vorliegenden Namenanklang anzuknüpfen, wird jetzt im vormaligen
Herzogthum Nassau, in der alten Grafschaft Katzenelnbogen , ein Hof
Priester bach aufgeführt, der sich zwischen den Jahren 1142 und
1197 im Besitze des nahe gelegenen Klosters Arnstein befand. Wäh-
rend sich in einer Lebensbeschreibung des Grafen v. Arnstein , der das
Kloster gestiftet, Wenck, hess. Landesgesch. H., S. 112, Anm. aufge-
führt findet: silva, quae Brustingesbach dicitur, steht dafür 1197 in
einer Bestätigungsurkunde des Trier. Erzbischofes ipsam etiam villam
Brustenbach, wozu Wenck bemerkt: der jetzige Hof Priesterbach oder
Sprieferbach , von dem vorher nur der Wald angegeben wurde. In
einer Urkunde von lo2G, Wenck a. a. 0. Urkunde S. 109 heisst der
Hof dann Brustelspach. Wahrscheinlich ist doch hier aus einem Brause-
bach ein Priesterbach geworden. Ferner haben wir zwischen Escb-
wegö und Treffurt an der Werra einen Ort Burschla, Borschel, zu
welchem die alten Schreibungen Brustlohun aus dem 9. Jahrhun-
dert und dem Jahre 874, und Bruslaha z. Jahre 1061 (vgl. Förste-
mann, altd. Ortsnamen, S. 309) vorhanden sind. Die Oertlichkeit be-
findet sich im Einklang mit dem Namen ; es handelt sich um ein durch
vorspringende Felsen (Heldrastein) eingeengtes Flussbett, in welchem
das Wasser namentlich in alter Zeit bei noch viel grösserem Schwalle
sich rauschend durchzwängte.
Der Wortstamm briez findet sich nun noch in zahlreichen Orts-
150 ehalten und Hessen.
namen und Wassernaraen in allen, entfernt voneinander liegenden Ge-
genden wieder. So folgt auf das Gebiet der alten Rauraker vom
Bodensee bis Basel (Rohrschach bisAugusta Rauracorum = Angst bei
Basel) , der Bris- oder modern Breisgau mit dem Ort Alt- und Neu-
Breisach. Erinnert schon der Name Rorach an das englische to roar,
brüllen und das mecklenburger Platt rören für das Brüllen der Kin-
der (latein. rudere, davon auch wahrscheinlich der Name Rotten, Rlio-
danus, Rhone, rugire), wie denn das Land der Rauraker auch um den
donnernden und brausenden Rheinfall bei Schaffhauseh zu suchen ist,
so wird auch der Name Brisach am besten zurückgeführt auf das Brie-
zen, Brausen des Stromes. So fliesst ferner etwas weiter rheinabwarts
im Elsass die Brausche, alt ßrusca , in den Rhein ; so entspringt ein
im Mittelalter Briznach geschriebener Bach in Baden auf dem Berge
Britzenberg; ein Brusch, alt Brisiche , liegt südwärts von Luxemburg
bei Frisange und Nieder- und Ober-Brisich, zwischen Sinzig und An-
dernach am Rhein. Die Lautveränderung zwischen briezen, mittel-
hochdeutsch, und brausen, neuhochdeutsch, ist aber nicht grösser als
zwischen diezen und tosen, Getöse (latein. dicere, sanskr, tus, tosati).
Die Entstehung aber der mit bris etc. gebildeten Oertlichkeitsnamen fin-
det ihre Analogie in den Brausebachs, Braubachs, Rauschenberg,
Windeberg, Windeck, Bulderbach (zwischen Borcholt und Bcverungen,
unser Polterbach), Billerbeck, Soresberg jetzt Soisberg, Sorge von Su-
racha (von surren für rauschen), Rohrbach (Rarbecke), Liederbach von
hleodor = helltönend, Diezbach,Dissna, Deissebach, Kernbach und Keh-
renbach vom Althochdeutsch, kerran, cherran rauschen, wie griechisch
yrjQog Stimme, Ruf, ycigyao Lärm, sanskr. gar, jar rauschen, Pfieffe, alt.
phiopfe, die Pfeiffende u. s. w.
Für das Windland Preussen, alt Pruzien, Pruthenien, kommt nun
noch in Betracht, dass die Ortsnamen mit dem Wortstamm bris etc.
sich vorzüglich entlang und auf der ganzen Höhenplatte finden, die
sich von Litthauen übei; die ostpreussische Seenplatte , das westpreus-
sische Oberland, die pommersche Seenplatte, die mecklenburgische
Seenplatte bis in den holsteinischen Landrücken hineinzieht. Von
Priessenau im Kr. Neustadt im Cassubenlande am Nordostende der
pommerschen Seenplatte an citiren wir beispielsweise zwei Pritzigs
im Kr. Rummelsburg, Pritten Kr. Dramburg, daselbst auch Pritzen-
gut, Brüssow an einem See Kr. Prenzlau, Prützen Kr. Demmin, Brie-
seberg bei Königsberg in Neumark, Güter Briesz in Brüz und Neu-
Chatten uml Hessen. 151
Briez, Priizen, Breesen in Mecklenb. -Schwerin; Protzen Kr. Ruppin,
Preseke auf Rügen zweimal , Prictzen Westhavelland, Kloster Preetz
in Holstein au der Schwentine; 13 Briesen giebt es allein in unserm
heutigen Königreich Preussen,
Damit erübrigt uns nun noch in das ostpreussische Gebiet einen
Blick zu Averfen. Von den hier heute noch genannten Landschaften,
die im Mittelalter später als Theile des alten Prussiens auftreten,
nennt Ptolemäus die Galinder und Südauer, wo also noch von keinem
Preussen die Rede war. Damals herrschten von der Weichsel bis zu
den Finnen hier die Gutten, wie Ptolemäus ebenfalls anmerkt, und vor
ihm schon Plinius Guttones genannt hatte. Bei Tacitus, der zwi-
schen beiden schreibt, wohnen die Aestier in dieser Richtung, und
ist dieser Name — ich folge hier den Auseinandersetzungen von
Dr. W. Pierson, Elektron oder über die Vorfahren, Verwandtschaft
und den Namen der alten Preussen. Berlin 18G9. W. Peiser — wie-
der zu finden in Osti Alfred des Grossen , den Eistir, Eistland der
Snorre Edda nach Zeuss, S. 267; den Osterlings, wie die Engländer,
nach Hartknoch Alt- und Neu-Preussen, 1864, S. 43, noch 1G84 die
Preussen nannten ; ein Name, der dann mit Adam von Bremen, Pertz
IX, 374 in der Form Aestland vornehmlich auf dem heutigen Esth-
land haften bleibt.
Aestier wäre hiernach ein allgemeiner, wiederum der Himmels-
gegend entnommener Name für alle Volksstämme, welche von einer
gewissen Grenze ab nach Osten zu wohnten , darunter begriffen sich
darm Avieder einzelne Stämme mit andei-n Namen, u. A. auch die Go-
Ihen, welche bekannter Weise zu Tacitus Zeit bis an die Weichsel
reichen und ebenfalls von einer Anzahl Stimmen in's Preussenland
gesetzt werden. So also, wie schon erwähnt, nicht bloss Plinius und
Ptolemäus, sondern auch c. 1200 noch heisst es in Vincent. Kadlub-
koiiis Chron. Polon ed. Przezd. dzieck. Cracov. 1862, p. 201, Gete
dicuntur omnes Littuani, Pruteni et alie ibidem genfes.
Die Skandinavier des Mittelalters nannten das Festland östlich,
von Polen, von der Mündung der Weichsel an Gotaland, cf. Fornmanna
Sögnr XI , 414 en austr fra Polena es Reidhgothaland (festes Goth-
land im Gegensatz zu Ey-Gothland = Insel-Gothland). Die russische
Literatur enthält folgende Citate: Igorlied c. 1150 ed. Hanka p. 20:
Gotskyja krasnyja etc. = die schönen gothischen Mädchen am Ufer
152 Chatlen und Hessen.
des blauen Meeres.* Die Preussen selbst hatten bis in's 17, Jahrhun-
dert für diejenigen ihrer Landsleute, die am kurischen Haff wohnten,
wo das altpreusssische Volksthum sich noch erhalten hatte, so wie
für die Litthauer das Wort Gudden, der Begriff ist aber, was man
bei uns „altfränkisch" nennt, geworden , und hat eine geringschätzige
Nebenbedeutung erhalten ; zuletzt heissen den nordwestlichen Preussen
alle südwestlichen, auch die Polen und Eussen, Gudden. Sodann giebt
es eine ganze Anzahl Ortsnamen , welche an den Namen der Gothen
erinnern, wie Dorf Gutland im Danziger Werder, Gudendorf östlich
von Elbing; Gudnik bei Liebstadt (wahrscheinlich ursprünglich Gu-
denwik), die Stadt Guttstadt, im Gründungsprivileg vom Jahre 1329
f. Cod. Diplom. Warmiens. ed. Wölke, Saage I, S. 37, Guthinstat
genannt; bei Dusburch III, 353 Guthstat; die Dörfer Guttenfeld bei
Melsack, Königsberg und Balga; Juditten bei Königsberg u. A.
Noch zahlreicher sind solche Ortsnamen in Samogitien (Semb-Gothien?):
Gudi, Gudiski, Gudajce u. A. , Schafarik slav. Alterthümer , übers.
V. Wuttke, Leipz. 1843, L 456.
Und wie sahen diese offenbar ehemals gothischen Preussen aus ?
Darüber sagt Adam von Bremen in der Hamburg. Kirchengesch.,
Pertz IX, 374: „Es sind (die Preussen) blauäugige Menschen, mit
rothem Gesicht, stark behaart. Hinter ihren unzugänglichen
Sümpfen halten sie sich frei von fremdem Joche." Sie sahen also aus
wie Germanen und sprachen endlich eine Sprache, deren Reste oft noch
ursprünglichere Formen enthalten , als das verwandte Sanskrit, oder
wenigstens oft einen dieser alten Sprachform nähern Stand aufweisen,
als die germanischen Mundarten. Fremde Gelehrte (vgl. Dlugosz
bist. Polon. I, 2, ad a. 997 1. c. p. 114, ff., Miecho Chron. Polon.
ed. Cririus Cracow. 1521, II, 8) fanden an der preussischen
Sprache eine auffallende Aehnlichkeit mit dem Griechischen , und
schon Ovid. Trist V, 151 spricht von Spuren des Griechischen bei
den Geten. v. Bohlen behauptet, er sei im Stande, sich den littaui-
schen Bauern mit Hülfe des Sanskrit verständlich zu machen, während
Adalbert v. Gnesen sich als Slave aus Böhmen wohl den slavischen
* Boleslaus I. wird auf seiner Grnbsclirift Herrscher über Gothen ge-
nannt, weil er littauische und preussische Stämme besiegt hatte. Im Chron.
Polon. ap. Stenzel Scriptor. rer. Siles. I, 11 werden die Pruteui Getae,
8. 9 Getas i. e. Lithwanos genannt, und diese Chron. stammt aus dem
14. Jahrhundert.
Chatten und Hessen. 153
Liutizi an der Peene, aber nicht den Preussen verständlich zu machen
vermochte. Vita Bruni. Pertz VI, 607. Ebenso stimmt die Glau-
bensform der Preussen und Geten.
Dies mag genügen, um uns anschaulich zu machen, wie dieselben
Gegenden , welche zu einer Zeit die Preussen bewohnen , zu anderer
die Gothen inne haben, d. h. wie die Wanderung der Hauptmasse der
Gothen nach dem Süden, nach dem Don und Dnieper, die zurückge-
bliebene gothische Bevölkerung ihren Hauptnamen vergessen und ein-
zelne Landschaftsnamen für einzelne Stämme in denselben aufkommen
lässt, wie denn die im Lande Preussen von Neuem zu Macht und
Bedeutung heranwachsende, ursprünglich gothische, aber jetzt auch in
Sprache mehr mit der finnischen Urbevölkerung gemischte Bevölkerung
Herr der andern Stämme wird und Herrschaft und Namen von
Preussen, Westpreussen , von Danzigs Lande und dem frischen Haff
aus auch über Galindier und Südauer, die schon Ptoleraäus als ein-
zelne Stämme nennt , und die andern Landschaften ausdehnen , wie
denn das dänische Lagerbuch von 1231 Tiber, cens. Dan. apud Lan-
zebeck Scr. rer. Dan. VH, 543, sagt: Hec sant nomina terrarum
Pruzie: Pomizania, Lanlenia, Ermelandia, Notangia, Barcia, Pera-
godia, Nadrauia, Galindo, Syllonis in Zudua, Littonia. Hec sunt
terre ex una parte ejusdem : Zambia, Scalewo, Lammato, Curlandia,
Semigallia. So weit scheint das Herrschergebiet der Preussenländer
indess zur Zeit Adalberts v. Gnesen und selbst des Adam von Bremen
(t 1075) noch nicht gegangen zu sein, * denn der letztere nennt Sembi
und Pruzzi als gleichbedeutend, z. B. Pertz IX, 374: Sembi vel
Pruzzi homines humanissimi, qui obviam tendunt ad auxiliandum bis,
qui in mari periclitantur , vel qui a piratis infestantur , als Avenn das
Gebiet der Preussen nicht über Samland hinausgegangen wäre. So
* Je mehr nach Osten zu, desto mehr nehmen die Namen der Orte,
welche den Wortstamm prus etc. in sich enthalten, littauische Form oder
die Bildung von Colonienamen an: Prensswäldcheu, Pieuscbhof Kr. Heili-
genbeil, Preusslauken Kr. Weblau: rrusihkehmen oder ^^u^kehmen (gleich
Preusseubeim auf Deutsch) Gr. u. Klein- im Kr. Insterburg; Pruschillen und
Pruszisken Kr. Gumbinnen; Pristanipn Kr. Angerburg; Prositt Fabr.,
Vorwerk Kr. Gerdauen: Prositten Kr. Rössel; Pressberg Kr. Goldap; Pru-
schinowen und Pruscliinowen-Wolka Kr. Sensburg; am weitesten im Osten:
2 Dominien Preussen im Kr. Tilsit und Ragnit : Pmspirra (= Prussberg)
Kr. Ragnit; Prusellen (:= Neu-Preussen) Kr. Tilsit bei Pitupönen, Hrot-
niszken, Prussen- Martin u. Michel: Prus:^isken im Kr. Memel; — längs
der polnischen Grenze Dominium Preussen Kr. Neidenburg; Prussowborrek
Kr. Ortelsburg; Prostken Kr. Lyk u. s. w.
154 Chatten uml Hessen.
viel o-eht aber mit aller Sicherheit aus dieser und anderen Notizen her-
vor, dass, so gut wie die Preussen von Samland her Senibi genannt
werden konnten, sie auch den Namen Pruzzi von einer vorzugsweise
Pruzzia o-enannten Landschaft erhalten haben können; und dass Sem-
gallen nicht zu aller Zeit preussisch gewesen, ergiebt sich wohl aus
foliiender Notiz Annal. ßyens., gegen Ende des 13 Jahrh. in Schles-
wig aufgezeichnet, Pertz M. G. XVI, 398: hujus Lothonoknuti regis
Danorum anno 911 — 923 tempore quilibet tertius de servis et plurali-
bus exivit de regno et venientes lolani Pruciam, Semigalliam
et terram Carelorum (Karalien) subjugaverunt sibi et ibi remanent
usque in praesentem dieni. Im 9. und 10. Jahrhundert nämlich litten
Dänemark und Norwegen an Uebervölkerung und innerer Zwietracht
und entsandten so (man füge dieses Beispiel den oben S. 113 entwickel-
en hinzu) ihre Unzufriedenen oder Bedürftigen in die Fremde. Ja
um das Jahr 1200 werden die Sembi nicht einmal Pruzzi genannt.*
Saxo Grammaticus (c. 1200) schrieb Hist. Dan. ed. Paris 1314 Lib.
X. fol. 98 : Haquino Haraldi regis filius Sembos aggressus. Potiti
Sembia Dani necatis maribus feminas sibi nubere coegerunt etc. Auch
die Kuren oder Kurländer, welche 1231 als Theil Pruziens im deut-
lichen Lagerbuch genannt werden, sind c. 870 noch keine Preussen.
In Rimberts Lebensbeschreibung des Ansgarius, Pertz M. G. II, 714
lieisst es: gens quaedam longe ab iis Sueonibus posita Chori (al. Cori
Chor) Sueonum principatui olim subjecta fuerat, sed jam tum (anno 850)
diu erat quod rebellando iis subjici dedignabatur. So sehen wir also
um diese Zeit der Herrschaft der Suiones desTacitus die Sueonier des
Adam von Bremen in Schweden als Herrn des später preussischen
Landes. Seeburg und selbst Welau, Apulia alt, scheinen damals noch
in Kurland gelegen zu haben , wozu man übrigens die vielen Ortsna-
men , welche den Theil kuren enthalten , vergleiche , wie : kui-isches
Haff, kurische Nehrung, Dörfer Kranzkuren, Neukuren, Grosskuren,
Kleinkuren; auf der Nordküste Samlands der P'luss Corene jetzt Cor-
reinen im nordöstlichen Samland. Waren doch auch die Russen Skan-
dinavier,** welche seit I\Iitte des 8. Jahrhunderts die Ostküsten des
baltischen Meeres besiedelten und von denen ein Schwärm auch sich
* Adam von Bremen sagt Pertz IX, 373: in provinciam Semland,
quam Pruzzi possident.
** Kach russischen Annalen ed. Schlözer III, 280, II, 193, ff.
Chatten und Hessen. 155
auf der preussischen und kuriscben Küste niederliess, Saxo Gramnmt.
Pertz XVI, 398, Avoher ebenfalls der Name desMemelarmesRus undder
Name Rusna für das kurische Haff bei den Polen. Von dieser Anwob-
nerschaft am Rus baben denn auch wobl alle dahinter wohnenden
Stämme den gemeinsamen Namen Russen bekommen, wie hinwiederum
der Name sich auch in Norwegen als ursprünglicher Ausgangspunkt
wiederfindet im Russee und der Name der Ruriks sich vielleicht zurück-
führen lässt auf Rik's, Reiks = reges des Stammes Russ.
Es ist ohne Zweifel mit den Pruzzi wie Pierson a. a. 0. S. 84
sagt: „Seit den erwähnten Missionsversuchen stand der Name Pruz-
zen für die Bewohner des Landes, wo Adalbert und Brun umgekommen
waren, in der römischen Kirche fest; andere Bezeichnungen mussten
ihm daher weichen." So führt auch R. Boeckh in dorn eben erschie-
nenen Buche: Deutsche Volkszahl und Sprachgebiete in den europäi-
schen Staaten, Berlin 1870, S. 58 aus, dass es nach Bergbaus Stati-
stik 1845, kein preussisches Volk gebe und wenn auch mit vollem
Rechte den littauisclien Einwohnern der betreffenden Landschaften der
Name der Preussen beigelegt werde, da sie im Preussenlande und so-
gar buchstäblich „am Russ*' wohnhaft , offenbar gleicher Nationalität
wie der Stamm der Preussen angehören, man doch die richtige Be-
zeichnung Preussenländer, * wie man auch Kurländer, Lievländer, Esth-
länder richtig sage, einführen solle; wie es denn (S. 65) jetzt gleich-
gültig sei, ob die Bezeichnung Preusse nach der altern Ansicht einen
Russanwohner oder ob sie nach H. Berghaus Darlegung einen Wald-
menschen bedeute.
In alter wie neuer Zeit dürfte der Name Preusse nichts anderes
zu bedeuten haben, als die Bewohner einer bestimmten Landschaft, die
ihr Gebiet über benachbarte, anders benannte Landschaften ausdehn-
ten. Es waren in alter Zeit den Gothen entstammende Littaucr (die
Sprache der Altpreussen ist nach allen Zeugnissen eine Mundart der
littauischen Sprache) , also mit Slaven gemischte Germanen , welche
jene Gegenden besiedelten wie heut zu Tage nach der blutigen Aus-
rottung der heidnischen Preussen mit Polen gemischte deutsche Be-
völkerung, welche das Land von Neuem colonisirt bat.
* Nikol V. Zeroscliin 8cr. rcr. Pruss. I, 303, ff. sagt auch Pruziulant.
AusserJem findet sich der Name des Landes fast regelniiissig neben dem
Stanunesnanien aufgeführt : Pruzzia, Pruzia, Prucia, Pruscie, Prutie u. s. w.
156 Chatten uml Hessen.
Alle Erklärungen des Namens Prussien von Po und Russ =
am Russ wohnende, von prut Teich, Land der Teiche und Seen (man
zählte 1684 nach Hartknoch, Alt- und Neu-Preuss., 2037 Seeen
im alten Preussenland), von prustwa Sanskrit Regen , prush sprühen,
vom altpreussischen pruta klug sein, also Pruteni die Klugen, Ver-
ständigen, kommen nicht auf gegen die Anheimelung einer Erklärung
des Namens von einer Landschaft an stürmischer Meeresküste und
auf der Höhe, welche daher den Namen Brauseland, Windpreussen be-
kommen.
Und so kommen wir denn zum Schluss auch für die Chatten.
7. Schluss.
Die Entstehung des Namens der Chatten und Hessen.
Recapituliren wir noch einmal die gesuchten Ergebnisse. Bis auf
Jakob Grimm haben die Forscher auf diesem Gebiete nicht anders an-
genommen, als dass der Name Hessen, in älterer Form Hassen, auf
den Namen der Chatti, die nach Tacitus Bericht ihren Mittelpunkt im
heutigen Hauptland zu Niederhessen um Maden und Gudensberg hatten,
zurückzuführen sei; wir sahen an der natürlichen Beschaffenheit der
hier in Betracht kommenden Landschaft auch, dass sie ^.Ue zu einem
Volksmittelpunkt nöthigen Eigenschaften ursprünglich in sich vereinigte;
die dann an der Identität der Namen Chatten und Hessen zweifelnden
Forscher fanden wir weiter aber zum Theil auf einer zu knechtischen
Ausdeutung des von ihrem Meister J. Grimm, der selbst die Zweifel
an jener Identität zurücknahm, entdeckten Lautverschiebungsgesetzes,
zum Theil auf nicht genügend erforschter Thatsache fussen , auch der
Mangelhaftigkeit der alten Orthographie nicht gehörig Rechnimg tragen.
Die Form Hassen ist nach Wiederentdeckung des alten Chattenmittel-
punktes durch Winfried Bonifacius die vorwaltende, die Form Hessen
die seltenere, umgekehrt wie Vilmar es behauptet.
Die Nothwendigkeit der Schreibung Hazzi für Hessen zur Her-
leitung des Namens aus Chatten lehnen wir ferner ab, weil die durch
päpstliche Urkunden einmal beliebte lateinische Form mit dem doppel-
ten s, also Hassi, Hessi etc. für die Urkundenschreiber niaassgebend
gewesen sein muss, wie denn auch der Name Nassau, dessen Etymo-
logie die Schreibung mit zz eigentlich ganz nothwendig macht, erst
Chatten und Hessen. 157
Ende des 13. Jahrhunderts einmal mit sz geschrieben auftritt, vorher
aber wie der Name Hessen immer mit ss. Ausserdem findet sich von
da an, wo in der Schreibung mit zz geübte deutsche Rechtschreiber
deutsche Urkunden abfassen (vorher sind alle Urkunden lateinisch ge-
fasst), die Form Heszen mit dem der Ableitung aus dem zz entspre-
chenden sz genug, wie mit diesem Zeitpunkt ebenso die deutsch ge-
schriebene Form Nazzau vorkommt. Endlich tritt, was diesen Punkt
betrifft, die Rechtschreibung der alten Urkundenschreiber namentlich in
Eigennamen zu verwirrt auf, als dass wir auf die von Vilmar und
Zeuss erhobenen Einwände uns zl^ weit einlassen dürften. Wurden
doch selbst J. Grimm von neuesten, mehr in das Einzelne eingedrun-
genen Forschern auf unserem Gebiete abwehrende Bemerkungen ent-
gegengestellt, wie z. B. in Lübke's Pädagog. Jahrbüchern, 1868. V.
S. 421: „Es lässt sich nicht läugnen, dass Grimm zuweilen Laut
und Buchstaben arg verwechselte und für eine der Hauptseiten
der Lautlehre, die physiologisch-phonetische, ein sehr schwaches Auge
hatte." Diese Bemerkung kommt bei dieser Untersuchung sehr in
Betracht, mit wie verschiedenen Buchstaben sind noch jetzt die Namen
nach den Mundarten verschiedener Landschaften zu schreiben! und wie
verschieden hat sie gar das Alterthum geschrieben ! So bemerkt denn
auch bereits Wenck, Hess. Landesgesch. IL p. 670, Anmerk. a, sehr
richtig: „Es ist bekannt, wie wenig sich die alten Geschichtschreiber
sowohl als die Urkundensteller in die Rechtschreibung der Namen zu
finden wussten, die sie bald nach der Aussprache des gemeinen Lebens
auszudrücken, bald in mancherlei, ihrer Meinung nach lateinischen
Formen einzuschmelzen suchten." Dabei wollen wir ein anderes Ur-
theil über J. Grimm, K. G. Andresen, J. Grimm's Orthographie, Göt-
tingen, Diedrich. 1867, S. 8, Avonach des Meisters Orthographie ein
Muster von Schwankung und Inconsequenz genannt wird, als, nach-
dem Columbus das Ei aufgestutzt hat, wohlfeil zu geben zur Seite lie-
gen lassen; aber hier noch sofort hervorheben, wer wohl, da der Name
Preussen von demselben Schriftsteller einmal Prussi, das andermal
Pruteni, dann von andern verschiedenen wieder Pruzzi, Prusi, Pruzi,
Pruci, Prutzi, Pruszenses, Prutones, Prutenses, Prutheni, Prusci —
nach 1250 deutsch Pruzen, Ende des 13. Jahrhunderts Preussen, 1339
Prussen, 1350 Pruzin, Ende des 14. Jahrhunderts Prusen und Prus-
sen ; 1410 Prüssen, 1413 Prusen — aber auch verschiedentlich mit
dem B, Bruitii, Bruci, Bruteni, geschrieben wird, wer wohl, wenn ihm
158 Chatten und Hessen.
zufällig nur die Form Bruci vorgelegen hätte, den Schluss hätte machen
wollen, dass diese Bruci nicht die später Preuszen genannten sein
könnten, wegen des Lautverschiebungsgesetzes !
Von der Orthographie der althochdeutschen Schriftsteller führen
wir ausserdem noch an , dass Otfried selbst über die ünbiegsamkeit
und Armuth seiner Sprache klagte und sie bäurisch nennt, wozu kommt,
dass in der althochdeutschen Periode die Schreibungen auch schon
schwanken : wie mäht und mahd = Macht, got und cot für Gott —
und wie sollte, wenn alle anderen Anzeichen für eine Herleitung
sprechen, sie darum falsch sein, weil eine bäurische Mundart das aus
dem Niederländischen hergekommene Wort bäurisch aussprach und
nach der Aussprache mit einem Buchstaben schrieb, der nach dem
Lautverschiebungsgesetz nicht passt?
Es bleibt wirklich in Betreff dieses Gesetzes für unsere Un-
tersuchung auch nichts Anderes maassgebend, als was wir oben S. 120,
in diesem Punkte festgestellt haben, dass nämlich jede Sprache in
sich die Lautverschiebung durchmacht, dass die niederländische Mund-
art im Munde der Bergländer verhärtet, verkehrt wird und dann bei
dem häufigen Heranwachsen der bergländischen Landschaften eines
Volkes zur Herrschaft über das Niederland die Sprache des letzteren
doch wieder mildernd für die schliesslich classische Form einer Sprache
auf den bergischen Dialect wirkt. Für das Deutsche ist ja doch auch
das Colonialdeutsch des meissnischen Landes Ausgangspunkt des
Hochdeutschen, gemildert durch die spätere Einwirkung von Nieder-
ländern, geworden! Bringen wir nun zu den oben schon entwickelten
Beispielen der Verhärtung des Gothischen im Althochdeutschen noch
einige andere bei: wie Chorunka für Gerunge = Versuchung (und
führe uns nicht in Versuchung) , princ = bring , kanoss =: Genoss,
forkip = vergib, pifanken = befangen, kavihit = geheiligt, ge-
weihet. Du pist für Du bist, käst für goth. gast. Umgekehrt wie wir
hier die verhärtende Eigenheit des Hochländers wahrnehmen , finden
wir nun wieder die Quetschung von Lauten, die der Niederländer wegen
seines Sprechens mit geschlossenen Zähnen und Mundkiefern nicht
quetscht , wie z. B. des t zu s, das der Bremer wie der Engländer,
aber noch mehr als dieser fast nach Einer Weise wie th spricht. Da-
her Wasser für Water, dass für thaf, Nuss für nut u. s. w. ; daher
auch Pruzzi für niederländisch Pruteni, Chassen , Hassen für alt- und
niederländiscii Chatti.
Chatten iiml Hessen. 159
Recapituliren wir nun weiter. Wir fanden die Chatten nicht als
Sueben und betonten diesen Umstand, weil wir die alten Chatten als
nicht von dem Süden her, sondern von den Cheruskern her eingewan-
dert festhalten, als eine niedersächsische Colonie, welche die Fluss-
thäler der Weser, Dierael mit Nebenbächen, Fulda, Eder hinaufging,
nach der Analogie aller Wanderung ackerbautreibender Völker der bes-
sern Ackerkrume nach, vom bequemen Niederland die Thäler der Berge
hinauf. Endlich führten wir eine Anzahl Beispiele auf, wonach Namen
von Volksstämmen am natürlichsten von den Landschaften hergeleitet
werden, welche sie bewohnen. Damit wird für uns die Untersuchung
über den Namen Chatti wesentlich erleichtert, wie wir nunmehr
sehen wollen.
Dabei können wir noch vorausschicken, dass nach Schacht a. a. 0.
Programm der Realschule zu Elberfeld, 1868, und Andern auch der
Name der Inder von Sindhia, India, was so viel als Flussland vonSindhu
Fluss bedeutet, stammt, woraus denn wie aus Sindhu Sind Griechisch
Vvöo?, so persisch Hindus, griechisch 'IvSoi unser Inder geworden ist.
Es ist das im Grossen eine Entwickelung, wie der bei Tacitus vor-
kommende Name der Foser, Nachbarn der Cherusker, von dem Ge-
wässer Fose oder Fuse stammt, an welchem dieser Stamm, zeitweilig
den Chatten uuterthan, cf. Tacit. Genn. 36, wohnte.
Bisher hat man nun für den Namen Chatten am meisten gegriffen
nach der Etymologie vom Wortstamme cat oder kat. Bei Ersch und
Huber, Realencyclopädie, findet sich zu Artikel Chatti die Hinweisung
auf den Begriff Jäger imd Häscher, welcher sowohl in dem Thiernamen
niederdeutsch Katte hochdeutsch Katze und Kater, wie in dem franzö-
sischen Ausdrucke Chasseur, dem englischen to catch, dem deutschen
hetzen haschen stecke. Der Bewohner des Waldes sei vorzugsweise
als Jäger bezeichnet worden. Wir zeigten in der ursprünglichen ^Ein-
leitung, dass schon früher auf diese Ableitung zurückgegriffen ward,
Marquard Freher macht sich darüber lustig; auch J. Grimm in seiner
Geschichte der deutschon Sprache erwägt sie, entscheidet sich aber zu-
letzt S. 577 für die Ableitung aus angelsächs. hat, englisch hat, altn.
hattr, Hut, wovon der Beinamen des Odin hättr pileatus, der violleicht
zugleich den Stammheros der Chatten bezeichne. Ebenso entschied
sich Zeuss, S. 96, und Förstemann, Altdeutsche Ortsnamen, S. 695.
Die zuletzt genannte Ableitung erscheint indessen unter allen Um-
ständen künstlich und durch kein äusseres Moment gestützt; eher würde
160 Chatten und Hessen.
man noch Vilmar's IMcinung gelten lassen können, der für den Namen
Hessen auf einen Mannsnamen Hesso, also auf einen patrony mischen
Namen zurückkommt , wie Weifen von Weif herstammt. Indessen
diese Vermuthung bekämpfen wir schon deshalb, weil wir die Identität
von Chatten und Hassen festhalten nach Tacitus Annal. I, 57; auch
ist der Partei- und spätere Familiennamen Weifen nicht mit dem Namen
eines Volksstammes in Parallele zu bringen. Die Fortsetzer von
Grimm's Wörterbuch der deutschen Sprache haben ferner die Etymo-
logie von Katze für Catte wieder in Betracht gezogen. V, S. 281:
„Als niederländisch giebt Kil. hesse, catus, felis; vgl. kaschen, das im
östlichen Thüringen noch herrscht, nachträglich bemerkt gleich haschen
wie heuern = kauern u. a. Hätte denn wirklich der Volksnamen der
Hessen (s. Grimm, Geschichte der deutschen Sprache, 567 alt Chatti,
Chattae) eine Beziehung zu dem Katzennamen? Der hessische Wap-
penlöwe wird noch im 16. Jahrhundert, freilich spottweise, Katze ge-
nannt (Zeitschrift des Vereins f. Hess. Geschichte. 4, 13 B. Waldis'
Klagelied Herzogs Heinrichs von Braunschweig , herausgegeben von
Mittler. Str. 17,7). War er doch etwa ursprünglich eine Katze? Das
Thier war ja der Frouwa heilig (II, 4 c. p. 287)." Nach der Schrei-
bung der Niederländer für hesse = Katze wäre hier auch die Laut-
verschiebung* kein Hinderniss, wie denn auch schwedisch Kiss für Kater
und Kissa für Katze, isländisch Kisa und finnisch Kissa für Katze
vorkommt.
Auch diese Ableitung hat indess nur Sinn, wenn man auf den
gemeinschaftlichen Begriff des Wortstammes in Katze und Chatte zu-
rückgeht, nämlich hetzen, jagen, haschen. Geht man einmal so weit,
so ist kein Grund vorhanden, nicht noch einen Schritt weiter zu
gehen. Die neuere vergleichende Sprachforschung muss dazu die Mit-
tel bieten.
Auffallend ist allen Beobachtern ein besonderer Stamm von Be-
wohnern im Schwarzwalde, welcher die „Hotzen" genannt wird. Er
wohnt im Hauensteiner Grunde und wird auch mit dem Namen der
Wäldler bezeichnet. So brachte die Badische Landeszeitung 1869 einen
Artikel unter Waldshut und Salpetrer, worin gesagt ist: Die genann-
* Die neuesten Grammatiker scheinen überhaupt nicht allzu ängstlich
in dieser Frage zu sein. So sagt ein Herr Casper Frisch (Die deutsche
Rechtschreibung. K. J. Häfele. Leipzig, 1868) zu Hessen: „yro kaum
lateinisch Chatti herzuziehen."
Chatten und Hessen. 161
ten Salpetrer „gehören zu denjenigen Bewohnern des Schwarzwildes^
welche als Wäldler oder Hotzen bekannt, den badischen Hauenstein,
die gegen den Rhein abfallende Hochebene zwischen Wehra und Alb
inne haben." Hier führte der Name Hetzen also auch auf den Be-
griff Wald, worauf indessen eine ganze indogermanische Wurzel- und
Stammfamilie hinweist, durch deren Bedeutung eine ganze Menge an
den entgegengesetzten Enden Europas auftretender fast gleichnamiger
Orfsnamen allein eine hinreichende Erklärung finden kann.
Nehmen wir z. B. das neuestens durch einen Raubmordanfall be-
kannt gewordene Antogast im Renchthale bei Rippoldsau im
Schwarzwald, Hohengöst auf den Vogesen, nördlich Wassselnheim,
das Dorf Trebgast bei Culmbach, Radegast in Mecklenburg und die
vielen anderen mit gast zusammengesetzten Ortsnamen auf slavischem
Sprachgebiet, so haben wir für Gast die Bedeutung „Wald." Wie
kommt das Slavische nach Baden? Es ist möglich, dass die Sueben,
welche aus dem slavischen Nordosten Europas nach dem Südwesten
kamen, auch diese slavische Bezeichnung mitbrachten; allein es kann
doch auch ein gemeinschaftlicher Grundstamm vorhanden sein. Wir
finden den Ausdruck Kate (Katte, davon Käthner, Köttner, Kötter für
Häusler, d. h. den kleinen Bauer oder Tagelöhner in der Hütte neben
dem Hofe, für den er arbeitet), Käthe, Kotte, Cotta italienisch, für
die doch wahrscheinlich aus Holz aufgeführte Hütte des Hüttner, wie
er auch genannt wird, weit verbreitet, im lateinischen Sprachgebiet in
der Form casa, im oberdeutschen Sprachgebiet in der Foi"m Haus.
Wir finden den Ausdruck Kastanie aaoTava für die Baumnuss, englisch
ciiestnut. Im Sanskrit heisst khadira Akazie (Fick, Wörterbuch der
indogermanischen Grundsprache. Göttingen, 1868, S. 20j, griechisch
•AtöQog die Ceder (heisst auch Wachholder), -AtÖQcoaTig Weinrebe. Wir
sagen Kasten, Kiste ausschliesslich von einem hölzernen Behälter. Wir
sagen Gaden, Kaden für einen Holzbau zum Wohnen. Wir sagen Ast
oder bäuerisch Host von einem dem ursprünglichen Baumstamm ent-
wachsenen Arm; der Lateiner sagte hasta vom Speer, der doch von
einem Baumaste, Hoste (hastae de vitibus Thyrsussläbe) gemacht war.
So heisst auch sanskrit asta das Geschoss, gothisch gaisa der Speer,
gazda der Stachel, kirchenslavisch goozdi der Haken (Fick a. a. O.
S. 67), sanskrit käshtha Holzstück; bei Hesychius näaro-v soviel als
^vlov. So heisst Gatt englisch die halbe Raa. Gatter, Gitter, gate
das Thor, ursprünglich immer von Holz — all das dürfte wohl auf
Archiv f. n. Sprachen. XLVIII. 1 1
162 Chatten und Hessen.
den Begriff Baum und Holz zurückführen. Die Beispiele Hessen sich
noch sehr vermehren, aber schreiten wir vorerst zu der nach Sprachen
geordneten Zusammenstellung der aus dem Wortstamm
kat, kas, kad (th)
cat, cas, cad (th),
Chat, chas, chad (th)
gat, gas, gad (th) etc.
anscheinend herzuleitenden Wörter:
Sanskrit ist: käshtha = Holzstück, casa der Holzheher.
Littauisch: szeksta -s = Baumstumpf.
Slavisch: gast = Wald.
Griechisch: y.aaro-v nach Hesych = ^vXov; •Aaciog ein Strauch;
xaaravta dieKastanie, j'^rcroj' Vorsprung an einem Gebäude, Gesims etc.,
itadog Eimer, Gefäss, aiGztj die Kiste, Kasten, aiarig das Kistchen, nonvog
der Oelbaum, ai'g der Holzwurm im Gegensatz zu Gtjg der Wurm in
der Wolle ::= Motte; yüoGa oder -/.nza der Holzheher; maadg oder
xiTTog der Epheu, xdataQ der Biber (als Holzbaumfäller ?), irta die
Weide, itsav Weidigt (cf. goth. witu Holz, latein. vitis das Reb-
holz).
Lateinisch : hasta ursprünglich die Holzstange (deutsch Ast, mund-
artlich Host) hastae de vitibus Thyrsusstäbe , hastile ein Schaft,
Stütze beim Weinstock, hastula ein kleiner Zweig, hostus ein Maass
des Baumöls, hostorium ein Streichholz, hedera Epheu, attagen das
Haselhuhn, catena die Kette, ursprünglich Holzklammer, catinalio Klam-
mer, Pflock, casa eine Holzhütte, Haus, Baracke, castrum, castellum
Blockhaus, ursprünglich ein mit hölzernen Pallisaden umzäunter Platz,
castrare Bäume beschneiden, schneuseln, castigare geisein, mit Ruthen
(Hölzer) hauen, catinum ein Napf, ursprünglich wohl aus Holz, wie
auch unser Teller aus til (cf. unser Diele = flaches Holzstück), catu-
lus eine Fessel, codex der Stamm eines Baumes von caudex der Block,
woran die Sklaven geschmiedet waren; auch das Buch, weil die Alten
auf hölzerne Tafeln schrieben, die mit Wachs überzogen waren, wie
unser Buch von Buchenholztafeln (womit die Bücher früher meist ein-
gebunden wurden?) Seneca brev. vit. 13 spricht von der provincia
caudicalis dem Geschäft des Holzhackers bei den Komikern, caudiceus
aus Holzstämmen gemacht, caudeus hölzern, costa die Rippe, Seiten-
wand. Man nehme hierzu cadere fallen vom Baum ? und caedere
holzhauen, fällen (silvas caedere).
Chatten und Hessen. 163
Germanisch: Gothisch gaisa der Speer,* ursprünglich die hölzerne
Stange; noch jetzt spielen unsere Bauernjungen mit der Geis = gerte,
indem sie mit Ruthen nach einem Ziele hinwerfen (Geisspiel) ; die Wa-
gendeichsel heisst mundartlich auch Wagengischel, wie die Langstange
unter dem Wagen nach goth. vitu Holz, die Langwett (vgl. Weide =
gemeines Holz). Goth. hethjon ist unser Gaden, Kammer, Holzge-
mach, althochdeutsch chazo Speicher, Scheune, kotawich das heilige
Haus? Davon unser niederländisches Kotte, ** Käthe = Hütte, Koth-
sasse, Kossäte, Kötner, Käthner, Kötter, Kottmeier (J. Moser, Osnabr.
Gesch. 6=8 oder 16 Kotten auf einem Erbe.), Hüttner, Häusner,
Häusler. Vergleiche auch noch die Ortsnamen Berchthtoldsgaden, Me-
nosgada etc. ; die Erweichung in haithi Feld, Gebüsch, Gehölz ; angel-
sächsisch hese, hyse eine mit Gestrüpp, Buschwerk bewachsene Ge-
gend, P"'ornhese ein Wald, umweit der Eem im Süden vom Zuidersee
(mittellateinisch heisst das hese, hesia, heisa, aisia, daher caesia silva
bei Tacit. ann. I. 50, der Heserwald, S.W. von Coesfeld), Heissi a. d.
Ruhr bei Essen. Unser Hasel, Haselstrauch, Haselhuhn etc. ist wohl
ein Diminutiv zu einem aussegangenen hase für Holz. Gizzen =
Do D
Schösslinge abschneiden vgl. zu geis die Ruthe, zu Kasten (hölzernes
Gefäss) Cassa, Casse und auch selbst Katze, Geldkatze (vgl. Lenneper
Kreisblatt vom 6. Mai 1868 und Kladderatsch, Nr. 23 vom 17. Mai
1868), nach welchen Quellen in einer amtlichen Bekanntmachung die
Schulgelder zur Communalkatze erhoben werden, eine alterthümliche
aber durchaus berechtigte Wortform ; man vergleiche noch weiter Gat-
ter, Gitter, Kette, Kauz, Baumeule u. s. w. Woher das Keltische coti
Wald, wie es Mone, Gallische Sprache, aufstellt, entstanden sein
kann, ergibt sich vielleicht aus folgender Betrachtung. Die Holländer
schreiben und sprechen statt holt (niederdeutsch) hout, als Turnhout,
ten Hout, Oosterhout in Nord-Brabant, Ulvenhout südl. Breda u. s.w.
u. s. w., und dieses hout mit einem stärker aspirirten h als chout (Ge-
hölz, Holz) gesprochen, würde sofort jene Form coti nahe legen. So
finden wir südwärts von Holland bei Compiegne die Silva Cotia, wie
sie alt genannt wird, jetzt Foret de Cuise. Gest. Franc, Cap. 51.
* yuTaos ein Speer oder Spiess, den barbarische Völker als KriegswafFe
gebrauchten. Polyb. 6, 39, 3. 18, 1, 4. Diod. 13, 57. Ath. 6, p. 273. F.
u. LXX. raiodrca oder raiaäroi eine gallische Völkerschaft au der Rlione,
welche im Ki-iege Söldnerdienste that, wahrscheinlich benannt nach jener
Waffe. Polyb. 2, 22, 1.
** Mittelhochdeutsch kote, in anderen Dialecten käte, cot.
11*
164 Chatten und Hessen.
Lesart Coatia. Alf. Jacobi, Geographie de Fredegaire. Paris 1859.
cf. Chronic. Moissiac. Pertz, M. G. I. p. 280. Cotia silva. So fin-
det sich auch die Stadt Gouda im Niederlande. Wie leicht kann hier
silva Cotia ein Pleonasmus sein, wie er sich auch wohl in den Namen
Cottenforst, Cottenwald u. s. w. wiederfindet.
Wie sich durch Aneinanderschleifen der Laute koude für Wald
entwickelt, ergibt der Name Abkoude, Ort bei Utrecht, ursprünglich
Abekenwoude = Abicowalde. * Man kann hier fragen, was ist eigent-
lich Keltisch oder Gallisch?** dies aber in die Anmerkung verweisend,
verfolgen wir unsere Sprachen.
Englisch heisst cadelamb das Hauslamm , cadeworm der Holz-
wurm, case das Gehäuse, Gestell, cade Fässchen, chassy der Rahmen,
chat das Reis, Aestchen, Kätzchen am Baum, ehest die Kiste, casement
der hölzerne Fensterrahmen, cot, kat die Hütte, Kotte, Käthe, cote die
Schafliürde, coltage, cotton die Baum-, Holz- Wolle, gatt die halbe Rau
(stange), hedge die Hecke, house das freie Reparatur h o 1 z oder
Brennholz aus den Waldungen des Grundherrn, kit der Milcheimer,
Zuber u. s. w.
Französisch : chatrer Bäume beschneiden , chaussee wenn nicht
vom Kalksteinbelag, ursprünglich wohl hölzerner Dammweg, Knüppel-
weg, chatron Koffer, ciseler schnitzen, cotterets die Hausgenossen, Hof-
hörigen, chat-huant (catus ululans) Baumeule, Kauz, welches letztere
Wort im Französischen geradezu auf chat Katze zurückgeht, auf den
Namen des Raubthiers, welches auf die Bäume geht, wie der Luchs,
* Wie mit hont für Holz, so gei-ade ist es überhaupt mit woud für
Wald, wofür doch auch Holz gesetzt wird. Nicht seltner wie die hout's
sind im Niederlande die woude's, engl. wood. Aber diese Form findet sich
auch bereits im Cheruskerhinde. Wippermann, Buckigau S. 29 führt eine
Urkunde von ]151 an, wonach im Amt Wölpe (Wilippa) ein Grinder Wald
liegt, ausserdem 1215, 1270, 1301 genannt in uemore dicto Grinder?™?, 1399,
in unsem gryndelwolt. Diese niedersächsische Form wot kann ebensogut in
cot umgelautet sein, wie gater aus vastare, gaie keltisch = V\'ahre (Dich),
gaine aus vagina, gucrite Wartetlüirmchen, gue vadum, Guillaume \\'ilhelm,
garant = warant, gai wach, munter, Guernard Werner, Guido = Wido etc.
** Es ist überhaupt nothwendig, bei solchen Untersuchungen nicht mehr
Unterscliied zwischen Galliern, Galatern, Kelten einerseits und Germanen
andrerseits zu machen, als durchaus begründet ist. Es ist auch ein Beweis
dafür, dass die Germanen jenseit des Rheins, von den Römern aus gerecli-
net, ihren Namen dem Wohnplatze zu verdanken haben, dass Dio Cassius
sie nicht anders als Kelten nennt, Kelten, welche in Germanien wohnten.
Abgesehen davon, dass die Sprachvergleichung bereits festgestellt hat, dass
die Kelten, von demselben Spraohstamm wie die Germanen nur zu einer
früheren Zeit vom Ausgangspunkt sich ablösend , nach Europa ziehen, und
Chatten und Hessen. 165
auch die Hirschkatze genannt, vom Baum herunter seine Beute an-
fällt.
Hiermit kommen wir auf die Worten twickelungsreihe, welche uns zum
Ziele führen soll. Gehen wir von dem Stamme k, c, ch, g — (Vokal) —
t, tli, d, s, z, tz aus für unser oberdeutsches Holz, niederdeutsch holt,
holländisch hout, schwedisch hult oder wold, woud, wood, Avot; viel-
leicht in der angeblich keltischen Form cot, goat entstanden dadurch,
dass das niederländische hout oder wot im gälischen Munde zu cout,
cot sich verdichtete, während es doch im Sanskrit schon erkennbar ist
auch in anderer Consonantenentwickelung; so haben wir den Begriff
so eine im Munde der vorgefundenen Urbevölkerung mehr verstümmelte
indogermanische Sprache entwickeln lassen, schildern auch alle alten Schrift-
si eller die GaUier und Germanen in ihrem Aeussern und Auftreten
gleich. Nach Livius 38, 17 setzt Consul Gn. Manlius in Gallosfraecia (c. 189
ante Christ.) seinen Soldaten vor dem Kampfe mit den Galliern auseinan-
der: Procera Corpora, promissae et rutilatae coraae , vasta scuta, praelongi
gludii ; ad hoc cantus ineuntium proelium et ululatus et tripodia etc. Jam
usu hoc cognitum est, si primum impetum, quem fervido ingenio et caeca
ira effundimt, sustinueris, fluunt sudore et lassitudine membra, labant arma ;
mollia Corpora, molles ubi ira consedit, animos sol, pulvis, sitis, ut ferrum
non admoveas. prosternunt. Livius 10, 28 heisst es von den Galliern um
295 a. Chr. : Gallorum quidem etiam corpora intolerantissima laboris atque
aestus fluere; auch zu Hannibal's Zeit (212): maxime Gallos, si taedio labo-
ris , longaeque viae (ut est moUis ad talia gens) dilaberentur aut subsiste-
rent, cohibentem (Magonem). Ebenso s;igt Caesar B. G, II, 30: nam plerum-
que hominibus Gallis prae magnitudine corporum suorum brevitas nostra
contemptui est. Es ist das so, als wenn man ebenfalls im Jul. Caes. B. G. I.
39 liest: .... ingenti magnitudine corporum Germanos, incredibili virtute
atque exercitatione in armis esse praedicabant (mercatores) , saepenumero
sese cum his congressos ne vultum quidem atque aciem oculorum dicebant
ferre potuisse oder in Tacitus Germ. 4: Unde habitus quoque corporum,
quanquam in tanto hominum numero idem omnibus ; truces et caerulei oculi,
rutilae comae, magna corpora et tantum ad impetum vahda; laboris atque
operum non eadem patientia, minimeque sitim aestumque tolerai'e, frigora
atque inediam caelo solove assuerunt. — Diodorus Siculus 5, 28 unterschei-
det gar nicht zwischen Galliern und Germanen; die letzteren nennt er auf
der rechten Seite des Rheins wohnende Gallier, die er denn gleichfalls
als mit sehr langen Leibern , weisser durchsichtiger Haut und goldgelben
1 laaren ausgestattet schildert. Natürlich wird man immer annehmen müs-
sen, dass die länger in Europa eingewanderten Gallier schon durch den
Ackerbau und Verkehr mit der Civilisation entnervter und auch mit anderen
Nationen, z. B. Iberern, gemischt waren, als die Germanen sie erreichten.
Wie denn auch J. Caesar 6, 24 von den um die Hercynia angesiedelten
Tectosages sagt: Bei höchstem Lob der Gerechtigkeit und Kriegsruhm hätten
die Gallier durch die Nähe römischer Provinzen , das Kennenlernen über-
seeischer Verhältni'^se, die ■vieles zu Besitz und Gebrauch darbieten, allmäUg
sich gewöhnt, sich von den Germanen überwinden zu lassen, welche immer bei
demselben Mangel, Dürftigkeit und Entbehrung beharren und derselben Le-
bensart und Körperpflege sich bedienten. Hält man nun die ursprüngliche
Identität der Gallier und Germanen fest, so kommt man eher zu einem Er-
gebniss über die Namen der Stämme.
166 Chatten und Hessen.
Holz (Begriff zugleich für das einzelne Stück Holz, wie für Ge-
hölz, Wald, wie auch Loh latein. lucus Hain zugleich für Baumrinde
und Gehölz gebraucht wird) in den beiden Reihen:
Holz am einzelnen Baum, holzen, Holz für Gehölz, Wald, davon
fällen, lat. caedere. Davon z. B. Wild, davon Wildenaere, mit-
Kate die Hütte = Holzhäuschen, telhochdeutsch der Jäger, und
casa, Kasten, Geis, Geisel, gothisch zwar der ordnungsmässige, nicht
gaisa Speer, Host, hasta, Ast, wie bei uns der Begriff jetzt
Katze für Holzkasten und Baum- ist, der Wilderer, also = der
blüthe u. s. w. Hetzer, d. h. der im Walde nach
Wild geht von Hatzen, hetzen,*
franz. chasseur von chasser Wild
treiben, wie noch jetzt im Nie-
derländischen das Pferd, welches
die Trekschuiten an dem Kanäle
zieht, der Jäger (Treiber) ge-
nannt wird. Die alte Jagd war
Treibjagd.
So liegen die Namen und der Begriff Wäldler als Chatten (vgl. unseren
Provinzialismus ergattern == erjagen), Hatzer, Katze nahe bei einan-
der, wenn man den Grundbegriff Wald, Gehölz festhält, und waren
die Chatten = Wäldler, wie noch jetzt die Hot zen im Hauensteiner
Grund im Schwarzwald. So stellt denn auch Just. Moser, Osnabr.
Geschichte. I. 126, schon die durchaus annehmbare Vermuthung
auf: „Beiläufig bemerke ich hier, dass diese Volcae Tectosages (Caes.
B. G. VI), weichein der Folge H och 1 ander oder Chatten genannt
werden, blos nach griechischen Begriffen , welchen Cäsar hier folgt,
aus Gallien geholt werden." Statt Hochländer, welcher Begriff eher
auf den Namen Germanen passt, muss man nur sagen Wäldler. Was
aus diesen Wäldern herauskam, waren den angrenzenden Bewoh-
nern der Ebene oder Niederländern Chatten, Wäldler, und dieser Name,
der im plattdeutsch redenden Niederlande mit t gesprochen wurde,
wurde dann im das t quetschenden Walde selbst Hatzen oder Hassen
* Man vergleiche hierzu noch die Begrifisreihe mit to hunt (englisch)
jagen, hound der Hund, cauis, chien. Ilindc. die Hirschin, die h'icht da-
von jagt, gejagt wird, und petzen, beizen, die Falkenbeize, Falkenjaf^d ; aus-
führlicher entwickelt in Kellner, Ortsnamen des Ki'eises Hanau. Gr. Prior,
1871, S. 27 f.
Chatten und Hessen. 167
gesprochen ; hat diese Quetschung doch auch selbst im Niederlande
stattgefunden, wie in hissen holländisch für hetzen. Auf diese Weise
erklärt sich am besten die Ueberlieferung des Die Cassius, dass Drusus
gleich hinter den Sugambern* die Chatten traf, dass sie sogar am
Rheine angrenzten, dass Tacitus dann von ihnen sagt Germ. 30 : Dass
sie nördlich von den agri decumates und dem sie einschliessenden limes
Romanus die Schluchten des Herc}-nischen Waldes bevpohnten, bis da,
wo dieser in die Ebene absetzt; alles, was den Wald bewohnte,
waren diesen Darstellern Chatten. Sowie man aber in die-
sem Waldlande genauer bekannt wurde und einzelne besondere Land-
schaften und Stämme mit weiteren besonderen Namen benennen lernte,**
schrumpfte der Begriff Chatte zusammen, wie denn auch
Germanicus einen Mittelpunkt dieser Wäldler um Maden entdeckte, der
hernach übrig geblieben ist als Chattien, Hassia, Hassen oder
vielleicht richtiger geschrieben Heszen, d. h. Waldland, dessen Eck-
winkel die Eider hinauf noch heisst Waldeck. Damit löst sich auch
die Frage nach dem eigentlichen Stamme der Chatten. Es braucht im
Laufe der Jahrhunderte gar nicht Ein Stamm gewesen zu sein,
vielmehr spricht die heutige hessische Mundart dafür, dass wir es in
Hessen, wie eben wohl schon im alten Chattien, mit einer ursprüng-
lichen natürlichen Sprachgrenze wie Stammesgrenze zu thun haben,
wo verschiedene Mundarten auf einander gestossen sind und sich in
einander eingeschoben haben. Vom Norden her kamen cheruskische,
angrivarische , amsivarische Einwanderer, Amsivarische sind durch
ein bestimmtes Zeugniss nachgewiesen. Tacitus Ann, XIII, 55 f, er-
zählt zum Jahre 58 nach Christus: Die Ampsivarier kamen, von den
Chaukern aus ihren Sitzen vertrieben, zu Dubius Avitus , dem von
Paullinus eingesetzten Präfecten und baten um das Land, das eben von
den Friesen zwangsweise hatte geräumt Averden müssen und das, wie
ihr Anführer Bojocalus sagte, einst von den Chamaven, dann von den
Tubanten, endlich von den üsipetern besessen worden und jetzt herren-
los sei. Als dem Bojocalus dann das Land unter der Bedingung, die er
.«teilte, abgeschlagen wurde und der römische Statthalter die benach-
barten Stämme abhielt , mit den Waffen den Ansibariern zu helfen,
* Es ist oben zu 3. auseinandergesetzt, dass die natürliche Westgrenze
der alten Chatten-Landschaft die östlichen Ausläufer des Suerlandes(Sugam-
briae) waren und noch die der Hessen sind.
** »So kannte Drusus und Germanicus die Mattiaker noch nicht, die Ta-
citus nennt.
168 Chatten unil Hessen.
zogen diese vereinsamt zurück zu den Usipetern und Tubanten und
von diesen vertrieben zu den Chatten und zuletzt zu den Cheruskern,
bis sie auf langem Irrzuge als Gastfreunde, Bettler und Feinde in ihrer
^vaffenfähigen Mannschaft im fremden Lande niedergehauen, im un-
kriegerischen Alter aber als Beute vertheilt waren. Dies waren also
Emsbewohner, welche Iwahrscheinlich ihre Namen auf ihrer Wande-
rung auch nach dem heutigen Nassau , dem alten Lande der Usipeter "
an der dort fliessenden Ems (mit Badeort Ems), von da in's Madener
Land, wo auch eine Ems fliesst, getragen und bei Marburg im Namen
des Ortes Anzenfahr, wie es in alten Urkunden heisst und in dessen
Nähe auch ein Emsdorf liegt, eine Spur von sich hinterlassen haben;
ich kann wenigstens für den Namen des Dorfes Anzenfahr keine ver-
nünftigere Ableitung finden. So wie hier die Ansibarier, so kamen auch
gewiss andere germanische Einwanderer vom Norden in die Wälder an
Fulda, Eder, Schwalm und den Nebengewässern, in deren Thälern
zahlreiche Orte liegen, die in ihren Namen an niederdeutsche Herkunft
erinnern. Ebenso werden über die niedere Wasserscheide zwischen
Wetterau auf der einen Seite und Lahn- und Schwalmgegend auf der
andern Seite Einwanderungen in die letztere vom Süden her stattge-
funden haben, nur ohne dass bei der in dieser Zeit noch sehr verwand-
ten Mundart der verschiedenen germanischen Stämme in der Sprache
grosse Verschiedenheiten vorgewaltet haben. Die heutige süddeutsche
Volksmundart ist ja erst ein Gewächs späterer Zeit, ganz so wie auch
der heutige hessische Dialect.
Von der in den Wäldern durch Einwanderung und natürliche Ur-
sachen anwachsenden Bevölkerung war es nun selbstverständlich , dass
sie bald wieder aus den Wäldern hinauswanderte in weitere urbar zu
machende oder gemachte Gegenden und so finden Avir denn vor Tacitus
Zeit schon die Bewohner Chattiens theils hinausschwärmend nach der
Wetterau bis in das Rheinthal, theils nach dem Osten in das Gebiet
der Hermunduren hinüber, mit denen sie sich um Salzquellen streiten
imd dabei auch einmal unterliegen, viel früher schon nach der Batuva
wandern, um hier unter einem neuen Landschaftsnamen der Batuver
weiter zu blühen, und zu Tacitus Zeit selbst ihr Gebot auch über Che-
rusker und Foser, wahrscheinlich ihre Mutterstämme, bis zur Aller hin
ausdehnen, so dass die Chauken im Osten im Bogen herum mit den
Chatten grenzten.
Bei dem Erobevungszuge der Franken, zu deren Gesaramtheit auch
Chatten und Hessen. 169
die Landschaften gehören, in denen die Chatten wohnen , haben diese
unzweil'elhaft ein bedeutendes Coutingent zu den in Gallien vor-
dringenden Schaaren gegeben, wie ja 162 schon Chatten bis nach Gal-
lien und Rhätien schwärmten, und einen andern grossen Theil scheinen
im 6. Jahrhundert die Thüringen besiegenden Frankenkönige Chlotar
und Siegbert in Thüringen angesiedelt zu haben, wo sie dem Hasse-
gau den Namen gegeben, hier also schon das gequetschte t und das
erweichte Ch in ihrem Namen aufweisend , welche Form sich in den
Waldern wahrscheinlich von dem cheruskisch mundartlichen „Chatten"
aus sehr bald entwickelt hat.
Es sind auch wahrscheinlich Nachkommen der hessischen Ansied-
ler, die in den Ostfalen Karl dem Grossen unter Anführung des Hessi
oder Hassio sich bald unterwerfend entgegentraten ; haben doch gewiss
die Cherusker ebenso gut Hessen als Rückwanderer unter sich auf-
nehmen müssen, als sie früher Auswanderer nach Hessen geschickt
hatten und werden also auch die Ostsachsen hessische Niederlassungen
unter sich gehabt haben !
Mit der Uebersiedlung von Hassen nach Thüringen und der
Rückwirkung Thüringens auf den alten Hessen -Mittelpunkt hängt
denn auch vorziifrlich die heutige Beschaffenheit der hessischen Mund-
art zusammen,* es kommt aber noch hinzu, dass gerade da, wo das
alte Marsenvolk im heutigen Waldeckischen und um Wolfhagen mit
den Hessen zusammenstösst , in Fritzlar und Naumburg bis in die
neueste Zeit Mainzer (süddeutsche) Herrschaft gewesen ist, so dass,
wie sich regelmässig die Mundart des Volkes modulirt nach der INIund-
art der Herrschaft, namentlich in geistlichen Landeslierrschaften , sich
die Sprachgrenze zwischen Ungedanken und Mandern, zwischen Naum-
burg und Wolfhagen so scharf absondert. Weiter nach Osten zu, von
Kassel ab, hat dann der Thüringische Dialect eingewirkt, wie denn
mit 1130 auch das Landgericht Maden thüringisch wurde, mit der
thüringischen Herrschaft Kassel aufkam, und die thüringische Herr-
schaft nach kurzer Unterbrechung mit dem Tode Heinrich's Raspe
und dem Aussterben des Mannesstammes in Thüringen sich in den
* Die hessischen und thüringischen Kelensarten entsprechen und decken
fich geradezu bedeutend. So hört man bei den hessischen Bauern „etwas
aus Hassart, aus Bosheit, Hassherz thun" ebenso wie in der RuLla. cf. K.
Kegel, die Ruhl. Muntlart. ^Yeimar, I«68.
170 Chatten und Hessen.
Nachkommen des weiblichen Stammes im Brabanter Hause selbstän-
dig in Kassel und Hessen von 1265 ab einrichtete.
Niederdeutsch ist im hessischen Dialect geblieben, nach Leineweber-
art zu reden, der Aufzug; die Erzählung durch das Praeteritum wie im
Englischen ist niederdeutsch — der Oberdeutsche erzählt im sogenann-
ten Perfectum : Da hab ich gedacht u. s. w. Der Hesse sagt, da
dachte ich u. s. w. Der Hesse verschluckt nicht die Endsilben der
Wörter wie der Schwabe, er sagt haben, wollen, nicht hab', wolle'
u. s. w., und der Schwaben und Schwäbelnden Grenze beginnt erst an
der Laiin und deren Zuflüssen , im oberen Thale der Fulda, Hersfeld
aufwärts. Und hierher haben die Schwabeneinwanderung gebracht die
vom Osten auf den zwischen Rhein und Donau liegenden römischen
Grenzwall südlich von den Franken losdringenden Alemannen, die bei
dem einstweiligen Vordringen jener Concurrenten nach dem mittleren
und südlichen Gallien Raum erhielten, bis in alle nach dem Rheine zu
mündenden Fluss- und Bachthäler: Main, Kinzig, Wetterau aufwärts
bis in's alte Chattenland. Sie haben den Einschlag mit zur hessischen
Mundart geliefert. Hier in der "Wetterau, im Thal der Lahn, haben
denn auch die besondern errichteten Gaugrafschaften Ober- und Nieder-
Lahngau, wie im Thal der Fulda die priesterlichen Anlagen der Abteien
Hersfeld und Fulda den Namen Chatten weiterhin auf lange Zeit be-
.-chränkt, wie die Thüringer von Osten her. Als Bonifacius vom
Papst die erwähnte Vollmacht erhielt , das Christenthum in den be-
treffenden Gegenden zu lehren, waren schon die Nirteranwohner (Ni-
stresi), Lahnbewohner (Lognai), Wetterauer (Wedravi), Grabfelder,
Thüringer von den Hessen abgesondert. Sie haben eben Jahrhun-
derte lang eine untergeordnete Rolle gespielt, aber dann unter Phi-
lipp dem Gros sraüth igen jedenfalls den Ruhm davon ge-
tragen, dass an ihren Namen vorzugsweise die Sicher-
stellung der Reformation sich anknüpft.
In der ISIundai't aber repräsentiren sie das eigentliche Mittel-
deutsch, das mit der Reformation und Luther's Bibelübersetzung als
classisch-deutsche Mundart die Herrschaft über die andern Mundarten
davongetragen hat. In so fern schon im 6. Jahrhundert die Hassen
durch ihre bis nach Merseburg, Saiigerhausen, in's Mannsfeld'sche, wo
Luther geboren ist,* reichende Ansiedelung in Thüringen, im Hasse-
* Vgl. Wenck, Hess. Landesgesch. II, Urkunde z. J. 979, worin die
Aut.dehnung des Hassegaues angegeben ist, S. 31.
Chatten und Hessen. 171
gau mitgewirkt haben, die thüringische Mundart zu gestalten,
haben die Thüringer hernach den Hessen gewissermaassen ihr eigenes
Werk zurückgegeben, ohne indess den slavischen Singeton, der dem
Thüringischen Volksdeutsch innewohnt.
Gehen wir nun für unseren Namen Chatten auf das Etymolo-
gische zurück, so haben wir bei der Voraussetzung, dass die hier an-
genommene Ableitung aus dem alten Wortstamm für den Begriff Holz
und Wald richtig ist, 1) die alte niedersächsische Form Chatti = Xdttoi,
2) im Namen der Wäldler im Hauenstein im Schwarzwald die mittlere
Form Holzen mit der Quetschung des t zunächst in tz und 3) Hassi als
neuere Form, Gerade so finden wir iraNamenPr eu ssen die alte Form
Pruteni, Niederdeutsch ; Prutzi vermittelnde Form mit der Quetschung des
t, und die Form Prussi, Pruissen, Preussen als neuere. Eine Analogie
hierzu finden wir noch in dem Namen der Grafschaft Katzenelnbogen,
welcher, wie in der Einleitung auseinandeigesetzt war, auch zur Herlei-
tung von dem Namen Cattorum oder Catti Melibocus Veranlassung
gegeben hat. Wenck in seiner Hessischen Landesgeschichte hat nun
zwar mit Recht diese Ableitung ausführlich zurückgewiesen und die
Herkunft des Grafen von Nieder-Katzenelnbogen an der Durst, an der
das später erst gebaute so benamsete Schloss Katzenelnbogen in Nassau
auf einem Hügel liegt, aus der Obergrafschaft Katzenelnbogen, das den
Ausgangspunct für das heutige Hessen-Darmstadt geworden, zu be-
weisen gesucht, wonach denn der betreffende in Nieder-Katzenelnbogen
sich anbauende Herr möglicher Weise seinen Namen von dem im Süden
des Odenwaldes liegenden Berge Katzenbuckel, in dessen Nähe Erbach
liegt und auch ein Ort Einbogen vorkommt, haben kann.
Für uns kommen indess nur die verschiedenartigen, aber zu unserer
Ansicht über die Anwendung des Lautverschiebungsgesetzes auf den
Namen Chatten höchst passenden Schreibungen des Namens in Be-
tracht. Es finden sich bei Wenck (Hess. Landesgeschichte an ver-
schiedenen Orten) geschrieben 1102 Kazcnellebogen, 1144 — 47 Cacen-
elenboge, 1219 Katzinellinbogen, 1287 Catzenelenbogen, 1259 Katen-
elnbogen (niederdeutsch), 1260 Cffcce?2ellenbogen , 1267 C/uitzeneln-
bogen (vgl. Cliatti), 1299 Catzeneln^'o», loOl Katzenelembogen, 1316
C/^atzonelnbogen, 1326 Catzenelcn/^ogen, ]329 KatzenelinbocÄin. Die
häufigste Schreibung ist Cazzenelnbogen. Einmal aber schreibt ein
Caesarius, ehemals Abt des Klosters Prüm und hernach Mönch im
172 Chatten und Hessen.
Cölner Kloster Heisterbach 1222 (Hontheira, Hist. Trev. T. I, p. 690,
606 und 698 wiederholt comites de Cassenelhogen (et Hoynsten =
Hühenstein). Wenck a. a. O. I. p. 257.
Wieder eine absonderliche Schreibung ist in der Urkunde von 1216
Zazzenchihogen. Und endlich in zwei von einem englischen König
ausgehenden Urkunden 1294 heisst es in der einen : datum apud turrim
Londin (dem Londoner Tower) Kazin^M^^bogen — in beiden lässt näm-
licli König Eduard von England den Grafen von Katzenelnbogen den
Vasalleneid schwören — in der andern datum apud Westminster Kazin-
eliighogejx. Der Graf, der darauf antwortete , wie es scheint in einer
eigenhändig geschriebenen Urkunde, schreibt seinen Namen selbst
Kazinlenbogen.
Wir haben hier ganz deutlich vor uns: 1. die niederdeutsche Aus-
sprache des Wortes in Katenelnbogen ; 2. die mitteldeutsche gewöhn-
liche in Katzenelnbogen und 3. die fränkisch-deutsche oder romanisch
gemodelte in Kassenelnbogen , ganz wie etwa Chatti, Hatzen, chasser.
Eben der Abt Caesarius schrieb auch, wie er sprach, Casseneln-
bogen mit ss, wo es doch hätte mit zz geschrieben werden müssen
nach der strengen Anwendung des Lautverschiebungsgesetzes auf den
Namen. Um so weniger darf auch die Schreibung Hassi oder Hessi
die Ableitung aus Chatti beeinträchtigen.
Betrachten wir uns nun noch etwas genauer, auf welchem Sprach-
gebiet der alte Name Chatti entstanden ist, so finden wir einmal noch
lieut zu Tage von der Bevölkerung an der Weser von Hannoversch-
Miinden abwärts das K so sehr nach dem Ch hin sprechen, dass man
immer heraushört chonnte für konnte, Chunst für Kunst, Chönig für
König im Anlaut; ebenso das plattdeutsche t für s und z des Hoch-
deutschen, also Katte statt Katze (cf. Kattenbühel , Hügel oberhalb
Münden) u. s. w. Dabei findet sich ein Zusammenfliessen auch
wieder des G- Lautes mit dem Ch, dieses Ch statt K dann aber
auch wieder im Niedersächsischen gestellt vor Consonanten, wo wir
diese im Hochdeutschen allein sprechen: Chlodwig alt statt Ludwig,
Chlotar statt Lothar, Luther; Hrutansten in einer Urkunde bei
J. Moser, 0. Gesch. H, p. 23, 16, 14* für Rotenstein. Im Sauer-
liindischen, also im Sugambernlande ferner finden sich Verdichtungen
* In einer Urkunde Karl's des Grossen von 804 steht einfach Rutan-
stein! Vgl. S. 131 zu Meygerhoun.
Chatton und Hessen. 173
der Tocalischen Laute, wie Egger statt Eier, mögen statt mähen,
Riege staft Reihe, holländisch reek, Höchte statt Höhe, liehen (Geld)
statt leihen, wichen statt weihen u. s. w. Ein auch für die Etymolo-
gie im Allgemeinen sehr interessantes Beispiel ist das Vorkommen des
Wortes Queke in Westfalen für Vieh, volksmässig Vieh, oder Vaih,
wie gothisch vaihu, lateinisch pecus u. s. w. (siehe Moser, Osnabr.
Gesch. I. S. 72, Anmerk. e: „Und wanne die stervet, so gebet sie in
Maternian's Ehre öre beste weisse Kleed und öre beste Hofet Queke s."*
wo nebenbei festzustellen ist, dass das Wort Vieh = Lebendes, lebende
Sache im Gegensatz zur todten Sache, also zusammenhängt mit dem
Stamm queck, quick lebhaft, Leben von sich gebend, lebendig, vivo,
vixi, vic-tum, vivere leben (Latein) und sich so mitten im Osnabrück'-
schen Lande eine sehr alte Foi'm unserer indogermanischen Sprachfamilie
findet. Man vergleiche nun hierzu, was sich in Liebenauer Urkunden
(Zeitschr. f. hess. Geschichte und Landeskunde, Heft 1 u. 2, 1868,
S. 33 ff.) geschrieben findet: Vigcnt = Feind (auch eine ganz richtige
ältere Form des Wortes), unverhogen für unverhauen, verzigen =
verziehen, geschieht = geschieht, und man sieht, wie dieselbe Mund-
art im plattdeutschen Sprachgebiet rings um Hessen entweder das ur-
sprüngliche Katten zu Chatten erweichen oder das ,H' (Hessen) zu Ch
verdichten konnte. Von Personennamen vergleiche man in dieser Rich-
tung noch Mechtild für Mathilde, Wittechind und Wittekind, Eginhard
und Einhard, und von Volksnamen die Form Chunni statt Hunni bei
Auson. Claud. Eutrop. 2, 330 und Chuni bei Sidon. Apoll. Gregor.
Turon. und F'redegar.
Auf der nord-östlichen Seite der Hessen bei Göttingen findet man
die Eigenheit der dortigen Bewohner , dass sie kein K, sondern für K
regelmässig G sprechen, woraus sich ebenfalls eigenthümliche Conse-
quenzen für die nicht zu strenge Anwendbarkeit des Lautverschiebungs-
gesetzes ergeben. Wie würden die Göttinger Chatten gesprochen
haben? vielleicht Gadden. Wie geneigt man aber im Osnabrück'schen
für Verdichtung des h war, geht aus einer Urkunde hervor, in der
Moser, Osnabr. Gesch. § 3, das lateinische mihi michi geschrieben ist.
liier kann möglicher Weise auch, wie eine kleine Abhandlung: „Zur
altern Geschichte der Stadt Marburg." Cass. Feierstunden, Beibl. zur
Hess. Volksz. 1870. Nr. 51 (sonst Vilmarisch für die Nichtidentität
* Vgl. Kryetende tiende (kreischender Zehnte [Vieh]). Kämpen, Ge-
schichte der Niederlande. I, 120.
174 Chatten und Hessen.
von Chatten und Hessen) ganz vernünftig ausführt, der Nan^ der Che-
rusker aus dem alten Namen des Dorfes Heerse bei Willibadessen,
Altenheerse, entstanden sein, von wo aus sich dann das Gebiet der
Cherusker bis zu den Bückebergen am rechten Ufer der Weser und bis
zum Harze ausbreitete ; man denke sich nur den alten Namen Cherusi
geschrieben. Liegt doch auch Herssebrok, Hertzebroek, Kerssenbroich
in der Nähe.
Hiermit schliessen wir diese Untersuchung, um nicht das Material
sich in's Unendliche ausdehnen zu lassen. Nach allen Gründen wird
gewiss die Erklärung des Namens Chatten und Hassen oder Hessen
durch „ Waldländer," Wäldler, „Hotzen" eine genügende für
viele Erscheinungen, welche bisher nicht wohl eingereiht werden konn-
ten, und ein Licht auf noch andere dunkle Partieen der Namenerklärung
zu werfen geeignet sein.
Wir haben es also mit ursprünglich niedersächsischen Stammes-
theilen zu thun, die colonisirend in die Wälder vordrangen und hier
wohl auch mit suevischen , vom Süden her kommenden Stämmen zu-
sammenstiessen, die alle nach dem gemeinsamen Wohnen im WalJlandc
ihren gemeinsamen Namen hatten, bis sich der Wald vor genauerer
Kunde in seine einzelnen Sonderbestandtheile auflöste und der Name
Chatten (nach platter Mundart) in der modernen hochdeutschen Form
Hessen (nach der Form hese fiir Gebüsch, Gestrüpp, Caesia silva,
Ileissi a. Ruhr, Heserwald [es gibt ja auch einzelne hochdeutsche In-
seln im Niederland, wie der fränkische Harz eine solche aufweist]) auf
dem Mittelpunkte hängen blieb.
Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
Die Sprache als Kunst von Gustav Gerber. Erster Band.
Bromberg 1871, Mittler'sche Buchhandlung. H. Heyfelder.
Die Lehrbücher <ler Poetik leiden an verschiedenen Mängehi, welche
nicht nur. wie wir jrlauben, von den meisten Lesern mehr oder weniger
klar empfunden werden , sondern auch von der Kritik ausdrücklich als
solche bezeichnet worden sind; ja, welche manche Verfasser selbst ziemlieh
naiv anerkennen, ohne doch den Versuch gemacht zu haben sie zu beseiti-
gen. Wir heben hier zwei besonders hervor. Wenn es wahr ist, dass, wie
Schiller sagt, „der Begriff der Poesie kein andrer sei, als der Menschheit
ihren möglichst vollständigen Austlruck zu geben," oder, wie H. Gerber
sich ausdruckt (S. 53 — 54), „die Poesie die Kunst des Gedankens sei, so
dass sie Gedanken darstelle im Gedanken als ihrem Material;" so erschei-
nen gewisse Dichtungsgattungen, als da sind: Epigramme, Rathsel, Para-
beln, Gnomen, Volkslieder, nicht als ebenbürtige Erzeugnisse mit dem Epos
und dem Drama. Sind doch strengere Theoretiker (Aristoteles, Lessing,
Gervinus) selbst geneigt, die gesammte Lyrik bei Seite zu schieben! Wenn
zweitens Vischer die Sprache mit Recht das „blosse Vehikel" der Poesie
nennt, als für welche nur „die Phantasie" selbst das Material sei, so er-
scheint die Annahme einer besonderen poeti-chen Sprache, deren Gesetze
die Poetiken in der Lehre von den Kedetiguren zusammenfassen, ungerecht-
fertigt, wie denn auch in der That nicht allein jede effectvolle, feierliche,
gehobene, scherzende Rede, sondern überhaupt jede menschliche Rede, selbst
die nüchternste Prosa und die tägliche Unterhaltung sich dieser Figuren be-
dienen. Der Verfasser des vorliegenden Buches hat diese angedeuteten
Mängel klar herausgestellt und gefunden, dass sowohl jene zweifelhaften
Dichtungsarten als auch diese Redefiguren von der Poesie abzusondern und
einer besonderen Kunst, der Sprachkunst, zuzuweisen seien. Die natürliche
Frage, wie eine solche Kunst habe übersehen und erst von ihm entdeckt
werden können, beantwortet H. Gerber in der Vorrede (S. IV.) dadurch,
dass er auf die schwierige Abgränzung derselben und auf das weniger Auf-
fallende ihrer Werke, die mehr der flüchtig vorüberrauschenden Rede, als
der Literatur angehören, aufmerksam macht. (Siehe auch S. 43 und 44.)
Er zeigt ferner (S. 79 — 97), dass trübere Forscher nicht allein das künstle-
rische Element in der Sprache geahnt und auch hervorgehoben haben , son-
dern sogar geradezu bis zu einer Anerkennung der Sprachkunst fortgeschrit-
ten sind. Hier sind besonders Aristoteles, Lessing, Herder, Hegel, Vischer,
Solger, Thiersch, Thrandorff, Kahlert zu nennen. Keiner von diesen hat
es aber zu einer vollständigen Klarheit und Sonderung gebracht, keiner
176 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
bat den letzten, entscheidenden Schritt gewagt. Diesen Schritt hat H. Gerber,
nach unserer Ueberzeugung mit vollem Recht, gethan und seine schwierige
Aufgabe mit grossem Scharfsinn und mit der Benutzung eines reichen Ma-
terials, welches il)m seine ausgedehnte Belesenheit an die Hand gab, glück-
lich gflöst.
Wir geben nach diesen einleitenden Bemerkungen eine gedrängte Ueber-
sicht über den Inhalt des Buchs — freilich bloss Bruchstücke aus dem
Ganzen, und hauptsächlich in der Absicht, dem Leser einen Vorgeschmack
zu geben und, um in dem trivialen Bil.Je zu bleiben, seinen Appetit auf das
Buch selbst zu reizen. Dasselbe beginnt mit einem allgemeinen Theile, der
in zwei Unterabtheilungen „von dem System der Künste" und „von der
Sprachkunst im Besonderen" zerfällt. Das W esen der Kunst findet H. Ger-
ber im Anschluss an Kant's Kritik der Urtheilskraft in einer Freude brin-
genden Thätigkeit, welche eben nur dies will: Freude bringen, weshalb
die Kunst auch nicht mit Unrecht als ein Spiel bezeichnet worden ist. Un-
ser Verlangen nach Freude beruht aber darauf, dass das Leben an sich
selbst der Schmerz ist. In der Kunst lösen sich die Disharmonien der Er-
scheinungswelt; sie erfasst das Dasein als ein dem Menschen analoges.
Freilich ist diese Freude nur die Freude an der Form, am Schein der Er-
scheinung (Schönheit); aber dieser Schein ist das einzige Licht, aus wel-
chem uns die Wahrheit entgegenleuchtet ohne uns zu blenden. Hiermit
sind diu Gränzen der Kunst bezeichnet. Die Seele des Menschen kann
nichts Höheres hervorbringen , als sich selbst ; sie findet auch in der Er-
scheinungswelt nur das ihr Entsprechende und entnimmt aus deiselben daher
nur wieder sich selbst in Gestalt eines Materiellen. Dennoch ist sie kein
leeres Gaukelspiel im Vergleich zu den anderen Ideen ; denn auch die
Wahrheit ist nur eine menschliche, und auch das Gute ist das Gute nur für
uns. Wenn so die Kunst für Alle ist, wie das Gute und das Wahre, so
sind auch Alle Künstler, freilich in verschiedenem Grade. Das Geniessen
eines Kunstwerkes ist ebenso wenig ein rein passives Verhalten , wie das
Schaffen ein rein aktives. Wenn aber Alle Künstler sind, so kann der Ein-
zelne als solcher die Kunst nicht hervorbringen , sie besteht und gewinnt
Form nur durch die Beiheiligung Aller. So wenig aber das vollendetste
Kunstwerk die Idee der Kunst •vollständig enthält, so wenig ist der Eintritt
in die Sphäre der Kunst da zu verkennen, wo von den höchsten oder reinen
Kunstforderungen nicht die Rede sein kann. Was den Ursprung des Kunst-
werkes näher angeht, so ist es, wie schon angedeutet, der von dem Thiere
nicht gefühlte Schmerz über die Inkongruenz der Natur, welcher uns zur
Darstellung einer kongruenten Natur treibt. Jener Schmerz und seine Be-
friedigung tritt aber erst ein, wenn das Individuum sein sinnliches Bestehn
als solches der Aussenwelt gegenüber gesichert hat. Ebenso ist es mit den
andren Bethätigungen der Freiheit des Menschen in Wissenschaft, Gesetz,
Religion ; sie entspringen aus der Entzweiung und treten erst später im
Bewusstsein hervor. Damit die Seele sich ausspreche, bekleidet sie
sich mit einem Leibe, einem Stoffe, und diesen entnimmt sie der Natur.
.Sie schafft sich eine vermenschlichte Welt, welche mit ihr sympathisirt.
Hier übernimmt nun das Genie, der schaffende Künstler, die Interpretation.
Man kann sich vorstellen, die Natur reize zur Nachahmung, und so entstehe
die Kunst; man kann aber ebensowohl sagen, dass ein Kunsttrieb der Seele
iunewjhne, welcher sie nöthige , zu schaffen. Eine Gliederung der Künste
gewinnt der Verfasser durch gleichzeitige Berücksichtigung der Thätigkeit
der Seele und des Materials. Da die Künste nur für die beiden Sinne des
Aui^es und iles Ohres vorhanden sind, so ergeben sich zwei Gruppen von
Künsten. Die erste umfasst die Künste für das Auge, die Künste des Rau-
mes, in denen die äussere Welt durch das Licht verinnerlicht wird. Es
sind: 1) die Architektur, in der die Seele als zusammenfassende Einheit,
die Natur als Vielheit der Massen sich kund giebt. 2) Die Skulptur, in
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 177
der die Seele als gliedernde Einheit, die Natur als organisirte Masse er-
scheint. 3) Die Malerei, in der die Seele als wesentliche Einheit, die Natur
als Schein der Masse auftritt. Die zweite Gruppe enthält die den obenge-
nannten parallelen drei Künste für das Ohr, in denen die innere Natur der
Welt, wie des Menschen sich in der Zeit durch den Schall veräusserlicht.
Es sind: 1) Die Tonkunst, deren Gestaltungen die Zahl beherrscht; 2) die
Sprachkunst, in der durch das Wort eine Gliederung des Tonmaterials ein-
tritt; 3) die Dichtkunst, in der die Sinnlichkeit, wie in der Malerei, nur
noch Schein, das Wort nur noch Zeichen ist, welches bedeutet. Die Aehn-
lichkeit zwischen Baukunst und Tonkunst, zwischen Malerei und Dichtkunst
ist auch sonst schon bemerkt worden; die Kunst des Bildhauers blieb aber
ohne eine entsprechende Kunst. Diese Lücke ist jetzt ausgefüllt. Im Fol-
genden wird dann das Gebiet der Sprachkunst näher begränzt: 1) Durch
Unterscheidung von der gewöhnlichen Rede der Bedürfnisse, so zu sagen,
der Prosa der Sprachkunst, wie man in der Literatur die Prosa (in engerer
Bedeutung: ungebundene Rede) in weiterer Bedeutung als Gegensatz zur
Kunst der Poesie gegenüberstellt. 2) Durch Unterscheidung von der Poe-
sie. „Es fällt bei der Dichtkunst das ganze Gewicht auf die Dichtung, Er-
dichtung, Verwandlung, Umschaflung der Erscheinungswelt, die Gedanken-
verschlingung, den Gedankenkampf; bei der Sprachkunst auf die Vollkom-
menheit der Darstellung eines Seelenmoments durch die Sprache; der Dich-
ter erfindet Verwicklungen, Lösungen, Umstände, Lagen, giebt eine Welt-
anschauung; der Sprachkünstler erfindet Wörter, Satzformationen, Figura-
tionen, Sprüche, giebt das Abbild eines Lebensmoments der Seele." „Bei
der Poesie ist die Sprache nur die zweite nach Aussen gekehrte Hälfte
des Materials, der Stoif, in welchen sich das bestimmte Denken nothwendig
kleidet, um vollständig zu sein und zu erscheinen — bei der Sprachkunst
dagegen ist die Sprache das ganze Material." „Was bisher zur Lyrik ge-
rechnet wurde ohne doch mehr zu geben , als Abbildung eines einzelnen
Lebensmomentes der Seele, ziehen wir zur Sprachkunst. Diejenige Lyrik
hingegen, welche eine Vielheit von Empfindungen und Gedanken behandelt
und diese Mannichfaltigkeit zur Einheit eines Gedankens oder einer Empfin-
dung abschliesst, halten wir für eine der Epik und Dramatik gleichberech-
tigte Dichtungsgattung." Aus der didaktischen Poesie, welche der Verfas-
ser, wie man schon aus einem der früheren Sätze schliessen kann, in Schutz
nimmt, ist Spruch, Epigramm, Gnome, Sprüchwort und Aehnliches zur
Sprachkunst zu ziehen. 3) Durch Unterscheidung von der Redekunst, die
der Verfasser aus der Reihe der schönen Künste ausschliesst. Die Bered-
samkeit ist ein Geschäft, welches, wie jedes andre, mit mehr oder weniger
Strenge und Gewissenhaftigkeit getrieben wird. Die Werke der Sprach-
kunst (die Redefiguren) werden von ihr in ähnlicher Weise verwandt und
benutzt, wie bei der Darstellung von Werken der Dichtkunst geschieht.
Nachdem der Verfasser noch über die Anerkennung der Sprachkunst bei
früheren Forschern gesprochen (siehe oben), sondert er die Sprachkunst in
drei Gruppen, welche den drei Gattungen der verwandten Kunst, der Pla-
stik, entsprechen: Die Werke, welche innerhalb der Sprache selbst zu er-
kennen sind, obwold sie als Werke der Kunst dort nicht mehr hervortre-
ten (die Sprache als Kunst); die selbstständigen Werke der Sprachkunst
(Sprachkunst in ihrer Selbstständigkeit) ; die Werke der Sprachkunst, welche
der Künstler mit grösserer oder geringerer Absichtlichkeit und Reflexion
als Schmuck verwendet (die Werke der Sprachkunst im Dienste der Sprache).
Die UnSelbstständigkeit ist der ersten und dritten Abtheilung gemeinsam;
doch ist dort die Vereinigung von Sprachkunst und Sprache eine unmittel-
bare, naive, hier eine vermittelte, reflektirte; dort ist die Kunst aus einer
bisherigen Verkennung hervorzuziehen, hier haben wir es mit einem be-
wussten Schaffen zu thun, welches deshalb auch schon immer als ein künstle-
risches bemerkt worden ist. Diesen allgemeinen Theil schliessen einige
Archiv f. n. Sprachen. XLVIII. 12
178 Beurtheilungea und kurze Anzeigen.
Andeutungen über die Geschichte der Sprachkunst. Die Sprache "als Kunst
gehört der vorhistorischen Zeit an; die Stätte der selbstständigen Werke
der Sprachkunst ist besonders der Orient. Erst eine reifere Weltanschau-
ung führt zur Poesie. Nach den sogenannten klassischen Perioden der Li-
teratur tritt eine Erschlaffung ein, in der die Sprachkünstler die Gedanken-
eroberungen der Dichter als Sprachstücke in den allgemeinen Sprachschatz
hineintragen. Sprachkunst endet so, wie sie begann, als Indifferenz zwischen
Prosa und Poesie.
Von dem besonderen Thell enthält der vorliegende erste Band den er-
sten Abschnitt: Die Sprache als Kunst. Zunächst wird von dem Ursprung
und Wesen der Sprache gehandelt. Die neuere Sprachforschung (W. v. Hum-
bold, Heyse, Lazarus, Steiuthal, Max Müllei") , von der Ansicht ausgehend,
dass der Ursprung der bestimmten, zeitlich gegebenen Sprache ebenso unbe-
greiflich sei, wie der des bestimmten Menschen, sucht dje Sprache aus den-
jenigen Bedingungen und im Einklänge mit ihnen, welche uns sonst über
die Natur des Menschen bekannt sind, zu begreifen, während die ältere For-
schung (Plato, Cicero, Rousseau, Süssmilch, Herder, Lessing, Fichte) von
der Ansicht ausging, dass ein bestimmter zeitlicher Anfang einer als fertig
zu denkenden Sprache anzunehmen sei. Die Frage wurde so eine Frage
nach dem übernatürlichen (Offenbarung Gottes) oder natürlichen (Erfindung
des Menschen) Ursprünge der Sprache. Wurde der letztere angenommen,
so entstand wieder die Frage , ob sie eine nothwendige Entwicklung der
Menschennatur ((pvaei) oder ein Product der menschlichen Freiheit (ß'easi)
sei. Diese letztere Frage ist nach dem Verfasser dahin zu beantworten, dass
sie durch die Wechselwirkung beider entstanden ist, und dass deshalb auch
nichts hindert, sie als göttliches Geschenk zu fassen. Wie durch den Pro-
cess der Wechselwirkung die Entwicklung des Menschen überhaupt zur
Reife gebracht wird, so vollzieht sich durch eben diesen Process auch die
Entwicklung des Menschen von der Natursprache, in welcher ein Minimum
des Ich sich betheiligt, bis zur Sprache als Kunst, welche den Menschen
wesentlich ausspricht. Denn alles, was vom ganzen Menschen ohne Nöthi-
gung von aussen her geschaffen wird, ist Kunst; daher entspringt also die
Sprache dem Kunsttriebe des Menschen; dadurch, dass unser Geist sich
erschafft in der Sprache, wird er selbst erst in Wirklichkeit. Da alle Thä-
tigkeit des Geistes durch das Medium der Sinnlichkeit hindurchgeht, so be-
darf es der Sprache nicht nur zur Darstellung', sondern auch zur Bildung
des Innern. Als natürliche Vorstufen der Sprache erscheinen Gesten und
unartikulirte Töne. Der Ton ist aber nur im Stande, den Seelenakt in all-
gemeiner Weise und in einem andren Material wiederzugeben; er ist nur
ein Bild. Wir fassen also nicht Dinge auf oder Vorgänge, sondern Reize;
wir geben nicht Empfindungen wieder, sondern Bilder von Empfindungen.
Wir kommen durch die Wechselwirkung unsres Geistes mit unsren Lautäus-
serungen zu einer Entwicklung, die uns von dem Naturleben entfernt und
in eine künstliche Welt versetzt, welche Wahrheit und Gültigkeit nur für
uns beanspruchen kann. So entwickelt die Sprache den Menschen nicht
nur, sondern sie begränzt ihn auch. Bei den Empfindungslauten, welche
Gehörswahrnehmungen betreffen, kann von einer Schallnachahmung (Ono-
matopoeie) die Rede sein, bei denen, welche Eindrücke der übrigen Sinne
wiedergeben, nicht, — hier wird nur ein Analogen des Natürhchen (nach
Humboldt ein Symbol) geschaffen. Weil die wahre Natur des Wortes als
eines Kunstwerkes (dies erst im Symbol) nicht erkannt wurde, liess man
häufig die artikulirte Sprache unmittelbar aus diesen Lauten hei-vorgehn ;
man liess die Freiheit, die bei der Bildung des Wortes thätig ist, ausser
Acht, eine Freiheit, die den Naturlauten abgesprochen werden muss. Wäh-
rend die Seele bei der Hervorbringung derselben an das einzelne Objekt
gebunden war, welches sie wahrnahm und von dem sie ein Merkmal auf-
fasste (Wahrnehmung), empfängt sie an dem hervorgebrachten Laute eine
BeurtheiluDgen und kurze Anzeigen. 179
neue Wahrnehmung, welche allgemeiner ist. Sie stellt das Object sich auf
ihre AYeise hin und lernt es in dieser Form kennen (Vorstellung), wodurch
für das Bewusstsein der Gegensatz des Subjects zu der objectiven Welt
sich herausbildet. Wenn so der Mensch die Individuen in Genera verwan-
delt, so muss er seine Unfähigkeit zugestchn, das Individuum, d. h. die
Wirklichkeit zu erkennen. Das Vorstellungsbild ist verschieden von dem
Lautbil'le des Empfindungslautes, es ist eine Ausführung, an welcher sich
die Seele mit eigener Kraft betheiligt, das Material des Empfindungslautes
wird geformt, aitikulirt, es ist ein Bild, wie die Seele sich es eingebildet
hat. Es wird ein Innenbild dargestellt durch ein Aussenbild, d. h. ein an
sich Allgemeines, welches doch als besonderes gemeint wurde, wird darge-
stellt durch ein anderes besondere, welches doch an sich ein Allgemeines be-
zeichnet. Der so gebildete Laut ist demnach Symbol, und der Mensch be-
tritt, indem er ihn hervorbringt, das Gebiet der Kunst auf der Stufe der
unbewussten Symbolik. Die Sprachwissenschaft nennt diese Laute Wurzeln.
Wir haben bis hierher, bis zum Nachweis des Kunstcharakters der
Sprache, die Gedankenentwicklung selbst anzudeuten versucht und beschrän-
ken uns von nun an auf die Angabe der Kapitelüberschriften, der Themata
der Entwicklung. Es folgen zunächst Untersuchungen über Gestalt, Laut-
material der Wurzeln, über ihre Fähigkeit der Mittheilung zu dienen (Fro-
nominalwurzeln); über die Symbolik der Laute mit Berücksichtigung und
Kritik der Ansichten von Curtius, M. Müller, Renan, Pott, Steinthal, Schlei-
cher, Bopp, Humboldt, Grimm, Heyse, Vernalekcn, Bernhardi, Götzinger und
Andren. Es wird sodann die Bedeutung der AVurzel als Satz und Bild ent-
wickelt, die Erzeugung der Wörterklassen und der Beziehungsausdrücke
und die wahrscheinliche Reihenfolge in der Bildung dieser Formationen
nach Steinthal und Curtius, der Fortschritt in der Entwicklung der Seelen-
thätigkeit zum Urtheilen und zur Begriffsbildung durch die Formirung des
Satzes, ferner die Bezeichnung des Unsinnlichen besprochen und nachge-
wiesen, dass die Bedeutung der Worte weder individuell, noch allgemein,
sondern bildlich ist. Im sechsten Kapitel wird unter Andrem von der
Sprache als Mittel, von der sogenannten inneren Sprachform, von der Sprache
des Bedürfnisses, der Mittheilung, der Prosa, der Poesie gehandelt. Die
Sprache an sich ist Verwirklichung des menschlichen Erkennens durch fort-
gesetzte Kunstschöpfungen; als Bild des Menschen vereinigt sie in sich
sinnliche und geistige Natur, stellt nur eben dieses Mittlere dar und hat
hieran ihre Gränze; sie bezeichnet ungenügend das Sinnliche, wie das ab-
strakt Geistige. Der Kunstcharakter der Sprache bedingt die gesammte
Entwicklung des Menschengeistes, namentlich in der Wissenschaft. Im
siebenten Kapitel wird erörtert, wiefern Lexikon und Grammatik als Dar-
stellung der Technik der Sprache zu betrachten sind, und inwiefern die
Verwirklichung der Sprachkunst durch die Natur (Verschiedenheit der Spra-
chen), ihre Entwicklung durch die Geschichte der Sprachen und ihre Ent-
faltung durch den usus bedingt ist. Im achten und letzten Kapitel folgt
die Betrachtung des Wortes: A. Nach seiner Bedeutung und deren .Wandel,
d. h. von den Tropen. Möglichkeit einer Bedeutungslehre, der Wandel der
Bedeutung; alle Wörter sind von Anfang an Tropen; die Tropen als
ästhetische Figuren; die sogenannte eigentliche Bedeutung der Wörter;
die Synekdoche in der Sprache; die Metapher bei dem Nomen, in der Be-
zeichnung des Geschlechts, bei den Formwörtern; die Metonymie im Ge-
biete des Unsinnlichen, die Katachrese. — Wir bemerken, dass der Verfas-
ser diese Ausdrücke hier natürlich nicht in dem gewöhnlichen Sinne ge-
braucht, wonach sie zu den absichtlichen Kunstschöpfungen gehören (von
diesen wird im dritten Abschnitt, die Sprachkunst im Dienst der Sprache,
die Rede sein), sondern in einem erweiterten. Denn nach seiner Theorie
sind alle Wörter Tropen, entweder Synekdochen oder Metaphern oder
Metonymieen. So nennen wir z. B. den Ausdruck „Haar der Bäume" bei
12*
180 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
Schubert einen bildlichen für den eigentlichen: „Laub der Bäume," obwohl
Laub von linban, tegere nicht weniger bildlich ist. — B. Nach seinem
Lautkörper, von den grammatischen Figuren phonetischer Art. Die Kunst-
technik der Sprache vom Standpunkt der vergleichenden Sprachwissen-
schaft, der historischen Grammatik, eines als feststehend angenommenen
usus aus. Die grammatischen Figuren; vitium et virtus orationis, Euphonie
und Kakophonie, Hiatus, Gleichklange, Mundarten, Idiotismus, Fremdwör-
ter, Lehnwörter, Archaismen und Neologismen; Terminologie und Betrach-
tung der etymologisch-grammatischen Figuren. — C. Nach seinen Bezie-
hungen; von den syntaktisch-grammatischen Figuren. Analogie der Sprach-
formationen in der Etymologie und Syntax. Begriff und Terminologie der
syntaktischen Figuren, Pleonasmus, Ellipse, Enallage mit ihren Unterarten.
So weit der Inhalt des Buches. Wir erachten es als ein nicht unbe-
deutendes Verdienst desselben, dass es in einen bestrittenen und unklaren
Punkt der Aesthetik Klarheit gebracht hat. Die Untersuchung über die
Anfänge der Sprache gehört gewiss zu den schwierigsten wissenschaftlichen
Problemen, und es hat uns hier die Methode des Verfassers besonders an-
gesprochen, welche, weit entfernt einen falschen Schein der Originalität zu
erregen, sich im Gegentheil mit Interesse, man möchte sagen, mit Liebe in
die Ansichten der früheren Forscher von den Griechen an bis in die
neueste Zeit vertieft und überall das Körnchen Wahrheit , welches sie nach
der Ansicht des Verfassers beigetragen haben , hervorsucht. Dabei weiss
Hr. Gerber mit grosser Schärfe überall den schwachen Punkt herauszu-
finden, um zuletzt seine eigene Ansicht zu begründen, welche nach des Re-
ferenten Meinung als eine für den heutigen Standpunkt der Wissenschaft
gewissermassen abschliessende und definitive betrachtet werden kann. Die
neuere Philosophie ist, nachdem sie eine Weile sich in dem von Hegel ge-
gebenen Abschlüsse befriedigt und an dem Ausbau seines Systems gearbei-
tet hatte, zu Kant's Ausgangspunkte zurückgekehrt und hat die Subjectivi-
tät alles menschlichen Denkens wieder stark betont (vergleiche Lange's
Geschichte des Materialismus). Der Verfasser hat sich dieser Entwicklung,
an welcher die Fortschritte in den Naturwissenschaften den gewichtigsten
Antheil haben, angeschlossen, und er bezeichnet nach unserem Gefühle mit
vollem Recht den Prachtbau der Hegel'schen Logik als ein Werk der Poe-
sie. Nachdem die Sprachwissenschaft aus einer bloss den usus fixirenden
zu einer vergleichenden und historischen sich emporgeschwungen hat, ist
heut statt einer Kritik der reinen Vernunft eine Kritik der Sprache zu
schreiben, und das vorliegende Werk ist ein werthvoller Beitrag zur Lö-
sung dieser Aufgabe. Ein andres Verdienst des Buches ist sodann, dass es
(der zweite Theil soll einen Index enthalten) ein bequemes Nachschlage-
buch für die Bedefiguren zu werden verspricht, ein Buch, in welchem die-
selben mit einer unsres Wissens nach noch nicht vorhandenen Vollständig-
keit behandelt werden, wobei ausser dem Griechischen, Lateinischen und
Deutschen, auch namentlich das Französische und Englische — aber auch
Sanskrit, Hebräisch, Spanisch, Italienisch und noch andre Sprachen Be-
rücksichtigung gefunden haben. „Man wird sich vielleicht wundern," sagt
H. Gerber in der Vorrede S. V, „dass wir auch bei vielleicht schwachen
und dürftigen Figuren- und Tropensammlern, ßhetoren u. s. w. uns aufhal-
ten. Zunächst ist darüber zu bemerken, dass im Ganzen doch viel mehr
Genauigkeit, Scharfsinn , Liebe in der Betrachtung der Sprache von jenen
Alten bewiesen wird, als man nach den geringschätzigen Reden mancher
Neuerer erwarten sollte. Ferner ist zu bedenken, dass nur ein möglichst
genauer Anschluss an die alte Ueberlieferung uns vor völliger Verwirrung in
diesen Dingen bewahren kann. — Dass eine Menge des U eberlieferten in Weg-
fall kommen kann, dass Andres genauer zu bestimmen ist, versteht sich von
selbst — aber auch das wird erwünscht sein, dass sich in genügender Vollständig-
keit bei einander findet, was festzuhalten und was aufzugeben räthlich scheint."
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 181
Sollen wir nun von Desideraten sprechen, so hat es uns der Verfasser
allerdings nicht gerede leicht gemacht, indem er, wie er selbst erklärt, frei
von dem Aberglauben an die Kraft von Titeln, Rubriken und wissenschaft-
lichen Kunstausdrücken und allen absoluten' Abmachungen und logisch zuge-
spitzten Definitionen abhold ist. Dieselben sind allerdings nur in der Ma-
thematik an ihrer Stelle und haben zwar auch in der Wissenschaft des
freien Geistes für den sondernden Verstand ihren Werth, können aber nie
erschöpfend sein, da, wo es sich um organische Gebilde und um Kunst-
schöpfungen handelt. Der Verfasser verzichtet daher auf die Abrundung
des Systems, wo er den Dingen Gewalt anthun müsste. Es scheint uns,
als habe er sich die vorsichtige, zarte Weise Wilhelm von Humboldt's zum
Muster genommen, der nie mehr sagt, als er verantworten kann, und sich so
in seineu Behauptungen verclausulirt, dass er das, was ihm, wie er vermu-
thet, entgegnet werden könnte, irgendwie auch schon in den Kreis der Be-
trachtung gezogen hat. So könnten wir, z. B. bei dem Vergleich der
Stellen, wo die Sprachkunst von der Poesie so unterschieden wird, dass die
erstere nur einen Seelenmoment darstellt, und wo die Sprachkunst der Pla-
stik, die Malerei der Poesie als analog bezeichnet werden, das Bedenken
erbeben, dass sowohl die Plastik als die Malerei nur einen Moment darzustellen
scheinen: wir müssen aber, wenn einmal parallelisirt werden soll, die gege-
bene Parallele in der That als die beste anerkennen. So lässt sich ferner die
Grenze zwischen der Sprache als Kunst und der Kunst der Sprache in dem
Abschnitt über die Figuren und Tropen oft sehr schwer ziehn, da sich beide
Gebiete nicht nur berühren, sondern das eine so zu sagen über das andre
hinübergreift — der Verfasser weiss das natürlich am Allerbesten, — und
man könnte in manchen Punkten andrer Meinung sein, wird aber anerken-
nen müssen, dass der Verfasser in jedem einzelnen Falle für seine Annahme
triftige Gründe gehabt hat. Dass die Darstellung eine gewisse Breite hat,
fühlt der Verfasser selbst, und er erklärt dieselbe daraus, dass seine amt-
liche Tliätigkeit ein stetiges Arbeiten nicht erlaubte, so dass Spuren des
öfteren Wiederanfangens und Sich-Hineinlebens entstehen mussten.
Wir scheiden von dem Verfasser mit dem Gefühl des Dankes , welchen
wir ihm für die anregende Leetüre seines Buchs schulden, und mit dem
AVunsche, dass es ihm, wie er versprochen, vergönnt sein möge, in Jahres-
frist den zweiten Band zu liefern, welcher die selbstständigen Werke der
Sprachkunst und die rhetorischen Figuren behandeln soll, und wollen zum
Schluss nur noch ein paar flüclitige Bemerkungen über Einzelnheiten hinzu-
fügen, welche dem Verfasser als Beweis dienen mögen, mit welcher Theil-
nahme wir seine Erörterungen verfolgt haben.
Auf S. 95 ist uns die Frage „Wer ist der Es?" nach der Anführung
der Worte von Thiersch: „Es hat sich in den Worten gleichsam ein Vor-
rath von Formen und in der Rede ein Instrument gebildet, dessen Tasten
der Geist berührt, und auf dem er die Melodien seiner Gedanken spielt,"
nicht recht verständlich. „Es" ist grammatisches Subject, also hier „ein
Vorrath von Formen, ein Instrument." Oder steht bei Thiersch: „einen
Vorrath," so dass „sich" Dativ wäre? — S. 405 steht zum Belege, dass
Griechen und Römer nicht gern dieselben Consonanten in zwei aufeinander
folgenden Silben lassen: „Im Lateinischen heisst es so plura/is (obwohl sin-
gularis)." Wir würden die beiden Worte ihre Stelle vertauschen lassen, da
wir wegen dualis die Endung lls für die gesetzmassige halten. — Auf S. 43
führt H. Gerber als Neologismus das Wort „wohlig" aus Göthe's Fischer
an. „Ach wüsstest du, wie's Fischlein ist so wohlig auf dem Grund." Wir
bemerken beiläufig, dass Schäfer (Göthe's ausgewählte Gedichte) Fischlein
als Nominativ erklärt. Die Analogie von „wohl" scheint uns für den Dativ
zu sprechen. — S. 452 lesen wir, dass guere bei Dichtern für gueres
stehe. Es verhält sich damit umgekehrt, (jueres ist die alte, von Dichtern
noch gebrauchte, Form, und das Wort musste zu avecques gestellt werden, —
182 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
S. 471 werden niveus videri (Hör. od. IV, 2) und h.vy.bs t^«*' (Plat. Phaedr.
p. 253) mit „il fait beau voir es ist schön anzusehn" zusammengestellt als
pleonastische Ausdrücke. Da die weisse Farbe mit den Augen wahrgenom-
men wird, so ist keine Frage, dass videri und iSelv Pleonasmen sind. An-
ders aber scheint es sich mit dem französischen Ausdruck zu verhalten, da
beau ein allgemeines ürtheil ist, welches auch auf andere Eindrücke, z. B.
des Ohres bezogen werden kann. Schlagen wir das Lexikon der Akademie
nach, so steht unter „beau" il fait beau voir erklärt durch: il est agreable
de voir. In den angeführten Beispielen: il fait beau voir deux armees se
disposer au combat ; il vous fait beau voir = vous avez bien mauvaise
gräce a; il ferait beau voir (= il serait bien etrange, bien extraordinaire
de voir) cet homme, repute si sage, se livrer a une pareille folie, ist das
voir nicht pleonastisch; auch nicht, wie uns bedünkt, in dem Beispiele des
Verfassers: il me fait beau voir aller ä la fontaine des fees, was doch nur
heissen kann : il serait etrange de me voir aller h la fontaine des fees. —
S. 473 ist aus Mätzner's Grammatik s'y prendre d'avance angeführt, um ein
pleonastisehes y zu belegen. Wir vermuthen einen Druckfehler bei Mätz-
ner, da es uns nicht möglich gewesen ist, diese Redensart aufzufinden, und
auch deren Bedeutung unklar ist. Bei s'y prendre bien, s'y prendre mal
lässt sich von einem Pleonasmus des y reden. Mit avance verbindet sich
prendre in der Redensart : prendre l'avance. — S. 474 wird aus Lamartine
das „zum usus gewordene:" Ministre d'une monarchie en retraite, sa re-
traite a liii avait ete une deroute als Beispiel des dat. eth. aufgeführt.
Zum usus ist diese Redeweise allerdings geworden; sie dient aber einem an-
dren Zwecke als der dat. eth. Im Französischen sind die pronoms person-
nels conjoints und die adjectifs possessifs wesentlich atona, und der Fran-
zose kann nicht, wie der Deutsche, mein Vater und mein Vater durch
den Ton unterscheiden. Der letzten Ausdrucksweise dient die Wiederho-
lung des entsprechenden pronom personnel absolu im Dativ, so dass mein
Vater durch mon pere und mein Vater durch mon pere a moi zu über-
setzen ist. Will man den zweiten Ausdruck pleonastisch nennen, so ist
nichts dagegen zu erinnern , einen ethischen Dativ vermögen wir aber hier
nicht zu erkennen. — Auf derselben und auf der folgenden Seite wird von
dem Pleonasmus gehandelt, welcher sich zeigt, wenn Substantiva durch ein
folgendes Pronomen wieder aufgenommen und von Neuem bezeichnet wer-
den. Hier werden als Beleg die Verse Voltaire's angeführt:
Louis, en ce moment prenant son diademe,
Sur le front du vainqueur il le posa lui-meme.
Es liegt hier nahe, neben dieser Wiederholung des Subjects, welche
die Grammatiker als einen Fehler ansehn, an den usus zu erinnern, welcher
den hervorzuhebenden Accusativ des Substantivs, der in dem neueren Fran-
zösisch nicht ohne Weiteres dem Verb vorangehen darf, wie im Deutschen
und Englischen, zwar voransetzen kann, ihn aber durch das entsprechende
pron. conj. nochmals andeuten muss, z. B. ta lettre, je l"ai re^ue. — Auf
S. 482 ist Einiges von dem epitheton ornans erwähnt, welches mehr der
Kunst der Sprache, als der Sprache als Kunst angehört. Das Französische
bietet hier, wie wii' beiläufig bemerken, die interessante Erscheinung, dass
das ep. ornans von den andern durch die Stellung unterschieden wii'd.
Dasselbe steht nämlich vor dem Substantiv. Dies ist nach unsrem Dafür-
halten der richtige Schlüssel zu der schwierigen Lehre von der Stellung
des Adjectif — S. 522 ist als Beispiel von concreten Verben , welche zu
abstracten wurden, lat. stare, fr. etre erwähnt. Da so .das Missverständ-
niss entstehen kann, als ob die Form etre (essere) selbst von stare abzulei-
ten sei, so hätten wir lieber etais, etant, ete angeführt gesehn. — S. 553 wird
aus Le Sage als Beleg für den Gebrauch des Futurums statt des Präsens
angeführt: Vous saurez que je suis fils unique d'un riche ,bourgeois. Wir
möchten das saurez lieber durch: »il faut que vous sachiez" erklären. —
Beurtholluugen und kurze Anzeigen. 183
S. 568 wird für das oxrifia ttoös to aijfiaij'ofievov aus Chamfort angeführt :
on a repetc que, si Moliere donnait ses ouvrages de nos jours, la plupart
ne reussiraiont pas. Der Plural des Verb nach plupart, allein oder von
einem gen. du pluriel begleitet, ist unverbrüchliche Regel im Französischen,
und wir würden in solchen Fällen, um sie von den selteneren und mehr
ausnahms weisen zu unterscheiden, wenn eine Autorstelle angeführt wird, eine
Andeutung darüber oder nur ein kurzes Beispiel ohne Citat zu geben
empfehlen. Dieselbe Bemerkung gilt z. B. auch für S. 536, wo Racine ci-
tirt wird, um ein Beispiel von der Verbindung eines pluralis majestatis (vous)
mit dem Singular des Adjectiv (elevee) zu geben. Diese Verbindung, welche
eine nothwendige ist, erscheint durch das Citat als auf gleicher Stufe ste-
hend mit dem von dem Verfasser selbst als unsinnig bezeichneten: „der
Herr Geheimerath sind nicht zu sprechen" und dem der Umgangssprache
angehörigen nachlassigen you was statt you were. Für den mit der betref-
fenden Sprache nicht genau Bekannten können so leicht schiefe Vorstellun-
gen entstehn.
Die tj'pographische Ausstattung des Buches ist schön und der Druck
correct. Von sinnentstellenden Druckfehlern ist uns nur S. IV „Kind"
statt „Kunst" begegnet. In den griechischen Citaten stehen einige ' statt '
in der Mitte der Wörter, so S. 79 fisr^otg, Atl/s, Xsyfo. Wir bemerken
ausserdem: S. 44 küntlerischen ; S. 49 Phercydes ; S. 54 fivd'os; S. 76 zuge-
schiebeneu; S. 82 olot^; S. 86 sont statt son; te statt the; S. 106 Totali-
lät; S. 113 Elemnet; S. 119 personel; S. 120 leur 'qualites; S. 121 lan-
guage statt langage; S. 186 impositions statt imposition; S. 196 Oi8ntov\
S. 198 addoucissent; S. 262 steht in einem Citat aus Leibnitz: quoique
je crois ; S. 317 milles formes; S. 469 chargcs des mots inutiles statt char-
ges de mots inutiles; S. 570 Narm statt Harm.
G. Weigand.
Schwab und Klüpfel, Wegweiser durch die Literatur der Deut-
schen. 4. Aufl. Leipzig, 1870.
Ein sehr brauchbares Buch, das die deutsche Prosaliteratur und die
eingebürgerten Uebersetzungen prosaischer Schriften fremder Völker nicht
nur dem Titel und dem Preise nach einzeln aufiuhrt, sondern zugleich durch
eine kurze Kritik jedes Buches dem Leser einen allgemeinen Fingerzeig
über Inhalt, Form und Werth giebt. Bei Werken , die den Verfassern nur
als empfehlenswerth, aber nicht aus eigener Leetüre bekannt waren, ist die
orientirende Bemerkung weggelassen. Aufgenommen sind Werke über Phi-
losophie, Theologie, Staatswissenschaften, Geschichte, Geographie, Natur-
wissenschaften, Literaturgeschichte, Kunst, ferner Biographien, Romane,
Zeitschriften, Atlanten u. s. w. Alle rein wissenschaftlichen Bücher, die
Fachkenntnisse voraussetzen, sind übergangen, da die Verfasser nur dem
gebildeten Laien, Beamten, Lehrer, Arzte etc. einen Wegweiser bieten woll-
ten. Ein solches Werk konnte nur von einem Bibliothekar verfasst wer-
den, dem fast jede Erscheinung durch die Hände geht. Jeder Gebildete,
namentlich in kleineren Städten und auf dem Lande, wird wohl thun, sich
diesen Rathgeber anzuschaffen.
184 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
Hermann Oesterley, Die Dichtkunst und ihre Gattungen. Mit
einem Vorworte von Karl Goedeke. Breslau, 1870. 1 Thlr.
Das Buch zeichnet sich vor anderen Schriften über Poetik durch die
feinsinnige, selbständig durchdachte Einleitung über das Wesen der Poesie
und durch die reiche Sammlung von Beispielen aus, die in bequemer Weise
gleich hinter jede einleitende Bemerkung über die einzelne Gattung gesetzt
sind. In der vorzüglichen Poetik von Kleinpaul sind die Beispiele zu dem
ersten Theile über die Dichtungsformen am Ende zusammengestellt; der
zweite Theil über die Dichtungsarten entbehrt der Beispiele ganz. Für den
Lehrer ist es oft unbequem, sich die Proben aus vielen Büchern zusammen
zu suchen. Diesem Mangel hilft Oesterley vollständig ab , da er nicht nur
weniger bekannte Gedichte, sondern auch die gewöhnlichsten Volkslieder
aufführt. Indessen steht das Buch dem von Kleinpaul entschieden in der
Behandlung des Metrums, der Versarten und des Reimes nach, die mit we-
nigen Bemerkungen abgefertigt werden.
Cottbus. Dr. Rothenbücher.
Deutsche Gedichte zur deutschen Sage und Geschichte. Von
H. A. Niemeyer. 2. verbesserte und sehr vermehrte Auf-
lage. Bielefeld und Leipzig. Verlag von Velhagen &
Klasing. 1871. 8.
Die erste Auflage dieses Buches erschien 1844 und enthielt auf 250 Sei-
ten 182 Gedichte, die vorliegende dagegen 286 Gedichte auf 4.^2 Seiten;
die Vermehrung ist also eine höchst bedeutende. Aber das Buch ist nicht
bloss bedeutend vermehrt, sondern auch vielfach verbessert und verdient
vollkommen die Empfehlung, die ihm im Vorwort Professor Jünst zu Theil
werden lässt.
Die Wichtigkeit historischer Dichtungen liegt auf der Hand. Die mei-
sten Menschen lernen von dem betreffenden Theile der englischen Geschichte
mehr aus Shakespeare's Dramen als aus Geschichtsbüchern; wenn von Don
Carlos, Jeanne d'Arc, der Königin Maria Stuart die Rede ist, so steht bei
weitem mehr Menschen die Person vor Augen, wie sie Schiller vorfuhrt, als
wie sie in der Geschichte aufgetreten ist; wie viele giebt es, die bis an
ihren Tod für Don Carlos schwärmen werden. Wollte aber da der Rigorist
einwerfen, da sieht man ja gerade die Verkehrtheit, möchten nur nicht die
Dichter historische Stoffe sich wählen, damit sie nicht falsche Bilder erzeu-
gen, so darf man darauf antworten, dass , wenn sie es nicht thäten, Unzäh-
lige mit der Geschichte ganz unbekannt blieben und dass sie das unbestrit-
tene Verdienst haben, nicht bloss die Leser und Hörer überhaupt zu erwär-
men und zu erheben, sondern auch wieder in sehr, sehr vielen Menschen
erst den Sinn für Geschichte, für grosse Personen und Begebenheiten der
Vergangenheit zu erwecken. Die historischen Dramen stehen da oben an;
aber die Ballade ist auch von ganz besonderer Wichtigkeit. Eine Dichtung,
wie Schiller's Graf von Habsburg, prägt, sagt mit Recht das Vorwort, dem
jungen Gemüth eine unvergängliche Theilnahme für den Kaiser Rudolf ein,
und das ist gewiss zu schätzen, selbst wenn der geschichtliche Rudolf auch
kein solcher Verehrer der Sänger gewesen sein sollte, wie es der Rudolf
des Dichters ist. Gewiss, kleine Abweichungen von der wirklichen Ge-
schichte nimmt man gern von dem Dichter an, die Erkenntniss solcher Irr-
thümer wird ja gerade der Jugend unserer höheren Schule leicht; nur muss
nicht geradezu in den wichtigsten Punkten die geschichtliche Wahrheit um-
gestossen werden, da wird die oppositionelle Kritik bei ihr zu laut und stört
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 185
allen poetischen Genuss. Sonst aber, wie lebensvoll tritt uns die gescbicht-
liche Person in der Ballade entgegen, um wieviel anschaulicher als sie der
geschichtliche Unterricht der Jugend darstellen kann. Dann ist auch das
geschichtliche Lied von grosser Wichtigkeit. Von der mächtigen Empfin-
dung, welche eine grosse That oder Zeit in dem empfanglichen Gemüth
des Dichters erregte, geht ein guter Theil in das Gemüth des Lesers über;
dies historische oder, wenn man will, politische Lied weckt nicht bloss den
vaterländischen Sinn, sondern fördert überhaupt die ideale Richtung.
Die Zusammenstellung von Balladen also und verwandten Dichtungen,
welche Bezug auf die deutsche Geschichte haben, ist ein verdienstliches,
nützliches Werk und hat für die Schule den besonderen Werth, dass der
Unterricht in der deutschen Geschichte durch die Benutzung desselben be-
lebter wird und es einen reichen Stoff für die Recitation im Wechsel mit
nichtgeschichtlichen Poesien bietet. In diesem Sinne ist auch diese Samm-
lung ein Schulbuch zu nennen und bei dem Fleisse des Herausgebers in
der Herbeischaffung des IMaterials, der Richtigkeit des Urtheils in der Sich-
tung und Zweckmässigkeit der Anordnung den Schulen zu empfehlen. Ge-
rade jetzt aber wird diese Sammlung geschichtlicher Gedichte auf Anerken-
nung rechnen dürfen, wo durch den mächtigen nationalen Aufschwung, die
staunenerregenden Errungenschaften auf dem politischen Gebiete der Mehr-
heit die historische Welt anschaulicher und theurer geworden ist, wo in dem
deutschen Reiche dem deutschen Volke das historische Leben in dem Reich-
thum seiner Blüte verkörpert entgegentritt.
Die Vorzüge des Buches im Allgemeinen sind schon vom Ref. angegeben;
auf die besonderen Vorzüge der zweiten vor der ersten Auflage wird weiter-
hin einige Male hingewiesen werden. Da nicht zu bezweifeln ist, dass eine
dritte Ausgabe nicht lange wird auf sich warten lassen, so erlaubt sich Ref.
dem Herausgeber seine Ansicht über einige Punkte vorzulegen; der Her-
ausgeber wird daraus das Interesse, welches Ref. für seine Arbeit hat, er-
kennen. Das ganze Material ist nach vier Eingangsliedern , die das
deutsche Volk und die deutsche Sprache feiern, in vier Abschnitte getheilt,
ältere Zuit, Mittelalter, neuere und neueste Zeit; die neueste beginnt mit
dem Juli 1870; aber warum beginnt das Mittelalter mit Karl dem Grossen?
Unter der deuts^chen Geschichte begreift der Verf nur die politische Ge-
schichte. Mancher Leser hätte es vielleicht gern gesehen, wenn der Begrift
weiter gefasst, auch ein Stück Culturgeschichte hereingezogen wäre. Das
richtige Maass zu treffen, ist freilich schwierig, alle die deutschen Helden
auf dem geistigen Gebiete lassen sich nicht vorführen; aber die Dichter-
heroen, die eigentlichen Repräsentanten des Innern Volkslebens, vermisst
vielleicht Mancher. Nicht störend würde z. B. in der Sammlung Goibel's
schönes Gedicht Sanssouci sein. Und ganz consequent ist sich der Heraus-
geber auch nicht geblieben. Gedichte auf Berthold Schwarz und Gutenberg
sind aufgenommen. Allerdings lässt sich dafür sagen, dass ihre Erfindungen
auf die politische Geschichte den sichtbarsten Einfluss haben. Aber Nr. 104
führt uns auch Heinrich Frauenlob vor. — Die erste Ausgabe hatte nur
den Titel: Dichtungen zur deutschen Geschichte; der Begriff der deutschen
Sage, welches Wort die zweite Ausgabe in den Titel aufgenommen hat, ist
hier nicht in dem gewöhnlichen Sinne genommen; das, was wir meist unter
deutscher Sage verstehen, ist nicht berührt; von Sigfrid, dem Burgunden,
dem deutschen Etzel, dem sagenhaften Theodrich, ist keine Rede. Dagegen
sind bei Karl dem Grossen Uhland's beide Rolandslieder aufgenommen;
Ref. hätte gern gesehen, wenn Karl's Meerfahrt von Uhland, welches die
erste Ausgabe enthält, nicht ausgelassen wäre : es gibt ein so schönes Bild
von der majestätischen Grösse des Kaisers. "Was gar keine Beziehung auf
Deutschland hat, ist ausgeschlossen; demnach würde Ref rathen, in der
neuen Ausgabe Nr. 11, eine Legende von St. Alban, zu übergehen.
186 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
Das Arndt'sche Vaterlandslied (1. Ausg. Nr. 2) und Schenkendorfs
Muttersprache (Nr. 5) fehlen in der neuen Auflage; Ref. verniisst sie un-
gern, weniger das Fischer'sche Lied „Die alten Deutschen" (Nr. 6). Das
Klopstock'sche Bardiet „Siegesgesang nach der Hermannsschlacht" bringen
beide Ausgaben; es würde schwerlich von Jemandem vermisst werden. Das
Gedicht Nr. ]5 1. a, „Schlacht bei Zülpich" von Schier, hat viele ästhe-
tische Mängel, die Vertauschung mit dem Simrock'schen Gedichte (2. Asg.
Nr. 19) ist nur zu billigen; weshalb dagegen statt des Streckfuss'schen Ge-
dichtes (Nr. 19) „Pipin der Kurze," welches volksthiiralich geworden ist,
das von Baur (Nr. 25) aufgenommen, sieht Ref. nicht ein, höheren dich-
terischen Werth kann er ihm nicht beilegen. Statt des Gedichtes von
F. Schlegel „Karl der Grosse" (Nr. 20) finden wir jetzt ein Gedicht von
Ortlepp (Nr. 25), dessen fortlaufende Anaphora nicht gefällig klingt. Der
Auslassung des Fouque'schen Aufrufes der Sachsen (Nr. 21") wird jeder Leser
seine Zustimmung geben. „Der Stab des heiligen Bonifacius" findet sich
in beiden Ausgaben; dies Ferrand'sche Gedicht ist eine reine Legende, und
da diese dem Zwecke des Buches fern liegt, würde Ref. zur Streichung
rathen. — In die zweite Ausg. ist aus der ersten Nr. 26 „Karl's Krönung"
von Oebeke mit Recht nicht übergegangen, ebenso Nr. 28: „Heinrich der
Vogler" von Conz, für dies ist das Gedicht von Vogl Nr. 43 aufgenommen.
Diese reine Fabel von Heinrich's Vogelläng kann doch für die Jugend keinen
poetischen Werth haben, und da Vogl noch dazu Heinrich von den fränki-
schen Gesandten als Kaiser proclamiren lässt, ist es gerathen, auch dies
Gedicht auszulassen; die Aufnahme des folgenden Gedichts Nr. 44 genügt.
Die erste Ausgabe enthielt die Gedichte „Kaiser Otto I. in Italien" von
Kuhn (Nr. 30) und „Markgraf Leopold der Erlauchte" von Pichier;
beide fehlen jetzt, das letzte wohl, weil es einen zu speziellen Gegenstand
behandelt, das erstere, weil es wenig poetischen Gehalt, aber viel Schwulst
enthält; dagegen konnte Nr. 32 „Willegis" von Kopisch erhalten bleiben.
Ist das Gedicht von Schirmer Nr. 33: „Der Zweikampf Heinrich's III." aus
historischen Bedenken ausgelassen? Die Uebergehung des Gedichtes von
Milo Nr. 38: „Heinrich IV. und Friedrich von Hohenstaufen," von geringem
poetischen Werth, ist zu billigen, ebenso des nichtssagenden Gedichtes von
Seidel: „Gebet der Wenden" (Nr. 42), ferner eine Scene aus Grabbe's
Kaiser Heinrich VI.: „Barbarossa's Tod (Nr. 51); mit demselben Rechte
konnte aber auch Nr. 49 aus Grabbe's Barbarossa: „Des Löwen Abfall"
gestrichen werden, die Sprache ist doch stellenweise sehr bombastisch und
dem Charakter der Personen, wie sie uns sonst bekannt sind (nicht, wie
dieselben die excentrische Phantasie Grabbe's sich ausmalt), nicht entspre-
chend ; von der geschichtlichen Wahrheit der Thatsache will Ref. ganz
schweigen. Riickert's alten Barbarossa, den die erste Ausgabe enthält, ver-
misst ungern Ref in der zweiten, das dafür gebrachte GeibeFsche Gedicht
ist allerdings auch schön; der Kyffhäuser ist aber so populär, dass er immer-
hin in zwei schönen Gedichten gefeiert werden konnte, ja Ref. hätte auch
gegen ein drittes, das Heine'sche, das auch nicht gering zu schätzen ist,
nichts einzuwenden. Mit vollem Rechte hat jetzt der Herausgeber ausge-
schlossen das Gedicht von M. Carriere: ..Richard Löwenherz gefangen;" es
geht Deutschland wenig an und fasst den schlimmen König gar zu senti-
mental auf. Das Gedicht Nr. 59 : „Enzio's Lied im Gefängniss" ist mit
dem bessern von Zimmermann : „Enzio's Tod" vertauscht. Auch dass Nr. 73
„Die Sühne" von Schön nicht in die 2. Auss;. aufgenommen ist, wird Bei-
fall finden. Ref. würde auch das folgende Nr. 74: „Heinrich's VII. Tod"
von Assing streichen, weil der Inhalt unwahr, eine Verleumdung ist. Das
Volkslied: „Huss in Kostnitz" Nr. 84 vermisst wohl Niemand in der 2. Auf-
lage, noch weniger Nr. 86: „Huss" von Conz, schon wegen der metrischen
Mängel ; von diesem Verdammungsurtheil mag Ref. auch Nr. 87 „Ziska"
von Frankl nicht ausnehmen , diese hussitische Geschichte liegt uns etwas
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 187
fern. Das Collin'sche Gedicht „Kaiser Max auf der Martinswand" ist so
populär geworden, dass es auch wohl noch nehen dem von A. Grün (2 Afl.)
eine Aufnahme verdiente. Der Grund, weshalb Nr. 101: „Hutten's Wort,"
von Herwegh, und 104: „Luther's Bibel" von Hagenbncb, ausgelassen sind,
ist dem Ref. nicht klar. Dage^ren findet er an dem in beiden Ausgaben
stehenden Gedichte von Axt: „Der Zweikampf in Worms" (Luther) keinen
Gefallen, die ganze Auflassung soll pikant sein, ist aber gesucht. Platen's
„Pilgrim von St. Just" Nr. 117 hat einem Gedichte von Bürde „Karl der
Fünfte im Kloster" weichen müssen; warum? gegen die historische Wahr-
heit verstösst das eine wie das andere. Ein Gedicht von Kopisch aber „In
Ketten aufhängen" Nr. 115 fehlt, als zu weit von der Ileerstrasse abführend,
mit Recht jetzt. Dem in beide Ausgaben aufgenommenen Gedichte von
Dieter: „Die Pforzheimer" ist Ref. geneigt das denselben Stoff behandelnde
Gedicht von Bube vorzuziehen. Gut ist die Vertauschmig von Nr. 124
„Wallenstein vor Stralsund" mit dem Liede von Günther (Nr. 170. i*. Afl.),
obschon die Worte: „Doch mit des Schicksals Mächten führt Friedland
nimmer Krieg" eine störende Reminiscenz wecken. Statt des Gedichtes
von Weber (Nr. 126): „Magdeburgs Zerstörung finden wir jetzt ein Gedicht
(Nr. 172) von Prabenker, dem Ref. keinen höheren Schwung beizulegen
vermag. Sehr zu loben ist die Aufnahme des Gedichts von Hesekiel (Nr.
189) auf die Krönung Friedrich's I. statt des Gedichtes von Neukirch (Nr.
134); das Gedicht von Gleim (Nr. 139): „Bei Eröfiiiung des Feldzugs 175G"
hätte Ref beibehalten, auch Klopstock's „Wir und Sie" (Nr. 14G), während
er der Auslassung des Gedichtes von Victor Strauss (Nr. 179), welches doch
dem Helden unwahre Empfindungen beilegt, aus voller Seele zustimmt."
Der Reichthum des Neuen ist ausserordentlich gross und wer, wie Ref,
beide Ausgaben genau verglichen hat, muss den Fleiss des Herausgebers
loben. Bei weitem das Meiste darf auf allgemeinen Anklang rechnen; nur
über das eine und andere wird man anderer Meinung sein dürfen. Ref.
freut sich über die Aufnahme des schönen Liedes von Gerok (S. 3), des
Preisliedes CNr. 4, S. 8), des Elsässers Stöber, der Gedichte von Schlön-
bach (Nr. 9) und von Kopisch 'Nr. 10), von Lingg (Nr. 27), Kopisch (Nr.
21, 22), Tschabuschnig (Nr. 20); die beiden Gedichte auf Attila (Nr. 14
von Stieglitz und Nr. 16 von Kopisch) aber behandeln einen der deutschen
Geschichte etwas fern liegenden Stofl. Gegen Nr. 28: „Der eiserne Karl"
von Simrock, Nr. 29 „Bullerborn" von Brass, Nr. 32 „Das weisse Sachsen-
ross" von M. von 0er, Nr. 34: „Der Sachsen Untergang" von Lindner
wird wohl kein Leser Einwendungen erheben, das letzte Gedicht muss vor
Nr. 33 stehen. Zu loben ist auch die Aufnahme der Gedichte von Vincke
und Gerok, Nr. 35 und 36; gegen Nr. 42: „Ludwig des Frommen Tod"
wendet Ref. nur ein, dass es eine Stimmung hervorruft, die der strenge
Historiker verwerfen muss. Zu Nr. 46 konnte der Namen des bekannten
Verfassers vollständicr ausgesclirieben werden ; übrigens fiel die Begebenheit
in Frankfurt vor. Neu sind ferner aufgenommen: Nr. 47, 48, 49 (schön
für unsere Zeit), 50, 54, 57, alles erfreulich, es muss nur Nr. 51 vor 50
stehen. Neu is^t auch Nr. 59 „Gregor VIL" von Zeune, das Gedioht hat
aber einige ästhetische Mängel, der Schluss ist tiivial. Beistimmen wird
Jeder der Aufnahme von Nr. 68 von Strachwitz, Nr. 69 von Döring, Nr. 71
von Rob. John; neu ist auch Nr. 72 von Raupach, Nr. 74 (mit einigen
Härten) von Conz, Nr. 79 von Parncker; schön Nr. 80 von Gerok. Nr. 82
von Lingg, Nr. 83 von Bechstein: Bedenken erregt Nr. 86 von K. Hahn
wegen mancher poetischen Schwächen; Nr. 88 muss sich an Nr. 85 schlies-
sen. Neu sind ferner Nr. 89 von G. Schwab, Nr. 100, 101 von Platen, 102
von Wolfgang Müller, 106 von Oelkers (Nr. 107 besingt Berthold Schwarz),
108 von Haltaus, 109 von Geibel, (Nr. 116 ist aus der ersten Ausgabe her-
übergenommen ; weshalb in beiden die Schreibart Rhense?), 117 von Geibel,
alle zu billigen'; Nr. 125 konnte fehlen, es behandelt eine etwas entlegene
188 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
Thatsache. Neu und zu billigen sind ferner Nr. 130 von Vogl, Nr. 140 u.
141 von Hagenbach, 144 von Gerok, 145 von Böttger, 146 von Hagenbach,
147, 148 von Hoffmann, 152 von Haug, 153 von Vincke, 176 von Fontane,
178 von P. Gerhardt. Der grosse Kurfürst nimmt darauf mit Recht nicht
zu wenig Raum ein ; hier tritt die Vermehrung bedeutend hervor, die Aus-
wahl ist lobenswerth. Gegen die Aufnahme des bekannten Gedichts von
Schmidt von Lübeck: Paul Gerhardt (Nr. 184) legt Ref Protest ein; der
Inhalt widerstreitet durch und durch der geschichtliehen Wahrheit, schon
das über die Entstehung des Liedes: „Befiehl Du Deine Wege" Erzählte
ist falsch; nach dem Zeugniss der Geschichte benahm sich der Kurfürst in
der Ancelegenheit mit Gerhardt nicht blos höchst verständig, sondern auch
sehr milde und nachgiebig, P. Gerhardt aber verharrte so taub gegen jeden
ruhigen Vorschlag bei seiner vorgefassten Meinung und Absicht, dass man
sich bedenken muss, hier von Gewissenhaftigkeit zu reden; das Schmidt'sche
Gedicht ist eine totale Verkennung des Kurfürsten; würde heutiges Tages
ein Dichter die Thatsache ebenso darstellen, so würde man das Verleum-
dung nennen. — Neu aufgenommen ist Nr. 190 von Meinhold (ein komischer
Druckfehler Z. 2), auch Nr. 197 von Sternberg, welches Gedicht aber meh-
rere metrische Härten hat, 210 von Geibel, 213 von Rückert; nur Nr. 214:
„Josephine" von Gaudy scheint dem Ref. nicht in die Sammlung zu passen.
Was nun über die vierziger Jahre hinausliegt, das ist alles natürlich neu
und der Herausg. hat in Bezug auf die neueste Zeit eine sehr gute Aus-
wahl getroffen. Vielleicht Hesse sich, freilich muss jedes Buch sein Ende
finden, aus den Liedern zu Schutz und Trutz noch Einiges zusetzen; z. B.
scheinen dem Ref. Wolfg. Müller's: „Zum heiligen Krieg, "■ und Edm. Höfer's
„Marschlied" beachtenswerth, wie nicht minder die „Vaterlandslieder eines
Elsässers" von W. Hackenschmidt. Für die ältere Zeit aber ist für eine
neue und vermehrte Ausgabe auf die Historischen Volkslieder von Liliencron
aufmerksam zu machen. Von lyrischen Gedichten wünschte Ref. das schöne
Lied von F. Schlegel: „Es sei mein Herz und Blut geweiht" aufgenommen
zu sehen. Empfehlenswerth sind ferner noch: von Walther von der Vogel-
weide „Deutscher Brauch," von Hans Sachs „Die Wittenberger Nachtigal,"
Fischart's „Ermahnung an die lieben Deutschen," für die Geschichte Fried-
rich's des Grossen: „Der Preusse in Lissabon," für unser Jahrhundert:
„Germania an ihre Kinder" von H. v. Kleist, „Die drei Gesellen" von
Rückert, SchenkondorFs „Lied vom Rhein," dies und das von Rückert's ge-
harnischten Sonetten, „Deutschlands Heldentod (passend gegen die Epigonen
des Particularismus), das Lied von Bercht „Drei Heldennamen," Einzelnes
aus Geibel's Juniusliedern.
Doch es sei hiermit genug mit den Wünschen! Der Herausgeber wird
aus dem Referat das Interesse erkennen, mit dem Ref. seine schöne Samm-
lung durchgelesen hat, die Leser des Archivs, wie werthvoll dieselbe ist
und besonders in die Hände der Jugend unserer höheren Lehranstalten zu
kommen verdient.
Herford. Hölscher.
F. W. Culemann, Schlüssel zum Studium des Deutschen.
Leipzig bei F. Fleischer. 1868.
Der glückliche Erfinder dieses Buches hat, wie er in der Einleitung
sagt, „seit Ostern vorigen Jahres (1867) einer lieben Pflegetochter nebst
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 189
mehreren ihrer Freundinnen auf ihre Bitte einige Stunden Unterrieht im
Deutschen gegeben. Aliein indem er, dieser Bitte entsprechend, anfing
etwas zu lehren, was er glaubte hinlänglich von seiner Mutter, schon vor
mehr als 70 Jahren, erlernt zu haben, siehe, da begann doch für ihn selbst
erst die Zeit des rechten Lernens auf diesem Gebiete."
Von vorn herein muss es Bedenken erregen, wenn ein Mann von 70
Jahren, der nach eigenem Geständniss sich früher um Sprachforschung nicht
gekümmert hat, sich als Entdecker auf dieses Gebiet wagen will; mehr
aber noch, wenn er in seinem anerkenuenswertbem Fleisse nach Verlauf
eines einzigen Jahres aus der deutschen Sprache selbst heraus ein vollstän-
dig neues System ihrer Organisation construirt und dasselbe, bis in die
letzten Elemente zergliedert, fertig hingestellt.
Einige Grundsätze des Verfassers mögen seinen — wenigstens für unsere
Zeit — originellen Standpunkt zeigen;
„Alle \Vurzeln deutscher Wörter tragen das Gepräge unerborgter, na-
turwüchsiger Gebilde und bestehen in ihrer Urform aus zwei Elementen,
einem seelischen und einem leiblichen, d. h. aus einem anlautenden Vocal
und einem auslautenden Consonanten." Nach diesem Grundsatze, der sich
natürlich historisch nicht erweisen lässt, der aber trotzdem im Bewusstsein
des Verfassers mit unantastbarer Gewissheit feststeht, werden nun von ihm
selbst die Wurzeln deutscher Wörter gebildet.
„Jeder einzelne Laut, sowohl in der Classe der consonalen als in der
der vocahschen Wortelemente, hat seine besondere, eigenthümlich seelische
Bedeutung; auch ist daher die ursprüngliche und wesentliche Bedeutung
eines Wortes nichts anderes, als die Gesammtbedeutung der verschiedenen
Laute, welche ursprünglich bei der Bildung desselben thätig gewesen." Von
den Wurzeln werden neue Wurzeln 2., 3. u. s. w. Instanz gebildet; jede
Instanz umfasst Ableitungen 1., 2. u. s. w. Potenz. Alle Ableitungsmittel
sind aus der specitisch germanischen Anlage zur Sprachbildung mit einer
ihrer Natur entsprechenden seelischen Bedeutung ursprünglich geschaf-
fen. Das erste Beispiel des Verfassers wird uns ihn verstehen lehren, seine
Ableitungen aus der Wurzel ä, „dem einlachen Lebenslaute a, d. h. ah,
welcher die vom frischen a beseelte und vom zarten h beleibte Urwurzel
des Wortes baren bildet." Von diesem ah, Inf. ahen abgeleitet:
I. Instanz.
1. Potenz: ahen, ajen, agen, aken, angen, anken, acken, achen, aschen ;
2. Potenz: mit dem begehrlichen h, haben; hierzu hajen, hagen, haken,
hangen, hanken, hacken, hachen, haschen;
3. Potenz: Ableitungen aus den Bildungen 2. Potenz vermittelst des
„die Handlung auf ein übject überleitenden b: bhahen = phahen oder
fahen, fajen, fagen, faken, fangen, fanken, tacken, fachen, faschen.
IL Instanz.
1. Potenz: Ableitungen mit dem impulsiven jen: hahjen = häjen, hägen
u. s. w.
2. Potenz: Bildungen mit dem imitativen oder formbildlichen oder in-
strumentalen len: hählen = hälen u. s. w.
Darauf Formen mit den appropriativen men, mit den intensiven nen,
mit dem iterativen ren u. s. w.
In den Ableitungen III. Instanz treten diese ableitenden Silben jen,
len, men etc. wieder an Wurzelverben II. Instanz heran, z. B. aus häjen
das propulsive häjnen.
Natürlich hat der Verfasser nicht Belege für alle diese imaginären
Wurzelformen. Aber nichts ist leichter, als nach seiner Methode diese
190 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
nachzuweisen : hären m'it dem verstärkten oder convergirenden Anlaut g gab
ghären = kären, dieses aspirirt : skären = schären. Wer möchte zweifeln?
Verbalformen.
„Die Hauptformen, in welchen das deutsche Verbum seine Kraft zu
sprossen, Stämme zu bilden und neue Wörter abzusetzen, ofienbart, sind
folgende, 5 an der Zahl:
1) Die dritte Person des Präsens im Indicativ, anlautend in t. Es
ist dies die erste und einfachste Sprossform, so erst und einfach,
dass schon jedes Kind, ohne etwas von faktitiven Verben zu wis-
sen, bloss dem organischen Winke jenes t folgend, ganz instinkt-
mässig sein Wortmachen damit beginnt."
Eine ' unglaubliche Naivetät, mit welcher der Verfasser die Resultate
der historischen Sprachforschung zu ignoriren geruht.
Cap. 11.
Bedeutung der einfachen Consonanten.
(Pag. 57, Abschnitt 2): „So gestaltet sich z. B. aus der einfachen
Wurzel ab, durch successiven Vorschlag und Anschluss neuer Laute, zuletzt
der sechslautige Name von jenem zarten Schmelze der Blumen, der nicht
selten an einem sonnigen Frühhngsmorgen unserer Bewunderung ein eben
so zartes ah! entlockt. Jenes ah, durch Anschluss von en zum Verbum
erhoben, bildet nämlich zunächst ahen , soviel als frisch und lebenskräftig
sich regen, und mit Vorschlag des appropriativen m, mähen, soviel als Lebens-
elemente sich aneignen und in dem Munde klein machen, sodann durch An-
schluss des instrumentalen Hülfsverbums len, mahlen, soviel als, dieses
Kleinmachen durch Instrumente, wie Steine oder Mühlen und dergleichen,
betreiben; durch Anschluss des faktitiven ten, malten = mälzen = mehlig
machen, hiervon smälten, ablautend schmelzen, nicht nur flüssig, weich und
zart, sondern auch glatt und glänzend machen, was denn zuletzt jenen
Schmelz oder Glanz absetzt, mit dem die Natur wie die Kunst gewohnt ist,
ihre Gebilde auszustatten."
„„Das Gefühl der Unsicherheit der Etymologie, das gerade ihren gröss-
ten Kennern am Lebhaftesten zu werden pflegt (während Dilettanten aller-
dings zuweilen mit beneidenswerther Sicherheit merkwürdige Dinge behaup-
ten), hat seine Ursache nicht in mangelhafter Forschung."" (L. Geiger,
Ursprung der Sprache, pag. XIII f.)
Prenzlau. Dr. K. Böddeker.
Baensch's Pocket Miscellany. 25 Volumes. Leipzig, W.
Baensch.
Die vorliegende Sammlung, von welcher seit der kurzen Zeit ihrer Be-
gründung in ziemhch schneller Folge bereits 25 Bände erschienen sind, hat
sich, wie wir nach den wiederholten Auflagen schliessen dürfen, bereits eine
grosse Zahl von Freunden erworben, und nach genauer Durchsicht der ver-
schiedenen Hefte kann auch Ref. dem weiteren Fortgange dieses Unter-
nehmens den besten Erfolg wünschen. Jedes Bändchen ; enthält eine
ansehnliche Reihe höchst interessanter Aufsätze, welche vermöge ihrer Rein-
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 191
lieit und Schönheit den besten Erscheinungen der englischen Literatur bei-
gezählt zu werden verdienen; in äusserst anschauhchen, mannichfaltigen
iiildern wird uns das Leben in England und Amerika geschildert, und ob-
wohl die vei'schicdenen Abschnitte nicht von ganz gleichem Werthe sind,
so findet sich doch eigentlich nicht ein einziger in der ganzen Sammlung,
welchen der Leser entbehren möchte. Die Ausstattung ist ebenso schön
als die Auswahl, und wenn die Herausgeber und die Verlagshandlung in
gleicher Weise das Unternehmen fortsetzen, so wird es sich neben den
Tauchnitz'schen Ausgaben mit Ruhm behauptun können, und zwar um so
leichter, da es durch Mannichfaltigkeit des Inhalts, Vorziiglichkeit von Druck
und Papier, sowie durch Billigkeit des Preises die Tauchnitz'schen Bändchen
(jedes lieft einzeln zu 10 Sgr.) bei weitem übertriilt.
Allen Freunden der englischen Literatur sei Baensch's Pocket Miscellany,
das sich auch beim Unterrichte sehr gut benutzen lässt, bestens empfohlen.
Programmenschau.
Grundsätze zur regelung unserer deutschen Orthographie. Von
Dr. Paul Wessel. Programm des Gymnasiums zu Merse-
burg. 1870.
Der Verf. verlangt entschieden eine Vereinfachung unserer Schrift, und
zwar vom phonetischen Princip aus, schon um in der Schule mehr Zeit für
bessere Zwecke zu gewinnen. Die Sätze, welche er aber aufstellt, machen
gegen den bisherigen Gebrauch so entschieden Front, dass er schwerlich
leichter als die entschiedensten Verfechter der Etymologie durchdringen
wird. Nur da schreibt er dem etymologischen Princip Berechtigung zu, wo
Aussprache und Schreibung schwanken. Für den Doppelconsonanten, der
nicht auszusprechen ist und bisher zur Bezeichnung des vorausgehenden
kurzen Vocals gebraucht wurde, soll der einfache Consonant gesetzt wer-
den; „sol die quantität ausgedrükt werden, so kan dis vernünftiger weise
nur am vocal selbst geschehen." Die üblichen Bezeichnungen des langen
Vocals durch h, durch das e beim i, durch Verdoppelung bei a, e, o werden
alle verworfen. Ferner jedes h nach t, das „wol von nimand mer verteidigt
wird und gegen das ein allmäUcher vertilgungskrig bereits begonnen hat,"
muss fortfallen. Es gilt zur Bezeichnung der Quantität die Kegel: a. der
Vocal, dem zwei oder mehr Consonanten folgen, ist kurz: hart, werk (die
wenigen Ausnahmen: Mond, Sprache, Buch u. a. kommen nicht in Betracht),
b. in mehrsilbigen Wörtern ist der Vocal der Stammsilbe lang, wenn auf
denselben einfache Consonanz folgt (vgl. guter und Mutter, inen und innen),
c. beim Verbum erkennt man die Quantität des Vocals, dem zwei ungleiche
Consonanten folgen, aus der Infinitivform (vgl. wonte, holt, gewolt), d. in
einsilbigen Wörtern, in denen nach dem Stammvocal nur ein Consonant
steht, zeigt sich die Quantität an einer verlängerten Form, besonders am
Casus obliquus (gut an guter, schut an Schuttes u. a.); ausserdem steht vor
gewissen Consonanten bestimmte Quantität; aa. vor jeder Media und vor s
steht ein langer Vocal z. B. gab, krig, rad, las; bb. vor den Tenues p und
k und vor z "steht ein kurzer Vocal (vgl. knap, schrek, bliz), e. im Com-
positum wird die Quantität nach dem Simplex bestimmt. Die weichen und
die harten s-Laute will der Verf. durch besondere Zeichen unterschieden
wissen, wenn das aber nicht geht, will er das harte s nach kurzem Vocal in
der Mitte eines Wortes mit ss und nach langem Vocal mit fs schreiben.
Mit der Reform der Orthographie soll die Schule und zwar die Secunda,
in der die Bekanntschaft mit dem Mittelhochdeutschen zur Erkenntniss der
Prograramenschau. 193
Unwissenschaftlichkeit der jetzigen Orthographie führt, beginnen. Die Ab-
handlung ist selbst schon in der gewünschten Orthographie geschrieben.
Das Sprachbewusstsein unserer Tage. Von Dr. Kohl. Pro-
gramm des Gymnasiums zu Quedlinburg. 1869.
Der Zweck der Abhandlung ist, nicht den Organismus der Sprache
selbst, nicht die einzelnen Gebilde der Sprache in ihrer Entstehung und
Besonderheit, sondern die Schicksale, die sie erfahren, und vor allem Ihre
gegenwärtige Lebenskraft zu betrachten. Das Sprachbewusstsein, sagt der
Verf., zeigt sich historisch als ein Gefühl für Zusammengehörigkeit und
Werth der sprachlichen Formen. Die älteste Periode, die Zeit der Wurzel-
schöpfung, zeichnet sich vor allen durch Lebendigkeit des Sprachbewusst-
seins aus. Die Reihenfolge der sprachschöpferischen Stufen von: Wurzel-
bildung, W^urzelableitung, Flexion, Ableitung im engeren Sinne, Zusammen-
setzung. Mit jeder Stufe verliert sich (die instinktive Herrschaft über den
Sprachschatz. Die Kraft zu neuen Bildungen besitzen wir nur noch in
geringem Grade, weshalb man füglich nicht sagen kann, dass wir noch in
einer der schöpferischen Perioden stehen. Die Umgestaltung auf dem Ge-
biete der Flexion machte sich früh geltend, sie noch umfassender zu machen,
kommt dazu das Streben nach Abschleifung der Endungen. Dazu gesellt
sich das allgemeine Streben nach Kürzen, wie auch die Bequemlichkeit stö-
rend in das Leben der Sprache eingreift. Das Sprachbewusstsein in der
historischen Zeit ist so viel schwächer geworden. Verdunkelt ist es auch
durch die künstliche Einführung einer künstlichen Orthographie, die sich
vom mittelhochdeutschen Gebrauch losriss. Dazu kommt, dass unsere neu-
hochdeutsche Sprache nie Volkssprache gewesen ist. Von den Wurzeln
weiss das heutige Sprachbewusstsein nichts mehr. Gegen diese Abschwä-
chung reagirt wohlthätig die neuere deutsche Sprachwissenschaft, und diese
wird immer mehr Boden gewinnen. Besonders hat sie schon durch ihre or-
thographischen Bestrebungen zur Hebung des Sprachbewusstseins gewirkt.
Das noch fortlebende Sprachbewusstsein zeigt sich in etymologischen Be-
schäftigungen, das Streben nach Etymologie kommt nirgends stärker zum
Ausdruck als in der sog. Volksetymologie. Auch Fremdwörter erleiden
eine gewaltsame Umbildung, das Volk ändert das fremde Wort in ein be-
kannt klingendes um, man denke an die Bergamottknöpfe , an die Magen-
marseille, Armbrust, Eichhorn, an die Städtebenennungen Mainz, Mailand.
Auch deutsche Benennungen sind entstellt: SündÜut, Sauerland; zu den or-
thographischen Volksetymologien gehört die Schreibart Satyre (aber wenn
hier der Verf. eifert gegen die Schreibung Landsknecht, und Lanzknecht
nach der Art der Bewaffnung schreiben will [übrigens wäre das eine ab-
scheuliche Zusammensetzung], so irrt er sehr, denn die deutschen Lands-
knechte haben bekanntlich ihren Namen von dem Gegensatze gegen die
schweizerischen Alpensöhne). Die alten und neueren Sprachen haben eben-
so ihre Volksetymologien gehabt.
Zur Geschichte der Wortbedeutungen in der deutschen Sprache.
Von Dir. Dr. Ed. Cauer. Programm des Gymnasiums
zu Hamm. 1870. 25 S. 4.
Der Verf. bezeichnet seine Arbeit als Beitrag zur Praxis des deutschen
Unterrichts, aus der sie auch hervorgegangen sei. Bei der Vergleichung
Archiv f. n. Sprachen. XLVIII. 13
1 94 "^ Programmenschau.
der älteren mit der neuhochdeutschen Sprache liege für die Schüler eine
besonders anregende Kraft in der Verfolgung der Umwandlungen , welche
die Bedeutungen der Wörter seit dem 13. Jahrh. erfahren. Hier brauche
man nicht, wie bei der Vergleichung der grammatischen Seite, nur von
Schmerz über Verluste erfüllt zu sein, hier werde das Vermögen des Ur-
theilens, Uuterscheidens, Combinirens, überhaupt des Denkens besonders ge-
übt. Einen Ersatz für solche Uebungen biete weder die lateinische noch die
griechische Sprache. Das Material hat der Verf. grösstentheils dem Mittel-
hochdeutschen und dem Grimm'schen "Wörterbuche entlehnt. Es vertheilt
seinen Stoff' unter 4 Rubriken. I. Die Bedeutung der Wörter wird gestei-
gert, vergeistigt, vertieft: „Tugend, tugendhaft." Die moralische Bedeutung
ist schon dem 12. Jahrb. nicht fremd, aber viel öfterer findet es sich im
Sinne von Tauglichkeit, Kraft, Macht; diese Bedeutung findet sich noch bei
Burker's Waldis und im Reineke Vos. „Laster," früher Gegensatz zu Ehre,
Schimpf, Kränkung, so noch im 15. Jahrh. (zu vergl. über die Ableitung
Leo Meyer, Zeitschr.j f. vergleichende Sprachforschung 8, 251 ff'.) „Klug,"
„Weisheit" in alter Zeit mehr = peritia, doch auch schon in der Bedeutung
von sapientia (man denke hier auch an Guiscarl). „Dumm," früher, uner-
fahren, ungelahrt (man denke an den jungen Parzival; über das Wort auch
zu vgl. Grimm, Gesch. der deutschen Sprache, S. 336). IL Die Bedeu-
tung der Wörter wird abgeschwächt oder verflacht. Fast alle Ausdrücke,
die einen Stand, eine Würde bezeichnen, verlieren mit der Zeit an Inhalt
und Gewicht. So „Herr und Frau," Frau früher nur in stolzer Bedeutung:
Herrin, jetzt ganz abgeschwächt, auch „Herr" sehr geschwächt. „Reich"
eig. vornehm, herrschend, mächtig, welche stärkere Bedeutung auch, ob-
schon früh die jetzige sich geltend macht, noch länger fortlebt, so im Nibe-
lungenliede, Freidank 108, 7. — Von den zur Steigerung dienenden Wör-
tern wird „viel" fast gar nicht mehr in der alten Weise gebraucht, „recht"
allerdings noch, aber es kommt darauf an, ob das Adverb oder das Adjectiv
betont wird, „wunder" kommt in Zusammensetzungen nicht mehr so oft vor,
„hart" ist seit Jahrhunderten nicht mehr im Gebrauch; „gar" eig. vollkom-
men, ganz, ist in seiner Geltung sehr beeinträchtigt; „sehr" eig. = schmerz-
lich und sonst nur in Verbindung mit Verben, die einen schmerzlichen Zu-
stand ausdrücken, ist jetzt farblos geworden; „fast" vergl. Grimm's Wörter-
buch. — Unsere neueren Steigei-ungswörter: höchst, ungemein, äusserst, un-
endlich u. a. stehen weit hinter der sinnlichen Lebendigkeit und Kraft der
alten zurück. III. Die Bedeutung der Wörter verengt sich, spitzt sich
nach irgend einer Seite zu, so dass der heutige Gebrauch wie ein Bruch-
stück des alten erscheint. „Muth, Gemüth" die alte Bedeutung: das Innere
des Menschen, Gesinnung, Sinn, Seele (auch synonym mit Freude, s. Zarncke
zum Narrenschiff' S. 305) hat sich, jetzt ganz verloren, bis in's 17. Jahrh.
erhalten , aber Reminiscenzen finden sich in den zahlreichen Zusammen-
setzungen mit Muth. „Witz" eig. Verstand und Einsicht im Allgemeinen,
es finden sich noch im 18. Jahrhundert Spuren dieses umfassenden Sinnes.
„Neid," eig. Eifer, dann Feindschaft im Aligemeinen, doch kommt unsere
Bedeutung schon bei Walther und Freidank vor, bei Luther ist sie durch-
gedrungen. „Reue" hat im Mhd. nur die allgemeine Bedeutung des Seelen-
schmerzes, die jetzige entwickelte sich erst in der geistlichen Literatur.
„Busse," die ältere allgemeine Bedeutung von Besserung, hat sich nur in
Ableitungen (Zubusse, Lückenbüsser u. a.) erhalten. „Keusch," sonst all-
gemein besonnen, „Kosen" eig. sprechen. „Ehe," „Hochzeit" vgl. Grimm,
Geschichte der deutschen Spr., S. 71. — IV. Die Bedeutung der Wörter
erweitert, verallgemeinert sich. „Elend," „Milde," „Ergetzen" als: vergessen
machen im 13. Jahrhundert vorherrschend.
Programmenschau. 195
Die neuhochdeutsche Substantiv-Declinatlon. Dritter Abschnitt.
Vom Oberlehrer W. O. Gortzitza. Programm des Gym-
nasiums zu Lyck.
Im Programme des Jahres 1843 veröffentlichte der Verf. den 1. Theil
der Abhandlung über die neuhochdeutsche Substantiv-Declination, über die
starke Declination handelnd. Der 2. Theil, über die schwache, erschien im
Archiv XVI, 408—431. Diejenigen Forscher, welchen der ]. Theil nicht zu
Gesicht gekommen ist, kennen aus dem letzteren Aufsatz die Behandlungs-
weise des Verf. Sind nun schon in den älteren Dialekten einzelne Wörter,
die zwischen starker und schwacher Declination schwanken, so kommen im
Nhd. viele vor, die zum Theil starke, zum Theil schwache Declination noth-
wendig verlangen; diese besonderen Declinationen nennt der Verf. gemischte.
Und sie behandelt er in diesem Programme und schliesst daran die unregel-
mässige und die Declination der Eigennamen, womit die ganze Darstellung
der nhd. Substantiv-Declination ihren Abschluss findet. Es ist nicht mög-
lieb, aus dieser Uebersicht einen Auszug zu geben. Die Scheidung der
verschiedenen Formen der gemischten Declination ist eine sehr sorgfältige.
Auch dieser dritte Theil hat dieselben Vorzüge, wie die beiden ersten; zu
jenem nämlich eine ungewöhnliche Fülle von BeweisstofT, die von einer
ausserordentlichen Belesenheit zeugt. Man könnte den Einwurf machen, es
sei ein grosser Theil des Materials Schriftstellern des zweiten und dritten
Ranges, Tagesschriftstellern entlehnt; indess machen diese nicht die Mehi'-
z.thl aus und stellen ja selbst auch den Volksgebrauch dar. Auch aus die-
ser Abhandlung wird Mancher «lie Lehre entnehinen können, dass es vor-
eilig ist, von vornherein über das Gesetz von Formen ein Urtheil fällen zu
wollen, dass man in allen Dingen sich bescheiden, dem Gebrauche nach-
gehen, seine Geschichte verfolgen und über seine Berechtigung nachdenken
muss. Möge keiner unserer Grammatiker die fleissige Abhandlung über-
sehen!
Darstellung der Form und des Gebrauchs der appellatlven De-
minutiva in der neuhochdeutschen Sprache mit Berücksich-
tigung des Mittel- und Althochdeutschen. Von Dr. Gustav
Müller. Programm des Gymnasiums zu Lissa. 1870.
Der Hauptzweck und das Hauptergebniss der vorliegenden Abhandlung
ist der Beweis, dass die Bezeichnung der Deminutiva für die betr. deutschen
Wörter schlecht gewählt, dass der griechische Name dem lateinischen vor-
zuziehen sei. Aber nicht darauf beschränkt sich die Arbeit, sie untersucht
die Deminutiva nach Form und Gehalt nach allen Beziehungen und giebt
wichtige Verbesserungen zu den bedeutendsten grammatischen Werken,
selbst Grimm werden manche Irrthümer nachgewiesen. Von dem ungemein
reichhaltigen Inhalt muss sich Ref. begnügen eine Uebersicht zu geben.
Die zwei Abschnitte der Arbeit handeln von der Form und dem Ge-
brauch der Deminutiva. Die Endungen der nhd. Deminutiva sind lein, el,
eben, eichen. — lein aus mhd. elin*hat den gewöhnlichen Vocalwechsel er-
fahren, im 17. Jahrhundert steht er fest, ferner die Synkope des Vocals
vor 1 (Wörtlein = Wörtelin), stösst bei Wörtern auf e selbst dies e aus
(Häslem), namentlich bei den auf Liquiden endigenden Wörtern zeigt sich
der Unterschied gegen die alten Formen. — el ist im Nhd. in der Schrift-
sprache fast ganz verschwunden, zeigt sich aber noch in oberdeutschen Dia-
lekten, dafür auch — 1, — li, — le. — chen; der Gebrauch des k ist im Ahd.
und Mhd. seltener, aber häufig in niederdeutschen Mundarten; im Nhd. kommt
13*
196 Programmenschau.
es in der Umgangssprache schon bei Luther, in der Schriftsprache nicht
vor dem 17. Jahrn. vor; e am Schluss der einfachen Wörter fällt auch hier
fort, wie auch en (Täubchen, Gärtchen). — eichen kommt im Khd. nur als
Aushilfe vor, wo die einfache Deminutio schwierig war, nach g und ch (Jiin-
gelchen, Sächelchenj, oder in launiger Weise (Mädelchen), besonders bei
Eigennamen (Gusteichen). — Der Umlaut findet im Mhd. fast überall statt,
im Nhd. eigentlich durchgängig, aber die Vernachlässigung nimmt zu, nicht
bei denen auf — lein, aber bei — chen (Mannchen), besonders in der kosen-
den Umgangssprache (Frauchen, Trudehen, Uhrchen), auch fremde Wörter
(Onkelchen, Mamachen). Die Deminutiva auf — lein und — chen haben die
Declination der starken Neutra, das — e der Flexion fällt fort, wie die Da-
tivendung — en im Plural; die auf — el hängen im Dativ PL ein s an. Der
primitive Theil der Deminutivform hat im PI. die Gestalt des Sing., nur
wenn das Stammwort des Deminutivs den Plur. auf — er bildet, kann die
Epenthesis des — er stattfinden und unterbleiben (die Lämmchen und Läm-
merchen), der Gebrauch ist verbreiteter als Grimm annimmt, bei der Endung
— chen wenigstens (die Kinderchen, nicht Kindchen, Dächerchen; Mäderchen
aber sohlecht gebildet). Ein Deminutiv an ein Substantiv anzuhängen, ist
unbedenklich (Gartenhäuschen, Waldvögelein), ihm vorzusetzen (Gärtchen-
haus) ungebräuchlich, ausser wenn das Dem. verhärtet ist (Fräuleinstift),
von- so zusammengesetzten Adjectiven kommt nur mäuschenstill vor. Das
Geschlecht der Dtminutiva ist wie im Griechischen ausschliesslich neutral.
Synesis im Genus ist nach Demin. weiblicher Personen häufig (das Fräulein,
die), männlicher (das Knäbchen) selten. Bei üblicheren Fremdwörtern ist
die Deminution gestattet (Traktätchen) ; von deutschen Wörtern sträuben
sich manche dagegen (nicht z. B. Häuptchen), besonders die Abstracta
(wohl: sein Müthchen kühlen, Gedänkchen bei Rückert, im Mhd. geschmäck-
lin, sinnelin u. a.) Die Subst. auf — ling, den Demin. verwandt, sind alle
männlich und bezeichnen ursprünglich eine Person; sie sind fehlerhaft aus
— ing entstanden. Die von Verben abgeleiteten haben passiven (die auf
— er activen) Sinn (Lehrling), nur die von intransitiven aktiven (Flüchtling);
auch viele von Subst. und Adj. drücken das Unthätige aus (Liebling, Höf-
ling), auch das Verächtliche; — ling hängt sich besonders gern an Worte
geringschätziger Bedeutung (Weichling, Feigling, Wüstling, Römling), um
die Unselbständigkeit zu bezeichnen; in einigen dient es nur dazu, das Adj.
zum Subst. zu machen (Jüngling, Fremdling), in anderen bestimmt es das
Kleine (Zwilling, Nestling) ; die mecklenburg. Demin. auf — ing sind Neutra.
Adjectiva von demin. Form sind dem Deutschen fremd: die wenigen ver-
kleinerten Adj. werden Subst. (Liebchen, Trautchen). Die Adj. auf — lieh
drücken in den Gestalt, Farbe, Geschmack anzeigenden Adj. den Begriff der
Annäherung aus (länglich, grünlich , süsslich), was in der alten Sprache
nicht der Fall ist. Noch weniger als Adj. werden Pronomina oder Adver-
bia deminuirt (stillchen), die ostpreussische Umgangssprache ist jedoch in
dieser Deminution masslos (hierchen u. a.). Die Verba auf — ein drücken
etwas mit der Deminution der Subst. Verwandtes aus (tändeln, lächeln), ge-
nauer einzelne, den Grundbegriff" nur annähernd erreichende Phasen oder
Momente desselben (lächeln, frömmeln, liebeln), auch das Verächtliche (witzeln,
künsteln), die Hinneigung (näseln, jüdeln), das Aflfectirte (deutschthümeln,
emptindeln), das Faktitive (hänseln, verzärteln). — Was nun 2) den Ge-
brauch der Deminutiva betrifft, so kommt man, da sie nicht einer ausgestor-
benen Bildung angehören, sondern man noch fortwährend bei ihnen selbst-
schöpferisch ist, dadurch auf ihren eigenen Sinn, wenn man nicht, wie ge-
schehen ist, unwesentliche Merkmale als Hauptmerkmale ansieht, sondern
ihrer eigentlichen Heimath nachgeht. Und diese finden wir in dem Verkehr
mit Kindern. Den Kindern gegenüber gebraucht, sollen sie das liebevolle
Gemüth ausdrücken. Sie sollen also, und deshalb würden sie" besser Kose-
formen heissen, nicht einen Begrifisunterschied, sondern eine Gemüthsstim-
Programmenschau. 197
muncr angeben. Der Reichthum an Demlnutivbildungen, bei Deutseben,
Italienern, Polen, lässt auf einen gewissen Sinn für zutrauhches Wesen
schiiessen. Der Gebrauch muss demnach auch seme bchranken haben, es
muss einerseits der Redende zum Tändeln aufgelegt, andererseits der Gegen-
stand dazu geeignet sein. Das Deminutiv gedeiht am besten in der frischen
Naturluft des Naiven und Volksthümlichen, die Kultur ist ihm abhold es
kommt im Gespräch mehr vor als in der Schrift, die strengwissenschaft-
liche und die lalt amtliche Sprache entbehrt der Demmutiva; der ideale
Schiller gebraucht sie weit seltener als Göthe. Das Gefühl also erfand die
Deminutiva, der Verstand benutzte sie dann, um die Beschaflenheit des Ge-
genstandes auszudrücken ; er machte den ursprünglichen Zweck zum Mittel
die Kleinheit zu bezeichnen. Aber der eigentliche Zweck war die ^Virkung
wiederzugeben, das geht daraus hervor, dass die Deminutiva oft dieselbe
Wirkung bei ganz anderer Ursache abspiegeln, ein Väterchen ist doch nicht
ein kleiner Vater. Der Begriff der Kleinheit kommt theils durch das De-
minutiv erst hinein (Kästchen opp. grosser Kasten), theils wird er dadurch
blos veranschaulicht (ISläuschen opp. grosse Thiere). Die stimmungslosen
Demin. sind theils todter theils lebendiger Bildung; jener Art sind Fraulein,
Mädchen, Fähnlein, Märchen, Grübchen, Kanmchen , Eichhornchen Küch-
lein Quentchen u. a.; bei diesen unterscheiden wir alltäghche (Bruderchen,
Blümlein, Röslein) von solchen, für die der Einzelne einen besonderen
Drancr hat (Vetterchen, Gräslein. Tülpchen). In den Begriffen hegt etwas,
was ^ie unbedingt oder gar nicht zur Deminution eignet, es heisst nur
Heimchen, Küchlein, aber nicht Tigerchen, Wänzchen. Das Erhabene, Ge-
fährliche, Hässliche ist zur Deminution nicht geeignet wohl das Cxrosse,
wenn es ^onst zärtlich stimmen kann. Wir sagen : Mäuschen, nicht Krotchen,
Täubchen, nicht Gänschen, der kluge Fuchs heimelt uns an wir sagen:
Füchslein, „Männchen" lässt sich der Mann von seiner Frau gefallen, sonst
bezeichnet das Mitleid damit die Gebrechlichkeit des Alters (anders der
Gebrauch von Männchen und Weibchen als mas und femina animahum),
Kindlein" die Betheiligung des Gemüths, ebenso „Mütterchen" im Verkehr
mit Kindern. Wenn die im Deminutiv ausgeprägte Stimmung verschieden
gefärbt sein kann, so kann es auch dazu dienen, Spott und Verachtung
auszudrücken (Dichterlein, Schulmeisterlein, Pftiff-lein Herrchen), wie es ura-
eekebrt auch mildern kann (Närrchen, Aeßbhen). Die Kosebedeutung zeigt
lieh besonders in Eigennamen, weibliche Namen werden arglos deminmrt,
männliche seltener (Hannchen, Dorchen), m den durch Verkürzungen ent-
standenen Kosenamen (Fritz) fühlt man noch das Hypokoristische heraus,
man sagt: der alte Fritz, aber nicht Fritz der Grosse. Bei den Dmgen der
unbelebten Welt tritt die Bezeichnung einer Geinüthsstinimung zurück, die
verkleinernde Bedeutung hervor; doch wird auch hier die Bedeutung des
Wohlgefallens an der mit der Kleinheit verbundenen Zierlichkeit oder der
Geringschätzung nicht zu verkennen sein (Tischchen und kleiner Tisch).
Körpertheile werden meist in schmeichelnder Absicht mit dem Tandel-
wolte bezeichnet (Händchen, Aeuglein, Bäuchlein Beinchen) Wohnungen
Tis Deminutiva bezeichnen das Nette, aber bescheidene (Stadtchen, Hauschen,
Stübchen, aber nicht Aeckerchen, Kellerchen). Wohlbehagen drucken aus:
Pfeifchen Lämpchen, Tässcben, Räuschlein, Geschäfichen, Stimmchen, Lied-
chen, Spielchen^ Lüftchen, Stündchen. Der Begriff" der meinheit wird ver-
anschaulicht in den Demin. Bischen, Restchen, Tröpfchen, Kornchen, Här-
chen; besonders kommen sie mit der Negation vor Andere haben .ironische
Bedeutung. Oefters lautet das Primitivum grob, das Deminutiv fein (Pfot-
chen gebln, in's Fäustchen lachen); Bezeichnungen für kindliche Spiele
(Kämmerchen vermiethen) Ueben die deminutive Gestalt der Worter.
198 Programmenscbau,
Geschichte und Bedeutung des reimlosen fünfFiissIgen jambischen
Verses in der deutschen Dichtung. Von Dr. Dannehl.
Programm des Gymnasiums zu Kudolstadt. 1870.
Der Verf. giebt hier nur den ersten Theil einer ausführlicheren Abhand-
lung, deren zweiter und dritter bald nachfolgen sollen; schon dieser erste
Theil, welcher sich an Zarncke's bekannte Abhandlung anschliesst, ist an-
ziehend genug', um den Leser mit Spannung das Ganze erwarten zu lassen.
Der Fünffüssler ist eine Erfindung der neueren Zeit, er ist der Vers
des volksthümlichen altronianischen Heldengesauges, er hat hier bald 10,
bald mit weiblichem Ausgange 11 Silben: beide Versarten haben die Cäsur
nach der zweiten Hebung, so dass der Vers in zwei Hemistichien zerfallt,
von denen das erste männlich oder weiblich schliessen, das zweite mit oder
ohne Anakruse beginnen kann. Seit dem 12. Jahrh. dui'ch den Alexandriner
innner mehr verdrängt, erhielt er sich nur in der Lyrik in etwas raodificirter
Form, indem die Cäsur nach der 4. Silbe eintrat, aber den Vers nicht mehr
in zwei Hemistlche theilte. Wieder modificirt verbreitete er sich nocli
einmal im 16. Jahrhundert als vers commun, wurde aber dann ganz durch
den Alexandriner beseitigt. In Deutschland kommt der FünflÜssler schon
im Anfang des 13. Jahrh., wenn auch nur als Schlussvers der Strophe vor,
hier unabhängig vom französischen Einfluss. Dieser Einfluss zoiot sich aber
im 16. und 17. Jahrb., die Verse sind da sämmtlich gereimt und überwiegend
in Gedichten strophischen Baues. Opitz setzte die Cäsur auf die 4. Silbe.
Dies Gesetz halten Faul Flemming, Andreas Gryph, Hoffmanns -Waldau,
Lohenstein, Haller, Hagedorn fest. Reimlos wandten Pyra, Lange, Bodmer
den Vers an. — Noch früher als in Deutschland fand der altfranzösische
Vers in Italien Aufnahme und zwar für fast alle grösseren Dichtungen; hier
haben aber die Versauszüge fast durchgängig die weibliche Form, ferner
wurde die Cäsur nicht mehr an einen bestimmten Fuss gebunden, endlich
die Erhöhung einer Senkung in allen Füssen , namentlich in der siebenten
Silbe zugelassen. Diese Freiheiten benutzte auch die englische Literatur,
die den Vers zuerst reimlos gebrauchte, die vorherrschend männlichen Aus-
gänge haben ihren Grund im Wesen der englischen Sprache. Den Vers
hat Chaucer eingeführt , der seine Stoffe auch aus der französischen und
italienischen Literatur entnahm. Seitdem war der jambische Fünffüssler der
heroische Vers der Engländer und wurde auch bald für's Drama üblich, so
bestimmt 1562; doch besteht schon der Ralph Roystcr Doyster des Nicolaus
Udall 1552 zum grössten Theile aus diesen Versen. Das Versmaass erhielt
später auch den Namen des Miltonischen und wanderte nun in die deutsche
Poesie über. Hier besonders in der Epopöe bei Bodmer, Ewald von Kleist,
Zacharias, Haller, Giseke; hauptsächlich ist Zacharias zu nennen in dem
„Cortes" und in den „Unterhaltungen mit seiner Seele," der das Enjambe-
ment mit grosser Eleganz behandelt und durch die kühne Brechung des
Rhythmus, indem grössere Interpunctionen in der Mitte des Verses statt-
finden, einen lebendigen Antagonismus zwischen Sinn und Rhythmus erzeugt,
durch den das Versmaass für das Drama sehr geeignet wird. Indess war
Klopstock's Messias Ursache, dass für das Epos der Hexameter lange den
Vorzug erhielt, Andere behielten noch den Alexandriner bei; AVieland ge-
brauchte die unregelmässige Stanze. Klopstock sprach sich deshalb gegen
den Fünff"üssler aus, weil er ihm in Bezug auf die Messung der Silben zu
strenge Gesetze aufdrängen wollte; er übersah, dass das Gefühl für Quan-
tität in unserer Sprache bedeutend abgenommen hat, dass in derselben der
Accent maassgebend geworden ist. — Die ältesten deutschen Dramen sind
in dem Verse von 4 Hebungen geschrieben; doch laufen in den sog. Reihen
Fünff'ussler mit unter, so bei Paul Rebhuhn; das älteste in Fünffüsslern ver-
fasste deutsche Drama ist TirollTs Uebersetzung des Pammachius von Tho-
mas Naognory 1540. Doch blieb der vierfüssige Jambus bis auf Jacob
Programmenschau. 199
Ayrer im Gebrauch; dann kam die Prosaform, dann die Alexandriner; stel-
lenweise kommen neben diesem Fünffüssler vor bei Andreas Grj-ph und
Lohenstein. Daneben wechseln in den Dramen des 17. und 18. Jahrhun-
derts jambische Verse von zwei bis sechs und mehr Hebungen; viele Fünf-
füssler finden sich in .1. N. König's getreuer Alceste 1719 und Fredegunde
1720, in Bressand's Plejades und Hercules 1693, im Beständigen Orpheus
1684 u. a. Joh. Elias Schlegel, dessen eigene Stücke meist in gereimten
Alexandrinern abgefasst sind, übertrug zuerst ein englisches Stück, Congreve's
Braut in Trauer, im Versmaass des Originals : er hinterhess es bei seinem
Tode 1749 unvollendet. Sein Bruder aber Joh. Heinr. Schlegel verpflanzte
das enghscbe Versmaass mit allen Freiheiten in der Uebersetzung von
Thomson's Sophonisbe lübS auf deutschen Boden und übte dadurch den
grössten Einfluss, denn die frühern Versuche Kronegks in seinem Lust-
spiel „Der ehrliche Mann, der sich schämt es zu sein" (1756) und J. W.
von ßrawe's in dem Trauerspiel „Brutus" {1758) wurden bei dem frühen
Tode beider Dichter erst später bekannt. J. H. Schlegel stellte zuerst den
Satz auf, dass auch ein Vers ohne Cäsur zulässig sei. 1764 vollendete er
die Uebersetzung der Trauerspiele Thomson's und der „Brüder" Young's.
Das erste Originalstück in Fünffüsslern, welches auf die Bühne kam, ist
Wieland's Jugenddichtuns Johanna Gray, die vor 1751 in Zürich aufgeführt
wurde und nach dem Verf. mit Unrecht von Zarncke als Nachbildung des
gleichnamigen Stückes von Nie. Rowe bezeichnet wird. Genauere Prüfung
fanden die Gesetze 'des Fünffüsslers durch Meinhard's (1763) Bearbeitung
der geistvollen Aesthetik Home's (elements of criticism). 1759 dichtete
Gleim Lessing's Philotas und 1766 Klopstock'sTod Adam's in stumpfe fünf-
füssige Jamben um. Noch in Leipzig dichtete Göthe ein Trauerspiel Bel-
sazar in demselben Versmaasse, welches er vor seinem Abgange nach
Strassburg vernichtete. Herder in den Fragmenten zur deutschen Literatur
1768 empfiihl aufs wärmste das Miltonische Versmaass und verwarf den
Alexandriner. Am einflussreichsten aber wurde Lessing durch den Nathan;
seitdem ist der jambische Fünffüssler in seiner reim.losen Gestalt der herr-
schende Vers im deutschen Drama. Das Lustspiel blieb dagegen mehr bei
der Prosa. Mit Recht beklagt es schliesslich der Vf , dass Platen's gross-
artiges Bestreben, die Aristophanische Komödie mit dem Zauber ihrer
Rhythmen einzuführen, keine Nachahmer gefunden hat.
Eeimbrecliung und Dreireim im Drama des Hans Sachs und
anderer gleichzeitiger Dramatiker. Vom Oberlehrer Dr.
Rachel. "Programm des Gymnasiums zu Freiberg. 1870.
30 S. 4.
Göthe hat das Verdienst, Hans Sachs wieder aus dem Dunkel hervor-
gezoo-en zu haben, Gervinus, von seiner Persönlichkeit und Wirksamkeit ein
treffendes Bild zu geben. Noch aber bleibt vieles zu seiner genaueren
Erkenntniss übrig. Vorliegende Abhandlung ist dazu ein werthvoUer Bei-
^'Mehr als alle seine Vorgänger, auch als seine Nachfolger, leistete
Hans Sachs im Fastnachtsspieh Er ging aber weiter und benutzte alle die
Stoffe, die bisher nur für die Erzählung verwerthet waren, auch für das
Drama Aber auch in Bezug auf die Form, auf Sprache und Vers zeigt er
sich als einen denkenden Kopf Die Versart seiner Dramen sind die vier-
mal gehobenen Reimpaare, bei denen die stumpf gebundenen acht, die klin-
genden neun Silben zählen, wie bei den Meistersängern; bei gleitenden Rei-
men zählt der Vers zehn Silben. Andere Dichter jener Zeit, z. B. Paul
200 Programmenschau.
Rebhuhn, meinen, der dramatische Vers müsse immer stumpf auslaufen und
erlauben sich daher ungebührliche Zusammenziehungen am Schluss, andere
zählen auch bei klingenden Versen nur acht Silben. Die Reimkunst jener
Zeit war nicht scrupulös, um Reimwörter zu gewinnen, verändert auch Hans
Sachs den Vocal durch provinzielle Formen, er reimt darvon und Ehmonn
(Ehemann), Rom und Nom (Name), dran und darvan (davon), Sön und
kön (kühn). P. Rebhuhn ist noch freier und bedient sich der Assonanz
statt des Reims, z. ß. klagen und haben, leben und pflegen, boden und
oben, trage und aufgelade. Den Zwang des Reimpaares zu vermeiden, schal-
tete Hans Sachs öfters kurze Ausrufungen ein, ohne sie metrisch mit den
übrigen Reden zu verbinden, so namentlich in der Komödie Henno. An
anderen Stellen lässt er diese Einschaltungen selbst sich auf einander rei-
men; ja das natiirliche Gefühl für den Reim zwingt ihn dazu, paarweise
auftretende untergeordnete Figuren, im Stück oft gar nicht genannt, im
Personenverzeichniss am Ende mit gereimten Namen aufzuführen. Wo aber
jede Person ihr Reimpaar spricht, entsteht oft eine tödtliche Einförmig-
keit; das ist der Fall in des Dichters erstem Stück, dem Hoflgesindt Ve-
neris 1517; ein Fortschritt zeigt sich schon im nächsten Drama „von der
Eygenschafft der Lieb," wo das letzte Reimpaar zwischen zwei der Reden-
den getheilt ist. Dies sog. Reirabrechen , wodurch erst der vorangehende
Gedanke auch formell mit dem nachfolgenden verbunden wird , findet sich
schon bei Wolfram von Eschenbach, am genauesten aber bei Konrad von
Würzburg. Auch das Drama konnte diesen Gebrauch nicht verschmähen,
der lebendiger entwickelte Dialog führte darauf. So findet er sich zahlreich
in Keller's Fastnachtsspielen des 15. Jahrhunderts, die aber nicht alle von
Hans Folz sind, bezüglich dessen die aufgestellte Behauptung, dass er sich
durchgehends dieses Kunstmittels bedient habe, irrig ist. Hat er sie ange-
wandt, so bemerkt er es ausdrücklich. In einem niederdeutschen Stücke
N. 113, das vielleicht in's 16. Jahrhundert gehört, ist die Bindung voll-
ständig durchgeführt, es ist ein Reimpaar getheilt oder es finden sich an
der Binduugsstelle drei gleiche Reime zusammen. Sonst aber kommt fast
bei keinem der Dramatiker vor Hans Sachs dies Bindungsgesetz vor, nicht
bei Pamphilus Gengenbach, noch bei Nicolaus Manuel; sein Vorgänger war
sein Landsmann Hans Folz ; aber was dieser planlos und unregelmässig an-
gewandt, hat Hans Sachs mit Bewusstsein durchgeführt. Die Bindung
durch Reimtheilung wird nur unterbrochen beim Auftreten und Abgehen
der handelnden Personen. Nicht angewendet ist sie z. B. in der Comödie,
dass Christus der wahre iVIessias sei 1530, weil dies eigentlich kein drama-
tischer Dialog, sondern ein auf unnatürliche Weise dramatisirter lehrhafter
Stoff, gleichsam ein Zeugenverhör ist. Aehnlich in der Tragödie: Der
Caron mit den abgeschiedenen Geistern, nach Lucian bearbeitet, in allen
Uebertragungen, den Eunuchus ausgenommen, in denen er sich nicht frei
bewegt, wie im Henno, Pluto, Menaechmi. Am regelmässigsten ist die Bin-
dung in den Fastnachtsspielen, worin es ihm kein Andrer gleich thut, ganz
ähnlich nur das niederdeutsche Stück Nr. 114 in der Kellerschen Sammlung.
Wie nun der Bindung durch den Reim gegenüber ein volles Reimpaar auf-
fäüig Auftreten oder Abgehen einer Person, eine Pause bezeichnete, somusste
der grössere Abschnitt, der Aktschluss, noch schärfer markirt werden. Das that
Hans Sachs zuerst durch den Dreireim. So schliesst jeder Akt, auch der
Prolog. In den einaktigen Stücken, also besonders in den Fastnachtsspie-
len, fehlt dagegen der Dreireim fast gänzlich, auch am Schluss, den in der
Regel Hans Sachs mit seinem Namen zeichnet, da man das Reimwort der
letzten Zeile gibt. Von den Dramatikern dieser Zeit kennen nur zwei den
Dreireim als Abschluss des Aktes, der Augsburger Meistersinger Sebastian
Wild und Jacob Ayrer, beide von jenem abhängig. Der letztere hat das
Bindungsgesetz noch regelmässiger als Hans Sachs durchgeführt, weil er alle
seine Stücke für die Auffuhrung schrieb, auch hat er durchaus den Dreireim
Programmenschau. 201
beim Aktschluss verwendet, doch nicht regelmässig im Prolog und Besclilnss.
Der Dreireim zur Hervorhebung grösserer Abschnitte findet sich schon im
13. Jahrh. mehrfach in Gedichten, z. B. in Wiret von Gravenberg's Wiga-
lois, auch schon früher im Drama, mitten im Text ohne Zweck, wo er aber
nur als Verirrung anzusehen ist, z. B. auch in Hnns Sachs' Fastnachtsspiel
„Der farendt Schüler im Paradeiss," in Petrus Meckel's schön Gesprech,
darin der Sathan u. s. w," vielfach bei Pamphilus Genzenbach im „Noll-
hard" und in der Gouchmat. — Fanden wir nun die Keimbrechung, so wie
den Dreireim in älterer Poesie schon vor, so ist wohl anzunehmen, dass sie
durch den Meistergesang, der ja die alten Traditionen pflegte, fortgepflanzt
waren, die Dramatiker, welche beide Gesetze beobachten, sind aus den
Meistersingern hervorgegangen. In neuerer Zeit hat Schiller den Reim in
Wallenstein's Lager mit Glück verwendet. Schon das Metrum, das viermal
gehobene Reimpaar, erinnert trotz einzelner Abweichungen an das alte
Drama. Ganz ähnlich wie bei Hans Sachs dient die Benutzung des Reims
zur Verknüpfung der Reden, so die einfache Theilung des Reimpaares in
Sc. 1, die Anknüpfung an das schliessende Reimpaar der voraufgehenden
Rede durch einen dritten Reim in Sc. 11 (Wachtmeister und Dragoner),
Anschluss eines vollen Reimpaares an eine einzelne Reimzeile der folgen-
dnn Rede Sc. 11 (1. Arkebusier und 1. Kürassier) oder Verschlingung der
Reime Sc. 6 (Wachtmeister und 1. Jäger). Eben in dieser Verknüpfung
beruht die Lebendigkeit und Einheit.
Der deutsche Michel. Vom Oberl. Dr. AI. Muncke. Programm
des Gymnasiums zu Gütersloh. 1870.
S3'
Der deutsche Michel spielt nicht blos in unserer Culturge&chichte, son-
dern auch in unserer Literatur, wir brauchen nur an Göthe's Musen und
Grazien in der Mark zu denken, eine Rolle, so dass es passend erscheint,
auch im .Archiv auf die eingehende Behandlung des Gegenstandes aufmerk-
sam zu machen. In der Göthe'schen Zeit lächelte man über den unpoliti-
schen Michel, das Abbild des eigenen Volkes, aber später, als der National-
geist erwacht war, ärgerte man sich über sich selbst und ging mit Spott
und Bitterkeit dem Michel zu Leibe. Im 17. Jahrhundert heisst der tapfere,
kühne Reiteranführer im SOjährigen Kriege Hans Michel Elias von Oben-
traut der deutsche Michel, da war also der Name ein Ehrenname, gleich-
zeitig aber und noch früher bezeichnet dasselbs Wort einen biedern, aber
unbeholfenen und beschränkten Menschen. Unser Michel aber stammt von
dem alten Schutzpatron Deutschlands, dem Erzengel Michael. Der Michael
der Bibel ist Hüter und Vorkämpfer des Volkes und der Sache Gottes
gegenüber den infernalischen Mächten. Im 5. Jahrhundert wird zuerst die
Verehrung des Erzengels in der abendländischen Kirche erwähnt Seit der-
selbe in Rom am Mausoleum Hadrians am 29. Sept. zur Abwehr der Pest
erschienen war, heisst jenes Denkmal die Engelsburg und wurde von da an
am 29. Sept. ein Michaelisfest gefeiert, welches sich zu einem Engelfest
verallgemeinerte. Aus Carls d. Gr. Zeit haben wir lat. Hymnen auf Michael.
Wallfahrten , namentlich aus Deutschland , wurden zu fernen Stätten des
Michaelcults, nach Italien und Frankreich, gemacht. Der Michael des Mit-
telalters ist schon ein ganz anderer als der biblische. Das kam daher, weil
auf ihn viele charakteristische Züge des höchsten heidnischen Gottes, des
Wuotan, übertragen sind. Wuotan ist der Schlachten- und Siegesgott, so
berührt er sich mit dem streitbaren Erzengel, der nun als Kriegsengel er-
scheint, reitend, mit geschwungenem Schwert ; so ist sein Bild auf des
Reiches Sturmfahne. Wie Wuotan, ist auch Michael Führer der Seelen der
Abgeschiedenen. Der Michaelistag, der 29. Sept., war die Zeit des altger-
202 Programmenschau,
manischen Neujahrs, um welche Zeit Wuotan als Schutzgott des neuen Jah-
res seinen Einzug in's Land hielt. Opferfeste wurden dann gefeiert, und
diese Laben sich noch hier und da als Volksfeste erhalten.
Bemerkungen zu Shakespeare's Julius Caesar. Vom Oberl. Dr.
Wiarda. Programm des Gymnasiums zu Emden. 1870.
25 S. 4.
Der Vf. neigt sich in seiner Betrachtung der Shakespeare'schen Dramen
dem Standpunkte Rünielin's zu. Er hat auch, ohne die wunderbare Schön-
heit des Gedichtes zu verkennen, für den Julius Caesar hervorzuheben,
dass manches sich nur als schwach motiviert herausstelle und dass der Dich-
ter bei seinem Schaffen vor Allem auf die scenische Darstellung sein Augen-
merk gerichtet habe, dass die Geschöpfe seines Genies zum echten wahren
Leben erst auf der Bühne und im Spiele eines grossen Künstlers erwachen.
Indessen lassen sich gegen manche Einwürfe, die in Bezug auf ]VIoti\'irung
und selbst Charakteristik erhoben worden, Einwendungen machen. Der Vf.
sieht öfters da eine Flüchtigkeit, wo der Dichter nicht vollständig seine
Quellen abschreibt und die Motivirung, welche jene bieten, nicht angibt.
Es ist ihm auflallend, dass von den Republikanern so wenig Anstalten ge-
troffen sind gegen einen Widerstand der imperialistischen Partei oder gegen
einen Auflauf der vielen Veteranen, die sich in Rom befanden. Dieser
Mangel liegt aber doch wohl in dem idealistischen Charakter derselben,
die ja überhaupt die vielen Verhältnisse zu wenig erwägen, nur ihrer Idee
nachgehen, und zwar nicht blos Brutus, sondern auch Cassius. Der Vf. be-
wundert mit Jedermann die "Windungen, durch welche Antonius sich durch
das Labyrinth der Situation hindurchwindet, er findet es aber auffallend,
dass dem Brutus in seiner Unterredung mit Antonius gar kein Zweifel
kommt, ob dessen schönen Worten die wirkliche herzliche Ueberzeu^ung
von der Gerechtigkeit der That zu Grunde liege, ehe dafür die Gründe
entwickelt sind. Aber eben darum kommt dem Brutus kein Zweifel, weil
ihm selbst diese Gerechtigkeit so unzweifelhaft ist, er auch bei anderen
ehrlichen Leuten, und dazu gehört ihm doch Antonius, dieselbe Ansicht als
eine sich leicht ergebende voraussetzen muss. Dass nachher der Streit
in Sardes zwischen Brutus und Cassius so rasch endet, dazu müssen wir
wohl den Grund in Brutus weichem Gemüth suchen. Der Vf hätte das
Drama lieber „Caesars Tod" betitelt; da erschien der Dictator doch zu pas-
siv; seine historische Grösse war nicht zu begründen, die Begründung liegt
vor dem Dr.ama; im Drama wirkt er doch, so wenig er sich auch bewegt,
nach allen Seiten auf alle Geniüther, und sein Geist d. h. seine Gedanken
sind fortdauernd mächtig auch im zweiten Theile. Das aber ist richtig,
dass die Hauptperson des Gedichtes Antonius ist. Brutus ist trotz des
Lobes, welches ihm aus feindlichem Munde zu Theil wird, nicht der echte
Römer. Trotz einzelner Ausstellungen kann aber der Vf. nicht genug die
Fülle der Schönheiten unseres Gedichtes loben; die Begeisterung, mit der
er darüber spricht, widerlegt genug die Meinung, wir hätten es hier nur
mit einem kalten Kritiker zu thun; die Vereinigung des poetischen Gefühls
und besonnener Prüfung macht die Arbeit zu einem würdigen Gegenstande
genauerer Beschäftigung,
Programmenschau. 203
Bild und Gleichniss in ihrer Bedeutung für Lessing's Stil.
Von Dr. Cosack. Programm der Realschule I. O. zu
Danzig. 1869. 16 S. 4.
Das Treffende der Schreibweise Lessing's, sagt mit Recht der Vf., ist
auf den lautern Quell des Ganz-Verstehens und Ganz-Wissens zurückzu-
führen; daraus schöpfte er das jedesmal dem Begriffe ganz entsprechende
Wort. Daher seine Kraft ausdrücke und der vielfache Gebrauch der Sprich-
wörter. Aber Bild und Gleichniss ziehen sich dergestalt durch Lessing's
Prosa hin, dass sie nicht etwa einen möglicher Weise auch überflüssigen
Zierrath bilden, sondern dass sie derselben ihr eigentliches Gepräge zu
geben bestimmt sind. Diese Bilder und Gleichnisse hat der Vf. nun sämmt-
lich aufgesucht und ein Inhaltsverzeichniss nach den Bänden gegeben. Am
liebsten und häufigsten gebraucht Lessing das Bild in seinen polemischen
Schriften, und es entspricht immer dem Charakter der Schrift, immer gibt
es die Quintessenz seiner Gedanken mit überraschender Aehnliclikeit. Als
er sich einmal dem Pastor Göze zu Gefallen auf einem Bogen aller Bilder
sorgfältig enthalten hatte, sah er es selbst für eine aussergewöhnliehe Lei-
stung an, so wenig ist ihm das Gleichniss etwas Nebensächliches. Nicht
der Zufall, nicht ein glückliches Talent bietet ihm diesen BiMerreichthum,
er ist die Frucht ernster Arbeit, seine Prosa hat ihn von jeher mehr Zeit
gekostet als seine Poesie. Sie bilden theils den Gipfel, auf den er lossteuert,
theils den Ausgangspunkt, bei dem er dann nachher die Beziehungen her-
vorhebt. Er schafft nicht blos eigene Bilder, er entnimmt Zweckentspre-
chendes auch aus fremden Quellen, aber gestaltet es zu seinem eigenen Be-
sitz um.
Lessing's Verhältniss zu Shakspeare. Von Dr. L. Rovenhagen.
Programm der Realschule I. O. zu Aachen. 1870. 28 S. 4.
In Lessing's Sarah Sampson haben, wenn auch beschränkt, die Freiheiten
der englischen Bühne zuerst Eingang gefunden , ist die enge Begi-enzung
der drei Einheiten aufgegeben. In der Vorrede zu Tliomson's Trauerspie-
len stellt er die Kunst des Dichtens, die Leidenschaften vor unseren Augen
sich entwickeln zu lassen, der starren äussernn Schönheit voran. Er fing
an, sich mit Shakespeare eingehend zu beschäftigen (vgl. Brief vom 28. Juli
1756"). In Folge davon machte er sich an einen nationalen Stoff, den Dortor
Faust. In dem 17. Literaturbriefe (\7f>9) verwirft er entschieden die geist-
lose Nachahmung der Franzosen und erkennt Shakespeare und die Noth wen-
digkeit des Natürlichen im Drama an. Die concise klare Prosa in Philotas
ist Folge der Einwirkung des englischen Dramas. Vielfache Einwirkungen
Shakespeare's zeigen sich auch in INIinna von Barnhelm. In der Dramaturgie
zieht L. Sh. immer nur zum Vergleich heran, aber gebraucht ihn als Maass-
stab, woran die anderen Dichter gemessen werden. In der Naturwahrheit,
in der Kunst der Charakterzeichnung, in der Sprache, in der Bühnenkennt-
niss zeigt L. in seinen eigenen Dramen den Einfluss Shakespeare's. Die Ge-
gensätze des Tragischen und Komischen in demselben Drama vereinigt
treffen wir bei L. nicht an , wie bei Sh., aber die Einwürfe, die man gegen
diese Weise Shakespeare's gemacht, hat er gut widerlefrt. Er beweist,
dass Sh., wenn auch unbekannt mit Aristoteles, doch mit ihm mehr überein-
stimme als die Franzosen, welche sich immer auf ihn beriefen. In Emilia
Galotti zeigt sich in der Anlage und in den Charakteren, auch darin, dass
das Gedicht in die Reihe der grossen Stnatsactionen eintritt, der Einfluss
Shakespeare's, während er zugleich an den Regeln der Alten festhält und die
Einheit der Zeit nicht aufgibt.
204 Programmenschau.
Lessing als Lustspieldichter. Von Franz Graul. Programm
des Gymnasiums zu Soest. 1869. 31 S. 4.
Der Vf. bespricht sämmtliche Lustspiele des Dichters, über einige der
Jupendgedichte mit den Ansichten , die vor langen Jahren Ref. ausgespro-
chen hat, übereinstimmend, bezüglich anderer abweichend. Seit Ref. sich
über Lessing hat vernehmen lassen, sind die bedeutenden Arbeiten von
Danzel, Guhrauer, Stahr, Koberstein, Hettner erschienen, so dass alles wie-
derum zu besprechen zu viel Raum beanspruchen würde. Zu seiner mit
Liebe zu Lessing geschriebenen Arbeit will Ref. dem Verf. nur einige kleine
Beiträge geben, die vielleicht interessant für ihn sind. Lessing's Juden
hatten 1781 die Ehre, von Ebert übersetzt zu werden: Les Juifs, comedie
en un acte par Lessing, traduite de l'allemand par J. H. E., nach der Allg.
deutschen Bibl. Anhangr zum 37 — 52. Bd. S. 368 etc. ist die Uebersetzung
schlecht. Lessing's Freigeist wurde noch 1766 in Berlin mit vielem Beifall
aufgeführt, vgl. Mendelsohn an Abbt in Abbt's freundschaftlicher Corre-
spondenz 1771, S. 396, und eine neue Bearbeitung des Gedichts besitzen
wir von F. W. Gubitz, 1865. lieber den Schatz handelt ein besonderes
Programm von Theodor Lazar: DerTrinummus des Plautus und seine Nach-
bildung durch Lessing. Znaim 1865; ferner: Eug. Sierki : Lessing als an-
gehender Dramatiker, geschildert nach einer Vergleichung seines Schatzes
mit dem Trinummus des Plautus, eine ästhetisch-literarhistorische Abhand-
lung. Königsberg 1869. In's Französische übersetzt erschien der Schatz
mit Sarah Sampson, dem Freigeist, dem Juden im Theätre allemand par
Junker et Liebault. T. L IL Paris 1772. Zu vergleichen ist auch, was
VoUbehr de Trinummo fabula Plautina. Programm. Rendsburg 1861, p. 16.
über Vorzüge und Schwächen des Schatzes urtheilt, und nicht uninteressant
die Notiz, dass in Königsberg der Schatz zuerst 1755 auf dem Ackermann-
schen Theater aufgeführt wurde und deshalb Novbr. 1855 noch eine Wie-
derholung dort stattfand, vgl. Nationalzeitung 9. Decbr. 1855 Nr. 576. —
Schliesslich spricht der Verf. noch kurz von Minna von Barnhelm. Da er
einmal Göthe's Urtheile erwähnt, hätte er namentlich die ältesten Urtheile
nicht übergehen sollen, s. den Brief von 1768 in Göthe's Briefen an Leip-
ziger Freunde, S. 74, 75, 152; anziehend ist auch aus 1770 Herder's Pane-
gyricus in den Briefen an seine Braut, s. Herder's Lebensbild HL I, 135 bis
137; aus 1771 ist auch auf Ramier's wackeres Wort zu verweisen, in dem
Briefe an Knebel (s. Knebel's Nacblass II, 33). Von den Uebersetzungen
der Minna erwähnt der Vf. S. 28 mehrere; die italienische wurde nicht zu-
erst 1791 in Neapel aufgeführt, sondern 1790 sah sie dort F. L. W.Meyer,
vgl. Zur Erinnerung an Meyer I, 295. Eine französische erschien zu Berlin
1772, vgl. Allg. deutsche Bibl. 23, 249. Irrthümlich sind die Angaben S. 27.
Vollendet ist die Minna erst 1765. Die erste Aufführung war in Hamburg
28. Sept. 1767 (nicht 68), vgl. den interessanten Bericht in Schütz, Flam-
burger Theatergesch. S. 372, 344, 347. Die erste Aufführung in Berlin war
1768 und zwar 21. März, die Jubelaufführung 21. März 1868, bis dahin in
Berlin 168 mal aufgeführt, vgl. die Beschreibung in der Beilage des Preuss.
Staatsanzeigers 1868. Nr. 76. Die neueren Schriften über Minna sind all-
gemein bekannt.
Göthe's Stellung zu den Naturwissenschaften. I. Theil. Von
Dr. Eduard Krüger. Programm des Gymnasiums zu Ma-
rienwerder. 1869.
Dasselbe Thema behandelte ausser Virchow's bekannter Schrift der
allerdings sehr unvollständige Aufsatz von A. Clemens im Morgenblatt 1847,
Programmenschau. 205
Xr. 34. 35, Oscar Schmidt, Göthe's Verhältniss zu den organischen Natur-
wissenschaften. Berlin, 1853, Helmholtz in der AUgem. Monatsschr. f.
Wissenschaft und Literatur. Mai 1853, Ü. Schade in der Vorrede zu den
Briefen des Grossh. Carl August's und Göthe's an Döbereiner; — aber mit
allen genannten Aufsätzen kann an GründHchkeit die vorliegende sich in
einen Rangstreit dreist einlassen; auf alle Momente eingehend, zeigt sie ge-
nau, was auf Göthe's Stellung zu den Naturwissenschaften einwirkte und
wie diese sich in den besonderen Lebensverhältnissen gestalteten. In dem
ersten, allgemeinen Theile bespricht der Verf Göthe's Vorbereitung für die
Naturforschung. Seine Naturanlage eignete Götbe vorzüglich zur Naturfor-
schung: seine scharfen Sinne, seine Körperkraft, EmpfängHchkeit für Siu-
neseindrücke, Neigung die verschiedensten Erscheinungen in Zusammenhang
zu bringen, seine Phantasie und Combinationsgabe. Dazu kam die bewegte
Umgebung, der vielseitige Unterricht, die frühen Zeichenübungen, Verkehr
mit Handwerkern, häutiger Aufenthalt in freier Natur, Excursionen und
Reisen. Auf der Reise nach Leipzig sieht er ein eig» nthümliehes Natur-
phänomen, dessen genauere Betrachtung den denkenden Naturforscher ver-
räth. In Leipzig wird er durch Hofrath Ludwig zuerst in die scbulgerechte
Naturbetracbtung hineingeführt. Auf seinen btreifereien wird er auf das
Kleinleben der Natur aufmerksam, der Besuch der Dresdener Bildergallerio
war von Einfluss auf sein künstlerisches Anschauen, nicht die Antiken reizten
ihn, sondern die Landschaftsgemälde; er wollte immer unmittelbar an der
Natur arbeiten. Zurückgekehrt wird er von der einseitigen Betrachtung der
Gestalt durch Fräulein von Klettenberg eiuigermaasssen abgezogen; er macht
chemische Versuche, aber ohne Methode. Bald wurde die Gestalt wieder
immer wichtiger für ihn. Strassburg regte seinen Künstlersinn von neuem
an; an dem Münster begann er die Gestalt in ihren Einzelheiten zu be-
greifen, auf seinen Excursionen achtet er auf die Bodenverhältnisse und den
Lauf der Wasser; sein Umgang führte ihn zu medicinischen Beschäftigun-
gen; aber er benutzte sie mehr dazu, um sich selbst von aller Apprehension
gegen widerwärtige Dinge zu befreien. Seine naturhistorischen Studien
waren lückenhaft, aber sie dienten doch dazu, seinen auf lebendiges Wissen
und Erfahren gerichteten Sinn zu stärken. Nach Frankfurt zurückgekehrt,
wird er durch seine Stimmung und seinen Umgang zu einer krankhaft sen-
timentalen Naturanschauung geführt (vgl. das Gedicht : Der W^ anderer), diese
Richtung erhält reiche Nahrung durch das bewegte Gefühlsleben in Wetzlar;
aber eben durch den Werther macht er sich davon los. Heitere Naturbilder
machen wieder sein grösstes Glück aus ; die Rheinreise mit Merck führt sei-
nen Blick wieder auf die Kunstbeschauung. Er studiert die Werke der
Niederländer, wendet sich zur Oelmalerei; durch Lavater erhält die Betrach-
tung der Gestalten neue Bedeutsamkeit. Der Umgang mit Fritz Jacobi
und das Studium Spinoza's zog ihn zu philosophischer Betrachtung der
Natur, aber die Liebe zu Lili rasch wieder zu halb lebenslustigem halb
künstlerischem Naturgenuss. Der lyrischen Stimmung wirkte heilsam die
Schweizer Reise entgegen und der Verkehr mit Lavater; aber dass der
Naturerkenntniss erst Naturkeuntniss vorausgehen müsse, kam Göthe noch
nicht zur vollen Klarheit. Er suchte überall nach einem Leitfaden. Wo er
das Ganze aus der genauesten Erkenntniss des Einzelnen zu begreifen
suchte, seine Methode die genetische war, ist er auch als Naturforscher be-
deutend; wo aber diese Methode sich seinem Schauen nicht selbst darbot,
wie bei der Behandlung physikalischer Fragen, irrt er.
So wendet sich der Verf. nun im 2. Abschnitt zu Göthe's Forschungen
in der organischen Natur. In Weimar nahm er seine naturhistorischen
Studien wieder auf, die osteologischen und zoologischen Sammlungen inter-
essiren ihn, unter Loder beschäftigt er sich wieder viel mit Anatomie. Die
naturhistorischen Schriften Göthe's, soweit sie die organische Natur behan-
deln, theilt der Verf. in drei Classen: 1) solche, in denen G. die Resultate
206 Programmenschau.
seiner Forschungen niedergelegt hat, besonders seine Metamorphose der
Pflanzen, 2) in denen G. die Geschichte seiner Studien erzählt; 3) solche,
ineist aphoi'istisch , die theils die Aufnahme und weitere Entwicklung von
Göthe's Ideen bei seinen Zeitgenossen, theils die fernere Ausführung seiner
angebahnten Untersuchungen von seiner Seite betreffen, Dass G. mit Un-
recht ein eifriger Parteigänger Darwin'scher Theorien genannt sei, weist der
Verf. niioli ; nur eine gewisse Verwandtschaft sei unverkennbar. Die weitere
Untersuchung der in den naturhistorischen Schriften niedergelegten Sätze
liegt den Zwecken dieses Archivs ferner.
Zu Göthe's Iphigenle. Vom Oberl. Dr. Köpke. Programm
des Gymnasiums zu Charlotten bürg. 1870.
Der Vf. behandelt die Frage, welche besonders O. Jahn In seiner be-
kannten anziehenden Schrift berührt hat, nämhch wo und aus welchen Grün-
den Göthe den dem Schauspiele zu Grunde liegenden Mythus geändert hat.
Auch er kommt in der eingehenden Untersuchung zu dem Ergebniss, dass
in dem, was nebensächhch war, Göthe die Griechen nachgeahmt hat, im
Wesentlichen, Charakteristischen nicht, dass das innere Seelenleben seiner
Personen modern ist. Wie die Anlage des Dramas christlich gedacht, die
Handlung von christlichen Elementen ganz und gar durchzogen ist, so sind
auch die Charaktere modern, vor Allem Iphigenie, was sich bei ihr nicht
erst bei der Katastrophe zeigt, sondern schon von Anfrug an; keine Gestalt
der Sage ist aher unter Göthe's Hand so verändert wie der König. Und
auch alle anderen Verhältnisse im Drama, auch die Motive der Thaten in
der Vorfabel sind veredelt durch die reine menschliche oder besser christ-
liche Liebe, das wilde Tantalidengeschlecht trägt nicht mehr das Kainszeichen
liebloser Selbstsucht und roher Rachgier, ihre schwersten Thaten erfüllen
uns nicht sowohl mit Entsetzen als vielmehr mit innigem Mitleid für die
Unglücklichen, welche die verletzte Liebe zu ihrem Thun treibt. Alle diese
Punkte hat der Verf. in feiner Weise in warmer Darstellung besprochen,
die Abhandlung ist als ein werthvoUer Beitrag zur Götheliteratur zu bezeich-
nen. Dieselben Fragen, die hier behandelt sind, hat aber nicht bloss Jahn
berührt; abgesehen von der Schrift Rinne's: Göthe's Iphigenie und das
griechische Alterthum (1849), die allerdings auffallende Sätze aufstellt, sind
dem Kef. noch bekannt das Lingener Programm von Reibstein, zwei Offen-
burger Programme von Trunk (1864 und 18G8), zwei Geraer von Meyer
(1850 und 1852), die Schrift von Schwarz: Die Iphigeniensage und ihre dra-
matischen Bearbeitungen (1869), wozu auch noch Zelter's Bemerkungen über
den antiken Charakter des Gedichts (Briefwechsel mit Göthe IV, 141) ver-
glichen werden können; über die eigenthümliche Darstellung der Furien, die
trotz ihrer Verinnerlichung auch bei G. noch ihren objektiven Charakter be-
halten, ist der ausführliche Aufsatz von Sievers im Archiv sehr lesenswerth.
Ueber Göthe's Elpenor und Achilleus. Vom Dir. Dr. Fr.
Strehlke. Programm des Gymn. zu Marienburg. 1870.
16 S. 4.
Die noch immer ziemlich verbreitete Meinung, als ob Göthe vor seiner
italienischen Reise dem classischen Alterthum fern gestanden habe , wider-
legt der Verf. auf's bündigste mit brieflichen Aeusserungen Göthe's und
vielfachen Arbeiten, die eine sehr genaue und fortdauernde Beschäftigung
Programmenschau. 207
mit dem Alterthum lange vor der Versificirung der Iphigenie beweisen.
Indem er sich dann zu dem Elpenor wendet, in dem der Dichter einen Stoß
im Sinne des Alterthiims zu behandehi unternalim, theilt er zunächst sänuiit-
liche Stellen aus den Briefwechseln und aus Riemer's Mittheilungen mit,
welche über das Entstehen des Gedichts handeln. Er gibt nun den Inhalt
des Fragments an, und bespricht die Versuche der Ausführung des Plans.
Am bekanntesten ist der von Viehofi im Archiv 1844, 121 — 126 aufgestellte,
gegen den aber von anderen Seiten Einwendungen gemacht sind. Gegen
die von Biedermann allerdings mit vielen Gründen behauptete Ansicht, als
ob Göthe einer chinesischen Quelle gefolgt sei, hat er das gerechte Beden-
ken, es müsste irgendwo eine solche Quelle von dem Dichter selbst ange-
deutet sein. Alle jene Fortsetzungen schienen ihm aber mit Recht grossen
Schwierigkeiten zu unterliegen; keinen Plan, meint er, habe Göthe befolgen
können, und was er auch ursprünglich im Sinne gehabt, es habe ihm
nachher fehlerhaft geschienen und deshalb sei der Elpenor als Torso
hinterlassen. Die alte Vorliebe, was dem Verf. unbekannt geblieben zu
sein scheint, scheint Viehoft' für das Fragment bewahrt zu haben, indem er
in seiner Verskunst einen Abschnitt daraus zu metrischen Uebungen benutzt.
Unter ganz anderen Bedingungen nahm 16 Jahre später Göthe die Achilleis
vor, zu der ihn die fortgesetzte Beschäftigung mit Homer führte; die Ge-
schichte des Gedichts erläutert er wiederum auf das sorgfältigste. Er kommt
dann zu dem Resultat, dass In der Achilleis nicht ein verfehlter Versuch
vorliege, sondern vielmehr ein solcher, zu dessen weiterer Durchführung
er nicht die Kraft in sieb gefühlt, dass Göthe bald zu der Ueberzeugung
gekommen sei, auch das höchste Ziel, welches er auf dem eingeschlagenen
Wege erreichen könnte, stehe weit hinter den anderen zurück, welche die mo-
derne Dichtung zu erstreben habe. Zum Dank für die anziehende Abhand-
lung erlaubt ^ch Ref. den Verf. auf eine , wie es scheint , Ihm unbekannt
gebliebene treffliche Schrift aufmerksam zu machen, des Dr. Klein Ab-
handlung über die Achilleis im Programm des Gymnasiums zu Emmerich,
1850. 19 S. 4.
Schiller und die praktischen Ideen. Vom Conrector Dr. Tepe.
Programm des Gymnasiums zu Aurich. 1870. 24 S. 4 .
Es sind die praktischen Ideen der Innern Freiheit, der Vollkommenheit,
des Wohlwollens, des Rechts und der Billigkeit, wie voll warmer Begeiste-
rung für den edlen Dichter der Verf. sagt, in Schiller von früh an in seinem
Leben, in seinem Empfinden, in seinem Dichten zur Offenbarung gekommen.
Eben deshalb Ist Schiller der Lieblingsdichter seines Volkes geworden; es
liebt seine Werke wegen Ihres Gehaltes, den es auch In seinem Innern ent-
deckt, wegen ihrer seiner verständigen und schwungvollen Natur zusagen-
den Form ; je mehr sie In ihm in Fleisch und Blut übergehen, scheiden sie
alles Ungesunde und Fremde aus seinem eigenen Wesen aus. Es liebt aber
noch mehr den Menschen, es bewundert den Adel seiner Seele; der Grund
dieser allgemeinen Verehrung Ist Schiller's sittliche Vollendung, die gross-
artige Ausprägung aller sittlichen Ideen und ihre harmonische Vereinigung
in seiner Person. Ueberall tritt uns seine Grösse entgegen. In ihr richtet
uns zunächst die Idee der Vollkommenheit auf. Sie hat Ihn erhoben, immer
auf ein höheres Ziel hingewiesen, sein Ernst, sein Muth, seine Ausdauer
feuern auch uns an und verbannen allen Leichtsinn und allen Kleinmuth.
Er liebte die Arbeit, aber nur die, bei der sich sein Gemüth betheiligen
konnte; daher waren der Mensch, des Menschen Loos, sein Empfinden,
Denken und Wollen die Hauptgegenstände seines Nachdenkens. Er drang
vor bis an's AUerheillgste ; aber die Innere Stimme hielt ihn davon ab, den
208 Programmenschau.
Schleier wegzuziehen. Er war ein besonnener Denker und wusste zu re-
signieren; das sichere Gebiet der Aesthetik, — der praktischen Vernunft
und der Urtheilskraft — war sein liebster Aufenthalt; Kant's starrer kate-
gorischer Imperativ löst sich ihm in sittliche Ideen auf, denen unter allen
ästhetischen Ideen die Oberhoheit gebührt. Vor allen durchdringt die Idee
der Vollkommenheit seine Kunstwerke und verleiht ihnen das Gepräge der
Grossheit, allen, den kleinsten wie den umfassendsten. Diese Idee spiegelt
sich auch in seinem Leben ab in seiner Ergebung, Mässigung, Entschlos-
senheit. Diese Idee der Vollkommenheit ist innig vereinigt mit der Idee
des Wohlwollens. Er war ungemein liebevoll und wohlwollend; er war der
liebevollste Sohn, Bruder, Gatte, Vater, Freund. Aber sein Herz schlug
der ganzen Menschheit; doch zu denen konnte er kein Herz fassen, die
selbst herzlos waren. Sein Wohlwollen erstreckte sich über einen weiten
Kreis ; er suchte die negative Freiheit von unwürdigen und unnöthigen Fes-
seln und die positive Freiheit der vernünftigen Selbstbestimmung zum Ge-
meingut zu machen. Ebenso lebendig war in ihm die Idee des Rechtes.
Häufig und besonders in seinen ersten Dramen nimmt sein Rechtsbegrift die
Gestalt des Gegensatzes gegen unvernünftige Gesetze an. Die Staatsver-
fassung als solche ist ihm nicht absolut wichtig und wesentlich, er ist weder
Demokrat noch Aristokrat. Indem er aber nicht den höchsten Maassstab
an die Gesetzgeber li'gt, erscheinen sie ihm in ihrer Gesammtheit als Wohl-
thäter der Menschheit, als Gesandte des Himmels. Das Missfallen am
Streit, das allgemeine Menschengefühl, ist der erste Entstehungsgrund der
Ordnung, der vernünftigen Gesetze (vgl. Braut von Messina: Ende des Bru-
derzwistes, Preislied des Friedens). Der Hauptgrund der Macht der Idee
des Rechts in Schiller lag in seiner Sympathie für die Menschheit. Die
Idee der Billigkeit spricht sich bei ihm schon aus in seiner Stärke gegen
seine neidischen Gegner (vgl. die Xenien) und in dem Beistände , den er
Leidenden lieh, sie spricht sich aus in seiner Scheu vor Verbindlichkeiten,
aber auch in seiner innigen Dankbarkeit, in seiner Pietät, in seinem leben-
dif^en Interesse bei Betrachtung der moralischen Welt, demgemäss in seiner
Darstellung der göttlichen Gerechtigkeit. Besonders Hess ihn die Idee der
innern Freiheit ein klares Weltregiment erkennen und glauben. Diese Idee
verlangte von ihm Entschiedenheit des ästhetischen Geschmacks, Sicherheit
im logischen Denken und Erkennen, Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Beharr-
lichkeit und Entschlossenheit in seinen Arbeiten. Aber wo der Einklang
seines Selbst fehlte, gab er das ihm nicht mehr Homogene gern auf; so
wandte er sich von der Jurisprudenz zur Medicin, von der Medicin zur
Poesie, von der Poesie zur Geschichte, von der Geschichte zur Philosophie,
von der Philosophie zur Poesie; aber trotzdem zeigt sein Leben eine schöne
Continuität; denn stets waren die praktischen Ideen in ihrer Gesammtheit
in ihm lebendig, er suchte seine Menschen-Ehre darin der Vernunft gemäss
zu leben. Im Kampfe der Gedanken und Gefühle wusste er seine innere
Freiheit zu behaupten. Entschlossene Charaktere, die nach dem Gesammt-
urtheile aller sittlichen Ideen Recht haben, stellt er mit besonderer Begei-
sterung dar, die Jungfrau von Orleans scheint die in Schiller's bewegter
Seele sich erhebende Idee der inneren Freiheit selbst zu sein.
Schiller's Jungfrau von Orleans, neu erklärt und nach ihrem
christlichen Gehalte gewürdigt. Erster Theil. Von Dir.
Dr. G. Fr. Eysell. Programm des Gymnasiums zu Hers-
feld. 1870. p. 25-103.
Es ist mit grossem Danke anzuerkennen, dass zur Jubelfeier des Gym-
nasiums zu Hersfeld der gründlichste Kenner der Geschichte der Jungfrau
Programmenscbau. 209
von Orleans eine Interpretation des Schiller'schen Dramas sich zum Thema
wählte. Zur gelehrtesten Kenntniss des geschichtlichen Thatbestandes ge-
sellt sich hier das sorgfältigste Studium des Gedichts. Den tiefen religiösen
Gehalt desselben hervorzuheben, ist die Hauptaufgabe des Verf. gewesen
und daher geht er besonders genau in die Entwickelung des Charakters Jo-
hanna's ein. Aber dabei ist auch sonst nichts übersehen, und wenn Ref. be-
merkt, dass die umf;mgreiche Abhandlung sich nur ausdehnt bis auf der
Jungfrau Ankunft in Chinon, so werden die Leser daraus folgern können,
dass auf die psychologische Entwickelung der Verf. den grössten Fleiss ver-
wandt hat.
Zuerst erzählt der Verf. die der Handlung des Stückes vorausliegenden
Begebenheiten, er geht aber nur auf die genauer ein, auf welche im Ge-
dichte angespielt wird, die uns Aufschluss geben über den Charakter der
bei Schiller vorkommenden Pei-sonen; daher wird Isabeau's Theilnahme an
den politischen Kämpfen, die Tödtung des Herzogs von Burguud, die Hei-
rath Heinrich's V. genauer besprochen; von Karl's VI. Tode an aber über-
geht der Verf. die sonstigen geschichtlichen Berichte und hält sich allein
an Schiller. Der Charakter des Königs Karl VII. ist der Art, dass trotz
seiner Privattugenden er für die bewegte Zeit nicht geeignet war ; trotz
aller Sanftmuth fehlte ihm der starke Glaube, die ihm gewordenen Prophe-
zeiungen deutete er falsch; gegen Orleans that er nicht seine Pflicht, sein
Pflichtgefühl wurde übertäubt durch den Gedanken, dass Gott die Sünden
seines Hauses an ihm heimsuchen wolle bis zum vollständigen Verluste des
Reiches. Und doch sollte ihm von einer Frau die Hülfe wirklich, wie ihm
geweissagt war, kommen, aber von einer andern, als er dachte, die ange-
than war mit der Macht des Glaubens, woran es Frankreich bisher gebrach.
Somit wendet sich der Verf. zum zweiten Punkte, der Jugendgeschichte
Johanna's bis zum Abschied von dem Vaterhause. Er führt uns erst Vater
und Schwestern vor. Mit ihrer ganzen Familie stand Johanna auf dem
Glaubensboden ihrer Kii-che. Ihre Beschäftigungsweise entwickelte die
Kräfte des Leibes und der Seele auf das glücklichste ; ihre hohen Wunder-
gaben wurden von den Ihrigen anerkannt. Nun erfolgte die Berufung. Die
sinnlichen Formen, in denen ihr ihre Glaubensidee in's Bevvusstsein traten,
sind Erzeugnisse des Zeitalters, die Ideen selbst aber als Geburten der
vom Geiste Gottes im Tiefsten bewegten Menschenseele zu denken. In
diesen Visionen ist, wie ausführlich der Verf. nachweist, ein stufenmässiger
Fortschritt wahrnehmbar, sowohl äusserlich als in Bezug auf den Inhalt;
den sich so oipfelnden drei Marienvisionen schliesst sich die Offenbarung
des Herrn seihst an; durch diese letztere wird die Erfüllung der Aufgabe
Johanna's unter die unverbrüchliche Garantie seines allmächtigen Willens ge-
stellt. Und dennoch wird das ideale Wort der Offenbarung noch durch
einen realen Gegenstand, den Helm, überboten. Ihr Glaube steht fest, aber
schwere Bedingungen sind ihr auferlegt; sie hat sich zu bewähren. Ihr
Charnkter ist nicht fertig, sondern ein wenlender, bis zu völliger Durch-
drungenheit des Menschlichen von dem Göttlichen. So, sagt der Verf.,
wird ihre Geschiclüe zum universellen Symbol <ler christlichen Glaubens-
und Heihgunfisidee. — Der Verf. geht nun genau den Prolog durch ; die
Vorgänge in Johanna's Seele werden klar dargelegt, der innere Zusammen-
hang der Scenen unter einander aufs sorgfältigste nachgewiesen, selbst die
etwaigen Bedenken, Einwürfe, Erwartungen, die von Seiten der Zuschauer
ausgesprochen werden könnten, besprochen, nicht blos also referiert, son-
dern auch nach allen Seiten erwogen. Hier ist nichts mehr hinzuzufügen.
Auf die Fortsetzung haben wir hoffentlich nicht zu lange zu warten.
Archiv f. n. Sprachen. XLVIII. 14
210 Programmenschau.
Ueber den Charakter des Schicksals in Schiller's Tragödie
Von Dr. Theodor Nölting. Programm der grossen Stadt-
schule zu Wismar.. 1370.
Manche der hier ausgesprochenen Ansichten geben zu Bedenken Ver-
anlassung Die Schicksalsidee der Alten sei in der Oedipussage ausgedrückt-
Oedipus habe ja in Aiem/reien Willen gehabt und er macht den grausamen
Spruch nur wahr, weil sein Herz ihn dazu treibt. Er tödte leidenschaft-
hch den Alten, er sei dadurch nicht beunruhigt, er heirathe die V\ittwe
sofor , denn spater zeige er sich in dem Fluche über den Mörder, in dem
Benehmen gegen Tiresias höchst leidenschaftlich, so verschulde er sein Ver-
hangniss Gegen diese Auffassung aber sträubt sich das Gefühl. Was spä-
ter geschieht kümmert uns nicht, es dient nur zur Charakteristik des Oedipus.
.Plif • !, ^^^'-r^'^ das tragische Geschick, dazu ist schon der Grund
gelegt in dcT Todtung und der Heirath; ist aber diese Tödtung ein so
schweres Verbrechen che Hast, mit welcher der ehrgeizige Jünding^ch
a,fI.iT Q^l- ^^'f den Thron sichert, so verd^mimeliswerth, Ls sie
auf gleicher Stufe steht mit dem furchtbaren Schicksal? Ist dies Schick-
sal d,e naturhche Folge des leidenschaftlichen Handelns des Helden Avo
ist je eine durch de^n Drang der Umstände herbeigeführte Tödtung, wo eine
unbesonnene Heirath die Ursache eines solchen Endes gewesen? Des antike
Schicksal, wie es der Verf. aufiasst, erscheint ihm auch als bewegende
FnSL-1 Sch.l er's Wallen^tein. Die Umstände treiben Wallensrein zur
Entscheidung; che Entscheidung kann nicht zweifelhaft sein: er schliessl
den Bund mit den Schweden; aber wie er jetzt entschieden handelt, so nun
auch seme Gegner. In der That? handelt er so entschieden? da hätten
wa- es nun zu thun mit dem äusserlichen Kampfe zweier Parteien, während
doch der Schwerpunkt nW;allenstein's Charakter, seiner Unentscho.^enheit,
mI; ^f''\^''l^' doch sehr gewagt das Schicksal, die Wendung, wie sie in
Mar>a Stuart vorkommt, in der Jungfrau von Orleans, mit dem antiken Schick
sal zu vergleichen In der Braut von Messina findet es der Verf durchaus
Chlre "^'''' ^^''' ^'''' '^^^ ?^^^""^1 ^^«^«^* ^-teche (nicht durch de"
I^Xltf f; ^n "' »^»^=t^e""s überraschen, wenn wir nicht bereits durch
te,f W J- T^.'^'-'^'-^r ^'^"'?^ '^^^ bevorstehende Schicksal wüss-
ten Uier- jene That ist mcht motiviert und überrascht uns doch nicht?
Und woher wissen wir denn, dass der Traum nach der bösen Seite hin
sich erfu len muss? Und nach der That werde vollends Cesar's Haltung
erst recht unnat^irhch. Damit ist dem Dichter der stärkste Vorwurf ge^
macht, der des Mangels an Einheit im Charakter. Ebenso unbegreiflTch !ei
Beatrices Benehmen, ihre regungslose Haltung: ebenso IsabeHa Das
alles nennt der Verf. schwache Punkte in der F.'Tbel und hi der Schicksals
Idee ; nein, es wären vielmehr die ärgsten Schwächen in der Charakteristik.
Schicksal und Schuld in Schiller's Braut von Messina. Vom
Subrector Julms Drenckmann. Programm des Gymnasiums
zu Königsberg in d. N. 1870. 20 S. 4.
Mit dem Urtheile des Verf. über das Walten des Schicksals im Könicr
Oedipus mit dem die Braut von Messina gewöhnlich verglichen wird, mSsl
man sich durchaus einverstanden erklären^ Eben so zu^ bilhaen st aTles
was er über Schiller's Gedicht sagt, über die Motivierung der Handlung dfe
Charaktere die Schuld der Personen, so dass allen denjenigen, welch!' bi!
sfnd^e'r ;/ '1 °°.^^ "^'n* "^^'' ^^" '^^"'^ "^'^ Stückes^kr geword n
sind, die Lesung der Abhandlung anzurathen ist. In Schillers Gedicht ist
Programmenschau. 211
für uns alles weit verständlicher motiviert als in dem griechischen Gedichte,
dass für uns immer etwas Fremdartiges behält; es ist schwer zu begreifen,
wie diese Wahrheit auch jetzt noch vielfach verkannt wird. Man hat sich
die Nachbildung der griechischen Tragödie, die Schiller allerdings bezweckt,
viel zu weit ausgedehnt gedacht, sie liegt nur in der äusseren Oekonomie,
in der Darstellungs- und Ausdrucksweise, in dem Gange der Handlung ; aber
die Weltanschauung ist durchaus nicht die antike; die höchste Macht ist
nicht das Fatum der Alten, wie es in König Oedipus erscheint, sondern der
Gott, der die Sünden der Väter heimsucht an den Kindern, aber nur weil
die Kinder mit ihren Freveln die Frevel der Väter fortgesetzt haben.
Herford. Kölscher.
W
Miscellen.
Mittheilungen über eine Handschrift zu Nymegen bezüglich
des Schwanenritters von L. Sloet. *
De _ Reiffenberg hat im 4. und 5. Theil der Collection de Chroniques
Beiges inedites die Sage vom Schwanenritter herausgegeben und derselben
mit vieler Gelehrsamkeit und grosser Ausführlichkeit Alles beigetüot, was
er mit nicht geringer Mühe von Nahe und Fern zusammengebracht hatte.
So freute er sich auch, eine lateinische Uebersetzung hiervon niittheilen zu
können, die unter Nr. 5 in den Appendices des vierten Bandes aufgenom-
men ist.
In den Archiven der Stadt Nymegen befindet sich eine merkwürdige
Sammlung lateinischer Handschriften aus der Mitte der letzten Hälfte des
15. Jahrhunderts, die in einen Band zusammengebunden sind.
Das erste Stück aus dem Ende des 15. .Jahrhunderts ist eine der von
de ReifTenberg herausgegebenen ähnliche Uebersetzung und so weit ich
dies nachgehen konnte, bis jetzt nicht veröffentlicht. Die Geschichte des
Schwanenritters wird darin sehr einfach dargestellt und unterscheidet
sich eben dadurch in vieler Hinsicht von den gewöhnlichen Formen, in de-
nen dieser Volksroman auf uns gekommen ist und mitgetheilt werden von
Veldenaer, Fasciculus temporum, p. 422 j v. d. Schüren, Chronik v. Cleve,
77; Teschenmacher, Annales Cliviae , ed. Dethmar, 123; Histoire miracu-
leuse du Chevalier au cygne, fils du puissant roy Oriant, in „Melanges tires
d'une grande bibliotheque, 111, col. 4; Eene schoone historie en miraculeuse
geschiedenis van den ridder met de zwaan, die te Nijmegen in Gelderland
te scheep kwam enz. , Amsterdam , by Koene. 4. — Hierüber s. van den
Bergh, Volksromans, S. 23 und Volksoverleveringen, S. 96. Ferner de Reif-
fenberg, 1. c. und Jonckbloet, Geschiedenis der Nederlandsche letterkunde,
I, p. 27. **
Nach vorgenannter Hs. ist die Ehe des Königs Oriant, der nach seines
Vaters Tode mit seiner Mutter regiert, dessen Land jedoch nicht genannt
wird, von etwas Aussergewöhnlichem nicht vergesellt. Da er von hoher
Abkunft war — ex alto sanguine, — nahm er — ut dignum fuit, — Beatrix
zu „generosam uxorem." Diese zog sich den Hass ihrer Schwiegermutter
* Nach „Verslagen en mededeelingen der Kon. Akademie van weten-
schappen. Letterkunde. XH, 2. p. 253 ff. frei übersetzt.
*" W. Müller, „Die Sage vom Schwanenritter" In „Germania" Heft 4,
S._ 418, hatte ich nicht zur Einsicht und konnte deshalb nicht nachsehen,
wie er die Formen auffasste.
Miscellen. 213
nicht wie andere Lesarten lauton, wegen ihrer niedrigen Herkunft zu,_ son-
dern'weil sie sowohl von E eichen und Vornehmen, als auch von Geringen
und Armen geachtet und geliebt wurde.
Von dem Gespräch zwischen dem Ehepaar über das Gebähren mehrerer
Kinder zugleich wird ebenso wenig etwas mitgctheilt, als von einer Laste-
rung einer Frau, die Zwillinge geboren hatte , von Beatrix ausgesprochen,
in Fol"-e dessen sie selbst zur Strafe in Abwesenheit ihres Mannes von
7 Kindern soll entbunden worden sein. Nach unserer Hs. waren es 6 Kna-
ben und 1 Mädchen, mit goldenen Halsbändern, während andere Lesar-
ten von 7 Söhnen und silbernen Halsbändern sprechen; dagegen stimnit
sie mit anderen Lesarten überein, was bezüglich des Verwechselns der Kin-
der mit Hunden und der ferneren Tliaten Matabruna's mitgetheilt wird.
Bemerkcnswerth ist, dass der Name Liliefort hier der Hebamme beigelegt
wird während er sonst für den Namen des Reiches Oriants gilt. Uie Kin-
der 'von Marques nicht getödet, wie ihn Metabruna beauftragt, sondern_ als
Findlincre ausgesetzt, werden nach unserer Hs. nicht von dem Eremiten
Elias selbst, sondern von dessen Ziege gefunden, die sie auf ihrem Kucken
zur Klause brachte.
Als König Oriant nach seiner Rückkunft von seiner Mutter vernimmt,
dass seine Frau von 7 Hunden entbunden sei, lässt er die Astronomen und
Weisen seines Landes zusammenkommen und legt ihnen die Frage vor, ob
eine Frau auch Hunde zur Welt bringen könne, was sie verneinen; wohl
■iber könne eine Frau mehrere Kinder zugleich gebären. Dass Beatrix zur
Kerkerhaft verurtheilt sei, während Metabruna die Todesstrafe über sie
verhängt wissen wollte, sagt die Hs. nicht.
Matabruna die von Jägern vernommen hat, dass die Kinder bei dem
Eremiten seien, lässt Marques durch RLanquare umbringen und beauftragt
die Jäger die Kinder aufzusuchen und zu tödten. Aber auch diese fuhren
den Auftra<r nicht aus, sondern nehmen sechs Kindern (das siebente war ab-
wesend) ihre Halsbänder, in Folge dessen sie in Schwäne verwandelt werden.
Metabruna lässt aus den Bändern einen Becher macheu. Da aber ems
dieser Bänder im Schmelztiegel schon einen solchen Umfang annimmt, dass
er für einen grossen Becher ausreicht, so eignen sich die Goldschmiede die
übrigen fünf zu. Hierin kömmt dieHs. mit andern Lesarten überein, wah-
rend sie im Folgenden wieder abweicht.
Nachdem der Eremit den Knaben, der das Halsband behalten, erzogen,
getauft und ihm seinen Namen gegeben hat, wird ihm durch einen Engel
mitgetheilt, dass Oriant der Vater dieses Knaben sei; zugleich verordnet
der Enc-el, dass der Knabe zu seines Vater Schloss reise. Elias, von dem
Eremiteii hierüber genau unterrichtet, kommt in Baumblättern gekleidet bei
Hofe an wo er seiner Grossmutter deren Missethat vorwirft. Diese leug-
net Elias fordert Marquare zum Zweikampf auf, der ihn annimmt. _ Beide
ziehen in Waftenrüstung zum Kampfplatz und Elias haut Marquare mit dem
ersten Schlage einen Arm ab, worauf letzterer Alles bekennt. Matabruna
(lieht in Mannskleidern in eine feste Burg, in der sie durch Elias verbrannt
wird — Dass die fünf ungeschmolzenen Halsbänder zurückgegeben und da-
durch die fünf Schwäne wieder in Menschen verwandelt werden, erzahlt
die Hs., wie die übrigen Lesarten. Der Scliluss dagegen ist hier wieder
°^"^D^urch eine göttliche Eingebung wird Elias berufen , die Herzogin von
Bouillon gegen den Grafen von Lisebonne zu schützen. Er , erhalt von sei-
nem Vater ein Hörn, welches die W^underkraft besitzt, dassjeder, der die
Töne desselben hört, besiegt wird. Mit diesem Hörn reist er in einem Schifte
ab dass von d e m Schwane an einer goldenen Kette gezogen wird der bis-
her seine menschliche Gestalt nicht wieder erhalten hat. Er kommt zu
Nymegen an, wo sich der Kaiser aufhält, tödtet in einem Zweikampfe den
214 Miscellen.
Grafen von Lisebonne, erhält die einzige Tochter der Herzogin-Wittwe von
Bouillon zur Frau und wird Herzog und Herr des Landes.
Eine weitere göttliche Eingebung lehrt Elias, dass der Schwan, der sein
Schiff" gezogen habe, ebenfalls seine vorige Gestalt zurückerhalten und er
deshalb zu seinen Eltern heimkehren müsse. Dies thut er und lässt Frau
und Kind unter der Obhut des Kaisers. In sein Vaterland auf einem Schiff",
wieder von demselben Schwane gezogen, zurückgekehrt , wird der Schwan
in die Kirche gebracht und unter Celebriren und Beten vieler Anwesenden
ebenfalls seiner menschlichen Gestalt wieder theilhaftig.
Hier endigt die Hs., nicht wie ein Fragment, nicht als ob noch Etwas
folgen müsse, sordern wie ein abgeschlossenes Ganzes, mit einem Anruf zu
Gott und dem Schlusswort Amen. Nichts wird von dem weiteren Leben des
Elias gemeldet, kein Wort wird von seinem Verschwinden erwähnt, als Bea-
trix ihn trotz seiner Bedingung und Warnung bittet, ihr seine Abkunft mit-
zutheilen. Nichts kommt darin vor von den Kindern und Enkeln von Elias
und Beatrix, welche der berühmte Gottfried von Bouillon, Balduin und
Eustachius gewesen sein sollen. Nichts hat sie mit der meist in Gelder-
land und im Clevischen gangbaren Lesart gemein, dass Elias zufällig mit
seinem von einem Schwane gezogenen Schiffe zu Nymegen angekommen sei
inid die Erbtochter von Cleve geheirathet habe , aus welcher Ehe die Gra-
fen von Cleve und Teisterbant entsprossen sein sollen.
Je kürzer und einfacher eine Volksüberlieferung in Form eines Ge-
dichtes oder einer Erzählung auf uns gekommen ist, um so näher steht sie
ihrer Entstehungsperiode. Die Poeterei, — wie van der Schüren sich aus-
drückt, — hat sich ihrer noch nicht bemächtigt, sie noch nicht mit Anderm
vermengt, und sie noch nicht andern Zuständen und Zeiten angepasst, als
denen, in welchen sie entstand.
Haben wir nun in der Nymeger Hs. den Kern oder einen der Kerne,
woraus sich später das ausgebreitete Volksepos von dem Schwanenritter
bildete?
Ich will nichts entscheiden, halte jedoch die Hs., wovon ich nachstehend
eine getreue Copie gebe, wohl werth, die Leser dieser Zeitschrift damit be-
kannt zu machen.
Fuit quidam rex nobilis, dictus Oriant, qui, patre orbatus, cum matre
sua, nomine Matabruna, regnum suum nobiliter gubernavit. Et quia dictus
rex Oriant alto profluxit ex sanguine, generosam, ut dignum fuit, duxit
uxorem, nomine ßeatris. Hec tarn virtuosa extitit, ut non solum magnis et
nobilibus, verum eciam parvis et pauperibus amabilis fuerit, et rex eam unice
diligebat. Mater vero considerans, quod Beatris plus a rege et nobilibus,
nee non totius regni incolis, amaretur, simulata ira, odium contra eam
gerebat.
Accidit autem post hoc, ut rex Oriant, propter causas arduas eundem
concernentes, ad alienas se transferret partes, et regina Beatris, vicina par-
tui Septem proles, torques aureos in collo gestantes, pareret, quos tamen
Matabruna minime considerabat, inter quos tamen una tantum juvencula fuit,
ceteri mares extiterunt. Quod cernens Matabruna, doluit de tanto nobilium
prolium ortu, et egit cum obstetrice, dicta Liliefort, ut Septem catellos in
panniculo sumeret, et, regine eosdem ostendens, diceret, quod ipsa eosdem
peperisset. Quod cum dicta Liliefort faceret, Beatris, multum contristata,
amarissime flebat. Matabruna deinde dictos pueros cuidam ex suis familiari-
bus, nomine Marques, obvolutas in panniculo, tradidit, et ut in desertum iret
et eosdem interficeret, mandavit. Marques vero pueros accipiens, in deser-
tum, juxta preceptum Matrabrune, et pannum aperiens, septem pueros pul-
cherrimos vidit. Tunc ipse eosdem deosculans et vivos relinquens, se
eosdem interfecisse testabatur.
Miscellen. 215
Deindc rex nobilis Oriant ad patriam revcrtitur. Cui raater occurrens,
saliitavit et, inter cetera, quoniam Beatris Septem catellos pepererat, narra-
vit. Quo audito, rex multum constristatus , tocius reoni astronomos et sa-
pientes convocari fecit. Quibus congregatls, interrogavit, uterum eclam mu-
lier canes parere posset? Ad hoc ipsi responderunt, quod non canes, sed
pueros, eciam plures, parere posset.
_ Et tunc habitabat in eodem heremo, ubi hujusmodi pueri portati fuerunt,
quidam heremita, nomine Hellas, habeus quandam capram, de cujus lacte
nutriri solebat, que, exiens ad pascua ad interiora deserti, dictos pueros iu-
veuit, et ipsis inventis, eosdem suo lacte, Deo disponente, nutrivit et ad do-
munculum heremite solito tempore non redibat. Tandem, infantulos in dorso
gestans, domum revertitur, et a dicto heremita hilariter recipiuntur, nutriun-
tur et foliis arborum vestiuntur.
Post hec Matabruna ^lercipiens a ventoribus, quod in hujusmodi heremo
infantuli apud heremitam conservarentur, cogitans, quod Marques illos vivos
reliquisset, cum per quendara suum familiärem, nomine Manquare, interfici,
jussit. Et illo interfecto, venatores ad descrtum hujusmodi misit, ut dictos
infantulos quererent et interöcerent. Venatores vero, per desertum gradien-
tes pueros, excepto uno, invenerunt, et videntes, quod torques aureos in
cello habebant, illos a collo eorum abstrahentes, in cignis mutati, continuo
volantes, recesserunt et in foveam, juxta domicilium dicti heremite, renianse-
runt. Venatores autem, ad Matabrunam redeuntes, eidem torques illos re-
presentarunt, narrantes eidem miraculum, quod viderunt. Tunc illa aurifabros
convocari jussit et eisdem, pro crusibulo faciendo, torques hujusmodi tradidit.
Quibus acceptis , dum unum in ignem injicerent, ita augmentabatur, ut
crather magnus inde formabatur. Quod videntes aurifabri, reliquos quinque
furati sunt et cratherem aureum Matabrune reportabant, de cujus magnitu-
dine cum ipsa admirabatur, estimabat enim, quod omnes sex torques pre-
dicti in hujusmodi crathere fiicti fuissent.
Deinde dictus heremita juvenem, quem secum retinuit, baptisavit, et
eum nomine suo Heliam nuncupavit, qui cignos eosdem continue visitavit,
recognoscens ex spirituali revelacione, quod soror et fratres sui essent.
Post aliquantos igitur annos, angelus Domini dicto heremite nunclavitt
quod juvenem ad palacium regis Oriant, qui pater ejusdem esset, mittere,,
qui opprobrium matris sui, scilicet regine Beatris, vindicare et scelus Mata-
brune propalare deberet. P^xtunc Elyas heremita Elyam juvenem de singu-
lis instruxit et eundem, vestitum foliis , ad palacium regis destinavit. Qui
ibidem veniens totum factum Matabrune propalavit, et quomodo ipse cum
sorore et fratribus in heremum delati essent, narravit. Quod audiens Mata-
bruna ipsum hec mentiri dicebat. Continuo Elyas, pro veritate percipienda,
duellum facere paratus erat. Extunc Manquare, ex parte Matabrune, du-
welluni cum Elya facere acceptavit. Deinde armis induuntur et, ad campum
venientes Elyas primo ictu brachium sui adversarii amputavit. Tunc Man-
quare, ad genua provolutus et veniam petens, totum factum Matabrune
enodavit. Matabruna vero videns, quod Manquare devinctus fuerat, relicto
habitu muliebri, in habitu virili fugit, et castrum, quod ipsa habebat fortis-
simum, intravit. Quod Elyas perclpiens, eam insequitur et castrum ipsum
obsedendo, incendit cum eadem. Quod dicti aurifiibri videntes, Elye hujus-
modi torques, quos ipsi furati fuerant, reportarunt. Quibus receptis, regem
Oriant, patrem suum, nee non Beatrem, matrem suam, usque ad locum,
ubi cigni fuerant, perduxit et cuilibet torquem apposuit, excepto uno, cujus
torques in cratherem commutatus fuit. Postquam autem torquem in collibus
receperunt, pristinam eorundem formam, scilicet humanam, assumpserunt et
a presentibus, cum gaudio enarrabili, suscipiuntur et deosculantur.
Deinde dictus Elyas, ex revelacione et ammonicione Divina, valedicens
presentibus, ad tuendam ducissimam de Bullion, que a comite de Lisebonne
molestabatur, navigio recessit, et cignus, nondum ad naturam hominis redu-
216 Miscellen.
ctus, navem cum cathena aurea traliebat. Pater vero ejus, rex Oriant, videns
quod Elyas recedere vellet, sibi cornu quoddam didit, 'quod illius virtutis
erat, ut nullus souuui ejus audiens, contra eundem victor esse posset. Tunc
Elyas, cum navi progrediens ad iuiperatorem, qui tunc in Novomagio reside-
biit, venit, et quomodo, ad tueiidam dictam viduam venisset, enarravit et
comitem de Lisebonne ad duellum vocavit. Deinde venientes ad campum,
ab imperatore conürmatum est duellum. Et Elyas dictum comitem intertecit.
Tunc imperator videns virtutem et constanciam dicti Elye, filiam unicam,
quam dicta ducissa habebat, dicto Elye in matrimoniuni tradidit, et tunc
cum processione et gaudio magno suseipitur et dux ac terre dominus con-
stituitur.
Deinde ex divina revelacione didicit, quod cignus ille, qui navem, qua
venerat, trabtbat, adhuc pristinam suam naturam recipere deberet, et quod
propterea ad parentes suos redire deberet. Ipse uxorem cum filia, quam
habuit, exinde imperatori commisit, et valedicens eisdem, cum navi, cigno
trahente, recessit. Et dum ad terras proprias venit, fratres sui et parentes
eidem oceurrentes et salutantes, cum leticia grandi susceperunt et contLnuo
cignum hujusmodi in ecclesia statuentes , pluribus celebrantibus et aliis
orantibus, bumanam recepit naturam, prestante Domino nostro, qui vivit et
regnat in seculorum secula. Amen.
München. Oskar Verlage.
Moderne französische Schriftsteller im Elsass.
Die Strassburger Zeitung hat in einer längeren Reihe von Aufsätzen
über die neueren Dichter und Prosaiker des Elsass eingehend berichtet, aus
denen auszugsweise nachstehende Mittheilungen entlohnt sind.
In den dreissiger Jahren bildete sich — auch im pittoresken Oberelsass —
ein dem Stande der Fabrikherren angehöriger Mann zum eleganten franzö-
sischen Versificator, indem er sich mit kindlicher Pietät an Pfeffel's Muse
dahingab, und den acht moralischen deutschen Volksdichter auf den galli-
schen Parnass zu verpflanzen unternahm. Zur Lebensaufgabe war es für
Paul Lehr geworden, die philosophischen und politischen Apologen des
blinden Dichters, mit gewissenhafter Treue und doch in leichter, anmuthiger
Form dem französischen Publicum mundgerecht zu machen. Mit unermüd-
licher Ausdauer und einer Feile, die nicht vor dem zehnfachen Anlegen an
die widerstrebende, deutsche Materie zurückscheute , brachte es Paul Lehr
in der That dahin, dass eine schöne Auswahl der poetischen Versuche Pfef-
fel's in französischer Sprache zu Stande kam, und sich wie Originalgedichte
dem Leser empfahl. Lehr hat den greisen Dichter noch in seinen letzten
Lebensjahren in seiner Häuslichkeit gesehen, und war ihm als Schüler nahe-
gestanden ; er wollte dem Andenken des geliebten Altvaters ein Denkmal
setzen, und unstreitig erreichte er seine Absicht.
Nun dürfte mich der Leser fragen: Hat sich Pfeffers getreuer alterego
an keinen anderen Repräsentanten der deutschen Dichtung gewagt und ist
er unwiderruflich im Bezirke der Pfeffel'schen Fabel und poetischen Epistel
geblieben? — Nicht immer — so hat er z. B. die Geisterscenen von ßür-
ger's Lenore meisterhaft reproducirt; in eigner Composition hat er die Na-
jade Niederbronns gefeiert und bei Sängerfesten, oder wenn es galt ein-
heimische Grössen zu verherrlichen, hat er elsässische Cantaten mit lyrischem
Schwünge gedichtet; er hat in Freundeskreisen, bei frohem und trübem
Anlass, seine Verse wie Blumen hingestreut, und sich begnügen lassen mit
spärlichem Lobe in unserer prosaischen Zwittergesellschaft.
Ungefähr zur selben Zeit, aber noch in froher Jugend prangend, hielt
sich ebenfalls im Oberelsass ein Sänger auf, der sich vorerst ganz an fran-
Miscellen. 217
zösischen Mustern herangebildet. Unter seinen Freunden und bald in wei-
teren Zirkeln erlangte Th eodor I>raun den Ruf eines liebenswürdigen ge-
sellschaftlichen Liederdichters; er war aus der Schule Beranger's und Des-
augiers hervorgegangen. Aber auch ihn erfasste bei vorrückenden Jahren
und bei näherem Eingehen in die deutsche Dichtung, der Gedanke zum
vermittelnden Dollmetscher zwischen den zwei Literaturen zu werden. Braun
begann im Jahre 1848 mit der Herausgabe einer TTehersetzung des Schiller-
schen Don Carlos in Alexandrinern. Diese dramatische Reproduction legte
ein sprechencles Zeugniss ab von dem Talente des Verfassers; ein fliessen-
der, leichter Styl, ein den Zwang des Verses überwältigendes Anschmiegen
an den Inhalt des Originaltextes, machten sich vorerst bemerkbar. Allein
der üebelstand des zwölfsilbigen monotonen Alexandriners , dem deutschen
fünffüssigen, leichtgeschürzten Jambus gegenüber, hatte schon eine unver-
meidliche Dehnung des Textes zur Folge; die Zahl der deutschen Verse
wurde ebenfalls nicht unbedeutend überschritten ; somit erschien die drama-
tische Handlung gelähmt. Und was dem Uebersetzer besonders hart zu-
setzte, das war die Unmöglichkeit in der französischen, spröden, hyperde-
licaten Sprache den Metaphern-Reichthum und die Gedankenfülle der Sprache
des deutschen Dichters neu zu schaffen. Allein , all dieser unvermeidlichen
Mängel unbeschadet, ward dem Uebersetzer ein verdientes Lob zu Theil
und ermuthigte ihn, auf derselben Bahn fortzuschreiten. — So erschienen
nach und nach die Uebersetzungen der Jungfrau von Orleans, der Maria
Stuart, des Wilhelm Teil, der Wallensteinschen Trilogie und der Braut von
Messina. Zum erstenmale ward in rhythmischem Gewände das ganze dra-
matische Vermächtniss Schiller's, mit Ausnahme der in Prosa geschriebenen
Stücke, vor das französische Publikum gebracht, und je länger und je mehr
der Verfasser in seiner Arbeit voranschritt, machte sich, beinahe bis an's
Ende, die progressive Leichtigkeit bemerkbar, womit er den schwierigen
Stoff bewältigte.
TheodorBraun hat in seinen Mussestunden beinahe zwanzigJahre an
sein kühnes Unternehmen gewendet; ihm blieb das Verdienst, nach v. Ba-
rante's und Reiniar's prosaischen Uebersetzungen, * der einzige Franzose zu
sein, der sich an die Totalität der versificirteu Tragödien Schiller's wagte,
und ehrenvoll aus dem Kampfe mit dem unerreichbaren Urbild hervorging.
Unter der Juliregiorung begann in Strassburg eine literarische Bewe-
gung, die wir nicht unerörtcrt lassen , obgleich ihre Urheber, jüngere Pro-
fessoren des Lyceums und der Academie, ihrem Ursprünge nach dem Elsasse
nicht angehörten. Durch die Leetüre des Leben Sophokles' von Lessing
angeregt, fühlte sich Guiard berufen, die sieben Tragödien und sämmtliche
Fragmente des griechischen Dichters in französischen Versen mit möglich-
ster Kürze und Treue Aviederzugeben. Die übertragenen Trauerspiele lassen
ganz den Eindruck von Originalstücken in dem Geiste des Lesers zurück.
Ihre Veröffentlichung fallt in die dilettirende eklektische Epoche, wülirend
welcher in Berlin und Paris die Aufführung griechischer Tragödien beinahe
zur Modesache geworden. Für Guiard, den einfachen, aber nichtsdestowe-
niger ehrgeizigen Provinzialdichter war es eine tiefe Bekümmerniss, zu die-
sem Behufe andere Uebersetzer bevorzugt zu sehen. Die Lorbeern von
Octave Lacroix verbitterten sein Leben ; er starb jung, unbefriedigt, unbe-
lohnt], und doch legt seine Uebersetzung, besonders der Sophokleischen
Chöre, ein Zeugniss ab von der lyrischen und stylistischen Begabung des
Translators.
In Strassburg begann Gen in, ebenfalls durch locale Freunde in die
Schätze der poetischen und kritischen Literatur eingeführt, seine ersten po-
"Z.* Der letztere hat sämmtliche Werke Schiller's, v. Barante nur die
dramatischen wiedergegeben.
218 Miscellen.
lemischen Angriffe gegen mehr als einen Pariser Tagesgötzen, vor allem
gegen Victor Hugo und seinen „Rhein." Von hier aus erliess St. Rene
Tailaudier seine ersten Manifeste in der Revue des deux mondes über die
Verhältnisse und die Producte der modernen deutschen Dichtung. Weder
der eine noch der andere verleugnete den Einfluss der geistigen Atmosphäre
der Strassburger Akademie und des nahen gedankenschweren Deutschlands.
Nicht immer mit gleicher Aufrichtigkeit verfuhren andere ihrer acade-
mischen Genossen. So lebte hier, fast zu gleicher Zeit mit Genin, der eben-
falls an der faculte des lettres angestellte Colli n , der Uebersetzer undCom-
mentator Pindar's. Er benutzte reichlich zu seinem gediegenen Werke die
deutschen Hellenisten, doch erwähnt derselben keineswegs. — Die poetischen
Aufsätze, die Colin wenig Jahre vor seinem anno 1865 erfolgten Tode der
literarischen Gesellschaft von Strassburg mittheilte, tragen das Gepräge eines
mit dem Naturgenusse und den Leiden des Herzens vertrauten Charakters.
Dahin sind zu rechnen: „Der Forellenfang im Schwarzwald," „Ein Besuch
auf der Petersinsel im Bielersee," und die elegische „Biographie eines fünf-
zehnjährigen, frühreifen und im Vorfrühling verstorbenen Mädchens." Strenge
Kritiker werfen Colin die Incorrectheit seiner Verse vor.
Ein Muster französischer Correctheit ist dagegen Herr Delcasso, aus
dem mittäglichen Frankreich gebürtig, aber während mehr denn vierzig Jah-
ren zu Strassburg als Professor des Lyceums und der faculte des lettres,
und zuletzt als Rector der Academie fortgesetzt thätig. — Es ist eine durch-
aus klassisch gebildete Natur, die sich dem Anhauch des deutschen Nach-
barlandes zwar nicht ganz entziehen konnte, und besonders als Philolog die
Errungenschaften der transrhenanischen Gelehrten gelegentlich nicht ver-
schmähte; aber für die Verbreitung, für die alleinige Herrschaft der galli-
schen Sprache kämpfte er zeitlebens, gleichsam pro aris et focis. Er hatte
die ipstinctive Ahnung, dass hinter dem literarischen Bestreben vielleicht ein
politischer Feind lauern dürfte, und suchte, besondei-s während seiner Rec-
toratsjahre, das Deutsche nach und nach in den Volksschulen auf dem
Lande zu vermindern.
Als Dichter bewährte er sich besonders in den poetischen Episteln, die
er an locale Notabilitäten richtete und worin er meist in anziehender Ge-
staltung die Aufmerksamkeit zu fesseln wusste, indem er die Sprache Boileau's
an moderne Bedürfnisse anpasste und mit modernem Style zusammen-
schweisste.
In neuerer Zeit siedelte ebenfalls ein französisch dichtender Professor
von Kolmar nach Strassburg. Sainte-Beuve hat in seinen „Montagsplaude-
reien" die Verdienste von Antoine Campaux, dem Biographen von
Villon, so anerkennend hervorgehoben, dass gegenwärtige Besprechung fast
überflüssig scheinen dürfte. Doch hat gerade in diesem letzten Decennium
die poetische Entwicklung von Campaux wiederholte Proben ihrer Lebens-
fähigkeit abgelegt. In einem Bändchen von lyrischen Gedichten (das Ver-
mächtniss von Mark Antonio) geisselt der Dichter die unzüchtige, gesetz-
lose Modepoesie und stellt sie in gelungenen, individualisirten Portraits an
den Pranger. Nur hat dies Gebahren oft etwas räthselhaftes für den Leser,
der nicht ganz in das Treiben der literarischen Pariser Zigeunerbande (Bo-
heme) eingeweiht ist. Die poetische Sprache von Campaux; ist sehr gedie-
gen; wie denn überhaupt die neuere Schule in Frankreich und in Deutsch-
land, was die Form betrifft, untadelhaft dasteht und zu wahrer Vortreff'lich-
keit gediehen ist. Ob gerade dieser materielle Fortschritt, diese Durchbil-
dung der Versification , nicht dem Gedanken und der Erfindung Eintrag
thut, das ist eine andere Frage. — Campaux ist nicht nur Satyriker; er ist
ein tieffühlender und blendend malender Naturfreund. Mit der Scenerie der
alsatischen und lotharingischen Vogesen ist er in jeder Jahreszeit vertraut
und führt uns vor anmuthige, durch Staffage belebte Landschaftsgemälde.
Für die einfachen Freuden und erasten Pflichten des Schullehrers hat er
Miscellen. 219
cranz eigene analytische und doch mit Farben getränkte Schilderungen ; er
erinnert wohl an' die englischen Lakisten, aber es ruht doch über dem Gan-
zen ein acht gallischer Hauch. — Die Schilderung abnormer, einsiedlerischer
Charaktere gelingt ihm vorzüglich: er vertieft sich nicht ungein in die See-
lenleiden Anderer und hat wohl selber eine herbe Schule des Lebens durch-
eemacht. In seinem Talent sehe ich keine Spuren des nahen intellectuellen
Deutschlands, aber die Luft der deutschen Berge hat ihn durchdrungen
und gesättiget. . t> i
Unter den jüngeren, rein elsassischen Versificatoren tritt uns raui
Ristelhüber entgegen. Sein Name spricht seine deutsche Abkunft aus;
doch hat er nicht eine Silbe deutsch geschrieben, oder einen Gedanken
deutsch aufgefasst, obgleich er Göthe's Faust und Schlller's Maria Stuart
auf seine Art, nicht ohne Geschick, in französische Verse für das -Lheater
umformte. Als Pierre Lebrun gerade vor einem halben Jahrhundert Maria
Stuart für das Theater zustutzte, und mit Talma's Hülfe einen zuerst be-
strittenen, dann enthusiastischen Success errang, brachte der franzosische
Dichter zu seinem Werke schon eine erprobte Bühnenkenntniss und eme
ausgezeichnete academisch-stylistische Begabung mit. — Ristelhuber musste
seine Bearbeitung, die bisweilen willkürlich mit der Originaldichtnng ver-
fährt, auf die Scene bringen. Seine formelle Befähigung ist bedeutend: er
besitzt die Factur, die poetische Sprache, wie sie durch Victor Hugos
Schule befördert worden, und legte davon Proben ab in seinem Bandchen
phantasiereicher, capriciöser Gedichte, die er unter dem Titel Rhythmen
und Rund-Reime" ausgab (18G4). Alfred Musset hat ihm wohl bisweilen
als Muster vorgeschwebt; die individuelle Laune, das Capriccio lasst sich
aber nicht nachahmen, nicht in seinem Schmetterlingsfluge haschen. Ristel-
huber ist noch in jugendh'cher Entwicklung begriffen; er ist auch ein Ar-
beiter auf historisch-alsatischem Gebiet. *
Ich war unentschlossen, ob ich Louis Ratisbonne unter die i^lsas-
sischen Dichter reihen dürfte. Er ist durch Geburt und verwanfl^tschaftliche
Bande an unsere Heimat gekettet; aber seine Erziehung und Entwicklung
gehört fast ausschliesslich in die französische Hauptstadt. - Der Nette des
Pater Ratisbonne und des berühmten Convertiten Alphons Ratisbonne, der
crewissenhafte talentvolle Uebersetzer der „Göttlichen Komödie," der Be-
schützer manches aufstrebenden elsassischen Literaten, steht noch in den
besten Mannesjahren. Seine ersten poetischen Versuche reichen um acht-
zehn Jahre aufwärts. Die poetische Bearbeitung Dante's, in sechs Banden,
ist schritt- und terzinenweise mit allem Bedacht vorangefuhrt worden, und
hat ihrem Verfasser zweimal die höchste academische Belobung und Beloh-
nun<r ein'^etragen. Als Alfred de Vignv seinen Jüngern Frgund testamen-
tarisch zum Herausgeber seines literarischen Nachlasses bezeichnete, schien
dies ebenfalls der Fingerzeig eines Sterbenden, der maassgebend und be-
stimmend für die französische Academie sein sollte. Der letzte \\ iUe des
Verfassers von Chatterton blieb unbeachtet; und doch hatte Louis Ratis-
bonne eine ganze Reihe von poetischen und prosaischen Schriften als Rechts-
titel aufzuweisen, und in all' seinen lyrischen Ergüssen bewhhrt sich ein
achtes Talent in ausgezeichneter Form und krystallreiner Begeisterung.
Was ihm vielleicht geschadet, ist sein verschwenderisches Auftreten in
Tao'esblättern, er hat seine Begabung nicht immer gehörig zusammengehal-
ten'' Doch möchteich deshalb nicht allzustrenge sein; denn in der franzo-
sischen Academie sitzt mehr denn einer, dem diese tägliche politische oder
literarische Improvisation auch zur zweiten Natur geworden. Vielleicht tand
man in seiner poetischen Totalität nicht das Mark und die Kraft eines
* Herausgeber von EaquoPs asiatischem geographisch-statistischem Wör-
terbuch.
220 Miscellen.
durchaus männlichen Dichters. Seine „Komödie für Kinder," * das heisst.
seine in Action gesetzten väterlichen Unterhaltungen im Kreise seiner klei-
nen Familie, diese naivseinsollenden Apologe haben in Paris ein sehr gün-
stiges Publikum getroffen; mir konnten sie dagegen nie ganz munden. Ich
vermisste darin das franke, freie, das naturgemässe Sichgehenlassen, welches
dem Dichter für die Kinderwelt ziemt. Es liegt für mich etwas gezwunpie-
nes. maniorirtes in dieser allzugeistreichen Inscenirung. Die vorlauten, früh-
reifen, altklugen Pariserkinder — les enfants terribles — scheinen vor mir
wie geschniegelte Drahtpuppen daher zu hüpfen; sie sprechen nicht zu
meinem Gemüthe ; mithin kann ich selbigen nicht von Herzen gut sein, und
die vom Dichter gepredigte Moral lässt mich kalt. — „Du hast nun einmal
die Antipathie," dürfte mir ein Freund des Dichters zurufen, und ich wäre
geschlagen ; denn die Beobachtungs- und Erfindungsgabe in diesen lakoni-
schen, epigrammatisch zugespitzten Apologen ist unläugbar. Es ist etwas
von Lessing'schem Verfahren dahinter; nur schrieb Lessing seine Fabeln
nicht für Unmündige.
Rati sbonne hat sieh vor zwölf Jahren mit einer einactigen Tragödie
auf das Theätre francais gewagt. — Sein „Hero und Leander" wurde bei-
fällig {aufgenommen; und doch hat seitdem der Verfasser nicht mit einem
zweiten Stücke den Versuch wiederholt. „Hero und Leander" ist mit vieler
Kunst angelegt. Das kleine Drama ist aus einem, wie es schien, unmög-
lichen, jedenfalls spröden Stoff" herausgemeisselt. Die Priesterin der Venus
erwartet am sturmgepeitschten Meeresufer ihren Geliebten ; eine Sclavin,
Amylla (die unvermeidliche Confidente der französischen Tragödie) ihr zur
Seite. — Von ferne kämpft Leander mit den Wellen ; er sinkt, er verschwin-
det. . . . Da richtet die verzweifelnde Hero Ihr Gebet nicht an die Venus ;
sie fleht zu Neptun, dem Meergott; sie schwört bei dem Styx, ihrem Ge-
liebten, ihrer Liebe zu entsagen, wenn der Arme aus dieser Todesgefahr
sich rettet. Kaum ist das Gebet und das Gelübde ausgesprochen, da ist
auch der Sturm besänftigt:
Und das Meer lag still und eben
Einem reinen Spiegel gleich;
Keines Windes leises Weben
Regte das krystallne Reich.
Leander stürzt auf die Scene; Amylla entfernt sich, aber warnt die Prieste-
rin, ihr Gelübde nicht zu vergessen. — Die Zusammenkunft der Liebenden
ist mit vieler Delicatesse behandelt, das psychologische Motiv der Lage
fein entwickelt. Leander findet seine Geliebte verlegen, beinahe kalt, ängst-
lich ausweichend ; er kann sich diese Stimmung nicht erklären, er wird zu-
dringlich, heftig; dann wieder in Zärtlichkeit sich auflösend; die arme Prie-
sterin Ist erweicht, erschüttert, auf dem Punkte ihn zu erhören . . da er-
scheint Amylla warnend, drohend. Hero verlässt die Scene . . . Amylla
soll dem Unglücklichen das fürchterliche Gelübde offenbaren.
Die Unterredung zwischen der Sclavin und dem unseligen Jüngling ist
ergreifend. Er versagt der Erklärung jeden Glauben. Eine Untreue, eine
räthselhafte Wandlung in den Gefühlen der Hero ist für ihn die einzig an-
nehmbare Ursache dieses Zurückstossens. — „Der erste Scliwur galt der
Venus," ruft er aus; dieser Schwur war bindend für die Gellebte, nicht der
gottlose, dem Stys. hingesagte. Er verwünscht sich und sein Leben, er will
nichts mehr hören; er stürzt sich verzweifelnd in das Meer, nic'it nur
ahnungsvoll, nein, mit der Ueberzeugung. er werde diesmal untergehn. —
Die Schlussscene zwischen Hero und Amylla ist vielleicht etwas gedehnt,
La Comedie enfantine.
Miseellen. 221
aber docli tragisch in hohem Grade. Ilero, da sie den Geliebten nicht mehr
am Meeresufer findet, bricht ihrerseits in den Schraerzensschrei^ der Ver-
zweiflung aus; sie klagt mit heftigen Worten ihre Sclavin der Verstellung
an: „Du liebtest ihn, Du wolltest zwischen uns eine Trennung!" — Leser
und Zuschauer sehen leider das unvermeidliche Ende voraus.
Die Wellen
Schwemmen ruhig spielend
Einen Leichnam an den Strand . . .
Hero stürzt sich mit fliegendem Gewände in die See.
Hat nun der dramatische Dichter jeden Anstoss vermieden? jede Schwie-
rigkeit, die in diesem Sujet lag, umgangen? Ich möchte dies nicht unbe-
dingt bejahen. Schiller's Hero und "Leander wird in ewiger Jugendfrische
leben; wer könnte dem französischen Dichter für sein Trauerspiel dasselbe
versprechen? — Nur pflichtgetreue Kritiker werden in gar nicht ferner Zeit
den Hero und Leander von Louis Ratisbonne lesen. Und doch liegt in
dieser feinen Skizze ein ungemeines stylistisches Talent; die Verse sind ein-
schmeichelnd; der Dichter ist bald energisch, bald graziös; mehrere gut
vorbereitete und kunstreich durchgeführte psychologische Momente bringen
Leben und Handlung in das Ganze. Aber schon die ganze Situation ist
etwas gezwungen. Der Jüngling, der eigentlich, der Wahrscheinlichkeit ge-
mäss, von Seewasser trielend, auftreten sollte; und dann das Riskirte, In-
discrete in der Lage des vorgeführten Paares!
Ratisbonne der Kritiker steht höher als der Dichter. In seinen
einfiichsten, leicbthingegossenen prosaischen Auf'Mitzen liegt ein Schatz gebor-
gfn von neuen frappanten Ansichten über Welt und Menschen, über Kunst
und Literatur. Er hat diese zerstreuten Blätter, im Laufe von einem De-
cennium, mehrmals in Kränze zusammengebunden und sie glänzen noch in
Jugend- und Frühlingsfrische. Auch die Satyre geht nicht leer aus; mit
vernichtendem Spott fällt der Kritiker über die unheimhchen Schwächen
seiner Zeitgenossen her; nicht ungestraft lebt der gemüthsvoUe Dichter in
der widerwärtigen faulen pariser Atmosphäre, mehr als einmal fühlt er sich
berufen die Geissei zu schwingen. Wohl hat der iui-olente Louis Veuillot
keine herberen Streiche empfangen, als die von der anscheinend weichen
Hand Louis Ratisbonne's auf den breiten Rücken beigebrachten; wohl nie
ist das Wettrennen nach Ordensbändern treffender geschildert und verhöhnt
worden als durch den Uebersetzer Dante's. Er ist mithin vom Zeitgeiste
getränkt und nicht in die Sphäre der elegischen Naturdichter gebannt; mit
gellendem Gelächter begrüsst. und verfolgt er die Tagesgötter hinter und
neben ihren Triumphwagen, und reisst die entweihten Lorbeerblätter von
den gemeinen Stirnen. — Tadeln kann er also: und dennoch ist er mit sei-
nem "Lobe noch viel zu sehr verschwenderisch. Wer nicht zwischen den
Zeilen liest, mag oft für baare Münze nehmen, was der Kritiker als erzwun-
gene Scheideimmze betastet wissen will. Seine Aufsätze kommen der psy-
chologischen, biographischen Analyse, worin Sainte-Beuve unerreichbare
Muster geliefert, bei Weitem nicht gleich; aber ich gebe selbigen entschie-
denen Vorzug vor der schillernden phrasenreichen leeren Kritik, wie sie
Jules Janin seit vierzig Jahren allwöchentlich in den Debats an den Älann
bringt.
In dieser kurzen Uebersicht der poetischen Leistungen französisch ge-
bildeter Elsässer und im Elsass auf kürzere oder längere Zeit angesiedelter
Franzosen, geschah bis jetzt keine Erwähnung der übrigen Zweige der Belle-
tristik, der Romaue und Novellen, der Touristenliteratur, der Phantasie-
stücke, der moralisirendeu Abhandlungen u. s. w. Es erübrigt in diesen
Fächern einige namhafte Personalitäten anzudeuten.
222 Miscellen.
Da stossen wir gleich auf einen achtzigjährigen Greis , der mit Göthe
das Privilegium eines hohen rüstigen Alters und einer Doppelbeschäftigung
auf naturwissenschaftlichem Gebiete und im blühenden Garten der Dicht-
kunst theilt. Fee, der Botaniker, hat sich als Moralist, Tourist und Novel-
list hervorgethan. Seine Erinnerungen aus Spanien und Korsika sind an-
muthig und lesen sich leichtweg. Die Volkspoesie, die Voceri der Napoleo-
nischen Insel hat er eingehend mit Vorliebe und Sachkenntniss behandelt:
auch einzelne literarische Bändchen geben Zeugniss von seiner Beobach-
tungsgabe und seinem gefälligen Wesen; er hat etwas von der Art des
Xavier de Maistre; nicht ohne Interesse lässt er im Volke aufgegriffene
Typen, mehr odei weniger hart heimgesuchte Charaktere, vor uns auf-
tauchen. Was aber Herrn Fee in den meisten seiner Producte abgeht,
das ist das Kernhafte, Gedrungene; alles geräth und verläuft bei ihm in's
Breite, besonders wenn er zu moralisiren anfängt, Sentenzen und Gedanken
aufzeichnet, da möchte ich ihm wohlmeinend bedeuten, dass nach La Roche-
foucauld und vielen Denkern seiner Nation die Gemeinplätze in diesem
Fache unerlaubt sind. Damit will ich nicht gesagt haben, dass nicht mit-
unter gute, feingedachte Gedanken sich bei ihm vorfinden; aber der Haupt-
stock solcher Mittbeilungen ist der Art, wie sie in geistreichen französischen
Gesprächen, am Kamin oder beim Nachtisch der Weltmann unbeachtet zum
Besten giebt, ohne sie je der Druckerpresse zu überliefern.
Von deutschem Wesen ist Herr F^e, wie die Mehrzahl seiner franzö-
sischen Collegen in Strassburg, ganz unberührt geblieben. Ueber deutsche
Literatur, die er bloss fragmentarisch aus Uebersetzungen kannte, war er
im höchsten Grade absprechend, und unbewusst für Fachmänner beleidigend
und herausfordernd. Hier verläugnete er nicht die alte, engclassische into-
lerante Schule: hors de l'eglise point de salut.
In dem vorletzten Jahre der Bourbonenregierung erschienen „Die
Briefe über den Orient," von einem aus dem Elsass gebürtigen Ge-
sandtschaftssecretär, Baron Theodo r Renouard de Bussierre. Der
junge Diplomat hatte seine Reise von Wien aus nach Konstantinopel,
Smyrna und Egypten ohne zureichende archäologische Vorkenntnisse ange-
treten, aber die anspruchslose naive Reisebeschreibung fand zuvorkommende
Leser; waren doch beide Bändchen mit einer wohlgefüllten Mappe litho-
graphischer Landschaftsgemälde versehen, die jetzt nach vierzig Jahren
nichts von ihrem ursprünglichen Reize verlieren, v. Bussierre war mehr als
Dilettant; sein Künstlerauge war im Auffassen der Gegenden und der Mo-
numente sehr glücklich : er verband Eleganz und Anmuth mit beinahe pho-
tographischer Treue. Die Reise dehnte sich bis an die Nubischen Tempel
aus und war, in einigen Begegnissen, nicht ganz gefahrlos. So brachte er
im St. Katharinenkloster am Fusse des Sinai mit seinem Freund und Be-
gleiter, Lord Brabazon, mehrere böse Tage zu. Die Beduinen, die er von
Kairo nach Jerusalem gemietbet, wollten die ursprünglichen Bedingungen
nicht einhalten und zwangen die Reisenden nach Egypten zurückzukehren.
Die Klostermönche beschworen vergebens ihre unvorsichtigen Gäste, sich
den treulosen Führern nicht anzuvertrauen, und die Ankunft irgend einer
Karavane von Pilgern abzuwarten. Die Rückreise war peinlich und durch
die Befürchtung eines verrätherischen Ueberfalls getrübt. — Bussierre ver-
wand nie die fehlgeschlagene Fahrt an das heilige Grab. Schon damals
neigte sich wohl seine lebhafte Phantasie zur katholischen Kirche. Als po-
lemisirender Katholik ist er vielfach aufgetreten. Eine Reise in das Innere
Siciliens und auf den Etna, in Gesellschaft seines Bruders , lieferten ihm
den Stoff" zu einer Reisebeschreibung, die gediegener als sein Erstlingswerk
ausfiel. Als alsatischer dilettirender Historiker ist er Verfasser einer Bio-
graphie Karl's des Kühnen, einer Geschichte des Bauernkriegs, einer ein-
seitigen leidenschaftlichen Geschichte der Reformation in Strassburg; für
die letztere benutzte er indess gewissenhaft die localen Archive. — Er war
Miscellen. 223
Polygraph und fand als Convertit unter seinen neuen Glaubensgenossen
zahlreiche wohlwollende Leser. Sein schöner Landsitz zu Reichshoffen,
früher ein Eigenthum des unglücklichen Friedrich von Dietrich, beherbergte
den berüchtigten Louis Veuillot und das nahe Kloster in Niederbronn
wurde der Ausgangspunkt einer thaumaturgischen Propaganda. Alphons
Katisbonne, der römische Convertit, war einer der näheren Freunde ßus-
sierres.
Auf dem Gebiete der Romanliteratur tritt am Anfang der Juliregierung
der Pseudonyme Louis Lavater auf. Er beschränkt sich in seinem „Henri
Farel" auf bitten- und Lamis<chaftsmalerei , auf die Analyse der Gemüths-
leiden und lasst die Zeitereignisse des ersten Kaiserreichs und der Restaura-
tion nur im Hintergrund seines zweibändigen Werkes durchschimmern. Die
Pariser Kritik warf dem Verfasser, bei aller Anerkennung des leidenschaft-
lichen Interesses, seine Germanismen vor und witterte vielleicht hinter dem
Cultus der deutschen Literatur Tendenzen, die ihm keineswegs im Sinne
lagen. Im Elsass wurde dem schüchternen Pseudonym das Zeichnen unlieb-
samer Charaktere vorgeworfen; er habe sich, so hiess es, an seinen Lands-
leuten durch diese unwahre VerungHnipfung versündigt; aber nichtsdesto-
weniger spürte man, scandalsüchtig, hinter dem Schleier der Dichtung, nach
unmöglichen Realitäten. — Ein zweiter Roman desselben Schriftstellers,
„Der neue Candide," brachte keinen Schluss und konnte somit nicht
befriedigen. Die Scene spielt in Italien und führt Charaktere aus der da-
mals wenig bekannten römischen Bürgerwelt vcr. — Rom und die pittoreske
Campagne bilden den Rahmen. — „Manesse," der mittelalterliche Dichter,
wurde für Louis Lavater zum Gegenstand einer Novelle, welche in der
Neuenburger Revue Suisse an's Licht trat. (1848.J Sie versank in dem
Strudel jener furchtbaren Socialisten-Epoche.
Den rein literarischen Charakter, der in Louis Lavater's Romanen vor-
herrscht, überwog in neuerer Zeit das stoffartige Interesse, welches die
Producte von Erckmann-C hatr ian kennzeichnet. Es charakterisirt ganz
das jetzige Lesepublikum, dass eine den geschichtlichen Ereignissen ent-
lehnte und in's Breite durchgeführte Erzählung, das künstlerische Verfahren
ganz in den Hintergrund drängt. — Erckmann (Chatrian greift bekanntlich
nur als Geschäftsführer ein\ Erckmann, in der Festung Pfalzburg, auf der
Grenz- und Wasserscheide Lothringens und des Elsass geboren, in den Er-
innerungen an die Kaiserzeit aufgewachsen, stellte sich zur Aufgabe seines
literarischen Berufs, den Krieg mit all seinen Scheusslichkeiten zu brand-
marken, und somit der AViederholung einer langen unheilvollen Periode
(1792 — 1815) vorzubeugen. Seine Romane geniessen eines europäischen
Rufes; die Edinburgh-Review hielt den Erzeugnissen der Muse Erckmann's
eine mit Belegen ausgestattete Lobrede; aber der wohlgemeinte Versuch des
philanthropischenRomanschreibers sollte der Mitwelt leider keinen Schuss Pul-
vers und nicht ein einziges Menschenopfer ersparen; ein neuer Beweis, wie ge-
ring derEinfluss der beliebtesten Schriftsteller, wenn solche nicht den Interessen
und Leidenschaften der Masse schmeicheln. Die zahlreichen Romane des Pfalz-
burgers sind selbstverständich in Paris erschienen und hätten — wären sie
in einer Provinzialstadt herausgegeben — nun und nimmermehr irgend eine
Celebrität errungen. Die ersten in den Democrate du Rhin gelieferten No-
vellen bheben ganz unbeachtet; denn „was kann aus Nazareth Gutes kom-
men?" . . . Die nicht talentlosen „Contes fantastiques" scheiterten eben-
falls an der Indifferenz des Pubhkums. Erst mit dem „Doctor Matheus"
(1859) und dem „Juden Yekof" (1862) begann für dies Freundespaar eine
günstigere productive Periode. Die Scenen der Campagne von 1814 sind
ergreifend in diesem letztern Romane geschildert. Der Partisanenkrieg in
den Elsassischen und Lothringischen Engpässen am Fusse des Donon und
in den Umgebungen Pfalzburgs bildet die Hauptvorlage. Nach der Natur
gezeichnet sind die Charaktere ; die Realität ist photographisch wiederge-
224 Miscellen.
geben ; keine Spur, kein Anflug von Idealisirung. — Mit einem glücklichen
Griff" hatten so die Verfasser den öffentlichen Geist errathen und konnten
nun auf dem gebahnten Wege getrost vorangehen. Was ich von der Cha-
racter-Zeichnung sage, möchte ich nicht immer von der Naturschilderung
gelten lassen; hier sind die Conturen nicht überall und nicht immer mit
fester Iland gezeichnet, und es möchte der Einbildungskraft des Lesers
nicht leicht werden, sich von jeden beschriebenen Localiläten ein bestimm-
tes Bild zu entwerfen. Auch mit der reellen Topographie und mit dem
Höhenmaasse der Berge gehen die Verfasser willkürlich um; für die erstere
und für die Orthographie der deutschen Benennungen sind sie nicht verantwort-
lich; schreiben sie doch für französische Augen und Ohren; aber die Abgründe
und Hochebenen sind mit Zahlen bezeichnet, die etwa für die alpinische
Schweiz, nicht aber für die Vogesen anwendbar sein dürften.
Ein unbestreitbarer Vorzug bleibt den Romanen E rckman n -Cha-
trians, vergleicht man solche mit den gleichzeitigen französischen Erzeug-
nissen in diesem belletristischen Fachwerk. Er ckmann-Chatrian's Werke
sind acht moralisch, nicht mcralisirend. Die Verfasser, ihrer intensiven Stärke
sich bewusst, verschmähen es, in der Schilderung der Verhältnisse beider Ge-
schlechter, auf die Sinnlichkeit ihrer Leser irgendwie zu wirken. Ihre weib-
lichen Gestalten sind wahr und einfach, bisweilen sehr anmuthig und naiv,
nicht verführerisch; es ist ihnen auch nicht immer eine Hauptrolle zuge-
wiesen.
Mit den sechziger Jahren (1861 — 1870) wächst der Ruf Erckmann-
Chatrian's in geometrischer Progression. FrauTherese oder die Freiwilligen
von 1792; die Geschichte eines jungen Soldaten von 1813; Waterloo ; die
Blokade; die Schicksale eines Bauern u.a. m. behandeln insgesammt Epochen
aus den Revolutionskriegen oder den Jahren des zum Sturze sich hinneigen-
den Kaiserreichs. Allen ist der Vorzug lebhafter Anschaulichkeit gemein;
aber auch in allen stossen wir auf die weitgedehnteu Gesprä('he der vor-
geführten Personen. Walter Scott wird ebenfalls nicht lass, seine Geschöpfe
dialogisirend, und zwar nicht lakonisch vorzuführen ; aber es belebt sie ein
gewisser Shakespeare'scher Geist; ein fester Styl hebt sie immer etwas über
die platte Wirklichkeit empor. Dass Erckmann-Ch atrian einen so unge-
meinen Einflnss, wie durch Zauberfchlag, errungen, ist ein unwiderleglicher
Beweis, wie sehr das ästhetische Feingefühl bei dem jetzigen Lesepublikum
allmälig abgestumpft, und wie in den Blüthetagen Walter Scott's und Feni-
more Cooper's, oder, um noch etwas weiter chronologisch hinaufzusteigen,
in den Tagen, als Frau von Stael die Corinne schrieb, die Masse der Lese-
welt sich durchschnittlich auf einem höheren Standpunkt, sei es beurtheilend,
sei es passiv aufnehmend, oben hielt.
Ohnlängst haben sich Erckmann-Chatrian im dramatischen Fache
versucht und ihren „Polnischen Juden," der schon in den phantastischen Er-
zählungen als Skizze vorlag, auf eine der secundären Pariser Bühnen ge-
uracht. Der Versuch ist gelungen.
Welchen Einfluss die jüngsten welthistorischen Begebenheiten auf Erck-
mann-Chatrian wohl ausüben werden? Die grässlichen Verheerungen, die
schauderhaften Grausamkeiten, alle unausbleiblichen Folgen der einmal ent-
fesselten Kriegsfurie, geben ihren patriotischen Friedenstendenzen in vollem
Maasse Recht; an ihrem guten Willen lag es nicht, dass kein lohnendes,
praktisches Ziel erreicht worden. Sie predigten Gerechtigkeit auch gegen
fremde Nationalitäten; sie wollten über den Rhein hinaus die Hände der
Uferbewohner zusammenlegen, nicht die Schwerter wetzen. Auf ihre ehren-
hafte schriftstellerische Thätigkeit fussend , mögen sie jetzt, mitten in den
Nachwehen und im gährenden Chaos, an irgend einem Rettungsufer ankern,
und von dort aus mit neuen Schöpfungen die bewegten Gemüther besänf-
tigen, vereinigen, versöhnen.
Der Sprung von der kräftigen Doppelfigur des Herrn Erckmann-Cha-
Miscellen. 225
triau auf den einfachen Moralisten Adolph Scliaeffer, der einen religiö-
sen Eoman verfasste, ist ein wahrer salto mortale. Das Büchlein „un homme
heureux" betitelt, ist eine Fiction mit moralischer Nutzanwendung, ein wenig
nach Art gewisser englischer Damen-Komane, die mit mehr ■ oder weniger
Talent eine These im Gewände der Erzählung vortragen und vertheidigen.
Ich will solche ästhetisch-dogmatische Versuche gerade nicht abweisen, aber
für meinen Geschmack sind sie nun einmal nicht. „Der glückliche Mensch,"
wie der Verfasser ihn hinstellt, ist es keineswegs im Sinne der "Weltmen-
schen; er lebt in sehr beschränkten, niedern Verhältnissen; aber durch ein
liebendes weibliches Wesen, durch seine engelgleiche Gattin, ist er aus einem
Freidenker nach und nach ein gläubiger Christ geworden, und seine Glau-
benszuversicht geht nicht nur unversehrt aus der Feuerprobe des schwersten
Hauskreuzes und inneru Leidens hervor, nein, sie gibt ihm Ruhe und Zu-
friedenheit; sie stempelt ihn zum wahren Glückskind. Der Hehl des Romans
ist mithin 'ein christlicher Hiob und nicht der sceptische Raisonneur des
alten Testaments; die Personen alle, die sich in dem Kern der Erzählung
siruppireu und die erfundenen oder erlebten Begebenheiten bezeugen das
Talent des Verfassers; allein — „man merkt die Absicht und man ist ver-
stimmt." T 1 1 • A
Herr Ad. Schaeffer hat unter dem Patronate vonLaboulaye eine Apo-
\oa\e des Christenthums geschrieben, und überdies einen ausgedehnten Trac-
tat über die Toleranz; er gehört unter die literarischen Notabilitäten des
Elsasses, versieht noch eine Seelsorgerstelle in Kolmar. In derselben Stadt
lebt oder lebte ein Rath beim Appellhof, Namens Huot, der in letzter
Zeit durch einige historische Monographieen (z. B. „Beaumarchais in Deutsch-
land«) und Aufsätze über locale Geschichte in der Revue d'Alsace vergangne
Schuld abzubüssen trachtete. — Herr Huot hatte nämlich vor einigen Jah-
ren bei Berger-Levrault ein archäologisch-historisch-belletristisches Bändchen
unter dem Titel „Von den Vogesen zum Rhein"* veröffenthcht. Das
„Berliner Magazin für die Literatur des Auslands" nimmt dieses Mischmasch
sehr hart mit, — und uns dünkt, nicht einmal strenge genug. In dem
höchst oberflächlichen Product sind auf jeder Seite mehrfache Ungenauig-
keiten und Verstösse gegen den wahren Sachverhalt, und was noch schhm-
mer, wo etwas annehmbares angebracht, stammt es von aussen her, ohne
Quellenangabe. Mit einem Worte, es wird in dieser Schrift eine unver-
schämte Freibeuterei getrieben. Dieses anmassende Verfahren erregte im
Stillen den wohlberechtigten Ingrimm aller ernsten Freunde der elsässischen
Geschichte und des heimischen Bodens; doch wollte sich keiner an der ge-
weihten und gefeiten Magistratsperson vergreifen, die von „jenseits^ der Vo-
gesen an den Rhein-' verpflanzt, ihre imperialistischen Sympathieen zur
Schau trug. Das Erstlingswerk obbenannten Appellraths bietet eine Muster-
karte des frechen Bücherraubs und des leichtsinnigsten Dilettantismus.
Jean Mace ist nicht aus dem Elsass gebürtig; doch gehört er in die
Reihe der Elsässischen Schriftsteller, Seine Thätigkeit als populärer Pa-
dan-o"- geht aus vom Fusse der Vogesen. Er steht an der Spitze eines
Peusfon'ats für Mädchen der mittleren Stände, in Beblenheim. Die Tendenz
dieser Erziehungsanstalt ist rein rationalistisch, ausser jeder confessionellen
Beschränkung. — Mace hat durch seine „Geschichte eiries Bissen
Brods" einen allgemein geschätzten Namen erworben; es ist dies eine fass-
liche für die Jugend geschriebene Abhandlung über unsere Organe. — In
derselben Richtung fortfahrend, hat er auch die „AVerkzeuge des Magens"
beschrieben. — Seine „Theater« und seine „Erzählungen für das kleine
Schloss« möchte ich mit den Schriften des Weise'schen Kinderfreundes ver-
gleichen. — Doch greift Mace noch in andere Zweige des öffenthchen Un-
* Des Voges au Rhin.
Ai-chiA f. n. Sprachen. XliVIlI. lä
226 Miscellen.
terrichts, er ist zum Theil Stifter und Beförderer der Volksbibliotbeken.
Seine Strebsamkeit ist segensreich.
Charles Dollfus ist in Mühlhausen geboren, saugte Luft und Licht
in der ersten Lebensperiode auf dem heimathlichen Boden, aber seine eigent-
liche spatere Bildung verdankt er der französischen Schweiz und der Pariser
Welt. Seine publicistische und belletristische Wirksamkeit ging aus von
Paris. Der Sohn des Herrn Jean Dollfus, des weitbekannten ehemaligen
Municipal- Verwalters von Mülhausen, ist mit den Ideen deutscher Philosophie
und Literatur gross gezogen; es sind solche mit seinem eigenen Wesen ver-
schmolzen; aber nie wäre er wohl in seiner jetzigen merkwürdigen Entwick-
lung vorangeschritten, hätte ihn nicht ein günstiges Geschick an der Grenz-
scheide beider Nationen in die Welt gesetzt. — Charles Dollfus ist ein
Denker; ein tüchtiger, vielseitiger, vielfach anregender Denker. In seiner
Jugend schon ward er von den socialen Fragen beunruhigt und bestürmt ;
schon am Eintritt in das Mannesalter wagte er sich an die Lösung der
Räthsel, die uns auf dem Gebiete der Religion, der Moral, der Psychologie
und der Staatswissenschaft verwirren. Es ist ein unruhig, fieberhaft erreg-
tes und daneben doch wieder von gläubiger Zuversicht strahlendes Gemüth,
das in seinen zahlreichen Schriften vor unsern Blicken sich enthüllt. Ein
überfliessender Ideenreichthum, ein unerschöpflicher Springquell von Gedan-
ken, Empfindungen, Wünschen, Ähnungen und Prophezeiungen tritt in sei-
nen philosophischen Aufsätzen zu Tage. O wie viele seichte und matte
Arbeiter auf dem Felde der Wissenschaft und der Kunst könnte er doch
mit seinem Ueberfluss tränken und sättigen!
„Humanität und Fortschritt" hat er auf seine hochgehaltene Fahne ge-
schrieben; und ich bin überzeugt, es ist dem enthusiastischen Manne voller
Ernst mit seinem Glaubensbekenntniss. — In der Menge der Freiheitsapostel
gehört er zu den wenigen, die den Idealen ihrer Jugend treu bleiben. Auch
unter gegenwärtigem trüben Horizonte, was sage ich, in gegenwärtiger
egyptischer Finsterniss wird er immer noch seine frühere Leuchte festhalten.
Ja ! man athmet in den Schriften von Charles Dollfus wie in einer von
Ueberzeugungstreue gesättigten Atmosphäre. Er ist eine sympathische Na-
tur; und doch bin ich in vielem nicht mit ihm einverstanden; vielleicht liegt
der Fehler wohl an mir?
Von seinen äusseren Verhältnissen ist wenig bekannt. Dass sein aus-
gezeichneter Vater, der philanthropische Economist, der Gründer der Arbei-
terviertel (Cites ouvrieres) in Mülhausen auf den begabten Sohn mehrfach
anregend gewirkt haben mag, lässt sich denken. Kaum dreissigjährig grün-
dete Charles Dollfus mit dem frühern Elsasser Theologen NefFzer die Revue
germanique, die etwas später ihre allzuenge Bezeichnimg mit dem Titel
einer „Revue moderne" umtauschte. In dieser periodischen, inhaltreichen,
gtwas radicalen Zeitschrift legt er vorzugsweise die Ergebnisse seines per-
sönlichen Forschens nieder über die Grundübel unserer gesellschaftlichen
Verhältnisse und der etwa anwendbaren Heilmittel; denn um das Wohl sei-
ner Mitmenschen ist es ihm Ernst, und den Ausbruch der jetzigen unheilsvollen
Krisis verkündigte er jahrelang zuvor mit tragischer Beklommenheit. Er
unterzieht die abgestorbenen Religionen des Alterthums und die am Sterben
liegenden Confessionen der modernen Welt einer kritischen, zernichtenden
Untersuchung. — Nur will nicht immer einleuchten, was er an ihre Stelle
zu setzen hat, und mir ist keineswegs erwiesen, dass die Religion der Zu-
kunft, wie er sie sich denkt, aus dem Reiche der rhetorischen eloquenten
Formeln jemals in das Reich der Wirkhchkeit übergeführt werden könnte.
Indem er der christlichen Religion, wie sie jetzt besteht, jede Lebensfähig-
keit abspricht, scheint er mir einerseits nie auf das eigentliche Fundament
des christlichen Glaubensbekenntnisses durchzudringen, und andrerseits nie
das leidenschaftliche, von Grund aus verdorbene menschliche Herz in seinen
Tiefen ergründet zu haben.
Miscellen. 22?
Mag sein, dass die Menschheit in langsamem Fortschritte einem höhern
Ziele unaufhaltsam entgegen strebt; mag sein, dass einzelne bevorzugte
Naturen in einem philosophischen Systeme volle Befriedigung und Ruhe
finden; mag sein, dass der unpersönliche Gott, das Gesetz, die Gerechtig-
keit, -wie Charles Dollfus die regierenden Gewalten im Weltsysteme nennt,
zur Regelung des Lebens bei einigen Geistern sich vollauf hinreichend er-
weisen. Nie, niemals wird die rohe, von Begierden gepeitschte Masse sich
unter solchem abstracten Gesetze beugen ; nie wird das zerfleischte Herz
der Bessern bei solcher Glaubenskost sich stärken und heilen. Wenn ich
Herrn Charles Dollfus aufforderte, seine Doctrinen in einem allgemein ver-
ständlichen Katechismus zusammenzufassen, — ich will nicht sagen, dass er
es nicht könnte, — aber ich meine, dass er damit nicht auf Kindheit und
Jugend und männliches Alter dieselbe praktische Wirkung ausüben dürfte,
die in der christlichen Sittenlehre und den Aussichten auf künftige indivi-
duelle Fortdauer geborgen liegt.
Im Gährungsprocess, der allem Anscheine nach immer fort im Innern
dieses begabten Schriftstellers vor sich geht, ist bis jetzt der reine Nah-
rungsstoff nicht völlig ausgesondert. — Die Zeitereignisse, die Katastrophen,
die vor unseren Augen und zu unseren Füssen wie Wetterstrahlen ein-
schlagen, die Leiden und Erfahrungen des spätem Alters werden noch ge-
waltig an dem Quaderbau seines jetzigen Systems rütteln, und er wird viel-
leicht, ehe er sich zur Ruhe legt, den bis jetzt gebrauchten Kitt ungenügend
finden. Aber dass er zu einem phantasiereichen , trefflichen Architect die
Anlage hat, dass er sich schon in manchen Räumen wesentlich eingerichtet,
das stelle ich keineswegs in Abrede.
Zu den deutschen Dialecten.
IL
Oberdeutsch (Mosel zwischen Trier und Coblenz) :
1. Boll, femin. = Trink- und Schöpfgefafs , gewöhnlich aus Kupfer mit
eisernem Stiel zum Anfassen, in der Küche gebraucht. Vergl. W.
W'ackernagel's Altdeutsches Handwörterbuch, pag. 42, bolle = kugel-
förmiges Gefäss.
2. Bollmehl = Art Nachmehl, woraus dunkleres Brot gebacken wird; vgl.
Wackernagel pag. 42, polle, lat. pollis = feines Mehl und Gebäck
daraus.
3. Treip = Magen von Schlachtvieh; engl, tripe.
4. Ueipert — a) dicker Bauch, b) Anhängetasche, gewöhnlich Tasche der
Bettelweiber an einer um den Leib gebundenen Schnur befestigt ;
viell. von mhd. rife und heran =: am Riemen tragen? Scherzweise
sagt man: Er muss seinen Bauch im Riemen tragen.
5. Boppel =: Jacob, Koseform, ahd. Boppo, vgl. W^ackernagel, pag. 42.
6. Gädemchen = Verkaufsbude, nicht transportabel, sondern in Mauerwerk
angelehnt an Kirchen (Gangolf i. Trier) oder grosse Häuser; vgl.
Wackernagel pag. 91, gadem = Haus von nur einem Gemach.
7. berepsen = bereuen; hängt dies etwa zusammen mit mhd. respen =
mit Worten strafen? Vgl. Wackern. p. 231.
8. Haipel = Spielball der Kinder. Es ist nicht zu verkennen, dass in der
Schlusssilbe das Wort „Ball-' enthalten ist; aber was bedeutet die
erste Silbe?
9. Ducksaal = Emporkirche, wo die Orgel angebracht ist. — ??
15*
228 , Miscellen.
10. Gail oder Gäl = grosses Fischerwurfnetz, des leichteren Sinkens wegen
mit vielen eingereihten Bleikugeln beschwert, zum Werfen aus freier
Hand, ohne Stange, im offenen Strom aus dem Nachen. — ?'? ,
11. Oacliter = seit, engl, after. (oa gesprochen wie ou in engl, thought.)
12. Laidlich = hässlich, garstig; an fi-anz. laid ist wohl schwerlich zu den-
ken. Das Substantiv. Laid =: lallende Krankheit; in's Laid fallen.
Einem das Laid (Leid) oder die Kränk = Pest wünschen, ist ein
sehr üblicher Schifferfluch a. d. Mosel.
13. Mouder = Schimmel od. Satz im Wein; ahd. muon od. muoder.
14. Pant bezeichnet dasselbe. — ??
15. Gangs = schnell, eilig; auch gühUen\ mhd. gäben.
16. Ittem = Vermögensantheil; auch Bezeichnung für ganz Geringes, wie:
nicht einen „Deut" = Witthum, mhd. wideme.
17. Gaden = gleicher Theil, ein Theil von nur paarweise gebräuchlichen
Dingen, wie Schuhe, Strümpfe etc., mhd. gate.
18. Geioeit = quitt werden; also Dehnung.
19. Schmudie warm = drückend heiss; — ??
20. Raiz z= ßückentragkorb, gross und durchbrochen, nur zum Laub- und
Ginstertragen gebraucht. Dürfte man etwa an lat. rete = Netz
denken wegen der den Maschen ähnlichen OeHnungen?
21. Schädel = zweiräderiger Wagen oder Karren, zum Ausschütlen einge-
richtet.
22. bereits hat dort die Bedeutung „fast, beinahe."
23. fraislich = schrecklich; goth. fraisan.
24. Gelimp = Glimpf; also Dehnung wie in „geweit" für „quitt;"
Redensart: Mit Gelimp davonkommen =: gnädig davon- oder loskom-
men. Andere Redensart: Mit dem Gelimp = bei der (günstigen)
Gelegenheit z. B. bin ich zu meinem Geld gekommen.
25. Dolk = dicker Rauch; dolken z= stark rauchen; sollte etwa an engl.
„dark" zu denken sein?
26. Aischen = kleines Geschwür; hier wird wohl ahd. „eit" = Feuer,
eiter = Gift von gr. aid-eco stimmen.
27. gouwen = den Mund aufsperren, aus Verlegenheit, Verwunderung oder
Dummheit ; mhd. giwen oder geuwen, gewiss mit dem früher erwähn-
ten „kuffen" (bouffon) verwandt.
28. Peeiläuten = Sterbgeläute, unmittelbar nach einem Sterbfalle. Es wäre
interessant, wenn das bei Diez, Etym. Wörterb. II, p. 9 erwähnte
basire ■=. sterben . . . herangezogen werden dürfte, (nord. basa.)
29. Schmock = feiner, dünner Nebelregen; schmocken, schmucken = fein
regnen; viell. engl, smoke?
30. leicht in der Bedeutung von „leichtsinnig."
31. randelig = übel gelaunt, leicht reizbar. — ?
32. gammer = fest, kerngesund. — ? Redensart: Frisch wie ein Fisch,
gammer wie ein Hammer, gesund wie ein Hund.
33. Büschef = Rückentragkorb, nur für Trauben gebraucht, deshalb von
innen verpicht. — ?
34. schmicksen = stinken nach Urin. — ?
35. klott =■ wählerisch namentlich im Essen und Trinken. — ?
36. Schalaun = kluges, hintei'listiges Frauenzimmer. — ?
37. afeerd = erschrocken; einen „afeerd" machen; dies ist zweifelsohne
engl, „afraid." (Metath.)
38. heuwel = unterdessen, mittlerweilen; gebildet wie „heute" und „heunt."
39. Arwel = Armvoll; Haafel = Handvoll; Muffel = Mundvoll: zu letz-
terem vergl. m. Diez' Etym. Wort. I. 284, zu „Haafel" das schweize-
rische „Hämpfeli," bei Rochholtz: AUemannisches Kinderlied und
Kinderspiel, p. 35.
40. Kau = schlechtes Bett, Lager; hoUänd. „Key"?
Miscellen. 229
41. strippen = entwenden, namentlich Wilddieberei treiben; engl, to strip.
42. gapsen = nach Luft schnappen; engl, to gape.
43. toaan = abgestumpft, müde; engl. wane.
44. Schnärz = vorwitziges Frauenzimmer; engl, to sneer?
45. Manisch = verborgener Aufbewahrungsort (gew. im Heu auf dem Spei-
cher) für Obst, welches die Rinder sieb gelesen haben ; ahd. muh-
han? Vgl. Wackern. p. 204.
46. Kaft = Kerbe od. Scharte. — ?
47. Zief =: Zehe (in Trier), also Lautwechsel wie in den engl. Wörtern
strife und struggle.
48. Heef = ScbifTscajüte ; engl, hive?
49. gehnsig = übel schmeckend und riechend, von Speisen gesagt; qualmen?
50. zeitig = reif (Obst).
51. plündern in der Bedeutung: ausziehen, umziehen, die Wohnung
wechseln.
52. schnausig = auf Leckerbissen versessen.
53. schroa (oa gespr. wie ou in engl, thought) = wüst, hässlich. — ?
54. klaisper = mager, schmächtig. — ?
55. Plack = Grind.
56. Geschick und Geschnf (schaffen) ; er hat kein Geschick und kein Ge-
schuf = er ist nicht gehauen und nicht gestochen.
57. ausgeilen = ausspotten.
58. Knaschtheutel = Geizhals. — ?
59. Getausch = Getöse.
60. Seidel r= Hühnerstall; ahd. sedal.
61. Kaunitz = verschliessbarer Schreibsecretär; etwa vom Eigennamen?
62. sprock =z spröde, namentlich von leicht springendem Metall oder Holz
gesagt. Hier ist gutturaUs an Stelle der dentaüs getreten.
63. off stanz z= übrig.
64. Schliicer und Schieuter = Splitter.
65. stamper = kräftig.
66. Kirfich = Kirchhof; also Metathesis.
67. Drocdit = Trunk (Trier); engl, draught.
68. deftig = derb ; goth. gadaban.
69. Toapert = Dummkopf? täppisch?
70. Zum Schluss für diesmal mögen zwei sprichwörtliche Redensarten folgen:
a. Wo sich der Wolf wenzelt (wälzt), da lässt er die Haare.
b. Eine grosse Magd ist eine Leiter im Hause.
Düsseldorf. Dr. Mieck.
Zur Construction des Verbs craindre.
Es ist mit den grammatischen Regeln ein eigen Ding. In der Schul-
grammatik von Plötz, Lect. 70. A. 14, lese ich: Soll [aber] durch das ein
Substantiv ersetzende persönliche Fürwort die Identität der Person festge-
stellt werden, so ist le, la, les je nach deni Geschlecht und der Zahl des
bezüglichen Hauptworts zu gebrauchen. Etes-vous la gouvernante de ces
enfants? Non, monsieur, je ne la suis pas.
Diese Regel ist gewiss richtig; ja, man möchte ihr eine gewisse aprlo-
ristische Wahrscheinlichkeit zuschreiben. Gleichwohl ist es mir noch nicht
gelungen, auch nur eine einzige Belegstelle dazu aufzufinden, trotzdem dass
der Umfang meiner Leetüre nicht gering ist und ich mich leider gewöhnt
habe, mehr als es dem rein ästhetischen Genüsse zuträglich ist auf gram-
matische Punkte zu achten.
Eigen erging es mir auch mit der in meinen „Beiträgen zur Feststel-
lung des gegenwärtigen französischen Sprachgebrauchs" aufgestellten Regel
Über die Construction des Verbs craindre in fragend -verneinender Form.
230 Miscellen.
Das Vorkommen dieser Form ist überhaupt ein sehr seltenes. Man kann
sehr viel gelesen haben, ohne sie nur ein einziges Mal zu Gesicht zu be-
kommen. Kaum ist mein Aufsatz gedruckt, so lese ich in der Revue des
Deux Mondes: ne craignez-vous pas que je fasse mon rapport a celui qui
m'envoie vers vous? Jules Girardin, Le Fiance de Lenore. R. d. D. M.
1S70, Tome IV, 42G. Was ist nun richtig, die Setzung oder die Weglas-
sung des ne beim Subj.? — Es mag zugegeben werden, dass dieser Frage
eine grosse praktische Bedeutung nicht zukommt; theoretisch aber ist sie
sicher nicht ohne Interesse. — Vielleicht ist Folgendes die Lösung: Fordert,
wie es gewöhnlich der Fall ist, die fragend-verneinende Form eine entschie-
den bejahende Antwort, so dürfte ne zu nehmen sein; drückt aber diese
Form eine Ungewissheit aus (wozu man meistens ne — point nimmt), ent-
spricht sie also der Frageform mit peut-etre, etwa, vielleicht, so wird
sie wie letztere construirt. Ueberhaupt ist die Modification der gewöhn-
lichen Elementarregeln y.axa avvEOLv im Französischen eine weit durchgrei-
fendere, als man sich oft vorstellt und besonders beim Gebrauche von ne
nachgewiesen werden kann.
W. Bertram.
Zur volksthümlichen Kanzelberedsamkeit des 17. u. 18. Jahr-
hunderts. *
Mitgetheilt von A. Birlinger.
Fastnachtspredigt.
Triduo Antecinerali.
Das Leben deren zu Sodoma und Gomorrhen ist, und wäre ein lauters
Fasznacht-SpihI, so aber übel geendet worden, derentwegen in dem anderen
Theil der Predig, die Zuhörer eingeladen werden dise drey Tag, das (Hoch-
würdige) zubesuchen, und mit der üppigen Welt nichts gemeines zuhaben,
sintemalen eine solche Andacht dem Heyland sehr angenem und ein VVurtzl
viler Gnaden ist.
THEMA.
Ducunt in bonis dies fuos, & in Puncto ad inferna defcendunt. lob.
21. V. 13.
Das Herkommen der Fasznacht ist freylich in einem hohen, und un-
denckbaren Alter, dardurch aber ihren nit allein kein Recht, oder Prsefcrip-
tion, zugewachsen, sonder vil mehr würdig worden, dasz man selbe newer
Dings bestreite und mit allem Vermögen dahin nemblich in die Höll ver-
bannisiere, woher sie kommen ist zu disem heiligen Vorhaben, stuenden von
Zeit zu Zeit, vil Gottliebende Seelen in einem grossen Eyfler, jener aber
wäre der beste Einschlag, welche die Kirchen Majestettisch zierten, welche
dasz höchste Gutt auszgestellet, welche ausz dem Schatz der Kirchen Gnad
und Ablasz verlangten, welche das Voick, mit eyffrigen Zureden, von der
Cautzl zur Beicht und Communion, einladeten : Under dise hat Ewer Liebe
auch wollen gezehlt seyn: Ihren dann lasset der hier verborgne JEsus,
durch mich seinen Grusz vermelden mit dem 28. Vers ausz dem II. Mathäo.
c. IL Venite ad me omnes qui laboratis & onerati eftis, & ego reficiam
vos : Also recht! kommet nur zu mir, die ihr mit der bösen Welt zu fech-
ten, und zu kämpfl'en habt und mit ihrer stock blinden Narrheit vil beschweret
werde, ich will euch dargegen wol erquicken, ja reichlich beschencken.
Denen Fasznachtschlemmerer, und unsinnigen Durnierer, hab ich ein
anders in das Ohr zu sagen: Ducunt in bonis dies fuos: ihr frest und
* Aus Pera pastoralis oder geistliche Hirtentäsch — von Dr. Chr. Arpa-
gaus (ob. Rheiqtbal, Chur, St. Gallen) Kempten 1706.
Miscellen. 231
sauff't, ihr spilt, und dantzt, ihr pfeifft und schneit, ihr bult, und hurt, ihr
flucht, und lästert, ihr stehlt , und schadet , und dises bald öffentlich, und
ohne Scheuch, bald vermummet, dasz man nit wissen kan ob die Persohu
ein Weib oder ein Mann, oder gar ein Teiiffl seye: AYessen aber können
wir uns entlich von solchen GewerenV eines urplötzlichen Todts, eines gäh-
lingen Sprungs, und Fall, ad inferna, nunder in die Höll! Dises ist ein
sehr widriger und dopleter Zweck meiner Fasznacht-Predigt : Ewer Liebe
aber kan den einten anhören mit jener Hertzens-Beschaflenheit, welche ist
dere die auff" dem vesten Land sicher stehn , und den Schiffen zusehen,
wann sie mit Volck, und Ladung trümmeren, und allbereit von den zornigen
Wellen begraben, und in den Abgrund gezogen werden: Es könte sich
aber das Bietlein annoch kehren derwegen schencke sie mir eine gnaue
Auffinercksamkeit.
In Göttlicher HH. Schriffl, so der Grund aller Predigen seyn muss,
find ich dasz acht- une neunzehende Capitl die bequemlichiste, für mein
Vorhaben: Dorten fasznachtet man abermahl, und eben auff' die Manier,
wie zu der ersten, vor dem Sündflusz, und ohnerachtet die eingetruckte
Merckzeichen durch die allgemeine Überschwemmung kaum auszgetrucknet
waren, wurde dannoch der newe Punt, so Noe mit Gott getroffen, mit einem
durchgehenden Fasznacht-Leben, übel gehalten: Er Noe haltete zwar be-
harrlich die Stangen dem Allerhöchsten: nit weniger seine wolgerathne
Söhn Sem, und laphet, eben so eyfferig ein frommer Abraham, dise aber
werden zweyffelszohne auch andere Handreicher gehabt haben , die ihnen
denen Fasznacht-Narren zeugeten, was der Sünde halber , schon geschehen,
die ihnen treweteu, was auff ein so sündliches, und freches Procedere folgen
werde, die ihnen weiseten welchen die wäre Glückseeligkeit zugesagt seye:
Ehe noch dise vier GOttes-Männer ihre Augen zugethon hatten, wäre schon
ein solche Menge der Menschen dasz eine Armee, ausz zweyen widrigen
Parten, als nemlich Nino der Affyrischen Monarchi ersten Grundleger, und
Zoroaftre seinem Gegner, der Bractianer König, dasz sag ich, eine Armee
von drey und zwanzig mal hundert tausend Männer auffgebracht ist worden :
Nicht destoweniger könte sich ausz disen, und andern allen keiner entschul-
digen, als ob sie desz bösen, und Gott miszfälligen Lebens nit ernstlich ge-
warnet wären worden: sie zeigten sich aber als wie jetzige Fasznacht-
Schwermer, schützten sich und trotzten, ihrer sey der grössere Hauffen,
Gsatz und Regell können anderen auffgebürdet werden: bey ihnen musz es
heissen: Quod libet, licet, gefalt es dir die Vernunffit mit vollsauffen zuer-
trencken ? Licet es ist erlaubt, und gehet in die Fasznacht : Hast Muth
Tag, und Nacht unsinnig herumb zu rasen: Licet: mach dir keinen Scrupl:
Es gehet in die Fasznacht: Ist deine faule Haut fruttig zu unzüchtigen
Miszhandlungen? Licet darff't alles wagen, was der Brieff" vermag: Es gehet
in die Fasznacht: wässeret dir das Maul, immittelst einer Mummerey, dich
an deinem Feind zu rechen? Licet: Es gehet auch in die Fasznacht. Quod
libet, licet: was gliebt dasz gilt, sagte nit nur ein Fetl Julia einem Ca-
rucallffi der sich weigerte zu einer blutschändigen Vermählung, sonder es
ist Leyder auch bey den Christen, sonderlich zur fasznacht Zeit, nur gar zu
vil gleichwie auff" der Zung, also in dem Schwung. Und gewohnlich, wel-
ches mit bluttigen Threnen, zubedauren, seynd jene Orth und Land in disem
Laster-Zetl tieffer eingeschriben, mehrere Gaben und Gnaden auff die Rech-
nung empfangen haben, darum auch der Gi'imm wider solche verdopplet
wird, gleich ein Damm, wie höher er auffgewachsen, also entsetzlicher abzu-
fallen pfleget.
Das Gelend um Sodoma und Gomorrha wahre gleichsam ein Magafin
aller ersinnlichen Nahrungs-Mittlen : Brod genug, Wein genug, Butter ge-
nug, Früchten genug, Kleyder genug, Gelt genug, etc. derwegen zu was
anfiers solten sich, so besegnete Inwohner resolvieren, als zu jenem Be-
schluss, welchen hernacher ein danckbahrer David auff seine Harpffen
232 Miscellen.
gelegt; Bencdic anima meti Domino, & omnia, qua3 intra me funt norniin
fancto eius : Lob und Danck sage GOtt meine Seel zu deme mich anmah-
net ein so reicher Scliatz, den ich von ihme empfangen, allein bey Ezechiele
ist ein anderer Klang: Elevata? funt, & fecerunt abominaliones coram me :
ICben darum weilen ich ihnen den Speicher hab angefühlt, eben' darumb
weilen sie hatten, was sie wolten, eben darumb habe sie mir den Rücke nit
aliein gekehrt, sondern dörffte noch darüber meinen Altar mit einem Laster-
Kauch entunehren.
Nach deme dann die Göttliche Langwirigkeit solchem allgemeinen und
wider alle Erbarkeit zunemmenden Fasznacht-Spihl, Jahr und Tag hatte zu-
gesehen, nach deme der wenig üherblibenen gerechten zusprechen gar nichts
mehr verfangen wolte, nach deme entlich, und abermahl, wie vor dem Sünd-
flusz: bald alles Fleisch auch wider die Natur, verpechet wäre: Omnis caro
corruperat viam fuam: wolte der gerechte Gott widerumb ein Exempl fta-
tuieren: at)er, ach mit was für einer wunderlichen Undermischung seiner
unentliche Güte! Drey Engels-Fürsten verhüllen sieb in eine so Mensch
gleichsehende Gestalt, dasz der woläugige Abraham sie , als pure Menschen
augesehen, under sein Tach auffgenommen , und mit jenem Tractament be-
ehrte, als er gemeiniglich mit denen durch wanderenden in dem Brauch
hatte. Dise Kunst sich also zuverstellen ist auch denen schwartzen Teufl'len
gemein, und thun selbe mit selber, eben zur Fasznacht-Zeit, doch mehrers
bey der Nacht, als bey dem Tag, nit dasz er niemahl schlaffen kan, sonder
dasz er den Titl eines Fürsten der Finsternusz auff dem Rucken tragen
musz : Principes tenebrarum. Thun sag ich bey dem tantzen, in dem Buleu
under den Maschgeren öff'ters erbärmliche Seelen-Fang. Es gienge dem
Abraham als wie den Jüngeren in Eraaus, vor welchen der Heyland sich
entlich verratheu, darumb er das Ceremonial gleich änderst einrichtete, und
bald auff den Grund käme, warumb von so fürnemmen Gästen bey ihme
der Einkehr genommen sey worden. Die gutte Pottschaßt eines Sohns
ausz der alten Sara, und künfftiger grosser PofLeritet, in dessen Saamen,
wahre als ein Honig auff den bittern AVermuth, welchen der Grund gutte
Mann GOttes, gleich darauff" zu füllen hatte: Sintemalen da kaum der Ur-
laub genommen, und Abraham annoch dasz Begleide gäbe sie die Himmlische
Deputierte, ihr Antlitz zornig vorstehen, als ob sie dasz auffstossende So-
domam gleichsam mit Augen durch sehen wolten : Direxerunt oculos contra
Sodomam bald brachen sie mit voller Sprach herfür : Disz ist der Orth:
Wo GOtt verachtet, wo GOtt höchlich beschimpffet wird disz ist der Orth
man lebt als wie das Vieh, wo man sauset, wo man prauset, wo man spilt,
wo man dantzt, disz ist der Orth wo der Tag in die Nacht, und die Nacht
in den Tag verkehrt wird , wo ein immerwehrende Fasznacht angesagt, wo
alle erbärmde und von Gott hochbefehlete armen Liebe verbannisieret ist,
wo alle wann sie in dem Bösen ermüdet, sich auff das Polster desz Müssi-
gangs legen, und sich zu newen sündlichen Erfindungen besinnen: Iniquitas
SodomJB fuperbia, faturitas panis & abundantia , & otinm ipfius , & manum
egeno & pauperi non porrigebant. Die Mas ist nun vol , die Straff" ist nun
da : wir werden nun letzt alles und iedes zum Augenschein nemmen , und
gleichwol dem Göttlich geheimen Rath hinderbringen, dir aber Abraham,
als einem rechten Diener Gottes können wir nichts bergen , dann wir vor-
sehen, du werdest deine Kind und Kinds Kinder änderst in die Schul fi:h-
ren du werdest deinem Hausz und Stammen, einen besseren Schild vor-
stellen : du werdest aller Fasznacht-Uppigkeit spinnen feind verbleiben.
Scio quod praecepturus fit filius fuis, & Domui fuse poft fe, ut cuftodiant
viam Domini.
Mercke hier E. L. dasz was ich biszhero gesagt gar wol ia noch meh-
rers könne genommen werden, ausz wenig Wörtteren in HH. Schrifft. Cla-
morSodomorum & Gomorrhaj multiplicatus eft, & peccatum corum aggrava-
tum eft nimis; Das Gescbrey in Sodomä & Gomorrhä ist übergrosz, und
Miscellen. 233
ihre Siind seynrl zu einem überausz schweren Gewicht kommen. Folgcnrls
kan jpnes, was ich gesagt, mit keiner Cenfiir belegt, oder vcrworffcn wer-
rlen : Ehe ich aber in der Geschieht fortrücke musz hier ein Nothwendigcs
für die Eiteren, eingemischet werden. Liebste, und wolgeschulte Engel
GOttes ! was für ein Planeten soll ich doch jenen stellen, die ihre Kinder
jetzund, und Zunacht sonderbar, von ihren Augen entlassen zugesellscbafi-
ten , so sauiTen, so fressen, so springen, so dantzen. etc. Und dises zwar
wider alles abmahmen der Geistlichen von der Cantzl, der Exempel in den
Büchei-en, nur der Welt zulieb und gefallen, nur ihre Kinder nit zu entrü-
sten? Die sorgfaltigiste Himmels-Führer beantworten dise Frag auch mit
dem Scio wir wissen: was wisset ihr dann? wir wissen, dasz denen Kinderen
öflters die Ehre genommen werde, und die eine Jungfrau auszgegangen, zu-
rück als ein übel gebrennte Dina kommen seye: wir wissen dasz solche
Kinder sich Dergegenwarth GOttes zuvergessen pflegen. Wir wissen dasz
sie in Schlao- und Iländl kommen. Wir wissen dasz sie mit bulerischen
Stricken gefesziet werden. Wir wissen dasz sie solchen Zusnmenkunfften
dasz Stehlen ausz dem Hausz lehrnen, wir wissen dasz der Teuflfl und Hech-
sen-Schwarm grosz seye , und meistens sich mit fasznächtlicher zusamen-
stossung beedes Geschlechts erhalte: Scio wir wissens und haben es erfah-
ren vor dem Sündflusz nach dem dem Sündflusz , und sehen es vor bisz an
das Ende der Welt, und aller Fasznächten. Was wisset ihr mehr? O trewer
Rathgeber ! Scio wir wissen dasz jene Eiteren im sichersten stebn, welche
ihren Kindern rund alle, alle! Fasznacht abschlagen welche ihre Kinder
ernstlich im Zaum halten, welche ihnen, wann sie versprechen ich will mich
wol halten: ich will nichts böses thun: ich will zur Stund wider bey Hausx
seyn. etc. sauber nichts glauben : Scio wir wissen dasz es ein Gottliochge-
Hebte Sach seye jetzund mehi-ers zu seyfi'zen, instendiger zu betten, hertz-
lich zu beweinen der Menschen Kinderen grosse Dorheit, da sie denen so
starck vergifteten fasznächtlichen Üppigkeiten, also blind nachschnnppen:
Und dises letztere wird mehrers in dem anderen Theil erwisen werden,
in dessen müssen wir der Sodomiter Fasznacht mehrers zusehen, und jjleich-
wol- ferners vernemmen die Abhandlung' Abraham mit denen Engelen Gottes.
Aber er ist nit mehr bey dreyen Englen, sonder nur bey einem allein.
Wohin dann seynd die andere zwen ? in Vollemlauff nacher Sodomam !
wahre derwegen ihme dem Abraham nit recht um das Hertz: ohnerachtet
er für sich: und die seinigen aller Gefahr halber Franchieret worden: solle
dann ein so anschliche Landschaßt under, und über gekehrt werden? sollen
so vil tausend schön geschaffne Menschen zu grund gehen? Soll der un-
schuldige mit dem schuldigen herheben? Ist dann GOtt also erzürnet dasz
er nit mehr zuversöhnen wäre? Dises wolte und könte der Abraham ihme
selber nit fürbilden : es werden ja in disem volckreichen Orth wenigst fümff-
zig gerechte und GOtt an^enemrae Fersohnen seyn? O Vatter Abraham!
du überechnest dich. Ich kan ein solche Zahl, weder in Sodoma, weder
in Gomorrha. weder in Adama, weder in Seboim weder in Bala, nit finden:
aber wol fünff und viertzig? Auch nit! aber viertzig? Auch nit! aber
dreyssig? Auch nit! aber zwanzig? Auch nit! aber zehcn ? Auch nit!
Ich verstehe aber under dem Wörtlein lufti gerechte : nit jene , welche
blössiglich mit der Gnad GOttes bekleidet seynd: sonder das Wort iuftus
will hier jenes haben, dessen sich Gott, hernacher, zu dem Ezechiel beklagt
hatte: Qufefivi de eis virum, qui interponeret fepem, & ftaret oppofitus
contra me proterrä, ne diffiparem eam, & non inveni. Ich hab bey disem
Volck nur einen Man gesucht, der mit seinem Gebett, mit seinem Exempla-
rischen Leben, mit seinem Eyfler die Lucken zumachen softe, damit mein
ccrechter Zorn annoch, hinder halten wurde, hab aber keinen antreffen
können, solcher Gerechten da der Abraham auch nur zehen , in sambtlich
fünfi" Stätten, nit' hatte können auff bringen, ist ihme der ]\Iuth entfallen
eine tieffere Anfrag an tlen Engel zuftellen ; kan mir aber woleinbilden, ehe
234 Miscellen.
die entliehe Urlaub beschehen, dasz seinem lieben Vatter, und Bruders-Kind
dem Loth, auff das Anhalten Abrabae die Eettung, ausz bevorstehender
Straff, zugesagt sey worden.
Jetzund seynd wir in dem neunzehendem Capitl Genefis, so uns zeiget
den erbärmlichen Thon, in welchen entlich und wann die Masz erfüllet ist,
alle fasznacht Freuden fallen müssen : Da die zwey Engel in sichtbahrlichem
schönen Ansehen, Sodomam eingetretten, wahre man wie ich mir wol ein-
bilden kan, eben im folen Fasznacht-ßausch, und wolte je einer den andern
in der Boszheit überwinden : dasz aber dise zwey ansehnliche Fremdling
sich ihrer nichts beladen wolten, dasz sie ernstlich, und Majestättisch drin
sachten, dasz sie den Einkehr nammten bey dem Loth, der nur ein zuge-
zogner, und kein einsasz wäre, der bey ihnen, weilen er nit mithalten wolte,
schon ein schlechtes Credit hatte, rotteten sich ausz allen Gassen die un-
sinnigen Waghälsz, und lose Purst zusammen, mit dem Entschlusz, die
zwey müssen eintweders ihres geliffters werden, oder einem harten Nacht-
schillig bezahlen. Er der fromme Loth bildete ihm gar nicht ein dasz er
under seinem Tach, sollte von solchen FrefFler beunruhiget werden, sonder
wäre sorgfältig bescheff'tiget, nit weniger als sein Herr Vetter Abraham die
so werthe Gast auff das anstendigist zubewürthen. Fecit illis convivium er
hat ihnen ein mal auffgestellt. Und dises allein ist passierlich, mercke es
E. L. vor Anfang der Fasten, mit denen Nachbahren oder Freunden eine
unschuldige und mit Christlicher Frölichkeit angekochte Malzeit zugeniessen :
Secundum faeiem fanctorum. Die Italiener geben zwar ein gar ehrlichen
Nahmen: Carnevale eine Beurlaubnusz von dem Fleischessen. Allein weilen
in dem Werck bey ihnen ein weitmehrers sich eüsserte, ist heuriges Jahr
alldorten manchem herrlichen Orth, ein andere Fasznacht von dem zornigen
Himmel angekündet worden. Wie wird dann enthch der Procefz über So-
oomam, über Gomorrham, über Adama, über Seboim, über Palam, und dem
gantzen Land auszfallen? Vor der Behausung Loth ist ein grosser Lermen:
sie wollen für ausz die zwey Freindling herfür, und bey ihnen haben: Ist
allbereit kein Fenster mehr sicher: Die kleiner Zucht freye Buben seynd
auch darbey, was ist bey solchen, und in solcher Gesellschafft auff der
Welt sicher? dem guten Mann war angst und pang, sonderlich damit nicht
ungerades frembden Leuthen, under seinem Tach-Trauff, Sub umbrä culmi-
nis mei geschehe: Nimmet das Hertz in beede Hand, und waget sich
äussert, äussert der Haus^z-Thür, und die er hinder ihme beschlossen hand-
let und wörtlet lang mit der losen Purst : mit gutem deco Unsinnigkeit ab-
zuthädigen: Nolite quaefo Fratres mei nolite hoc malum facere: Meine
Brüder ich bitt und ersuch euch um Gottes Willen, lasset ab von einem so
bösem Verfahren: Ja er wahre entschlossen, wann je eines, ausz zweyen
müste zugelassen werden, ehender seine zwey Töchteren ihrem Muthwillen
zuergeben, als einige Unbild den Gästen zuzulassen, als welche mit ihren
Gebährden , Sitten und Freundlichkeit ihme schon gantz abgewonnen hat-
ten. Aber, wie es noch heut zu Tag geschieht, da man das Nolite, nolite
hoc malum facere wolmejnend, und tre3'hertzjgist von der Cantzl ableget,
höret man bey den mehreren, das Sodomitische Recede illuc: mach dich
von dan die Predisr, die Andachten gehören in die Fasten: unser ist jetz die
Zeit. Jetz gilt alles, und gehet in die Fasznacht, was der Brieff vermag.
Dasz bitten und betten Lots, will bey keinem hafften: ja er stehet allbe-
reit in Lebens-Gfahr : Ist derwegen Zeit gewesen , dasz die Gast in der
That sich weisten, welche sie warhafftig waren: sie eröffnen das Thor, sie
ziehen den Loth zurück, und ausz ihren Händen, sie schlagen selbe alle
und sambtlioh zu Boden, nemmen ihnen auch das Gesicht, dasz sie weder
Rigel noch Angel mehr finden könten: gleich, und zur Stund wird Loth von
den Englen desz vorstehenden Undergangs ermahnet. Wie hoch ein tragend
seynd die Verdiensten nur eines Gerechten bey GOtt! jene zwey, welchen
Loth seine Töchteren zu der Ehe versprochen, werden auch zur Kettung,
Miseellen, 235
inmittels der Flucht, eingeladen : Lachen aber, als auch vernahrte Fasznaclit-
Kinder die Gnad nur ausz, der Refpect haltet sie bey der Purst, und meh-
reren] Hauffen. O Respect was plagest annoch, in dem Hertz der Chri-
stenheit zuthun? Und meistens in disen drey Tagen: da vil bösz wollen
seyn, nit das Lust zum bösen haben, sonder dasz sie dürffen als Gutte sich
erzeigen. In dessen wolte Loth immer verweihlen, dann er sasse wol, und
hatte eben recht sein Hausz eingericlitet. Aber die Engel nahmen ihne, die
Fraw, die Töchteren, bey der Hand : Apprehenderunt manus eius, & manum
Uxoris eius, & duarum filiarnm eius. Und müsten gleichsam wider Willen,
die Füsz so behend und starck lauffen , dasz er bald nicht mehr aulT ihm
selber stehn könte. haltet derwegen an umb eine Difpenfation , für dasz
klein Stättlein Balam, in welcher er auszzurasten begehret, damit es dem
Undergang entgehn könnte wie es dann auch geschehen, und fürterdhin
Segot benambset ist worden.
Eine ungewöhnliche Morgenröthe, bedeüttet eine Wetter-Enderung.
Die Fasznacht in Sodoma ist fürüber Sol egreffus eft. Die Sonn ist
schon aufFgezogen : was kochet sie an? Et pluit. Es Regnet, und fallet,
O Weh! nit Wasser sonder Feur, O Weh! nit Hagel, sonder Schweffei:
O Weh! nit alszgemach, sonder Urplötzlich: O Weh! nit nur in einem
Schlupffwinckel, sonder auff Statt, und Land : O Weh ! keiner hat Zeit und
■weil umb Gnad, umb Huld zuschreyen: O Weh! die Fasznacht hat End,
und ist der Aschermittwoch da, der ist nun immer wehrend zu einer
Witzigung, und ewigen angedencken.
Anderer Theil.
Hat E. L. auch Lust zu einem solchen? Ich endere die Frag; was
haben jene zugewarthen, welche ewerem Exempel nachfolgen, und allein
ihre FrÖlichkeit mit Gott, und in Gott, suchen? Diser will ich jetzund ant-
worten, und zwar nur mit Einziehung schrifftlicher Proben : es ist der H.
Mariffi Magdalenjc, durch die sambtlich Catholische Kirch eine, eine nie-
mal verblichne, sonder allzeit frisch grienende Gedächtnusz, nit dasz sie ein
überdreysig Jähriges Buszleben geführt, nit dasz sie die Gastgebin desz Herrn
gewesen, nit dasz sie under dem Creutz, mit Maria' und Joanne gestanden, sonder
dasz sie einstens was underfangen, welches denen Welt-Kinderen, und Aechteren
desz Heylands, übel in die Nasen gerochen: sie komt da man bey der Taffl wäre,
sie meldet sich nit an sie wartet auff kein Erlaubnu?z, sie gunnet keinem
einen Augenblick: Ihr einzige Zihlscheiben wahre JEsus dessen Füsz will
sie mit ihren Threnen benetzt , und mit ihren Haaren getrücknet haben :
Dessen Haupt musz ihr balsamiert werden. Magdalense wer alles recht :
Wann nur solches zu anderer Zeit, und in einem andern Orth undernom-
men wurde : Da soll man essen nit weinen , da soll man trincken , nit
Seufftzen , da soll man Difcurrleren: Derwegen ist man hier zusammen
kommen, derwegen ist der Meister auch eingeladen worden.
Nein! nein! sonderbahre Gnaden wollen auch was sonders haben: Ist
es nit ein hohe Gnad, und biszhero allein einem grossen Joanni Baptjsta?
vergunnet, dasz sie annoch In dem Leben hat hören, und haben können
für einen schütz- und Lob-Prediger den ewigen Sohn Gottes selber ? Ist es
nit ein überausz schätzbarer Gunst, dasz dise Salbung, mehrmalen in dem
Jahr, in gantzer Christlicher Welt musz vorgelesen werden? Niemahl aber
hätte der Heyland ausz diser Benetzung, ausz diser Trücknung, ausz diser
Salbung ein solches wesen gemacht, wann sie nit eben zu dieser Zeit, eben
in solchen Umbständen geschehen wäre.
Der Liebe JEsus sagte vormahlen seiner Gesponsz : Thue mir auff
meine Schwöster, lass mich hinein meine Freundin! gib mir Tanh, und Un-
derschlauff mein wertes und reines Däublein: sihe mein Haupt ist von dem
Nacht-Tau gantz im Wasser: Aperi mihi loror mea, amica mea, columba
mea, Immaculata mea, quia Caput meum plenum eft rore, & cinclnni mei
guttis uoctium. Von denen Nachtvö^len, in diser Zeit, wird leyder! unser
236 Miscellon.
Haupt, unser Ileyland, mifc einem schwären Sünden-Tau allzusehr beschmitzet,
und entunehret: Mali Chriftiani fuis pravis moribus, quasi iniecto rore
oontaminant caput Chrifti, illumque abs se ablejrant: Aber E. L nimbt
JEsum auff, umfasset selben, mit inniglichen Seufftzeren trücknet ihne mit
eyflngen, und hitzigen Anbetten, derentwegen werdet ihr ihme Heb seyn
als wie eine Magdalena, als wie ein Schwöster, als wie ein wäre, und ee-
trewe Freundin. Ist noch nit genug.
Johannes! Ich musz und bin gezwungen dich Seelig zu sprechen, da
nemblich dir erlaubt wurde dein Jungfräuliches Haupt, in die Schosz desz
Heylands zulegen: In welcher du auch worden bist, der verwunderliche
Himmels-Adler: noch Seeliger wärest worden wann JESus sein Haupt auch
in deine hchosz gelegt hätte : Und gleich wol sich nit mehr klagete Filius
hominis non habet ubi caput rechnet: Der Sohn desz Mensehens ist so arm
und verlassen, dasz er bald nit weist, worauff, und wohin er sein ermüdetes'
Haupt hinlegen solle. E. L. weisz nur gar zu wol , und musz es mit Vor-
geschamigkeit, zugeschlosznen Augen, dannoch sehen und erfahren, wie un-
ser hochverdientister Erlöser in der Fasznacht, von so vilen Christen ver-
lassen, und yerhönet werde: derwegen er Müd und Math herumbgehet, und
schallet wo immer eine zufinden, dje ihme seyn könten ein Schoosz, und
Kuh-Behtlein sich m selber gleichsam zuerbolen: Ihr dan wollet solche
seyn : Ihr begehret ihne auffzunemmen , darum auch ewer eigen wird seyn
der sechste Vers, in dem neun und dreysigisten Psalmen. Seehg, und über-
seehg ist jener, und jene welche sich gäntzlich quit machen von allen so
eittelen so unsinnigen Welt-Freuden, und ihr Lust, und Hofl^nung allein der
Nahm desz Herren ist: Beatus vir, cujus eft Nomen Domini fpes eins, &
non refpexit m vanitates, & insanias falfas.
Das Lobsprechen welches GOtt einem gibt, ist weit änderst geartet
als jenes, mit deme die Welt ihre Anhänger bedöret, gleich denen Aepfflen
so jetzund in der Landschaff't Sodoma wachsen , von auszen schön und na-
türlich gefärbet, inwendig nur mit Aschen angefüllet, gleich denen Comet-
sternen, so eine Zeit glantzen, hernacher sich in Peftilentialische Dämpf!
Kelolvieren, gleich denen so genenten Küsz-Jungfern, in der Herren Kerker
welche wann sie umhalsen, tödten: Molliti funt fermones eius fuper oleum'
Aj ipfi Amt lacnla. Wann GOtt aber einen Seelig spricht, ist er eben
darum in der That Seelig: In weme aber dise würckhche Seeligkeit be-
stehe die ich euch als einen verdienten Lohn verspriche , erleutheret dasz
nachfolgende, und abermahl ausz HU. Schrifft.
•u J" c^^c'^i'e «ram & non me viiitaftis. Ich wäre in dem Kercker, und
ihr habt mich nit besucht. Wir wissen aber ausz seinem Leben nirgend
dasz er einstens sey Incarceriert worden. Wol seynd etliche Vätter die sa-
gen dasz der Heyland, in dem Hausz Caiphje, nach empfangnem Backen-
streich, und vilen anderen Verhönungen , in einem Kercker zu zwey stun-
den, unglaublich entunehret sey worden: Disz ist doch nur ein Muthmas-
sung, und kein Glaubens- Satz. Wo wollen wir dann einen Kercker auft-
bringen, damit nach dem Buchstab, und von der eignen Per<=ohn Christi
könne gesagt werden: in Carcere eram , & me non vifitaftis? Wir haben
ihne hier vor Augen: er ist rund, er ist klein, und eng, er ist von aussen
hell und weisz, inwendig dunckl, es ist die Sacramentalische Hostia: darin
hat er sich eingeschlossen ausz unentlicher Liebe, darausz seyflzet er zu sei-
nem Himmlischen Vatter: in Carcere eram: Ich wäre in dem Kercker-
wann ? zur Stell , und in einem Augenblick , so bald die Wörter der Con-
lecration, auff dem Altar von einem rechtgeordnetten Priester sevnd auszge-
sprochen worden: Wie lang? schon zu tausend sechshundert und siebentzig
Jahr: wie und mit was? Mit meiner Allmacht, und einem unentlichen Gna-
«len-bchatz. Zu was ende? dasz meine Menschheit nahe bey euch seve
dasz ihr mich als eine Seelen speise gleich zur Hand hätten: dass euch die
würdige Matery nicht abgehe für ein tägliches Brand Danck- und Versöh-
Miscellen. ^ 237
nunt^s-Opfler: Et me non vifitaftis. Und ihr habt mich riit heimgesucht.
Wekhe aber: die in den Stätten, und Palästen: die gemeiniglich bey ieister
grühnen Weide leben. Nicht aber E. L. als welche, dise drey Tag ihnen
ausserwöhlten als eine beste Gelegenheit sii:h jene zuerzeigen, die ihr war-
hafllig seyd, und als solche zu werden, schon in dem Tauft versprochen
habet': ihr widersagt dem Teuffei als einem Urheber, und Gruudleger der
Fasznacht : ihr widersagt allen seinen Wercken : alle kan er in diser Zeit,
in eim, oder anderem Orth anbringen ; ihr widersagt idlem seinem Pomp :
uiemahl ist ein grösserer im Schwung, als eben jetz, was lang verborgen
gelegen, musz jetz an den Sonnenschein : auch die kaum für ein Monath
zu beissen, und Zunagen haben, heulen mit den Fasznachtnarren in ein
Hörn: Trag aufi, und schütte nicht, ist es Fasznacht so seye es Fasznacht.
Es ist zwar Joseph in seiner Cisteru, eine Figm- unsers allerliebsten JEsu
gewesen, er hat aber mit Namen nit gewust, dasz sein Bruder Rüben ihne,
bey dem Leben erhalten , und derwegen diser Kertker oder Galdbrun nur
als ein Zwischen-Mittl vorgeschlage sey worden, wäre sag ich, dise Meinung
ibme Joseph, kundbar gewesen, ach wie wurde erhernacher ihme vor ande-
ren umb den Halsz gefallen seyn! unser Joseph, in der Sacrimientalischen
Hostia weisz, und sieht alles: wie nemblich E. L. allen Fleisz und Kräffte
anspanne, dasz er nit beleydiget, oder besser zureden, dasz nit abermahl,
und von so vilen, Gecreutziget werde, dasz er seine gebührende Ehre, und
Anbettung, in dem Tempi empfange, dasz er in viler hundert Hertzen, in-
mittelst der HH. Coinmunion , seinen Gnaden vollen Einkehr nemme: so
kan sie sich deszhalben getrösten, er werde ihren nit nur eine blosse Um-
halsung vergünstigen, sonder noch darzu, einen solchen Gnaden-Pfenning
in die Hand legen, den zu seiner Zeit, und Stund der himmlische Vatter
gern annehmen werde, als eine Abzahlung der zuvor verdienten Sund und
Ölraff", als ein genügsames Gegengewicht zu Erkauffung eines ewigen Him-
mels. Aufi" das: Ich wäre in dem Kercker, und ihr habet mich besucht.
Gehöret: Kombt her ihr gebenedeyte. .
Man verwundert sich, ia etwelche ziehen dasz Giffl ausz dem Honig:
Dasz der Rechte Schacher einen so graden Weeg von dem Mörder-Galgen
zu dem Paradevsz, gefunden habe : Hat es also ihme gelingen können, war-
umb uns nit auch? obwolen wir schon in etwas den Abweg nemmen, ob-
wolen wir gleich wol dem jungen Muth pflegen, obwolen wir schon man-
chen Schnit an der Beilen haben, kan doch entlich alles geschlichtet wer-
den: aber der Schacher hat nit nur obenhin, sonder fürtreff'lich sich ge-
schickt gemachet zu dem Hodie mecum eris inParadyfo: Heut wirst, in dem
Paradeyl bey mir seyn. E. L. musz wol die Umstände überschlagen: habt
ihr jemahl gehört, dasz einer das Leben begehrt von einem, der selber zu
dem Todt verurtheilet wäre, und ihme eine Gesellschafft gewünschet, und
gesuchet habe, mit jenem, der von der Welt, ja auch von seinen yertrauti-
sten, verlassen worden? dasz einer jenen für seinen Herren, und König an-
genommen, der kein andern Thron, als ein Creutz hatte? bei welchem kein
anderer Scepter zufinden, als ein grober Nagel durch Hand und Füsz? auff
dessen Haupt, an stat der Chron, ein Dorn-Pusch eingetrucket worden?
der für seinen Hoffstab kein andere Purst zehlen könte, als Schörgen, als
Hencker, als Spöttler, als Lästerer? der in keinem anderen Purpurmantl
zusehen wahre, als in seiner eigner, aber blosser, aber zerfetzten, aber gantz
blutigen Haut? dessen doch alles ungeacht rufit er JEsum für einen Her-
ren:'für einen König ausz, Herr dencke meiner, so du in dein Reich kom-
men wirst, jene aber, so seine Wunderthaten, mit Augen gesehen, und
Stirn- und Zeugnusz von Himmel, mit Ohren gehört, seynd entweders, ausz
Forcht nit da, oder sonst Stim- und Redlosz versencket in einem Meer der
Trauriffkeit, als wie Maria, als wie Magdalena, als wie Johannes, als wie
wenig andere. Ja dpr Muth dises newen Bekenners Christi Hesse sich mit
deme allein nit beschlagen: fahret seinem Mitgeselleu wacker über das Maul:
238 Miscellen.
Increpabat eum: deszwegen er würdig worden, einen voUkonimnen Ablasz
zu empfangen, ejne so Gnadenreiche Einladung anzuhören: Hodie mecum
eris in Paradyso : heut wirst du bey mir seyn im Paradeysz. Nun müssen
wir bedaurlich sehen dasz unser Heyland, in der Fasznacht, wiederumb an
das Creutz genaglet werde: Rurfum Crucifigentes Filium DEI: dasz ihne
ein Unchristmässiger Wandl, viler tausenden verspotten thüe : Et oltentui
habentes. Dasz alles bitten, und betten der Prediger die Vögel desz Luffts
binweck nemmen , in vilen ürthen 'aber ist der feünden-Schwall so starck
eingebrochen, dasz man darwider so gar nit reden darff, machen ausz denen
allzeit verdamblichen , Müszbräuchen einen Satz und Regel: vor Jahren
hatte es hier, wie ihr es wol gedencken könnet schier auch ein solches Ausz-
sehen, ihr aber habet einen heiligen Aufistand gemacht, alle Fasznacht-Up-
pigkeiten zerdrimmeret, dargegen die herrliche Auszstellung, die andächtige
Anbettung, die demütige Heimsuchung desz hochwürdigiste Guts eingeführet :
Quid ergo erit nobis. Was soll, und kan ich dann E. L. verheissen.
Seye sie wolgemuth : ich hab die Erlaubnusz einen gutten Griff in seine
Schätze zuwagen: für meinen Theil wünsch ich, und will es mit dem Scha-
cher gemein haben: Memento mei : mein JEsu : da meine Sand-Uhr ausz-
geloffen, da meine Stund alle geschlagen, da das Rechen-Buch herfür wird
genommen werden, da die Thür, zur Ewigkeit sich öffnet: Memento mei,
seye meiner in Gnaden in gedenck. Will E. L. was mehrers, als dises?
Ich verstehe sie schon. Mein Heyland! dise Versamblung bittet und be-
gehrt auch jenes, was ich mir über alles, und allein ausserwöhlet, gibt aber
mir darzu eine andere Ansuchung die ich sollte vor dem Thron deiner un-
entlichen erbärmde, zu dem Beschlusz, prrefentiren. War ist es: du erzei-
gest dich in Italia, in Pohlen, in Germania , &c. als einen zornigen Aflue-
rum : Ich kan aber unser Püntner-Land nit Guarantieren, dasz man in dem-
selben was besser jetz lebe als man in bedeuteten üertheren gelebt habe.
Wie soll ich dann die güldene Ruthen, welche du in der Hand hast, anse-
hen? Ich getröste mich wiederumb, auch zu disera Beylag, alles guttes :
dann ihr zu diser Zeit euch erzeiget habet, vor hiesigem Sacramentalischen
Thron der Gnaden, als eine reine, als eine forchtsame, als eine demüthige
als eine gehorsame und liebende Elther. Sihe sie wirffet sich abermahl vor
dir nieder, ergreifl'et die Davidische Harpffen, und stimmet an den fünffzi-
gisten Psalmen: Miferere mei Secundum magnam mifericordiam tuamPf. 50.
Herr GOtt Vatter erbarme dich unser nach deiner grossen Barmhertzigkeit,
die hier dein eingebohrner Sohn JEsus Christus ist, in Einigkeit des HH.
Geistes jetzund, und zu allen Zeitten, Amen.
Alles zu grösserer Ehr GOttes.
Bibliographischer Anzeiger.
Grammatik.
F. Diez, Grammatik der Romanischen Sprachen. 2 Thle. 3. Auflage.
(Bonn, Weber.) 2 TWr. lö.Sgr.
M.A. Lesaint, Traite complet de la prononciation fran^aise dans la seeonde
moitie du XIX«? siecle. 2. Ed. (Hamburg, Mauke.) 3 Tbk-.
G. L. Staedler, Lehrbuch der italienischen Sprache. 3. Aufl. (Berlin,
Haude & Spener.) 1 Thlr. 6 Sgr.
Lexicographie. ,
M. Lex er, Mittelhochdeutsches Wörterbuch. 5. Lfrg. (Leipzig, Hirzel.)
1 Thlr.
J. E. Wessely & A. Girones, Pocket Dictionary of the English and
Spanish Languages. (Leipzig, Tauchnitz.) 15 Sgr.
Neues Taschenwörterbuch der dänischen und deutschen Sprache. (Leipzig,
Holze.) 1 Thlr.
A new Pocket-Dictionary of the english and russian languages. (Leipzig,
Holze.) 1 Thlr.
Literatur.
Ph. Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied. 33. Lieferung. (Leipzig,
Teubuer.) 20 Sgr.
Gothische und Altsächsische Lesestücke nebst Wörterbuch von Wilhelm
Wackernagel. (Basel, Schweighauser.) 20 Sgr.
E. Böhmer, Romanische Studien. 1. Heft.
G. F. Stedefeld, Hamlet, ein Tendenzdrama Shakespeare's gegen die
skeptische und kosmopolitische Weltanschauung d. M. de Montaigne.
(Berlin, Paetel.) _ 15 Sgr.
G. F. Stedefeld, Die christlich-germanische Weltanschauung in den Wer-
ken der Dichterfürsten W. v. Eschenbach, Dante und Shakespeare.
(Berlin, Paetel.) 15 Sgr.
Thimm's Shakesperiana from 1564 to 1864. The literature of England,
Germany and France. (London, Fr. Thimm.) 1 Thlr.
Ch. Marlowe's tragedy of Edward IL Wilh an introduction and notes
by W. Wagner. (Hamburg, Boyes & Geisler.) 20 Sgr.
J. Murray Graham, Historical view of literature and art in Great Britain.
(BerUn, Asher.) 4 Thlr.
240 Bibliographischer Anzeiger.
Shakespeare's Euphuism. By W. L. Rushton. (Berlin, Asher.) 27 Sgr.
Shakespeare's Hamlet, englisch und deutsch, herausgegeben vonM. Moltke.
(Leipzig, Deutsche Volksbuchhandlung.) ■ 10 Sgr.
Shakespeare's Dramen. Deutsche üebertragung von Dr. F. Jencken.
6 Bde. (Mainz, Le Roux.) 1 Thlr.
W. Shakespeare's dramatische Werke, für die deutsche Bühne bearbeitet
von VV. Oechelhäuser. 1 — 4. Bd. (Berlin, Asher.) a Bd. 15 Sgr.
S. Austin Allibone, Critical Dictionary of English literature and British
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The Breitmann Ballads, by Charles G. Leland. (London, Trübner.)
2 Thlr.
La litt^rature fran^aise pendant la guerre. (Berlin, Stilke & v. Muyden.)
15 Sgr.
Fr. Kreyssig, Vorlesungen über den deutschen Roman der Gegenwart.
(Berlin, Nicolai.) l'/.. Thlr.
P. F. J. Kuuhardt, Dantische Reminiscenz an d. biblische Gleichniss vom
ungerechten Haushalter in der Div. Com. Far. VI. (Lübeck, Grautoß.)
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E. Bock, Deutsches Lesebuch. 2 Thle. (Breslau, Hirt.) 14 S'^r.
M. Binstorfer, Deinhardt und Jessen, Lesebuch für Volks- und Bür-
gerschulen. 6 Thhi. (Schleswig, Schulbuchhandlung.) 15 Sgr.
W. Tobien, Materialien f. d. deutschen Unterricht in Tertia und Secunda,
(Elberfeld, Volkmann.) 9 Sgr.
Regeln und Wörterverzeichnis für die deutsche Orthographie. Herausg. v.
dem Verein der Berliner Gymnasiallehrer. (Berlin, Ebeliug & Plahn.)
2'/,, Sgr.
H.Mehl, Kurzgefasste Grammatik der deutschen Sprache. (Wien, Müller.)
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10 Sgr.
J. Deubler', Modernes Lehrbuch der franz. Sprache. (Nürnberg, Korn.)
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F. Kuhnow, Der Anschauungs-Unterricbt in der franz. Sprache. (Berbn,
Thiele.) 8'/. Sgr.
G. Ebert, Der Begleiter zum Unterricht im Französischen.
I. Abthlg. Anleitung zum Lesen nach den Grundsätzen der Lautir-
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n. Abthlg. Einführung in die Gesetze der Rechtschreibung, der
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A. Ricard, Kurzgefasste Conversations- Grammatik der französ. Sprache.
(Prag, Hunger.) 1 Thlr.
J. Markl, Perles de la Poesie fran9aise. (Prag, Hunger.) 1 Thlr. 6 Sgr.
K. Keller, Elementar-Methode des französ. Sprachunterrichts. 2 Thle.
(Zürich, Orell, Füssli & Co.) l'/s Thlr.
Baensch's pocket miscellany. Vol. 25. (Leipzig, Baensch.) 10 Sgr.
G. Bonifacio, Deutsch -italienischer Briefsteller. (Stuttgart, Neff")
1 Thlr.
Frangois Villon.
Von
Dr. Albert Stimming in Kiel.
Das fünfzehnte Jahrhundert ist eine Uebergangsepoche : das Mit-
telalter mit seinen Institutionen fällt in Ruinen, die neue Zeit beginnt,
das Bürgerthum macht sich von der Bevormundung durch die Geist-
lichkeit frei und tritt an die Stelle des Ritterthums, das während des
ganzen Mittelalters mit dem Clerus sich in die Herrschaft der politi-
.schen und literarischen Welt getheilt hatte. Dieser grosse Kampf, der
allmählich alle Zweige des menschlichen Wissens berührt, zeigt sich
auch in der Literatur und namentlich in der lyrischen Poesie : während
die Dichter des Mittelalters ihr ganzes Talent auf die Eleganz der
Form und die Veredelung der Sprache verwandten, während sie sich
bemühten, Allegorien zu erfinden und zai'te Gefühle zu äussern , ohne
sich darum zu kümmern, ob ihre Klagen , Betheurungen und Schwüre
den Gesinnungen ihres Herzens entsprachen — wird die Poesie in der
neuen Periode im Gegentheil der naive, manchmal kräftige, oft aller-
dings auch rohe Ausdruck der eignen Empfindungen des Dichters.
Die beiden bemerkenswerthesten Repräsentanten dieser beiden
Richtungen sind in Frankreich Charles d'Orleans , die letzte und zar-
teste Blüthe der ritterlichen Poesie und sein Zeitgenosse, Fran9ois
Villon, der erste volksmässige Dichter. Einige Studien über den Letz-
teren werden Gegenstand dieses Aufsatzes bilden : nachdem wir im
Anfang einige biographische Notizen gegeben haben, werden wir von
seinen Werken, sodann von seiner Prosodie und schliesslich seiner
Sprache handeln.
Da uns die Zeitgenossen Villons über die persönlichen Verhält-
nisse desselben leider nichts berichtet haben , so sind wir mit Aus-
nahme einiger zweifelliafter Notizen bei Rabelais auf seine eignen
Archiv f. n. Sprachen. XLVHI. 16
242 Fraii9ols Villon.
Schriften als die einzige Quelle in dieser Beziehung beschränkt. Nach
den verdienstvollen Forschungen , die Dr. Nagel und theilweise auch
andre Biographen* angestellt haben, wird es uns nicht möglich sein,
wesentlich Neues aus dem Leben des Dichters vorzubringen, wir be-
schränken uns also darauf, die Ergebnisse jener Untersuchungen kurz
anzugeben.
Der Dichter nennt sicli selbst an verschiedenen Stellen seiner
Werke Fran9ois Villon, ebenso heisst er in den Schriften seiner Zeit-
genossen, z. B. in den „Eepues franches" und in allen ältesten Ausga-
ben seiner Poesien , so dass Villon allein für seinen Familiennamen
galt. Aber seitdem Claude Fauchet in seiner Abhandlung „De l'ori-
wine des Chevaliers, armoiries et heraux 1599" nach einem IManuscripte
seiner Bibliothek eine Variante der berühmten Quatrains von Villon
„Le huitain de Villon" veröffentlicht hat, haben sich die Meinungen
der Gelehrten getheilt. Das Quatrain lautet nämlich:
Je suis Fran^oys, dout ce me poise
Ne de Paris, empres Pontboise;
Qui d'une corde d'une toise
Scaura mon col, que mon cul poise.
Seine Variante, das Huitain:
Je suis Fran9ois, dont ce me poise
Nomme Corbueil en mon surnom;
Natif d'Auvers empres Pontboise
Et du commun nomme Villon.
Or d'une corde d'une toise
Scaurait mon col que mon cul poise
Se ne fut un joly Appel
Le jeu ne me sembloit poInt bei.
* Von den hauptsächlichsten Autoren, die sich mit der Biographie Vil-
lons beschäftigt haben, nennen wir:
Etienne Pasquier, der ihm ein ganzes Capitel in seinen „Recherches
de la France" gewidmet hat;
Guillaume Colletet „Vie de Fran^ois Villon 1650" wieder abgedruckt
in den „Oeuvres completes de Francois Villon, editees par L.P.Jacob,
Bibliophile, Paris 1854;"
Prosper Marchand in seinem „Dictionnaire historique;"
J. II. R. Prompsäult in der Einleitung zu seiner Ausgabe Paris 1832; _
Dr. Nagel „Fran9ois Villon, Versuch einer kritischen Darstellung seines
Lebens," Mühlheim a. d. Ruhr 1856;
Campaux: „Vie et les oeuvres de Villon," Paris 1859;
Anatole de Montaiglon in „Les Poetes Fran^ais, recueil public sous la
direction de M.Eugene Crepet," Paris 1861—62. Band L p. 417— 455;
P. Jannet: Oeuvres completes de Francois Villon, ed. preparee par La
Monnoye, mise au jouravecnotes et glossaire par P. Jannet. Paris 1867;
Jacob »le bibliophile: Les deux Testaments de Villon etc. pr^cedes
d'une notice critique. Paris 1867.
Fran^ois Villon. 243
Dr. Nagel sucht niit grossem Scharfsinn aus andern Stellen von
Villon's Werken nachzuweisen, dass „Villon" wirklich ein Beiname
gewesen, den der Dichter freiwillig zu Ehren seines Lehrers und Gön-
ners des „Maistre Guillaume Villon" angenommen und dass aus diesem
Grunde gegen die Echtheit der Huitains nichts einzuwenden sei. Die-
selbe muss aber aus einem äussern Grunde sehr in Zweifel gezogen
werden. Wenn man nämlich bemerkt, dass so oft Villon die Form
der Huitains anwendet, d. h. In dem „grossen und kleinen Testament"
und in der INIehrzahl der Balladen, diese immer ababbcbc gereimt sind,
ferner dass die Dizain's (ababbccdcd) und die Douzain's (ababbccddede)
in Bezug auf den Reim einem durchaus analogen Gesetze folgen, so
muss man es um so auffälliger finden, wenn wir hier anders gereimt
finden, nämlich ababaacc.
Geboren wurde der Dichter 1431 in Auvers , einem Dorfe nahe
bei Paris, doch wurde er wohl schon früh nach der Hauptstadt selbst
gebracht. Seine Familie war arm und unbedeutend , seine Mutter, er-
zählt er uns selbst, konnte weder lesen noch schreiben , war aber sehr
fromm, dabei ihrem Sohne von Herzen zugethan, so dass dessen dumme
Streiche ihr tiefen Kummer bereiteten. Den Vater hatte er schon vor
seinem dreissigsten Jahre verloren. Nachdem er sich die nöthigen
Kenntnisse erworben, bezog er die Universität zu Paris. Das lockere
leben der damaligen Studenten war aber zu verführerisch, als dass es
Ihn bei seinem Hange zu sinnlichen Vergnügungen und seinem Man-
gel an Willenskraft nicht hätte anziehen und dann auf der abschüssigen
Bahn immer weiter forttreiben sollen. Mit grosser Offenheit gesteht
er uns selbst G. T. (grand testament) 26, 5
,,je fnyoje rescolle
Couime faict le mauvays enfant"
und, indem er die Worte des Weisen „Esjoys toy, mon fils, ä ton
adolescence" zu sehr zu seinen Gunsten auslegte, verband er sich mit
einer lustigen Schaar
„de gratieux gallans
Si bien chantans, si bleu pax'lans,
SI plaisans en faictz et dictz"
und „galler, friander, leschier" namentlich aber „aimer" wurde fortan
seine wie seiner ganzen muntern Cumpane Hauptbeschäftigung. Da
er uns nun aber G. T. 24, 1 — 4 versichert, dass er Nichts vom Sei-
nigen ausgegeben oder verkauft habe, um so viel Leidenschaften zu
16*
244 Fran9ois Villon.
befriedigen, so weiss man nicht, woher er die Kosten seines lockern
Lebens genommen. Jedenfalls werden die Mittel, durch welche er
sich dieselben verschaflfle, nicht allzu ehrenhaft gewesen sein: er
„machte" Geld „a dextre et ä senestre" indem er auch wohl gelegent-
lich zum Diebstahl und zur Beutelschneiderei seine Zuflucht nahm,
wenigstens versichern die „Repeues franches," die von einem seiner
Zeitgenossen, vielleicht seiner Cameraden, verfasst sind, dass Villon
„Ä tromper devant et derriere
Estoit un homme diligent."
Allerdings versucht er, sich wegen solcher „Missgriffe" zu entschul-
digen, indem er sie durch seine Bedürfnisse motivirt (G. T. 2, 7 u. 8):
„Necessite faict gens mesprendre
Et faim saillir le loup du bois."
Aber die Polizei scheint doch derartige Entschuldigungen nicht zuge-
lassen zu haben, denn wenn man aus der Vertrautheit Villon's mit den
Localitäten des „Chastellet," des Pariser Gefängnisses (P. T. 22), so
wie aus seiner Bekanntschaft mit der Gefangen Wärterin (P. T. 20)
einen Schluss ziehen darf, so ist Villon offenbar häu^g mit den Sicher-
heitsbehörden seiner Stadt ;in Conflict gerathen. Dadurch gab er sei-
nen Freunden mancherlei Gelegenheit, ihm ihre Freundschaft durch
Dienste zu bezeugen. Zu diesen gehört namentlich sein Lehrer und
Gönner Guillaume Villon , der sich offenbar für seinen begabten und
witzigen Schüler interessirte ; denn, obgleich er dessen leichtsinnigen
Lebenswandel durchaus nicht billigte (G. T. 77, 6 , et de cestuy sc.
boillon pas ne s'esjoye), so konnte er sich doch nicht entschliessen, ihn
im Stiche zu lassen und hat ihn „mis hors de maint boillon" (G. T,
77, 5) während andrerseits auch sein Sachwalter Fournier „lui a
saulve maintes causes" (G. T. 90, 5 u. 6).
Trotz dieser Ausschweifungen scheint Villon doch Perioden ge-
habt zu haben, wo er sich, wer weiss aus welchen Gründen, ernsthaf-
ter mit seinen Studien beschäftigte, denn er erhielt einen academischen
Grad „une nomination« (P. T. 17, 1) und gehörte selbst zu denen,
die von der Universität Paris dem Collator der Stipendien vorgeschla-
gen wurden. Indessen wurde er, wohl wegen seines mangelhaften
Testimonii morum , hierbei nicht berücksichtigt und ebenso wenig
gelang es ihm je , den Grad eines „maitre en theologie," damals das
Ziel der theologischen Studien , zu erlangen , wie aus seinen eignen
Worten G. T. 37 und 72 deutlich hervorgeht.
Fran^ois Villon. 245
Um das Maass seines Elends voll zu machen , verfolgte ihn das
Unglück auch in der Liebe: Ein junges INfädchen (er nennt sie bald
Denise , bald Rose, bald Katherina de Vauzelles), das er aufrichtig
und treu liebte (G. T. 55, 1, 2), brach plötzlich mit ihm, nachdem
sie ihn lange getäuscht hatte (G. T. 55, 5, 6) und zwar auf eine so
gehässige und schmähliche Weise (XXI,* 2, 2 u. 3), dass er, ausser-
dem noch durch die Neckereien und Spöttereien seiner Bekannten , die
ihn überall „l'amant remys et rcnye" nannten, aufgereizt, seine unge-
treue Geliebte, wahrscheinlich durch ein Spottgedicht, verhöhnte und
empfindlich beleidigte. Diese aber wurde klagbar , die geistliche Ge-
richtsbarkeit legte sich in's Mittel und Villon Avurdc verurtheilt, öf-
fentlich gestäupt zu werden (G. T. 115, VI, 5, 1 — 5). Nachdem der
Dichter diese entehrende Strafe erlitten, beschloss er, Paris zu verlas-
sen; und da er der etwaigen Rückkehr keineswegs sicher war, so
schrieb er um Weihnachten 1456 sein Vermächtniss nieder (ectablit
son laiz P. T. 1, 1 u. 2, 2). Diese Abschiedswünsche für die Welt,
die er verlässt, sein ,. Testament," das zugleich ein Andenken für seine
Freunde sein sollte, erhielt den Namen „Petit Testament," erst später
im Gegensatz zu dem „Grand Testament" und zwar ohne seine Ein-
v/illigung, wie er uns selbst mittheilt (G. T. 65, 4).
Villon ist nie von den tödtlichen Wunden geheilt worden, die die-
ser Verrath ihm geschlagen : alle seine Werke athmen den tiefen
Schmerz, den er während seines ganzen Lebens getragen hat.
* Die Zahlen I — XXXIX stellen Villon's kleinere Gedichte vor u. zwar
in der Reihenfolge, in der sie sieh in der Ausgabe Prompsault's , als der
am häufigsten vorkommenden, finden. Um aber denen, welchen nur andre
Ausgaben zugänglich sind, etwaiges Nachschlagen zu ei-leichteru, führen wir
die Titel der Gedichte in jener Reihenfolge auf: 1) Ballade des Dames du
temps jadis; 2) B. des Seigneurs du temps jadis; 3) B. en vieil frani^ois;
4) les Regrets de la belle Heauhniere; 5) B. de la belle Heaulniiere;
6) Double B. sur le meme propos; 7) B. que Villon fait ii la requeste de sa
mere; 8) B. de Villon h, s'amye; 9) Lay ou plustost Rondeau; 10) B. et
oraison; 11) B. que Villon bailla ii un gentilhomme; 12) B. recipe;
13) B. intitulee: les Contredictz de Franc-Gontier; 14) B. des femmes de
Paris; 15) B. de Villon et de la Grosse Margot; 16) Belle lecon de V. aux
enfans perduz; 17) B. de bonne doctrine etc.; 18) Lays ; 19) Rondeau;
20) B. jjar laquelle V. crye mercy etc.; 21) B. pour servir de conclusion;
22) Lebens diverses; 23) Le (|uatrain; 24) Epitaphe; 25) en forme de
Ballade; 26) B. de l'appel de V.; 27) La requeste de V. au Parlement;
28) Le debat du cueur etc.; 29) La requeste que V. ailla a Mgr. de Bour-
bon; 30) B. des proverbes; 31) B. des menus propos; 32) Epistre;
33) B. Villon; 34) B. des povres housseurs; 35) B. de l'honneur Fran9ois;
36) B. de la F'ortune; 37) Contre les taverniers; 38) Le dit de la naissance
Marie; 39) Double ballade.
24(> Franfj'ois Villon.
Sein Plan, nach Angers zu gehen (P. T, G, 3), wurde indessen
nicht ausgeführt; er scheint in der Nähe von Paris mit einigen Ge-
nossen (XXV) eine Gewaltthat begangen zu haben, die ihn wieder
in die Gefängnisse von Paris brachte. Wir wissen nicht genau , was
für ein Verbrechen er sich hat zu Schulden kommen lassen, noch auch
den Ort, wo es begangen wurde, aber die zweite Ballade „du jargon"
und die „belle le9on de Villon aux enfans perdus" (huit. 1) lassen
annehmen , dass es sich um einen gewaltsamen Einbruch im Dorfe
Ruel, nahe bei Paris, handelte.
Nachdem er gefoltert worden (XXVI, 2, 4) wurde er verurtheilt,
in Montfaucon gehängt zu werden (XXVI, 3, 7 u. 4, 2) und er ge-
steht selbst olTen ein (XXV, 2, 2), dass dieses Urtheil vollkommen
gerecht war.
In dieser äussersten Noth scheint ihn der Humor , den er sich
bis dahin in allem Elend seines Lebens erhalten hatte, auf einen Au-
genblick verlassen zu haben, denn der ernste Ton des Gedichtes, das
er damals verfasste „L'epitaphe en forme de bailade" unterscheidet
sich merklich von seinen andern Schöpfungen: Er vergegenwärtigt
sich im Geiste, wie sein verwester Körper, dem Spiel des Windes
überlassen, eine Beute der Raben sein wird und bittet die Vorüberge-
henden, für ihn und seine Genossen zu beten. Aber diese Stimmung
passt zu wenig zu seinem leichten und beweglichen Naturell, als dass
sie lange anhalten könnte und in einer andex'n Grabschrift , die er
bald darauf in Gestalt eines Quatrains (oder Huitain's) verfasste , hat
er es nicht unterlassen können, einen rohen Scherz, in Gestalt eines
Wortspiels, einzuflcchten :
Indessen, da
Or d'une corde d'une toise
S^aura mon col que mon cul poise.
„Teilte beste gart^e sa pel
Qui la contraint, efforce ou lye
S'elle peiilt, eile se deslic,"
so appellirte er an das Parlament , ohne allerdings grosse Hoffnungen
darauf zu bauen, wie er selbst versichert (XXVI, 3, 5). Aber ein
unvorhergesehenes Ereigniss, die am 19. December 1457 erfolgte Ge-
burt Marias, Tochter Charles d'Orleans und der Marie de Cleves, kam
ihm zu Hülfe. Villon suchte aus diesem günstigen Umstände Vortheil
zu ziehen und richtete an das Kind eine Ballade, in welcher er das-
selbe „fönt de petie, source de grace" nennt und versichert, sie sei
Francjois Villoii. 247
„ou hault ciel creee et pourtraicte pour esjouyr et donner paix." Die-
ses Gedicht erwirkte ihm in der That die Begnadigung des ParUx-
ments, und in der „double balhide," die er kurze Zeit darauf an die-
selbe Prinzessin richtete, gesteht er, dass er sein Leben nur ihr ver-
danke und verspricht, sie von nun an als seine einzige Beschützerin
zu verehren. In einem andern Gedichte „La Eequeste de Villon,
adressee ä la Cour de Parlement" spricht er jenem Gerichtshofe seine
Dankbarkeit aus und bittet, ihm einen Aufschub von drei Tagen zu
gewähren, damit er seine Angelegenheiten ordnen und den Seinigen
Lebewohl sagen könne — eine Bitte, welche beweist, dass man ihn
nur unter der Bedingung, Paris sofort zu verlassen, begnadigt hat.
Er verliess also Paris , aber wir weissen nicht , wohin er seine
Schritte w^andte ; eine Reihe von Orten , die er in dem G. T. nennt,
lässt aber annehmen, dass er sie auf seiner vagabondirenden Reise be-
rührt habe. Sein Elend scheint entsetzlich gewesen zu sein : er war
immer: „sans croix ne pile" und „n'eust ete Dieu, qu'il craiguait," so
hätte er „faict un horrible faict," d, h. er hätte in dem Tode ein Mit-
tel gegen seine Leiden gesucht. Aber diese religiösen Scrupel, die
wohl stark genug waren, um ihn von einem Selbstmord abzuhalten,
genügten nicht, um ihn zu hindern , in seine alten Verirrungen zu-'
rückzufalleu. Im Sommer 1461 finden wir ihn wieder im Gefäng-
nisse und zwar in Meun sur Loire (G. T. 11, 3), ohne indessen die
Ursache zu kennen, da er selbst, obgleich sonst in dem Geständniss
seiner Fehler sehr freimüthig, sich diesmal damit begnügt, seine Ein-
kerkerung sehr unbestimmt seiner „folle plaisance" zuzuschreiben,
übrigens aber über die Sache ein tiefes Schweigen bew^ahrt. Auf jeden
Fall muss das Verbrechen, das man ihm zur Last legte, nicht leicht
zu beweisen gewesen sein, denn obgleich er den ganzen Sommer über
(G. T. 2, 6) eingesperrt blieb, so hören wir doch nichts von einer
zweiten Verurtheilung. Nichts destoweniger kostete ihn die Behand-
lung, die er von Seiten des Jacques Thibault D'Assigny, Bischofs von
Orleans, unter dessen Gerichtsbarkeit er sich befand, erfnhr, beinahe
das Leben (G. T, 11, 4; XVIII, 1, 1): er schmachtete in einer un-
terirdischen Grube, in die man ihn vermittelst eines Korbes hinabge-
lassen hatte , war rings von dicken Mauern umgeben , welche die
Sonne und die frische Luft hinderten, in seinen schrecklichen Kerker
einzudringen , seine ganze Nahrung bestand aus geringen Quantitäten
von Wasser und Brod, die man ihm auch nur in langen Zwischenräumen
248 Fran9ois Villon.
reichte. Fügt man noch hinzu , dass er , wie ein Hund gefesseh, auf
dem nackten Boden schlafen musste und dass er zum Ueberfluss noch
zu Zeiten gefoltert wurde, so hat man ein ziemlich treues Bild von
der jammervollen Lage des armen Fran^ois (Gr. T. 1 — 4 ; XX ;
XXVIII; XXXII; G. T. 11; 63).
In dieser schrecklichen Noth schrieb er an seine Freunde einen
Brief in Form einer Ballade, in dem er sie gar rührend beschwört, ihn
doch nicht ganz und gar zu verlassen. Indessen verdankte er seine
Befreiung wieder einem unerwarteten Ereignisse, nämlich einem Thron-
wechsel. Ludwig XL, welcher auf Karl VII. am 22. Juli 1461
folgte, kam durch die Stadt Meun snr Loire, und da nach einem alten
Herkommen den Gefangenen aller Stcädte, welche ein neuer König
nach seiner Salbung passirte, ihre Strafe erlassen wurde, so erhielt
Villon durch das blosse Factum der Anwesenheit Ludwig's XL seine
Freiheit wieder.
So war er denn noch einmal den drohenden Klauen des Todes
entgangen! Aber in welchem Zustande befand er sich! Die Aus-
schweifungen seiner Jugend , die fortwährenden Entbehrungen , die
Qualen einer hoffnungslosen Liebe, die Leiden eines fünfjährigen
Exils, endlich die Martern des schrecklichen Gefängnisses, hatten ihn
vor der Zeit altern lassen und an den Rand des Grabes gebracht (G. T.
22, 3 etc. ; ib. 23 ; ib. 45). Aber obwohl er auf dieser Welt nichts
mehr zu hoffen hatte, so erklärt 'er dieselbe doch nicht verlassen zu
wollen, ohne ilir unter der Form eines Testaments, da die Legate mehr
nebensächlich sind, seine Klagen, seine Reue über sein verlorenes Le-
ben zu hinterlassen, wahre Confessionen, die an seinem traurigen Bei-
spiele der Nachwelt zeigen sollen, wohin eine solche Existenz , wie die
seine, führt. Dieses Gedicht, welches er bei seiner Befreiung aus dem
Gefängnisse verfasst oder wenigstens begonnen hat (G. T. 1, 1) und
dem er den Namen „Testament" 'gab (G. T. 10, 6; 160, 5; XXI,
1, 1), empfing später und zwar zum ersten Male in der Ausgabe von
1489 den Namen „Grand Testament."
Aber was ist aus unserm Dichter nach seiner Freilassung gewor-
den ? Es ist schwer darauf zu antworten , da wir keine Schriften Vil-
lon's, die jünger als das grosse Testament wären, besitzen. Campaiix
aber hat versucht, aus dem G. T. selbst noch einige Notizen über ihn
zu ziehen, indem er dies nämlich in drei Theile theilt (huit 1 — 79;
80 — 145; 146 — zu Ende), die nach ihm in drei verschiedenen
Fran9ois Villon. 249
Stimmungen, zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten
verfasst seien. Indem er sich nun auf eine Stelle des zweiten Thei-
les stützt,
j Item j'ay sceu, a ce voyage,
Que mes trois povres orphelins,
Sout creus et deviennent en aage,
behauptet er, dass der Dichter von Meun aus zuerst nach Paris zurück-
gekehrt sei und dort den ersten Theil des G. T. verfasst habe, der
noch die Bitterkeit und die tiefe Entmuthigung seiner Seele athme.
Aber Paris, lährt Campaux fort, gefiel ihm nicht mehr: die Mehrzahl
seiner alten Genossen war todt oder zerstreut , die Wenigen, die von
den jungern noch vorhanden waren, empfingen ihn vielleicht mit Gleich-
gültigkeit und selbst mit Kälte, das Alter ohne Reichthum ist nie will-
kommen; der Dichter beschwert sich darüber G. T. 45, 1 — 7
Car s'en jeunesse il fut plaisant
Ores plus rien ne dit qui plaise
Toiijours vieil synge est desplaisant,
Moue ne faict, qui nc desplaise
S'il se taist affin qu'il complaise,
II est tenu pour fol recreu
S'il parle, on lui dist qu'il se taise
und G. T. 23, 5, 6 :
Des miens le moindre, je dy voir
De me desadvouer s'avance.
Dieser Empfang bestimmte ihn ohne Zweifel auf den Aufenthalt
in Paris zu verzichten und den in einer Provinzialstadt zu wählen.
Dies war anscheinend Saint-Julien de Voventes, denn Villon sagt
uns G. T. 93, 94, dass wenn er „ung peu Poictevin" spräche, er es
von zwei Damen jener Stadt gelernt hätte. Und Avirklich liegt die-
selbe in Poitou. Dort soll er auch den zweiten Theil des G. T. ver-
fasst haben. Jedenfalls war er otFenbar nicht in Paris, als er die oben
schon angeführte Stelle G. T. 117, 1, 3 schrieb, denn die drei armen
Waisen waren, wie aus andern Stellen hervoi'geht, in Paris.
Eine Notiz des Rabelais Pant. IV, 60, nach welcher Villon, aus
Frankreich vertrieben, ein ehrenvolles Asyl bei Eduard V. von Eng-
land gefimden hätte, ist, wie Prompsault und Nagel zeigen, allem An-
scheine nach falsch , weil sie nicht mit der Geschichte stimmt. Sie
erscheint um so zweifelhafter, als sich sonst nirgends eine Andeutung
davon findet. Was eine andre Nachricht desselben Schriftstellers
(Pant. IV, 13) betrifft, dass nämlich unser Dichter auf seine alten
250 FrarKjois Villon.
Tage sich nach Saint-Maixent in Poitou „soubz la faveur d'un homme
de bien, abbe dudict lieu" zurückgezogen und sich damit beschäftigt
habe, die Passion in jenem Dialecte vorstellen zu lassen, so haben wir
keine Veranlassung, sie zu bestreiten.
Indessen ist es anzunehmen, dass er daselbst nicht bis zu seinem
Tode geblieben, sondern dass er gegen das Ende seiner Tage wieder
in die Stadt, in der er seine Jugend verlebt, zurückgekehrt sei und
dort den letzten Theil seines Testaments verfasst habe. „Tant va-il
qu'apres il revient" sagt er in den „proverbes" 4, 2. und in der That
würden die Details seiner Bestimmungen in Bezug auf sein Begräb-
niss keine witzige Pointe, ja nicht einmal einen Sinn haben , wenn sie
Fremden aufgetragen worden wären und der Dichter nicht in Paris
selbst gewesen wäre. Wir haben ausserdem in dieser Beziehung das
Zeugniss eines Zeitgenossen von Villon, des Eloy Damerval, welcher
in seiner „Deablerie" sagt :
Maistre Franc^oys Villon jadis
Fit a Paris son testament,
was er doch nicht hätte sagen können, wenn nicht wenigstens ein
grosser Theil (der Anfang und das Ende) des G. T. in Paris nieder-
geschrieben wären.
Mag dieser Schluss nun richtig sein oder nicht, so glauben wir
jedenfalls beweisen zu können, dass Villon den letzten Theil viel spä-
ter verfasst hat, als das Uebrige oder mindestens als den ersten Theil.
Er bestimmt nämlich G. T. 160, 2 Jean de Calais zu seinem Testa-
mentvollstrecker, indem er hinzufügt:
„II ne me veit, des ans a trente
Et ne S9ait, comment je me nomme."
Nun aber war Villon nach seinen eignen Worten, als er das erste
Huitain des G. T. schrieb, erst 30 Jahre alt, so dass, wenn nicht eine
längere Zeit zwischen der Entstehung des ersten und dritten Theils
des Werkes läge, jener Mann ihn gar nicht gekannt hätte. Aber es
ist wenig wahrscheinlich, dass der Dichter statt „gar nicht" oder „nie"
gesagt hätte : „vor 30 Jahren," und selbst wenn dies der Fall wäre,
so würde man dann die Worte „Et ne S9ait comment je me nomme"
nicht begreifen können, die offenbar voraussetzen lassen, dass Jean de
Calais ihn gekannt hat, aber vielleicht unter einem andern Namen
(siehe oben p. 242).
Franpois Villon. 251
Ueber sein Todesjahr sucht Nagel einen annäliernden Punkt fest-
zustellen: in der Ausgabe von 1532 erschienen zwei dramatische
Stücke „LeMonologue du Franc Archier de Raignollet" und ,.Le Dya-
logue des Seignenrs de Älallepaye et de Raillevent" zum ersten Male
zusammen mit den Werken Villon's , was doch nicht geschehen sein
würde, wenn die Tradition sie nicht aus der Zeit Villon's datirt hätte.
Nun finden sieh in diesen Stücken An8[)ielungen auf historische Ereig-
nisse aus den Jahren 1477 und 1480, was beweist, dass nach der Tra-
dition der Dichter zu jener Zeit noch lebte. Andrerseits lebte er nicht
mehr 1489, wo die erste Ausgabe seiner Werke erschien, die Jean de
Calais gesammelt hat. Wir können seinen Tod also zwischen die
Jahre 1480 und 1490 sotzeji.
Gehen wir nun zu den Werken des Dichters über: ausser den
beiden Testamenten kennen wir etwa 40 kleinere Stücke. Diese sind
zum grossen Theil (I — XXI) in das grosse Testament eingeschaltet;
unter den übrigen beziehen sich 9 (XXril — XXVIII, XXXII,
XXXVIII, XXXIX), die schon in der Biographie erwähnt sind , auf
die Processe Villon's; ein andres (XXXIII), in welchem der Dichter
in tretienden Antithesen die Wechselfälle und Contraste seines vielbe-
wegten Lebens schildert, soll nach Campaux für ein von Charles d'Or-
leans veranstaltetes Dicliterturnier verfasst sein. Ausserdem besitzen
wir noch drei Balladen, die sich auch auf den Dichter selbst beziehen :
,,La requeste, que Villon bailla ä Monseigneur de Bourbon" (XXIX),
in dem er jenen Prinzen um ein Darlehn bittet, „le Probleme" (XXXVI),
in welchem er sich durch das Glück interpelliren lässt und „Les menus
propos" (XXXI), wo er gesteht, dass trotz aller Erfahrungen, die
sein Wander-Leben ihm verschafft, es ihm noch nicht gelungen sei,
sich selbst zu erkennen.
Es giebt nur eine kleine Zahl von Gedichten, die nicht einen den
Verfasser direct betreffenden Gegenstand behandeln, nämlich XXXIV
spricht von dem elenden Loose der housseurs (nach Campaux Name
für Schüler, deren Bekleidung für Kopf und Schulter man ,,housse"
nannte), XXX enthält eine Zusammenstellung von 28 Sprichwörtern,
die alle mit ,,tant" beginnen; XXXV bestimmt die grausamsten Stra-
fen für den „qui mal vould voit au royaume de France," und ein letz-
tes Gedicht, das sich vollständig zum ersten Male bei Campaux findet,
schleudert mit einem äusserst komischen Pathos die schrecklichsten
Verwünschungen gegen die „taverniers, qui falsifient le vin."'
252 FraD9ois Villon.
Der Eindruck, den die Schriften Villon's auf uns machen, ist
ein eigenthümlicher: wir sehen ihn abwechselnd sich im Schmutze
wälzen (G. T. 101 ; 106, 7, 8; 137, 7—8, XV) und zu den edel-
sten und reinsten Gesinnungen und Gefühlen sich erheben (G. T. 7,
1 — 7; ib. 13, 7, 8; 14; 29—30; I; II; III; VII; 149 — 150 etc.),
bald durch seinen heitern Scherz entzücken (G. T. 16 — 20; 51 — 54;
93, 1 — 6; 115; X etc.), bald mit seinem beissenden Spott scharfe
Hiebe austheilen (G. T. 34; 45; 80; 107—109 etc.); immer voller
Geist und Humor, erzählt er uns alles, was er selbst fühlt und empfin-
det und was er an Andern beobachtet, wir erkennen deutlich seine Tu-
genden und guten Eigenschaften , seine Dankbarkeit gegen alle die,
welche ihm Gutes thun (G. T. 8 u. 9; 11, 5—8; 77; 78; 90;
XXVII; XXXVIII; XXXIX etc.), seine zärtliche Liebe zu seiner
Mutter (G. T. 79 u. VII), sein für die Leiden Andrer wohl empfäng-
liches Herz (P. T. 25 ;"27 ; G. T. 117; 121 etc.), endlich seine unei-
gennützige Vaterlandsliebe (I, 3, 5 u. 6 ; XXXV); wir fühlen mit
ihm die Leiden, welche seine verrathene Liebe (P. T. 2, 8 ; 3, 5 und
6; 5, 2; 6, 6—8; G. T. 56 — 59; VIII; XXI, 6 etc.), sein Un-
glück (G. T. 1-4; 62 u. 63; XVIII, 1,2; XXXII) und seine
Gewissensbisse (G. T. 14, 1; 22, 1; 26, 1—4 etc.) ihm verursa-
chen ; aber zu gleicher Zeit enthüllt er uns mit einer Freimüthigkeit,
die uns wohlthut, uns überrascht, ja manchmal entsetzt, alle seine
Fehler, seine Übeln Neigungen, seine Charakterschwäche, seinen Leicht-
sinn (G. T. 25, 2; 27, 1—4; XXVIII etc.), erzählt uns treuherzig
alle seine schlechten Streiche: sein Versäumen der Schule, seine Aus-
schweifungen , seine Prellereien und selbst seine Verbrechen (G. T.
22, 2—3; 25, 1; 26, 5; XXV, 1, 6 etc.), kurz er zieht es vor,
aufrichtig zu sein, als ehi'enhaft zu scheinen. Aber dieser Freimuth,
den er in Bezug auf sich zeigt , giebt ihm seiner Meinung nach auch
das Recht, diesen ebenso Andern gegenüber anzuwenden. In der That
war Niemand von den Personen, mit denen er in Berührung kam, vor
seinen Angriffen sicher: seine Freunde und seine Feinde, Priester,
Mönche, Nonnen (G. T. 106—109; 113; 115), die Polizei und die
Gerichtsleute (G. T. 97; 112; 128 etc.), die Schüler (G. T. 119, 8)
und die Schriftsteller (XIII), die Gastwirthe (cf. Campaux p. 64 — 65)
und sogar die Bedienten und Kammermädchen. — Alle sehen sich
den Angriffen seiner Kritik und seines Spottes ausgesetzt. Seine
Satire schreckt vor Nichts zurück: er kann es nicht unterlassen.
Fran9ois Villon. 253
Ludwig XI. einen ziemlich deutlielien Vorwurf zuzuschleuderu , indem
er G. T. 21, 1- — 4 bedauert, dass Gott ihn nicht „ung autre piteux
Alexandre" habe finden lassen, nachdem er einen Zug edler Grossmuth
erzählt, den dieser Fürst gegen einen armen Teufel gezeigt, der
sich ungefähr in derselben Lage, wie Villon, befunden hatte; er er-
laubt es sich sogar, über die Religion zu scherzen (G. T. 71). Aber
seine Gedichte athnien überall die Wahrheit und grade diese Wahrheit
lässt uns mit dem Dichter sympathisiren , selbst wenn unsere morali-
schen Begriffe manchmal etwas verletzt werden.* Aus dieser Wahr-
haftigkeit in allem, was er sagt, sowie aus den mannichfachen Bezie-
hungen zwischen seinen Poesien und der Wirklichkeit, namentlich der
des französischen und speciell des Pariser Lebens, folgt, dass wir in
Villon's Werken ein genaues Bild seiner Zeit, wenigstens in Bezug auf
die Kreise, in denen sich der Dichter bewegt hat, erblicken dürfen, ein
Bild, das allerdings mit groben Zügen hingeworfen, darum aber doch
nicht weniger ti'eu und klar ist. Für uns verlieren allerdings die Be-
merkungen Villon's vielfach ihre Pointe, weil wir die Personen und
Localitäten, auf welche angespielt wird, nicht kennen. Marot beklagt
übrigens schon diesen Uebelstand, indem er in seiner „epitre aux
lecteurs" sagt: „Quant ä l'industrie des lays, qu'il fait en ses Testa-
ments, pour suffisamment la cognoistre et enteudre, il fauldroit avoir
este de son temps ä Paris et avoir cogneu les lieux et les hommes,
dont il parle."
Ein andres grosses Verdienst Villon's ist es, zuerst verstanden zu
haben, wie Boileau (art poetique I v. 117 u. 118) sagt: „debrouiller
l'art confus de nos vieux romanciers ; ** er war es, der damit angefan-
gen, die Poesie von den abgenutzten Stoffen des Mittelalters, den wun-
dersamen Abenteuern der chansons de geste und der Ritterromane, den
metaphysischen Abstractionen einer confusen Gelehrsamkeit, endlich den
faden Allegorien befreit hat, welche seit dem Roman de la Rose alle
* Der biedere Guillaume Colletet (s. Ausgabe von Jacob XX) ist aller-
dings weniger nachsichtig in seinem Urtheil, denn er sagt „ce que je trouve
de pis en luy, c'est qu'au liea que les autres ont aecoustume de cacher
leurs crimes, celuy-cy en fit trophee de son temps ; et non content d'en entre-
tenir le monde de vive voix, il prit encore le soin de les publier par ^erit."
** Trotz der Richtigkeit dieses Urtheils ist es sehr wahrscheinlich, dass
Boileau die Werke Villon's nie gelesen hat; es ist vielmehr anzunehmen,*
dass er sich dabei, wie in vielen Fällen, auf seinen Vorgänger Vauquehn de
la Fresnaye stützt, der viel von dem „sc^avoir de raaistre Jean (!) Villon"
spricht, oder aber dass er damit La Fontaine's Urtheil wiedergiebt, welcher
unsern Dichter auswendig kannte.
254 Fran^ois Villon.
französischen Dichtungen anfüllten. Aber nicht damit zufrieden, sich
von diesen Stoffen los zu machen, versteht er es vortrefflich, sie zu par-
odiren und dadurch lächerlich zu machen; in dem Petit Testament
z. B. schildert er uns eine Träumerei, in die er verfallen, durch einige
Hnitains (26 — 28), welche eine vortreffliche Travestie des allegorischen
Genre's, so wie der scholastisch - sophistischen Sprache seiner Zeit
bilden.
Er bekämpft auch andre Verirrungen der Literatur : in dem grossen
Testament vermacht er dem „maistre Andry Courault" (G. T. 132, 1)
eine Ballade, betitelt „Les Contredicts de Franc-Gontier," die offenbar
eine witzige Satire gegen die damals noch immer beliebte sentimentale
Schäfer-Poesie ist. Im Gegensatz nämlich zu Franc-Gontier und He-
lene, den bekanntesten Helden dieser Idyllen, die ihr Glück in dem
Leben, der Arbeit, den Vergnügungen eines schwärmerischen Bauern
oder Schäfers finden, besingt Villon die Reize und Vorzüge eines raffi-
nirten Lebensgenusses.
In der That, obwohl die Form der Gedichte Villon's vollkommen
die seiner Vorgänger ist, denen er vielleicht manchmal in der Glätte
der Versification nachsteht , hat er dieses selbe Aeussere mit einem
durchaus andern Inhalt zu fiillea gewusst. Dai'in besteht eben sein
reformatorisches Verdienst und Herr Champollion-Figeac scheint den
von ihm herausgegebenen Dichter zu sehr auf Kosten des unsrigen, den
er vielleicht nicht gründlich kannte, zu begünstigen, wenn er in der
„Notice historique sur Charles d'Orleans" p. 18 (s. Ausgabe dieses
Dichters Paris 1842) sagt: „Villon est bien au dessous du merite, que
lui accorde Boileau, d'avoir su le premier etc. . . , merite qui appar-
tient entierement ä Charles d'Orleans." Denn gerade im Gegensatz
zu den zarten Allegorien und den schmerzlichen Klagen einer erheu-
chelten Liebe, womit die Dichtungen dieses Letzteren angefüllt sind,
singt Villon als echter Lyriker nur was er selbst empfindet, seine Lei-
den, seine Schmerzen, seine Schwächen, seine Hoffnungen, d. h. mehr
oder weniger die des ganzen Menschengeschlechts, daher wird man
seine Dichtungen immer und immer wieder lesen trotz der Rohheiten,
die sie an einigen Stellen enthalten. In Anbetracht also, dass Villon
^zwar kein Genie voller Gedanken von universellem Werthe, wohl aber
ein Mann von ungewöhnlicher Begabung ist, werden wir ihm gern
mit Marot den Namen des besten Pariser Dichters zugestehen (natürlich
bis auf Marot's Zeit) und werden mit jenem selben Dichter sagen:
Fran^ois Villon. 255
,,Peu de Villons en bon s^avoir," obgleich wir auch die andre Hälfte
seines Ausspruches: „Trop de Villons pour decevoir" nicht bestreiten
können.
Der Stil Villon's ist fast durchgängig klar und deutlich, sein Aus-
druck oft anmuthig und zart, manchmal allerdings auch sehr derb und
selbst obscön. Man erkennt überall den kräftigen, frischen Geist eines
Mannes , der mit lebhafter Phantasie , mit grossem satirischen Talent,
mit hoher poetischer Begeisterung begabt ist, aber man vermisst fast
überall die Spuren der Renaissance, man vermisst jene Cultur und
feine Bildung, die man nur im Umgang mit den höheren Classen er-
wirbt, die jedenfalls das Ungestüm seiner naturwüchsigen Muse gemäs-
sigt und ihr das Gepräge der Humanität aufgedrückt haben würde.
Diesen Uebelstand hat schon Marot mit grossem Scharfsinn erkannt
und hervorgehoben (s. Vorrede zu der Ausgabe Villon's) ,,sans doubte
Villon eust empörte le chapeau du laurier devant tous les poetes de
son temps, s'il eust ete nourry en la Court des Roys et des Princes,
lä oü les jugemens s'amendent et les langaiges se polissent." Dieses
Urtheil scheint uns gerechter und angemessener, als das des Herrn
Champollion-Figeac (s. das oben zitirte Werk p. 11), „les ouvrages
et le style de Villon nous portent ä croire, que la chastete des expres-
sions", la nettete des pensees , le bon esprit et le bon goüt etaient en-
core en ce temps-Iä un des privileges des grands seigneurs."
Was der Sprache Villon's grosse Lebendigkeit verleiht, das sind
die Wortspiele, die Sprichwörter und die Citate, die er mit vielem Ge-
schick überall in seine Gedichte einflicht. In Bezug auf die ersteron,
die fast immer eine obscöne Anspielung enthalten, begnügen wir uns,
die Stellen zu zitiren: P. T. 4, 7 u. 8 ; G. T. 89, 4; ib. 100, 2;
ib. 138, 5; XXIX, 3, 7—9; XXXIII, 1, 4.
Was die Sprichwörter betrifft, so finden wir ausser der Ballade
XXX , welche eine ganze Sammlung derselben enthält und ausser
mehreren sprichwörtlichen Ausdrücken , die über das ganze Werk zer-
streut sind, die folgenden :
,.en grand pauvrete
(Ce mot <3it-on communement)
Ne gist pas trop grand loyaulte G. T. 19, 6 — 8
Car ,,de la panse vient la danse" G. T. 25, 8
Laissons le monstier oü il est G. T. 04, 1
Toujours „vieil synge est desplaisant'' G. T. 45, 3
Car „en son prunier n'a pas creu" G. T. 45, 8
Selon le clerc est deu le maistre G. T. 47, 8 ^
256 Fran9ois Villon.
Que „six ouvriers fönt plus que troys" G. T. 53, 6
Qui me feit „mascher ces groselles" VI, 5, 4 (mich
diese Pille schlucken liess)
Vendre vessies pour lanternes G. T. 57, 8
Pourmener de l'uys au pesle G. T. 59, 2
Mettre le plumail au vent G. T. 61, 1
on dit communement,
Qu' „un chascun n'est maistre du sien" G. T. 65, 8
„Toujours n'ont pas cleres le dessus" G. T. 118, 8
„Ferrer oes et canettes" G. T, 137, 4
„Ce qui fut aux truyes," jetiens,
Qu'il doit de droit estrejaux pourceaulx G. T. 156, 7, 8
Cest a mau-chat mau-rat XV, 4, 3
Jamals mal acquest ne proffite XVI, 3, 8
De saige mere saige enfant XXXIX, II, 2, 8.
Wenn man endlich Villon nach seinen Citationen beurtheilen
will, die er oft mit einer gewissen Ostentation anbringt, so müssen
seine Kenntnisse ziemlich umfangreich gewesen sein, und man begriffe
dann den Respect, den Vauquelin de la Fresnaye vor dem „s^avoir de
maistre de Villon" hat. Er kennt z. B. viele Stellen der Bibel , er
weiss, dass Simson sein Augenlicht durch den Verrath der Delila, sei-
ner Geliebten, verlor (VI, 1, 6), ^ er spricht von Noah, der den Wein-
stock pflanzte (X, 1 , 4), ^ von Loth , der bei seinen Töchtern schlief
(X, 1, 3)3 und von dem Felsen, aus dem das Wasser hervorquoll,
welches die Juden in der Wüste erquickte (XXVII, 2, 3). Seinem
Könige Louis wünscht er das Glück des Jacob, die Ehre und den
Ruhm des Salomo, endlich das Alter Methusalems (G. T. 8, 1—8),
denen aber, die Frankreich übel wollen , das Schicksal des (angeblich)
von Gott hart bestraften Sardanapal (XXXV, 3, 10). Nicht weniger
vertraut ist er mit der Geschichte der Familie Davids: er wünscht Kö-
nig Louis, wie eben erwähnt, die Ehre Salomons (G. T. 8, 2) und
spielt auf den jähen Tod Absalon's an (XXXV, 2, 8 u. XXXVI,
3, 11),* aber namentlich scheint er in der „chronique scandaleuse"
dieses Hauses gut bewandert zu sein : er erzählt das galante Abenteuer
König David's mit Bethsabe, der Frau des Urias (VI, 1, 6),^* die un-
züchtige Liebe Amnons zu seiner Schwester Thamar (VI, 4, 1) ^ und
spricht von den „folles amours,'* die den Salomo zum Götzendiener
machten (VI, 1, 6).
Er kennt die Heimsuchungen, die Hiob zu ertragen hatte
(XXXV, 1, 8) und wendet G. T. 28, 1 — 3 auf seine eigne jammer-
1 Richter 16, 21. 2 Genesis 9, 20. ^ Genesis 19. ^ II. Buch Samuelis
18, 14. s II. Samuelis 11, 2 sq. '^ II. Samuelis 13.
Fran9ois Villon. 257
volle Lage die Worte dieses schwer geprüften Dulders an (Buch
Hiob 7, 6).
Er citirt mehrere Stellen der Psalmen, z. B. Ps. 108, 7 (G. T.
6, 8); Ps. 91, 5 „Delectasti me, Domine, in factura tua" (XXXVIII,
6, 2 u. 3) und seine Lieblingssentenz, der Wahlspruch seines Lebens
(G. T. 27, 1, 2) war ein Wort des Ecclesiasten Cap. 11, v. 9 u. 10
„Rejouis-toi durant le temps de ta jeunesse."
Aus den Propheten hat er gelerut , dass Nebucadnezar auf sieben
Jahre in ein wildes Thier verwandelt wurde (XXXV , 1 , 4) ^ und
dass der Prophet Jonas drei Tage in dem Bauche eines Wallfisches
zubrachte (XXX, 3, 6). ^
Auch die Apokryphen hat er, wie es scheint , nicht minder gele-
sen, denn er spricht XXXVI, 3, 3 von Arphaxad , dem Könige der
Meder, der in der Schlacht von Holophernes besiegt und getödtet
wurde ; ^ er weiss, dass dieser Letztere seinerseits durch Judith ermor-
det wurde (XXXVI, 3, 8),* der „würdigen Judith," wie er sie
XXXIX, II, 3, 6 nennt und er citirt sogar XXVIII, 4, 6 u. 7 eine
Stelle aus der „Weisheit Salomonis" 7, 19 „Homme sage a puissanoe
sur les planetes et sur leur influence."
Was das neue Testament betrifft, so scheint er sich mit diesem
nicht so eingehend beschäftigt zu haben, als mit dem alten ; wir finden
nur Anspielungen auf die Thätigkeit Johannes des Täufers (XXXIX,
2, 1) und auf dessen Enthauptung durch Herodes (VI, 4, 5), ^ auf die
Hochzeit zu Cana (X, 1, ö),^ auf das Gleichniss vom Aussätzigen
und dem Reichen (G. T. 72, 5),'^ auf den Tod des Verräthers Judas
(XXXV, 2, 9), 8 auf die Bekehrung des Andreas (XXXIX, 2, 5)
und endlich auf die Jünger von Emmaus (G. T. 13, 3).^ Aber
Villon scheint sich mit der Bibel nicht begnügt, sondern auch mit der
Legende sich bekannt gemacht zu haben. So begegnen wir der Le-
gende von Maria, der Aegypterin (VII, 2, 3), von dem Mönche Theo-
philus (VII, 2, 4), von der Maria Magdalena (XXXV, 2, 5), von
dem Magier Simon (XXXV , 2 , 10) und endlich der vom heiligen
Victor (XXXV, 3, 4).
Wir finden auch ßeminiscenzen aus der alten Mythologie : er malt
uns die „caveaux Stygiens" (contre les tavern. 1, 11), die er auch
1 Daniel 4, 30. - Jonas 2, 1. ^. Buch Judith Cap. 1. ^ Buch Ju-
dith 13, 7—9. 5 St. Marcus 6, 27. ^ St. Johannes 2. '' St. Lucas 16,
19—31. 8 St. Mathäus 27, 3—5. ^ St. Lucas 24.
Archiv f. n. Sprachen. XL Vm. 17
258 Fran(jois Villon.
„palluz infernaux" nennt (XXXV, 1, 8) und die von dem „chien
Cerberus ä quatre testes" bewacht werden (VI, 2, 4), dem schreckli-
chen Aufenthaltsorte des Tantaliis (XXXV, 1, 7), und der Proser-
pina (XXXV, 1, 8), in welchen Orpheus „le doux menestrijer" hinab-
stieg ,.jouant de flustes et musettes" (VI, 2, 1) , er erzählt uns von
der „clarte" des Phoebus (XXXV, 3, 7) , von den Gütern der Juno
und dem „soulas" der Venus (ib. 3, 8), von Aeolus, von dem Gotte
der Winde (XXXV, 4, 1), von dem Walde „oü regne Glaucus", d. h.
von dem Meer (ib. 4, 2) , von Narcissus , welcher sich in sein Bild,
das er. in einem Brunnen sich spiegeln sab, verliebte und sich er-
tränkte (XI, 2, 5 und XXXV, 2, 7), und von der „schönen Echo"
(XXXIX , II , 3 , 5) , einer in den schönen Narcissus verliebten
Nymphe, die später in einen Felsen verwandelt wurde (I, 1, 5).
Das griechische und römische Alterthum liefert nicht weniger
sein Contingent : der Dichter lässt den Jason (XXXV ,1,2 und
XXXVI, 2, 10) und Daedalus (XXXV, 1, 9), den Hector und Troi-
lus (G. T. 129, 8), den Paris und die Helena (G. T. 40, 1 ; XXXV,
I, 6), die „weise Cassandra" (XXXIX, II, 3,5) und den alten
Priamus (XXXVI, 2, 3), die Archipidia, eine athenische Courtisane
(I, 1, 3) und die Thais, eine Geliebte Alexanders (I, 1, 3), ja Alex-
ander den Grossen selbst Revue passiren (XXXVI, 3, 1).
Die römische Geschichte liefert ihm: „noble Dido" (XXXIX,
II, 3, 6) ,,la royne de Cartage" (XVI, 2, 5), „Scippion l'Affirquain"
(XXXVI, 2, 7) und dessen grossen Gegner Hannibal (XXXVI, 2, 5),
Julius Cäsar (XXXVI, 2, 8) und seinen Nebenbuhler Pompejus, der
in Aegypten umkam (ib. 2, 9) , den Kaiser Octavian (XXXV, 3, 1)
und endlich die Courtisane Flora (I, 1, 1) neben der „caste Lucresse"
(XXXIX, II, 3, 6).
Seine Kenntnisse auf dem Gebiete der frühesten Geschichte seines
Landes scheinen, nach seinen Schriften, sich auf Chlodwig (XXXVIII,
3, 5) und Hugo Capet (XXVI, 2, 1) zu beschränken. Weiter
spricht er von Abälard und Heloise (I, 2 , 1 — 3) , von Blanche von
Castiiien, Mutter Ludwigs des Heiligen (I, 3, 1), von Beafrice von
der Provence (I, 3, 2); von Alice von der Champagne (I, 3, 2), von
der Erembourges, Prinzessin von Maine (I, 3, 4) und spielt (I, 2, 5
bis 7) auf eine Tradition an, die in dem Compendium der Annalen
Frankreichs von Gaguin ausführlicher behandelt wird, dass nämlich
eine französische Königin in dem „Tour de Nesle" an der Seine ihre
Fran9ois Villon. 259
nächtlichen Orgien gefeiert, dazu Vorübergehende , namenth'ch Studen-
ten, herbeigelockt, und, nachdem sie ihre Laune befriedigt, in die Seine
habe werfen lassen, einem Schicksale, dem nur Buridan, späterer Pro-
fessor in Paris und Schüler des Occam, entgangen sei. Namentlich
aber zeigt sich der Dichter in den gleichzeitigen Ereignissen, nicht nur
seines, sondern auch der übrigen Länder bewandert: er citirt „Jehanne
la bonne Lorraine, Qu'Anglois bruslerent ^i Ronen" (I, 3, 5), Calixte
III t 1458 (II, 1), Alphons V, König von Arragonien f 1458 (ib.),
Johann I, Herzog von Burgund f 1453 (ib.), Artus III, Herzog von
der Bretagne | 1458 (ib.), Karl VII, König von Frankreich ■\ 1461
(ib.), Jacob II, König von Schottland f 1460 (II, 2), Johann II,
König von Kastilien f 1454 (ib.) und endh'ch Ladislaus von Böhmen
t 1444 (ib.)
Die von ihm cltirten Bücher sind ziemlich zahlreich : ausser Ari-
stoteles (P. T, 36, 8), zu dem er selbst den Commentar von Averroes
kennt (G. T. 12, 8) und Homer, nennt er noch Virgil , aus dem er
sogar den 7. Vers der 4. Ekloge „Nova progenies caelo jamjam de-
mittitur alto" wörtlich anführt (XXXIX, II, 3, 2 — 4), Macrobius
(G. T. 135, 5), Valerius, genannt „le grand k Rome" (G. T. 20, 8)
und Vegecius „saige Romain, grand conseiller'" (P. T. 1, 6). Endlich
erwähnt er noch eine ars memorativa „Art de memoire" (P. T.
15, 8) und die Bulle „Omnis utriusque sexus," welche auf dem vierten
Lateranconcil i. J. 1215 gegeben worden ist.
Auch mit der Literatur der langne d'oil scheint er wohl vertraut
gewesen zu sein , er .scheint die Romane von Ogior le Danois (G. T.
153, 8), von der Rose (G. T. 15, l;i G. T. 108, 1), von „Berthe
au grand pied" (I, 3, 3) und die Werke Alain Chartier's (G. T.
155, 2), gelesen zu haben, während er von den Kirchenschriftstellern
anscheinend nur Jean de Pontlieu , den Feind der Priester , kannte
(G. T. 108, 5).
Gehen wir zu der Metrik Fran^ois Villon's über. Ausser den
beiden grossen Gedichten , dem grossen und dem kleinen Testament,
finden wir drei verschiedene Arten von Gedichten : ballades, rondeaux,
dits. Die Balladen bestehen aus drei Strophen (XXVIII hat vier, die
„double.s ballades" haben sechs, z. B. VI u. XXXIX) , welche in den
1 Indessen stammt die G. T. 15, 1 angezogene Stelle, wie Jacob Biblio-
phile (p. 47 Note 3) bemerkt, gar nicht aus dem „Roiaant de la Rose,"
sondern ist vielmehr der Anfang des „Codicille de Jean de Meung.-'
17*
260 Fraucois Villon,
entsprechenden Versen durch das ganze Gedicht denselben Reim zei-
gen, aus einem Envoi , welches wie die entsprechenden letzten Verse
der übrigen Strophen reimen, und endlich einem Refrain, welcher immer
als letzter Vers in jedem Couplet (auch dem Envoi) wiederkehrt. Es
giebt einige Balladen ohne Envoi (VI, XXXIV), aber keine ohne Re-
frain. Zu bemerken ist die Double-Ballade XXXIX, in welcher, mit
Ausnahme des Refrains und des darauf reimenden sechsten Verses, die
Strophen 4 — 6 andre Reime zeigen, als 1 — 3; das Envoi richtet sich
nach den unmittelbar vorhergehenden Couplets.
Die Rondeaux bestehen aus einer Strophe von sechs Versen und
einer andern von vier Versen, deren Reime mit den vier ersten Versen
der ersten Strophe correspondiren. Der Name „rondeaux" stammt da-
her, dass entweder das erste Wort des Gedichts jeder Strophe als eine
Art Refrain angefügt wird (z. B. X, XVIII) oder, dass der erste Vers
der ersten Strophe sich als fünfter an die zweite Strophe anfügt
(XIX.)
Die Dits endlich sind Gedichte mit nicht beschränkter Strophen-
zahl, ohne Refrain , ohne Envoi und die auch in Bezug auf den Reim
nicht so strengen Regeln unterworfen sind, als die beiden vorherge-
henden Arten.
An Versen braucht Villon sowohl den achtsilbigen , z. B. in dem
grossen und kleinen Testament, den Dits, Rondeaux und in einem
Theile der Balladen , als auch den zehnsilbigen , wie in den übrigen
Balladen. Die Verse gruppiren sich zu vieren, sechsen, achten, zehnen
und zwölfen , woraus die Quatrains , Sixains , Huitains, Dizains und
Douzains entstehen. Hieraus könnte man schliessen , dass es bei Vil-
lon 10 verschiedene Strophenarten gäbe, nämlich Douzains von Acht-
silblern und Zehnsilblern , ebenso zwei Arten Dizains etc. Es giebt
deren indessen nur sieben, da nur die Huitains und Dizains beide Vers-
arten aufweisen können, während die Quatrains und Sixains nur acht-
silbige, die Douzains nur zehnsilbige Verse zeigen.
Die Reihenfolge der Reime, die übrigens beliebig männlich oder
weiblich sein können, ist in den verschiedenen Strophenarten, d. h. den
Quatrains, Sixains etc. verschieden.
Das einzige selbstständige Quatrain , das sich im Villon findet
(XXIH), hat nur einen Reim auf „oise," während in den vierzeiligen
Envois und in den zweiten Strophen der Rondeaux der Reim sich nach
dem der andern Strophen richtet (s. o.)
Fran^ois Villon. 261
Die Sixains, die nur in den Rondeaux vorkommen (IX, XVIII,
XIX), reimen alle abbaab.
Das Huitain, das aus achtsilbigen Versen besteht, wird bei Villon
sehr häufig angewandt, nämlich in den beiden Testamenten und in den
folgenden Gedichten: L II, III, IV, V, VI, XIV, XVII, XX, XXI,
XXIV, XXX, XXXI, XXXIX, wo es überall ababbcbc reimt; aus-
serdem einmal in der Variante des Quatrains (XXIV), deren wir oben
Erwähnung gethan, wo es ababaacc reimt.
DieHuitains mit Zehnsilblern, denen wir in den Gedichten begeg-
nen (VIII; X; XI) folgen in Bezug auf den Reim durchaus der vor-
hergehenden Classe.
Die Dizains reimen immer ababbccdcd, mag nun der Vers acht-
silbig sein (XXXIV) oder zehnsilbig (VII, XII, XIII, XV, XXV,
XXVII, XXVin, XXIX, XXXII, XXXIII, XXXV). Die Envois
dieser Art Balladen verdienen eine besondere Aufmerksamkeit. Ge-
wöhnlich zählt nämlich das Envoi nur halb so viel Verse, wie die an-
dern Strophen ; nun finden wir auch , im Anschluss an diese Regel,
in den meisten Fällen 5 Verse, jedoch hat das Envoi von VII und von
XXVIII deren sieben, welche noch obenein cccdccd reimen , während
die Uebereinstimmung mit den sieben letzten Versen der andern Stro-
phen wenigstens bbccdcd erwarten lässt ; das von XXXII hat 6 Verse,
die auch gegen die Regel ccdccd reimen ; XIII endlich hat ein Envoi
von nur 4 Versen, die aber regelmässig reimen.
Was schliesslich das Douzain betrifft, so finden wir es in zwei
Balladen verwendet (XXXVI und XXXVII) , deren Reime die For-
mel ababbccddede darstellen ; das Envoi des ersten Gedichts besteht aus
fünf, das des zweiten aus vier Versen, beide mit normalem Reim.
In Bezug auf den Reim selbst stimmen die Regeln zwar im Allge-
meinen mit denen des modernen Französisch überein, doch sind sie bei
Weitem nicht so streng, wie diese. Wir führen einige Reime vor, die
nach den Regeln der heutigen Prosodie nicht für correct gelten wür-
den. Unerlaubt sind z. B. heute Reime, in denen zwar die Reimvocale
gleich, aber die darauf folgenden stummen oder nasalirten Consonanten
alle oder theilweise verschieden sind, wie blancs — complant P. T. 4,
5 und 7; certain — estaing ib. 8, 2 u. 4; donc — don G. T. 22,
6 u. 8 ; chassant — champ G. T. 100, 4 u. 5.
Verboten ist ferner, dass auf den Reiravocal im einen Falle ein
stummer, im andern ein hörbarer Consonant folgt. Dahin gehören
262 Fran9ois Villon.
die sogenannten „rimes nonnandes," d. h. Reime von er, das wie e mit
er, das wie ere ausgesprochen wird, z. B. mer — nommer G. T. 18,
2 u. 4 ; eher — revencher ib. 24, 5 n. 7 ; mendier — hier ib. 44,
1 u, J3; eher — mascher VIII, 1, 1 u. 3; toucher — eher G. T. 114,
6 u. 8 ; mer — semer XXXII, 1, 6 u. 7. — Ebenso Reime wie six
— rassis P. T. 1 , 1 u. 3 ; Jacob — trop G. T. 8 , 1 u. 3 ; dictz —
filz ib. 27, 1 u. 3; sublitz — petiz IV, 6, 4 und 5; perilz^ — periz
G. T. 88, 4 u. 5; perilz — Paris XIV, 1, 6 u. 8; quod — escrot
G. T. 172, 2 u. 5; sourcilz — merciz ib. 173, 6 u. 8; sourcilz —
rassis XXV, 3, 4 u. 5.
Noch weniger ist es heute erlaubt, dass die auf den Reimvocal
folgenden Consonanten verschieden und beide hörbar sind, so in : tieulx
— neufz P. T. 31, 5 u. 7; gelines — Signes ib. 32, 4 u. 5 ; raasles
Charles G. T. 9, 1 u. 3 ; fuste — ■ fusse G. T. 18, 6 u. 7; ancestres
— sceptres ib. 35, 6 u. 8 ; Auvergne — Charlemaigne I, 4, 2 u. 4;
Grenobles — Dolles III, 3, 1 u. 3 ; adextre — prebstre V, 2, 2 u. 7;
pleure — recoeuvre G. T. 49, 4 u. 5 ; enfle — Temple ib. 89, 6 u. 8;
cornette — hohecte ib. 97, 2, 5 u. 7; Merle — niesle ib. 116, 1 u. 3;
rouges — Bourges ib. Il4, 2 u. 7; 130, 6 u. 8; resigne — dessaisine
ib. 121, 2 u. 4; bible — Evangile ib. 134, 1 u. 3; enseigne — tienne
ib. 141, 5 u. 7; branle — tremble ib. 166, 1 u. 3 ; peuple — seule
XXXIX, 3, 1 u. 3. In allen diesen Fällen scheint es, als hätte sich
Villon mit der Gleichheit der hauptsächlichsten Consonanten begnügt,
aber in zwei andern Beispielen findet sich gar keine Uebereinstimmung
zwischen den Consonanten : prophetes — fesses G. T. 71, 6 u. 8 ;
dame — asne ib. 137, 6 u. 8. Diese Erscheinung erinnert vollstän-
dig an die Assonanz in den alten volksthümlichen Gedichten Frank-
reichs.
Auch der Reim eines langen mit einem kurzen Vocal findet sich
nicht selten, z, B. pasques — Jacques P. T. IG, 6 u. 8; mais — mecfz
G. T. 27, 4 u. 5 ; blasmes — femmes ib. 5, 2 u. 4 ; mectre — niaistre
ib. 72, 1 u. 3; aulmosne — ordonne G. T. 142, 5 u. 7 ; douzaine
— Estienne ib. 167, 2 u. 4 etc.
Einige andere Unregelmässigkeiten erklären sich durch die ver-
schiedene Aussprache jener Zeit oder durch Eigenheiten des Pariser
Dialects. E z. B. und selbst eu hatte vor r den Laut a , denn Villon
schreibt cberme VIII, 1, 5 und lerme G. T. 155, 3 (lerme auch afr.
sehr häufig) und sprach unzweifelhaft charme und lärme, so dass er
Fran9ois Villon. 263
correct reimen konnte: haubert — pluspart — poupart — P. T. 16, 4
5 u. 7; Barre — feurre — terre ib. 23, 2, 4 u. 5; appert - part
G. T. 52, 2 u. 4; Robert — Lorabart ib. 64, 6 u. 8; terre — Barre
_ foerre'ib. 67, 2, 4 u. 5 ; ardre — aherdre ib. 73, 1 u. 3 ; erre —
Barre ib. 83, 2 u. 4; Garde - perde G. T. 127, 1 u. 2; Montmartre
— tertre ib. 136, 1 u. 3; Galerne — Marne ib. 144, 2 u. 4.
Dass der Diphthong eu damals noch wie u ausgesprochen wurde,
wird man um so weniger auffiillig finden, als noch 1585 Beza berich-
tet, dass die Aussprache hureux für heureux als die feinere gelte und
selbst in La Fontaine der Reim erneute — dispute (Fabl. VII, 8) vor-
kommt. Bei unserm Dichtei- dienen folgende Reime als Belege jener
Aussprache: demeure — meure (:= müre, schon einsilbig, das e nur
noch graphisch) G. T. 23, 1 u. 3; jeu - geu (Part. Prät. von gesir)
ib. 148, 1 u. 3.
Die Reime an — amen— ancien G. T. 127, 4, 5 u. 7 ; d'an —
paroissien können wohl dadurch erklärt werden, dass das „en" auch
nach i wie an ausgesprochen wurde, obgleich Villon ausser vor r keine
besondere Vorliebe für den a-Laut zeigt; z. B. wurde offenbar das a
in Bretagne wie e gesprochen, wie die Orthographie und der Reim
Bretaigne - enseigne G. T. 141, 2 u. 4 zeigen. Ob der Reim dya-
derae — l'ame - femme G. T. 38, 2, 4 u. 5 auch als Beweis der
Hinneigung der Aussprache der a nach e hierher zu ziehen oder nur
als Unregelmässigkeit aufzufassen ist, wagen wir nicht zu entscheiden.
Das°s 11 und 1 nach einfachem i noch nicht den mouiUirten Laut
hatten, scheint uns aus den Reimen Cecille — Troile G. T. 129, 6
u. 8; sourcil — eil XIX, 1, 5 u. 7 hervorzugehen. Dies wird auch
durch die Reime: verraillon — coullon XXI, 1, 5 u. 7; souUon —
RousslUon ib. 2, 2 u. 4; soullon - Villon XXXVI, 1, 10 u. 12;
houllon - Villon ib. 2, 10 u. 12, eher bestätigt, als, wie Jannet (Re-
marques philologiques) behauptet, widerlegt. Dass dagegen 11 nach
einem Diphthong, dessen zweiter Bestandtheil i war, auch damals schon
mouillirt wurde" beweisen Reime wie escollier — collier - conseiller
P. T. 1, 2, 4 u. 5 etc.
Der Diphthong oi endlich wurde damals „oe" ausgesprochen; denn
Villon schreibt sogar einige Male oe für oi, nämlich: mirouer P. T.
29, 7; coeflfer ib. 14, 7; III, 1, 2 ; G. T. 153, 4, soef G. T. 62, 1;
maschouere ib. 73, 4; oe (oie) ib. 157, 4. Daher waren folgende
Reime möglich: Chollet - souloit P. T. 24, 1 u. 3; Anthome -^
264 Fran9ois Villon.
Seine ib. 29, 2 u. 4; exploitz — laiz ib. 33, 6 u. 8 ; fenestres —
cloistres — oystres (huitres) G. T. 30, 4, 5 u. 7 ; essoyne — royne
— Seine I, 2,4, 5 u. 7 ; cgnoistre — senesfre V , 1 , 4 u. 5 ; poise
— aise XIII, 3, 8 u. 10; testes — boytes — coettes G. T. 101, 2,
4 u. 5; estroicte — disette ib. 139, 2 u. 4 ; aber vor r hatte dieser
Diphthong schon zu jener Zeit die jetzige Aussprache, wie die Reime :
carre — poirre G. T. 98, 5 u. 7 ; voire — erre (sprich arre) ib. 166,
2 u. 4 zeigen.
Auch in Bezug auf den Reichthum des Reimes befolgt Villon schon
ziemlich genau die heutigen Regeln, ja man kann bei ihm eine beson-
dere Vorliebe für einen recht reichen Reim nicht verkennen, so in
Esperit — perit P. T. 9, 2 u. 4; amant — dyamant ib. 12, 1 u. 3 ;
Parlement — principalement ib. 14, 2 u. 4 ; honeste — admoneste ib.
15, 1 u. 3 ; Universite — adversite ib. 27, 2 u. 4 u. s. w.
Wie nach heutigem Gebrauch verzichtet er bei mehrsilbigen Wör-
tern in der Regel nur dann auf den reichen Reim , wenn dieselben auf
eine der seltener vorkommenden Endungen ausgehen und auch da lange
nicht so häufig, wie wohl moderne Dichter. Er begnügt sich mit ein-
fachem Reim und zwar an je einer Stelle , bei folgenden Endungen :
it P. T. 9, 4 u. 5; is I, 2, 1 u. 3; aigne 11, 2 , 6 u. 8 ; iere IV, 1,
2 u. 4 ; asse ib. 4 , 2 , 4, 5 u. 7 ; eille ib. 6 , 6 u. 8 ; ettes ib. 9, 4,
5 u. 7; ours G. T. 54, 6 u. 8; able ib. 78 , 2 u. 4; er VIII, 2, 1
und 3 ; u G. T. 85 , 1 u. 3 ; ou ib. 94, 2, 4, 5 u. 7 ; ant ib. 100, 2
u. 4; eux ib. 112, 1 u. 3; igne X, 1, 1 u. 3; ofle G. T. l28, 6 u. 8;
oine XIII, 1, 1 u. 3; olle G. T. 141, 1 u. 3 ; onne ib. 142, 4 u. 5;
ure ib. 159, 2 u. 4; oire ib. 164, 4 u. 7 ; aine ib. 167, 2, 4, 5, 7;
oye ib. 169, 1 u. 3; el ib. 167, 2, 4, 5, 7; orte XXXIX, 5, 2, 4,
5 u. 7; oir XXXIII, 1, 7 u. 9.
Zwei bis drei Male fehlt der reiche Reim bei folgenden Endungen:
ines, ie(y), ie(ez, ee), ique, ance (ence), eau (au), ere(aire), ise, a, at,
otte(ote); ume, isse und nur bei der Endung esse ist der einfache
Reim das gewöhnliche.
Die Regel, dass kein Wort mit sich selbst oder kein Simplex mit
seinem Compositum reimen könne, kennt Villon nicht. Ja er beschränkt
sich nicht darauf, Wörier, die zwar der Form nach gleich, der Bedeu-
tung nach aber verschieden sind, zu reimen, wie date (Datum) — date
(Dattel) P. T. 40, 1 u. 3 ; este (Sommer) — este (gewesen) G. T.
2, 6 u. 8; quoy (ruhig) — quoy (was) ib. 31, 4 u. 5; fiere (stolz)
Fran9ois Villon. 265
— fiere (schlage) IV, 1, 5 u. 7 ; las (leider) — las (== laqs, Schlinge)
G. T. 55, 6 u. 8; mot — m'ot ib. 58, 1 u. 3 ; chere (Mahl) — chere
(theuer) ib. 73, 5 u. 7, sondern reimt auch unbedenklich jedes Wort
mit sich selbst in ganz gleicher Bedeutung, so: dur P. T. 7, 1 u. 3
mestier ib. 23, 6 u. 8; finer ib. 39, 6 u. 8; cueur G. T. 5, 1 u. 3
bien ib. 14, 1 u, 3 ; mais ib. 27, 2 u. 7; (je) mande ib. 66, 2 u. 7
OS ib. 143, 5 u. 7 oder ein Substantivum mit dem von ihm abgeleiteten
Verbum so: conseiller P. T. 1, 5 u. 7 ; bruit ib. 9, 5 u. 7; plante ib.
20, 6 u. 8 ; establis ib. 22, 2 u. 4 ; sens G. T. 10, 1 u. 3; peine
ib. 32, 6 u. 8; dit ib. 74, 1 u. 3; ayde ib. 90, 6 u. 8; endlich auch
das Simplex mit seinem Compositum oder mehrere Composita desselben
Simplex: racompte — mescompte P. T. ] , 6 u. 8; briser — desbri-
ser ib. 2, 6 u. 8; fa^on — deffa9on ib. 3, 1 u. 3; prins — mesprins
ib. 5, 1 u. 3 ; chasse — dechasse — enchasse — pourchasse ib. 10,
2, 4, 5, 7 und so in vielen Fällen.
Was den Hiatus betrifft, so bemerken wir bei Villon", im Gegen-
satz zu andern Dichtern jener Zeit, eine sehr ausgesprochene Neigung,
ihn zu vermeiden oder durch die Elision zu entfernen, z. B. :
Mil quatre cent cinquante et six F. T. 1, 1,
Sans que pie9a eile en eust mieulx ib. 3, 4,
Et se je pense a ma faveur ib. 4, 1 etc.
Unter den 3 — 4000 Versen Villon's haben wir nur 8 Stellen ge-
funden, die von den Regeln der modernen Prosodie ab^veichen :
Mais mon encre estoit gele P. T. 39, 4,
Car vieilles n'ont ne cours ne estre V, 1, 7,
Pour ce aymez tant que vouldrez VI, 1, 1,
Ma vielle ay mis soubz le banc G. T. 60, 5,
Leur chambre auront lembroysee ib. 112, 2,
En l'abbaye oii il n'entre homme ib. 136, 2,
(sonst wird immer vor stummem h elidirt,)
N'autre ennuy de quelque sorte XXXIX, 5, 5,
Seme et benigne clemence XXXIX, 6, 3.
Andrerseits war man damals noch nicht so streng wie heute in Be-
treff des Werthes der Silben , namentlich auch der Diphthonge , die
stumme Silbe konnte nach Belieben gerechnet werden oder nicht. Wir
finden bei Villon viele Stellen, wo stummes e, obwohl ein Conso-
nant folgt, nicht zählt, z. B. gelten: laisse P. T. 12, 8, brayes ib.
14, 6, soye, vraye G. T. 14, 5, hommes XXV, 2,4, pluye XXV,
3, 1 nur eine Silbe: amye P. T. 14, 8, declaire G. T. 60, 8 nur zwei
Silben. Dasselbe gilt auch in der Mitte der Wörter, z. B. zählt das e
266 Francjois Villon.
nicht in; Jehau P. T. 11, 4; G. T. 85, 1; 108, 1; 125, 7; 127, 2;
160, 2; vrayement G. T. 51, 1; payera G. T. 91, 3; salueront ib.
125, 7; payeray ib. 193 , 2. Diese letzte Erscheinung stimmt übri-
gens mit dem Neufranzösischen überein, wo diese im Inlaut nach Vo-
calen ebenfalls nicht zählt.
Der Werth der Diphthonge ist auch noch nicht genau fixirt: oi
z. B. gilt gewöhnlich eine Silbe, aber averroy G, T. 12, 8 ist viersil-
big, poille ib. 58, 1 dreisilbig.
uy und ui immer einsilbig, ion zweisilbig, ausgenommen in estions
und avions IX, 2, 1, ebenso ieux, ausgenommen in cieulx G. T. 75,
6 und lieux ib. 76, 8.
Die Endungen ier, ie, iez, ien etc. zählen nur für eine Silbe, wenn
sie vom lateinischen are, arius, atus, aties, anus etc. herkommen, oder
wenn sie durch Diphthongisirung entstanden sind (viens, tiens, vieil etc.) ;
sie sind dagegen zweisilbig, wenn das e wurzelhaft ist wie in obvier
P. T. 6 , 1; mandier ib. 32, 1; rassasier G. T. 25, 4; manier ib.
59, 6; officiel ib. 64, 3; espier ib. 69, 4; copier ib. 69 , 7 ; ancien
ib. 84, 6 ; lien XXXVIIl, 4, 8.
Es giebt indessen auch Ausnahmen von dieser Regel : advient
P. T. 37, 4; terrien VII, 1, 1; aidier G. T. 130, 3; gerrier XXXIV,
2, 7, zählen drei statt zwei Silben, barriere XXXVI, 1, 5 und estu-
dier G. T. 119, 1 nur drei statt vier.
Die Sprache Fran^ois Villon's * ist die von Paris , d. h. der Isle
de F'rance. Sie ist indessen nicht ganz rein, sondern mit Bestandthei-
len aus allen Dialecten Frankreichs zersetzt und vermischt. Wir wollen
versuchen, einige Punkte hervorzuheben.
Aus dem Burgundischen findet man :
ai für a: saige P. T. 1, 7; VI, 3, 5 etc., saigesse IV, 3, 2;
gaige P. T. 11, 5; G. T. 158, 7; XXXIII, 4, 4; Bretaigne H,
1, 6 ; Charleniaigne ib. 1, 8 ; Espaigne ib. 2, 6 ; gaigner G. T. 105, 4;
XVI, 2, 5; declairer G. T. 60, 8; saichans ib. 117, 6; messaigier
XIV, 1, 3; saichiez XXI, 4, 2; Cartaige XXXVI, 1, 6. Dies ai
scheint jedoch, namentlich vor g, wie a gesprochen zu sein, da wie
G. T. 158, 2, 5 u. 7 gaiges mit pages und aages reimt, doch sprechen
1 Wir haben unserer Untersuchung den Text La Monnoye's zu Grunde
gelegt, welcher nach Gaston Paris in der Rev. erit. No. 16 der beste ist,
der bis jetzt noch publicirt worden; der kritische Scharfsinn La Monnoye's
sei wahrhaft zu bewundern.
Fran9ois Villon. 267
die Reime: Auvergne — Charlemaigne II, 4, 2 u. 4 und Bretaigne
— enseigne G. T. 141, 2 u. 4 dagegen.
ei für e sehr oft: seiche, meiner, preigne, seicher, sereine (sirene)
I, 3, 2 etc.
ie für e (zugleich picardisch) sehr häufig, wenn e den Ton hat,
z. B. Chief, boiichier, chassie, sachiez, pechie, traictie, darigier (bei'cch-
tigt, da es von damniarium kommt) etc. Hierher gehört auch tieul
P. T. 31, 5 (Reim), wo 1 erst aufgelöst und dann noch einmal ge-
setzt ist.
ou für eu und oeu: demourer G. T. 38, 8; 94, 2; 110, |2;
vouillies (imper.) VII, 2, 8; pou G. T. 138, 5; labour XVII, 3, 2;
3, 7 (sehr häufig auch altfr.) ; ouvrer XVII, 3, 7; doulour
G. T. 54, 8.
o für ou: Loys G. T. 7 , 8 esjoys-toy ib. 27, 3; molin ib.
58, 6; andoille ib. 101, 6; coille ib. 101, 8; pommon XXVIT, 3, 6;
povoir XXXIII, 3, 7.
oi für i: soyer (scier) XXXIV, 3, 1.
oifüre: poiser XXIII, 1, 1 u.4; hoir XXVI, 21; XXXni, 2,9.
oi für ai: foible G. T. 10, 1; royne I, 2, 5 ; l, 3 , 1 ; G. T.
42, 2; espoix XXXII, 2, 9.
In Bezug auf die Consonanten Spuren von Abneigung gegen die
Auflösung des 1 z. B. solz P. T. 5, 6; G. T. 125, 3; col P. T. 13,6;
G. T. 41, 3; III, 1,4; licol P. T. 13, 8; chastel P. T. 19, 4;
G. T. 79, 5 ; fol P. T. 37, 7; G. T. 1, 3 ; 39, 2 ; 48, 7 ; 45, 6 ; folz
XXVIII, 4, 4; coutel G. T. 43, 3; bei VI, 2, 5; mol G. T. 91, 5;
XIII, 1, 1; absolz G. T. 152, 8; tumbel G. T. 163, 7; pel XXVI,
1, 3 ; drapel XXVI, 2, 3; capel XXVI, 3, 1.
Aus dem Picardischen bemerken wir ausser der mit dem Burgun-
dischen gemeinsamen Diphthongisirung des e namentlich c als Stellver-
treter von ch: casser G. T. 158, 7; caste VI, 3, 6 und XXXIX, II,
3, 6 ; de bonne carre G. T. 98, 5 ; capel XXVI, 3, 1.
Aus dem Normannischen endlich :
e für oi: detz , dez (doigt) G. T. 17 , 4; XXV, 3, 4; teile
(toile) VI, 5, 2; vecy G. T. 69, 8; 1er G. T. 123, 3; penard (poig-
nard) contre les tav. 1,5.
ei für oi: meins P. T. 37, 8 (Reim).
u für 0, ziemlich häufig; tumbeaulx P. T. 35, 6; 36, 8; unze
268 Fran9ois Villon.
G. T. 7, 1; 142, 7; tumbel G. T. 16 3, 7; voluntaire XXVI, 1,6;
triumphant XXIX, 4, 4.
u für ou: desnuez P. T. 25, 6.
Es braucht kaum hinzugefügt zu werden, dass manche von diesen
Eigenthümlichkeiten schon in der eigentlich französischen Mundart, wie
sie von Rustebues vertreten wird, vorkommen, da ja diese aus den um-
liegenden Dialecten, namentlich dem Burgundischen, Vieles entlehnten,
so finden wir auch bei jenem Schriftsteller manchmal ei oder ie statt e,
oi statt i u. s. w., doch wird man darum nicht weniger berechtigt sein,
jene Erscheinungen als ursprünglich burgundisch hinzustellen.
Andre dagegen kann man als gemeinsam altfranzösische bezeich-
nen, da sie bei Schriftstellern aller Dialecte vorkommen. Dahin gehört
die Beibehaltung des a statt ai vor der Tonsilbe, wie in agu (acutus)
XXI, 3, 5 ; XXXII, 1, 8; aguillon XXXII, 1, 8 etc., ferner der Ge-
brauch von ou für nfr. au z. B. oft in pouvre , pouvrete ; ou
(Dat. des Art.) G. T. 26, 2; 131,2; XXXVIII, 3, 7; ouquel
XXXII, 1, 4,
von ou für o, der ziemlich oft vorkommt : reprouchier , labourer,
accouter G. T. 56, 5, laboureux, gousier XXXII, 1, 9; voulonte,
arrouser, reprouche, voulontiers, tastouner, doulouser, coulorer, proufit,
toul für toi von tolre XXXIX, 5, 7; mirouer, souloit, maschouere
G. T. 73, 4.
Andre Eigenthümlichkeiten sind mehr orthographischer, manch-
mal allerdings auch wohl willkürlicher Art.
aa oder ea für a: aage G. T. 117, 3; eage G. T. 1, 1 (wir
müssen diese Formen bei Villon zu den orthographischen Eigenthüm-
lichkeiten rechnen, da aa und ea nicht mehr, wie im Altfranzösischen,
zweisilbig sind, obgleich die Etymologie von aetaticum es verlangt.
a für e: apprandre G. T. 5, 6; part (perd) ib. 52, 5; orfaverie
(orfevrerie) ib. 113, 4; ancie ib. 163, 6.
ai für e sehr häufig in maine I, 1,4 und demaine G. T. 36, 4;
1, 3, 3 etc.
aou für au: pauvre oft P. T. 7 , 3; 14, 2 etc.; für eu: paour
VII, 3, 6.
e für a: lenterne P. T. 22, 6; souef (souave) G. T. 41, 6;
151, 4; tenner III, 4, 3; dorenevant G. T. 61, 3; XI, 2, 3; reng
(ranc) ib. 87, 5 ; louenge XXVII, 1,8; perdent (Part, pres.) XXXIII,
2, 5; dedens XXXVI, 3, 10.
Fran90is Vlllon. 269
e für ai sehr oft: scet, gresse, engresser, frez (frais), escler
(eclair), der, lesser, esquisez (aiguise), blereaux XII, 1, 9.
e für i: sentement G. T. 12, 5; sereine (sirene) I, 3, 2 ; se für
sl, ne für ni sehr häufig.
e für eu einmal im Reim: fouterre für fouteur G. T. 81, 6;
ebenso im Reim einmal für o: voulente G. T. 10, 7 und in jengleresse
VII, 1, 9.
Stummes e fällt am Ende manchmal ab : onc (oncques) P. T.
7, 5; G. T, 20, 8; encor II, 3, 5, com (corame) XXI, 1, 5;
XXXV, 2, 4.
eu für ou: Dieu me sequeure G. T. 49 , 7; für u: beuvait X,
2, 2 ; für ü : meurir, raeure (eu, wie oben ea einsilbig und schon wie
ü gesprochen cf. die Reime).
eu, oeu und ueu kommen ohne Unterschied vor : beuf, cueur, deul,
euvre, seur etc.
i für e: effimere (ephemere) G. T. 74, 5; für e: diffinir ib. 161,
2 ; für ei: pigne X, 2, 3 (Reim); für u: gippon Q'upon) XXIX, 3, 5.
i fällt aus in: debteur G. T. 168, 4.
o für a: por G. T. 154, 6 ; für au oft in povre; für oi: s'eslong-
ner G. T. 52, 7; XXX, 1, 6; j'enpongne (empoigne) XV, 2, 8.
oe für oi: coeffer P. T. 14, 7; III, 1, 2; G. T. 153, 4; soef
G. T. 62, 1 ; oe (oie) ib. 157, 4 ; dafür auch oue z. B. mirouer P. T.
29, 7; maschouere G. T. 73, 4.
oe für eu: foerre (feurre) G. T. 67, 5.
oi für o : besoigne P. T. 7, 7 (Reim) ; Bouloigne ib. 7 , 5 ; groi-
sellez (groseille) VI, 5, 4 ; oignon XIII, 2,3; für ui: oystres G. T.
30, 7 (Reim).
ou für u: fouir P. T. 5, 6 (Reim); souef (suave) G. T. 41, 6;
151, 4, XI, 2, 3; qu'on cloue G. T. 86, 5 (Reim),
u für e einmal: sumer XI, 3, 5 (Reim),
oue für o: cordouennier P. T. 21, 7.
uy für i: vuydez XVII, 1 5.
Consonanten.
In der Orthographie bemerkt man noch vielfaches Schwanken.
Dies zeigt sich vornehmlich in der Gemination der Consonanten ; denn
•während wir auf der einen Seite manchmal einen einfachen Consonanten
270 Fran9ois Villon.
finden, wo nfr. deren zwei sind, z. B. abatre, esbate, batu, estreoe
G. T. 42, 7; gloser ib. 161, 1 etc., bemerken wir andrerseits in weit
höherem Grade die Neigimg, die Consonaiiten, namentlich die Liquiden,
zu verdoppeln. In einzelnen Fällen liesse sich dies durch die Etymo-
logie erklären, z. B. in: estoille, aftinque (df) , deffa^on (sf), jette,
parolle, palle, forclorre, celluy u. s. w. , in andern durch das Vorher-
gehen eines kurzen Vocales wenigstens erklären : honnorer , escollier,
cappitaine, valleur, ohicanner, honnorable, deffault , coeffer, gellees,
robbe, chappon, oppinative, pellerin, Romme, voller, abbusetc. ; in wie-
der andern ist der vorhergehende Vocal zwar lang, steht aber nicht in
der Tonsilbe, z. B. in: souppirant, fouller, laidder, souhaitter, chom-
mer etc. Dagegen haben wir eine solche Verdoppelung nach betontem
und (wenigstens im Neufranzösischen) langem Vocal nur bei folgendem
1 gefunden, z. B. reculle, mulle, intellectualles, articulle etc., während
sonst, ganz abweichend von dem Gebrauch der Schriftsteller des XV.
und auch des XIV. Jahrb., ^ nach langen Vocalen mit grosser Con-
sequenz der einfache Consonant steht. Die Form renfFrongnee P. T.
30, 5 , wo bei schon mehrfacher Consonanz doch die Verdoppelung
eingetreten ist, steht bei uns einzeln da, während im XIV. Jahrb. eine
solche Willkür in der Orthographie, selbst nach langen Vocalen, mehr-
fach vorkam (s. Knauer p. 27).
Das für das Altfranzösische nicht weniger als für das Provenza-
lische (auch Mittelhochdeutsche) geltende Gesetz, dass im Auslaut die
media in die tenuis verwandelt wird , wird noch häufig beobachtet,
z. B. grant , marchant, billart, poignart, canart, lart, ilprent, vieillart,
raillart, paillart u. s. w., aber man findet auch sehr oft die neufranzö-
sischen Formen: grand, gland u. s. yv.
Dies ist ein Ausfluss der Neigung, etymologisch zu schreiben, eine
Neigung, welche dem XV. und XIV. Jahrb. gemeinsam ist. Aus ihr
erklären sich Schreibungen wie: dict P. T. 10, 1 etc; attainet ib. 21, 3 ;
licts ib. 22, 7; j'adjoinctz ib. 29, 1; plaings G. T. 22, 1; mit b:
soubz P. T. 29, 6; doibt G. T. 11, 8; prebstre V, 2, 7; mit p:
racompte P. T. 1, G; temps ib. 2, 1 (afr. tens); rachaptant ib. 11, 8;
descripvant ib. 35, 3; escript G. T. 6, 7; sepmaine I, 4, 1 etc.;
mit n: prins P. T. 5, 1 etc.; din bled XXXIV, 1, 7 u. 3, 1.
1 Cf. Dr. Otto Knauer: Beiträge zur Kenntniss der französischen
Sprache des XIV. Jahrhunderts. Im Jahrbucli für romani.s<"he und englische
Literatur VIII, p. 14 sq.
Fran^ois Villon. 271
Oft ist, scheinbar etymologisch, ein solcher Buchstabe hinzuge-
fügt worden, wo sich der ursprüngliche, wenngleich unter anderer
Form, vollständig erhalten hatte, so in : dacepvante P. T. 4, 3 ; traictie
ib. 25, 3; faicts G. T. 4, 8; nuyctee XIII, 1, 5; minuict G. T.
137, 4; huict ib. 137, 5; manchmal, wie in mectre P. T. 36, 5, nach
falscher Analogie sogar ganz ohne Berechtigung hinzugefügt.
Nirgends aber zeigt sich das unrichtig aufgefasste Streben nach
Herstellung der Etymologie deutlicher, als in dem graphischen Hinzu-
fügen des 1 an bereits aufgelöstes 1; dies ist durchaus das Gewöhn-
liche : yeulx, mieulx , daulphin , saulve, saulce, doulx , psaultier, gele-
gentlich auch falsch wie in peult. Dass diese 1 etc. aber nicht gespro-
chen wurden, zeigen Reime, wie aultre — feautre G. T. 57, 2 u. 4;
escripre — pire G. T. 161, 5 u. 7; fenestre — prebstre V, 2, 5 u. 7.
Aus der Tendenz etymologisch zu verfahren, erklären sich endlich
Schreibungen, wie: exception G. T. 39, 8; perdition ib. 71, 2; con-
dition ib. 71, 4; oblation ib. 106, 6; contemplation ib. 106, 8; con-
ception XXXVIII, 1, 1 ; während andre, wie condicion G. T. 39, 6 ;
parcial XXXIII, 4, 3 dem Vorwalten des phonetischen Principes zu-
zuschreiben sind.
Dies letztere äussert sich ausserdem noch in einer Menge von Er-
scheinungen: dahin gehört das schon oben erwähnte Eintreten von e für
ai, das Schwanken von a und e vor den Nasalen, der Ausfall von ety-
mologisch berechtigtem anlautenden h , endlich in dem Schwanken in
der Bezeiclniung des sibilirenden Lautes. In Bezug auf den Abfall von
anlautendem h haben wir folgende Beispiele gefunden : yver P. T.
24, 8; G. T. 25, 8; 133, 5; 144, 7; XVI, 3, 4; alaine G. T. 40, 3 ;
Xin, 2, 3; oystre G.T. 30, 7; uys ib. 59, 2; yverner ib. 144, 5;
im Inlaut cayer ib. 78, 5. Die Sibilanten wechseln in der Anwen-
dung, so steht; sc für s in allen Formen von savoir, P. T. 23, 8; G. T.
3, 2; 5, 5; 14, 1 etc.
s für sibilirendes c in: garson IV, 3, 3; perser G. T. 112, 4;
für sc in syon (scion) XXXVIII, 1, 3; ss für o: assier, assierin G.T.
8, 4; lysse IV, 7, 5; c für s: ceau P. T. 26, 4; responce G. T.
18, 3; echan9on G. T. 32, 7; dancer V, 2, 2; dance VI, 4, 7; für
SS in: faulce P. T. 36, 7; face VII, 2, 7 ; G. T. 126, 7; redrecier
G. T. 85, 8; faciez XXIX, 1, 6; friconne XXXHI, 1, 4.
Das s in Inlaute vor Consonanten, das im Altfranzösischen wohl
gesprochen wurde, im Neufranzösischen aber fast überall abgefallen ist.
272 Fran9ols Villon.
wird bei unserm Dichter in den überwiegend meisten Fällen noch ge-
schrieben , aber wohl unbedingt schon nicht mehr gesprochen , so
mescompter P. T. 1 , 8 ; desbriser ib. 2 , 8 ; trespercent ib. 4 , 4
esloigne ib. 7, 2; estaing ib. 8, 4; escot ib. 11, 6; asne ib. 12, 4
esmoucher ib. 13, 3; la pluspart ib. 16, 4; estendre ib. 23, 5; niestier
ib. 23, 8; escri^ant ib. 35, 1; esveilla ib. 38, 1; esvertua 33, 2;
trentiesme G. T. 1, 1 ; este ib. 2, 6; blasme ib. 7, 5; nostre ib. 7, 7;
oft auch ohne etymologische Berechtigung, wo es also reines graphi-
sches Zeichen ist, so: esguisez G. T. 12, 6; Esmaus ib. 13, 3.
Endlich sind in Bezug auf den Consonantismus Villon's folgende
Einzelheiten zu erwähnen :
Es steht 1 für r in aulmoire (armoire) P. T. 15, 5; 36, 5.
r unorganisch eingeschoben in sornettes G. T. 157, 5.
qu für c in sequeure G. T. 49, 7.
ch für c: achierin contra las tav. 1, 10; estoniach G. T. 144, 6.
d für t in meurdriz P. T. 30, 8.
t unorganisch angetreten in Romant G. T. 15, 1 ; 128, 2; tyrant
G. T. 132, 3 (auch englisch).
g für j in gippon (jupon) XXIX, 3, 5; gecter XXXV, 1, 1;
abgefallen in estan I, 1, 6 (Reim); graphisch hinzugefügt in estaing
P. T. 8, 4; loingtaing ib. 8, 7; ung ib. 11, 6 ; besoing G. T. 7, 2;
desdaing XXV, 2, 2.
gt im Auslaut abgefallen in doy G. T. 73 , 1 (diese Form findet
sich noch bei Ronsard „Oeuvres choisies" p. 24 im Reim mit pourquoy) ;
ebenso et in amy (amict) III, 1, 2; q in las G. T. 55, 8; f in raassis
XX, 4, 2; p in lou G. T. 102, 3.
Der mouillirta Laut wird nicht immer geschrieben, z. B. groiselle
(groseille) VI, 5, 4; boullir VII, 3,5; viellart X, 3, 1; couUon
(couillon) XXI, 1, 7; souUon XXI, 2, 1; XXXVI, 1, 10; le deul
XXXIX, 5, 4; penard (poignard) contre les tav. 1, 5.
Der umgekehrte Fall in regnard XII, 1, 9.
Eigenthümliche Veränderungen, theilweisa Verstümmelungen be-
merken wir in : esme für estime G. T. 6 , 4 ; lubre (lugubre) G. T.
12, 5; coursar für courroucer III , 4, 3; esclat (echalas) XV, 2, 8;
crepelle für coupelle: argent de crepelle G. T. 59, 4; queloigne für
quenouilla P. T. 6, 4 (Reim).
Fran9ois Villon. 273
Formenlehre.
Der bestimmte Artikel.
Seine Formen sind die des modernen Französisch, und nur in der
Ballade „en vieil langage franc^ais" finden sich einige Spuren der alten
Formen, nämlich ly für den N. und A. des Sing, und des Flur., wäh-
rend diese Form im guten Altfranzösisch nur für den N. des Sing, und
Plur. gebraucht wird ; eine eigenthümlichc und sehr alte Form (cf.
Burguy, gramm. I, 51), die wir auch schon oben erwähnt haben, ist
ou für au: G. T. 26, 2; 131, 2; XXXVIII, 3, 7; ouquel G. T.
22, 2; XXXII, 1, 4. Aus der Zusammenziehung des Plurals des
Artikels mit der Präposition en entsteht es: VII, 1, 9; G. T. 88, 7;
115, 7; XXVII, 3, 8; (über das Vorkommen dieser Form au neufrz.
cf. Mälzner, französische Grammatik p. 156).
Der unbestimmte Artikel
ung, un fem. une, Plur. unes.
Der bestimmte und der unbestimmte Artikel werden, wie im Alt-
französischen , häufig fortgelassen , z. B. de qui tiens corps et ame,
G. T. 7, 4 ; et puis paradis k la fin G. T. 9,8; et que vie me re-
couvra ib. 11, 4; rien ne hayt que perseverance ib. 13, 8 etc.
Der unbestimmte: plantes me fault autre complant P. T. 4, 7;
c'est pour moi piteuse besoigne ib. 7, 7 ; enserrez soubz trappe voliere
ib. 29, 6; noire corame escouvillon ib. 40, 4 etc.
Dasselbe gilt endlich auch von dem Theilungsartikel: Je laisse
bonnetz courtz, chausses semellees P. T. 21, 6 ; il n'y a relaiz ib. 8, 6;
n'y voy secours ib. 5, 6 ; je laisse chappons, pigons, grasses gelines ib.
32, 4; qui ne mange figue ne date ib. 40, 3 etc.
Der Plural des unbestimmten Artikels wird wie im Altfranzösi-
schen gebraucht, wenn man von Dingen spricht, die paarweise vor-
kommen, z. B. unes houses G. T. 125, 5 (Var. bottes) unes brayes
XII, 4, 3.
Das Substantiv u ui.
Die Flexion ist modern. Von der Regel des s entdecken wir nur
wenige Spuren, die noch dazu meistens von falscher Anwendung der
Archiv f. n. Sprache». XLVUI. 18
274 Fran9ois Villon.
Kegel zeugen. So namentlich in der Ballade „en vieil fran^ois," z. B.
sainctz apostoles N. PL 1, 1 (wir behandeln die Flexion der Adjectiva
zugleich mit der der Substantiva) ; vestuz, coefFez N. PI. ib. 1, 2;
ccincts dass. ib. 1,3. So immer im N. PI. schon s ausser ly daulphin
3, 2 ; servans N. Sing. ib. 1 , 6 ; de Constantinobles 2 , 1 ; ly vens
N. Sing. Refrain Temperier N. 5. 2, 2 ; ly roy tresnobles N. 5. 2, 3 ;
decorez dass. 2 , 4 ; pour ly grand Dieux adorez 2 , 5 ; honorez N.
Sing. 2, 7; ly sires N. PI. 3, 4; Sonst: en riens P. T. 5 , 3; riens
N. Sing. ib. 9, 4; riens A. Sing. G. T. 13, 8; quiconques N. Sing.
G. T. 40, 2 etc. Man sieht, jedes Bewusstsein der altfranzösischen
Regel ist geschwunden, da V. nicht einmal, wo er es besonders ankün-
digt, im Stande ist, dieselbe zu befolgen.
Bei der Bildung des Plural scheint es fast, als ob der Dichter im
Gebrauch des s, x, z, keinen Unterschied machte. Bei genauerer Be-
trachtung kann man jedoch folgende Regeln aufstellen: die Bezeich-
nung des Plural geschieht gewöhnlich durch s : loups P. T. 2, 3 ; flaues
ib. 4, 4; estans ib. 14, 6 ; clercs ib. 27, 5 u. s. w.
X wird nur gebraucht nach u, dem e, a oder o vorhergeht: yeulx
P. T. 3, 2 ; cieulx ib. 3, 5 ; dieux ib. 3, 7 ; doulx ib. 4 , 2 ; beaulx
ib. 4, 2 etc. z folgt der Regel nach auf d, t, 1, f, e, i und reines u
(dem kein andrer Vocal vorhergeht): gandz P. T. 17, 2; bonnetz ib.
21, 6; piedz ib. 24, 8; petitz ib. 25, 2; nudz ib. 25, 2: solz ib.
11, 6; curez ib. 12, 8; fossez ib. 24, 4; nommez ib. 25, 3; impour-
veuz ib. 25, 4; ilz 26, 6; contenuz ib. 27, 6: meurdriz ib. 30, 8:
habitz ib. 31, 5; neufz ib. 31, 7; griefz ib. 33, 6; exploitz ib. 33,
6; telz ib 34, 8; desqulz ib. 37, 4; roydiz G. T. 29, 5; laiz G. T.
39, 2 etc.
Dass aber andererseits die Zahl der Ausnahmen eine ziemlich be-
deutende ist, wird Niemand bezweifeln; so finden wir: dents P. T. 1,
4; saints ib. 6, 8; courts ib. 21, 6; ceints III, 1, 3; clercz IV, 2, 3;
loix G. T. 61, 8; palux Vn, 1, 2 u. s. w.
Vor diesem s od. z des Plurals fallen einige Muten aus ; so immer
t, wenn demselben ein Consonant vorhergeht, natürlich folgt dann nicht
z sondern s: enfans P. T. 25, 2; parens ib. 26, 3; parlans, chantans
ib. 28, 3, 5; gemissemens G. T. 12, 2; plaisans ib. 29, 4 etc. d in
demselben Falle: frians P. T. 32, 3; grans G. T. 30, 2, wohl
auch ohne vorhergehenden Vocal piez P. T. 4, 5.
Fran^ois Villon. 275
Andere Muten fallen sehr selten aus: frans P. T. 18, 4; las G.
T. 55, 8 (lags).
Wie im Altfranzösischen wird das „de" des Genitivs oft ausge-
lassen, namentlich wenn es sich um Personen handelt, z. B. sur la
maison Guillot Gneuldrey P. T. 28, 7; filles Dieu ib. 32, 2; soubz la
main Thibault d'Aussigny G. T. 1, 6; selon Ic decret leurs amis ib.
52, 1; aux hoirs Michaut ib. 81, 5; la mort Jesuchrist XV, 2, 7; les
hoirs Hue Capet XXVI, 2, 3; la clarte Phoebus XXXV, 3, 7; les
biens Juno et le soulas Venus ib. 3,8; es desers Eolus ib. 4, 1 ; de
par Dieu (eigentlich de part) P. T. 9, 1 ; de par moj ib, 33, 7. Diese
letzte Ausdrucksweise ist auch in's moderne Französisch übergegangen.
Das „de'' wird auch durch ä vertreten, z. B. pet-au-Diable G.T.
78, 2; fille au souverain Sire XXVII, 1, 9.
Die Wörter mit verschiebbarem Accent unterscheiden nicht mehr
die beiden verschiedenen Formen und Bedeutungen. Wir finden z. B.
sire N. Sing. G. T. 169, 4; seigneur dass. ib. 2, 1 ; sire A. Sing. G.
T. 88, 1; 125, 2; 130, 1; sires N. PL m, 3, 4; emperier N. Sing.
III, 2, 1 aber empereur dass. G. T. 18, 1; corapaings III, 2, 1, N.
PL; larron N. u. A. Sing. G. T. 17, 5; 18, 2 etc. Die Mehrzahl
dieser Worte zeigt schon überall die Form des Accusativs: pecheur,
serviteur, procureur, escumeur, executeur, debteur, venteur, directeur etc.
Das Femininum auf esse findet sich zweimal: pecheresse VII, 1,
7 und jenglei-esse ib. 1, 9 ; emperier bildet das Femininum emperiere
vn, 1, 3.
Unregelmässig ist „homme." Im N. Sing, hom P. T. 37, 5;
G. T. 17, 2; 78, 4; daneben homme G. T. 20, 6 u. s. w. A. Sing,
hom XXXVI, 1, 3; A. PL homs XXXVI, 1, 9.
Einige Wörter sind noch zu bemerken, die seitdem das Geschlecht
geändert haben : encre ist masculinum P. T. 39, 4 ; amour immer fe-
mininuni VIII, 1, 3 etc., ebenso gent und gens mit Ausnahme einer
Stelle: gens mortz furent faictz G. T. 70, 8.
Das A d j e c t i V u ra.
In Bezug auf die Flexion richtet es sieh nach dem Substantivum,
mit dem wir es daher zusammen behandelt haben. Was die Bildung
der Femininform betrifft, so beobachtet Villon im Allgemeinen die neu-
18*
276 Francois Villon.
französische Methode; die Regel, die für das Altfranzösische galt, dass
nämlich die Adjectiva, die im Lateinischen nur eine Form für das
Masculinum und Femininum haben, auch im Romanischen diese beiden
Geschlechter nicht unterscheiden, wird nur noch in einigen Fällen be-
obachtet: grant z. B. ist sowohl femininum als masculinum G. T. 32,
6; 35, 3; IV, 3, 2; G. T. 76, 5 etc.; tel douleur G. T. 36, 4; telz
bestes dangereuses XII, 2, 8; tel douce vie XIII, 2, 2; tels ordures
XVII, 3, 1 ; tels pelottes XX, 4, 3; oreilles pendans IV, 8, 6; lan-
gues flambans G. T. 1 30, 6 ; ä fillettcs monstrans tetin XX, 2, 1 ;
court triumphant XXIX, 4, 4 ; meules flottans XXXV, 3, 3 ; naissance,
en charite puissant et forte XXXIX, 4, 4 und selbst gegen die Regel:
court souverain XXIX, 1, 5 ; benoist celle, qui etc. XXXIX, 3, 7.
Demi nahm schon damals, Avenn es dem Subst. vorherging, kein
e: demy face II, 2, 2; demy douzaine G. T. 105, 5; 167, 2.
Die Adjectiva auf f bilden das fem. auf fve, grief, griefve XXXV,
1, 5 und 9; XX, 2, 7 etc.
Zu bemerken: mal, mau (G. T. 102, 8; 146, 3; XV, 4, 4),
male G. T. 72, 7; gens, gente IV, 7, 1 ; V, 2, 1 ; ort, orde G. T.
83, 8; publique m. G. T. 16, 1; souventes fois G. T. 36, 2; Alle-
manse XIV, 2, 4; Anglesche XIV, 3, 5.
Das Adverbium wird durch Anhängung der Endung ment gebil-
det: aucunement, vistement, mallement XXI, 3, 3 etc. oder es behält
auch sehr oft die Form des Adjectivs bei: bon P. T. 29, 2, coy G.T.
31, 4 etc.
Der Comparativ und der Superlativ werden, wie im Alt- und
Neufranzösischen, durch vorgesetztes plus und le plus gebildet, doch
giebt es auch hier Ausnahmen: meilleur, pire, greigneur VIII, 4, 1;
mineur VIII, 2, 5 ; ebenso von den Adverbien : moins, mieulx, pis,
mais F. T. 15, 6; 40, 7; G. T. 27, 4.
Man verstärkt die Adjectiva und Adverbi« durch : tres, si tres,
bien, trop, moult, z. B. moult me fut chiche G. T. 2, 7; moult ancien
ib. 136, 2, durch par: se par trop n'erre G. T. 76, 7 und durch com-
bien in der Bedeutung von beaucoup z. B. combien Dieu lui pardonne
doulcement G. T. 87, 4. Dies combien verstärkt auch den Compara-
tiv z. B. combien plus fort sei-a que le devin G. T. 93, 4. Ausser
beaucoup und combien gebraucht man zur Verstärkung des Comparativ
auch trop in der Bedeutung „viel," z. B. Trop plus de biens que de
Francois Villon. 277
sante G. T. 10, 2; qiii bcaute cut trop plus qu'humaine I, 1, 7;
Les biens de vons sont trop plus grans que etc. VIII, 1, 7 etc.
Die Negation wird durch ne — pas, point, mie G. T. 94, 7 aus-
gedrückt, sehr oft durch das blosse ne, manchmal durch non: non fais
G. T. 3, 3; que non fera XV, 2, 8, ja sogar durch pas allein z. B.
mourray-je pas G. T. 42, G.
Die Zahlwörter.
Cardin alzahlen. Wir haben deren gefunden: ung, deux,
troys, quatre, six, sept, huict (huyt), neuf, unze, douze, quatorzc,
quinze, vingt, trente, quarante, cinqnante, soixante, cent (quatre cents
cinquante et six), 220: unze vingtz G. T. 97, 1; 142, 7; 300: quinze
vingtz G. T. 147, 1, auch trois cens ib. 147, 2.
Ordinalzahlen: premier, tiers II, 1, 1. G. T. 25, 4; 171, 1 ;
le quart (Steuer) XXXII, 3, 2; les fievres quartes G. T. 98, 8; un
quartier d'an ib. 136, 5. Die übrigen werden regelmässig durch An-
hängung von iesme gebildet.
Die Fürwörter.
Die persönlichen Fürwörter sind fast durchgängig den heutigen
gleich, doch kommen übrigens dieselben Formen auch schon im XII.
und XIII. Jahrhundeit vor. Gemeinsam mit dem AltfranziKsischen
und abweichend von dem modernen Gebrauch ist die Erscheinung, dass
die sogenannte verbundene und unverbundeueFoim promiscue angewandt
wird. Das beweisen Stellen wie: Je, Fran^^ois P. T. 1, 2 ; ce suis je
XXVni, 1, 1; de moy retraire G. T. 55, 8; pour soy soustenir ib.
67, 8; pour soy desennuyer ib. 157, 6; pour moi pourvoir XXVII,
4, 2; laisse me XXVIII, 1, 8.
Das Reflexivpronomen vertritt manchmal das Pronomen der drit-
ten Person, z, B. pour eux revencher G. T. 109, 8; der un)gekehrte
Fall findet Statt in: pres s'accouter = accoter pres eile G. T. 56, 5.
Wenn das Subject des Verbs schon aus der Form desselben er-
kannt wird, so wird es sehr häufig Aveggelassen, z. B. (eile) veult et
ordonne P. T. 5, 4 ; si n'y voy ib. 6, 2; ce croy ib. 6, 6; par eile
meurs ib. 8, 2; voire l'apprendre G. T. 5, 6; que prions ib. 4, 6;
278 Fran9ois Villon.
tous sonimes ib. 43, 3 ; son seigneur es XXVIII, 4, 4 ; pas ne devez
XXV, 2, 1 etc.
El findet sicli als Femininform für eile P. T. 6, 4 ; XV, 3, 7.
Das Pron. der 3. Pers. leur hat einmal ein s: Ds gi-asses souppcs
leurs fais oblation G. T. IOC, 6, während einmal das possessivum leur
im Plur. kein s hat: en leur vies G. T. 150, 2. Wohl nicht aus Be-
wusstsein der Etymologie illorum.
In dem Possessivpronomen unterscheidet V. nicht mehr, wie im
XII. Jh. den Nominativ mes, tcs, ses u. s. w. vom Aceusativ mon,
ton, son etc.; er braucht für alle Casus die Form des Accusativs. Wie
dort, macht aber auch er keinen Unterschied zwischen dem substanti-
vischen und adjectivischen Possessivpi'onomen z. B. le mien cueur
XI, 4, 2, ebenso le mien seigneur, le sien corps u. s. w. vostre je suis
XXXIX, 5, 6; und apostrophirt ebenfalls das a des Femininums ma,
ta, sa vor folgendem Vocal, statt es M'ie heute in mon, ton, son zu
verwandeln z. B. m'ame G. T. 8, 4; m'amye G. T. 14, 8 etc.; doch
findet sich auch schon die moderne Form: mon entente G. T. 160, 1;
mon ordonnance G. T. 162, 5; son ame ib. 162, 8; mon estatui'e ib.
163, 5 etc. (diese Anwendung der masculiua mon, ton, son statt der
Feminina ma, ta, sa ist übrigens auch dem Altfranzösischen nicht
fremd, cf. Diez Gr. II, 100).
Statt der besitzanzeigenden werden manchmal die Genitive der
persönlichen Fürwörter genommen: les biens de vous VII, 1, 6; meres
d'eux G. T. 124, 8; au son de luy ib. 166, 8.
Ausnahmsweise vo chapeau für votre chapeau XVI, 1, 2.
Die Demonstrativpronomina. Wir führen die substantivischen
und adjectivischen zusammen auf, da ihr Gebrauch keineswegs schon
streng gesondert ist.
Sing. masc. ce, cest, eil, celluy, icelluy, cestuy, cestuy-la.
fem. ceste, colle, cette.
neutr. ce, ilce G. T. 93, 8, ice; cecy G. T. 119, 1 ; qui
les meut a ce G. T. 58, 1; ce obstant que = ob-
wohl P. T. 15, 4; ce non obstant = trotzdem G.
T. 82, 1; pour ce ib. 85, 5; avec ce ib. 89, 5 etc.
Plur. masc. ces, cez, ceulx; fem. cestes, icelies.
Das Relativpronomen: N. qui, das vor folgendem Vocal apostro-
phirt wird, qu'est =: qui est G. T. 78, 4 etc.; lequel; G. dont; D. au-
quel, ou(]uel, a laquelle; A. que. Plur. qui; G. dont, desquelz, des-
Francois Villon. '270
quelles, D. auxquelz, elles, A. quc. Qiii und lequcl werden ohne Un-
terschied gebraucht.
Das Interrogativpronomen ist gleich dem relativuni.
Die unbestimmten Fürwörter: Für ou findet man hom P. T. 37,
5; tont, toule; rien oder ricns G. T. 13, 8; obl. riens oder ricn ; quel-
que; autre ; tel (tieul P. T. 31, 5); maint, e; aucun, e = irgend ein:
aucunes fois P. T. 37, 8; s'aucun nie vouloit reprendre G. T. 3, 1,
ebenso ib. 37, 3; 65, 4 etc. d'aucune chose ib. 16, 2; ebenso G. T.
160, 6 ; les aucuns — Ics autres G. T. 29, 5 ; 30, 1 etc.; nul, e =
irgend ein; s'il y a nul bout qui saille G. T. 28, 5; substantivisch im
Plur. : nuls me puissent reprouchier G. T. 24, 4; personne (statt ne
— personne: ne — homme V, 1, 6, G. T. 59, o, XXXIII, 2, 9);
aultruy (einmal vor das iSubstantivum gestellt: en aultruy mains G.
T. 42, 4).
Das V e r b u m.
Die Flexion der Personen.
Sing. Die erste Person ist der Regel nach flexionslos (die Aus-
nahmen bei den einzelnen Conjugationen) ; die zweite endigt auf s, das
sich nach d, 1, t, f, e, i, u in z verwandelt, vor dem jedoch statt dessen
die Dentalen häufig ausfallen (wie beim s des Substantivums); die
dritte hatte ursprünglich überall ein t; aber dieses t hat sich nicht
überall erhalten ; in der schwachen Conjugation fällt es im Ind. und
Conj. Präs., im Ind. des Defini und des Futurums; bei der 11. und
III. schwachen und bei allen starken im Conjunctiv des Präs. und im
Fut. ab. Plur. ons, ez, nt.
Bildung der Zeiten.
Im Präsens verwandelt sich der Stammvocal, falls er einfach ist,
in einen Diphthong, sobald der Ton darauf fällt. Diese Diphthongi-
sirung geschieht in folgender Weise:
a wird ai : amer, amons, ame — aime ; remanoir — je remains.
e „ oi: devoir — doibt; esperer — j'espoir. XXXIX, II,
4, 6.
280 Francois Villon.
e wild ic: ferir — fiert G. T. 122, 7; fiere (subj.) IV, 1, 7;
grever — griefve G-. T. 91, 4; lever — lieve ib.
91, 8; querir — quiers VI, 5, 3 etc.
ou „ cu: trouver — treuve (subj.) II, 3, 4; couvrir — ceuvrc
G. T. 91, 5; mourir — meurs XVI, 24; doloir —
je me deul P. T. 3, 4.
Aber sehr häufig bleibt der Diphthong in den nicht stammbe-
tonten Formen, z. B. aimons etc., oder er ist gar nicht eingetreten:
je trouve etc.
Das Imparfait endigt immer auf: oie, ois, oit, ions, iez, oient.
In Bezug auf das Defini cf. die einzelnen Conjugationen.
Das Fut. und Cond. werden vom Inf. abgeleitet durch Anhängung
von ai, as, as etc. und oie, ois, oit etc.
Die schwachen Conjugationen.
I.
Die erste Person des Sing, des Präs. nimmt sclion oft ein flexi-
visches e an, nicht nur, wie auch im Altfranzösischen, wenn der Stamm
auf mehrere Consonanten ausgeht, sondern auch sonst ; man findet in-
dessen noch: je reny G. T. 1, 8; je pry G. T. 63, 6 ; j'appel XXVI,
3, 3.
Die 3. Pers. Präs. hat überall das auslautende t verloren; doch
haben sich noch einige Spuren desselben im Subjonctif erhalten, z. B.
von donne: doint G. T. 31, 1 und 6 ; 63, 7; XXVIII, 5, 2; XXXIII,
2, 6; XXXIX, II, 4, 2 (aber qu'il pardonno G. T. 87, 4) von aider:
ainsi ni'aid Dieux, G. T. 16, 4 und aist XXXIX, 5, 6. (Aus der
starken Conj. puist P. T. 13, 7.)
Im Fut. wird das e des Infinitivs manchmal unterdrückt; donray
G. T. 127, 3; demourra ib. 38, 8.
Unregelmässige Verba : aler: Präs. 1. voys, voy VII, 3, 3 ; 3. va;
PI. 2. allez; 3. vont; subj. aille G. T. 131, 3; voyse ib. 5, 6, pl.
voysent, Imp. alloit, Fut. ira, Part, allant, alle.
laisser bildet einige Foi'men von laier z. B. Fut. 1. lairray G. T.
33, 8 ; 3. lairra ib. 100, 6.
Fraii(;'ois Villoii. 281
n.
Der Infinitiv endet auf re, das part. passe auf u, das Defini auf
i, is, it u. s. w. Unter den Verben, die sich in Villon's Schriften lin-
den, gehören folgende zu dieser Conjugation : batre, couldre, descendi'e,
defendre, esmouldre, fendre, fondre, mordre, pendre, perdre, rendre,
respondre, rompre, sivre, souldre, absouldre, tissre.
Anni. sivre bildet sein Part, passe nach der III. schwachen,
d. h. auf i.
in a. Reine Form.
Diese Conjugation unterscheidet sich von der vorigen nur durch
den Infinitiv (ir) und die davon abgeleiteten Zeiten, sowie durch das
part. passe, welches auf i endet. Es sind: boillir (bouillir), couvrir,
cueillir, dormir, ferir, fouyr (fuyr), atfuyr, deffuyr, nientir, offi'ir, ouvrir,
partir, impartir, saillir, assaillir, sentir, consentir, servir, soufrir, vestir.
Einige dieser Verba gehören zu gleicher Zeit der zweiten schwa-
chen an, indem sie das part. passe auf u bilden, z. B. feru, vestu,
boullu VII, 3, 5 (Reim); andre neigen sich nach der starken, indem
sie das Particip auf ert bilden, dies sind : ouvrir, couvrir, offrir, soufrir.
III b. Gemischte Form.
Diese Conjugation stimmt mit der vorigen mit Ausnahme aller
Formen des Präsens und des Indic. des Imparf., wo sie den Stamm
durch die Inchoativendung iss (ursprünglich isc) verstärkt. Es ge-
hören zu ihr folgende Verba: abolir, adoulcir, assouvir, bannir, bastir,
convertir, endurcir, ensevelir, esbahir, esjouir, espanir, establir, estour-
dir, finir (Nebenform : finer), flestrir, fournir, fremir, manir, merir,
meurdrir, meurir, mollir, noircir, nourrir, pallir, perir, polir, pourrir,
punyr, ravir, refraichir, refroidir, remplir, roidir, rougir, saisir, tarir,
transir.
Anm. Die Nebenform finer z. B. P. T. 39, 3 ib. 39, 8. abolir
bildet das part. passe: abolu VII, 2, 2 (Reim).
Unregelmässige Verba: faillir. Präs. fault, PI. faillent. Subj.
faille. Imparf. falloit. Fut. fouldra. Part, failly.
hair: Präs. 3. hayt, halt. Cond. herroit G. T. 84, 8.
282 Fran9ois Villoii.
oir: Präs. 1 oy IV, 1, 1; XXVIII, 1, 1; 3. ot G. T. 68, 3;
oyt ib. 98, 7; 113, 2; PL 2. oyez X, 3, 7. Imperat. oyez XI, 4, 1.
Dcfini ouyz P. T. 35, 4; Fut. PI. 2 orrez X, 3, 7; XXI, 1, 4. Part,
ouy XIII, 4, o.
Hülfsverba.
avoir.
Präs. 1. ai, ay. 2. as. 3. a. PI. 1. avons. 2. avez. o. ont.
Subj. 1. aye. 3. ait. PL ayons. 3. ayent.
Imperf, 1. avoye. 3. avoit. PL 1. avions. Def. 1. eu. o. eut.
Subj. 1. eusse. 2. eusses. 3. eust. PL 3. eussent.
Fut. 1. auray. 3. aura. PL 3. auront. Cond. 3. auroit.
Imperat. ayez. Part. eu.
estre.
Präs. 1. suys, suis. 2. es. 3. est. PL sorames. 2. estes.
3. sont.
Subj. soie, soye. 2. soyes. 3. soit, soy IV, 1, 3. PL 3.
soient.
Imp. 3. estoit. PL 1. estions. 3. esloient.
Def. 1. fuz, fus. 3. fut. PL 1. fusmes. o, furent.
Subj. 1. fusse. 2. fusse XXVIII, 3, 2. 3. fust. PL 2. fussiez.
3. fussent.
Fut. 1. seray, 3. sera. PL 2. serez. 3. seront. Cond. 3.
seroit.
Imperat. soyes, soyez, Part, estant, este. Inf. estre.
Starke Conjugationen.
Diese unterscheiden sicli von den schwachen im Defini, Conjunct.
des Imp. und im Part, passe. Im Uebrigen richten sie sich nach der
zweiten schwachen. Nach dem Defini muss man drei Classen unter-
scheiden :
1) solche, die im Lateinischen i an den Stamm hingen.
*) 55 55 55 55 ^ 55 55 55 «
3) 55 5} 55 55 ^^ 55 55 » »
Fran(,ois Villon. 283
I.
faire. Präs. 1. faiz, fais. 2. faiz, fais. 3. faict, fait. PL 3. fout.
Subj. 3. face. PI. 2. faciez.
Def. 1. feiz, feis. 3. fist G. T. 129, 7, feit VII, 2, 4. PI. 3.
firent.
Subj. 1. feisse. PI. 3. feissent.
Fut. 1.. fcray. PI. 3. feront. Cond. feroye. 3. feroit.
Part, faisaiit, faict. Imperat. faiz, fais. PI. faictes.
tenir: Präs. 1. tiens, tien G. T. 50, 7 (Reim) XXXIX, 3, 6
(Reim). 2. tiens. 3. tient. PI. 1. tenons. 3. tiennent. Subj.
tienne.
Fut. maintendray XXXVI, 3, 6. PI. 3. tiendront.
Cond. tiendroit. PI. 3. tiendroient. Part, tenant, tenu.
venir: Präs. 2. viens. 3. vient.
Subj. 1. vienne. 3. vienge G. T. G9, 4.
Def. 3. vint.
Fut. viendra. PI. 2. viendrez. 3, viendront.
Imperat. venez.
Part, venant, venu.
veoir: Präs. 1. voy. o. voyt, voit. PI. 3. voyent.
Subj. voye.
Def. 1. vey. G. T. 124, 8; vy XIII, 1, 8. 3. veit; pourvcut
G. T. 13, 6.
Imperat. voy XXVIII, 3, 5 ; XXXVI, 1, 8.
Part, voyant, veu.
11.
ardoir: Präs. 3. ard. Subj. 3. arde. Def. ardiz XXXVI, 2, 1.
Part. ars. G. T. 21, 5. Inf. ardre.
ceindre: Präs. 1. ceings. 3. ceinct.
clore: Präs. 1. concludz G. T. 50, 3. clost XXI, 1, 1. Subj.
3. cloue G. T. 86, 5 (Reim). Fut. PI. 3. conclurent. Part, enclos
XXXVIII, 4, 7. Inf. dorre, forclorre.
creindre: Präs. 1. crains. 3. craint. Part, craint.
cuire: Part, cuysant, cuict.
destruire: Präs. 3. destruict.
284 Fran^ois Villon.
dire: Präs. 1. dy G. T. 23, 5; dys, dis ib. 24, 6; 37, 1; 2. dis;
3. dit. Snhj. 1. die. 3. die. Def. 1. dis. 3. dit. Fat. diray.
PI. 3. diront. Condit. 3. diroit. Imperat. dys, dictes. Part, disant, dict.
duire : Präs. 3. duit.
escrire: Präs. l. escrys. 3. escript. Iraper. escrys, escry G. T.
168, 8. Part, escrivant ; escript.
estaindre: Präs. 3. estainct.
estraindre : Präs. 3. estrainct.
feindre : Part, feignant, fainct.
fonyir (fodere) ; Imp. Subj. 1. fouysse XI, 3, 7. Inf. fouyr
XXXVI, 1, 5.
freindre: Präs. 3. enfraint.
fi-ire: Präs. 3. frit.
joindre; Präs. 1. joinctz, 3. Joint. Part, joignant, Joint.
manoir: Präs. 1. remains IV, 3, 2. Part, remenant.
mettre: Präs. 1. mectz, ruetz. Subj. mette. Def. mys. 3. raist,
mit, meist G. T. 87, 5. Imp. 3. mettoit. Fut. mettray. Cond. PI.
3. mettroient. Imperat. metz, niects. Part, mys, mis.
occire : Def. occist. Part, occis.
paindre: Präs. 3. painct.
plaindre: Präs. 1. plaings. 3. plaint.
poindre: Imp. 3. espoignoit.
prendre: Präs. 1. prens. 2. prens. 3. prend. PI, 2. prenez.
Subj. preigne G. T. 9, 6. Döf. 3. prit. PI. 3. prindrent G. T. .51,
5. Fut. prendra. Imperat. prens. Part, prenant, prins.
querir: Präs. quiers. Def. 3. conquist. Imperat. enquerez. Part,
querant, requis; aquest XVI, 3, 8; XVII, 1, 7.
raire: Part, rez XIX, 1, 5.
rire : Präs. 1. riz. 3. rit. Subj. rie. Subj. des Imp. risse.
Part, riant.
seoir: Präs. 3, assiet. Iraperat. siez -toi G. T. 69, 3. Part,
seant ; assis.
teindre : Präs. 3. estainct, distainct.
traire: Part, con-, ex-, pour-, re-traict.
UI.
aherdre: G. T. 73, 3.
boire: Präs. 3. boyt. PI. 3. boivent. Imp. 3. beuvoit. Def. 3.
Fran9ois Villon. . 285
but. PL 2. bustes. 3. beurent. Subj. 1. beusse. Imperat.
beuvez.
braire: Präs. 3. brait.
chaloir: Präs. 3. chault. Subj. 3. chaille,
cheoir : Präs. 3. chet. Subj. 3. chee contre les Sav. 3, 7. Part,
cheu IV, 8, 2.
cognoistre: Präs. 1. coguoys, cognois. Def. 1. cogneuz XIII,
1, 9. Fut. 3. cognoistra.
courre: Präs. 3. court. Subj. coure. Des Inip. 3. courrust.
Inf. courre, courir.
croire: Präs. 1. croy, croys G. T. 24, 6. 3..croit.
croistre : Part, creu, recreu.
de-, re-, aper-cevoir: Präs. 1. aperc^^oy. 3. reroit. PI. 2. recevez.
Def. receut. Part, re-, con-ceu.
devoir: Präs. 1. doy. 2, dois. 3. doibt, doit. PI. 3. doivent.
Subj. des Imp. 3. deust.
doloir: Präs. 1. Je me deul P. T. 3, 5.
geindre (geniere): Präs. 1 geins XV, 3, 8.
gesir: Präs. 1. gis, gyz. 3. gist, gyst. Part, gisant, geu.
lire: Präs. Subj. lise. Def. leuz VII, 3, 2 (Reim). Fut. liray.
Part. leu.
morir : Präs. 1. nieurs. 3. nieurt. Subj. meure. Def. 3. mou-
rut. Fut. 1. mourray. 3. mourra. PI. 3. mourrez. Part, mourant,
mort.
mouvoir: Präs. 3. nieut. Part, meu XI, 1, 2.
nuire: Imp. nuysait. Def. nuyst G. T. 137, 2.
paistre : Part, peu G. T. 2, 5. Inf, paistre V, 3, 4.
paroir: Präs. 3. appert G. T. 52, 2.
paroistre: Präs. 3. comparoist, apparoist.
plaire: Präs. 3. piaist G. T. 34, 4. Subj. plaise. Part, plaisant.
pouvoir: Präs. 1. puis G. T. 24, 7. 3. peult. Subj. 3. puist
P. T. 13, 7. Def. 1. peuz. Subj. 1. peusse, Fut. pourray. Part. peu.
ramentevoir: Präs. ramentoy G. T. 137, 8.
absoudre: Part, absol G. T. 152, 8.
savoir: Präs. 1. S9ay. 3. s^ait, scet. Def. 3. sceut. PI. 2.
sceustes. Subj. 3. S9ust. PI. 3. s^ussent. Fut. PI. 3. s^auront.
Imp. sfjaches, sachez, sachiez. Part, saichant, sceu.
souloir: Imp. souloit. PI. 2. souliez.
286 Fran9ois Villon.
taire: Präsens 1. tayz. 3. taist.
tolre: Präsens 3. toul XXXIX, 6, 4. Particip (schwach) tollu
IV, 2, 1.
valoir: Präs. 3. vault. Subj. vaille. Def. 1. vahiz. 3. vahit.
Subj. 3. vaulsist G. T. 16, 2, XVI, 1, 7. Fnt. PI. 2. vauldrez.
Cond. 3. vauldroit. Part, vaillant, valu.
vouloh-: Präs. 1. vueil G. T. 4, 3 ; 6, 1 ; veulx G. T. 85, 2;
2. veiix. 3. veult, veut. PI. 3. venlent. Subj. vueille. Imp. 3.
vouloit. Subj. 1. voulsisse. 3. voulsist. Def. voult VI, 3, 3; 4, 1;
XXI, 1, 8. PI. 3. voulurent, Fut. 3. vouldra PI. 2. vouldrez. Cond.
1. vouldroye. 3. vouldroit. PI. 3. vouldroient. Imperat. veuillez,
vouillies VII, 2, 8.
Unregelmässige Verba.
benoistre: Part, benoisl G. T. 7, 1 etc.
naistre: Def. PL 3. nasquhent. Part. ne.
vivre: Präs. 2. viz. 3. vit. PI. 2. vivez. 3- vivent. Subj. 1.
vive. 3. vive. PI. vivent. Fut. vivra. Part, vivant.
Die Syntax.
Die Syntax Villon's ist die des Altfranzösischen. Wir begnügen
uns damit, einige hervortretende Punkte hervorzuheben, nachdem wir
über den Gebrauch des Artikels , der Negation und der Pronomina
schon in der Formenlehre die wesentlichsten Abweichungen erwähnt
haben. Zur Negation möchten wir hinzufügen, dass der Dichter, wie
im Altfranzösischen und wie heute, auf einen Comparativ que — ne
folgen lässt: Pour moins, qu'ilz ne couterent neufz P. T. 31, 7. Trop
plus que cy ne le racompte G. T, 4, 2 etc.; ne que braucht er in der
Bedeutung von „nicht mehr als" z. B. Je ne suis homme sans defFault
Ne qu'autre d'assier ne d'estaing P. T. 8, 3 und 4, ferner im Refrain
der 5. Ballade, z. B. Car vieilles n'ont ne cours ne estre Ne que mon-
noye qu'on descrie V, 1, 7 u. 8 oder Laide vieillesse amour n'impetre
Ne que etc. V, 3, 7. u. 8. Dasselbe afr. z. B. Chev. au lion 1034:
veoir ne le poi'ra nus hom, ne que le fust, qui est coverz de l'escorce.
Dass endlich ne noch, wie in der altern Sprache in der Bedeutung von
„und" angewendet wird, kann durch viele Beispiele belegt werden:
Fran(?ois Villon. 287
Dictes-rnoi oü n'en quel pays I, 1 ; Pourquoi si tost nasquirent n'ä
quel droit G. T. 46, 6 ; Quelque doulx baiser n'accollce ib. 54, 5 ;
Qui luy lairra escu netarge ib. 80, 8 ; Plus pesante Que duvet ne plume
ne liege ib. 103, 1 u. 2; Tenir k vil ne sot XV, 1, 2. Qui les bat
ne fiert G. T. 122, 7; Plus haultement qu'orge, trompe ne cloche
XXVII, 0, '6. Pire qu'ours ne pourceau XXVII, 3, 8.
Das Relativum hat bei Villon noch eine freiere Anwendung und
theilweise andere Bedeutung als heute. So steht qui für „wenn dieser"
oder ,,wenn man" in: Se Dieu m'eust donne rencontrer Ung autre
piteux Alexandre Et lors qui m'eust veu condescendre A mal , juge
me fusse etc. G. T. 21, 1 sq. Aehnlich in: Cecy piain est de des-
raison Qui vueille que du tout desvie XVIII, 2, 1 und 2; (Je) vueil,
qu'autour de ma fosse ce que s'ensuyt, soit escript, Et qui n'auroit
point descriptoire, De charbon soit G. T. 164, 1 sq.; Toufe beste garde
sa pel, Qui la contrainet, efforce ou lye S'elle peut, eile etc. XXVI,
1,3; Qui vous ayme, mademoiselle, Ja ne coure sur luy envieXXXIX,
II, 4, 4.
Einen auffallenden Gebrauch des Reiativums bemerken wir P. T.
9, 3 u. 4. Et de la gloriose mere Par qui grace riens ne perit (per
cujus gratiam).
Das Zeichen des Dativs ist weggelassen in: Ma nomination . . .
laisse paouvres clercs P. T. 27, 5. Dieser Gebrauch ist sehr alt, er
findet sich schon in den strassburger Eiden : qui (plaid) eist meon
fradre Karle in damno sit ; que (sagrament) son fradre Karlo jurat.
Ebenso später z. B. Chev. au lyon 286 „qui resanbloit mor;" ib. 895
„promesse, que (il) son cosin avoit promise" etc.
Gebrauch des Conjunctivs: In Wunschsätzen wird das que des
Conjunctivs fast durchgängig fortgelassen, z. B. voise l'apprendre G.
T. 5, 6; loue soit-il G. T. 7, 7; Respit ils ayent en paradis G. T.
29, 7; vaille que vaille = es gelte was es wolle ib. 47, 3; Si aille
veoir ib. 131, 1 ; Vente, gresle, gelle XV, 4, 1. Der Conjunctiv
vertritt femer oft das Imperfectum P^ituri und findet daher seine Haupt-
anwendung in hypothetischen Satzgefügen, deren Inhalt als nicht ver-
wirklicht gedacht wird, und zwar tritt dieser Conjunctiv nicht nur in
dem Hauptsatz, sondern ebenfalls abweichend von dem Neufranzösi-
schen, auch in dem Bedingungssatz selbst auf: Se . . . le bien publique
D'aucune chose vaulsist myeulx, . . . A mourir ... Je me jugeasse
G. T. 16, 1 sq.; Se comme toy me peusse armer, Comme toy empe-
288 Francois Villon.
reur je fusse ib. 18, 7 u. 8 ; Se Dieu m'eust donne rencontrer
Juf^e ne fusse ib. 21, 1 sq.; Se j'eusse estudie .... J'eussc maisou
ib. 26, 1 sq.; Se fusse deshoirs Hue Capel ... On ne m'eust etc.
XXVI, 2, 1; dasselbe auch mit Weglassung des si: Creature feusse
niorte, Ne feust vostre douice naissance XXXIX, II, 4, 2 u. 3.
Auch im Uebrigen ist der Gebrauch des Indicativs und des Con-
junctivs noch nicht so genau abgegrenzt, wie heut zu Tage. So fin-
den wir: J'ordonne qu'ils seront P. T. 25, 7; Jusqu'il mourra G. T.
11, 7; mais que für das heutige pour vu que, combien que in der Be-
deutung von quelque — que oder combien zwar meist mit dem Con-
junctiv, z. B. Mais que j'aye faict mes estrenes, Honneste mort ne nie
deplaist G. T. 42, 7 und 8 ; Combien qu'il soit rudement faict ib.
78, 7; Combien qu'elle ait assez monnoye ib. 80, 4; Combien qu'il
n'ayme bruyt ne noyse ib. 90, 7 ; combien que n'ayez pied ne langue
XXIX, 5, 2. Aber wir finden auch den Indicativ: Combien que
cueur n'est, qui G. T. 166, 3; Quoique fusmes occis XXV, 2, 2;
Quoyqu'on tient XIV, 1, 1; Ains que (antequam) cessez XVII, 4, 3,
wo wir tmbedingt den Subj. erwarten würden.
Das mit avoir zusammengesetzte Part, passe richtet sich nicht
immer, wie in der modernen Sprache, nach dem vorangehenden Ob-
jectsaecusativ , z. B. ä celle que j'ai dict P. T. 10, 1 ; que (nämlich
franchise) beaute m'avait ordonne IV, 2, 2 ; ma vielle ay mis G. T.
60, 5 etc. ; andrerseits finden wir auch das Umgekehrte : Que toutes
mes hontes j'eu beues G. T. 1, 2; „Pourquoi m'as tu abatu" sagt die
„belle Heaulmiere" IV, 1, 6. Qui m'as ma maitresse ravie XVIII,
1, 2. La chair que trop avons nourrie XXV, 1, 6; La pluye nous
a debuez et lavez XXV, 3, 1. Ja sogar gegen die heutige Regel:
Corbeaux nous ont arrachez la barbe et les sourcilz XXV, 3, 3.
Infinitiv. Er findet sich manchmal allein, wo die neuere
Sprache de oder ä davor setzen würde: Se Dieu m'eust donne rencon-
trer G. T. 21, 1; Plaise au doulx Jesus les absouldre ib. 151, 8;
wenn das substantivische Object zwischen de und den Infinitiv tritt,
so kann, wie im Altfranzösischen, das de mit dem folgenden Artikel
zusammengezogen werden: On parle des (de les) champs labourer
XXXIV, 1, 1. Der Infinitiv wird auch declinirt: au tanser G. T.
46, 8. Zu bemerken: Par force de vin boire P. T. 36, 2 (heute ä
force do).
Advcrbia. tout „ganz" richtet sich immer nach dem Adjectir,
Fran9ois Villon. 289
das es verstärkt: A troys petitz enfans tous ntidz P. T. 25, 2. Tous
deschaussez, tous despouveuz ib. 25, 4, Les autres mendient tous
nudz G. T. 30. 3. Das Adverbium adjectivisch gebraucht in: Au
tenips jadis G. T. 29, 3 ; Assez monnoye G. T. 80, 4. Sonst zu be-
merken: J'ay dit devant P. T. 2, 1; Saillez avant XXVII, 3, 2;
Puis 9a — pnis lä XXV, 3, 6 (tantöt — tantöt). Tant d'esperit que
de nature XXXIX, 11, 1, 4 (autant — que). Eine andere Eigen-
thümliehkeit endlich, welche an die Sprache des XII. u. XIII. Jahr-
hunderts erinnert, erscheint in gewissen adverbialen Ausdrücken , in
welchen der ganze Inhalt eines Begriffes so bezeichnet wird, dass man
gleichsam nur die beiden äussersten Grenzen angiebt, ein Gebrauch,
der auch bei den mittelhochdeutschen Dichtern bekanntlich sehr beliebt
ist, z. B. arm unde rieh, junc unde alt etc., für „alle Welt, alle Men-
schen, Alle" u. s. w. Solcher Wendungen finden wir auch bei Villon
in Menge: ne mont ne vallee P. T. 14, 3; qui ne mange figue ne date
ib. 40, 3 ; il n'a tente ne pavillon ib. 40, 5 ; tant qu'il a de long et de
le G. T. 8, 6 ; sans croix ne pile ib. 13, 2 ; grief ne faiz ä jeune ne
vieulx G. T. 16, 5; Les montz ne bougent n'avant n'arriere ib. 16,
8; Engrillone poulces et detz ib. 17, 4; aux aultres ne fault qui ne
quoy ib. 31, 7; prenez ä dextre et ä senestre V, 1, 5 ; face argent a
dextre, k senestre G. T. 126, 7; ä Reimes et a. Troyes (überall) ib.
53, 6; qui n'y laissast linge et drapelle ib. 59, 5 ; je la deffie ä feu et
ä sang ib. 60, 2; qui boivent pourpoinct et chemise ib. 73, 6; il n'aura
quid ne quod G. T. 172, 2 ; Des petits et grans XXXVIII, 4, 3.
Auch in Bezug auf die Präpositionen bemerken wir manche Ab-
weichung von dem heutigen Sprachgebrauch; s:> finden wir dessus la
terre P. T. 23, 5; Quant de prouesse, il en a trop G. T. 8, 3 ; Quant
est des corps G. T. 151, 2 ; Quant de la chair XXV, 1, 6 etc.
Dass endlich die Wortstellung eine durchaus freie ist, ganz wie
im Altfranzösischen, braucht wohl kaum durch Stellen belegt zu wer-
den, es geht schon aus den bis jetzt gegebenen Beispielen deutlich her-
vor: Einige auffallende Stellungen verdienen vielleicht noch bemerkt zu
werden, so: N'au bout d'icelluy doiz aherdre = ni toucher au bout du
doigt de celui-ci G. T. 73, 3; Soy jeune fille souhaitter =z souhaiter,
qu'elle soit jeune fille IV, 1, 3. Fast durchgängig findet man, dass,
wenn ein Verbum einen Infinitiv regiert, das zu diesem Infinitiv ge-
hörige Subjects- oder Objectspronomen vor das Verbum statt zwischen
das Verbum und den Infinitiv tritt, ein Gebrauch, der im Neufranzö-
Archiv f. n. Sprachen. XLVIII. 19
290 Fran9oIs Villon.
sischen bekanntlich auf: faire, laisser, entendre und voir beschränkt
ist. Dahin gehört: Se me peusse armer G. T. 18, 7; que Ton ne me
viengne espier ib. 69, 3 ; quand ii s'alloit coucher X, 3, 2 etc.
Fassen wir nun die Hauptpunkte, welche die Sprache Villon's
von der des zwölften Jahrhunderts unterscheiden, zusammen :
1) Viele etymologische Buchstaben sind eingefügt worden, ohne
dass sie indessen gesprochen würden (cf. die Reime).
2) E vor einem betonten Vocal verliert seinen Werth, wenngleich
es noch geschrieben wix'd. So zählt es nicht mehr, wie im Altfranzö-
sischen, für eine Silbe in : eage, eust, eu, eur (augurium), veoir, asseoir,
meur u. s. w., so wie in der Endung eur (afi-. eor), es fallt selbst für
das Auge in den Endungen oir (afr. eoir), ure (afr. eure).
3} Die Regel des s ist fast immer vernachlässigt, wo sie noch
angewendet erscheint, geschieht dies ohne klares Bewusstsein.
4) Die Auslassung der Präposition „de," um einen Besitz zu be-
zeichnen, sobald es sich um Personen handelt, findet nicht mehr so
häufig Statt, wie früher.
5) Alle Adjectiva, selbst die, welche aus der lateinischen dritten
Declination stammen, haben, bis auf wenige Ausnahmen, eine beson-
dere Form für das Femininum.
6) Die Regel von der Diphthongisirung wird nicht mehr durch-
gängig beobachtet (cf. die Conjugationen).
7) Unorganische Buchstaben treten auf: z. B. e in dem Ind. des
Präs. in der I. schwachen (das sich im Altfrz. nur nach mehrfacher
Consonanz findet), s in derselben Form der II. und III. schwachen so
wie in allen starken (j'entends G. T. 38, 5; je deffens ib. 119, 2; je
fendz ib. 119, 5 ; je sens P. T. 11, 2; G. T." 69, 1; je mentz G. T.
127, 2; je sers XV, 1, 1; je tiens, viens, ceings, concludz, crains etc. ;
regelmässig sind dagegen noch : j'oy, jedi, croy, aper^oy, doy, ramen-
toy, s^ay, vueil etc.). Das c der Endung der ersten Person des Im-
perf. und des Condit, „oie" ist noch nicht durch s verdi'ängt.
Wenn wir nun in wenigen Worten das Resultat unserer gramma-
tischen Untersuchung zusammenfassen, so werden wir constatiren, dass,
wie das ganze XV. Jahrhundert eine Uebergangsepoche ist, so auch
die Sprache desselben, so weit sie durch Villon vertreten wird, sich in
einem Uebergangsstadium des Alt- zum Neufranzösischen befindet,
dass, wenngleich Villon noch in vielen Fällen die Schreibweise frühe-
rer Jahrhunderte befolgt, er es doch nur gleichsam aus Instinct und
nicht mit Bewusstsein thut , endlich dass er in der Syntax sich dem
Alten weit mehr nähert als in der Formenlehre und innerhalb der
Formenlehre wieder mehr in der Conjugation als in der Declination.
Rechtsalterthümer aus dem Rolaiidsliede.
Von
Dr. Bresslau in Frankfurt a. M.
Wiederholentlich ist in neuerer Zeit darauf hingewiesen
worden, ein wie reicher Schatz von Quellenmaterial für die Ge-
schichte des Mittelalters, seines Eechtslebens, seiner häuslichen
und Familiensitten, seiner Cultur überhaupt in den mittelalter-
lichen Gedichten lyrischen oder mehr noch in denen epischen
Inhalts verborgen liegt und nur des rüstigen Schatzgräbers
harrt, um an's Tageslicht gezogen zu werden. Hier wie auf
so vielen anderen Gebieten hat, für das deutsche Mittelalter we-
nigstens, Jacob Grimm Bahn gebrochen, und seine unübertrof-
fenen deutschen Kechtsalterthümer haben gezeigt, Avie sehr für
die wissenschaftliche Erforschung jener Epoche aus einem ge-
nauen Studium ihrer literarischen Productionen Förderung und
Weiterführung zu erwarten sei. Mit Beschränkung auf einzelne
Gedichte ist sodann an seine Bestrebungen später wiederholt
angeknüpft worden. So hat Prof. Gengier in Erlangen im 3.
Jahrgange der Zeitschrift für deutsche Culturgeschichte eine
übersichtliche Darstellung von Rechtsalterthümern der Nibelun-
genlieder gegeben, während Prof. Rieh. Schöne in Bonn zu-
nächst in Haupt's Zeitschr, f. deutsches Alterthum und sodann
in der Zeitschr. f. Rechtsgeschichte ein Gleiches besonders mit
Bezug auf die Werke Konrads von Würzburg versucht hat.
Die nordfranzösische Literatur ist, von einer Schrift abge-
sehen, meines Wissens bisher in dieser Beziehung noch nicht
19*
292 Rechtsalterthümer aus dem Rolandsliede.
ausgebeutet worden. Einzelnes zAvai' hat Imm. Bekker in den
Monatsberichten der Berhner Akademie gegeben, aber doch
vorzugsweise aus ganz anderen Gesichtspuncten, und nur um
die Unterschiede und die Berührungspuncte der ahfranzösischen
und der Homerischen Epik nachzuweisen. Arbeiten dagegen
in der Art derjenigen von Gengier und Schöne sind mir wenig-
stens nicht bekannt geworden. Entbehre ich so aller Vorarbei-
ten, Avenn ich im Nachfolgenden versuchen werde, Einiges über
Kechtsalterthümer im Rolandsliede zusammenzustellen , so wird
das, hoffe ich, die Mängel meiner Darstellung zu entschuldigen
geeignet sein.
An und für sich könnte freilich grade die Chanson de Ro-
land für eine solche Untersuchung wenig geeignet erscheinen.
Von geringem Umfange — sie umfasst bekanntlich nur c. 4000
Verse — bietet das Gedicht schon deswegen ein geringeres
Material für unsern Zweck dar, als andere Lieder von doppel-
ter und dreifacher Verszahl. Dazu kommt, dass der grössere
Theil derselben aus Schilderungen von Schlacht- und Kriegs-
scenen besteht, aus denen grade für Rechtsverhältnisse wenig
zu schöpfen ist. Wenn ich nichtsdestoweniger die Chanson de
Roland gewählt habe, so ist der Hauptgrund dafür der, dass
dies Lied vielleicht als das älteste afr. Epos angesehen werden
darf, und dass, weil es bis in's IL Jahrh. zurückreicht,* d. h. in
eine sonst quellenarme und wenig bekannte Zeit, die hier aus-
gesprochenen Anschauungen, wenn auch spärlich, doch ein um
so höheres Interesse in Anspruch nehmen.
Meine Citate beziehen sich auf die Ausgabe von Theodor
Müller, Göttingen 1863. 8.
I. Der König.
Ich beginne mit dem König.
An der Spitze des Reichs als Träger der Herrschaft steht
der reis, der König, nostre emperere magne (1). Er ist es,
welcher das ganze Frankenreich inne hat, li reis qui dulce France
* Einzelnes freilich wird noch aus viel früherer Zeit stammen: aber die
Abfassung des Gedichtes wird man doch keinenfalls höher hinauf setzen
können.
Rechtsalterthümer aus dem Rolandsliede. 293
tient (115). Denn France gilt hier noch nicht im Sinne des
späteren Frankreichs : Ost- und Westfranken sind noch nicht
geschieden, Karl ist emperere des Frances (2658) ganz im Sinne
der alten Frankenherrschaft. Daher sind denn auch Francs,
la gent de France, les Franceis die üblichen Ausdrücke, wenn
von dem ganzen Volke ohne Unterschied der einzelnen Stämme
die Rede ist.* Und, was sehr zu beachten, Karl ist emperere
des Francs: von einem römischen Kaiser weiss der Dichter
überall nichts. Zwar gehört auch das Gebiet von Rom zum
Reiche Karl's, dem Roland's Schwert Lumbardie e trestute Ro-
maine i2o2ß) unterworfen hat: aber von näheren Beziehungen
zwischen Kaiser und Papst ist nirgends die Rede, wenn man
nicht etwa die Stelle, wonach Karl den Kopfzoll (chevage) von
England „ad ces seint Pere'" erworben hat (373), darauf be-
zielien will.
Das Amt des Königs ist einmal im Frieden das plaider,
placitare (v. 2666), das Richten, d. h. die Sicherung des Land-
friedens. Davon spricht unser Gedicht aber seinem Stoffe nach
beo;reiflich weniger. Dasfecren wird in zahlreichen Stellen eine
andere Aufgabe des Königs betont, die Ausbreitung des Christen-
thums über alle Lande, sei es in Güte, sei es durch die Ge-
walt der Waffe. Den Zweck seines Feldzuges in Spanien sieht
Karl daher als erfüllt an und ist zum Abzüge erbötig, sobald
der Sultan des Landes sich bereit erklärt, die Taufe anzuneh-
men (3595-99).
Das Symbol des Königthums ist die goldene Krone, la
corone d'or (3134), Karl die Krone zu nehmen und ihn damit
der Herrschaft zu entkleiden, ist die Absicht der heidnischen
Fürsten (1490). Die Krone ist übrigens eine erbliche: als selbst-
verständlich betrachtet es der Kaiser, dass ihm nach seinem
Tode sein Sohn Loewis folgen wird. II est mes filz e si ten-
drad mes marches (3716). Dabei ist zu beachten, dass von
einem Wahlrecht der Grossen, wie es in Deutschland später
immer bestanden hat,** und wie es in oewisser Beschränkung
* So liegt z. B. Aachen en France (726). Vergl. Waitz, Verfassungs-
geschichte. III, 298 ü.
** Auch bei den Karolingern ist wenigstens von einer Mitwirkung des
Volkes bei der Succession zu sprechen; W aitz, Verfassungsgesch. III, 238.
294 Rechtsalterthümer aus dem Rolandsliede.
auch spätere afr. Gedichte, z. B. die chanson de Huon de Bor-
deaux keimen, hier gar keine Andeutung sich findet. Ebenso-
wenig weiss unser Sänger von einem zweiten Sohne Karl's,
von jenem Charlot, der in fast allen späteren Gedichten auftritt
und der als Repräsentant der späteren entarteten und schwachen
Karolinger gelten kann — ein sicherer Beweis, dass seine
ersten Ursprünge in sehr frühe Zeit hinaufreichen.
Der Hauptsitz des Königthums, seine eigentliche Residenz
ist Aachen, Ais la meillor sied de France. Hier pflegt er seine
Reichstage abzuhalten und zu Gerichte zu sitzen, la soelt il
plaider (2687) — hier ist seine Herrenpfalz, paleis haltur (3698),
puleis seignurill (155); seine Residenz, sun estage (188) und
seine Kapelle (sa capele ad Ais 726), hier seine Bäder (voz
bains que Dens pur vos i fist). Daneben scheint die burc de
St. Denis als Hauptsitz der Kaiserherrschaft zu gelten, sie wird
V. 972 als Ziel der feindlichen Angriffe bezeichnet:
Jusqu'a Uli an avrum France saisie
Gesir purrum al burc de St. Denis.
Sind nun des Kaisers Herrschaft auch alle Länder, die zu
seinem Reiche (reialme 2914) gehören, gleichmässig unterwor-
fen — und ihre Zahl ist gross, ausser Frankreich und Deutsch-
land erwähnt der Dichter Palerne, Sezilie, Puillanie (Apulien),
Romaine, Lumbardie, Noples (Constantinobles), Hungre, Flan-
dres, Escoce, Guales, Irlande, Engleterre — so stehen doch
einige Gebiete in näherer Beziehung zum Kaiserthume, sind
gleichsam unmittelbare Besitzungen der Krone, gehören zur
cambre, zur chambre des Herrschers. So nach v. 2332 merk-
würdigerweise grade Engleterre, mit dem der historische Karl
doch am wenigsten zu thun gehabt hat, so nach v. 2910 Loiin,
worunter wohl das Gebiet von Laon zu verstehen ist.
Das Verhältniss des Kaisers zu seinen Unterthanen im
allgemeinen wird dadurch ausgedrückt, dass er sie und das
Land in seiner baillie hat (488). Die dem entsprechende Be-
zeichnung avoez (advocatus), Vogt, dem voget von dem Rhine
der Nibelungen analog, findet sich freilich für Karl nicht, wohl
aber für den heidnischen König Marsilie (136. 154), auf den
doch wohl nur ein für den fränkischen König üblicher Titel an-
gewandt ist.
ßechtsalterthümer aus dem Rolandsliede. 295
Die Prädicate, die dem Kaiser gegeben Averden, sind theils
solche, die seiner allgemeinen Herrscherstellung entsprechen -
so li riches, li nobles, li ber, li magnes, li proz, li poesteifs
u. dgl.,* theils solche, die aus einer Characteristik semer Per-
sünlidikeit hervorgehen, so li gentilz, li sages u. s. w. Vor
allem aber häufig heisst er li veilz, li reiz al la barbe blanche,
a la barbe canue, al chef flurit. Seine persönliche Erscheinung
Avird als Ehrfurcht und Scheu gebietend bezeichnet:
Blanche ad la barbe e tut flurit le chef
Gent ad le cors e le cuntenant fier:
S'est ki'l deinandet, ne'l estoet eoseigner (119).
So ist er denn auch ^bedachtsam in Handlungen Avie in
Worten :
De sa parole ne fut mie hastifs
Sa custume est qu'il parolct a lelsir (170).
n. Die Mannen.
An des Königs Seite stehen „seine Erscheinung verherr-
lichend und somit sein ideales Wesen gleichsam ergänzend,"
die Mannen, die humes** (20. 39). Sie stehen zu dem Kaiser
in einem Treuverhältniss, indem sie sich ihm durch den feier-
lichen Act der Commendatio verpflichtet haben, seine comandet
(696) A^•erden. Ihre Hände in die seinen gelegt (jontes les
mains 223. 696) leisten sie das Gelübde der Treue. Dadurch
Avird der König ihr seigneur liges, sie aber, seine fedeils (84),
sind verpflichtet seinen Befehlen zu gehorchen und alle ihre
Habe, ja nöthigenlälls ihr Leben seinem Dienste zu opfern,
denn «■ . i
Pur sun seignur deit hom sufinr destreiz
E endurer e grauz chalz e granz freiz
Si'n deit honTperdre e del quir e del pel.
(1010 ff. 1117 ff.)
Dafür ist ihnen aber auch der König zu Schutz und Bei-
stand verbunden, dafür giebt er ihnen nicht allein Ehren und
* Btleo-e liefert jede Seite des Gedichts in genügender Zahl _
** Der^ Ausdruck vassals bezeichnet nicht Lehensmann, sondern hels^t
nur tapferer Held; vgl. v. 3343: Dient Franceis icist reis est vassals; 3579:
MulL est vassal Carles de France dulce.
296 Eecbtsaltertliümer aus dem Rolandsliede.
Lehen* (honurs fius), sondern er schuldet ihnen auch beson-
dere Belohnungen; er anerkennt:
Ben le conuis que guered un vos en dis
E de mun cors, de teres e d'aveir (3410. 11).
Fallen sie in seinem Dienste, so muss er ihren Tod rächen
(1199).
Die Pflicht der Vasallen gegen ihren Lehnsherrn äussert
sich nun vornehmlich bei zwei Gelegenheiten, im Kath und im
Kriege.
Ersterer kann wieder doppelter Natur sein. Zu allgemei-
nen Reichstagen, zu Maifeldern, dass wir so sagen, entbietet
der Kaiser alle seine Unterthanen nach Aachen, seiner Eesi-
denz. Da gehen seine Boten (messages 3099) in alle Lande
und entbieten (mandent 3699) Baiern und Sachsen, Lothringer
und Friesen, Alemannen** und Burgunder, Poitevinen, Norman-
nen und Bretonen, kurz die weisesten aller Franken.
de cels de France les plus saives qu'i sunt*** (3703).
Sie versammeln sich zu Aachen, um des Kaisers Willen zu
vernehmen vmd ihn mit ihrem Rathe zu unterstützen.
Bisweilen versammelt der Kaiser auch nur die ersten, die
vornehmsten seiner Mannen, zu einer Berathung, ses baruns
mandet pur un cunseill finer (166. 169). Diese wird dann
meist im Freien gehalten, unter einem Baume (desuz un pin
165, 168, vgl. 11. 406. 501) steht sein goldener Thronsessel,
sein foldestoed d'or mer (115), um ihn herum lagern die Barone
auf weissen Gewändern, sur palies blancs (272). Hier trägt
der König die Angelegenheit vor. Hat er seine Rede beendet
(sa raisun fenie 193), so ertheilen die Barone ihren Rath. Wer
sprechen will, erhebt sich (en piez se drecet 195), tritt aus der
Reihe (se levet del renc 264) und sagt frei seine Meinung.
Ist ein kluger Rath gegeben, so stimmt wohl die Menge zu:
* Bei der Belehnung werden die beiden Acte des vestir und saisir un-
terschieden (3213). Auch ist wohl von einer Erneuerung des Lehens, re-
cognitio feudi, die Rede (a moi venget pur reconoistre sun feu 20X0).
** Verschieden von den Alenians, aber ebenfalls, wie es scheint, als
besonderer Stamm werden die Tiedeis aufgezählt (370G).
*** Auf dem Reichstage erscheinen übrigens auch die Bischöfe (8976).
Rechtsalterthümer aus dem Rolandsliede. 297
Dient li Franc ben ad parlet li dux (240) oder
Dient Franceis car il le poet ben estre (278).
Der so ausgesprochenen Willensmeinung seiner Grossen
tritt dann meist auch der König bei; denn sein Grundsatz ist
es, in allem den Wünschen der Franken zu folgen, par cels de
France voelt il del tut errer (107). So geschieht es, dass trotz
der bösen Vorahnung des Kaisers, trotz seiner geheimen Ab-
neigung Roland zur Deckung der Nachhut bestimmt wird. Aber
doch ist der gefasste Beschluss nicht etwa als ßeschluss an
sich giltig, sondern nur, wenn und insoweit ihn der König sich
aneignet. Daher wird denn auch, wenn nachher von einem
solchen Beschluss die Rede ist, derselbe immer nur als des
Königs Befehl bezeichnet :
Carles comandet que face sun service (319).
Adeuiplir voeill vostre comendement (330).
Und andrerseits tritt der Kaiser auch o;ewissen Rathschläsren
von vornherein entgegen, ehe es noch zu einer Willensäusserung
der Grossen kommt. So als zur Uebernahme der Gesandtschaft
nach Saragossa einer der zwölf pairs vorgeschlagen ist; da
schwört Karl :
Par coste barbe, que vuz blancheier.
Les duze per mar i serunt jugez (261. 62).
Und dann schweigt Alles ehrerbietig:
Francs se taisent as les vus aquisez (263).
Oder Karl verwirft sofort den Vorschlag eines Redners, indem
er demselben Stillschweigen gebietet und ihn auffordert, sich
wieder zu setzen:
Alez sedeir desur cel palis blanc
N'en parlez mais se jo ne'I vos cument (272. 73).
Auch dagegen wird kein Widerspruch laut, und des Kaisers
Gebot findet unbedingten Gehorsam. So spielt also Karl in
unserer Chanson noch keineswegs die schwächliche und lächer-
liche Rolle , welche spätere Gedichte dem Kaiser zuweisen :
die erste Entstehung derselben muss in eine Zeit fallen, in der
das grosse Bild des Heldenkaisers noch unverdimkelt im Herzen
und im Munde des Volkes lebte.
298 Rechtsalterthümer aus dem Rolandsliede.
Aber nicht nur daheim bei Rathsversammlungen und auf Reichs-
tagen haben die Mannen des Dienstes des Herrn zu warten ; vor
allem ist es ihre Pflicht, ihm auf seinen Kriegs- und Heerfahrten
mit gewaflueter Hand zu folgen. Zum Heerbanne, zur ost banie,
Avie unser Lied (211) in wörtlicher Uebertragung des deutschen
Ausdrucks sagt, aufgeboten, folgen sie des Königs Ruf, jede
Schaar geführt von den Grafen und Herzogen ihrer Provinz.
An der Spitze aller steht, jedoch unter dem Kaiser, der Ober-
feldherr (capitaneus cataignes* 2320. 2912), in unserem Liede
natürlich Roland. Er ist es, der die Heere anführt und befeh-
ligt und als er gefallen, klagt Karl um ihn:
Ki guierat mes oz a tel poeste
Quant eil est morz qui tuz jurs nos cadelet (2026. 27).
Insofern freilich ist der Character des alten Heerbanns
schon verwischt, als die einzelnen Krieger nicht mehr selbst
für ihren Unterhalt und ihre Bewaffnung zu sorgen haben; sie
sind schon soldarii, ** soldeiers und erhalten eine bestimmte
Löhnung: König Marsilie verspricht dem Kaiser eine grosse
Summe lauterer Byzantiner, de besans esmerös,
dunt ben purrez vos soldeiers luer (34. 133).
Zum grossen Theile werden gewiss diese Soldzahlungen
aus den Contributionen bestritten, welche in den besetzten fieind-
lichen Gebieten erhoben werden : erwähnt wenigstens wird in
unserem Liede der Tribut von Spanien , li treud d'Espagne
(6()()), den der Kaiser erwartet. Ausser ihrer Löhnung aber
haben die Krieger auch Antheil an der Beute, dem eschech,
die hauptsächlich in Gold, Silber und kostbaren Gewändern,
or argent e guarnemenz chiers (100, vgl. 2478) besteht. Der
Dienst geschieht, wie ja das nach den neueren Forschungen***
* Cataigne heisst aber an anderer Stelle aucli bloss tapferer Führer:
cent milie sunt de nos me.illors cataignes 3085.
** Dass die Stelle bei Hugo Flavin. Pertz, Monum. Hist. rer. Germ.
Script. VIII, 342, in welcher von „soldarii" zu Karl's d. Gr. Zeiten die
Rede ist, einer historischen Begründung entbehrt, darüber vgl. Waitz, Ver-
fassungsgescbiclite III, 16. N., 1, 20, 352. Wahrscheinlich ist diese Ueber-
liet'erung eben aus Gedichten wie die unsrige in die Historiker überge-
gangen.
*** Waitz, Verfassungsgeschichte IV, 458 ff.
Rechtsalterthümt'r aus dem Rolandsliede. 299
auch vom historischen Karl schon feststeht, meist zu Pferde; die
Mannen heissen daher auch schlechtweg chevalers (3029. 3052
und oft.). Die Meisten sind schwer gerüstet. Als Schutzwaf-
fen werden u. a. erwähnt Helme, helmes, Brünnen, bronics
(bronies dubleines 3088), Halsberge, osbercs (3079. 3080. 3088),
Schilde, escuz (2210). Die Zahl der Wurfwaffen ist aber
gross: darz, w'igres, espiez, lances, museraz, empemeez werden
aufgezählt (2155. 56). Der espiet und die hanste, erstere lang,
letztere kurz (3080) sind aber wohl eher als Stosswaffen an-
zusehen. Endlich vollendet die espee, das Schwert, die Be-
waffnung.
In Feindesland ist von dem Gros des Heeres, die ans-
guarde (enguardes 2975), die Vorhut und die Nachhut, die rere-
guarde gesondert (742. 748), letztere bestimmt den Rücken des
Heeres zu decken und geo-en feindliche Ueberfälle zu sichern.
Zu ihr gehören, heisst auf einen besonders gefährlichen Posten
gestellt sein, und nur ungern entschliesst sich Karl seinen Neffen
Roland mit dem Befehl derselben zu betrauen. Roland aber
als getreuer (leiale) Vasall hat auch hier dem Befehl seines
Herrn ohne Murren Folge zu leisten.
Auch in der Schlacht — in der bataille justee 2761 —
werden übrio-ens die einzelnen Heeresabtheilunsfen von ihren
Territorialgrafen und Herzogen geführt, doch werden sie hier
zu grösseren Divisionen (escheles, eschieles 3024 u. öfter) zu-
sammengestellt, deren in der Hauptschlacht von Karl 10 formirt
werden. Das Banner des ganzen Heeres ist in unserem Liede
die orie flambe, getragen vom Grafen Gefreid d'Aujou, dem
Bannerträger (gunfanunere 106) des Königs ; das Feldgeschrei,
das enseigne Carle, der alte Ruf Munjoie (3092. 1179. 1350).
Endlich ist an diesem Orte der eic:euthümlichen Stelluno; zw
gedenken, welche in unserem Liede zwei Helden einnehmen,
der Herzog Nuimes de BaiAvere und der Graf Jozerans de
Provence. Es mag befremdend klingeu, wenn ich ihre Func-
tionen mit denen unseres Generalstabes vergleiche : doch haben
sie Vr'cnigstens einiges mit diesem gemein. Vor der Schlacht
beräth der Kaiser mit ihnen und Antelme de Muience (v. 3007 ff'.),
sodann sind sie es, welche die einzelnen escheles formiren
(ajuster, etablir, faire sind die Ausdrücke des Liedes, 3024.
300 Rechtsalterthümer aus dem Rolandsliede.
3045. 3061. 3068 u. s. w.); sie endlich erscheinen nach ge-
schehener Aufstellung des Heeres unmittelbar im Gefolge des
Kaisers, dem sie die Steigbügel halten (3114) und in dessen
Nähe sie während der ganzen Dauer des Gefechts verweilen.
Neben den erwähnten Pflichten der Mannen wird in unse-
rem Liede endlich noch eine dritte betont : die Uebernahme von
Botschaften und Gesandtschaften.* So sehen wir gleich im
Eingang unserer chanson Ganelon, trotzdem er ahnt, dass es
sein Tod sein wird, nichts destoweniger unweigerlich dem Be-
fehle des Königs gehorchen, eine Botschaft an König Marsilie
zu übernehmen. Was übrigens die völkerrechtliche Stellung
der Gesandten angeht — um das bei dieser Gelegenheit zu
erwähnen — so sind dieselben in Person und Gut unverletz-
lich. Es gilt deshalb als Verrath, dass Marsihe einst zwei
Gesandten Karl's Boson und Basilie enthauptet hat (201 ff.).
Als Zeichen des Friedens tragen die Gesandten Olivenzweige
in ihren Händen (73. 93. 203), zur Beglaubigung dient ihnen
ein mit dem Wachssiegel des Herrn verschlossenes Schreiben
(bref 485. 86). Sie werden von dem, an den ihre Botschaft
geht, wohl verpflegt und beherbergt (160. 161).
Was die Rang- und Standesverhältnisse angeht, so ragen
aus der Masse der Freien, der Franceis schlechthin, hervor die
Edlen, die eeignur barun. Sie sind es , die des Königs Rath
am nächsten stehen, aus ihnen wählt er seine Gesandten, die
Anführer seiner Truppen, seine Richter und ürtheiler. Die
Prädicate, die ihnen beigelegt werden, sind fast dieselben, die
wir als Epitheta des Königs kennen; wie er sind die Barone
noble, riebe, gentil, proz, curteis, sage, vaillant u. s. w. Ihrer
Abstufung und dem Reichsamte nach, das sie verwalten, zer-
fallen sie in Herzoge (dux), Grafen (cunte), Vicegrafen (vez-
cuntes) und Barone (barun) schlechthin. Eine etwas unbe-
stimmte Stellung zwischen dem Herzog und dem Grafen nimmt
der Markgraf, der marchis, ein. Dies ist der eigentliche Titel
Rolands, wie ja auch der historische Hruotlandus der annales
Einhardi marchio des britannischen limes war. Aber wie in
deutschen Urkunden und Schriftstellern der Zeit der marchio
* Vgl. Waitz, Verftissungsgesch. III, 22. 33. 1
70.
Kechtsalterthümer aus dem Rolandsliede. 301
meist zu den comites gerechnet wird, so ist auch in unserem
Liede Rolands gewöhnlicher Titel einfach quens, nur an weni-
gen Stellen heisst er marchis (z. B. v. G30. 2031).
Von den fünf gewöhnlichen Holämtern der Könige des
Mittelalters: Marschall, Truchsess, Kämmerer, Schenk und
Küchenmeister wird in unserem Liede nur der letztere, der
maistre des cous (1817), aber hier in etwas untergeordneter
Stellung erwähnt. Ausserdem kommt der Schatzmeister , tre-
sorer (ti42), vor, der dem in deutschen Urkunden bisweilen er-
wähnten triscamerarius entspricht.
Unter den Baronen ragen aber noch besonders die zwölf
per, die zwölf cumpain hervor. Nicht dass sie etwa im Besitz
besonderer Befugnisse im Rath und Gericht erschienen, wie die
späteren Pairs de France beanspruchten, im Gegentheil, Herzog
Naims von Bauren, der als der einflussreichste der Grossen
im Süden erscheint, gehört nicht zu ihnen: aber sie zeichnen
sich durch Tapferkeit und Muth vor allen aus und nehmen eine
besondere Ehrenstellung ein. Aufgezählt werden sie eigentlich
nur an einer Stelle, v. 24U2 ff. : es sind Erzbischof Turpin,
Graf Oliver, Gerins, Gerers, Otes, Graf Berengers, Ive, Ivorie,
Legeier von Gascogne, Herzog Sansun, Anseis und Gerard de
Bussillun. Eoland, der dort ebenfalls zuerst genannt wird,
scheint zu den Pairs selbst nicht zu gehören, da wir ja sonst
auf die Zahl dreizehn kämen.*
Unter den Freien, als Ministerialen, als Dienende stehen,
wie schon ihr Name anzeigt, die servienten (serjanz 161. serf
3737). Zu ihnen gehören die 100 Küchendiener, cous oder
cumpaignun de quisine, welche v. 1817 ff. erwähnt werden.
Zwölf von ihnen haben v. 161 ff. die Pflicht, fremde Gesandte
zu empfangen und für ihre Bequemlichkeit zu sorgen, während
gegen Ende des Liedes Andere, an deren Spitze ein viaire
(vicarius) steht, die Hinrichtung Ganelons und seiner Ver-
wandten vollziehen.
* In den anderen Handschriften werden übrigens zum Theil undere
Namen genannt, als in der Oxforder. Vers 877 wird mit der Oxfonier,
gegen die Versailler und Venezianer Handschrift, XH, zu lesen sein: der
Neffe des Marsilie braucht 12 Genossen, um gegen Ruland und die 12 pairs
zu kämpfen.
302 Rechtsalterthümer aus dem Rolandsliede.
Weiter besteht schon in unserem Liede der Unterschied
zwischen Rittern (chevalers) und Knappen (esquier. gargun
2437). Die Letzteren sind wohl auch zu verstehen, wenn v.
3020. 3197 von den bachelers, que Carles cleimet enfanz die
Rede ist. Was endlich den Bürgerstand betrifft, so findet sich
wenigstens der Name burgeis auch in unserem Gedichte (2691).
Schliesslich ist hier zu erwähnen, dass sich der Mannen-
verband nicht nur auf das Verhältniss des Königs zu seinen
Unterthanen beschränkt. Auch die grossen Barone haben ihre
Mannen: so Roland (801) den Grafen W^alter, der ihm auf die
Nachhut folgt.
III. Die Sippe.
Neben dem Bande, das Vasallen und Unterthanen an ihren
Lehensherrn und König knüpft, lernen wir aus unserer chanson
noch eine Verbindung kennen, Avelche gleichfalls wesentlich auf
der Pflicht der Treue beruht. Es ist das Band der Blutsver-
w^andtschaft, das die Sippe bildet. Die Blutsverwandten (die
humes de sun liga, deren Roland im Tode gedenkt, 2379) wer-
den wohl zusammengefasst als seine parented (3907), maisnee
(3389). Die Pflicht der parens ist, einander treu zur Seite zu
stehen: „nostre parent devum estre a securs" (2562) heisst es
im Liede, und an einer anderen Stelle „sustenir voeill trestut
niun parented" (3907). Daher ist es nicht bloss eine Ehre,
sondern zugleich von wesentlich praktischem Vortheil von einer
grossen und angesehenen Familie zu stammen, estre d'un grant
parented (356). Diese Pflicht zu gegenseitigem Beistande hat
besonders dann Gelegenheit sich zu äussern, wenn einer des
Geschlechts unter einer peinlichen Anklage stehend, in Gefahr
ist, Leben und Ehre zu verlieren. Denn die Sippen haben eine
gemeinsame Stammesehre und die Schande des Einen fällt auf
die anderen, auf seine parenz, zurück (1083. 1076). Darum
findet selbst der Verräther Ganelon dreissig seiner Verwandten^
welche für ihn Bürgschaft leisten, obwohl ihnen allen ein
schmählicher Tod droht, wenn es gelingt, ihren Verwandten
zu überführen. Und so gross ist der Einfluss dieser mächtigen
Sippe, dass sich unter allen Vasallen Karl's nur ein einziger
Rechtsalterthümer aus dem ßolandsliede. 303
findet, der es wagt, Ganelon offen des Verrathes anzuklagen.
Nachdem dies aber geschehen ist, nimmt der mächtigste aus
Ganelon's Geschlecht, Pinabel von Sorrance, den Kampf gegen
ihn auf und erleidet im Gottesurteil den Tod. Soweit geht die
Pflicht der Verwandten zu gegenseitigem Beistande, soweit
aber auch ihre Verantwortlichkeit für einander. Denn nun w^ird
die Drohung ausgeführt, die vor dem Beginn des Kampfes
vom Kaiser ausgesprochen war und die dreissig Bürgen Gane-
lon's sterben den schimpflichsten Tod am Galgen (v. 3841 bis
3960 f ).
Im einzelnen Hause ist natürlich der Mann der Herr, aber
die Gattin, die gentil oineur (821), steht ihm zur Seite nicht
als eine Untergebene, sondern als sa per, als seinesgleichen,
indem sie an allen seinen Ehren und Rechten vollen Antheil
nimmt. Der Trauung geht übrigens ein Verlöbniss voran, das
durch feierlichen Eidesschwur bekräftigt wird : so hat lioland
der schönen Aide, der Schwester seines Gefährten Ollivier ver-
sprochen, sie „come sa per" zu nehmen (370). Und nach die-
sem Treugelöbniss ist das Band unauflöslich : mag auch Karl
der unglücklichen Braut die Hand seines Sohnes und Erben
Ludwig anbieten, mit Entrüstung weist sie das Anerbieten
zurück :
Cest mot mei est est ränge, ruft sie aus,
Ne place Dieu ne ses sainz no scs angles,
Apres Rollaot que je vive remaigne (3717 — 19).
Und entseelt sinkt die holde Maid vor dem Kaiser zur Erde
nieder.
Unverheiratheten Schwestern gegenüber scheinen dieselben
Rechte dem Bruder zuzustehen, die der Vater über die Toch-
ter ausübt ; so übt wenigstens Ollivier ein völlig freies Verfü-
gungsrecht über die Hand seiner Schwester aus, die er geben
oder versagen kann, wie es ihm gefällt (v. 1720. 21). Ebenso
steht der unmündige Sohn, der seinen Vater verloren hat, unter
Schutz und Vormundschaft der Gesippen und Mannen: diesen
empfiehlt Ganelon seinen jungen Sohn Balduin, ehe er die Ge-
sandtschaftsreise nach Saragossa antritt, von der er nicht wieder
zurückzukehren fürchtet (363. 364), während die Obervormund-
schaft über ihn dem Kaiser zusteht (v. 298).
304 Rechtsalterthümer aus dem Rolandsliede.
Was das Erbrecht betriflpt, so ist davon nur an einer Stelle
die Rede: eben als Ganelon fortzieht, spricht er es als selbst-
verständlich aus, dass ihm nach seinem Tode sein Sohn in Eh-
ren und Lehen folge (297, vgl. 364). Stirbt dagegen der Lehens-
mann ohne Erben, so fällt das Lehen dem Kaiser heim (2745).
Ein der Sippe ähnliches Verhältnlss kann — um auch das
schliesshch noch zu erwähnen — durch förmliches Uebereinkom-
men zwischen nicht Blutsverwandten gebildet werden. So in
unserm Liede zwischen Roland und Olivier. „Or vos receif jo
frere" ruft Roland Avährend der Schlacht seinem treuen WafFen-
gefährten zu (1376). Seitdem nennt er ihn frere und treu ei--
füUt er ihm die Bruderpflichten bis zum letzten Augenblicke,
drückt dem Sterbenden die Augen zu und preist nach alter
Heroenart des Gefallenen Thaten.
VI. Strafrecht.
Komme ich schliesslich zum letzten Punkt meiner Darstel-
lung, zum Strafrecht, so habe ich hier freilich nur über gerin-
ges Material zu gebieten. Nur der eine Process gegen Ganelon
wird uns geschildert, aber dieser auch mit peinlicher Ausführ-
lichkeit. Das Verbrechen, dessen Ganelon beschuldigt wird, ist
der Verrath (traisun 3760, 1820), begangen an seinem Waffen-
gefährten und zugleich an einem Blutsverwandten des Kaisers.
Schon auf dem E'eldzuge, gleich nachdem die Beschuldigung
zuerst vom Kaiser ausgesprochen ist, wird eine Art Untersu-
chungshaft an Ganelon vollstreckt; Karl überliefert ihn den Kö-
chen und dem Küchenmeister und macht sie für seine sorg-fäl-
tige Verwahrung verantwortlich (1819, 20). Die Behandlung,
die der Gefangene hier erfahrt, ist nun freilich schlecht genug ;
er Avird von allen Seiten körperlich misshandelt, dann mit eisernen
Ketten gefesselt und auf einem schlechten Saumthier (sumer),
nicht auf einem edlen Rosse (palefroi, destrier) im Gefolge des
Heeres mitgeführt.
Das eigentliche Verfahren gegen ihn beginnt aber erst in
Aachen. Hier wird der plait, das placitum eröffnet, während
dessen geräuschvolles Lärmen nicht gestattet ist (3842). Ga-
Rechtsalterthümer aus dem Rolandsliede. 305
nelon steht vor dem Kaiser (37G2); und dieser selbst übernimmt
die EoUe des Anklägers und erzählt den Thatbestand und das
Verbrechen, dessen er ihn beschuldigt. Er fordert seine Barone
auf darüber zu richten (juger le dreit 3750, die Anklagerede
3750 — 3756). Darauf erhält der Angeklagte das Wort. Seine
Vertheidigung ist kurz und einfach. Kein Verrath liegt vor,
behauptet er, denn ich habe Roland und die zwölf Pairs offen
herausgefordert und ihnen aufgesagt:
Je desfini RoUant le poigneor
E Ollivier e tuz lur cumpaignuns (3775 — 76).
Nachdem seine Vertheidiguug angehört ist, gehen die Franken
zu Rathe (a conseill 3779). Als sie zurückkehren, nachdem
sie miteinander berathen haben, beantragen sie beim Kaiser
Ganelon freizusprechen (clamer quite 3809). Der Kaiser wird
darüber höchlichst erzürnt, aber ehe er noch seine Willensmei-
nung kund gethan, erhebt sich Tierry d'Anjou, um als Urtheiler
zu fungiren :
Jo le juz a pendre e a murir
E sun Corps metre el champ pur les mastins
Si cume fei ki felonie fist* (3831 IT.).
Mit dem Schwert ist er bereit sein Urtheil aufrecht zu erhal-
ten. Sogleich erhebt sich einer der Verwandten Ganelon's, eben
jener Pinabel von Sorrence, um das Urtheil zu „schelten:"
lo si li fals, od lui m'eu cumbatrai (3879). Ein Zweikampf
zwischen Beiden muss entscheiden, vorher aber muss Pinabel
dreissig Bürgen stellen , während der Kaiser Thierry diese
Bürgschaftsleistung erlässt. Der Zweikampf findet Statt, nach-
dem beide Kämpfer das Abendmahl genommen, dann Beichte
abgelegt haben und absolvirt sind und nachdem sie den Kirchen
und Klöstern reiche Spenden gewidmet haben. Der Kampf-
platz ist ein freier Platz ausserhalb der Stadt (3873). Der
Zweikampf endet mit einer vollständigen Niederlage Pisabel's
und diese gilt als unmittelbare Entscheidung Gottes: Deus i
ad fait vertut (3931). Nun ist das Urtheil entschieden und
alle Franken stimmen darin überein, dass Ganelon wie seine
* Der Ausdruck faire felonie scheint überhaupt für Verbrecher dieser
Art der übliche zu sein : 2600 wird er auf die Götter übertragen, die Mar-
silie in der Schlacht verliesscn (en bataille faillirent).
Archiv f. n. Srrachcii. XLVIII. 20
306 Rechtsalterthümer aus dem Rolandsliede.
Verwandten, ki plaiderunt pur lui 3933, dem Tode verfallen
seien. Letztere erleiden den Tod am Galgen und von der
gleichen Strafe ist bisher immer auch für Ganelon die Rede
gewesen (1409. 3831. 3931). Es ist auch gar kein anderes
Urthei] über ihn abgegeben worden; nun aber Avird noch ein-
mal berathen (3960 — 63), und da wird beschlossen, dass Gune-
lon der Grösse seines Verbrechens gemäss auch eine ausser-
ordentliche Strafe erleide :
Que Guenes moerget par merveillus ahen (3963).
Er stirbt, von vier Pferden zerrissen, cum fei recreant
(3973).
Ich brauche nicht darauf hinzuweisen, wie treu dies ganze
Strafverfahren die wirklichen Institutionen, die in den Karolin-
gerzeiten in Kraft Avaren, wiederspiegelt. Bekannt genug ist
ja der Kampf, den, der Untreue gegen den König beschuldigt,
Graf Bera von Barcellona in voller Rüstung vor Ludwig dem
Frommen zu Ross, wie in unserem Liede, auf einem Platz in
der Nähe der Aachener Pfalz besteht.* Und auch, dass aus
Furcht vor jenem Zweikampf der Verbrecher der Strafe ent-
geht — wie in unserem Liede Ganelon, wenn das muthige Auf-
treten Thierry's nicht gewesen wäre, entspricht ja genau Vor-
gängen historischer Zeit.** Nur die Strafe, die vollzogen wird,
ist unter den Karolingern nicht mehr üblich gewesen.***
* Waitz, Verfassungsgesch. IV, 360.
** Waitz, a. a. O. IV, 361, Nr. 1.
•** Waitz, a. a. O. IV, 430.
Ein Wort
zur Verstäüdigung über , den Accent tonique
im Französischen.
Vou
Brunnemann in Elbing.
Lesaint behandelt in der zweiten in diesem Jahre er-
schienenen vollständig neuen Auflage seines trait^ complet de
la prononciation fran^aise, der wol das Vollständigste und Er-
schöpfendste sein möchte, was es zur Zeit auf diesem Gebiete
giebt, die in Frankreich erschienenen Werke über die Aus-
sprache des Französischen nicht ausgeschlossen, auf Seite 404
und ff. auch den Accent, den er richtig definirt als l'elevation
ou Tabaissement de la voix sur certaines syllabes und in accent
gramraatical 6u prosodique, celui dont la grammaire fixe les
regles; accent logique ou rationnel, celui qui indique le rap-
port, la connexion plus ou moins grande que les propositions et
les idees ont entre elles ; und accent pathetique ou oratoire,
celui qui convient ä l'orateur pour exprimer ou exciter les pas-
sions unterscheidet. Um hier den accent logique und accent
pathetique zu übergehen, so fährt er in Bezug auf den accent
gramiiiatical weiter fort: „Lorsqu'il s'agit seulement de Televa-
tion de la voix sur une des syllabes d'un mot, on le nomme
accent tonique. L'accent tonique existe dans toutes les lan-
gues ; chaque mot a le sien , et n'en a qu'un. On dit d'une
langue qu'elle est fort accentuee, lorsque l'accent tonique y est
tres-sensible et tres-varie. La langue fran^aise est une de cel-
20*
308 Ein Wort zur Verständigung
lea qui le sont le moins ; c'est-ä-dire que les syllabes, en fran-
9ais, sont toutes accentuees d'une maniere presque uniforme: l'ac-
cent tonique porte constamnient sur la derniere syllabe des mots ä
terminaison masculine, et sur la penultieme des mots k terminaison
feminine- Encore ces syllabes, elevees dans une phrase, peu-
vent-elles etre baissees dans une autre."
Zunächst ist hier der nichts weniger als präcise Ausdruck :
les syllabes, en frangais, sont toujours accentuees d'une maniere
presque uniforme: l'accent tonique *porte constamment sur la
derniere syllabe des mots ä terminaison masculine et sur la
penultieme des mots ä terminaison feminine dazu geeignet, das
Missverständniss hervorzurufen, als befände sich L esaint mit
sich selber im Widerspruch, indem er einmal behauptet, alle
Sylben eines und desselben Wortes würden im Französischen
gleichmässig accentuirt und das andere Mal die Wörter
mit männlicher Endung würden auf der letzten, die mit weib-
licher Endung auf der vorletzten Sylbe, also alle Sylben eines
und desselben Wortes nicht gleichmässig accentuirt. Aber
auch zugegeben, er wolle den zweiten Theil der Periode:
„l'accent tonique porte constamment sur la derniei'e syllabe des
mots ä terminaison masculine et sur la penultieme des mots a
terminaison feminine" nur als blosse Erläuterung des ersten:
„les syllabes sont toujours accentuees d'une maniere presque
uniforme" aufgefasst wissen und meine in Wirklichkeit niu', die
Uebereinstimmung in der Accentuation der einzelnen Wörter
im Französischen bestände darin, dass alle Wör^er mit männ-
licher Endung stets auf der letzten, und alle Wörter mit weib-
licher Endung stets auf der vorletzten Sylbe betont werden, so
hebt er doch durch den Nachsatz: „Encore ces syllabes, (Elevees
dans une phrase, peuvent-elles etre baissees dans une autre"
das soeben Gesagte wieder vollständig auf imd nimmt mit der
andern Hand wieder, was er mit der einen gegeben hat. Wie
ist aus diesem Dilemma herauszukommen? Werden die Wörter
mit männlicher Endung nun wirklich auf der letzten und die
mit weiblicher Endung auf der vorletzten Sylbe accentuirt oder
werden sie es nicht?
Während meines letztjährigen Aufenthaltes in Paris hatte
ich Gelegenheit, in der Sorbonne einer Disputation behufs Er-
über den Accent tonique im Französischen. 309
langung des Doctorat es lettres beizuwohnen, bei der auch die
Frage der Betonung ventilirt wurde und der Doctorandus Er-
steres (Betonung der letzten, resp. vorletzten Sylbe), einer der
Examinatoren jedoch das Letztere (Nichtbetonung der letzten,
resp. vorletzten Sylbe) behauptete, beide Herren acccntuirten
aber in ihren Ausführnuiren so vollständig übereinstimmend,
dass man, wenn man die Augen schloss, aus der Art der Be-
tonung nie wissen konnte, wer gerade das AVort hatte, ob Derje-
jenige, der die Betonung der letzten, resp. vorletzten Sjdbe ver-
focht, oder aber sein Antagonist, der von einer hervorstechenden
Betonung einer Sylbe vor der andern nichts wissen wollte. Es
ist dies auch in der That ein rein theoretischer Streit ohne
einen praktischen Nutzen und die Sache liegt einfach so.
Der Franzose hat die oranz entschiedene Neio;unij, in der
Aussprache immer der letzten Sylbe (wir betrachten hierbei in
den Wörtern mit weiblicher Endung das nur in der Schrift
erscheinende e muet als nicht vorhanden) zuzueilen, um auf
ihr die Stimme ruhen zu lassen, um nun aber für die Beto-
nung der letzten Sylbe das erforderliche Quantum Athem be-
reit zu haben, macht er hinter der vorletzten Sylbe einen Halt,
den mir ein Franzose sehr hübsch als un appui bezeichnete, so
dass schliesslich beide Sylben , die vorletzte gerade so wie die
letzte, ganz mit gleicher Stärke betont werden.
So ist es auch allein zu erklären, dass in der französischen
Poesie jede beliebige Sylbe sowohl in der Hebung wie in der
Senkung stehen kann, ohne dass dadurch das Ohr des Fran-
zosen auch nur im Allermindesten beleidigt wird, während z. B.
im Deutscheu, wo die Sylben ihren festen Ton haben, der jam-
bische Gebrauch des Imperativs gebet statt gebet oder umge-
kehrt der trochäische des Substantivs Gebet statt Gebet für
jedes, auch das ungebildetste Ohr, unerträglich sein würde.
Ich habe deshalb in der letzten Zeit gelegentlich der Leetüre
darauf geachtet und die Stellen notirt, wo ich ein und dasselbe
Wort in demselben Verse mit versciiiedener Betonung ange-
troffen habe; aus denen ich mir erlauben will, einige der prä-
jrnantesten hier anzuführen und zwar finden wir es bei Dichtern
aller Zeiten, bei den Klassikern nicht minder, als in der Poesie
der Repubhk, des Kaiserthums und der Neuzeit:
310 Ein AVort zur Verständigung
Ah! rendez-moi, renf/es'-moi mon village
Et la houlette et le pain bis. B^ranger.
Piochons, pioc/ions
Et fabriquons du salpetre. Ch. L. Tissot, les salpe-
triers repuhlicains.
Li&^rte, liberie, des doux plaisirs source profonde.
Hymne pou7- Vinauguration du th^ätre des arts.
Mes «mis, mes am?'«, point de plaisanterie.
Le Cousin Jacques (Beffroy de Reif/ny.)
Un seul! Et les "Rotndins tremblent devant un homme,
Les iJdraains ! oü sont-ils ? Dans les tombeaux de Rome.
Che'nier, Tibere.
Quand je re^us l'honn^wr de la chevalerie,
Le roi nie dit: — — — — -,
Si ma vie est h, lui, mon hönneur est k moi.
Raynouard, les Etats de Blois.
Ce fait honore egalement
Et fera vivre d'äge en äge
Le heros qui re<;oit rhommage
Et le he?-os qui le lui rend.
Barrd, Radet et Desfontaines, les
EnibelUssements de Paris.
Pour la cherir
En ces lieux cliacwn respire,
A cAacun de nous eile inspire
Le respect — Ibidem.
SauZe, eher ä l'amour et eher k la sagesse,
Dans ce meme vallon, doux saiüe, j'etais mire.
M7ne Bobois, el^gies maternelles .
II aper^oit de loin le jeune Teligny',
Teb'gny, dont l'amour a merite sa fiUe.
Voltaire, Henriade.
Voyant qu'il faut per/r et pt^rir sans vengeance. Ibidem.
Le heros malheureux sans armes, sans defense —
Aux pieds de ce heros il les voit trembler tous.>
Ibidem.
Et l'on porta sa tete aux pieds de Medicis,
Mec^icis la re9ut avec indifierence. Ibidem.
Et le bandeau des rois sur le front du so\dät?
Un so7dat tel que moi peut justement pretendre —
Voltaire, Merope.
Quand la regZe conduit Therris, Phebus et Mars,
La reole austere et süre, est le fil de Thesee,
Voltaire, Ode.
Un pdrtil vous, barbare, au mepris de nos lois;
Est-il d'autre Tp&rti que celui de vos rois? Ibidem.
über den Accent tonique im Französischen. 311
Eeroyez-moi, madame, arretant leur furie,
Yoye'z ces murs enfin, par mon bras delivres. lindem.
II compiZmV, compilait, compi/aeV. Voltaire, epigravime.
Utile a nos cites le pläisir les amene,
Sans le plaistV enfin, pere de mouvement,
L'esprit est sans ressort. Helvetius, le luxe.
Ils nous ont dero?>e5, derdbons nos neveux.
Piron, mctromanie.
Votre ami? Mon awiz', barbare, ä toi ce nom?
Saiirin, Beverley.
Le coura^^ plus grand que son cou?-«ge extreme.
De ßekois, le si^ge de Calais.
Et rft'tes-lui que tout soupire,
Dites-lui que de la prairie
Son absence a seche les fleurs! Marmoniel, Idylle.
Tout soupire
Dans les vallons, qu'elle a quittes.
Quel heureux vdlon, ma bergere. Ibidem.
L'hom??ie se doit a rjwmme en tout rang, ä tout äge.
Thomas, sur les devoirs de la societe.
Voltaire seul em&t''/lit tout,
Et toi seule embel/es Voltaire. Dornt., madrigal.
Mais Perrault, plus profond, Diderot nous l'apprit,
'Pevräult, tout plat qu'il est, petille de genie.
Gilbert., le XVIIIe siede.
Hßnreux pere, lieuveux frere, et moins epoux qu'amant.
Ibidem.
C'etait l'ouvrage de la vie,
Et les desseins dit-trs de di\Qvs souverains.
Gresset, ä FruUric le Grand.
II fallait consulter l'lionneur et la raiso«.
La raison, dltes-vous, eile n'est alleguee
Qu'ä propos de laideur. Desmahis, L''impe7-tinent.
Si ?;otre coeur se rend, le premier de nos soins
Est d'aller publier votre prompte defaite. Ibidem.
Aime'z ou n\umez pas, soyez prüde ou coquette.
Ibidem.
L'a/jn'tie vient du ciel demeurer ici-bas. —
Oui, Ynaiitie sans doute est le supreme bonheur.
Desmahis, Vhonnete hornme.
La tombe —
N'est point, assurement la tombe d'un herger —
Un be'r ger, dis un monstre; il devasta nos plaines.
Leonard, les tomheaux.
De cnscade en cascade en loin retentissants.
Bertin, Gavorine.
312 Ein Wort zur Verständigung
Vous me faites (rcnarl —
Ah ! /r^mir : devinez.
Fahre d'Efflantine, le Phüinte de Moliere.
II s'arrange en total, en total tout est bien.
L'homm^ sent qu'il est Mmvue.
Jeunes gens, jeunes gens, ne vous a-t-on pas dit?
Ibidem,
Ibidem.
Florian.
Quand on veut tout savoir, que peut-on sdvoir blen?
Picard.
Sous un ciel de decembre ils disaient: Empor#(fs
Enopo'rtez-nous au loin, sur des bords ecartds.
Le Morvonnais, Chäteau de Camhourg.
N'ambitionnez point le <?2bmphe imprudent
C'est un art de savoir triowpher en cddant.
Non, la Harpe au serpent n'a jamais ressemblc,
Le se'y-pent siffle et la Harpe est siflle.
Pour les TpSLUvre's la comedie
Donne une pduvre tragedie.
Berge'r, bergere, aateiü; tout bete,
Puis herger, «wteur, lecteur, chien.
S'endorment.
Ta mere ! Qui l'eüt dit? Oui, ta niö?e perfide.
Me voilh donc, sauZe, eher au malheur,
Chantez le säule et sa douce verdure!
Kuiss^fl?/ peu connu dont Teau roule — •
Mon humble rüissesM par la fuite.
E. Lebrun.
Ibidem.
Ibidem.
Ibidem.
Ducis, Hamlet.
Ducis, Othello.
Ducis.
Les vamqueurs, les vaincws deviendront mes victimes.
La Harpe, Vasco de Gama.
Ainsi qu'adroits chasseurs, architecies savants —
En archi/ec'te adroit mais en pere timide.
Delille, les trois regnes de la nature.
Cet o7seau leur construit une humble pyramide,
L'oiseaw monte et descend dans une autre cellule.
Oü Tamant fuit Vaindnte, oü l'dxni fult Yaim.
Condorcet, Condorce?, tremble h, l'Academie.
Ibidem.
Chamfort.
liivarol.
Nous sow/Trons en naissant, pendant la vie entiere,
Et nous souf/rows surtout a notre heure derniere.
Collin d^IIarleville, Toptimiste.
II so«rit, son neveu soxxrit de son cote.
Collin dHarleville, les chateaux en
Espagne.
über den Accent tonique im Französischen. 313
Un commis est ministre, un jeune abbe ytTcldt,
Le -prelat — II n'est pas jusqu'au simple soldat. Ibidem.
Quand je songe je suis le plus heare'ux des hommes,
Et desque nous croyons etre /icwreux, nous le sommes.
Ibidem.
L'a?«?^ie mene, oui, l'amitiff volage. Parny, Ek'gies.
Quelques mois, quelques jours encore. Ibidem.
L'e^e'rnel mouvement et l'eterneZ repos. Fontanes.
Vous me quittez pour r//ler a la gloire,
AMe'z, volez au temple de memoire. L. P. de Sc'gia; Romance.
Une rose eroissoit ä l'ombre d'un buisson,
Et cette ?-ose un peu coquette. Le Bailly.
Certdin rat de campagne en son modeste gite,
De ceVtain rat de ville eut un jour la visite.
Andrieux, les dcux rats.
Sur le coeur assez faux, asse'z \i\, dssez traitre.
Parcevcd-G7-andmaison, PJdlippe Auguste.
De Jassins en bas5?ns ces ondes amassees.
Andrtf Che'nier, Hymne a la France.
Dieu jeune, viens aider sa jeunesse. Assou/j/s,
Assöwpis dans son sein cette fievre brülante.
Idem, le jemine malade.
Ah, mon fils, c'est V&möur, c'est /'amour insense. Ibidem.
Haietante de loin: „Mon eher fils, tu y'wrds,
Tu t7vras!" Elle vient s'asseoir pres de la couche. Ibidem.
EliV tombe e71e crie, eile est au sein des flots.
7f/em, la jeune Tarentine.
La je reviens Xoujours et /o;/jours les mains plaines.
Idejn, la vie du poete.
Son coeur est averti par nos prc/«/c'res larmes,
Nos premier<fs douleurs eveillent ses alarmes.
Logovrc, merite des femmes.
Du bonheur d'exister sentir les /Premiers charmes,
Elle aide en nos prew/eVs essais
Notre raison — Ibidem.
Le lendemain s'accrut par (/egres la souffrance.
Et par öiegre's aussi mourut mon esperance.
De Loucival, ä l'ombre de Caroline.
Chacun VaTppiii de tous, tous /Vyjpui de chacun.
Loga, tpitre ä un jeune culfivateur.
De cb'mats en clhnäts tu seras transplantc.
Bois jolin, Varbre dela liberti.^
314 Ein AV^ort zur Verständigung
Je suis pere, dis-tu? non, je suis dictateur.
Dic^rtteur! Quoi! Toujours marcher de crime en crime.
Jonif, Sylla.
ßevenez demain: nous verrons!
Nous veVrons est un mot magique. Chateaubriand.
Le villa^e n'a qu'h brüler
Et moi-meme avec le vil/oge. H. de Maistre.
Senle's nous nous restons, toi-se?<le es ma famille. Campenon.
Moins malheurewa: que moi malAewreux fils d'Alinde. Nodier.
— si son ombre —
Courait avec amour la pente d'un ruiss^aii,
D'un ruisseau qui bondit sans souci de son eau.
Nodier, le buisson.
Yeille, ma lampe, v<^il\e encore. Beranger.
Celih&tl celi&a^! le lien conjugal,
Ä ton independance offre-t-il rien d'egal?
Delavigne, €cole des vieillards.
Tu te bat^rds!
Du tout!
Tu te bat/rds!
Eb non,
Je ne me bätir^i pas. Ibidem.
Un f/?<el pour cela ne m'irait nullement.
J'y cours ! Parte ! Un due7 ! je suis ton serviteur. Ibidem.
MiseraSZe par lui, je te fais mise?-«ble. Delavigne, Louis XI.
Lui qui, sür de vaincre, a vole
Vingt ans de ödtaille en ba^ffiVle. Beranger.
Est un exvfdnt qui vole un enfant qui survit.
Sonnet, divine epope'e.
II devance l'aurore et d'd^nbrage en ombrdge.
Denne-Baron, Z^phyre.
Par les pres sautil/e, sau^i'/le. Doval, Bergeronnetle.
Vainqueur, mais tout meuvtri, tout mewrtri mais vainqueur.
A. Monod, le bonheur du chr^tien.
II joue, il croit gagner — souvent jouer compense,
Mais jöiier, quand on perd, c'est doubler la depense.
Adolphe Dumas, cercle des familles.
Chaque z'dee a son fil attache uue autre \dee.
Bigrian, Timprimerie.
über den Äccent tonique iin Französischen. 315
Qu'il est doiix, qu'il est doux d'ecouter des his/<^/res,
Des histoire« du temps passe. De Vigny, la neige.
Et puis?
On «vance, on Avance.
Porchat, fahles et jmrahles.
Fille d'une sangs»'e et sdtigsue eile meine.
De Resseguier, Epigramme.
La femme vraiment belle est la fem?«e sincere.
Roche, sonneis.
Nous a/lons, nous al/o«s de ?/vage, en rit-a'ge.
Claudia Rochi, symphoiiie (Toctobre.
Craigne'z-la,, c3'«/gnez-la, la femme est toujours Eve.
Guttinguer, les saintes amitie's.
Tris/c sort, t)-iste monde, oü tout nous est a craindre. Ibidem.
Qui JV^pace en espdce eperdument lancee. Ponsard, GaliUe.
Uechö redit plus faible a ZVcbo qui le suit,
Barthelemy et Merij, Napoleon en Egypte.
Ouyre';:-vous, Oi(vrez-vous! c'est moi. Lamartine, preludes.
A gravir dans les airs de romeaux en va^me'aux. Ibidem.
Aus demselben Grunde wird es auch erklärlich, wie in
der französischen Poesie ein und dasselbe einsilbige Wort
ganz beliebig in der Hebung, wie in der Senkung stehen kann.
Pars, ?;ole, active Renommee,
Föle aux deux bouts de l'univers! Rouget, de Lisle,
La paix no\\s est-elle permise?
Vengeance, noi'is ferons justice,
A la patrie, a l'univers. Idem.
Amis c'est l(? cr'i du dieu Mars,
Le cri precurseur de la guerre. Idem,
Toüt dort. L'instant qu'elle signale
Peut totit changer, toüt arreter. Idoii.
Sortons — mais toi, soldat, toi dont l'äme plus fiere
N'est point soumise. — • Idem.
Le sang coule, ön s'etonne, ön s'avance, dn s'eerie.
Voltaire, Henriade.
/Sönge diu moins, songe au sang qui coule dans tes veines.
Voltaire, Zaire.
Vdis ces murs, vdis ce temple envahi par les maitres.
Ibidem.
Tout vouloir est d'un fou, l'exces est son partage.
Voltaire, discoiirs siir la moderation.
316 Ein Wort über den Äccent touique im Französischen.
II sait rej^ler sC's goüts, ses travaux, Sffs plaisirs. Ibidem.
II ne faut pas toüt voir, toat sentir, ioiU entendre. ■ Ibidem.
C'est iin dieu qui lui parle un di^u qui vit en eile.
Voltaire, Vimmortalite de Väme.
Je n'aper9ois plus rien, rien qu'un affreux desert.
Mme. Babois, degies maternelles.
Dieu puissant, Bi^u cruel, tu combles ma miscre. Ibidem.
Säule eher ä l'amour et eher a la sagesse. Ibidem.
Beurtlieilungen und kurze Anzeigen.
L. Geiger, Der Ursprung der Sprache. Stuttgart, bei Cotta.
1869.
Der Verfasser stellt sich in diesem Werke der Sprachpbilosophie ge-
genüber. Er will auf dem Wege empirischer Sprachforschung die Frage
nach dem Ursprünge der Sprache zu beantworten versuchen. Die Gedanken,
welche hinsichtlich des Entstehens aller Sprache sich ilim durch langjäh-
rige Spraclibeobachtung aufgenöthigt haben , sind im Allgemeinen ebenso
neu, als sie von den gegenwärtig geltenden und durch die Sprachphiloso-
phie verbreiteten Ideen abweichen. In Nachfolgendem sollen daher flie Be-
trachtungen, die im obigen Werke niedergelegt sind, und ihre Resultate in
kurzen Umrissen vorgeführt werden.
Wir stehen, was das Problem der Entstehung der Sprache anlangt,
augenblicklich auf dem Standpunkte der Skepsis. Die Theorie der Schall-
nachahmung, welche in den Perioden der bereits entwickelten Sprache
scheinbar manchen Anhalt findet, ist gänzlich unhaltbar gegenüber den äl-
testen historisch nachweisbaren Bestandtheilen der Sprache, gegenüber den
Wurzeln. Es ist nicht zu erweisen, dass in den historischen Wurzeln Laut
und Begrifi' sich decken oder auch nur irgend ein naturnothwendiger Zu-
sammenhang zwischen beiden stattfindet. Max Müller's Ansicht — ein ver-
loren gegangenes instinctives Vermögen der ersten Menschen zur Sprach-
bildung — ist mystisch und entbehrt jeder vernunftgemässen Begründung.
Bopp, Lepsius, Pott und Schleicher gestehen ihr Nichtwissen bezüghch der
geheimnissvollen Entstehung der W^urzeln ofien ein. Der Verfasser will
den Weg zeigen , auf dem wir aus diesem Zustande der Skepsis herausgc-
langen können.
Um die leitenden Ideen für die weitere Betrachtung der Sprachwurzeln
zu gewinnen, sucht er zunächst sich einen klaren Einblick zu verschaffen
in das Verhältniss der Lautentwicklung gegenüber der Begriffsentwicklung
innerhalb der Sprachperiode, die wir bereits überschauen können. In der
Fortbildung und innner weiteren V^erzweigung der historischen W^urzeln
offenbart sich stets ein und dasselbe Gesetz, mögen diese nun selbständige
Stämme geblieben oder zu an sich bedeutungslosen Suff'ixen herabgesunken
sein. Der Sprachgebrauch legte zunächst ganz unmerklich in ein Wort
lautliche Differenzen hinein ; ebenso unmerklich trat für die verschiedenen
differenzierten Laute ein numerisches Uebergewicbt der Anwendung für diese
318 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
oder jene speciellere Begriffssphäre ein, und zwar so, dass die Wahl der
einzelnen Laute nicht naturgemäss aus ihrem Wesen selbst erfolgte, sondern
aus zufälligen Ursachen. Das Object des Wortes verändert sich den
Sprechenden ganz unversehens unter der Hand. Da dieser Process ein un-
unterbrochen fortschreitender ist, so ergiebt sich als Gesetz für die Bedeu-
tungen, die wir successive mit einem \Vorte verbunden sehen: Die Be-
deutungen der Wörter entwickeln sich in einer Reihe, deren
letztes Glied sich mit dem ersten in keinem klaren Zusam-
menhange mehr befindet. — An einer Reihe von Beispielen wird dies
Gesetz in anschaulicher Weise nachgewiesen.
Der historische Verfolg der Bedeutungen eines Wortes ergiebt, dass
ein Wort mit abstractem begriffe früher stets etwas Concreteres bedeutet
hat; dass ferner die AVörter für Gattungsbegriffe vorher stets eine umfang-
reichere Bedeutung gehabt haben, zum Theil so umfangreich, dass wir die-
selbe nicht mehr unter einer Idee zusammenfassen können.
Aber auch diese Bedeutung ist für die betreffenden Wurzeln nie ur-
sprünglich; sie haben vorher einen allgemeinen Verbalbegriff bezeichnet.
Ein Umfang von Thätigkeitsbegriffen ist es daher , den wir auf den
historischen Wurzeln vereinigt finden. Die historischen Wurzeln stehen
nachweislich in lautlichem Zusammenhange, wir müssen sie daher nothwendig
als Lmtliche Abzweigungen von Urwuizeln ansehen. Für den Process der
Bedeutungsentwicklung innerhalb der Sprachperiode vor den historischen
Wurzeln müssen wir das Gesetz aller Bedeutungsentwicklung gelten lassen.
Die Urwurzeln müssen ganz allgemeine Tliätigkeitsäusserung bezeichnet
haben. Die Einzelbedeutungen, welche wir mit einer historischen Wurzel
verbunden finden, können nur als Entwicklungen aus solcher betrachtet
werden.
Da nun aber der allmälige Bedeutungsweclisel eines AVortes kein ge-
setzraässiger, somlern ein zufälliger ist, so würde der Sprachforschung für
jede weitere Untersuchung jenseits der historischen Wurzeln der Boden
fehlen, wenn nicht von einer anderen Seite her Liuht auf diese dunkle Pe-
riode der grauen Urzeit fiele: Die Sprache ist werdende Vernunft. Es ist
in jeder Sprachperiode nur das bezeichnet worden, was gedacht worden ist;
ein Begriff war nicht eher für das Denken vorhanden, bis er in der Sprache
Bezeichnung fand. Das Organ, mittels dessen der Mensch vorzugsweise
die Welt auffasst, ist der Gesichtssinn. Die ersten in der Sprache bezeich-
neten Ideen müssen daher Eindrücke sein, die unter diesen Sinn fallen. — ■
(Die Wörter, welche Wahrnehmungen anderer Vermögen bezeichnen, sind
sämmtlich ursprünglich für Wahrnehmungen des Gesichtssinnes angewandt
worden.) — Zuerst ist nur das Allgemeinste an den Dingen ausgeschieden
und sprachlich bezeichnet worden; der Sinn selbst ist durch die Beobach-
tung ausgebildet und geschärft worden und hat mehr und mehr an den
Dingen unterschieden. Den Nachweis für diese seine Ansicht liefert der
Verfasser dadurch , dass er an einer Reihe von Beispielen zeigt, dass das,
was zuerst Bezeiciniung fand in der Sprache, also der frühere Begriff eines
Wortes, auch das war, was naturgemäss zuerst bemerkt und ausgeschieden
wurde. Das in Verbindung mit anderem V^orhandene wird erst in dem
Augenblicke benannt, wo es gesondert in die Erscheinung tritt. Diese An-
sicht wiru nicht nur durch die historischen Thatsachen der Begriffsent-
stehung belegt, sie findet auch in der kaum zu bezweifelnden Wahrheit
ihre Begründung, dass ein ausgebildetes Denken ohne alle Sprache unmög-
lich war. Die Sprachmittel und <iie für den sprachlichen Ausdruck vorhan-
denen Begriffe haben sich nachweislich vermehrt; nicht auch der Umfang
des Denkens in gleichem Maasse? zumal die successive Entstehung der
Begriffe in der Sprache eben den Gesetzen folgt, nach welchen die sich an
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 319
der Natur entwickelnde Vernunft die Begriffe für das Denken bilden musste.
Der Ursprung: und Anfang der Sprache ist demgeniäss auch Ursprung und
Anfang der Vernunft. Welches ist dieser Anfang?
Die Namen für die Fai-ben, für hell und dunkel, für die Thiere, für
Erde und Meer, die Verwandtschaftsnamen sind ohne Ausnahme nicht ur-
sprünglich bezeichnet worden, sondern von Verbalstännnen mit der Bedeu-
tung zerreiben, bestreichen, verbinden abgeleitet. Diese Thätigkeiten sind
daher früher ein Sprachobject gewesen , als jene allem Anscheine nach der
Bezeichnung so früh bedürfenden Gegenstände ; letztere hatten in sich
offenbar nicht das Vermögen , den sprachlichen Ausdruck anzuregen. Das
Gemeinschaftliche in den erwähnten drei Verbalbegriffen ist die thierische
Bewegung. An die hier in Betracht kommenden Wurzeln, so wie an andere
historische Wurzeln mit ähnlichen Bedeutungen schliesst sich eine wahrhaft
unerschöpfliche Fülle von Begriffen. — Ein verwandtes letztes Object —
thierische Bewegung — findet sich aber nicht nur bei diesen Wurzeln,
sondern lässt sich für alle übrigen Wurzeln nachweisen oder mit grösserer
oder geringerer Sicherheit erschliessen. So sind also ein äusserst beschränk-
ter Kreis menschlicher Bewegungen die vorhistorischen Sprachobjecte.
Aber auch das Wenige, was auf diese \\'eise von Begriffen und Wur-
zelformen übrig bleibt, lässt die V^erengung noch zu. Die thierische Be-
wegung, die die Sprache in ihrem Ui'zustande ausdrückt, ist nicht nach den
Organen, mit denen sie ausgeführt wird, unterschieden worden. Mordeo
heisst im Lateinischen beissen, im Sanskrit heisst die Wurzel mrid mit den
Händen reiben, streichen, zerbröckeln. Lassen wir daher bei der durch
eine Urwurzel ausgedrückten Thätigkeit das Organ dieser Thätigkeit ausser
Acht, so bleibt stets ein Scharren, Reiben, Beissen als ihre Grundbedeu-
tung zurück, eine zu gleicher Zeit gesehene und gehörte Thätigkeit des
menschhchen Mundes. Die Urformen der Wurzeln — sie müssen naturge-
mäss möglichst einfache Laute gewesen sein, die sich wenigstens ihrem
Grundtypus nach sehr wohl erschliessen lassen — unterstützen diese Idee,
indem sie zu gleicher Zeit das Verhältniss zwischen Urlaut und UrhegrilF
erklären : Der erste Sprachlaut ist die Nachahmung der gesehenen und zu-
gleich gehörten Bewegung des menschlichen Mundes beim Reiben, Beissen
u. s. w., ihr Object ist diese Bewegung selbst. „Da in diesem Anfange die
Sprache mit ihrem Objecte zusammenfiel, so wurde sie verstanden, oder
vielmehr, sie wirkte so, wie das Dargestellte ; denn die Absicht, etwas mit-
zutheiien, hatte der Mensch noch nicht. Aber schon mit diesem ersten
Augenblicke trat Diff'erenziirung, Sprachgebrauch und Begriff'sentwicldung
mit ganz ähnlichen Folgen in das Leben, wie sie in der Sprache aller Zei-
ten zum Vorschein kommen. Der Laut erfolgte bei Gelegenheit einer etwas
anderen Geberde, für deren Verschiedenheit noch kein Sinn vorhanden war.
Auch der Laut selbst veränderte und vervielfältigte sich, jedoch ohne von
Anfang an auf verschiedene Objecte vertheilt zu sein. Diese Vertheilung
erfolgte erst, wenn bei hinlänolicher Unterscheidbarkeit der Objecte sich
ein numerisches Uebergewicht für einen der Laute zufällig hergestellt hatte.
Da alle diese Vorgänge gemeinsam waren , so wurde das Verständniss nie
unterbrochen. Der Sprachlaut erinnert in Folge der Bedeutungsvertheilung
nun Alle an etwas Verschiedenes, wie es vorher nur an Eines erinnert hatte."
Aus diesem ersten Begriffe der Vernunft haben sich nun alle übrigen ent-
wickelt. Diese Entwickelung ist die der Vernunft selbst, daher ist sie
ebenso gesetzlich, wie diese.
Das wichtigste und im Wesentlichen neue Ergebniss der Untersuchung
ist daher, kurz gefasst, folgendes : Die Sprache ist auf Beobachtung mittelst
des Gesichtssinnes und wachsemles Unterscheidungsvermögen zurückzu-
führen; durch die Sprache und in Gemeinschaft mit derselben hat sich das
320 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
Denken entwickelt. Ein Deukorgan giebt es nicht; was wir Begriff nennen,
ist die Summe von Empfindungen, die sich im Laufe von Jahrtangenden an
einen Laut angeschlossen hat. Aus diesem Resultate deducirt der Verfasser
für die Wissenschaft der Zukunft eine dreifache Aufgabe:
1) Eine kritische Untersuchung der Vernunft, aber nicht der Vernunft
als eines fertigen, sondern als eines gewordenen Vermögens, das aus einem
wesentlich anderen Zustande hervorgegangen ist. Ausgangspunkt dieser
Untersuchung muss die Sinnlichkeit sein; die Vernunft enthält nichts Trans-
cendentales.
2) Die Vernunft ist erwachsen aus dem Vermögen, die sichtbaren Ge-
stalten in ihrem Unterschiede aufzufassen und aus der Mitempfindung. Der
Physiologie bleibt die Aufgabe, ein tieferes Wissen über den Unterschied
dieser Vermögen beim Menschen und beim Thiere zu schaffen. Der Ver-
fasser giebt uns bei dieser Gelegenheit seine Aufftissung von der Intelligenz
der Thiere.
3) Schliesslich und vor allen Dingen schreiben die Ideen des Verfas-
sers der Sprachwissenschaft eine neue Methode vor, wie sie dieselbe auch
auf neue Ziele hinweisen: Die Geschichte der menschlichen Sprache und der
menschlichen Vernunft, die Geschichte des Menschen zu entwickeln soll
ihre Aufgabe sein.
Dies der Ideengang einer verdienstvollen Arbeit unseres bewährten
Sprachforschers.
An einigen Stidlen, besonders in Theil III und IV, hätte die Rücksicht,
nach welcher der Verfasser die sich gewaltig häufende Menge von Sprach-
stofl" betrachtet wissen will, rechtzeitig und mit grösserer Bestimmtheit an-
gegeben werden können. — Endlich muss noch darauf hingewiesen werden,
dass der Standpunkt, welchen derselbe hinsichtlich der Frage nach der Ent-
stehung der Sprache einnimmt, denn doch nicht ohne jede Beziehung zu
dem der Sprachphilosophie ist. Nicht der bewusste W ille war der Erzeu-
ger des ersten Sprachlautes; Mitempfindung ist eine der Sprachquellen.
Ist aber denn der erste Sprachlaut auf etwas Anderes als auf Reflexbewe-
gung — die Fundamentaltheorie der Philosophie der Sprache — zurückzu-
führen? d. h. auf die unbewusste und ungewollte Fortpflanzung einer Be-
wegung sensibler Nerven auf motorische Nerven, in unserem Falle also auf
die Beweger der Sprachorgane'? Im Uebrigen steht der Verfasser aller-
dings durchaus nicht auf dem allzu theoretischen Boden dieser Richtung
der Sprachforschung.
Prenzlau.
Dr. K. Böddeker.
Les femmcs savantes, comedie de Moliere. Für den Schulge-
brauch bearbeitet von Dr. C. Th. Lion. gr. 8. Leipzig,
B. G. Teubner. 1871.
Wir begrüssen diese Ausgabe als einen Versuch (wohl den ersten, der
in dieser Richtung gemacht worden ist), auf die Erklärung der französischen
Classiker diejenige Methode anzuwenden, deren man sich bei Erklärung der
griechischen und römischen Schriftsteller schon längst bedient hat. Der
Verfasser dieser zunächst für den Schulgebrauch bearbeiteten Ausgabe sucht
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 321
allen Anforderungen, die man an eine allseitige Interpretation stellen kann,
gerecht zu werden. Die ästhetische Seite der Erklärung findet ebenso Be-
rücksichtigung, wie die sachliche und sprachliche. Während man in den
vorhandenen Ausgaben einzelner Suicke des Meliere in der Repel wenig
mehr, als eine ziemlich magere Didaskalie als Einleitung antrifft, glebt uns
der Erklärer der Femmes Savantes auf den ersten 20 Seiten seines Buches
Erläuterungen, die zur vollständigen Orientirung iiber die Grundidee des
Stückes, über sein Verhältniss zu den Precieuses Ridicules, über die Ge-
schmacksrichtung und geistige Atmosphäre, in der das Sujet wurzelt, und
über die Charakterzeichnung der dargestellten Personen dienen. Auf die
Arbeiten französischer und deutscher Literarhistoriker ist dabei überall
Piücksicht genommen worden. Der Gang der Handlung wird ferner durch
fortlaufende den einzelnen Scenen vorausgeschickte Inhaltsangaben entwickelt.
Jedoch sind letztere, wie Ref. scheint, theilweise zu lang ausgefallen, so
dass sie oft mehr einer Pai-aphrase, als einem Argumente gleichen und
durch ihren Umfang der eigentlichen Erklärung ungebührlich viel Raum
entziehen. Auch erschwei-t die bis in's einzelne Detail ausgeführte Analyse
einzelner Scenen die Uebersicht über den Zusammenhang des ganzen Lust-
spieles. Wo im Laufe des Stückes der Gedankengang weniger klar und
durchsichtig erscheint, kommen überall erläuternde Anmerkungen dem Ver-
ständnisse zu Hülfe, und bei den mehrfachen Anspielungen auf literarische
und philosophische Richtungen wird der Leser, auch der nicht classisch ge-
bildete, stets genügende Aufklärung unter dem Texte finden.
Was die sprachliche Erklärung eines modernen Schriftstellers anlangt,
so fehlt es, wie Niemand leugnen wird, bis jetzt durchaus an einer auch nur
einigermaassen sicheren Norm für das Maass und den Umfang des zu Lei-
stenden. Die durch lange Praxis ausgebildete , aligemein anerkannte und
bewährte IMethode, die den Erklärer altclassischer Schriften leitet, hat kein
Pendant auf dem Gebiete der modernen Philologie. Hier ist alles in das
subjective Belieben des Commentators gestellt. Man braucht nur die Er-
klärungsweise verschiedener Ausgaben ein- und desselben Werkes verglei-
chend neben einander zu stellen, und man hat den Eindruck der buntscheckig-
sten ^Justerkarte von der Welt. Einen gemeinsamen Zug wird man hin-
gegen bei den meisten derselben vorfinden, nämlich das fortwährende Ueber-
greifen der Erklärung in das Gebiet der Grammatik und des Lexikons, und
zwar häufig in die elementarsten Partien der ersteren und die trivialsten
des letzteren. Während die erklärenden Ausgaben der altclassischen Autoren
fauch die für den Schulgebrauch bestimmten) die hauptsächlichsten Quellen
bilden, aus denen die Grammatik und das Lexikon der alten Sprachen immer
neue Elemente der Entwickelung und des Wachsthums schöpfen, sehen sehr
viele Erklärer moderner Schriftsteller in Grammatik und Lexikon die Sonne
und den Mond, aus denen das über den erklärungsbedürftigen Text zu ver-
breitende Licht vorzugsweise hergeleitet werden muss. ^\ eiche Fülle von
Studien, welche umfangreichen Vorarbeiten muss Jemand machen, der einen
griechischen oder römischen Schriftsteller mit nur einigem Erfolge erklären
will. Wie leicht ist es dagegen bei der gegenwärtigen Lage der Dinge
einen modernen Schriftsteller mit erklärenden Anmerkungen herauszugeben,
ohne gerade von der Kritik allzuviel befurchten zu müssen. Dabei sprechen
wir noch gar nicht von der so weit verbreiteten und beliebten Species der
editiones notulis aspersis curatae, die den Markt täglich enger machen und
deren Werth sich in den meisten Fällen auf den des gebotenen Textes re-
ducirt. Sie erscheinen überhaupt wohl besser anonym: es ist wirklich gar
zu bequem und unritterlich auf diese Weise Schriftsteller zu werden.
Nach den obigen Andeutungen über den Mangel einer allgemeingültigen
Interpretationsmethude für neusprachliche Schriftsteller kann es nicht anders
sein, als dass wir uns in verschiedenen Punkten mit dem Herrn Verfasser
Archiv f. n. Sprachen. XLVIII. 21
322 Beurtlieilungen und kurze Anzeigen.
der zur Besprechung vorliegenden Ausgabe nicht einverstanden erklären
können. Wo die Tradition keinen objeetiven Maassstab der Beurtheilung
an die Hand giebt, ist eben Jeder berechtigt vom Standpunkte seiner sub-
jectiven Ansichten und Wünsche aus Kritik zu üben. — Wie der Verf.
schon in der Vorrede andeutet, hat er allerdings das Grammatische in ge-
riniTerem Maasse, als es wobl bis jetzt bei einer Erklärung von solchem
Umfange geschelien ist, herangezogen. Nichtsdestoweniger läuft noch man-
ches mit unter, was man lieber vermissen würde. Auch bei Aufnahme von
Lexikalischem ist nach Ansicht des Kef. nicht überall die wünschenswerthe
Zurückhaltung beobachtet worden. So hätten wegfallen können die Bemer-
kungen zu 285 se meler de qc, 314 s'aviser de qc, 341 ici hierher, 357
abuser qq. und abuser de, 584 trousseau, 603 du moins und au moins, 627
humeur, cadette, 689 nigaud, 734 se piquer de, 845 rien etwas (im negat.
Satze), experience (= Experiment), 930 api)rofimdir, 1057 reclamer, 1063
renvoyer ä qc, 1354 repartie, 1369 chaquejour, 1480 contrecarrer qc, 1495
pour (was betrifft) und anderes mehr. Bisweilen würde es sich empfohlen
hüben, den Schüler durch kurze Fragen zur Selbstaulfindung der im Texte
zur Anwendung gekommenen grammatischen Regeln hinzuleiten. Soviel
Ref. sich erinn'ert, hat Verf. sich nirgends dieses pädagogischen Kunstgriffes
bedient. Regeln wie die, dass nach Jamals der Artikel wegfällt (v. 354)
sollte man füglich bei dem, der Moliere liest, als bekannt voraussetzen.
In der Vorrede hebt der Verf. hervor, dass er „bei keiner wirklichen
Schwierigkeit vorübergegangen" sei. Ref. möchte hinzufügen „absichtlieh,"
denn er ist selbst bei der Leetüre auf verschielene Schwierigkeiten gestossen,
nach deren Lösung er sich in den Anmerkungen vergebens umgesehen hat.
Belege für diese Behauptung wird man weiter unten in genügender Anzahl
finden.
Auf den dem Dichter eigenthümlichen Sprachgebrauch ist hinlängliche
Rürksicht genommen worden, jedoch hätten die vom heutigen Sprachge-
brauch abweichenden Eigenthumiichkeiten oft schärfer marquirt und in grös-
serer Vollständigkeit angeführt werden können, obgleich nicht geleugnet
werden kann, dass es in vielen Fallen schwierig ist, eine sichere CJrenz-
scheide zwischen poetischer Dietion und veralteter Ausdrucksweise zuziehen.
Die nachfolgenden Bemerkungen, die sich den in der Ausgabe der
Femmes Savantes gegebenen Erklärungen anschiiessen. wollen sich zu diesen
theils berichtigend, theils ergänzend und näher ausführend verhalten. Ref.
verwahrt sich ausdrücklich dagegen, als wenn er alles, was er vorbringt,
zur Aufnahme in eine Schulausgabe für geeignet angesehen wissen wolle:
literae non habent fines, schola h;ibet.
V. 30. une idole d'epoux und marmots d'enfants sind anders zu beur-
theilen als nom de fille. Es sind Beispiele des apposiuonellen Genitivs,
une id. d'ep. ist gleich un epoux qui est comme une idole (Abgott von
einem Gatten, engl, idol of a husband). Schon die lat. Volkssprache kennt
diese Art des Genitivs: monstrum mulieris (monstre de femme), scelus viri,
frustum pueri. 36. se donner tout entier = lat. totum se dare. 37. vous
avez en exemple. Heutzutage wird avoir mit pour construirt. Es ist über-
haupt die Freiheit zu beachten, die sich der Moliere'sche Sprachgebrauch
in der Anwemlung von en, pour, comme gestattet, (vgl. 1138 considerer
en homme st. consid. comme l'homme. A vos yeux = devant (sousj vos
veux. 45. aux lois, wovon abhängig? 42. epanche ist später noch einmal
erklärt. 65. esprit mit pron. poss. häutig für das Personalpronomen (wie
lat. animus) vgl. 85. 190. 1276. — 95. Mol. lässt häutig den Theilungsartikel
fort, wo ihn die gute Prosa nicht entbehren könnte, besonders häutig nach
ce sont und vor choses, so dass dieses \\'ort fast in der Weise eines un-
bestimmten Pronomens angewendet erscheint, vgl. 388. ce sont emporte-
ments. ?14. ce sont charmes. 716. ce sont repas friands. 843. ce sont
petits chemins. 1315. ce sont choses qui. 113. „croi fürcrois;" überhaupt
Beui'theilungen und kurze Anzeigen. 323
wird bei Dichtern oft das parasitische s der 1. pers. sing, praes. in der 2.,
3. und 4. Conjugation nach dem Vorgange des Altfranzösischen weggelas-
sen, vgl. 185 je croi. 347. je fai. 1623. je voi. Es geschieht dieses in
Folge des von den Dichtern des 16. Jahrhunderts aufgestellten Grundsatzes,
dass ein guter Reim nicht nur dem Ohre, sondern auch dem Auge annehm-
bar sein müsse, vgl. croi — foi, croi — moi, hai — fai. 336. les choses
de la Sorte; de la sorte ist hier adverbiell und nicht mit les choses zu ver-
binden, während es 504 finissez un discours de la sorte (= höre endlich
mit derartigen Reden auf; von discours abhangt. De la sorte ist einer der
wenigen Ausdrücke, in denen der Artikel den ursprünglichen dt-monstrativen
Sinn bewahrt hat, de la s. rz isto modo. 147. dun refjard pitoyable , das
letzte \\'ort hier in der weniger gebräuchlichen liedeutuiig „erbarmungs-
voll." 149. bontes „Gütebezeugungen" zu steif, besser: Freundliclikeiten.
170. les choses du devoir = was zur Pflicht gehört. 174. ceux dont j'ai
re^u le jour, lässt sich dont st. de qui nach dem heutigen Spracligebrauch
rechtfertigen? 183. premlre dans qc. hätte eine Bemerkung verdient. 193.
sur moi . . . ramasser wie v. 1057. que reclament nur toi und sonst con-
querir sur qq. prendre sur qc. 195. descendre = condescendre. 218. clar-
täs de tont — Einsicht in Alles. 223. enfin (= kurz) wird erst später v. 1788
erklärt. 229. se rendre l'erho ^^^ se faire l'echo wie umgekehrt v. 1526 se
faire maitre statt des jetzt üblichen se rendre maitre. 248. priser ist hier
nicht „hochschätzen," sondern „lobpreisen." 251. fatras ist weiterliin ein
zweites Mal erklärt. 256. zu soi-meme = lui-meme hätte mit Verweisung
auf V. 1554 gleich darauf aufmerksam gemacht werden können, dass Moliere
umgekehrt auch lui (lui-meme) gebraucht, wo sich der heutige Sprachge-
brauch für soi (soi-meme) entschieden hat. 268. „gageure sprich gajure
nach dem dict. de l'Acad." e ist in diesem Worte jetzt ebensogut Lese-
zeichen wie z. B. in mangeons. Ein Suffix eure kennt das Franz. nicht;
gageure ist von gager ebenso gebildet wie armure von armer. Dass indes-
sen das e ursprünglich etymologisch berechtigt war, zeigen die altfranz.
Formen armtüre üt. armrttura), ambleüre, troveüre u. s. w. 285. si la
bouche vient ä s'en voulolr meler. „vient ä so weit geht." Die von vient
ä gegebene Uebersetzung scheint nach dem Zusammenhange nicht recht
passend, da Belise andeuten will, dass bei der ihr geweihten Liebe der
Mund überhaupt nicht mit in Action zu treten habe. Auch würde „so
weit geht" franz. besser mit va jusqu'ä, en vient jusqu'ä, en arrive ä gege-
ben werden; si la b. vient ist wohl für das gebräuchlichere si la b. venait
zu nehmen, und die Stelle zu übersetzen : wenn der Mund (wie ich nicht
erwarte; sich darein mischen sollte. Engl, würde man ähnlich if your
mouth came to meddle with it sagen können. Ausserdem enthält der Vers
eine kleine Doppelsinnigkeit, die dem Erklärer entgangen zu sein scheint
und die wohl auch nicht in der Absicht des Dichters gelegen haben mag.
327 coramettre qq. a qc. = charger qq. de qc. 330. Ist zu j'appuirai, pres-
serai, ferai in grammatischer Beziehung nichts zu bemerken? 333. Dieu
vous gard'. gaid' (auch ohne Api)stropli geschrielien) fin iet sich so auch
bei anderen Dichtern (La Font., Voltaire), besonders in der Phrase Dieu
vous eard. 340. Die eigenthümliche Bedeutung von raerite hätte wenigstens
einmal angegeben werden sollen. 340. en mon voyage = dans mou voy.
365. eneor = encore. galaniment (on ne peut tromper plus galamn)ent)
übersetzt der Ei-klärer mit „geschickt;" es hindert indessen durchaus nichts,
es hier in seiner gewöhnliclien Bedeutung zu nehmen. 385. „ceans: ecce
intus: ici dedans," „ceans ist vielmehr gleich dem lat. ecce Jiac intus, wie
sein Correlativ leaits = illac intus ; Genin ist in Sachen der Etymologie
durchaus keine Autorität, er spielt im Gegentheil auf diesem Gebiete nur
die Rolle eines abenteuernden Laien. 390. pur un desespoir == in Folge
der Verzweiflung. 402. son alliance = die Familienverbindung mit ihm.
403. zu de bien il n'a pas l'abondance vergl. deutsch er Imt Geld die Fülle
21*
524 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
414 de ce pas Twlrd erst welter unten erklärt) entspricht dem Deutschen
stehenden Fusses." 417. je vais a raa femme en parier sans delai. V\ ovon
hän"t ii ma femme ab? 420. heritage = glückliches Loos (wie lat. sine
sacns hf'reditas). 435. je ne fais seulenient que demander son crime, „im
17 J'ihrh füf^te man wohl noch seulement dem ne — que hinzu;" es ge-
schieht noch heute im volksthümlichen Stile. 437. je ne dis pas cela (ca)
ist die gewöhnliche Formel, die derjenige braucht, der sich gegen eine a,us
einer Aeusserung von ihm gezogene Consequenz verwahren will 459. in-
solence a nulle autre pareille = ins. sans pareille, vgl. v. 715. douceur a
nulle autre pareille. 479. ne voilk pas = ne voilä-t-il pas. 522. met Vauge-
his en pieces = macht V. zu Schanden. 5B0. que de bruler ma viande,
QU saler trop mon pot, mit dichterischer Freiheit ist de vor saler ausgelas-
sen. 548. (notre plus grand soin . . .) doit etre u le nourrir = doit etre
de le nourrir. 553. Zu il (das Wort SoUicitude) pue etrangement son an-
ciennete wie zu v. 1044 eile (la bailade) sent son vleux temps beachte man
den eigenthümlichen Gebrauch des pron. poss. statt des bestimmten Artikels.
Das Dict. de l'Acad. kennt diese Anwendung des pron. poss. nur bei sentir,
auch weisen die Beispiele, die sie dazu anführt, nur persönliche Ubjecte
auf: Dans le discours familier, son, sa, Joint au verbe Sentir, equivaut a 1 ar-
ticle: „II sent son homme de qualite, il sent son hypocrite, son tartute.
vgl. auch unter Sentir. 555. Wie ist voulez-vous que je dise am besten zu
übersetzen? 559. en parlant bezieht sich hier nicht auf das Subject^ 568.
aller chercher (= rechercher) hat an dieser Stelle nicht seine gewöhnliche
Bedeutung (holen). 571. il n'est pas bien honnete, et pour beaucoup de
causes, e? explicativ „und zwar," ebenso in v. 1292. 598. Wie ist das Wort-
spiel raisonnement — raison deutsch wiederzugeben? 620. de contusion = par
confusion. 659. Die über avec (n'avez-vous point de honte, avec votre
mollesse?) gegebene Bemerkung möchte Ref. etwas bestimmter tormulirt
haben- „avec streift bisweilen, besonders in Sätzen, die eine Verwünschung,
einen Tadel oder eine Missbilligung enthalten, hart an die Bedeutung^ des
causalen pour, k cause de. vgl. 325. diantre soit de la folle avec ses visions.
v 666 ma femme est terrible avecque son humeur." Grammatik und Lexi-
kon haben diesem Gebrauche bis jetzt noch wenig Beachtung geschenkt.
Schon das ältere Latein hatte cum in analoger Weise gebraucht, z. B. di te
deaeque omnes faxint cum istoc omine (Plautus) (= va-t-en au diable avec
ta mauvaise prophetie, it. vattene in malora con quella cattiva protena) cum
istoc animo es vituperandus (Terenz) (= tu es ä blamer avec ta maniere
de voir). 67'^ on en a pour huit jours d'effroyable tempete, en = de 1 Op-
position qu'on lui falt (ä Philaminte), d'eftr. temp. ist nicht abhangig von
pour huit jours, sondern de steht im partitiven Sinne wie z. B. in avoir de
f'orage (= ein Gewitter haben, bekommen). 676. ma mie ursprünglich ma
amie und elidirt nramie, dann orthographisch falsch abgetheilt ma nue; ein
Ausdruck wie sa douce mie würde also, streng genommen, als lehlerhatt
gelten müssen. 684. mit vouloir etre iin homme vergleiche man v. 710 je
ra'en vais etre homme. 710. „aller, lie ä un autre verbe ä 1 infimtif : iMoliere
en fait tovjours un verbe reflechi avec en. (Genin p. 14.)" Das ist ganz
einfach eine übertriebene und unrichtige Behauptung. 731. ü n Importe
(vgl. 1580 il n'importe comment), jetzt würde man il weglassen. 737. vite
de quoi s'assoir bedarf durchaus einer genaueren Erklärung (vgl. it. dar da
sedere = dare una sedia). 771. ces deux adverbes joints fönt admirable-
ment = diese beiden Ad. machen sich wunderschon zusammen. 780. In
Faites-la sortir, quoi qu'on die, — de votre riche appartement verdankt der
Ausdruck qmi qu'on die lediglich der Keim- und Versnoth sein Dasein. tA:
ist in diesem Zusammenhange durchaus müssig und nichtssagend, da es ab-
geschmackt ist, zu vermuthen, dass Jemand die Partei des Fiebers ergreiten
werde, wiePliilaminte v. 88 in den Worten thut: que de la fievre on prenne
ici les interets. Die Allgemeinheit und Beziehungslosigkeit dieser Phrase
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 325
ist es eben, dio den Anlass zu dem komisclien Bestreben giebt, in ibr eine
Fülle poetischer Schönheiten finden zu wollen. Während der Dichter an-
dere Wendungen aus dem poetischen Machwerke des Trissotin nur ein-
oder zweimal von den gelehrten Damen bewundern lässt, lässt er sie iumier
wieder zu den enthusiastischen Ausrufen über die Vorzüglichkeit von quoi
qu'on die zurückkehren. 801. caquets == Klatsch. 809. Zu avez-vous com-
pris tonte son energie (l'energie de „quoi qu'on die" sowie zu 1495 vous
pouvez vous assurer de hii (de mon coeur) und zu 1496 quand j'aurai .son
appui (l'appui de votre coeur) konnte angegeben werden, inwiefern dieser
Gebrauch der Pronomina von dem gewöhnlichen prosaischen Sprachgebrauch
abweicht. 816. tiercets (tercets) geschrieben wie tiers (tertius), an das es
sich orthographisch anzulehnen scheint. 835. vous vous sentez saisir =: man
fühlt sich ergriffen. 844. nouveau, hier gleich „originell." 849. et bei
esprit, il ne Test pas qui veut, qui auf il zu beziehen. 856. vendre, acheter,
cheremcnt (st. eher) findet sich besonders häufig bei figürlichem Sinne der
Rede wie in vendre clierement sa vie, sa liberte, sodann wenn das Adverb
in einer zusammengesetzten Zeit dem Particip vorangeht, z. B. il a chere-
raent achete la victoire. 877. sur votre sujet — sur votre compte. 898. il
faut se relever de ce honteux partage. „Unter partage wird hier der An-
theil verstanden, der bei der Arbeitstheilung den Frauen zugefallen ist."
Part, hat hier wohl wie in den Ausdrücken avoir, donner, tomber, echoir
en partage die allgemeine Bedeutung .,,Loos." Die Verbindung mit relever
würde sich sonst kaum rechtfertigen lassen. 899. hautement hier am besten
mit „offen und kühn" zu übersetzen. 901. brillants de leurs yeu.x. „hrillants\
qualites brillantes." Das Wort wird man an dieser Stelle am besten im
eigentlichen Sinne verstehen, wie der Gegensatz von les lumieres de leur
esprit zeigt. 942. de mortelles sentences = des sentences de mort. 947
und 948. „noble et dont . . ., plein de gloire et qui . . .," ein Relativsatz
steht hier zweimal gleich einem adjectivischen Attribut." Diese dem franz.
eigenthümliche Anknüpfung eines Relativsatzes mit et zeigt an, dass sich
das Relativ auf das Nomen allein, nicht auf das attributiv bestimmte Nomen
bezieht. 977. la main . . . dit ;= die Hand zeigt an. 979, 980, 982. sa-
voir du grec = savoir le grec (it. saper di greco st. sapere il greco). 994.
„cours Promenade," warum nicht, da es doch einmal ohne Fremdwort nicht
abgeht, gleich Corso? 1005. de petits vers . . . sur qunl, quoi (ebenso
wie qui) mit Präpositionen wird bei den Dichtern des 17. Jahrh. auf Sachen
bezogen. 1026. la fieore qui tient la princesse wie lat. febris quae tenet
aliquem. 1047. Wie ist reste zu übersetzen? 10^6. parlous d'autre affaire
wie 623. discourons d'autre affaire ist Formel, um ein Gespräch, <las eine
unangenehme Wendung nimmt, abzubrechen. 1098. j',y suis Messe zz j'e/i
suis blesse. Bei einigen Verben erlauben sich die Dichter bisweilen die
locale Beziehung statt der causalen auszudrücken, z. B. etre etonne ä (st.
de) trembler ä (st. de), so hier etre blesse a qc. vgl. 1155. mon coeur
s'emeut d toutes ces tendresses. 1101, i<« eclat d'w« moment ist statt l'eclat
d'un moment mit Rücksieht auf un freie ornement und une fleur passagere
gesetzt, um die Gleichmässigkeit der Structur nicht zu unterbrechen. Ein
Subst. mit unbestimmtem Artikel, von dem ein anderes Subst., ebenfalls mit
unbestimmtem Artikel, im Genitiv abhängt, ist im Franz. eine ausserordent-
liche Seltenheit. Man kann dicke Bücher durchlesen, ohne auf ein Beispiel
dieser Art zu stossen. 11.50. echauffer les oreilles, wie heisst der entspre-
chende deutsche Ausdruck? 1171. il n'en est pas encore oü son coeur peut
pretendre, „en weist auf das Schwiegersohnwerden zurück;" das Pronominal-
adverlj dient zur allgemeinen Ortsbezeichnung ohne specielle Beziehiuig auf
das Vorhergehende, wie so häufig bei figürlicher Rede, z. B. il n'en est
pas encore la (anderen Sinn bat il n'est pas encore lä), l'etat oii en sont les
choses, les choses n'en sont pas encore ä ce point u. s. w. 1191. Zu tou-
jours k vous louer il a paru de glace wäre eine Bemerkung sehr am Platze
326 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
gewesen. 1242 und 1.564. laisser la = laisser a part (v. 1252). 1281 bei
fiertos hätte auf v. 40 verwiesen werden können. Abstracta können, wie
im Lat., in den Plural gesetzt werden, wenn ihr Begriff seinem ganzen
Umfange oder steinen concreten Aeusserungen nach aufgefasst werden soll.
1293. on le prise en tous lioux ce qu'il vaut; die weniger bekannte Regel
über die Construction der Verba des Abschätzens u. s. w. hätte Erwähnung
verdient. 1.315. Ce sont choses, de sei, qui sont belles et bonnes. de soi
steht mit dichterischer Freiheit vor dem Relativsatze, dessen adverbiale Be-
stimmung es bildet, und ist daher bei der Uebersetzung in denselben zu
ziehen. 1324. si les raisons manquaient, je svi.t sür qu'en tous cas etc., je
suis sur gehört zum ganzen Satze (sonst miisste es heissen je serais sür).
Es ist zu construiren: je suis sür qiie, si les raisons manquaient, en tous
cas etc. Deutsch wird man je suis sür am besten durrh ein Adverb wieder-
geben. 1333. snt j)lus qu'un sot ignorant, nachdrucksvolle Umstellung statt
j)lus sot wie in un Romain lache assez pour servir sous un roi (Ccnieille.)
1343, vous prenez tant les armes; tant gleich avec tant de zele. 1364.
c'est tout dh = c'est tout dire, part. passe statt infinit. ]n-esent wie bei La
Font. Fabl. 2, 19: oui, reprit le lion, c'est bravement crie. 1381. chez eile
= y, der Hof wird persönlich gedacht, daher c-hcz. Diese Personification
ist vorbereitet durch die Ausdrücke eile (la cour) n'est pas si bete und
eile a du sens commun; 1398. beaucoup necessaire veraltet statt tres-neces-
saire. 1407. „epancher (lat. expandere)," eigentlich aus der Weiterbildung
expandicare. 1416. „pour statt" ist nicht ganz zutreffend. Der Sinn des
Satzes ist tout leur merite consiste ä etre ricbes en babil importun. 1453.
„envoyer ä qn. wie wir sagen: zu jem. schicken." besser: nach jem. schicken.
1472. madame votre femme würde jetzt recht spiessbürgerlich klingen.
1496. je ne puis qu'etre heureux quand j'aurai .'on nppui ; es wäre zu be-
denken, ob dieser Vers nicht eine Inversion von qne enthielte und dem
Sinne nach gleich je ne puis etre heureux que quand j'aurai son appui wäre.
So safjt Corneille mit invertirtem que: tu n'as fait le devoir c[ue d'un
homme de bien. 150S. faire ecouter la raison = faire enteudre raison.
1532. (vgl. V. 619) vouloir mal steht dem lat. male velle näher als das ge-
wöhnlichere vouloir du mal (vgl. vouloir bien zz vouloir du bien). 1584.
„en depit qu'elle en ait im Verdruss, den sie auch davon haben mag," bei
dieser Uebersetzung wäre die Auslassung des Artikels vor depit nicht zu
rechtfertigen. Der Ausdruck, der übrigens noch nicht veraltet ist, seheint
seine Entstehung der Verschmelzung zweier Constructionen zu verdanken,
malgre (le depiti, qu'elle en ait und en depit d'elle. 1647 je serais im sot;
der unbestinnnte Artikel zur Hervorhebung des Begriffes. 1703. ne voulant
savoir le grais ni le latin, vor le grais ist in volkstliümlicher Weise ni aus-
gefallen, virl. 1713. qui ne sache A ne B. 1716. eile a dit verite = eile a
dit la verite. 1747. „Die Verdoppelung faites, faites, um der Aufforderung
den rechten Nachdruck zu geben." Diese Bemerkung passt auch zu 1669:
1673. 1674 1785 je baise les mains =: ich empfehle mich. 1787. que peu
philosophe est ce qu'il vient de faire, auffällig und ungewöhnlich ist hier der
adjeetivische Gebrauch von philosophe st. philosophique. Ausdiiicke wie roi
philosophe. femme ph., siecle ph., tete ph., esprit ph. sind hiermit nicht zu
vergleichen, da in ihnen philosophe appositi v steht; auch würde man sihwer-
lich conduite philosophe, tranquillite philosophe und ähnliches sagen. 1820.
c'est un stratageme, vn svrjn-cnant secovrs, die letzten Worte sind gleich
le secours d'une surprise, surprise in der militärischen Bedeutung von Ueber-
fall genommen; das mit stratageme begonnene dem Kriegswesen entlehnte
Bild wird in surprenant secours fortgesetzt.
Was Druck und äussere Ausstattung des Werkchens anlangt, so schliesst
es sich würdig den bekannten Ausgaben der im Teubner'schen Verlag er-
schienenen antiken Schriftsteller an. Jedoch sind einige Druckfehler anzu-
merken: 138. desirs st. desirs. 357. Fehlt ein Komma zwischen comment und
Beurthellungen und kurze Anzeigen. 327
ma ?oeur. Z. 518. parties de discours st. p. du discours. 706. raissonnable
St. raisonnable. Z. 890. tous st. toutcs, commes st. sommes. 947 und 48
st. d-nl und 948. 1125. prenez vous ohne tiret. 1644. sous st. vous. 1653.
des calendes st. de calendes. z. 1682. pron. inter. st. pron. rel. 1663. serai
st. sera. z. 17 66. Kehrseite st. Kehrseite.
Indem wir schliesslich die Ausgabe, die in AnUige und Ausführung alle
bisher erschienenen Erklärungen einzelner Moliere'scher Stücke übertrifft,
allen, die sich für den französischen Lustspieldichter interessiren, auf das
beste enmffhlen, machen wir noch darauf aufmerksan), dass der Verfasser,
wie er in der Vorrede andeutet, zunächst den Tartufe, dann den Misanthrope
in gleicher Weise zu bearbeiten gedenkt. Möge das Unternehmen einen
gedeihlichen Fortgang nehmen.
Langensalza. Th. Am eis.
Sicilianische Märchen. Aus dem Volksmund gesammelt von
Laura Gonzenbach. Mit Anmerkungen Reinhold Köh-
ler's und einer Einleitung. Heraussiegeben von Otto Hart-
wig. TLeil I: LIII u. 368 S., 'Th. 11: IV u. 263 S.
Leipzig. Wilhelm Engelmann. 1870.
Während das sicilianische Volkslied der Beachtung gelehrter Sammler
und Forscher schon seit einer Reihe von Jahren sich erfreut, war der
reiche Schatz volksthündiclier Prosadichtung, den die durch Xaturschönheit
und Geschichte in gleicliem Maasse anziehende Insel birgt, bis zum Er-
scheinen des vorliegen<)en üuchs noch fa;^t ganz ungehoben gehlieben. Es
war daher ein glücklicher Gedanke, der Otto Hartwig veranlasste, Fräulein
l>aura Gonzenbach in Messina — seitdem mit dem italienischen Oberst
Herrn La Racine vermählt — zur Aufzeiclnuuig einiger sicilianischer Mär-
chen anzuregen. Fräulein Gonzenbach war dieser Aufgabe, welche mit
nicht zu unterschätzenden Schwierigkeiten verknüpft ist, gewachsen wie we-
nige. Eine geborne Sicilianerin und ..des Dialektes von Messina vollkom-
men mächtig," dazu mit einem feinen Sinn für die zarte, so leicht zu ver-
wischende Eigenthümlichkeil der Märchenpoesie begabt, entbehrte sie keiner
der Eigenschaften, welche in diesem Fall v^n dtr Sammlerin gefordert
wurdem Ihr treffliches Talent zu erzählen, verbunden mit völliger Beherr-
schung der deutschen Sprache, befähigte sie in hohem Grade dazu, das
Gesammelte vor einem deutschen Leserkreis würdig darzustellen. Die
Grundsätze, von welclien Frl. G. bei der Darstellung sieh leiten liess, giebt
sie in einem Briefe an den Herausgeber (^Vorwort S. IX) folgendermaassen
zu erkennen : ,, ,• i
„Nun möchte ich Ihnen auch noch sagen, dass ich mem Möglichstes
o-ethan habe, um die Märchen recht getieu so wieder zu geben, wie sie mir
erzählt wurden. Den ganz eigenthünilichen Reiz aber, der in der Art und
Weise des Erzählens der Sicilianerinnen selbst hegt, habe ich nicht wieder-
geben können. Die Meisten erzidden mit unendlicher Lebhaftigkeit, indem
sie dabei die ganze Handlung mitagiren, mit den Händen sehr ausdrucks-
volle Geberden machen, und wenn es gerade passt, in der Stube herumge-
hen. Auch wenden sie niemals ein „Er sagt" an, da sie den Wechsel der
Personen stets durch die Intonation angeben. Das schliesst aber nicht aus,
dass sie dafür das Wort: dici (sagt) bis zum üebermaass brauchen, z. ß.
„O figghiu, dici, come va, dici, pi stiparti, dici, sulu, sulu dici, u. s. w." _
wie bei einer mit Liebe ergritJenen Arbeit jede überwundene Schwie-
rigkeit die Lust zur Sache steigert, so geschah es auch hier: Frl. G.'s
328 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
Sammluno; wuchs in verhältnissmässig kurzer Zeit zu einem stattliehen Um-
fang an und aus dem, was ursprünghch dazu bestimmt war, zu Dr. O. Hart-
wig's Werk „Aus Sicilien, Cultur- und Geschichtsbilder, 2 Bde., C'assel
18(j7— 69" einen Anhang zu bilden, wurde das vorliegende Buch, welches
nicht weniger als 92 Märchen enthält. Eine der ersten Autoritäten auf
diesem Gebiete, Reinhold Köhler, dem der Herausgeber das Manuscr/pt vor
der Drucklegung zur Einsicht zugeschickt hatte (vgl. S. X), hat die gegen-
wärtige Sammlung als eine „wahrhafte Bereicherung der Märchenliteratur"
bezeichnet. Und in der That hat sowohl der Laie, der bloss zu seiner gei-
stigen Erfrischung gern in die anspruchslose Tiefe der Volksdichtung sich
versenkt, als der Fachmann, der sie zum Gegenstand gelehrter Forschung
macht, alle Ursache, der Sammlerin unrl dem Herausgeber für diese werth-
volle Gabe dankbar zu sein; denn nur wenige Sammlungen dieser Art
dürfte es geben, welche beiden Lesergattungen mehr zu bieten hätten.
Um den Fachmann hat auch Reinhold Köhler durch seinen Antheil an
dem vorliegenden Buch sich besonders verdient gemacht. Von ihm rührt
laut der Vorrede (S. X) „im Wesentlichen die Anordnung der Mäichen
her, wie sie hier vorliegt," und wir können es nur billigen, dass er zur Er-
leichterung des wissenschaftlichen Studiums die verwandten Erzählungen,
welche häufig nur wenig abweichende Variationen desselben Themas bilden,
zusammengestellt hat. Namentlich aber verdanken wir Köhler die das
Buch schliessenden Anmerkungen, in denen er aus dem reichen Schatz seines
Wissens in mögsichst knapper Form einen höchst werthvoUen Beitrag zur
vergleichenden Märchenkunde giebt.
Die Einleitung zur Sammlung rührt von dem als tüchtiger Kenner Si-
ciliens und seiner Geschichte bekannten Herausgeber her. Sie handelt
ihrem Hauptinhalte nach zwar nicht von den Märchen; sie beschäftigt sich
aber mit einer Frage, deren Lösung jeder „Untersuchung über Entstehung,
Verbreitung und nationalen Gehalt der in Sicilien verbreiteten Märchen"
nothwendig vorhergehen muss, mit der Frage nämlich, nach „der Entste-
hung und Zusammensetzung der jetzt in Sicilien herrschenden Nationalität."
Nach einigen Andeutungen über die insulare Lage Siciliens und über die
zweiseitige Wirkung derselben, über den Gegensatz zwischen Küste und
Binnenland, so wie zwischen verschiedenen Theilen der Küste selbst, über
das hohe Alter einiger sicilianischer Gebräuche und einiger in den Volks-
liedern sich erhaltender, wenn auch vom Volke nicht mehr verstandener,
historischer Erinnerungen beginnt der Verfasser seine Untersuchung damit,
dass er aus der Hauptmasse der sicilianischen Bevölkerung „zwei durch
ihre Sprache leicht von ihr abzulösende kleine Bestandtheile" ausscheidet.
Es sind dies — mit Uebergohung der Spanier, welche gar nicht in Betracht
kommen können — die Albanesen, welche sich im 15. Jahrhundert auf der
Insel ansiedelten, und die sogen. Lombarden, d. h. Oberitaliener aus dem
Montferratinischen, die schon seit dem letzten Viertel des 11. Jahrhunderts
nach Unteritalien und Sicilien gekommen waren. Auch diese letzteren
können trotz der frühen Zeit ihrer Einwanderung und ihrer verhältnissmässig
grossen Zahl keinen bedeutenden Einfluss auf die Ausbildung des nationalen
Typus der Sicilianer ausgeübt haben, wie schon aus der schaffen Absonde-
rung ihres in einigen ihrer Colonien noch jetzt fortlebenden oberitalienischen
Dialects hervorgeht.
Nachdem der Verfasser durch diese Ausscheidung nicht wesentlicher
Elemente sich seine Aufgabe vereinfacht , giebt er in gedrängter Darstel-
lung einen Ceberblick über (ien Wechsel der Nationalitäten und Sprachen
auf Sicilien und ihres Verhältnisses zu einander. Die Punkte, auf die es
hier namentlich ankommt, mögen hier kurz hervorgehoben werden. „Nach
Vertreibung der Punier von der Insel" war „die griechische Sprache die
fast allein herrschende auf ihr" (S. XXXI). Mit der römischen Eroberung
kam dann die lateinische hierher, der es jedoch nicht gelang, die griechische
Beurtheiliiiigen und kurze Anzeigen. 829
ganz zu verdrängen, die vielmehr noch im 6. Jahrhundert unsrer Aora sich
mit jener zu ziemlich gleichen Fl'alften in die Bevölkerung der Insel theilen
musste, — und zwar dies ungeachtet des Umstandes, dass „aller Wahr-
scheinlichkeit nach das Christenthum von Rom aus nach Sicilien gekom-
men," „die älteste christliche Kirchensprache in Sicilien die lateinische
gewesen ist." Einige Thatsaohen lassen „auf ein ziemlich gespanntes Ver-
hältniss der beiden Nationalitäten auf der Insel gegen Ende des 6. Jahr-
hunderts schliessen" (S. XXXIII, wo der Druckfehler 7 statt 6 zu berich-
tigen ist), eine Spannung, welche, obgleich Hartwig dies nicht ausdrücklich
bemerkt, doch ohne Zweifel auch seiner Ansicht nach von der im Laufe
jenes Jahrhunderts erfolgten Eroberung Siciliens seitens der Byzantiner
herrührt. Die Losreissung der sicilianischen Kirche von Rom und ihre Ver-
bindung mit Constantinopel im Anfang des 8. Jahrhunderts musste dann,
zusammen mit der politischen Herrschaft der Byzantiner, natürlich ein Zu-
rücktreten der lateinischen .Sprache und der sie redenden Nationalität auf
Sicilien herbeiführen." Geistliche Reden, die in Syrakus, Catania und
TerraciTia gehalten worden und auf uns «rekommen sind, sind in griechi-
scher Sprache abgefasst. Ebenso sind die Ilorailien des Theophanes Ke-
ranieus, die Geschichte der Manichäer von Petrus Siculus und die Werke
anderer Sicilianer des 9. Jahrhunderts ausschliesslich in griechischer Sprache
geschrieben (S. XXXIII)." Die Eroberung Siciliens durch die Araber und
deren Herrschaft auf der Insel, welche beide christliche Bekenntnisse, beide
abendländische Nationalitäten in gleicher Weise drückte, wenn sie auch bei
den Griechen auf ungleich zäheren AVIderstHud stiess als bei den Lateinern,
trug selbstverständlich nicht dazu bei, die lateinische Sprache neu zu be-
leben, und so ist aus dieser Zeit kein einziges sicilisches Denkmal in der-
selben auf uns gekommen.. Diese Thatsachen berechtigten den Verfasser
dazu, S. XXXV den Satz auszusprechen, in dessen Aufstellung und Be-
gründung eins der wesentlichsten Verdienste der Abhandlung beruht, den
Satz nämlich: „dass sich die lateinische Sprache Im 10. und 11. Jahrhun-
dert" auf Sicilien „nur in den untersten Volksclassen behauptet hat."
Nun folgte in der zweiten Hälfte des letztgenannten Jahrhunderts die
Eroberung durch die Normannen. Dieses Volk, welches schon längst die franzö-
sische Sprache angenommen hatte, war anfänglich eifrigst bemüht, dieselbe
auch In Unteritalien zu verbreite'^. Die Normannen aber wurden von nicht
unbeträchtlichen Schaaren von Oberitalienern, den schon erwähnten „Lom-
barden," als Bundesgenossen begleitet. Wie erklärt es sich unter diesen
Umständen nun , dass die sicilianische Bevölkerung aus der normannischen
Eroberung als eine im Grossen und Ganzen einheitliche, einen süditalieni-
schen Dialekt redende Nationalität hervorging, eine Nationalität, deren Bil-
dungsprocess schon unter dem Hohenstaufen Friedrich II. der Hauptsache
nach vollzogen erscheint?
Wir fragen hier nicht nach den besonderen Bedingungen, unter wel-
chen ein so rascher Aufschwung des sicilianischen Nationalgefühls, eine so
frühzeitige Blüthe der italienischen Literatur auf der Insel möglich wurde.
Die Andeutungen, welche Hartwig in dieser Beziehung giebt (S. XLV — L),
wollen wir dem Leser selbst nachzulesen überlassen. Wir fragen hier nur
nach dem ethnologischen Element, welches innerhalb so kurzer, noch nicht
150 Jahre umfassender Frist der vlelgemlscliten Bevölkerung SIcilieus sein
Gepräge für die Dauer aufgedrückt hat. Dieses Element erkennt der Ver-
fasser In Ueberelnstimmung mit Amari, ohne jedoch durch Letztirn auf diese
Ansicht geführt zu sein . in zahlreichen Schaaren von Unteritalienern,
welche im Gefolge der Normannen nach Sicilien eingewandert seien ; eine
Annahme, welche theils durch Zeugnisse arabischer Schriftsteller, theils
durch eine ganze Anzahl sicilischer Städtenamen, namentlich aber durch
die Einheit der Sprache Siciliens und Unteritaliens gestützt wird. Diese
Einwanderer seien dann mit den Ueberresten der lateinischen Race auf der
330 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
Insel, deren Dialekt wahrscheinlich dem ihrigen verwandt gewesen, rasch zu
einem Volke zusammengewacbsen.
Im Ganzen müssen wir uns mit den Ausführungen des Verfassers
durchaus einverstanden erklären. Nur will es uns zuweilen scheinen, als
ob er jene „Ueberreste der lateinischen Race" doch gar zu gering an-
schlug, als ob er die Folgen der elahrhunderte lang andauernden römischen
Herrschaft auf der Insel in ihrer Nachhaltigkeit unterschätzt und dafür den
unteritalienischen Einwanderungen seit der normannischen Eroberung eine
Intensivität der Wirkung beilegt, welche über das Maass der Wahrschein-
lichkeit hinausreicht. Uass der lateinisch redende Theil der Bevölkerung
im 11. Jahrhundert nur in den untersten Volksclassen zu suchen gewesen
sei, haben wir ihm bereitwillig eingeräumt. Wenn er aber (S. XXXVIII f.)
sagt: „Es lässt sich keine Stelle aus einem Chronisten jener Zeit oder aus
einer bisher bekannten Urkunde beibringen, die uns zu der an sich un-
wahrsclieinlichen Annahme nöthigte, es hätten in Sicilien zur Zeit der Erobe-
rung der Insel durch die Araber und wähi'end der Herrschaft dieses Volkes
grössere Gemeinden mit einer Vulgärlatein redenden Be-
völkerung* bestanden," so erinnern wir ihn daran, dass andrerseits nach
seinem eijrenen Geständniss (S. XLIV) die normannischen Chronisten von
Einwanderung zahlreicher Schaaren von Unteritalienern nach Sicilien ebenso
nichts berichten, während wir in Bezug auf die doch ohne Zweifel viel we-
niger zahlreichen „Lombarden" hinlänglich unterrichtet sind.
Im Zusammenhang mit dieser Hauptfrage scheinen uns noch ein paar
von dem Verfasser beregte Punkte der Aufhellung zu bedürfen. S. XXVIII
sagt H. mit Rücksicht auf die Einwanderung der soeben genannten „Lom-
barden:" „Wäre nicht schon in jener Zeit (al. um den Ausgang des 11. Jahr-
hunderts) der unteritalienische Dialect, von dem der sicilische ein Zweig
ist, auf der Insel herrschend gewesen, so würde er gewiss mit dem lombar-
dischen zusamniengellossen sein." Wie stimmt dies zu der Ansicht, dass
der Stamm, dem Sicilien seine Sprache vorzugsweise verdankt, erst etwa
gleichzeitig mit jenen Lombarden dahin eingewandert sei? Weiter, was
haben wir uns unter den lateinischen (latini) Bewohnern von Patti zu den-
ken, für welche 1133 eine Urkunde aus dem Latein in die Vulgärsprache
(d. h. nach dem Verfasser: in den sicilianischen Dialekt) übersetzt werden
musste, um ihnen verständlich zu sein? Und was unter den homines latinae
linguae, welche eine noch ältere, auf das Jahr 1080 zurückgehende Urkunde
erwähnt (vgl. a. a. O. Anni. VX)? Endlich möchten wir noch fragen, wie
verhält es sich mit den von Vigo um! anderen patriotischen Sicilianern her-
ausgegebenen sicilianischen Volksliedern ? Sind sie alle ohne Ausnahme
echt, d. h. wirkliche Volkslieder? Ist z. B. die Strophe eclit, welche H.
S. XXI (nach Vigo S. "282) mittheilt, und die sich auf die Wiederherstel-
lung der Bilderverehrung und das „Fest der Orthodoxie" beziehen muss?
In dem Fall bliebe uns nur folgende Alternative: entweder wir hätten ein
„Volkslied" vor uns, welches aus dem ursprünglich Griechischen später in
das Sicilianische übertratren wurde, oder ein sicilianisches Volkslied, welches
in seiner romanischen, wenn auch vielfach veränderten Form bis ins 9. Jahr-
hundert zurückreichte. Die erstere Annahme wäre an und für sich höchst
bedenklich; die letztere würde eine grössere Tenacität des lateinischen Ele-
ments auf Sicilien beweisen, als man nach H.'s Darstellung anzunehmen ge-
neigt sein möchte.
Gegen den Schluss der Einleitung wendet der Herausseber sich zu den
Märchen, welche den Inhalt des Buclis bilden, um die Frage zu beantwor-
ten, in wiefern die von ihnen dargebotenen historischeu Anhaltspunkte zu
der vorgetragenen Theorie von der Entstehung der gegenwärtig in Sicilien
* Von uns unterstrichen.
Beurt!ieilun2,en und kurze Anzeigen. 331
herrschenden Nationalität stimmen. Es zeigt sich, dass sie derselben we-
nigstens nicht widersprechen, wenn auch aus ihnen sich keine eigentlich
neue Argumente für die aufgestellte Hypothese ergeben. Diesem Theile der
Abhandlung hätten wir eine etwas grössere, mehr auf das Einzelne einge-
hende Ausjführlichkeit gewünscht, jedoch würde Dr. H. in dem Fall etwas
Anderes geHefert haben, als er zu liefern beabsichtigte, und wir haben alle
Ursache, mit dem, was uns geboten wird, recht zufriedem zu sein.
B. t. B.
Dr. Hermann Franz : The EngHsh Spelling Book and First
ßeader. Intended as an Introduction to the Eeading of
the English Language. Fourth Edition. Eevised and
considerably enlarged. Berlin, W. Weber.
Spelling^book heisst Buchstabirbuch, Fibel, Lesebuch, und die Be-
griffe, welche mit allen (h-ci Wörtern zu verknüpfen sind, finden sich in
dem Buche des Professor Franz verwirkliclit. Sehen wir, icas das Buch
enthält und v-ie es sich mit dem Inhalt verhält!
Es zerfällt in zwei Theile. Der erstere geht in der neuen, der vierten
Auflage bis Seite 67, der zweite von 67 — 156. In jenem ist eine Anlei-
tung geboten, sich mit denj Lesen englischer Wörter zu befi-eunden; die-
ser, aufweichen sich der Zusatztitpl First Reader mitbeziehen soll, liefert
Stoflf zur Leetüre, oder, um in der Titelwahl Plate's zu verweilen, Spring-
flowers from the English Literature. Ein Lesebuch für Unterclassen. Da-
bei auf etwa sieben Seiten Gedichte, an der Spitze den Blind Roy,
für welchen Franz und Schmitz dieselben liebevollen Gefühle hegen, da sie
ihn beide an den Anfang ihrer kleinen Gt^dichtauslese gestellt haben. Dann
ausser dem Blind auch noch den Wandering Boy; ferner South ey 's
ausgezeichnet feines Gedicht The Battle of Blenheim. von dessen tiefe-
rem Sinn die leichtlebige Jugend, welche es lernt und cleclamirt, so wenig
Notiz nimmt; sodann das gemüthliclie We are seven und Casabianca
von F. Hemans , die Verherrlichung jugendlichen Muthes eines 13jährigen
Knaben , so dass das Gedicht sehr gut als drittes im Bunde die Ueber-
schrift The Heroical Boj' führen könnte. W^as, nebenbei gesagt, den
Ausdruck First Reader in seiner Zusammenstellung mit Spelling-Buck be-
trifft, so ist die Bedent'mg zwar leiclit aus den so betitelten Büchern selber
zu entnehmen; aber wenn man wissen will, welches die congruente deutsche
Uebersetzung davon ist. so sucht man in unsern Wörterbüchern vergebens
danach. Weder Flügel, noch Lucas , noch Hoppe haben diese Verbindung.
Gehen wir weiter auf den Inhalt, zunädist den der ersten Abtheilung,
ein! Begonnen ist mit dein Alphabet, welchem imnöthig die Freiich Sounds
beigedruckt ,«ind: dahinter steht Walker"s Table of the Simple and
Diphthongal Vowels. ungeeignet zur Benutzimg beim Unterricht, der
zunächst höidistens die Key-words davon heranziehen kann : darauf S. 4
die Diphthongs, eine dem Inhalte nach falsche Benennung; es hätte
Digraphs darüber stellen müssen; denn ai in captain und ea in bread
repräsentiren phonetisch nur einfaclie Laute. Hierauf Seite 5 eine Ueber-
sicht über den Lautwerth der Consonanten, welche an dieser Stelle gleich-
falls für den Unterricht nicht verwerthbar ist, und sodann von S. 7 — 28 die
Einübung der Vocale , von S. 28 40 diejenige der Consonanten in der
Art, dass jede Schattirung des Lautes durch eine Keihe von Wörtern zur
Einübung dargestellt ist. Jede Seite ist in drei Columnen gespalten, auf
welchen die einzelnen ^V(n■ter unter einander stehend gruppirt sind. Von
Seite 42 — 67 hat der Verfasser lange Listen von Wörtern mit Bezug auf
332 Beurtlielluiigen und kurze Anzeigen.
die Zahl ihrer Silben und die Stelle des Accents aufgeführt. Er beginnt
Seite 42 mit „Words of two syllables accented on the first," und schliesst
mit „Words of seven and eight syllables, marked with the proper accent"
auf Seite 67. Dazwischen stehen auf Seite 40—42 „Lessons, consisting of
-words of one syllable," eine Sammlung einzelner Sätze und zwei Fibelge-
schichten.
Wie ist Franz auf die Idee dieser Arrangirung des ersten Theils , des
eigentlichen Spelling-Book, gekommen ?
Woher hat er den Stoff"?
Wie verhält es sich mit der Verwerthung des Gegebenen?
Prof. Franz hat längere Zeit in England gelebt, auch, so viel ich weiss,
in dem Hau.«e d'Israelis. Ich erinnere mich von ihm gehört zu haben, wie
dieser Staatsmann ihn auf die Natur des englischen Diphthongen i in I find
und dergleichen aufmerksam gemacht habe. Sicher ist, dass Franz vor-
treff'lich englisch sprach und aussprach , was nicht allen Deutschen eigen-
thümlich ist, die sich in England aufgehalten haben. Es ist natürlich, dass
Prof. Franz dort enghsche Spelling-books zu Gesicht bekam und es ist
daher leicht zu erklären, dass er auf den Gedanken kam, die Einrichtung
dieser auf die englische Jugend berechneter Bücher für den Unterricht
deutscher Schüler zu benutzen.
Woher er den Inhalt des ersten Abschnittes seines Buches entnom-
men, hat mich eine Vergleichung mit Mavor's English Spelling-
Book, accompanied by a Progressive Series ofEasy and Fa-
miliär Lessons, intended as an Introduction to the Reading
and Spelling of the English Language, London, W. Tegg(A, New
Edition, 1861) gelehrt. Idee und Inhalt des Buches von Franz ist grossen-
theils Idee und Inhalt des Buches von Mavor. welches halb Fibel, halb
Lesebuch, ausserdem aber noch mit hübschen Bildern geziert ist, von denen
ich Kunstfreunden besonders das Titelbild , eine Darstellung, wie Schulmei-
ster, Schuhneisterin und ein head-boy im Lehren begriffen sind, zum Be-
sehen empfehle. Doch ist bei Franz in der Anordnung der Wörter für die
Aussprache der Vocale eine bequemere und mehr unseren Bedürfnissen
entsprechende Gruppirung , wie denn überhaupt dabei dem Verfasser nur
der Vorrath an Wörtern zu Statten gekommen zu sein scheint, die Zusara-
menreihung derselben ist seine eigene Arbeit und sein eigenes Verdienst.
Mit gleicher oder noch grösserer Selbständigkeit ist Franz mit dem Vor-
führen der Consonanten verfahren, für deren Anordnung er bei Mavor
für seine Zwecke keinen Anhalt , sondern nur das Wörter-Material fand.
Mavor und Franz gemeinsam ist die singulare Verwendung des Zeichens ",
z. B. co"-py. Damit markirt man sonst den Hauptaccent, z. B. as"-sen-
ta'-tor. Franz benutzt die beiden Striche nach folgender Anmerkung auf
Seite 10: „The double accent means that the following consonant is to be
pronounced in both syllables, as co"-py = coppy." Mavor sagt desgleichen
(Seite 31): „The double ac<;ent ("), when it unavoidably occurs, shows
that the following consonant is to be pronounced in both syllables, as co"-
py, pronounced coppy."
Schon von Schmitz ist darauf aufmerksam gemacht worden , dass es
mit Doppelconsonanten eine eigene Bewandtniss habe. Sie sind eher
für das Auge als für die Sprachwerkzeuge da. Spreche ich im Französi-
schen allumer aus, so lautet es a-lu-mer, d. h. nur ein 1 wird gesprochen,
und wenn die französischen Orthoöpisten meinen, man spreche unter ande-
ren in allegorie zwei 1 aus, so kann höchsteus eine solche Aussprache
damit verstanden sein, dass der Laut des 1 sich zwischen beiden Sylben ver-
theilt. Denn um wirklich doppeltes 1 oder doppeltes p zu sprechen, müsste
man zweimal ansetzen. Beobachtet man aber die Bewegung der Lippen
bei dem Aussprechen z. B. von copy, so sieht man, dass bei der ersten
Silbe die Lippen sich schliessen, bei der zweiten sich öffnen, und den Laut
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 333
des p nicht zum zweiten Mal von Neuem produciren, sondern den in der
ersten Sylbe angefangenen nur weiter und austonen lassen. Und so ist es
durchweg auch in unserer Sprache, wenn wir Halle, Kappe, spannen
und (lergl. sagen. Der eigentUche Sinn jener Bemerkung und Bezeichnung
bei Mavor und bei Franz liegt darin, dass man den vorangehenden kurzen
Vocallaut und den folgenden Consonanten scharf intoniren soll.
Zu verwundern ist, dass Franz Seite 7 und 8 blosse Silben als Lese-
übung gegeben hat:
bla ble bli blo blu bly
bra bre bri bro bru bry u. s. w.
Nur an Wörtern haben wir Deutsche die fremde Aussprache zu üben.
Es ist dies derselbe Missgriff" wie bei Ploetz an der schönen Stelle des
Syllabaire, Lection 1 0 :
cla cle cli clo clu cra cre cro cri cru
oder Lection 38 :
qua que que qui qui quoi quar quer quir quor
oder Lection 3:
bou dou fou lou mou nou pou rou tou von.
In Betreff des Französischen erklären sich solche Fibelsachen aus der
verkehrten Gewohnheit, unsere Kinder französisch bereits in einem Alter
lernen zu lassen, wo sie oft noch nicht ordentlicli deutsch lesen können.
Da hängt es mit der Bonnenwirthschaft zusammen. Was aber das Eng-
lische angeht, so ist zu bedenken, dass durchschnittlich und namentlich auf
Anstalten, welche Herr Franz im Auge haben konnte, das Englische erst
als Lehrgegenstaud auftritt, wenn Schüler und Schülerinnen die deutsche
Fibel bereits eine Eeihe von Jahren hinter sich haben. Bei Mavor ist es
etwas Anderes. Sein Buch ist für den ersten Unterricht überhaupt und für
Kinder als Fibel geschrieben.
Von Seite 49 an, wo die Listen mehrsilbiger ^^'örter mit Bezug auf
die verschiedenen Stellen des Accents beginnen, ist die Uebereinstimmung
von Franz und Mavor am meisten in die Augen fallend, nur dass der
deutsche Verarbeiter hin und wieder einzelne Wörter weggelassen oder
auch hinzugefügt hat. Fortgelassen hat er auch die bei Mavor zwischen
den einzelnen Listen eingeschobenen Entertaining and instructive Les-
sons, z. B. Seite 46. zur Probe des entertaining:
The dog barks. The lion roars.
The calf bleats. Sheep also bleat.
Ich komme nun zu der dritten Frage: Wie verhält es sich mit der
Verwerthung des Gegebenen?
Ich stimme mit dem Verfasser vollkommen darin überein, dass das Le-
sen des Enghscheu methodisch zu lernen sei. Ich halte die beliebte Art,
den Schülern die englischen Wörter bloss vorzusprechen , nachdem ihnen
das Wichtigste über die englischen Laute erklärt ist, und sie im Verlauf der
Lehrstunden bloss auf gelegentliches Verbessern von Seiten des Lehrers
anzuweisen, für ganz verfehlt, weil mich tägliche Erfahrung lehrt, dass bei
einem solchen Verfahren nichts herauskommt. Ich gebe auch zu, dass ein
Durcharbeiten der ersten Abtheilung des Buches von Franz den Schüler
gut in die englischen Lautverhältnisse einführt und ihn die richtige Aus-
sprache einer grossen Menge von AVörtern kennen lehrt. Aber der Kern
der Sache ist dem Prof. Franz entgangen, ebenso wie, im Vorbeigehen ge-
sagt, Hrn. Dr. Rudolph Degenhardt, der zwar Recht hat, wenn er
sich darüber wundert, auf der letzten Seite eines Elementarwerks der eng-
lischen Sprache noch Wörter wie Fame, hag, haimless, deep mit Beziffe-
rung der Aussprache zu finden, von der Nothwendigkeit aber ebenso wenig
wie von der richtigen Verwerthung einer Aussprachebezeichnung zum Er-
lernen des Englischen eine richtige Vorstellung hat. Angenommen, ein
Schüler habe die erste Abtheilung des Franz'schen Lehrbuches durchgemacht.
334 Beurtheiluügeu uuii kurze Anzeigen.
Er treibt Lectüre; er präparirt sich auf einen Abschnitt. Selbstverständ-
lich weiss er, ungeachtet der Vorübung in dem Leitfaden von Franz, viele
Wörter nicht iiuszusprechen. Soll er dafür nur auf die Belehrung seines
Lehrers in der Stunde angewiesen sein?
Nein, er muss durch methodischen Unterricht in der Aussprache
schon vom ersten Monat an befähigt worden sein, sich mit Hülfe iles \\ ör-
ti-rbuchs über die Aussprache jedes Wortes zu vergewissern. Und dazu
braucht er von vornherein eine Anleitung und Unterweisung, welche darauf
begründet ist, ihn mit Hülfe irgend welcher Aussprachebezeichnung, die aber
mit der in einem verbreiteten VVörterbuche angewandten übereinstimmen
umss, selbständig zu machen, so fiass er unabhängig von Lehrern oder Eng-
ländern sich spater selber jedes ^\ ort herausfinden und richtig sprechen
kann. Ith will hier nicht weiter auf diesen Vunkt eingehen, wer sich dafür
interessirt, findet Ausführliches in der Vorrede zu meinem Buche über die
englische Aussprache. *
Auch einen theoretischen Irrthum des Herrn Franz habe ich noch zu
erwähnen. In der Vorrede sagt er mit Bezug auf ein Excerpt aus
Walker: „If this is the way to proceed for ihe English themselves, why should
not we proceed in the sanie manner?" Gerade im Gegentlieil, der Einge-
borene bedarf zur Erlernung seiner Sprache ganz anderer Hülfsmittel als
der Fremde, der sich jene Sprache aneignen will. Es involvirt dit-s densel-
ben Fehlgriff, den man gemacht hat oder noch macht — denn das Falsche
ist zähe — indem man für den französischen Unterricht von Franzosen in
ihrer Muttersprache geschriebene Grammatiken, z. B. die Grammaire von
Noel und Chapsal, die Aubertin für seine eigenen Landsleute unbrauch-
bar findet, benutzte oder noch benutzt. Ich glaune mich über diesen Punkt
nicht weiter auslassen zu brauchen , da die Ansichten darüber jetzt wohl
ziemlich geklärt sind.
Die Wörter in dem Spelling-book von Franz sind alle ohne die
deutsche Bedeutung. Das ist ein Mangel. Ich hatte Gelegenheit, vor
mehreren Jahren dem verstorbenen Verfasser mein Befremden darüber zu
äussern. Er gab mir in der Sache Recht und erklärte das Fehlen der
deutschen Wörter andeutend dadurch, dass der Umfang des Buches gegen
Wunsch und Absicht grösser geworden sein würde. Es schien mir, als ob
Rücksicht auf den Verleger obwaltete, wie es ja so häufig der Fall ist, dass
der Verfasser nicht nach vollem Wunsche sein ^^'erk ausführen kann.
Indem ich hier die Besprechung der ersten Abtheilung schliesse, füge
ich nur noch hinzu, dass die Benutzung solcher englischen Spelling-books
für Jemand, der in der Aussprache schon Bescheid weiss, manches Inter-
essante und Instructive bietet. Von weit grösserem Werthe als Mavor ist
in dieser Hinsicht das 1866 zu Boston erschienene Pronouncing Spelling-
Book for Beginners and Advanced Classes, containing a new and improved
System of Notation by Epes Sargent. (Preis 22'/^ Sgr.)
Ueber die zweite Abtheilung, das Lesebuch, habe ich nur wenig zu
sagen. In den früheren Auflagen hatte Herr Franz aus Mavor das Lese-
siück „Industry and Indolence. A Tale by Dr. Percival." Diese Geschichte
findet sich nicht mehr in der vierten Auflage. Ebenso ist fortgelassen The
Provencal Tale und Columbus befure the Council at Salamanca. Hinzuge-
fügt ist dagegen „A Voyage among the Tree-tops. — The iMundurucu dis-
courses of Monkeys. — Alice Dacre. — The Pass of Thermopylae. — The
*Alb. Be necke: English Vocabulary and EnghsU Pronunciation.
Deutscii-engllsches Vocabular und methodische Anleitung zum Erlernen der
englischen Aussprache. Mit durchgängiger Bezeichnung der Aussprache.
Preis 18 Sgr. Verlag der Riegel'schen Buchhandlung zu Potsdam.
Beurtlieilungen und kurze Anzeigen. 385
Petitloners for Pardon. — Butter. — The longest night in a Life." Auch
mit der AVahl der Gedichte ist eine Aeuderung vorgenommen.
Ein Inhaltsverzeichniss fehlt.
Den Schluss des Buches macht der Abschnitt „Abbreviations etc.,"
circa eine Seite.
Die Hinzufügung des zweiten Theils, der Leseslücke, beweist, dass der
Verfasser das Publikum kannte. Hätte er nur die Aussprache-Abtheilung
drucken lassen, so würden sich weniger Freunde seiner Arbeit gefunden
haben. Denn man trifft im Allgemeinen auf eine energische Apathie in Be-
treff'methodischer, d. h. sorgfaltiger und correcter Aneignung der Aus-
sprache.
Druck, Format und sonstige Ausstattung dieser vierten Auflage,
welche im Verlage von W. \\ eber in Berlin erschienen ist, während die
vorangehenden Auflagen im Verlage von F. Schneider herausgegeben wor-
elen waren, stechen vortheilhaft gegen die früheren Ausgaben ab.
Mein Urtheil aber über das Buch im Grossen und Ganzen kann ich
dahin aussprechen, dass es sich sowohl in seinem ersten als auch in seinem
zweiten Theile für die Schule und für Privatunterricht gut verwerthen lässt.
Berlin. Alb. Benecke,
E. MarggrafF: Precis de l'Hlstoire d'Allemagne. Berlin, bei
F, A. Herbig.
Wir führen unseren Lesern hier die beiden Geschichtsbücher des Pro-
fessor Marggrafl' vor, von denen der erste Theil die deatsclie Geschichte
bis zum westphälischen Frieden, der zweite, mit dem Speciaititel „Hi-
stoire de Brandebouri^ et de Prusse," diä Geschichte unseres engeren Va-
terlandes bis zum Jahre 1867 enthält.
Wir haben diese beiden Schriften nicht als Geschichtswerke an sich,
sondern als Geschichtsbücher, die in französischer Sprache für Deutsche,
speciell für die Schule, verfasst sind, zu betrachten. Die Stellung des Ver-
fassers als Professor am College Royal Fran^ais zu Berlin erklärt das Er-
scheinen dieser ßürher.
Bui der bekannten Art und Weise, wie ein grosser Theil der Franzosen
geschichtliche Thatsachen in glatten Sätzen und staunenswerther Unbeküm-
mertheit um den eigentlichen Sachverhalt darzustellen pflegt, ist es selbst-
verständlich, dass, wenn einmal auf einer s o wie das fs anzösische Gynuia-
sium zu Berlin organisirten Lehranstalt ein in französischer Sprache ge-
schriebenes Geschichtsbuch zu Grunde zu legen ist, ein solches Buch aus
deutschem Geiste, deutscher Auflassung und Gründlichkeit heraus geschrie-
ben sein muss. Es liegt in der Natur der Verhältnisse , dass ein Franzose
nicht für die Aufgabe geeignet ist, eine deutsche , noch weniger eine bran^
denbur^isch-preussische (iescliichte für die Schule zu verfassen.
Unter diesen Umständen ist es eine verdienstliche Arbeit des Professor
Marggrafl', das was uns und unserer Jugend in Betreff geschichtlicher Kennt-
niss am nächsten liegt, die Kunde unseres deuts(;hen Landes und unseres
Heimathreiches, wenn es doch einmal aus Gründen, mit denen wir hier nicht
zu rechten haben, in fremdem Idiom geschehensoll, s o vorzuführen, wie
sie uns in seinen beiden Büchern vorliegt.
Die Brauchbarkeit dieser beiden Geschichtsbücher erstreckt sich aber
auch über die Verwendung auf dem College fran(,uiis hinaus. Ich stimme
dem Verfasser bei, wenn er in der Vorrede ( Seconde Partie, page III) sagt,
dass sie sowohl zur Leetüre in den französischen Lehrstunden, wie auch als
336 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
Stoff zu Sprechübungen dienen können , „exercices qui , a ce qu'il semble,
ne pourraient pas avoir de sujet plus interessant et plus convenable que
riiistoirc nationale."
l'jinzelne Abschnitte eignen sich sehr gut zu Vorträgen in den oberen
Chissen, namentlich auch auf Realschulen für die sogenannten Relationen,
und da, wo Privatlectüre verlangt wird, kann der Lehrer mit gutem Recht
die beiden Marggraff'schen Bücher empfehlen.
Von deutschen Quellen hat Professor Marggraff unter anderen David
Müller, Geschichte des deutschen Volks, und F. Voigt, Geschichte des
brandenburgisch-preussischen Volkes, benutzt. Speciell für die Zeit der Er-
hebung Preussens 1813 und für den Krieg von 1815 hat er mehrere Par-
tien den beiden bedeutenden Werken von Charras, Histoire de la guerre
de 1813 en Allemagne und Histoire de la campagne de 1815 entlehnen
können. Wir unterschreiben gern das Lob, welches der Verfasser diesem
fremden Historiker spendet, von welchem er sagt, dass er zuerst unter den
Franzosen , seiner Ansicht nach , sich der schwierigen Aufgabe unterzogen
hat, bei der Darstellung jener Kriege den Deutschen gereclit zu werden.
Eine sehr angenehme Zugabe zu beiden Büchern sind zwei entspre-
chende Geschichtstabellen, die eine „Tableau chronologique de l'Histoire
d'Allemagne" dreizehn, die andere „Tableau chronologique de l'Histoire de
Braudebourg et de Prusse" circa acht Seiten umfassend.
Berlin. Alb. Benecke.
Trait^ de Versification fraiKjaise par Gustave Weigand, docteur
en Philosophie, professeur au College moderne de Brom-
berg, membre correspondant de la Societe de l'etude des
langues modernes h, Berlin. Nouv. edition revue et aug-
rnentee. Bromberg, 1871.
Jusqu'b, ces derniers temps , c'etait une opinion universellement admise
que la langue fran(^aise est depourvue d'accent tonique, ou cjue du moins
cet accent y est si faible que la poesie n'en tient aucun compte. Des lors
la mesure du vers fran^ais ne consisterait que dans le nombre des syllabes,
sans distinction de longues ni de breves , non plus que de syllabes accen-
tuees ou inaccentuees.
Les travau.x des philologues modernes sur le procede d'apres lequel
les langues romanes et en particulier le francjais se sont formes du latin,
ont fait attacher plus d'importance ä l'accent tonique, qui a ete reconnu
etre la clef de tout le Systeme.
En mcme temps , les savants qui se sont occupes de la versification
frantj'aise ont aper(ju le röle c[ue ce meme accent est en droit d'y revendi-
quer. Cette decouv«rte, dont l'Italien Scoppa et M. Quicherat peuvent se
partager Ihonneur, a ete siirtout completee par Paul Ackermann.
Ameliorer le traite de versification fran^aise de Quicherat, „le meilleur
livre et le plus detaille sur cette matiere," en l'enrichissant du resultat des
etudes nouvelles de Paul Ackermann, tel a ete le but principal que s'est
propose M. Gustave Weigand dans un nouveau traite de versification
fran(;aise public en 1861, et dont une nouvelle edition vient de paraitre.
Tout en rendant pleinement hommage aux qualites qui distinguent ce
nouveau traite, surtout a l'ordre et a la clarte qui y regnent, et qui sont
encoi-e une des ameliorations que M. Weigand s'est eßorce d'apporter au
livre de Quicherat, j'oserai me permettre de ])ropo-ier modestement h Tauteur
quelques doutes au sujet de l'importance qu il attribue au role de l'accent
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 337
tonique et surtout au sujet de l'utilite pratique des röjjles qu'il fonde sur
cet acccnt. La reaction contre Tanclen Systeme ne l'aurait-elle pas entrain^
dans quelque exag^ration?
Que les ob?ervations modernes sur les effets de l'accent tonique plus
ou nioins multiplie, plus ou moins bien distribue dans le vers, soient l'expli-
cation scientifique des causes qui contribuent a Tharmonie de la poesie
fran9aise, je l'admets bien volontiers. Mais n'y a-t-il pas de l'exageration
k fonder Ik-dessus des regles absolues, que l'on mette sur une meine ligne
avec etiles qui concernent le metre du vers, la rime, la c^sure etc. ? JJ'y en
a-t-il pas surtout ä leur donner la premiere place dans un traite pratique
de versificution?
La seule consideration que tous les poetes fran^ais depuis Malherbe
jusaqu'ii Voltaire ont ignore ces regles et n'ont pas laisse de faire d'ad-
mirbles vers, tandis qu'ils n'auraient pu en faire un seul s'ils n'eussent ätä
parfaiti'ment instruits de tout ce qui concerne le metre, la rime, la cesure
etc., prouve qu'il y a entre ces deux classes de regles une diff'erence essen-
tielle , que les secondes sont des lois rigoureuses, tandis que les premi^res
sont de simples couseils, subordonnes ix la decision supreme du goüt et de
l'oreille.
L'auteur lui-meme accorde, §. 37, que les regles qu'il pose peuvent etre
violdes en vue d'un eff'et determine k produire. Cela seul prouve qu'elles
ne sont pas comparables aux autres, dont aucun efi'et ä produire n'autorisera
jamais la violation.
L'auteur admet aussi, §. 31, que l'accent oratoire peut ne pas coincider
avec l'accent tonique. Je crois qu'il faut aller plus loin et dire que la
diciion oratoire annale tres-souvent l'accent tonique pour faire ressortir des
syllabes non accentue'es d'apres les regles de la grammaire. Rien ne serait
insupportable comme une reoitation dans laquelle on ne tiendrait compte
que de Taccent tonique. Je n'en veux pour exemple que trois ou quatre
vers de Racine cites au §. 32 et dans lesquels l'auteur a signale par des
italiques les syllabes accentuees.
Que les temps sont chan^/es .' Sitot que de ce jour
Que sur iwiis son courroux ne soit pres d'ecla^er.
Ou jneme s'empressön< aux Siwteh de BaoZ
Welas! l'etat hovrible oü le ciel me lofinV ....
Ces vers recites sur la scene avec l'accent oratoire deviendront:
Que les temps sont c/mnges ! ^'liot que de ce jour
Que sur vous son courroux ne soit pres d'eclater.
Ou mmie s'em^jj-essant aux öwtels de Baal
Tfelas ! l'etat Aorrible oü le ciel me Toffrit
Mais des lors, n'est-on pas dans la necessite de conclure que la place
assigneo dans le vers k, l'accent tonique n'a rien d'absolu et que le deplace-
ment de l'accent ne detruit nullement l'harmonie du vers? — Que l'accent
soit tonique ou oratoire, fonde sur la Constitution du mot ou sur lexpres-
sion de la passion, qu'importe? Au fond, dans Tun comme dans l'autre cas,
11 consiste dans une elevation de la voix accompagnee souvent du prolonge-
ment de la syllabe. La facilite, ou meme la necessite de deplacer l'accent
tonique en lui substituant l'accent oratoire, peut donc faire que des vers
qui ne seraient point conformes aux typcs poses §. 37 — 40 et §. 118 — 167
ne soient point pour cela depourvus d'harmonie. C'est ce que l'auteur
semble avoir senti lui-meme: car, tout en blämant, §. 123, la distribution
des accents dans ces vers de Racine
Je crains Dieu, eher Ahner, et n'ai point d'autre crainte.
He/öS.' Dien voit mon cceur: plüt k ce Dieu puissant
il indique entre parentheses la recitation „Je crains Dieu," et „Dieu voll
mon cGnir," oü les accents d'un effet desagreable sont supprimes.
Archiv f. n. Sprachen. XLVIII. 22
338 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
N'eüt-il pas 6te mieux d^s lors. dans un traite pratique de versification
fran^aise, de ne pas donner la premiere place, ni peut-etre tant de develop-
pemeiit, h des regles plus theoriques que pratiques qu'un poete ne saurait,
lorsqu'il tonipose, avoir präsentes ä l'esprit de la merae maniere qu'il doit
y avoir presentes les lois concernant le metre, la cesure et la riine. II me
eerable qu'apres comme avant les nouveaux traites de versification, les poetes
continueront a proceder comme faisaient Racine et Boileau, sans se prdoc-
cuper directement de Taccent, et sans consulter h. cet dgard d'autre guide
que l'oreille et le goüt.
M. Weigand avoue modestement dans sa preface qu'il a pris Quicherat
pour guide et qu'il lui a meme emprunte des definitions, des regles et des
notices historiques qui lui ont paru justes et exactes. Toutefois la compa-
raison des deux ouvrages m'a demontre que l'imitation differe assez du
modele pour pouvoir etre regardee comme une ceuvre originale. Elle est
surtout beaucoup plus riebe en citations et en exemplos. Mais je me suis
demande a quoi attribuer Tomission complete du chapitre de l'Harmonie
imitative, si interessant dans Quicherat. 11 est vrai que cette matiere est
accidentellement, je ne dirai pas traitee, mais effleuree dans le livre de
M. Weigand, h occasion de l'accent § 37, et de la cacophonie, §. 320.
Quelques observations de detail pour terminer.
Aux exemples de licences gramniaticales citees page 243 note 2, l'au-
teur aurait pu ajouter le vers de Reboul dans la delicieuse piece intitulee
VAnge et VEnfant:
Charmant enfant qui me ressemble,
Viens, nous serons heureux ensemble.
C'est une preuve de plus de la justesse de la critique dont le
Systeme fran9ais de la rime est l'ohjet §. 6?. L'orthographe ressetnble'i satis-
ferait aux exigences de la grammaire sans ancun prejudice pour l'oreille.
Rensemble n'est donc requis que pour les yeux. II est tres-f'ächeux que
dans ce conflit entre la grammaire et une superfluite teile que la rime
pour l'oeil, ce soit la grammaire que l'usage ait sacrifiee.
L'incorrection signalee page 2.')7 dans ce vers de Lamartine
Ton travail en ce monde et le pain dont tu vive ....
a disparu dans mon edition (1862).
Ton travail iei bas, de quel pain ton Corps vive.
Les fautes contre Taccord du participe passe reprochees au meme poete
page 259:
Ah! combien de baisers d'une bouche secrete
Sur la page sacree a 7-efw le poete !
Car Dieu vous a creh par couple un sort commun,
me paraissent etre de pures erreurs typographiques dont le poete n'est
point responsable. En elTet, dans les deux cas, le pluriel comme le sin-
gulier, refu, refus, cre^, cre^s, repondent ä toutes les exigences de la ver-
sification.
P. de ßivifere.
Alb. Benecke , Die französische Aussprache in methodischer
Darstellung und schulmässiger Fassung. Für Schul- und
Privatunterricht. Zugleich als Handbuch für Lehrer der
französischen Sprache und zum Selbstunterricht. (Preis
121/2 Sgr.) Potsdam, 1871. Verlag von August Stein.
Das vorliegende Buch haben wir seinem Inhalte und seiner Bestim-
mung nach zu betrachten, und zu beurtheilen, welcher Werth dieser neuen
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 839
Arbeit des Verfassers in vvissenschaftliclier und pädagogischer Hinsicht^ beizu-
messen ist, eines Mannes, der bekanntlich seit Jahren in der erfolgreichsten
Weise der Aussprache des Englischen und Französischen ein besonderes
Studium widmet.
Das Buch zerfallt in zwei Abtheilungen. Die erste, von Seite 1 — 73,
enthält die verschiedenen phonetischen Erscheinungen, Lautgesetze, Aus-
spracheregeln, mit denen der Lernende bekannt werden muss, um Franzö-
sisch correct zu lesen, in einer Darstellung, welche den theoretischen und
praktischen Anforderungen gleichmässig gerecht zu werden sucht. P^s wird
nicht nur die Lautregel aufgestellf, die Natur des betreffenden Lautes so
fassbar als möglich mit Vergleichang des deutschen Lautes klar gemacht,
und eine hinreichende Anzahl einzelner Beispiele, welchen durch das
ganze Buch hindurch die deutsche Bedeutung beigedruckt
ist, hinzugefügt, sondern auch von vorn herein das Auftreten des franzö-
sischen Wortes im Satze mit in Betracht gezogen. Denn von dem Ge-
danken ausgehend, dass nicht das Aussprechen des einzelnen Wortes, son-
dern das Sprechen und Lesen des Satzes Lehrziel sein müsse, sind den
Ausspracheregeln bereits von der vierten Seite an Sammlungen von Sätzeu
beigegeben, in welchen die in den Regeln gelehrten Einzelheiten in ihrer
Function innerhalb des Satzes von neuem auftreten.
Ehe vAr jedoch auf diese Eigenthümlichkeit des Buches näher eingehen,
ist es nÖthig, die Anordnung und Reihenfolge der Paragraphen über
die Aussprache selber kennen zu lernen. Der wichtigste Punkt, auf den
wir hierbei aufmerksam zu machen haben, ist, dass es sich der Verfasser
zur Aufgabe gestellt hat, ein W^ort erst dann vorzuführen, wenn die darin
enthaltenen Lautelemente im Vorangehenden erklärt sind. _ Dabei handelte
es sich nun in Betreff des Aufangsparagraphen um denjenigen Vocal, von
welchem aus die Reihe der Laute allmählich zu entwickeln war. Alle Gründe
sprachen für das e, als denjenigen Vocal, welcher im Französischen unter
allen Lauten am häufigsten erscheint. Nachdem daher im § 1 das Alphabet
gegeben war, beginnt § 2 mit dem e oJme Accent; es folgt_ § 3 efermi,
§ 5—7 e ouvert und dann in den zunächst folgenden Abschnitten die Aus-
f^prache des a, des o (nebst au und eau), des i und y, des u, des ou u. s. w.
Im Ansciiluss an diese Vocale folgen § 18 die nasalen Vocale, § 20 u. 21
die Laute, welche durch eu, oeu und oi dargestellt werden; § 22 der Son
mouille, worauf dann in § 23 die Aussprache der Consonanten mit s und z
beginnt, zu c und g, zu q, j und ch weitergeht, und demnächst die übrigen
Consonanten sich anreihen.
Die ersten Paragraphen mussten für den Verfasser die schwierigsten
sein, da die Wahl der Beispiele dadurch sehr eingeengt war,_ dass ausser
dem zu lehrenden e, zunäch^t e sourd (muet), kein Buchstabe in den zu be-
sprechenden ^^■örtern vorkommen durfte, welcher eine Lautdißerenz^ vom
Deutschen _ aufwies. Freilich minderte sich diese Schwierigkeit rnit jedem
neuen Paragraphen, doch sind wir überzeugt, dass die ersten 14 Seiten etwa
dem Verfasser grosse Mühe des Suchens und AVählens gemacht haben
müssen. Es ist vielleicht zum ersten Male in diesem Buche eine solche
Anordnung des Aussprachestoffes gegeben worden, dass irgend ein Wort
erst dann auftreten darf, wenn, ausser dem eben zu erklärenden Laute, alle
anderen Lautelemente desselben in vorangehenden Paragraphen gelehrt
sind. Der Verfasser lässt sich darüber auf Seite VII der Vorrede folgen-
dermaassen aus:
„Es war das Bestreben des Unterzeichneten, gewissermaassen in
mathematischer Weise der Aufeinanderfolge einen Gegenstand des
Unterrichts von einer Gleichgültigkeit und Willkür der Behandlung
loszulösen, welche seiner Ansicht nach die Quelle der dürftigen Aus-
sprache des Französischen unter uns sind. Man sehe in die franzö-
sischen Lehrbücher hinein und überzeuge ^sich, wie gegen das von
22*
840 Bcurtheilungea und kurze Anzeigen.
dem Verfasser durchgeführte Princip der systematischen Reihenfolge
die Wörter so beh'ebig gewählt sind, diiss ein Laut gelehrt wird,
zwei oder drei aber vorausgesetzt, übergangen oder dem Vor-
sprechen überlassen werden. Ich wähle eine neuere Grammatik und
finde in Lection I, Seite 1 :
Aussprache der Vocale.
a, i, 0 lauten wie im Deutschen.
Unter den Beispielen figuriren sable. , table mit den schwersten
aller Endungen (ble, bre, tre u. dergl.), dann mit s, ferner flamme,
ohne Angabe, dass a in sable und flamme gedehnt, in table kurz oder
mindestens douteux ist. In einer anderen kürzlich erschienenen
Grammatik stehen schon auf der ersten Seite: pere, cheval, soeur,
table, fils, fille, tante, crayon, robe, cahier, plnme, livre, poire, fleur,
homme, oncle, encre, habit, enfant, hotel, image, honneur, d, h. so
ziemlich die meisten Laute.
Und so ist es durchweg."
Jedoch hat sich der Verfasser gehütet , in dieser Consequenz doctrinär
zu werden. Wo er gemeint hat, dass an irgend einer Stelle dieses oder
jenes Wort mit einem noch nicht erklärten Laute der Classification wegen
guten Platz hätte, hat er entweder kleinen Druck, oder die eckige Klammer,
oder sonstige Beihülfen gegeben, um einen solchen FtiU als einen aus der
Consequenz der Reihenfolge heraustretenden zu markiren. So z. B. in
§ 10 liie ganze Nummer 3.
Wir kehren jetzt zu den Sätzen zurück, in welchen der Verfasser die
in den bezüglichen Kegeln vorkommenden AVörter verwerthet hat. Wir
werden ihm beistimmen müssen, dass eine solche Zugabe von Uebungsfätzen
in einem methodischen Lehrbuch der französischen Aussprache am Platze
ist. Wenn er aber nicht bloss französische, sondern auch deutsche Uebungs-
sätze hinzugefügt hat, so ist dies sowohl aus dem Grunde geschehen, den
Uebungen die grösstmögliche Mannigfaltigkeit und Verwendbarkeit zu ver-
leihen, als auch mit Hinsicht auf eine neben der Aussprache liegende Ver-
werthung des Stoffes, wovon wir roch sprechen werden.
Eine besondere Erwähnung verdienen die Regeln über die Verthei-
lung der Silben bei der Aussprache und über den Accent (Seite 2),
desgleichen die Behandlung der Bindung (liaison) S. 13 und S. 55 — 61, so-
wie das Kapitel vom h, worin der Verfasser in einer Anmerkung die Be-
zeichnung h muette und h aspire'e heftig angreift.
Die in den französischen Uebungsstücken vorkommenden Wörter sind
ausserdem in einem alphabetischen Verzeiijhniss von Seite 61 — 73 zusam-
mengestellt.
Die zweite Äbtheilung
des Buches von Seite 77 — 141 enthält unter dem Titel „Uebersicht-
liche Zusammenstellung der Regeln der französischen Aus-
sprache. Mit besonderer Berücksichtigung der Einzelheiten
und Ausnahmen" ausser dem in der ersten Section behandelten Aus-
sprachestoff" vielfache Erweiterungen, aber keine Uebungsaufgaben. War in
der ersten Abtheilung vorwiegend auf das unumgänglich Nothwendige Rück-
sicht genommen, so sind in diesem zweiten Tiieile daneben die Einzelfälle
sorgfältig beachtet, hauptsächlich die Eigennamen, unter denen auch so
manche von Personen, welche die neueste Zeit interessant gemacht, ihre
Stelle gefanden haben. Die Lehre von der Vertheilung der Consonanten
auf die einzelnen Silben, und die Accentregeln treten darin vollständiger
auf; den Bemerkungen zum Son nasal ist ein Abschnitt über die Entstehung
und das Hervorbringen disses Lautes beigefügt; die Aussprache des s, des
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 341
c und g, des ch, des m und des p und dergl. ist hier weit detaillirter be-
arbeitet. Von anderen bemerkenswertheu Capiteln heben wir noch folgende
hervor :
Weiche Consonanten als Endlaute (S. 122).
Die Endungen le und re (S. 124).
Die Aussprache der Zahlen (S. 125).
Die Aussprache von f, bes. von cerf, nerf, oeuf, boeuf, clef (S. 129).
Die Aussprache von gens, sens, moeurs, lis, plus, tous (S. 131).
Alphabetisches Verzeichniss von Wörtern mit gewissen Eigenthümlich-
keiten und Unregelmässigkeiten der Aussprache (S. 135 — 141).
In Abschnitten, welche durch kleineren Druck speciell für den Lehrer
und Fachmann kenntlich gemacht sind , stellt der Verfasser ausserdem die
Angaben der Autoritäten, aufweiche er sich bezieht, mit Beifügung der
eigenen Worte der betreffenden Orthoepisten (Dubroca , Malvin-Cazal, Le-
saint, Littre, Feline, Maigne) zusammen , so dass sich der Lesende ein ge-
naues Urtheil bilden kann, wie es sich mit der heutigen Aussprache dieses
oder jenes Wortes verhält, und welchen Gebrauch er zu adoptiren hat.
Üeber die Bestimmung und die Verwerthung des Buches bietet
zunächst der Titel den nöthigen Anhalt für das, was der Verfasser damit
bezweckt. Er hat sich ausserdem in der Vorrede näher darüber geäussert,
indem er erklärt, dass sein Hülfsbuch in folgender Weise verwerthet werden
könne:
„Erstens, von den Lehrern der französischen Sprache,
welche darin nicht nur eine bequeme, praktische Anleitung finden,
wie sie die Aussprache mit Schülern zu behandeln haben, sondern
auch einen Nachweis über die Natur der Laute und Auskunft über
alle wichtigeren Einzelfälle, welche zum Nachschlagen oder Nach-
fragen veranlassen.
Zweitens, zum Selbstunterricht. Wer Französisch treibt,
hat ein Interesse daran, sich eine gute Aussprache anzueignen. Die-
ses Aussprachebuch ist so abgefasst, dass jemand auch bei ganz ge-
ringen Vorkenntnissen sich selbständig den Inhalt zum Eigenthum
machen kann. Selbst für jemand, der erst Französisch zu lernen an-
fängt, genügt es, sich von einem Franzosen oder sonst der Sprache
Kundigen die französischen Vocallaute einüben zu lassen, um dann
im Stande zu sein, ganz allein, ohne fremde Hülfe, das Buch Seite
für Seite durchzuarbeiten.
Drittens, zum Schulunterricht. Auf höheren Lehranstalten
wie Gymnasien, Real- und höheren Töchterschulen, wird ein Buch
der Art in der Hand der Scliüler und Schülerinnen den Lehrer in
den Stand setzen, seinen Zöglingen zu einer Reinheit und Eleganz
der Aussprache zu verhelfen, die mit den bisherigen Mitteln nicht
möglich gewesen ist, weil die theoretische Einsicht in die Natur der
Laute und in die Art der Hervorbringung derselben fehlte. Die Dar-
stellung ist so einfach gehalten, dass ohne zeitraubende Besprechung
von Seiten der Lehrer die einzelnen Abschnitte wie Le(;ons eines
Vocabulars verwerthet werden können. Aber der Gewinn ist ein
doppelter: einmal das Erlernen des Wortes und dann das genaue
Erkennen und Wissen seiner Aussprache. In der Hand gewandter
Lehrer und Sachkenner wird die Benutzung dieses Aussprachebuches
dem Unterricht überhaupt eine ganz andere Färbung und höheres
Interesse verleihen.
Viertens, zum Privatunterricht. Die Menge derer, welche
in Privatstunden französische Sprache und Feinheit der Aussprache
zu erlernen streben, werden an diesem Buche ein Hülfsmittel besitzen,
welches ihnen und denen, die sie unterrichten, die Mühe des Lernens
und Lehrens wesentlich erleichtern kann. Sowohl die Lehrer deut-
342 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
scher Nationalität, als auch die geborenen Franzosen und Französin-
nen, welche Unterrifht an Deutsche ertheilen, können überzeugt sein,
dass sie mit Benutzung des Buches auffallend bessfre Resultate als
durch blosses Vorsprechen und gelegentliches Verbessern erzielen
werden. Es genügt nicht, den Laut bloss vorgesprochen zu hören,
man muss auch wissen, wie er hervorgebracht wird. Und das
lehrt eben das Buch in einfachster und ausreichendster Weise.
Die Lehrer, welche sieh bisher für ihre Zwecke der zerstreuten
und zusammenhanglosen Bemerkungen einer Anweisung für Sylla-
baires u. dgl. bedient haben, finden in dem vorliegenden Aussprache-
buche den Gegenstand in planmässiger , übersichtHcher und scbul-
mässiger Ordnung und Darstellung."
Weil der Verfasser mit Vorliebe die Idee verfolgt hat, dass die erete
Abtheilung seines Buches zugleich eine allgemein sprachliche Grundlage für
das Erlernen des Französischen, abgesehen von dem Aneignen der Aus-
sprache, bieten könnte, hat er daneben die Formenlehre soweit berücksich-
tigt, da'ss die Schüler von der Grammatik soviel, als zum Uebersetzen der
Uebungsstücke erforderlich ist, mitbekommt. Doch ist darauf aufmerksam
zu machen, dass dieser- Gesichtspunkt nur als ein zweiter, neben- und unter-
geordneter erscheint. Wird ein solches Buch dem Anfiing.=unterricbte zu
Grunde gelegt, so gewährt es für den darauf folgenden stricten gramma-
tischen Unterricht eine willkommene Basis ; wird es in einer Classe benutzt,
in welcher die Schüler bereits die Formenlehre hinreichend kennen, so bietet es
unter Umständen dem Lehrer gelegentliches Material auch zu Exercitien
und Extemporalien. Jedenfalls ist es als eine Zugabe anzusehen , welche
dem Lehrer vollkommen freie Hand lässt. Wem es geeignet scheint, der
mag davon Gebrauch machen; wer es allein auf die Aussprache absieht,
kann die Sätze, namentlich die deutschen, bei Seite lassen. Die Einthei-
luno- des Buches in zwei für sich bestehende Partien, sowie die Anordnung
und Vertheilung des Aussprachestoffes ist eine derartige, dass verschiedene
Interessen und divergiremle Ansichten dabei ihre Rechnung finden können.
Auf allgemeine und allseitige Zustimmung bei methodisch angelegten
Büchern zu rechnen, wäre ein Verkennen des Publicums.
Wir haben im Vorstehenden den Inhalt der beiden Abtheilungen des
französischen Aussprachebuches von Benecke angegeben. Fassen wir das,
was der Verfasser giebt, und wie er es giebt, bei unserer Beurtheilung
zusammen in's Auge, so haben wir uns dahin zu äussern, dass Stoff und
Behandlung des Gegenstandes die Aufmerksamkeit des Fachmannes in hohem
Grade verdienen. Einer grossen Zahl von Lesern, welche der phonetischen
Seite der Sprache gerade kein specielles Studium widmen, wird es bequem
sein, in jenem Buche sichere Auskunft über die Natur der französischen
Laute, viele Andeutungen der Art und Weise, wie man die Aussprache beim
Unterrichte zu behandeln und worauf man sein Augenmerk zu richten hat,
und eine so eingehende Berücksichtigung der Einzelheiten zu finden, dass
sie bei der Leetüre nicht leicht auf Wörter stossen werden, deren Aus-
sprache sie nicht aus dem Aussprachwerk von Benecke entnehmen könn-
ten. — Ein genaues Inhaltsverzeichniss und eine kurze Angabe des Inhalts
oben auf der Seite erleichtert das Auff"inden. Wir können daher den Leh-
rern der französischen Sprache empfehlen, von dem Buche Kenntniss zu
nehmen, und sich durch eigenen Einblick von der Zweckmässigkeit dessel-
ben für Lehrerzwecke sowie für Unterrichtsziele im Allgemeinen beim Be-
treiben der französischen Sprache zu überzeugen. Abgesehen aber von der
Bequemlichkeit, welche das Buch dem Lehrer, der im Französischen zu un-
terrichten hat, für eigene Zwecke gewährt , ist es für den Schüler, und
namentlich für den der oberen Klassen, zur Aneignung correcter Aussprache
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 343
ein Hülfsbucli, welches ihm auch noch nach der Schulzeit ein zuverlässiger
Rathgeber sein wird.
Man giebt soviel auf die Aussprache; die Aussprache allein erweckt
schon ein günstiges oder nacbtheiliges Urtbeil über jemandes Kenntniss
einer modernen Sprache, und doch geschieht im Ganzen wenig, um Cor-
rectheit darin zu schalTen. Mögen die Lehrer nun die einzelnen Ab-
schnitte des trefflichen Buches von Benecke wie Lepons eines Vocabulars
behandeln, oder mögen sie bei der LectUre und bei Sprechübungen die
V'eranlassung, welche falsch ausgesprochene Wörter geben, dazu benutzen,
den bezüglichen Paragraphen des Buches aufschlagen zu lassen: die Anwen-
dung eines gedruckten Aussprachematerials wird eine weit grössere Sicher-
htit des Aussprechens erzielen lassen, als gelegentliche, einmalige Be-
merkungen.
Wir sind der Ansicht, dass es sich wohl lohnt, die Arbeit des Herrn
Benecke für die Zwecke, welche der Titel angiebt, zu berücksichtigen.
Der praktische Gesichtspunkt tritt überall hervor, dabei aber nicht minder
das Bestreben des Verfassers, die lautliche Erscheinung in ihrem Entstehen
zu erklären und zu begründen, so dass der wissenschaftlichen Seite Kech-
nung getragen wird, ohne das leichte Verständniss und das, was der Ver-
fasser das „Scliulmässige" nennt, zu benachtheiligen. Wir verweisen Bei-
spiels halber auf § 17 der 2. Abtheilung.
Die Ausstattung des Buches ist in jeder Beziehung sehr gut und der
Tüchtigkeit des Werkes ganz entsprechend, welches Referent schliesslich
den Berufsgenossen recht warm empfiehlt.
H.
Programmenschau.
Analyse der französischen Verbalformen für den Zweck des
Unterrichts. Von Dr. Lücking, Oberlehrer. Programm
der Louisenstädtischen Gewerbeschule zu Berlin , Ostern
1871.
Die Arbeit von Dr. Lücking zerfällt in 4 Theile: 1. eine Einleitung,
in der die bisjetzt herrschenden Methoden, das Verb zu lehren, durchge-
nommen werden; 2. eine Untersuchung der Verbalforraen in Bezug auf den
Lautwandel und dazu die Neubildungen; 3. eine Untersuchung der Verbal-
formen in Bezug auf den Bedeutungswandel der Suffixe; 4. eine Analyse
für den Schulunterricht, der ein Nachwort zugefügt ist.
L Die jetzt her rschenden Methoden.
Zunächst spricht Herr Lücking von der gewöhnlichen Lehrart, bei der
die sogenannten Ableitungsregeln angewandt werden; hierbei nimmt er an,
dass die meisten Lehrer beim regelmassigen Verb Stamm und Eniung un-
terscheiden, und erst beim unregelmässigen Verb jenen ..Plunder von Ab-
leitungsregeln" in Anwendung bringen. Diese Annahme halte ich für falsch.
Gerade für das regelmässige Verb lassen sich die Ableitungsregeln ver-
werthen, und alle Grammatiken, ohne Ausnahme, wollen sie dort schon ver-
werthet wissen. Aber die Ableitungsregeln sind verschieden, besonders in
einem Hauptpunkte; nur wenige Grammatiken nämlich lehren, dass der Subj.
du l'r^sent von der 3. Pers. Plur. Ind. du Present herzuleiten sei, sondern
bilden ihn aus dem Participe präsent und treffen damit zufällig das Rich-
tige; denn gerade in dieser Form ist der S tamra des Verbs unversehrt,
wie er im Subj. du Pres, gebraucht wird, erhalten. So lehren u. a. Borrel,
Stiffelius, Toussaint-Langenscheidt, Girault-Duvivier, Noel und Chapsal, wäh-
rend sich jene unglückliche Ableitungsregel von der 3. Pers. Plur. Ind. du
Present ausser bei Plötz, bei Knebel und bei Grüner findet. Andere heben,
ohne sich auf die historische Grammatik zu stützen, die Endungen richtig
vom Stamm ab und geben sie für die einzelnen Conjugationen an. Recht
verständig geht dabei Meidinger zu Werke; besonders zu beachten ist die
auch sonst recht empfehlenswerthe Grammatik von D'Hargues. Diese Un-
terschiede in der gewöhnlichen Methode hätte Hr. Lücking anführen müs-
sen, statt nur die allerschlechteste herauszusuchen und zu bekämpfen.
Programmenschau. 345
Ausser dieser gewöhnlichen Methode .führt Hr. Lücking zweitens die
Methode an, welche ich in der kleinen Schrift: ' „Das französische Verbum
für die Schule bearbeitet," befolge, bei der ich mich besonders mit Anwen-
dung der trivialsten Lautveränderunssgesetze der historischen Grammatik
möglichst zu nähern gesucht habe : ob ihm zugleich die von Dr. Bratuscheck
für die Friedr. Werd. Gewerbeschule gedruckten „Conjugationsgesetze"
vorgelegen haben, l'asst sich nicht ersehen. Hr. L. nimmt besonders an die-
sen Lautgesetzen Anstoss. Er greift eins heraus, in welchem es heisst:
„SS vor t fällt fort," dass also il palit dadurch gebildet worden sei, dass t
an den Stamm paliss getreten ist und dieser nun sein ss verloren und dafür
einen Circonflex auf dem i erhalten habe. Ein paliss-t, sagt er, hat es nie
gegeben, sondern, indem die Form palit aus palisset entstand, ist erst das
e und mit ihm ein s, viel später das andere s geschwunden. Gewiss richtig;
aber ist desshalb nicht ss schliesslich in summa ausgefallen? Allerdings
ausserdem noch e ; ist das wirklich ein so grosser Verstoss, wenn wir von
dem e schweigen? "Wie lehrt denn Hr. Lücking selbst? Er sagt wörtlich
Seite 45 in seiner Schulanalyse: Die Stämme auf ss haben vor dem
Personenzeichen t kein ss. Ist dieses „Nicht haben" eine besondere
Eigenschaft jener Stämme auf ss oder eine Folge des Herantretens des t?
Doch wohl letzteres; also lehrt Hr. Lücking genau dasselbe. Hr. L. hat
nur den Versuch gemacht, die L^nrichtigkeit eines der von mir aufgestellten
Lautgesetze nachzuweisen ; ich gebe im Ganzen 20 solche Gesetze, alle nicht
erwälinten wendet Hr. Lücking — wie sogar auch das eine, welches er an-
greift — selbst an, und doch gelangt er zu dem harten Urtheil, dass mit
„dergleichen Pseudolautgesetzen" grosses Unheil angerichtet wird und dass
uni-ere Methode also jedenfalls zu verwerfen (Seite 9, oben).
II.
Die Schwierigkeit der Anal3'se der Verbalformen, sagt Hr. L. richtig,
liegt besonders darin, dass mit dem Lautwandel ein Bedeutungswandel vor
sich gegangen ist, der oft zu einem Widerspi-uch zwischen der ursprüng-
lichen Bedeutung; und der modernen Bedeutung alter Formen oder der
Reste derselben in dem jetzigen Worte führt. Während in nous aimons das
o ursprünglich Präsensstammverstärkuno- war, ns ein Rest von „ma und si,"
„ich und du," wird jetzt der ganze Comple.x ons als Personalendung em-
pfunden. Was jetzt als Modus- und Tempuscharakter oder als Personal-
eiidung empfunden wird, ist schwer zu sagen ; denn die, welche Französisch
als Muttersprache sprechen, lernen es, ohne über dergleichen nachzudenken
oder belehrt zu werden; wir aber, die wir es systematisch lernen und leh-
ren, sind ja mit H. Lücking eben dabei . eine Lehrart zu machen. Jeden-
falls jedoch hat Herr L. Recht, seine Untersuchung auf diesen wichtigen
Punkt, den Bedeutungswandel, mit auszudehnen.
Der Lautwandel, Neu- und Umbildungen.
Zum Nachweis des Lautwandels geht Hr. L. an der Hand von Schlei-
cher's Compendium der vergleichenden Grammatik mit Benutzung von Cur-
lius und Corssen die einzelnen Kategorien durch. Von der Erklärung der
^^ urzel geht er zum Wortstamm, von dem zum Verbalstamm, von dem zu
den Tempusstämmen, von den Tempusstämmen zu den neugebildeten Tem-
poribus. von denen zu den Moduselementen, dann zu den Personalendungen
und endlich zu den Verbalnominibus. Ueberall führt er Beispiele aus dem
Lateinischen an und gieht die entsprechenden französischen Formen. Das
ganze ist eine ausführliche, tleissige Zusammenstellung, die denen besonders
346 Programmenschau.
willkommen sein wird, welche nicht Gelegenheit haben, selber eingehend
jene grösseren Werke zu studieren. Bei der Durchnahme der Präsensstämme
stellt Hr. L. in vollständigster Weise alle französischen unregelmässigen
Verben den einzelnen Gattungen, zu denen sie gehören, nach. Nach Ab-
solvirung der Prä.sensstämme hält er inne, um eine Uebersicht der eingetre-
tenen Veränderungen zu geben. Er bespricht dabei zunächst die Verände-
rungen, welche der Endvocal fein solcher stand früher überall mit Aus-
nahme der Wurzel es) erlitten; der Vocal ist theils geschwunden, theils
abgeschwächt, Reste .«ind noch: o, e, e im Pluriel; e muet im Singulier.
Der Endconsonant oder die Endconsonanten unterliegen ebenfalls bedeuten-
den Aenderungen. Diese Aenderungen entsprechen natürlich den allgemei-
nen Veränderungen, die die lateinischen Consonanten in jeder Wortart er-
litten haben ; ich hätte es daher für praktisch gehalten , wenn Hr. L. die
Uebersicht jener Veränderungen nach den Buchstaben , die am Stammende
standen, gegeben hätte, wenn er also z. B. erst besprochen hätte, was aus
den Liquiden, dann was aus den Muten, was ferner aus zwei Consonanten
geworden wäre, und zwar a. vor den consonantischen, b. vor den voealischen
Endungen; «. vor den hörbaren, ß. vor den stummen Endungen. Dann
wäre er freilich genÖthigt gewesen , jene verpönten Lautgesetze auszuspre-
chen : so geräth er in eine aufzählende Breite und besonders in Wieder-
holung; wenn er später zum Part, passe kommt, so muss er vor der Endung
t dieselben Veränderungen wie vor dem t der 3. Person angeben.
Bei der Durchnahme der Perfectstämme ergiebt sich folgendes Resultat:
Fast durchgehends zeigen sich im Französischen Neubildungen von dem
Präsensstamme; erhalten hat sich: a. einfacher Perfectstamm in je fis, je
vis, je vins, je tins, je fus, also in 5 Passes definis. Dieser einfache Perfect-
stamm, welcher im Lateinischen durch Reduplication entst.-vnden ist, die
ihrerseits wieder durch Contraction geschwunden ist, unterscheidet sich nach
dem Uebergange in's Altfranzösische sehr wenig, ja gar nicht, vom Verbal-
stamme; ebenso nähert sich der Präsensstamm, soweit er durch Verbal-Suf-
fixe gebildet ist, dem Verbalstamme . so dass Perfect- und Präsensstamm
schon im Altfranzösischen kaum auseinandergehalten sind. Während z. B.
von dem Verbalstamme fac, jene Tempusstämme facj, und fec lauten, lassen
die Formen des Altfranzösischen: nous fesum (fesom), vous festes; jefesoie;
tu fesis, vous fesistes; que je fesisse etc. erkennen, dass die Lautabschwä-
chung des a und e zu e den meisten Formen von faire das Gepräge giebt,
als seien sie von einem Stamme (fes) gebildet, der dem Verbalstamme
gleich ist. Es schwindet für die Conjugation jener Unterschied
von besonderen Tempusstämmen und ersetzt sich, als man
wieder genauer auf die Formen zu achten anfing, durch einen
Unterschied allein in den Endungen der Tempora. Während
also im Lateinischen Präsens und Perfect von facere sich scharf kennzeich-
neten, jenes durch das SuflFix ja, dieses durch die Länge des e erstens und
durch das Suffix i zweitens, besitzt später das Präsens gar kein Kennzeichen
mehr, das Perfect nur noch eins, hier i, welches Hr. L. mit uns zur En-
dung des Passe d^f. jetzt rechnet. Aus je fesi, tu fesis, il fesit etc. mit
dem Ton auf der letzten Silbe, ward nun gerade, weil jetzt das i so nach-
drücklich betont werden musste, je fei =r je fi, tu fis, il fit. In nous fesons
u. ähnl. Formen hielt sich das s, weil ons lange nicht so nothwendig war
zur Charakteristik der Form, „nous" allein hätte schon genügt; später stellt
sich sogar durchgehends da, wo die Verkürzung noch nicht eingetreten ist,
das ai wieder ein; dadurch sind wir nun genöthigt und berechtigt zu sup-
poniren, dass, wenn die Ausstossung des s nicht so früh eingetreten wäre,
die Formen des Perfects zunächst je fai.si, tu faisis etc. gewesen wäre, und
wir handeln nicht unfranzösisch, wenn wir lehren: faire hat den allen For-
men gemeinschaftlichen Stamm fais, aus je faisis ward je fis. Wenn Hr. L,
also lehrt, in je fis—' hat sich der einfache Perfectstamm erhalten, so müs-
Programtnenschau. 347
sen wir dies hiernach für falsch halten. Aus den Tempusstämmen von
videre: vide u. vidi wird altfranzösisch ve u. ve'i d. h. das Perfect hat wie-
derum i als Kennzeichen, welches dem fiir alle Formen gemeinschaftlichen
Stamme ve zutritt ; wiederum absorhirte das i das schwache e, so ward aus :
je vei. tu veis etc., je vis, tu vis. Im Present lautet das e in oi um, wie
je re9ois statt je reces, und dieses oi erhält sich auch vor den betonten
Endungen, so dass schliesslich die Conjugation einen Stamm voi, der allen
Formen gemeinschaftlich ist, voraussetzen lässt; das oi lautet zurück in e
im Futur und Passe defini und im letzteren tritt dann Verkürzung ein. Die
höchst merkwürdigen Formen je vins und je tins haben nicht das i als
Kennzeichen behalten, obschon altfranzösisch der Subj. de l'lmparfait je
tenisse, je venisse hiess und tu tenis, nous tenimes, vous tenistes gebräuch-
lich .«ind : nach Wegfall des i — der erst eintrat , nachdem längst das e in
tu venis kurz geworden und somit wieder iür venir und tenir ein allen
Formen gemeinschaftlicher Stamm ven und ten sich gestaltet hatte — müss-
ten wir je viens und je tiens für das Passe defini erwarten: so hiess aber
schon das Present: möglicher AVeise ist deshalb nicht die Umlautung des
e in ie, sondern die in i (vergl. venin, venenum) eingetreten und je vins
und je tins daraus geworden; dann hätten wir hier also ein nach Art der
deutschen starken Conjugation mit Umlaut gebildetes Perfect.*
Keinenfalls knnn von einer Erhaltung des lateinischen Perfectstammes die
Rede sein. Da für fus kein Present vorhanden ist, so ist diese Form für
die Lehrart gleichgültig. Herr Lücking sagt ferner: es hat sich von früher
zusammengesetzten Perfecten der Perfectstamm erhalten in : je dis, je niis,
je ris, je conclus, j'exclus, j'assis, j'acquis, je pris. Bei je conclus und
j'exf lus ist keine Nüthigung vorhanden, den alten Perfectstamm anzunehmen,
da der Präsensstamm (nous conclu-ons) mit ihm gleichlautend geworden ist,
ebensowenig bei je ris, in dem einfach 2 i zusammengeschmolzen sind, wie
in je fui-is := je fuis. Es blieben also die 5 Formen je dis, je mis, j'assis,
j'acquis, je pris. Bei dire ist der allen Formen gemeinschaftliche Stamm
im Altfr. dis im Passe def. erhalten in ils distrent, sonst abgeschwächt zu
des, tu desis, nous desmes, que je desisse, hieraus wie bei faire tu dis,
nous dunes, que je disse, also wiederum hier kein Grund zur Annahme eines
erhaltenen Perfectstammes. Ebenso sprechen die altfranzösischen Formen
von mettre gegen die Behauptung von H. Lücking, dass man in je mis das
is als von denselben lateinischen Buchstaben in mm hergekommen betrach-
ten müsse, misi ward ganz naturgemäss mei, hieraus mi, später mis, ebenso
tu mesis, nous raeismes, vous meistes, woraus tu mis, nous mimes, vous
mites ward: nur in il mist, ils mistrent ist das Perfect-i gewichen, und
das Stamm -i ist in il mit, ils mirent daher anzuerkennen. Genau wäre
also zu lehren : je m-is, tu m-is, il mi-t, nous m-imes, vous m-ites, ils mi-rent.
Wir richten uns nach der Mehrzahl der Formen und betrachten daher das
i durchweg als Perfectzeichen. Eins ist aber zuzugeben: die im Altfran-
zösischen auftretende Neigung, allen Formen einen gleichen Stamm unter-
zulegen, hat bei mettre nicht die Kraft gehabt, die schon im Lateinischen
durch Ausfall des t im Perfect eingetretene Verkümmerung des Stammes
zu heben. Bei asseoir ist der allen Formen gemeinschaftliche Stamm asse,
hieraus, wie bei voir, j'assis, das Präsens mit Umlautung in ie: j'assieds.
Bei dem Passe def. von acquerir haben wir es nicht mit einem besonderen
Perfectstamme (ausser dem zur Endung sich schlagenden i) zu thun, da
schon im Lateinischen der Perfectstamm gleich dem Präsensstamme plus
ivi = i war, sondern mit einer dem Französischen ganz fremd gewordenen
Vertauschung des r mit s; allen Formen gemeinschaftlich ist Im Altfr. der
Stamm acquer, vor vollem i (nicht i in ions, iez) verwandelt sich r in s:
* Vergl. Vorrede zur 3. Aufl. meines französischen Verbums.
348 Programmenschau.
j'acqudsis verkürzt sich zu j'acquis. Endlich je pris: Bei prendre herrscht
die Neiorung im Altfr. vor, den Stamm pren, also einen allen Formen j:e-
meinschaftlichen Stamm, auch dem Passe def. unterzulegen; gerade wie bei
venir und tenir hielt sich auch hier (nach n?) das i nicht, es entstand je
prnis, daraus ward, da n vor s oft ausfällt, je pris ; hiernach hätten wir je
pris wie je vins und je tins als ein durch LImlaut direct vom Stamme ge-
bildetes Passe def. anzusehen; wir haben also wiederum keinen alten Per-
fectstamm.
So glauben wir denn nachp;ewiesen zu haben, dass sich nur bei je mis
von dem Auftreten eines besonderen Perfectstammes sprechen Hesse. Wir
legen auf (He vorstehende Auseinandersetzung besonderes Gewicht, weil Herr
Lücking seine Schulanalyse in einem Hauptpunkte nach dieser fehlerhaften
Anschauung der genannten Passes definis zustutzt.
Bei den neugebildeten Temporibus sagt Hr. Lücking, dass die verkürz-
ten Formen von avoir schon vor der Zusammenrückung bestanden haben ;
so lange er keine Belegstellen aus dem frühesten Altfranzösisch dafür bei-
bringen kann, so lange wird diese Behauptung eine gewagte bleiben. In
il saillera und je cueillerai, meint Herr Lücking, sei das gekürzte i zu e
abgestumpft worden ; ich halte den Hergang für einen anderen : in saiUir
wurde gerade wie in venir, tenir, mourir, courir, acquerir das i und zwar
zwischen zwei Liquiden ausgestossen (vergl. je donrai, je demeur-
rai im Altfranzösischen), so entstand saih-a = saldra = saudra, alle diese
Formen sind im Altfranz. vorhanden. Der Gegensatz von saudra zu saillir
Avar für das Sprachgefühl schliesslich zu gross geworden und man schob
nachträglich zwischen 1 und r wieder ein e ein, um das 1 vor der Ver-
wandlung in u zu schützen. Ebenso wird cueudrai wieder durch cueillerai
ersetzt. Ein gleicher Grund Hess statt il sault, il cueult (auch ohne 1 ge-
schrieben) die Formen il saille, cueille eintreten: so entstand bei saillir tres-
saillir, assaillir und cueilHr das Pres. Sing, auf e, es, e. Solche Erschei-
nungen, wo das Sprachgefühl sich stemmte gegen zu grosse Veränderungen,
durch die ausserdem eine schon vorhandene Form herausgekommen wäre,
glaube ich bei 4 anderen Formen annehmen zu dürfen. Sonderbarer Weise
nämlich werden ohne Stammverkürzung vor u gebildet issu, cousu, vetu und
ganz anomal ist gebildet vecu. Hätte man issu verkürzt, so entstand ein-
fach u eine Form von zu geringem Umfange, die ausserdem mit eu gleich-
gelautet hätte; aus vetu wäre vu geworden; statt vecu erwarten wir vivu,
daraus hätte wieder vu werden müssen.
Bei den Bemerkungen über die Personalendungen ist mir aufgefallen,
dass Hr. L. gar nicht erwähnt — worauf z. B. Diez Gewicht legt — dass
für das Antreten des s in der 1. Pers. Sing, das Nominativ-s mit von Ein-
fluss gewesen ist ; diese Ansicht hat um so mehr Wahrscheinlichkeit, als zu
derselben Zeit sich vielfach Formen der 1. Pers. Plur. ohne s finden. Ich
vermisse wiederum bei den Personalendungen Lautgesetze.
Das Part, perf., zeigt Hr. L. bei den Verbalnominibus, ist, nachdem
der eigene Stamm, den es durch Anhängung von tu an den Verbalstamm
erhalten hatte, sich wieder abgeschliffen hat, ebenfalls jetzt als von einem
gleichmässig durchgehenden Verbalstamm , der dem Präsensstamm gleich
ist, gebildet zu betrachten. Auf einen besondern lateinischen Stamm lür
das Part. perf. müsse man jedoch zurückgehen bei mis, sis, acquis, pris,
circoncis, clos. Lässt man s als Endung des Part, passe im Französischen
überhaupt zu , so sind circoncis und clos ganz regelmässig von den allen
Formen gemeinschaftlichen Stamm circoncis, clos gebildet, über die Bildung
von pris gilt dasselbe, wie über die von je pris; acquis gesteigert aus acques,
dem durchgehenden Stamme, an den kein neues s herantritt. Ob wir bei
sis eine Umlautung aus ses annehmen dürfen, die etwa eintrat, um den
Gleichklang mit den vielen ähnlichen Formen desselben Verbs zu vermeiden,
ist wohl fraglich. Für mis müssen wir die directe Einwirkung des alten
Programmenschau. 349
Part. Perf.-Stamm zugeben, blieben also höchstens 2 Participes übrig, für
die ein alter Part. Perf.-Stamm anzunehmt n wäre. Wir kommen hierauf
zurück.
Bei den vielen Neubildungen auf u erwähnt Hr. L. schliesslich ein
Lautgesetz über Stammverkürzurg vor der Endung u resp. us. Er sagt
wörtlicli: „Vor dem betonten u beharren mp, no, nd, rd, tt, ferner ss aus
X (issu) und s, vor welchem n gestanden (cousu), ausserdem die Liquiden 1,
r und der Nasal n (m kommt nicht vor), dagegen schwinden die Explosiv-
laute p, b, d, c, g, sowie der Spirant v und ein aus sc entstandenes ss oder
E." Hierbei vergisst Hr. L. vetu; ferner können wir direct nicht zugeben,
dass p, b, d, e, g schwinden, sie schwinden allerdings öfters in allen For-
men eines Verbs, also auch vor u (vergl. lire, legere — lu; croire, credere —
cru etc.), aber H. Lücking wird keinen Fall anfiihren können, wojeneCon-
sonanten allein vor u gewichen sind, während sie vor o, a stehen blieben;
dies ist nur der Fall bei Stämmen auf v, s, ss. Später in der Analyse für
die Schule sagt Hr. L. beim Passe def. : „Geht die erste Form des Stnm-
mes (Präsensstamm) nicht auf 1, II, r aus, so erscheint die zweite Form in
der Art kürzer, dass von der letzten Silbe der ersteren nur die Anfangs-
consonanten vorhanden sind;" beim Part, passe beisst es: die 3. Form des
Stammes (Part. passe-Stamm) erseheint kürzer, wenn nicht die erste Form
aut 1, 11, r, n, t (vGtiv) ausgeht. Hierbei vergisst Hr. L. alle Part, passds
der sogenannten 4. Conjugation vendu, rendu etc. Ich glaube annehmen
zu düifen, dass ich das in Rede stehende Gesetz zuerst allgemein ausge-
sprochen habe, worauf ich auch ausdiücklicli in der Vorrede der 3. Auf-
lage meines „Französ. Verbums" hingewiesen habe. Die Sache ist sehr
einfach; man braucht sich nur mechanisch alle Passes definis und alle Par-
ticipes passes auf US resp. u hinzuschreiben, so findet sich die Regel von
selbst : Sieht man nämlich ab von den oben besprochenen Formen vetu, issu,
cousu vecu, vecus, so findet man sofort, alle nicht verkürzenden Formen
haben am Stammende 1, n, r oder 2 Consonanten, alle verkürzenden Formen
dagegen haben ein s, ss, v mit vorhergehendem Vocal oder einen blossen
Vocal. Indem ich nun nicht zu entscheiden wagte, ob einige der nicht vor-
kommenden Consonanten, wie z. B. f oder p hätten ausfallen oder stehen
bleiben müssen, habe ich das Gesetz gefasst: „Endet der Stamm auf einen
Vocal oder s, ss, v mit vorhergehendem Vocal, so fällt der Vocal oder s,
SS, V mit vorhergehendem Vocal aus, wenn u als Bindevocal oder Endbuch-
stabe antritt." Zu diesem Gesetz habe ich in einer Anmerkung dann die
Fälle aufgezählt, in denen keine Veikürzung eintritt. Hr. Lücking hat den
Inhalt dieser Anmerkung zur Regel gemacht, also gelehrt, wann der Stamm
nicht verkürzt wird, hat aber, da er die Part, passes der 4. Conjugation
vergessen und ausserdem vetu, cousu, issu hinzufiezogen hat, sehr eigen-
thündiche Regeln herausgebracht. Hr. L. recapitulirt diesen Abschnitt über
den Lautwandel schliesslich dahin, dass durchgängig eine Lautschwächung
zu constatiren sei, nebenbei ein Auftreten von bedeutungslosen Lauten
(Hülfslauten). „Aber neben den aus physiologischen Bedingungen derLaut-
eizengung als unbewusste Lautscliwächungen verständlichen Umwandlungen
des Lautkörpers sind an demselben gewisse andere Veränderungen zu con-
statiren, welche ohne die Annahme eines mitwirkenden Gedankens nicht be-
grillen weiden können: es sind nämlich ziemlich häufig Formen nach dem
Muster anderer umgebildet oder auch durch Formen, welche nach dem
Muster anderer neu gebildet wurden, ersetzt worden."
III. Bedeutungswandel.
Die Untersuchung der Verbalformen in Bezug auf den Bedeutungswan-
del ist schon desshalb als werthvoll zu betrachten, weil hier wohl das erste
350 Programmenscliau.
Mal der Versuch gemacht worden ist, diese Seite gründlich zu beleuchten.
Was Hr L hier sagt, ist durchgängig klar, und, wenn ich mit den gezoge-
nen Folgerungen au'ch nicht überall einverstanden bin, so kann ich doch
diesen Abschnitt Jedem auf das Wärmste empfehlen. Hr. L. weist zunächst
darauf hin wie die Suffixe in den ältesten Sprachen selbstständige W uizeln
gewesen, die ihrerseits Träger gewisser Bedeutungen waren. „Wenn aber
auch der ursprüngliche Sinn der Suffixe noch nicht allgemein festgestellt
und die Entwickelung desselben noch nicht als eine gesetzmässige erwiesen
ist- so lässt sich doch soviel mit Sicherheit behaupten, dass dieselben auf
einem bestimmten Sprachgebiete in einer bestimmten Epoche der Sprach-
geschichte für das Sprachgefühl des Volkes bestimmte Bedeutungen besesseu
haben und dass diese geistigen Werthe der phonetischen Ueberreste der
Sufti.xe innerhalb der lateinischen Sprachentwickelung in einer Epoche,
welche vor die Blüthezeit der römischen Literatur fällt, sich im \\ eseut-
lichen mit den Werthen der verbalen Kategorien der Person und des ^u-
merus des Tempus und des Genus gedeckt haben. — Noch immer haften
diese Unterschiede der Bedeutung für das Sprachgefühl am Unterschiede
der Form. Aber dieselben haften an den Elementen der Formen in ganz
anderer Weise, als dies ehedem der Fall gewesen ist; die phonetischen
Ueberreste der Suffixe haben nämlich zum Theil eine von ihrer Ursprung-
liehen durchaus verschiedene Function übernommen, i^ eine Function, die
früher einem benachbarten Suff"ixe eigen war, welches entweder geschwun-
den oder selbst Träger einer anderen Beziehung des Wurzelbegriffs gewor-
den ist." Indem nun Hr. L., um Verwechslungen vorzubeugen, für Per-
sonalendungen hier beim Neufranzösischen Personalzeichen und ent-
sprechend Moduszeichen, Tempuszeichen sagt, nimmt er diese einzelnen
Kategorien durch, und indem er dabei stets danach fragt, was jetzt als das
betreffende Zeichen empfunden werde , kommt er zu Schlüssen, in denen
ihm im Allgemeinen beigestimmt werden muss, z. B. sagt er, gewiss mit
Recht in ons, ez, ent des Pres, de ITnd. sind jetzt reine Personenzeichen
zu erblicken, es sind also die Vocale o, e. e aus einer Stammverstarkung
zu einer Personenzeichenverstärkung geworden. Gegen einen Schluss muss
ich jedoch mich aussprechen. Weil, sagt Hr. L., an je croi, ich glaube, ein
s nach Analogie von je crois, ich wachse, angesetzt worden ist, so folgt,
dass man in je crois, ich wachse, das s nicht mehr als Stammausgang, son-
dern als Personenzeichen fasste. Das war so lange nicht möglich, als es
hiess je crois, tu crois, il cro'isi, denn so lange wies dass m il croi.s< aut den
Ursprung des s in je crois und tu crois bin. Als aber das s gefallen war,
rückte t in gleiche Linie mit dem s der beiden ei-ften Personen, wodurch
nun dieses s anfing als Endbuchstabe empfunden zu werden. Ganz coo-
sequent fährt Hr. L. fort, das s in tu es erlitt diese Umwandlung nicht,
weil il est noch das s des Stammes behalten hat. So plausibel uns Hr. L.
auch diese Anschauung macht, ich muss doch sagen, ich finde sie zu ge-
künstelt. Zunächst liegt gar keine Nöthigung dazu vor. Mit dem Vortre-
ten der Pronomina je, tu, il etc. hätten die Personenzeichen ganz aufhören
können- denn die Person war durch das Pronomen gekennzeichnet; ich
wüsste nicht, dass im Englischen Schwierigkeiten für das Verständniss dar-
aus erwüchsen, dass die Verbalform in: I love, we loye, you love, they
love vollkommen gleich ist. Wenn nun an je croi ich glaube ein s heran-
tritt, so geschieht dies keineswegs aus Bedürfniss nach einem Personenzei-
chen, noch auch, weil man in je crois, je fais, je connais etc das s als sol-
ches anzusehen angefangen hatte und nun je croi nicht ohne dasselbe lassen
wollte- denn als Personenzeichen bat es schon deshalb keinen grossen
Zweck, weil schon die 2. Person das s für sich in Beschlag genommen
hatte, sondern der Zusatz tritt aus rein äusserlichen Gründen, behaupte
ich, ein, nämlich um dem Ohre, welches in so sehr vielen iallen die Bin-
düng mit dem s empfand und den Hiatus nicht gern horte, zu willfahren,
Programmenschau. 35i
und um dem Auge, welches in noch mehr Fällen das s in ersten Personen
und Nominativen des Singulars geschrieben resp. später gedruckt sah^ ge-
recht zu werden. Wird also das s zu je croi nicht als Personenzeichen zu-
gesetzt, so braucht auch das s in je crois, ich wachse, wegen jenes zuge-
tretenen s nicht als Personenzeichen empfunden zu werden. Und wenn
Hr. L. das s in il croi*t als classischen Zeugen für die Herkunft des s in
den beiden ersten Personen zulässt, warum gelten ihm dann die beiden s in
nous crolssons, que je croisse, die jetzt noch da sind, nichts zum Beweise
seiner Abstammung; noch aullälliger ist die Schiefe der Aulfassung bei Ver-
ben wie produire ; hier steht fast in allen einfachen Formen noch das stamm-
hafte s (nois produi.vons ; je piodui.>;ais ; je produiiis; que je produire; que
je produi.sisse, produi^ant) und trotzdem soll es in je proiluis, tu produis
nicht mehr als stammhaft angesehen werden. Warum soll man es denn
nicht als stammhaf't anerkennen, da doch ein so deutlich fühlbares und oft
angewendetes Geseiz: s tritt nicht mehr an den Stamm, wenn derselbe
schon auf s endigt, weil eben nie ein Dopp elconson ant am Ende
eines französischen Wortes steht das iSichtantreten des Personen-
zeichens s erklärt? Ganz ebenso müsste man in les palais das s für ein
Pluralzeichen ausgeben und lehren: Von le palais heisst der Stamm im
Plural palai.
In der 3. Pers. Plur. lässt Hr. L. die jetzt empfundenen Personen-
zeichen ent sein, in dem Subjonctif aber blos nt, da dort das e als Modus-
zeichen gefühlt wird. Dieser Unterschied erschwert nachher die Lehrart
und ist unwesentlich : will man das e als Moduszeichen hier nicht fallen
lassen, so kaun man ja einfach lehren: das Moduszeichen e verschmilzt mit
dem e der Endung zu einem (vergl. I like, I liked).
Bei den Tempuszeiclien sagt Hr. L., dass die ehemaligen Suffixe a, i
nicht mehr als solche zu betrachten, sondern als Perfectzeichen anzusehen
seien; er erwähnt nicht, dass das Passe def. die reinen Endungtn mes, tes
und niclit ons, ez hat. Den Versuch einer Erklärung, warum das Sprach-
gefühl nicht die Gewalt hatte, nach Analogie der anderen Tempora auch
hier ons, ez zu setzen, hätten wir gern gesehen. Indem der bei VV^eitem
grösste Theil aller Verben einen consonantischen Auslaut in dem allen
Formen gemeinschaftlichen Stamm hatte, wie er sich im Altfranzösischen
herausbililete, das Passe def. aber fast überall einen Vocal, vor dem es
mes resp. tes behielt, ward jener Vocal zunächst natürlich als Kennzeichen
des Passe def., zugleich aber alsBindevocal empfunden, der also
damit auf gleicher Stufe mit dem o resp. e des ons und ez steht. Hätte
man nun aber entweder im Present parlames (parlomes) beibehalten oder
im Piisse def. nous parlans, vous parlaz (woraus parlez werden musste) ge-
setzt, so wäre wiederum eine zu grosse Gleichheit des Present und Passe
def. herausgekommen : hierin liegt wohl der Grund für die Beibehaltung des
mes und tes ; ja man schob sogar ein unetymologisches s in die Endungen
ames, imes, umes vor m ein, das nun mit dem etymologischen s in astes,
istes, astes zugleich als Tempuszeichen empfunden wurde und der Abscbwä-
chung des mas und tes zu ns, z mit widerstehen half. Demnach sind also
diese Buchstaben mit Träger der Kennzeichnung des Tempus geworden.
In dem rent der 3. Pers. Plur. war das r von Anfang an zu starr zur Ver-
änderung; es musste bleiben und es blieb, wie auch Hr. L. in der Schul-
analyse antiiebt, als Kennzeichen des Passe ddfini.
Die Verbalnoniina hiit Hr. L. in diesem Abschnitte ganz vergessen; es
wäre doch wichtig gewesen über das Part, passe Einiges zu sagen, dass
z. B. das e in aime früher Stammverstärkung war, jetzt aber als Endung
empfunden wird.
Bei Behandlung der Stammarten endlich, d. i. der verschiedenen For-
men des Verbalstamms mit den Verstärkungen in den einzelnen Temporibus
erhält Hr. L. das Resultat, dass als Stamm des Verbs für alle Formen,
352 Programmenschau.
bei den mit a, e, i abgeleiteten Stämmen für das moderne Sprachgefühl
nur die Wurzelsilbe übrig bleibt; ausgenommen sind die mit i ver-
stärkten Stämme, die später inchoativ wurden, bei denen iss als Stammver-
stärkung noch deutlich empfunden wird; nur im Sing. Pres., setzt Hr. L.
hinzu tritt das i als Stammverstärkung für sich allein deutlich in's Auge:
hier haben wir also dieselbe künstliche Anschauung des s In je punis , tu
punis, wie die des s in je produis, tu produis. Bei je punis ist diese An-
.schauung historisch um so ungerechtfertigter, als grade von diesen Pres.
Sinf -Formen der inchoative Zusatz begann, und man lange Zeit im Alt-
französischen die Formen der 1. und 2. Person Plur. und andere Formen,
deren Endungen mit hörbarem Vocal beginnen, noch ohne iss schrieb,
während der Sing, jenen Zusatz schon hatte (vergleiche das heutige Italie-
nisch: finisco, ßnisci, finisce; liniamo, finite, finiscono). Wozu sich solche
unnöthigen Ausnahmen schaffen? Für die anderen mit na, ma, ja, ska im
Präsens verstärkten Stämme ergiebt sich, dass die Reste dieser Sufiixe jetzt
als Wurzeltheile empfunden werden und diese so verstärkte Wurzel hegt
auch allen anderen Formen fast aller so entstandenen Verben iin^eu-
haben das Falsche dieser Ausnahmen bei den meisten dieser Passes d^tinis
und participes passes oben nachzuweisen gesucht. „Ein Unterschied," sagt
am Scbluss dieses Abschnittes Hr. L., „hat sich innerhalb des Stam-
mes dadurch gebildet, dass im Passe def. sowie im Part, passe vor einem
betonten u das oben beschriebene Schwinden von Consonanten und unbe-
tonten Vocalen des Stammes eingetreten.« Ich halte den Ausdruck „Un-
terschied innerhalb des Stammes« nicht für zutreflend; man konnte
nach diesem Ausdrucke das, was einfach Wirkung eines Lautgesetzes für
den Uebergang aus dem Lateinischen in's Französische ist, tur eine ich
möchte sagen spontane Aeusserung des Sprachgefühls in Bezug auf die Con-
jugation halten. Wie kann man die Schüler damit verwirren wollen, dass
man lehrt: von paraitre heisst der Stamm im Pres. Sing, parai, im Pres.
Plur. paraiss, im Passe def par— , im Intinitif gar parai—? Warum soll er
nicht einfach lernen: der Stamm ist durchweg paraiss, und wo er anders
erscheint, da ist die Aenderung beim Zusammentritt von paraiss mit
den verschiedenen Arten von Endungen vor sich gegangen? Freihch
muss man dann für diesen Zusammentritt ganz allgemeine Lautgesetze auf-
stellen, die unabhängig von numerus, tempus und modus sind, ja wo mög-
lich für das ganze Gebiet der Iranzöslschen Sprache gelten.
IV. Analyse für den Schulunterricht.
Hr. L. sagt im Nachwort, dass diese Analyse keineswegs dem Unter-
richte unmittelbar zu Grunde gelegt werden , sondern nur die Auffassung
normiren soll, mit deren Hülfe dem Schüler die Beherrschung der Verbal-
formen zu ermöglichen ist. Dieser nachträglichen Bemerkung gegenüber
schwebt die Kritik einigermaassen In der Luft, da gerade die Schwierigkeit
d a anfängt, wo Hr. L. aufhört, nämlich bei der genauen systematischen
Verarbeituno- der gewonnenen Resultate für den Schulunterricht. Mit einem
„Ich denke mir die Sache ungefähr so,« „ich würde es etwa so machen-
ist bei uns nichts gethan. Die Druckseiten, die für diesen letzten Ab-
schnitt verwendet worden sind, hätten hingereicht, statt des Unfertigen
etwas Fertiges zu geben. Aber hätte Hr. L. sich der Mühe unterzogen,
das „wie er lehren wolle« genau klar zu legen, so wäre er, denke ich, von
selbst darauf gekommen, das „was er lehren will« wesenthch zu modib-
ciren. Einen, allerdings sehr wichtigen, Fingerzeig über das „wie« giebt
Programmenschau. 353
Hr. L. durch die Empfehlung des Werkes von Wolfart, die Formen des
französischen Zeitworts. 2. Aufl. Magdeburg, 1845. Wir kommen am
Schluss darauf zu sprechen; betrachten wir zunächst das, was Hr. L. aut
Grund der vorhergehenden Abschnitte dem Schüler vortragen will!
§ 1. Namen der Kategorien des Verbs.
§ 2. Personenzeichen: s, s, t; ons, ez, ent; im Pass. def. : mes, tes,
ent; bei vielen Verben steht e vor s, s, t. — Dazu Anmerkungen: 1. Wann
hat die 1. Person Sing, kein s; wann tritt x statt s ein (hier sagt Hr. L.
X steht statt s nach au und eu ausser in je meus, das ist genau eins meiner
„Pseudolautgesetze;"* ich werde die Stellen, wo die anderen auftreten, nicht
weiter hervorheben; es findet sie Jeder beim Vergleich unserer Arbeiten
auf den ersten Blick heraus). 2. Wann hat die 2. Person kein s; wann tritt
X statt s ein (Wiederholung desselben Lautgesetzes). 3. Wann hat die 3.
Person kein t. Hierbei lehrt Hr. L. : es tritt kein t ein nach t, d, c, das
letzte halte ich für ein „Pseudolautgesetz," das nur für die einzige Form
il vainc zurechtgemacht ist; in anderen Fällen (l'aspect, le respect) ist es
falsch. 4., 5., 6. Die Unregelmässigkeiten bei den Personen des Pluriel
(hier kommt der besprochene Punkt, nt oder ent im Subjonctif, zur Geltung);
§ 3. Moduszeichen: e, e, e; i, i, e; Unregelmässigkeiten: ilaimätetc. ;
il ait; nous ayons; je soi-s.
§. 4. I. Tempora des Activs. Present kein Tempuszeichen; Imparfait
ai, ai, ai; i, i, ai. Passö def. a, i, u oder nichts; in der 1. und 2. Person
Pluriel ä, i, ü oder " ; in der 3. Pers. Pluriel: er, ir, ur, — r. Subj. de
rimp. ass, iss, uss oder ss; in der 3. Pers. Sing, ä, i, ü oder \
Die Frage, in welchem Verhältnisse stehen die im Passe def. auftreten-
den Verschiedenheiten zu der Infinitif-Endung, beantwortet Hr. L. durch
einfache Aufzählung: die Verben auf er haben a; die Verben auf ir haben
i, ausgenommen die und die; die Verben auf oir haben u ausgenommen die
und die ; keinen Vocal haben die und die Verben. Im Ganzen hat der
Schüler nach dieser Aufstellung 34 Passö definis, die aus dem Zusammen-
hange ihrer Verben gerissen sind, als Vocabeln zu lernen.
n. Tempora, die durch Zusammensetzung entstehen oder durch Um-
schreibung gebildet werden.
§ 5. Tempora des Passifs.
§. 6. Die Verbalnomina: Infinitif er, ir, oir oder re. (Soll die wich-
tigste aller Fragen gar nicht beantwortet werden, wie findet man aus
dem Infinitif den Stamm resp. welche Unregelmässigkeiten sind dabei
zu merken?) G^rondif ant; Part. pres. ant; Part, passe e, i, u, s oder t;
wie diese Zeichen mit der Infinitif endung zusammenhängen, beantwortet Hr.
L. ebenfalls durch Aufzählung; hier giebt es im Ganzen 47 Participes ein-
zeln zu lernen.
§ 7. Die Stämme: Der Stamm ist nicht in allen Verben un-
veränderlich; bei sehr vielen Verben treten in verschiedenen Formen
Verschiedenheiten auf; erstens solche, die auf allgemein gültigen, orthogra-
phischen Kegeln (das nenne ich Lautgesetze) beruhen ; zweitens andere
(diese anderen Verschiedenheiten sind nun — so lehre ich — ebenfalls, bis
auf ganz wenige, vereinzelte Ausnahmen, Folgen von Lautge-
setzen, welche für das Zusammentreten von Stamm und Endungen ausspre-
chen: 1. wie ändern sich die Endungen, 2. wie ändert sich der Stamm,
3. wann treten Buchstaben zwischen Stamm und Endung). Hr. L. hat die
Abweichungen in den Endbuchstaben schon in § 2 durchgenommen; hier
bei der Verschiedenheit des Stammes innerhalb desselben Verbs betrachtet
Hr. L. den Stamm in 3 verschiedenen Situationen: 1. gegenüber den En-
dungen des Present, Imparfait, Subj. du Present, Imperatif, Part, present,
* Vergl. mein Franz. Verbum. 3. Aufl., Seite 10.
Ä.rchiv f. n. Sprachen. XLVIII. 23
354 Programmenschau.
G^rondif, Infinitif ; 2. gegenüber den Endungen des Passö d^fini und Subj.
de rimparfait ; 3. gegenüber der Endung des Participe passe. £r nennt
den Stamm in diesen 3 verschiedenen Situationen: 1., 2., 3. Form des
Stammes. (Hier müssen wir fragen, warum betrachtet denn Hr. L. nicht
auch den Stamm gegenüber dem Imparfait besonders? Einfach desswegen,
lautet die Antwort, weil, wenn wir den Tempuscharacter ai (i) mit zur En-
dung rechnen, der Stamm genau derselbe ist, wie beim Present. Nun denn,
der Stamm im Part, passe ist bei etwa 6000 Verben in 5997 genau der-
selbe, wie im Present und nur in 2 Formen f mögen es auch 9 sein, wie
Hr. L. annimmt) von dem Present-Stamm verschieden, und wir sollen wegen
dieser ganz vereinzelten Formen einen besonderen Part. passe-Stamm an-
nehmen? "Wir sollen die didactisch so unendlich vortheilhafte Anschauung
„Der Stamm ist in allen Formen derselbe" aufgeben, weil in ein
einziges Passe def. (je mis) aus dem Lateinischen herübergekommen ist,
das dieser Auffassung sich nicht schickt. Wenn alle nach der deutschen
starken Conjugation gebildeten Imperfecte (ich frug) mit der Zeit in Im-
perfecte nach der schwachen Conjugation (ich fragte) übergegangen wären
bis auf eins, sagen wir auch bis auf neun, würde Hr. L. von vorn herein
eine schwache und eine starke Conjugation dem Ausländer lehren wollen?
Gewiss nicht. Und wie werden andere zusammengehörige Erscheinungen
durch diese Eintheilung zerrissen! Sind nicht il Joint und Joint; nous joig-
nons und je joignis; il conduit, conduit und conduire ihren Eigenthümlich-
keiten nach zusammengehörige Formen?)
Die erste Form des Stammes betrachtet Hr. L. zunächst genauer 1.
nach der Betonung; hierbei kommt der Wechsel von e muet in e; von 6
in e, die Umlautung (je meurs — nous mourons) zur Sprache. 2. Abwei-
chungen der ersten Form des Stammes vor der Infinitif-Endung. 3. Vor
den Endungen des Sing, du Present. 4. Vor denen des Plur. present.
5. Vor denen des Subj. du present. C. Vor denen des Part, present. (Diese
ganz äusserliche Eintheilung bringt natürlich die ermüdendsten Wieder-
holungen mit sich.)
Die zweite Form des Stammes steht entweder vor betonten (ai, is,
US, asse, isse, usse) oder unbetonten Endungen (s; sse) ; — besser wäre
wohl gewesen „vor vocalischen oder consonantischen Endungen," diese
Theilung kennt Hr. L. aber gar nicht zum grossen Schaden der Ueber-
sichtlichkeit; unter den betonten tritt hier us auf und findet daher das
Stammverkürzungsgesetz statt. Ohne Endungsvocal, also mit unbetonten
Endungen, werden die schon öfters besprochenen 9 Passes definis gebildet
(wir erkennen nur je vins, je tins, je pris [für je prins] an).
Die dritte Form des Stammes stimmt mit der ersten Form des Stam-
mes vor e, i; vor u tritt Stammverkürzung ein; vor t „lautet sie, ausser in
fri-t und Irai-t, stets anders als in der unbetonten ersten Porm
(natürlich, und wenn es nicht so wäre, müsste man sich sehr wundern, denn
t ist eine con s onantische Endung, die Endungen aber, vor denen die
erste Form des Stammes unbetont ist, sind (ausg. bei ouvrir, couvrir, offrir,
souffrir) vocalische; da nun alle Verben auf t im Part, passe, mit Aus-
nahme der obigen 4 und faire und taire, einen Stamm haben, dessen End-
buchstaben sich verschieden vor consonantischen und vocalischen Endungen
verhalten, so muss das Resultat allerdings das von H. L. angegebene sein;
aber entschieden einfacher hätte es sich dargestellt, wenn Hr. L. gesagt
hätte: die 3. Eorm des Stammes lautet stets ebenso als die betonte
erste Form, hierzu einige wenige Ausnahmen, wo das t nachträglich
weggefallen (nui etc.) und ausserdem ouvert, couvert, offert, souffert. — Von
den wenigen Part, passes auf s bleiben einige übrig, über die wir schon
gesprochen, die eine Art besonderen Stamm vom Lateinischen her behalten
haben (vielleicht nur mis) ; ihretwegen aber eine besondere Form des Stam-
Programmenschau. 355
mes für das Participe passe im Neufranzösischen anzunehmen, erscheint
uns vollkommen unnöthig.)
Schliesslich werden aller und etre besonders behandelt, ''■weil sie von
verschiedenen Grundformen gebildet werden.
Soweit das, was Hr. L. lehren will. Das Buch von Wolfart nun, auf
das uns Hr. L hmweist, damit wir darnach den Stoff gruppiren, ist ein
höchst origmelles Werk. Es erschien 1833 zuerst, und ist für diese Zeit,
ja noch tur die heutige, eine gründlich wissenschaftliche, inhaltreiche Arbeit
zu nennen, aber als Lehrbuch für Schüler ist es ein wahres pädagogisches
Monstrum. JedeRegel ist so unpraktisch und schwer als nur möglich gefasst,
kein Paradigma findet sich in dem Buche durchconjugiert, auf den schlimm^
sten i^ehler aber weisen wir mit seinen eigenen Worten (Vorrede, S VIII)
hin: „Nach memer Ansicht ist mit den beiden Futuris zu beginnen und
hat man dann zum Präsens Indicativi und so allmälig von einer Tempus-
und Modusform zur anderen überzugehen, und dürfen in den in's Deutsche
zu ubeisetzenden Aufgaben nur solche Verbalformen vorkommen, welche
schon ihre Lrldärung gefunden haben." Wohlverstanden! Wolfart redet
hier von der Gesa mmt-Conjugation, von allen Verben sollen wir erst
das l^utur undConditionnel, dann von allen Verben das Present, dann von
allen Verben das Imparfait u. s. f. lernen: ich scherze nicht. Jeder kann
sich davon durch einen Blick in das Wolfart'sche Buch überzeugen der
bchuler lernt wirklich bei ihm neben je parlerai, je punirai etc. einzeln als
Ansnahmeieviendrai; nach 2-3 Wochen lernt er neben je parle, je punis,
je viens als Ausnahme kennen; endlich nach weiteren 4 Wochen neben ie
parJai je punis, je vinsl Und diese Gruppirung empfiehlt Herr Lücking'
Dem habe ich nichts hinzuzufügen. ° ^ 6
Ich schliesse damit, dass ich die Lücking'sche Arbeit wegen des Gegen-
standes und weil der 2. und 3. Abschnitt entschiedene Anerkennung verdie-
nen nochma s empfehle, zugleich aber mein Bedauern ausspreche, "dass Hr
Luckmg m der Einleitung, der Schulanalyse und dem Nachwort etwas we-
niger gut Ueberlegtes, als man nach der Gründhchkeit der wissenschaft-
lichen Analyse erwarten konnte, uns bietet.
^^'^^^'^- Dr. Q. Steinbart.
Dr. Bärwald. Zur Erinnerung an Lazarus Geiger. Programm
der israelitischen Real- und Volksschule zu Frankfurt a. M
Ostern 1871.
2. Eugene Peschier, Lazarus Geiger. Sein Leben und Denken.
Frankfurt a. M. 1871.
Die vorliegenden Schriften sind dem Andenken eines Mannes gewid-
met, der in dem Augenblicke der Wissenschaft entrissen worden ift da
man seine Bedeutung zu ahnen und theilweise zu würdigen begann. Laza-
rus Geiger wurde im Jahre 1829 zu Frankfurt a. M. von jüdischen Eitern
geboren. Gegen seinen Willen anfangs zur buchhändlerischen Laufbahn be-
stimmt, aber nach kurzem entscheidenden Kampfe der Wissenschaft ge-
schenkt, zu der ihn ein unwiderstehlicher Trieb hinzog, liess er sich nach
dreijährigen Studien in Frankfurt a. M. nieder. Hier verfloss sein äusseres
Leben riihig und ohne Störungen. Er ertheilte anfangs wenigen Auser-
wahiten Unterricht und ward im Jahre 1861 als Lehrer für die israelitische
23*
356 Programmenschau.
Realschule gewonnen, an der er bis zu seinem Tode — 29. Aug. 1870 —
gewirkt hat. Erst zwei Jahre vor seinem Hinscheiden veröffentlichte er den
ersten Band seines Hauptwerkes „Ursprung und Entwicklung der mensch-
lichen Sprache und Vernunft," (Stuttgart bei Cotta), dem schon im folgenden
Jahre ein in sich abgeschlossenes, die Aufgabe und Endziele seines Stre-
bens entwickelndes Buch unter dem Titel „Ursprung der Sprache" folgte. —
Werke, betreffs deren ein in diesem Falle gewiss competenter Forscher,
H. Steinthal, äussert, dass ihr Verfasser ihm als der gelehrteste Sprachfor-
scher neuerer Zeit, als der gewaltigste und selbstständigste Dialektiker seit
AVilhelm von Humboldt erscheine.
Dieses Urtheil zu begründen und zugleich in die Geistesarbeit des tiefen
Denkers einzuführen, hat der Verfasser der zweitgenannten der obigen Schrif-
ten unternommen. Er zeigt uns, worin das Bahnbrechende und Schöpferische
Geigers liegt. Geiger hat sich die bisher von den bedeutendsten Sprach-
forschern als für jetzt unlösbar betrachtete Aufgabe gestellt: „die, eine Ge-
schichte der Begriffe, der Bedeutungen zu schreiben und damit zugleich
eine Lehre von der Entwicklung der Bedeutungen, die Lehre von dem in
der Sprache, welche ausserdem nur Laut ist, auftretenden Denken und
Empfinden" zu geben. Peschier zeigt uns nun zunächst, warum Geiger
hoffen konnte, diese Arbeit zu lösen und warum er sie gelöst hat, so weit
es ihm sein kurzes Leben erlaubte. An einem passend gewählten und an-
schaulich dargelegten Beispiel macht er sodann klar, wie Geiger diese Ge-
setze entdeckte und der Anwendung derselben eine lebensvolle Fülle zu ge-
ben wusste, zugleich weiht er uns in die in diesen Forschungen hervortre-
tenden Hauptideen ein, unter welchen die Ableitung der Vernunft aus der
Sprache, das völlige Auseinanderhalten von Laut und Begriff, die Einfüh-
rung des Zufalls (allerdings in tieferer, metaphysischer Begründung) viel-
leicht die originellsten sein dürfen. Die kleine mit Liebe und Verständniss
geschriebene Brochüre, an der auch eine klare und edle Form zu rühmen ist,
wird ihren Zweck gewiss erfüllen.
Während uns Peschier aus dem Leben Gelgers nur einige für die
Selbstständigkeit des Denkers und die Liebenswürdigkeit des Menschen
charakteristische Züge mitgetheilt, giebt uns die erstgenannte Schrift ein
sehr eingehendes und mit ebenso viel Wärme entworfenes Lebensbild. Dem
Director der Schule, an welcher Geiger wirkte, lag es natürlich besonders
nahe, ihn als lernend und lehrend darzustellen. Die Schrift ist reich an
Aufschlüssen über dies merkwürdige Geistesringen. Nicht ohne Wehmuth
wird man von dem liebenswerthen Bilde scheiden, das sie uns entwirft.
A. Zauritz. lieber Voltaires Charles XII. Programm der
königl. Eealscliule, Vorschule mid EHsabethschule zu
Berlin. Berlin 1870.
Dr. Ludwig Bossler, Voltaires Glaubwürdigkeit in seiner Hi-
stoire de Charles XII. Programm des fürstlichen Gym-
nasiums zu Gera. Gera 1870.
Verschiedentlich ist schon seit langer Zeit der Wunsch geäussert worden,
es möchten einmal die historischen Schriften Voltaires und insbesondere die
Programmenschau. 357
bedeutendste unter denselben, die Histoire de Charles XII. einer eingehen-
den Untersuchung in Bezug auf ihre Glaubwürdigkeit unterzogen werden.
Denn kaum sind über ein historisches Werk der modernen Literatur so
verschiedenartige, ja diametral entgegengesetzte Urtheile ausgesprochen
worden, wie iiber dieses, und wenn Voltaires Buch von einigen Literaturhi-
storikern als ein Muster historischer Darstellung gerühmt wird, so nennt ihn
der Schwede Nordberg, der nach ihm die Geschichte Karls XII. bearbeitet
hat , gradezu einen Erzlügner und bezeichnet seine Schrift als ,,un ouvrage
bien mal dirige et bien mal ecrit."
Es ist unter diesen Umständen an sich gewiss dankenswerth, wenn die
Verfasser der beiden obengenannten Programme sich der Aufgabe unterzo-
gen haben, Voltaires Biographie einmal genau zu prüfen. Obgleich beide
ganz unabhängig von einander gearbeitet haben, gehen sie doch genau den-
selben Weg: sowohl Zauritz wie Bossler beschränken sich auf eine Ver-
gleichung der Voltairischen Darstellung mit denen zweier neueren schwedi-
schen Historiker, der des schwedischen Majors Knut Lundblad und der des
Andreas Frynell. Diese schwedischen Schriftsteller haben beide archiva-
lische Quellen vor Augen gehabt, ein Urtheil über die Art und Weise, wie
sie diese Quellen benutzt haben, können aber Zauritz und Bossler um so
weniger gehabt haben, als beide Werke von ihnen nur in deutscher Ueber-
setzung benutzt sind. Schon danach wird es wohl bezweifelt werden können,
üb eine Vergleichung Voltaires mit ihnen ein sicheres Urtheil über die
Glaubwürdigkeit des Franzosen ermöglichen kann. Auch Voltaire hat un-
leugbar handschriftliche Quellen verschiedenster Art benutzt ; dazu beruft
er sich auf die Zeugnisse bedeutender und glaubwürdiger Männer, welche
Zeitgenossen Karls XII. waren und zum Theil in den intimsten persönlichen
Beziehungen zu ihm oder seinen Gegnern standen. Wenn also die Erzäh-
lung Voltaires in einzelnen Punkten von denen der schwedischen Biographen
abweicht, ist man — wenigstens nicht ohne weiteres — berechtigt (wozu
Hr. Bossler meist geneigt ist), letzteren den Vorzug zu geben. Wir werden
demgemäss beide Programme wohl als immerhin schätzbare Vorarbeiten für
eine Kritik der Voltaireschen Schrift betrachten können : definitiv erledigt
wird die Frage aber doch nur dann werden können , wenn einmal eine un-
mittelbare Vergleichung der Angaben Voltaires mit den archivalischen
Quellen nicht bloss schwedischen, sondern auch polnischen und russischen
Ursprunges wird vorgenommen werden.
Den beiden vorliegenden Untersuchungen im Einzelnen zu folgen, würde
den Raum dieser Blätter all zu sehr in Anspruch nehmen, auch unter den
obwaltenden Verhältnissen kaum erspriesslich sein. Begnügen wir uns da-
mit, das Resultat ihrer Vergleichung anzugeben. Zauritz sagt (S. 51):
eine genaue Vergleichung Voltaire's, Lundblad's und Frynell's ergiebt, dass
in den Ereignissen von 1700—1709 keine einzige Thatsache von Bedeutung
von Voltaire ausgelassen oder falsch dargestellt worden ist ; alle Abwei-
chungen beschränken sich auf „Daten, Zahlen von Truppen und dergl."
Den letzteren Abweichungen scheint Hr. Zauritz dabei eine geringere Be-
deutung zuzuschreiben , als sie doch in der That in historischen Werken
beanspruchen können, und jedenfalls würde Referent vorläufig noch anste-
hen, Voltaire's Werk mit Hrn. Zauritz als „in allen diesen erzählenden Par-
tien unübertrefflich" zu bezeichnen.
Bei Bossler vermissen wir leider ein zusammenfassendes Resume über
die Resultate seiner Vergleichung ganz: er beschränkt sich darauf, die ein-
zelnen Discrepanzen zwischen dem französischen und den schwedischen
Biographen lose aneinanderzureihen , woran er zum Schluss eine Untersu-
chung über den mysteriösen Tod des Schwedenkönigs knüpft. Dass er bei
diesen Discrepanzen gewöhnlich Voltaire's Angaben dann für irrig hält,
wenn sie von denen Frynell's abweichen, ist schon erwähnt worden. Eine
358 Programmenscliau.
Zusammenfassung"; seiner Resultate werden wir wohl in der ausführlichen
Behandlung desselben Gegenstandes zu gewärtigen haben, welche er S. 7
in Aussicht stellt.
Frankfurt a. M. Harry Bresslau.
Carl Christian Redlich, Dr., ord. Lehrer an der Realschule des
Hamburgischen Johanneum: Die poetischen Beiträge zum
„Wandsbecker Bothen" gesammelt und ihren Ver-
fassern zugewiesen. Programm der Hamburger Realschule.
1871.
Man findet noch heutzutage häuSg selbst bei literarisch nicht ganz
ungebildeten Leuten die Meinung, der „Wandsbecker Bote" sei eigent-
lich nichts,anderes, als der bekannte Privatgelehrte Matthias Claudius, der,
weil er mit kurzer Unterbrechung von 1770 — 1815 in Wandsbeck gelebt,
sich diesen Schriftstellernamen beigelegt habe. So ist's aber nun keines-
wegs der Fall. Der „Wandsbecker ßothe" war ursprünglich eine voll-
ständige Staats- und gelehrte Zeitung, welche in den Jahren 1771 — 1775
wöchentlich einmal in Wandsbeck erschien, und gleich wie der Hamb. Corre-
spondent und andere Zeitungen der Art in ihrem ersten Theil die politi-
schen Tagesbegebenheiten berichtete und besprach, in dem literarischen
Theil Gedichte, Berichte und ßecensionen brachte. Aber es hatte mit die-
ser Zeitung doch eine ganz besondere Bewandtniss. Sie sollte als sittlich
ernstes und gediegenes Blatt an die Stelle von scandalsüchtigen Schmutz-
blättern treten, die ein in Wandsbeck stattfindendes altes Privilegium be-
nutzten, um „aus Lappadria" d. h. aus Hamburg über Hamburgische Ver-
hältnisse und Personen allerlei Klatsch an den Mann zu bringen. Der be-
kannte Literat Bode hatte endlich vom Grafen Schimmelmann dies Privile-
gium erworben und die Redaction der neu zu gründenden Zeitung an Clau-
dius übertragen. Die Geschichte, die Bedeutung, die Entwickelung dieser
durch ihren eigenthümtlichen Inhalt höchst merkwürdigen Zeitung, die es auf
5 Jahrgänge gebracht, von der aber kaum mehr als ein vollständiges Exem-
plar sich erhalten hat, ist der eigentliche Gegenstand der Programmenschrift
des Herrn Dr. Redlich, welcher uns in derselben ein höchst interessantes
Singulum aus der Journalistik der siebziger Jahre geschildert hat. Er hat
aber hier zunächst unsere Aufmerksamkeit auf die poetischen Beiträge
gerichtet; es finden sich deren von Lessing, Klopstock, Stolberg, Goethe,
Voss etc., mit denen Claudius in freundschaftlicher Beziehung stand ; aber
auch von einer grossen Menge unbekannter, ungenannter, häufig unter ab-
sichtlich irre führenden Chiffern versteckter Verfasser. Dr. Redlich hat
nun sämmtliche in dem „Wandsbecker Bothen" sich findenden Ge-
dichte, so weit sie nicht in den bekannten Sammlungen der Werke ihrer
Verfasser späterhin wieder mitgetheilt und somit leicht zu finden sind, hier
von neuem abdrucken lassen. Von jedem dieser Gerüchte wird der Verfasser
nachgewiesen, und dieser Nachweis durch literarische Notizen und Citate be-
legt, in welchen der Verfasser eine ausgebreitete Kenntniss der literarischen
Verhältnisse jener Zeit und ungemeinen Scharfsinn bethätigt. In gedruck-
ten und ungedruckten Quellen aus den 70ger— 80ger Jahren zeigt er sich
wie wohl selten einer bewandert. Natürlich giebt es auch hier einige Ge-
dichte, bei denen er sich hinsichtlich des Verfassers mit einem non liquet
oder einem Fragezeichen begnügt. Irrige Angaben anderer Literaturhisto-
riker hat er nochmals nachweislich berichtigt. Allerdings sind die wenigsten
der hier wiederabgedruckten Gedichte um ihres poetischen Werthes willen
dieser Ehre würdig zu erklären; aber als literarhistorische Documente sind
Programmenschau. 359
sie zum Theil höchst interessant, und manches Blümlein darunter bringt
auch jetzt noch mit Recht dem von Redlich aufgespürten Namen ihres
vergessenen Verfassers die verdiente Ehre. Lessing nannte einmal in einem
Briefe an Ebert vom 12. Jan. 17 73 bei der Zusendung des ersten Heftes
seiner Beiträge aus der Wolfenbüttler Bibliothek, diese seine Schrift, die
ja ein ähnliches literarisches Unternehmen war, einen Mistwagen voll Moos
und Schwämmen; Ebert aber tröstet ihn darüber wegen der Wichtigkeit
dieser Schwämme, die ja doch nicht giftig wären, für die Beurtheilung des
Bodens, auf dem die Eiche gewachsen, von der sie gesammelt sind, und
wegen der interessanten Vorrede, mit welcher Lessing seine Beiträge ein-
geleitet. Beiderseitige Rechtfertigung Ebert's möge auch Herrn Dr. Red-
lich zu gute kommen, dem wir allernächstens eine correcte kritische und
durch eine Nachlese zahlreicher neuaufgefundener Paralipomena vermehrte
Ausgabe des alten Claudius werden zu verdanken haben.
R.
Miscellen,
Ueber die neue ßehandlungsweise des französischen Verburns
und die sich ihr entgegenstellenden Schwierigkeiten,
von Dr. Q. Steinbart in Berlin.
In einer zu Ostern als Programm von Dr. Beck veröffentlichten Ab-
handlung: „Die Schule in Wechselwirkung mit dem Leben" heisst es bei
Besprechung neuer Unterrichtsmethoden: „Eine neue Betrachtungs- und
Behandlungsweise dringt auf dem Gebiete der Sprache in Folge der Sprach-
vergleichung .durch. Im Griechischen wird sie bald die herrschende sein ;
mehr Kampf und Mühe wird sie im Lateinischen und Französischen kosten.
Mag man sich heute noch gegen solche Neuerungen sträuben, sie verwegen
und der Schule verderblich nennen, das wird nur so lange dauern, bis ein
Lehrergeschlecht auf den Universitäten herangebildet ist, dem diese neue
Weise der Sprachbehandlung auf den Universitäten geläufig geworden ist
und das nun auch neue und fassliche Regeln für die Jugend findet, die
neuen Spraehgesetze mundrecht macht." Dieser Ausspruch von Dr. Beck,
den ich als vollkommen richtig anerkenne, soll den Ausgangspunkt für die
vorliegende Besprechung bilden. So weit mir bekannt, ist erst für einen
kleinen Theil der französischen Grammatik der Versuch gemacht worden,
die Resultate der historischen Grammatik für die Scbulgrammatik zu ver-
werthen, nämlich für die Lehre vom Verbum; hier lag auch der Versuch
am nächsten. Noch kostet es Kampf und Mühe, um mit der neuen Be-
handlungsweise durchzudringen, die Schwierigkeiten liegen zum Theil aus-
serhalb des Gegenstandes, zum Theil in ihm selbst. Ich werde mich be-
mühen, jene ausserhalb des Gegenstandes liegenden Schwierigkeiten als
solche zu erweisen, die wir in nicht zu langer Zeit hoffen können, für
immer zu überwinden, jene im Gegenstand selbst liegenden Schwierigkeiten
aber auf ihr richtiges Maass zu beschränken, wodurch sie dann, denke ich,
als relativ gering sich herausstellen werden.
Die neue ßehandlungsweise charakterisirt sich dadurch, dass sie im Ge-
gensatz zu den bestehenden Lehrarten, sich der historischen Grammatik mög-
lichst nahe anschliessen will; „möglichst nahe," d. h. so nahe, als nicht
didactische Rücksichten es verbieten. Ueber den Grad der Annäherung
herrscht unter den Anhängern der neuen Lehrart noch Meinungsverschieden-
heit, die jedoch — wie wir weiter sehen werden — nicht so bedeutend ist,
dass eine Vereinigung unmöglich erschiene. An und für sich kann dem
Gegenstande eine zu grosse Wichtigkeit nicht beigelegt werden. Das Ver-
Miscellen. 361
burn ist schliesslich auch auf die alte Weise ganz gut zu erlernen ; gewis-
senhafte Treue des Lehrers bleibt immerhin die Hauptsache. Aber Jeder
•wird mir zugeben, dass von zwei Methoden, die gleich schnell und sicher
zum Ziele führen, die die bessere ist, bei der 1., der Schüler geistig mehr
geübt und 2., denselben später gut zu verwendende Nebenkenntnisse mit-
gegeben werden. Wenn ich, um nur ein Beispiel anzuführen, die Regeln
über den Subjonctif durchzunehmen habe, so kann ich dabei Plötz folgen,
indem ich ganz mechanisch auswendiglernen lasse: nach den Conjunctionen
quoique, bienque etc., nach den Verben des Wollens und Wünschens u. s. f.
steht der Subjonctif; hierzu zahlreiche passende Beispiele, so wird der
Schüler im Allgemeinen über die Anwendung des Subjonctif Bescheid
wissen. Oder ich verwende zunächst 2—3 Stunden darauf, um mit ihm
noch einmal die Lehre vom zusammengesetzten Satz durchzunehmen, nach-
her behandle ich den Subjonctif nach seinem Eintreten im Hauptsatze und
in den verschiedenen Arten von Nebensätzen. Dieselben Beispiele ' zur
üebung genügen: so hat der Schüler, falls er nach derselben Zeit und
in gleicher Weise über den Subjonctif Bescheid weiss, was ich nach
meiner Erfahrung annehme, nach der zweiten Methode 1. sich geistig mehr
geübt und 2. eine genauere Kenntniss vom zusammengesetzten Satz gewonnen,
als er früher haben konnte. Während aber in diesem Falle die Probe, ob
der Schüler nun wirklich ebenso gut nach der einen Lehrart, als nach der
anderen die Lehre vom Subjonctif sich angeeignet habe, nicht ganz leicht
ist, ist sie ohne jede Schwierigkeit beim Verbum: Hier kann mit der
grössten Einfachheit sich Jeder überzeugen , wo bessere Resultate erzielt
worden sind. Für den Lehrer, welcher — wie hier in Berlin — Gelegen-
heit hat, bei solchen, die nach unserer Art unterrichten, zu hospitiren, ist
die Sache ausserordentlich bequem: Wir sagen ihm, bitte, komm und über-
zeuge Dich, prüfe selbst! Jene, die nicht solche Gelegenheit haben, müssen
es entweder schon selbst mit der neuen Lehrart versuchen oder sich auf
unser Wort verlassen, dass wir damit zu ebenso günstigen Resultaten, wenn
nicht besseren, als bei der alten, gelangen.
Die Besprechung der Schwierigkeiten nun , welche ausserhalb des Ge-
genstandes liegen, ist keine angenehme. Wie jede Neuerung, hat auch un-
sere Lehrart mit dem trivialen Einwände zu kämpfen: Es ist ja bisher ganz
gut mit der alten gegangen, meine Schüler haben das Verbum immer gut
gewusst , wozu brauche ich also eine andere Lehrart. Andere wieder sind
leider zu bequem, sich aus ihrem alten Gleise bringen zu lassen, nicht selten
fehlen solchen auch wohl die Vorkenntnisse zum Verständniss der neuen
Lehrart, denn wer nie den Diez oder auch nur den Mätzner in der Hand
gehabt, kann freilich nur mit grosser Schwierigkeit nach ihr unterrichten.
Diese beiden Kategorien von Gegnern dürfen wir nicht hoffen zu über-
zeugen, sie müssen schliesslich mit dem Strome mitgerissen werden. Nicht
wenige würden mit uns gehen , wenn sich die neue Lehrart vom Verbum
ihnen als ein Theil einer vollständigen neuen Grammatik anböte ; es sei
misslich, meinen sie, neben einer eingeführten Grammatik, die das Varbum
anders lehre , wie wir zu lehren. Das ist ein einigermaassen stichhaltiger
Einwand. Wir antworten auf ihn : Das Verbum kann ganz gut neben einer
anderen gewöhnlichen Grammatik durchgenommen werden , wir lehren es
neben der Plötz'schen und benutzen nach vollendeter Durchnahme die
Plötz'schen Sätze zur Uebung. Die Ueberzeugung für die Brauchbarkeit
dieses Verfahrens muss durch den Versuch gewonnen werden, was nützt
hier vieles Reden! Unsere Hauptgegner sind aber die, welche behaupten,
der Schüler werde durch uns von der einfachen , nüchternen Gedächtniss-
übung fortgezogen zu Verstandesoperationen, die über seinen Standpunkt
hinausgingen. Bei Begegnung dieses Vorwurfes kommt es ,allerdings auf
den Grad der Annäherung an die historische Grammatik an. Dr. Bratu-
scheck in seineu Conjugationsgesetzen (Programm der Friedrich- Werder-
362 Miscellen.
sehen Gewerbeschule Ostern 1870) will ganz engen Anschluss; er mag für
Schulen , in denen dem Französischen 8 Stunden wöchentlich zugewiesen
sind und wo dem Französischen eine viel grössere Aufgabe in Bezug auf
die formale Ausbildung des Schülers obhegt, Recht haben. Dr. Lücking
(Programm der Louisenstädtischen Gewerberbeschule Ostern 1871) macht
nach der einen Seite dem Standpunkte des Schülers grosse Concessionen,
nach der anderen Seite hin, bei Erklärung einzelner unregelmässiger Per-
fectformen, geht er noch weiter als Dr. Bratuscheck und bringt in die
Schulanalj'se den Ballast von besonderen Perfectstämmen aus dem Lateini-
schen mit. Ich für meine Person, bleibe dabei, dass eine so genaue Ana-
lyse, wie Dr. Bratuscheck sie giebt, erst später zur Eepetition durchge-
nommen werden kann, und begnüge mich damit, derselben dadurch vorzu-
arbeiten, dass ich hervorhebe, was allen Verben in ihrer Conjugations-
art mit einigen bestimmten Differenzen gleichmässig eigen ist, sodann
diese bestimmten Differenzen als Grandlage der Conjugationsunterschiede
annehme und durch Einführung einiger Lautveränderungsgesetze die Zahl
der sogenannten unregelmässigen Verben möglichst beschränke. Dass dieser
empirische Weg mit den wissenschaftlichen Resultaten übereinstimmt, habe
ich im §. 18 meines „französ. Verbum" (dritte Auflage, Berlin 1869, bei
Löwenstein) nachgewiesen. Die Verstandesoperationen, die ich dem Schüler
zumuthe, sind wahrlich nicht zu schwierig; am meisten hat man wohl An-
stoss genommen an dem Lautgesetz: d tritt zwischen n und r und 1 und r;
das Eintreten des d zwischen n und r ist zur Erklärung der Conjugation
von craindre und der vielen anderen Verben, die ebenso conjugirt werden,
unerlässlich ; das Eintreten des d zwischen 1 und r kommt ausser im Infini«
tif moudre nur bei drei Formen (je voudrai, je vaudrai, il faudra) zur Gel-
tung ; wem dieses Gesetz zu schwer erscheint, der möge es streichen und
die drei Formen extra lernen lassen; hierüber zu streiten, wäre nicht der
Mühe werth. Einige Schwierigkeiten wird man immerhin mit in den Kauf
nehmen müssen; dass sie nicht zu gross sind, dafür kann natürlich erst der
praktische Versuch den Beweis geben; ich kann versichern, dass ich —
wenn irgend Jemand — es mit unbegabten Schülern zu thun gehabt habe
und noch habe, und dass ich nicht gefunden habe, dass wegen der Lautge-
setze auch nur einer zurückgeblieben wäre. Gedächtnissübung hätten wir,
dächte ich, nebenher auf der Realschule noch genug, so dass es eine sehr
dankenswerthe Aufgabe ist, in dem einen Hauptgegenstande möglichst oft
an den Verstand des Schülers zu appelliren. Es laufen so viele gleich wich-
tige Gegenstände neben einander her, alle mit so knapper Stundenzahl be-
messen, dass wenig anderes übrig bleibt, als möglichst viel auswendig lernen
zu lassen, um das grosse Pensum zu leisten. — Alle die bis jetzt aufge-
zählten Schwierigkeiten, hoffe ich, werden wir in nicht zu kurzer Zeit
schwinden sehen, da der Widerstand solcher, die nach der neuen Lehrart
nicht unterrichten können, mit ihnen selbst bald aufhören wird zu wirken,
und da wir den Widerstand derer, die sie nur nicht benutzen wollen, da-
durch zu bewältigen suchen werden, dass wir immer und immer wieder mit
der Bitte anklopfen werden: „Versucht es doch einmal gründlich!" Die un-
serem Stande eigene Gewissenhaftigkeit wird dann schon der liebgewonne-
nen Gewohnheit einen Stoss versetzen, und ist erst der Versuch gemacht,
so ist mir um den Erfolg nicht bange.
Die innerhalb des Gegenstandes liegenden Schwierigkeiten stellen sich
in der Abweichung der Meinungen, was nun als Resultat der historischen
Grammatik dem Schüler vorzutragen ist, dar. Ich habe fast alle in meiner
Recension des Lucking 'sehen Programms, welche sich ebenfalls in diesem
Hefte des Archivs befindet, hervorgelaoben. Ueber die Erklärung der Ent-
stehung der jetzigen französischen Verbalformen aus den entsprechenden
lateinischen Formen oder durch Neubildung herrscht nur eine ganz gering-
tügige Meinungsverschiedenheit, wohl aber eine grössere in der Auffassung
Miscellen. 363
der Beste der Suffixe in ihrer jetzigen Bedeutung. Besondere Schwie-
rigkeit bietet vor Allem das Passe d^fini dar. Hier lehrt Dr. Bratu-
scheck: „Der Tempuscharakter ist i" und fasst die Vocale a, i, u als
„Stammverstärkungen" auf (was sie ja ursprünglich waren), mit denen dann
das i zu a (ai und e), i, u verschmilzt. Dr. Lücking lehrt, gestützt auf
das, was er über den Bedeutungswandel der Suffixe sagt: „Das Historicum
hat als Tempuszeichen a, i, u oder nichts (resp. ä, i, ü, nichts ; er, ir, ur, r).
Das moderne Sprachgefühl, führt er aus, empfindet jene Vocale nicht mehr
als Stammverstärkungen, und darin hat er wohl Recht; während er aber
hier eine Abstumpfung des Gefühls annimmt, setzt er bei je produis und
ähnlichen Formen eine eigenthümliche , feine Schärfe des Sprachgefühls
voraus, wenn er will, dass der Stamm dieser Form als ein anderer empfun-
den werden soll, als in: nous produisons, je produLsis (nämlich dortprodui — ,
hier produi.«). Wer über diese und ähnliche Verschiedenheiten einen Ueber-
blick gewinnen will, der lese nur genau die Abschnitte der Lücking'schen
Arbeit über Lautwandel und Bedeutungswandel durch. Vorausgesetzt, dass
wir alle uns bemühen, nichts Falsches zu lehren, denn das muss unter
allen Umständen — Hesse sich auch eine noch so schöne Regel dadurch
herstellen — verpönt sein , glaube ich , könnten zwei sich ergänzende
Grundsätze als Norm zur Abgrenzung des Stoffes dienen : Ja, „man lehre
nichts aus reiner Wissenschaftlichkeit, was absolut unnöthig ist;" — hierhin
rechne ich z. B., wenn Dr. Bratuscheck als Normalendbuchstaben für die
1. Person Sing, m angiebt und zusetzt: das m der 1. Person ist überall
abgefallen, und, wo kein Bindevocal davor stand, durch s ersetzt worden; —
2") „man lehre umgekehrt nichts unwissenschaftlich, was wissenschaftlich
sich [für den Schüler erklären lässt;" — hierhin rechne ich z. B. die be-
sprochene Anschauung des s in je produis von Dr. Lücking. Mir wird
man gewiss auch Ueberschreitungen dieser beiden Grundsätze in meiner
Arbeit nachweisen. Ich bin gern bereit, auch Modificationen an derselben
vorzunehmen, wenn ich dadurch den Ge^vinn für die neue Methode erwach-
sen sehe, dass wir alle dasselbe lehren. Es scheint mir, dass die Einigkeit
derer, die die neue Lehrart eingeführt sehen wünschen, höher steht, als
das Interesse des Einzelnen, seine Meinung als allein richtige durchzu-
fechten. Sehr lieb wäre es mir, wenn dieser kleine Aufsatz nach dieser
Richtung wirkte, und besonders, wenn unbetheiligte, sachkundige Stimmen
sich hören Hessen. Ist eine gründliche Besprechung erst in den Fluss ge-
bracht, so werden, denke ich, auch die in dem Gegenstand liegenden
Schwierigkeiten überwunden werden, und die französische Schulgrammatik
wird künftig nur noch die eine Lehrart kennen.
Plattdeutsche (münsterländische) Sprichwörter.
Vaile Fiärken makt en dünnen Drank.
Viele Ferken machen den Trank dünn, d. h. viele Kinder machen
den Pfannkuchen (die Mitgift) klein.
Wenn et Brie reignet, is sine Napp umstülvet.
Wenn es Brei regnet, ist seine Schüssel umgestülpt, d. h. er ist
unachtsam.
Wann die arme Biädler den andern wat giev, freue sik de Engel
in de Himmel.
Wenn ein Bettler dem andern gibt, darüber freuen sich die Engel
im Himmel. — Also willst du Freude im Himmel bereiten, so sei
wohlthätig, wenn du auch wenig hast.
364 Miscellen.
4. WagenSj de der kraket, driäget lange.
Wagen, die da stöhnen (krachenj, halten oft am längsten.
5. Wenn de Katt up't Speck bannen ist, fraitt se et nich.
Wenn die Katze auf den Speck gebunden wird, frisst sie ihn
nicht, d. h. ohne Mühe schmeckt nichts.
6. Man kann den Oss wuU by't Kiiwen leiden, man nich twingen, dat
he süpp.
Man kann den Ochsen wohl zum Futtertroge hinführen, aber
nicht zum Fressen zwingen.
7. Met de Spöäne, well du Sunndags schnittst, stoakt de Düwel de
Hölle.
Die Späne, welche bei der Arbeit an Sonntagen abfallen, ge-
braucht der Teufel für das höllische Feuer.
8. Sachte von den Stall, föhrt den ganzen Dag wall.
Langsam vom Stalle (vom Hause) abgefahren, lässt die Reise
gut vollenden.
9. Im Dunkeln is gud munkeln, man nich gut Mücrgen täumen.
Im Dunkeln ist gut munkeln, jedoch keine Mücke zu zäumen.
10. Wat de Gewuenheit nich döht (sagg de Schnieder), do stoal he en
Lappen von siene eig'ne Bukse.
11. Morgenraud gifF Gauskenflaut.
12. Wenn man von den Düwel spräck, sitt he up"t Heck.
13. Man kick der Mensk wull för den Kopp, man nich der in.
14. Well sick länger strecket, ess siene Diäke, den wärt de Theene
koald.
15. Et gaihtem es de Katt, de mäck nich gärn' de Poten natt.
16. Is de Fusel in den Mann, sitt de Verstand in de Kann.
17. Wenn man dat Unnerste ut den Kroos hävven will, föllt en'n de
Deckel up de Niäse.
18. Wat man spoart för den Mund,
Frätt de Ratte, off de Hund.
19. Düngen un Biäden is kien Bieglaube.
20. De oäver den andern sien Leed sick fröüen kann,
Hävv sien egen Leed an't blaihen an.
21. Wat helft mi ne Koh, den Kaizen füll Mialke giff un smitt et dann
wier mett de Föte um.
22. Nordwind — Moodwind,
Ostwind — Hostwind,
Westwind — Bestwind,
Südwind — Wüthwind.
Spreuken en Spreukwooden.
1. Niemand komen de gebrade Duyven in den mond gevlogen.
2. Een peert, Een Sweert, Een scboone Vrouw, leent niemeend uit,
als met berouw.
Miscellen. 365
3. Jonck Rijs is te bujgen, maar gen ouwde Boomen.
4. Een ouwdt Voerman, lioort gaeren het geklap van de Sweep.
(Lupus pllum mutat, non mentem.)
5. Als Elck voor zijn bujs veegd, zo worden alle Straaten schoon.
Ein Jeder kehr' vor seiner Thür, so werden alle Wege rein. ^
6. Dertig dagen heeft November,
Junij, April en September,
Acht en twintig een alleen,
AI de reste dertig en Een.
7. Melk op Wijn, dat is venijn, maar Wijn op Melck, Is goed voor
Elck.
Wein auf Bier, das rath' ich dir, doch Bier auf Wein, das lass'
nur sein.
8. Een geleert Man, die niet en werkt, is als een Wolke zonder
regen.
9. Een rijkMan zonder mildadigheid is als een Boom zonder vruchten.
(Dives sine liberalitate est ut arbor sine fructu.)
10. Geen beter gemack
Als eijgen Dack !
oder: Noord, Ost, Sud, West, t'hujs best.
11. Verre van zijn goud, na bij zijn Schade.
12. Groen hout, heet Brood, en nieuwe wijn
Kan voor t'hujs niet dienlijk zijn.
13. Een Wijf draagt meer uit met een Leepel,
Als een Man inbrengt met een Schepel.
14. Stille wateren sijn diep.
Deutsche Schreibeigenthüralichkeiten.
„Dr. Julius Steiner trat dem Naturalien -Kabinet 10 charakteristische
Stücke Petrefacte vom Wiener Becken ab, was ihm hiermit öffentlich ver-
dankt wird." Programm des Gymn. zu Meran. 1870. p. 23. „Abermals
raffte der Tod, diesmal, mit schnellem Griffe, einen Schüler der Lehranstalt
dahin; beim Grabe wurde vom Sängerchor ein theilnahmsvolles Lied treff"-
lich gesungen." Programm des Gymn. zu Innsbruck. 1870. p. 18. „Das
Ministerium für Cultus und Unterricht hat verfügt, dass an den Staatsgym-
nasien, an denen von den öffentlichen Schülern die Maturitätsprüfungstaxe
von 6 Gulden erhoben wird, von den Privatisten eine Taxe von 18 Gulden
zu entrichten kommt." Programm des Gymn. zu Pilsen. 1870. p. 34. „Da
in Zukunft jeder Zwang zur Erlernung der zweiten Landessprache zu ent-
fallen hat." Das. S. 38.
„Es regte sich in Kärnten, so wie in kärntischen Kreisen ausser Landes
der pietätvolle Wunsch, den Leichnam des Bildhauers Hans Gasser in die
Heimat zu überführen und dem Künstler dort ein Denkmal zu errichten.
Villach's Bemühungen gelang es ihn für sich zu erobern." Programm des
Gymnasiums zu Villach. 1870. p. 44.
866 Miscellen.
Absonderlichkeiten im Gebrauch der Muttersprache.
Der bochwürdige Herr Parzer hat als Ausschussmitglied das Entstehen
so wie das bisherige Gebahren des noch so jungen ünterstützungsvereins
diesem Jahresberichte angeschlossen. Programm Gymn. Linz 1869. S. 51.
Die Vorstehung der hiesigen Schwimmanstalt. Das. S. 51.
Den 7. April starb in wenigen Stunden Herr Professor Hötzl am Schlag-
flusse. Das. S. 51.
Die Leistungen der glücklicher Talentirten weisen manchen schönen
Erfolg auf. Das. S. 40.
Die Lehrmittel sind sämmtlich von dem Unterzeichneten beigestellt
Das. S. 40.
Auch wurden die Fortschritte der Schüler im Gesänge und Turnen zur
beifälligen Kenntniss genommen. Progr. Realschule zu Oberhollabrunn
1869. S. 38.
H. H.
Bibliographischer Anzeiger.
Allgemeines.
A Table of the Aryan (Indo-European) Languages, showing their classifi-
,. cation and affinities by Prof. Attwell. (London, Williams & Nor-
gate.) 71/2 Sh.
Grammatik.
K. A. Hahn's mittelhochdeutsche Grammatik. Neu ausgearbeitet von Fr.
Pfeiffer. 2. Ausg. (Frankf. a. M., Winter.) 24 Sgr.
Bayldon's Icelandic Grammar: an Elementary Grammar of the old Norse
or Icelandic language. (London, Williams & Norgate.) 7'/., Sh.
G. L. Staedler, Lehrbuch der italienischen Sprache. Neu herausgegeben
von Dr. Karl St aedler. 3. Aufl. (Berlin, Haude & Spener.)
1 Thlr. 6 Sgr.
Lexicographie.
Dictionnaire Franco-Normand ou recueil de mots particuliers au dialecte
de Guernsey p. G. Metivier. (London, Williams & Norgate.) 12 Sh.
N. Leustroem, Russisch-Deutsches Wörterbuch. (Mitau, Behre.)
IV2 Thlr.
Literatur.
K. Goedeke, Deutsche Dichtung im Mittelalter. (Bd. II: niederdeutsche
Dichtung v. Herm. Osterley.) Sachregister. (Dresden, Ehlermann.)
4V2 Thlr.
Viga-Glum's Saga. Translated from the Icelandic with notes and an intro-
duction by Sir Edm. Head. (London, Williams & Norgate.) 5 Sh.
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(Altenburg, Bonde.) 15 Sgr.
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1 Thb. 21 Ser
Bemerkung.
Der Verfasser der im 4. Hefte des XLVK. Bandes abgedruckten Ab-
handlung: „Die französische und die grammatische Inversion überhaupt."
ist Dr. Bischof in Breslau.
I.
Die römische Novelle.
Die echte römische Novelle unterscheidet sich wesentlich
von der griechischen. Während es dieser letzteren an wahrer
Lebensschilderung fehlte, sehen wir bei dem römischen Novellen-
schreiber das Zeitbild des gesellschaftlichen Lebens in bestimm-
ten Kreisen aufs deutlichste vor Augen ; hier konnte ein chro-
nologischer und örtlicher Hintergrund aus der Erzählung selbst
nicht recht erkannt werden, dort tritt derselbe ganz offen her-
vor: hier ist meist Nachbildung und Compilation aus anderen
Schriftstellern wahrzunehmen, dort frische Originalität; hier
rhetorische Ueberladung, dort einfache, natürliche Sprache, fern
von allem falschen Pathos und Flitter. Dies können wir aus
dem einen Werke, das die Missgunst der Zeiten uns leider
nur in Bruchstücken überliefert hat, deutlich erkennen. Es
sind die Satiren des Cajus Petronius Arbiter, der
unter dem Kaiser Nero lebte und auf Befehl desselben Wüte-
richs seinen Tod fand. Der Titel „satura," den er seiner No-
velle verliehen hat, bezeichnet eine den Römern eigentümliche
und den 'Griechen durchaus nicht entlehnte Dichtungsart, die
übrigens mit den bockfüssigen Satyrn gar nichts zu tun
hat; derselbe bedeutet ein Gemisch, ein Allerlei. In diesem
Sinne wurde das Wort von Gedichten gebraucht und zwar so-
wol wegen der Mannichfaltigkeit des Inhalts, als der darin an-
gewandten Versarten. Bei den Römern haben sich zwei Arten
Archiv f. n. Sprachen. XLVIII. 24
370 Die römische Novelle.
dieser satura entwickelt: die ältere, durch Ennius und den be-
rühmten Terentius Varro, den Oberbibliothekar des Kaisers
Augustus, ausgebildet, bot blos eine eigentümliche Mischung
von Versen und Prosa; die jüngere, mit dem Kennzeichen des
beissenden Spottes, durch Lucilius, Horaz, Persius und Juvenal
kultivirt, gibt in einem und demselben Versmaasse (bei den drei
letzten im epischen Hexameter) Betrachtungen über Leben, Geist
und Sitten des damaligen Roms; es sind humoristische Zeit-
und Sittengemälde. An die erstere dieser Arten dachte jeden-
falls Petron, als er seinem Werke den Titel saturae gab. Er
spottet nicht eigentlich über die Torheiten und Laster seiner
Zeit, sondern bietet in einer aus Prosa und verschiedenen Vers-
arten gemischten Form Reiseabenteuer allerlei Art, Ansichten
über Kunstwerke, Poeten u. s. w. Ursprünglich war das Werk
auf etwa 20 Bücher angelegt; doch nur aus 2 Büchern sind
Trümmer erhalten. Das wichtigste Bruchstück ist die „Mahl-
zeit des Trimalchio," die Beschreibung eines Gelages, welches
von einem reichen ungebildeten Emporkömmling gegeben wird.
„Obwol tief in Schmutz getaucht, ist der Roman nicht nur
hochAvichtig für die Geschichte der Sitten und der Sprache,
namentlich für die Kenntnis der Volkssprache, sondern auch
in seiner Art ein Kunstwerk, voll von Geist, feinster Menschen-
kenntnis, überlegenem Witz und heiterem Humor." Der Frei-
gelassene Enkolpius tritt darin auf, ein seltsamer Abenteurer
und Verbrecher, der sich unter der gemeinsten Gesellschaft
herumgetrieben hat, jung und schön, von seinen Liebeshändeln
lebend, fein gebildet und von ästhetischem Geschmack, ein Re-
präsentant seiner verworfenen Zeit. Dieser Mann beschreibt
die Abenteuer, die ihm auf einer Reise widerfahren sind. Diese
macht er mit einem anderen Freigelassenen Askyltus und dem
beiden gemeinsamen Knaben Giton. Die Handlung spielt in
Unteritalien : das meiste in einer Colonie, wahrscheinlich Neapel,
der durch griechisches Wesen und grosse Ueppigkeit ausge-
zeichneten Stadt; ein anderer Teil der Handlung auf dem
Meere; der letzte in Croton. Die Zeit der Novelle wird unter
Tiberius gesetzt; Anspielungen auf Persönlichkeiten aus der
Zeit der Kaiser Caligula und Nero sind eingeflochten. Die
Beschreibungen der Feste und Vergnügungen stimmen völlig
Die römische Novelle. 371
mit den Orgien dieser Kaiser überein, wie sie uns von Sueton
geschildert werden. „Meisterhaft ist die Zeichnung der Cha-
raktere, meist durch deren Selbstdarstellung; die Personen sind
lebendig gemalt und schön dargestellt. Dazu stimmt die Sprech-
weise; bei Enkolpius selbst ist sie die der Gebildeten aus der
besten Zeit der Literatur, nur mit der Zwanglosigkeit des Con-
versationstones und mit giner Anzahl Wendungen und Construc-
tionen des ersten christlichen Jahrhunderts ; bei den meisten
gelegentlichen Sprechern aber ist sie volkstümlich, voll sprüch-
wörtlicher Wendungen." Letzterer habe ich gegen 50 gefunden,
die meisten derselben in den w^ährend der Mahlzeit gehaltenen
Gesprächen. Die Stücke in gebundener Form sind meist dem
eiteln und geschmacklosen Dichter Eumolpus in den Mund ge-
legt : so die „Einnahme Trojas," mit Anspielung auf ein gleich-
artiges Gedicht des Kaisers Nero, der ja gern als der beste
Dichter und Künstler galt, und der „Bürgerkrieg," durch wel-
chen er auf den damals lebenden Dichter Lucan, der ein Epos
„Pharsalia" in 10 Büchern schrieb, sich bezieht. Bevor wir
nun zu der Inhaltsangabe übergehen, citiren wir noch aus Ta-
citus Annalen das Ende dieses Mannes : „Er pflegte den Tag
über zu schlafen , die Nacht den Vergnügungen zu widmen ;
während andere durch ihren Fleiss berühmt geworden sind, ist
er es durch seine Faulheit geworden. Er galt für einen fein-
gebildeten Schlemmer und Verschwender. Doch als Proconsul
Bithyniens und hernach als Consul zeigte er sich tüchtig und
den Geschäften gewachsen. Später wurde er wegen seines Ge-
nies in Erfindung neuer Laster unter Nero's Vertraute aufge-
nommen als elegantiae arbiter, Tonangeber des feinen Geschmacks
oder Vergnügungsdirector, und wusste sich in der Gunst seines
Herrn festzusetzen und unentbehrlich zu machen. Als er trotz-
dem später zum Tode bestimmt wurde, Hess er sich nichts von
den Aussprüchen der Weisen und von der Unsterblichkeit der
Seele vorlesen, sondern nur leichtfertige Gedichte. Damals
war es Sitte, dass ein Verurteilter sich selbst tödten durfte, und
da es Mode war, sich die Adern aufzuschneiden, so tat er dies.
Tigellinus, ein anderer Schlemmer und Günstling, hatte ihn aus
Neid verläumdet." Nun eine kurze Skizze seines Werkes.
Der Anfang handelt von der verdorbenen Beredtsamkeit
24*
372 Die römische Novelle.
der damaliofen Zeit und von den Ursachen dieser Erscheinung,
lieber den Knaben Giton gerathen Enkolpius und Askyltus in
Streit und beschliessen, sich zu trennen; doch wird dies einst-
weilen noch aufgeschoben. Mit einem Bauer, dem sie ein Kleid
gegen einen Mantel vertauscht, gerathen sie in Zwist, weil sie
hinterher in einer Naht desselben Goldstücke vermuten; es ent-
steht ein Auflauf auf der Gasse, Advocaten drängen sich her-
bei und wollen das Streitobject, um aas es sich handelt, bei
sich aufgehoben wissen, um es bei dieser Gelegenheit natürlich
für immer verschwinden zu lassen; da wirft der Bauer, um der
Sache ein Ende zu machen, ihnen das Kleid zu und nimmt
seinen Mantel wieder. — Eben haben sIte sich in ihre Behau-
sung begeben, da klopft es an die Türe. Eine Magd der
Quartilla, die in jenem Stadtviertel wohnte, trat ein und sagte:
ihr habt die Feier meiner Herrin durch euern Lärm gestört.
In diesem Moment trat die Herrin selbst ein, von einem andern
Mädchen begleitet und verlangte Genugtuung für diesen Fre-
vel; die Freunde erklärten sich dazu bereit und gingen mit ins
Quartier derselben. Dort wurde eine grosse Gasterei abgehal-
ten, bei der sich unsere Freunde so erheiterten, dass sie nebst
den übrigen Gästen und Dienern in einen tiefen Schlummer
verfielen. Da bewirkt ein komischer Zwischenfall das Erwachen.
Zwei Syrer, d. i. Sclaven, schleichen herein, um die Eester in
die gierige Kehle zu schütten, dabei zerbrechen sie aber eine
Flasche und werfen einen Tisch um ; sofort entsteht Lärm, und
man erhebt sich, die zwei Spitzbuben aber legen sich unter
den Tisch und tun, als ob sie schon Stunden lang schliefen.
Neues Oel wird auf die schon flackernden Lampen gegossen,
und das Gelage beginnt von neuem, und toller wie vorher.
Was der Cinäde getan und wie die Vermählung zwischen dem
jungen Giton und der 7jährigen Pannychis gefeiert worden, kön-
nen wir übergehen. — Es erfolgt die Gasterei des Trimalchio,
zu welcher die zwei Freigelassenen geladen sind. Nachdem sie
ein Bad genommen , gehen sie zum Palast desselben. Ueber
dem Eingang stand die Inschrift: jeder Sclave, der ohne Be-
fehl seines Herrn das Haus verlässt, wird 100 Hiebe erhalten.
Im Eingang selbst stand der Türhüter, in lauchgrünem Ge-
wände, in kirschfarbenem Gürtel, und war eben damit beschäf-
Die römische Novelle. 373
tigf, in silberner Schüssel Erbsen zu reinigen. Ueber der
Schwelle aber hing ein goldener Käfig, in welchem eine bunte
Elster sass, die jeden Eintretenden begrüsste. Uebrigens, so
erzählt Enkolpius, während ich dies alles anstaune, hätte ich
beinahe rücklings ein Bein gebrochen. Denn zur linken lag an
der Kette ein gewaltiger Hund (freilich blos gemalt, wie ich
hinterher sah) und darüber stand mit grossen Lettern : cave
canem! Meine Mitgäste lachten, ich aber hörte, selbst als ich
mich vom Schreck erholt hatte, nicht auf, mich an der Wand
hinzudrücken. Auf derselben war gemalt ein Sclavenmarkt;
Trimalchio selbst hielt den Heroldsstab und zog an Minerva's
Seite in Eom ein. Dann hatte der sorgsame Maler mit In-
schriften dargestellt, wie er rechnen gelernt, wie er kaiserlicher
Schatzmeister geworden. Am Ende der Säulenhalle aber sah
man, wie ihn Mercur am Kinne fasste und hoch auf's Tribunal
hob. Neben ihm stand Fortuna mit dem Füllhorn; daneben
spannen die Parzen goldene Fäden. Ausserdem sah ich einen
grossen Schrank in der Ecke, in deren Nische silberne Laren
aufgestellt waren und eine Marmorstatue der Venus und ein
goldenes Büchschen.
Sehen wir in diesem Abschnitt die Einrichtung eines En-
tree's und der daran sich schliessenden Halle, so wie den auf
eiteln Prunk und stolze Selbstüberhebung gegründeten Ge-
schmack des Besitzers , so lernen wir im folgenden nun das
Gastmahl selbst kennen, das, anschaulich und bis ins kleinste
Detail beschrieben, ein klares Bild des damaligen Lebens bietet.
Es erinnert sehr an die Horazische coena Nasidieni, der, gleich-
falls ein reicher Emporkömmling, den Mäcenas bei sich be-
wirtete.
Unter Gesang wird Waschwasser herumgereicht; dann er-
scheint Trimalchio selbst und gibt das Zeichen zum Anfang.
Unter dem Klange der Musik wird ein Präsentirteller aufge-
tragen mit einem Korbe, in welchem eine Henne aus Holz ihre
Flügel ausbreitet, wie sie beim Brüten zu tun pflegt. Sofort
treten zwei Sclaven ein, untersuchen die Streu, holen Pfauen-
eier daraus hervor und verteilen sie unter die Gäste. Dann
wird Wein aufgetragen , ächter hundertjähriger Falerner aus
dem Jahre des Opomius, wie auf der Signatur der Flasche zu
374 Die römische Novelle-
lesen ist. Trimalchio lobt, wie beim Horaz Nasidienus, seine
Speisen und Getränke selbst und preist sie den Gästen mit
Witzworten und Sentenzen an; so sagt er z. B. beim Wein:
„gestern habe ich keinen so guten gegeben , und doch waren
weit vornehmere Leute bei mir zu Tische." Dann folgen die
einzelnen Gerichte, die mehr durch die Neuheit ihrer Zusam-
menstellung und durch den für neue Arten der Gruppirung er-
finderischen Geist des Besitzers, als durch ihre Güte das Inter-
esse der Gäste in Anspruch nehmen. Plötzlich sieht man ein
Weib im Saale hin und her gehen. Enkolpius fragt seinen
Tischnachbar, wer dieselbe sei, und erhält zur Antwort: „For-
tunata, Trimalchio's Frau, die das Geld nach Scheffeln misst.
Früher hättest Du kein Stück Brot aus ihrer Hand genommen,
jetzt aber ist sie ihres Mannes Factotum; sagt sie am Mittag,
es sei Nacht, so glaubt er es. Er ist steinreich und weiss gar
nicht, wie viel er besitzt; aber sie ist eine Wölfin, die überall
ihre Augen hat." Nach^Herumreichung von Trauben steht Tri-
malchio auf, um draussen etwas abzumachen; in Folge dessen
fuhren nun die Gäste freiere Reden; da sprechen: Dama, Se-
leucus, Phileros, Ganymedes und Echion der Flickschneider.
Plötzlich tritt der Hausherr wieder ein, entschuldigt sein Fort-
gehen mit einem Leibesübel und stellt den Gästen frei, hin-
sichtlich etwaiger Leibesbeklemmungen sich durchaus keinen
Zwang anzutun. Diese danken für seine liberale Gesinnung
und suchen ihr Lachen hinter scharfem Trinken zu verstecken.
Von neuem beginnt das Essen: drei lebendige Schweine wer-
den hereingetrieben und das grösste zum Schlachten bestimmt;
die Gäste sollen sehen, wie rasch seine Köche dasselbe zu be-
reiten verstehen. Während dessen unterhält er die Gäste mit
seinen Prahlereien. So fragt er einen seiner Sclaven mit wah-
rer Stentorstimme: aus welcher Decurie bist Du? „Aus der
vierzigsten." Gekauft oder im Hause geboren? „Keins von
beiden, Herr, sondern durch das Testament Pansa's Dir hinter-
lassen." Dann stellt er den Gästen anheim, neue Weinsorten
zu wählen. Darauf wendet er sich an den Ehetor Agamemnon
mit der Frage: Worüber hast du heute gesprochen? Wenn
ich auch kein Sachwalter bin, so habe ich doch so viel gelernt,
als man für's Haus braucht; ich interessire mich für die Wie-
Die römische Novelle. 375
senschaften, zwei Bibliotheken sind mein, eine griechische und
eine lateinische." Während dann der Gastgeber bei Bespre-
chung der aufgestellten Controverse seinen vermeintlichen Scharf-
sinn zeigt, der natürlich unisono beklatscht wird, fragt er:
Kennst du etwa die 12 Arbeiten des Hercules oder die Ge-
schichte des Ulixes, wie ihm der Cyklope den Daumen ausge-
renkt? Ich habe das als Knabe im Homer gelesen. Um von
anderem zu schweigen, die Sibylla habe ich mit meinen Augen
zu Cumä gesehen in einer Flasche hängen, und wenn die Kin-
der ihr zuriefen: Sibylla, was willst du? so antwortete sie: ich
will sterben." Ein allgemeines Gelächter, das bei diesen von
krasser Ignoranz zeugenden Worten herauszuplatzen drohte,
wurde zum Glück dadurch verhindert, dass eben das Schwein
aufo-etrao-en wurde. Allgemeine Verwunderung über die Schnel-
ligkeit der Zubereitung; wie staunten aber die Gäste, als sie
sahen, das Schwein sei noch einmal so gross als das vorhin
gezeigte. Dasselbe wird zerlegt, darin stecken Brat- und an-
dere Würste. — Schon ist Trimalchio ziemlich benebelt, da
frao-t er: „Und keiner von euch fordert mein Weib zum Tan-
zen auf? glaubt mir, keine tanzt den Cancan besser." Ascyltus
und Giton müssen laut auflachen, ein Schmarotzer des Haus-
herrn weist sie mit ergötzlichen Schimpfwörtern zurecht. —
Dann wird ein homerisches Stück, der reinste Blödsinn, auf-
o-eführt. Demnächst erzählt Nikeros eine Spukgeschichte; man
sieht daraus, dass damals der Glaube an Wehrwölfe stark im
Schwünge war. Nach einigen komischen Intermezzos ein neuer
Gang: Geflügel. — Fortunata gibt sich viel mit Habinnas ab,
einem neu angekommenen Gaste. Dann Nachtisch; Vortrag von
Versen aus Virgil's Aeneis ; dann Aepfel und Austern, Bekrän-
zung und Salbung der Gäste. Schon war die Heiterkeit all-
gemein; die Sclaven hatten sich auch auf Triclinien postirt, —
da kommt Trimalchio auf den Gedanken, sein Testament vor-
zulesen und Inschrift nebst Denksäule zu bestimmen. Grosse
Rührung allerseits. Während des allgemeinen Aufbruchs zum
Bade suchen unsere Freunde sich aus dem Staube machen; da
dies aber mislingt, weil der Ausgang verschlossen war, so
machen sie gute Miene zum bösen Spiele und baden gleich-
falls. — Darauf werden die Gäste in die prachtvollen Zimmer
37.6 Die römisclie Novelle.
der Fortunata geführt, der krähende Hahn büsst seine Unvor-
sichtigkeit mit dem Tode,- bis zum Tagesanbruch soll fortge-
trunken werden. Die alten Sclaven treten ab, neue dafür ein.
Einen schönen Jungen unter ihnen küsst Trimalchio, dies setzt
Streit mit Fortunata, die ihn „Hund" nennt; zur Erwiderung
wirft er ihr den Becher an den Kopf; sie Aveint. Trimalchio er-
zählt darauf einiges aus seiner Jugend, wie er reich geworden
sei. — Schon lange war die Sache unseren Freunden zum
Ekel, da Hess der Gastgeber, um dem Ganzen einen würdigen
Abschluss zu geben, auch noch Hornbläser eintreten und befahl
ihnen, einen Leichenmarsch zu blasen; dabei stellte er sich
todt. Der Ton dieser Hörner wird jedoch ein so schriller und
schreckenerregender, dass die Nachtwächter in der Meinung, es
brenne im Hause, mit Wasser und Aexten hereinstürzten, um
zu löschen. Diesen Tumult benutzen unsere Freigelassenen, um
dem Hause zu entrinnen. So weit reicht die Gasterei.
Nach mehreren Streitigkeiten, die sich zwischen Enkolpius
und Askyltus über den Besitz des jungen Giton erheben ; nach-
dem wir noch eine Liebesgeschichte, die zu Pergamus in Klein-
asien sich zutrug, angehört haben; n^ph einer Klage, die ein
Dichter über Verschlechterung der Zeiten ausstösst, — finden
wir den Enkolpius nebst Giton und einem gewissen Eumolpus
auf einem Schiffe wieder, das nach Tarent fährt. Während
der Nacht merken sie , dass Lichas der Besitzer des Schiffes
ist und Tryphäna mitfährt, 2 Personen, zu denen sie früher in
irgend welcher Beziehung gestanden haben, denen sie aber ent-
laufen sind. In der Angst wollen sie am Schiffe sich herab-
lassen, doch wohin? Sie beschliessen also, sich zu scheeren
und durch Tättowiren unkenntlich zu machen. Dies merkt ein
Matrose und macht Lärm, die Schiffsleute springen auf und die
beiden werden von ihren früheren Herren erkannt und wieder
in Besitz genommen. Bei der Schmauserei, die nun abgehalten
Avird, erzählt Eumolpus eine Geschichte, die sich mit einer
Witwe zu Ephesus zutrug, als Beweis dafür, dass die Frau den
todten Mann leicht vergisst und ihre Liebe ohne Bedenken
einem neuen zuwendet. Unterdessen erhebt sich ein schwarzer
Sturm, das Schiff zerbricht und geht mit seinen Insassen unter,
nur unsere drei Bekannte retten sich schwimmend ans Land
Die römische Novelle. 377
und kommen nach Croton, einer altberühmten Stadt. Hier
geben sie sich für Afrikaner aus, die eine reiche Erbschaft
ebendaher erwarteten, und finden in Folge dessen eine treffliche
Aufnahme; jeder bestrebt sich, ihnen das Leben angenehm zu
machen, in der Hoffnung, sie zu beerben. Circe, eine junge
schöne Frau, ladet den Enkolpius zu sich ein, im Platanen-
wäldchen findet das Eendez-vous statt. Die Schönheit dieser
Dame wird eingehend beschrieben; „die kunstvoll geflochtenen
Haare ergossen sich ganz über die Schultern, von der schma-
len Stirne waren die Haarwurzeln nach hinten gekämmt, die
Augenbrauen reichten bis zur Grenzlinie der Wangen hin
und stiessen über den Augen fast zusammen; die Augen waren
funkelnder als die Sterne, die Nase ein wenig gebogen und ein
Mündchen, wie es Praxiteles der Diana gegeben hat. Ferner
das Kinn, der Nacken, die Hand, die von goldener Spange
umwundenen Füsschen! gegen sie wäre der Parische Marmor
nichts gewesen." Wiederholt ladet sie ihn zu sich ein, blos um
als Erbin eingesetzt zu werden. Ein anderes vornehmes Weib,
die nicht mehr schön genug war, um selbst Erbschleicherei zu
treiben, übergab ihre beiden schönen Kinder dem Eumolpus,
damit er sie erzöge resp. in sein Testament aufnähme. Wie
es zum Schluss den Abenteurern ergangen, da die Eeichtümer
aus Afrika doch nicht ankommen konnten, erfahren wir nicht,
die Erzählung bricht ab.
Wir sehen aus dieser Skizze, dass die Oertlichkeit, die
Zeit, die Personen und die Verhältnisse wahr geschildert sind.
Da ist keine verschwommene und fingirte Ortsangabe, sondern
bestimmt erkennbare Lokalität ; da sind keine für jede beliebige
Zeit passenden Zustände, sondern solche, die für eine ganz be-
stimmte Zeit und nur für diese charakteristisch sind ; keine rein
aus der Luft gegriffenen Persönlichkeiten, Schatten ohne reale
Unterlage, sondern auch aus anderen Autoren uns hinlänglich
bekannte Stände: liederliche aber angesehene Freigelassene,
dünkelhafte und reiche Emporkömmlinge, eingebildete Dichter,
verdorbene Kinder und Matronen ; die Verhältnisse sind nicht
willkürlich gemalt, sondern es herrscht darin frisches und na-
türliches, wenn auch unsittliches Leben. Das Tun und Treiben,
wie es eben einmal unter jenen Kaisern war, wird mit frischen
378 Die römische Novelle.
Farben aufgetragen, klar und unverholen werden die Laster
geschildert und gehandhabt ; oberflächliche Halbbildung ist an
die Stelle der tiefen Gelehrsamkeit getreten ; reich will jeder
werden ohne eigene Anstrengung; derbe Witzesworte würzen
die Unterhaltung. So bietet Petron's Schrift ein vielseitiges
Zeit- und Sittengemälde, und dieselbe würde die Bezeichnung
„Roman" verdienen, wenn grossartige, aus sittlichen Gegen-
sätzen entspringende CoUisionen darin enthalten wären. Ver-
gleichungspunkte mit anderen Autoren, die kurz vorher oder
nachher lebten, springen bei der Lektüre leicht ins Auge: so
erinnert der Schluss an das schon von Horaz scharf gegeisselte
Laster der Erbschleicherei und die Beschreibung der Vergnü-
gungen mahnt an die Bacchanalien, wie sie nach Livius ums
Jahr 186 v. Chr. G. in Italien stattgefunden haben.
Ganz verschieden von diesem Petron ist der um 100 Jahre
später lebende Lucius Ap pule jus. Gebürtig aus Madaura
in Afrika, Platoniker und Rhetor, lebte er im zweiten Drittel
des 2. Jahrhunderts. Wie wir aus seinen Schriften ersehen,
genoss er seine Jugendbildung zu Carthago und Athen und
unternahm dann längere Reisen, auf denen er hauptsäch-
lich Mysterien kennen zu lernen begehrte. In diese My-
sterien zog sich damals das sinkende Heidentum zurück, um
einen Schutz gegen das eindringende Christentum zu gewinnen.
Die damals wieder erwachte Philosophie eines Pythagoras und
Plato vereinigte sich mit der Naturforschung, um mystische In-
teressen zu verfolgen. Solche Geheimkulte (der Novize hatte
vor der Aufnahme eine Prüfung zu bestehen) waren der des
Dionysos, der magna mater und des Mithras, welcher letztere
seit dem Piratenkriege sich ausgebreitet und einen grossen
Spielraum im römischen Heere gewonnen hatte. Man suchte
nach geheimen, magischen Kräften ; namentlich im Orient traten
Betrüger oder Betrogene auf und verübten Wunder, so Apollo-
nius von Tyana, der unter Nero und Domitian die ganze civi-
lisirte Welt durchzog und nach seinem Tode vergöttert wurde.
Man suchte eben einen inneren Halt gegen die zerfahrene Zeit.
Ein solcher Sucher war auch Appulejus; er genoss den Ruf
eines Zauberers. Von seinem sonstigen Leben wissen wir noch, dass
er in Rom und später in Afrika als Redner und Advocat auftrat.
Die römische Novelle. 379
Phantastische Wundersucht und Ungeschmack kennzeichnen
seine Darstellung, die aus allen Zeiten und Stilarten zusammen-
getragen ist und Vorliebe für archaistische Formen bekundet;
dabei ist er lebendig, originell und leicht schaffend. Kein
Hauptwort wird ohne Beiwort gesetzt, das stärkste ist ihm das
bezeichnendste und richtigste, alles Einzelne ist stark gehäuft;
denn das damalige Publikum liebte eine scharf gewürzte Lee-
türe. Im Vergleich zu Petron sieht man hierin einen grossen
Unterschied ; wenn wir nach ähnlichen Erscheinungen in der
neueren Zeit suchten, so würden die Dichter der zweiten schle-
sischen Schule in erster Reihe zu nennen sein. Sein Werk
metamorphoses, Verwandlungen, wurde auch asinus aureus =
goldener Esel genannt (das Beiwort „golden" will blos sagen,
dass das Buch sehr beliebt war) oder auch Milesiae d. i. Roman,
Novelle. Es ist eine phantastisch-satirische Sittennovelle, ver-
fasst unter der Regierung des Kaisers Marc Aurel und dem
liukios des Lucian nachgebildet, wenn nicht beide eine ältere
Quelle benutzt haben. Den Inhalt bilden die Erlebnisse eines
Menschen, der aus Versehen durch Zauberei in einen Esel ver-
wandelt wurde ; der Stoff" ist ganz wie bei Lucian und unter-
scheidet sich von jenem nur darin, dass die Namen verändert
werden, die Darstellung sich erweitert, die Motive ausführlicher
behandelt und kleine Abenteuer : Spuk-, Räuber- und Schmutz-
geschichten meist nicht ungeschickt eingeflochten werden, die
sicherlich dem Boccaccio vorgelegen haben, so das schöne Ge-
schichtchen von Amor und Psyche, dessen Kern wol in den
Orient zurückreicht und jedenfalls einen tieferen philosophischen
Sinn birgt. Einige sind auch ernsten Charakters, so die Er-
zählung vom Tode der Braut, welche aus der Räuberhöhle ge-
rettet wird. Es ist ähnlich wie beim indischen Epos Maha-
bharata, in welches die liebliche Erzählung Nala und Damaianti
so wie andere eingewebt sind; neuerdings hat auch Gotha in
seinen Romanen es nachgeahmt. Für uns ist Appulejus dadurch
das Vorbild der Novellenliteratur geworden (cf. O. Jahn, popu-
läre Aufsätze aus der Altertumswissenschaft, Bonn 1868). Alle
diese Erzählungen sind wichtig wegen ihres kulturhistorischen
Interesses. Geändert ist namentlich der Schluss ; bei Lucian
heiter, hier ernsthaft -phantastisch, Der Esel-Mensch wendet
380 Die römische Novelle.
eich an die Isis, deren Cultus aus Egypten schon längst nach
Kom und dem Occident verpflanzt war, mit einem Gebet um
Befreiung von der Tiergestalt. Dabei erfolgt eine genaue
Schilderung der Isisprocession, welche so ziemlich dem rheini-
schen Carneval in ihrem Aeusseren zu entsprechen scheint ; der
Verwandelte wird ins Heiligtum aufgenommen , geprüft und
eingeweiht. Dieser gewissermaassen geistige Abschluss ist
charakteristisch für Appulejus und seine Zeit; dies ist sein
eigener Zusatz, aus persönlicher Anschauung geschöpft. — Die
Verwandlung von Menschen in Tiere mit Beibehaltung des
menschlichen Bewusstseins, aber ohne menschliche Sprache fin-
den wir schon in Homer's Odyssee, wo Circe die Gefährten
des Odysseus verwandelt:
gleich waren sie Schweinen an Haupt, an Stimm' und an Bildung,
borstenvoll, nur der Geist war unzerrüttet, wie vormals!
Indem wir es unterlassen, den Gang des ganzen Romans
zu entrollen, halten wir uns hier blos an die liebliche Episode:
Amor und Psyche. Der Inhalt derselben ist kurz folgender.
Es waren einmal ein König und eine Königin, die drei
sehr schöne Töchter hatten; doch bei den zwei älteren schien
es, als ob das menschliche Lob noch für sie genüge, der jüng-
sten Schönheit aber überstieg alle menschlichen Begriffe. Von
weit her kamen die Menschen , durch den Ruf ihrer göttlichen
Schönheit gelockt, und verehrten sie geradezu als eine zweite
Venus; ihr als einer menschlichen Person zu nahen wagte Nie-
mand. Kein Mensch ging noch nach Paphus oder Knidus oder
Cythera, um Aphrodite anzubeten; ihre Opfer werden vernach-
lässigt, ihre Tempel verfallen, ihre Bildsäulen bleiben unbekränzt,
die verlassenen Altäre werden entstellt durch kalte Asche.
Darüber erzürnt spricht Venus bei sich: „Ich, die alte Mutter
der Natur, die Schöpferin alles Seienden, muss mich mit einem
irdischen Mädchen in die Verehrung teilen! ich soll mich be-
gnügen mit dem ungewissen Anteil einer stellvertretenden An-
betung! Vergebens soll mich jener Hirte, dessen Entscheidung
selbst Juppiter gebilligt hat, wegen meiner unübertrefflichen
Schönheit so hochgestellten Göttinnen vorgezogen haben ! Nein,
nicht sich zur Freude soll diese, wer sie auch ist, die mir ge-
Die römische. Novelle. 381
bührenden Ehren sich angemasst haben; ihr soll diese Schön-
heit noch leid tun." Sogleich ruft sie ihren Sohn Amor und
befiehlt ihm, das Herz der Psyche für einen ganz gemeinen
Menschen zu entflammen. — Psyche findet indessen keinen
Gatten ; man staunt sie an als ein göttliches Wesen ; aber keiner
wirbt um sie. Schon längst hatten sich ihre älteren Schwestern
benachbarten Königen vermählt, Psyche sitzt ungeliebt daheim
und verwünscht ihre Schönheit. Dem fragenden Vater verkün-
det das Orakel des Milesischen Apoll: „Stelle die Jungfrau
als Braut geschmückt auf einen hohen Felsen und hoffe auf
keinen irdischen Schwiegersohn, sondern denke auf ein wil-
des und grausames Ungeheuer, das mit Schwingen die Luft
durchschneidend alles beherrscht und mit Feuer und Schwert
jedes einzelne Wesen entkräftet; vor ihm bebt Juppiter und
der ganze Olymp, das AVasser und die Unterwelt." Unter
allgemeinem Jammer wird Psyche auf den Fels gestellt, von
dort trägt sie ein leiser Zephyrhauch in ein paradiesisches Tal
mit prächtigem Palast. Denn der Schalk Amor, statt das Herz
Psyche's nach dem Gebote seiner Mutter zu verwunden, wird
selbst entzündet und beschliesst, sie in dieser Einsamkeit zu
seinem Weibe zu machen. Ohne Jemanden zu sehen, wird
Psyche bedient; sie geniesst die köstlichsten Speisen und Ge-
tränke, den herrlichsten Gesang und die treff'Iichste Musik,
nachts hat sie den liebenden Gatten neben sich im Lager, der
freilich am Morgen ungesehen verschwindet. So verstreicht
ihr Tag um Tag, und die Gewohnheit macht ihr solch ein Leben
angenehm. In einer Nacht warnt sie der Gatte plötzlich vor
ihren Schwestern, die bald erscheinen und oben auf dem Berge
um sie wehklao-en würden. Durch Weinen und Jammern be-
wirkt sie, dass der Gatte ihr erlaubt , dieselben zu sehen und
zu sprechen, auch ihnen alles Mögliche zu schenken; nur über
seine Gestalt solle sie nichts fragen, noch sagen. Der Zephyr
trägt die Schwestern zu ihr herab , die ihnen in ihrer Freude
alle Kostbarkeiten zeigt und sie reich beschenkt entlässt. Unter-
wegs klagen die neidischen Schwestern über ihre hässlichen
Männer und das Glück der Psyche; sie bereden sich, dasselbe
zu vernichten. Wiederholt warnt Amor sein junges Weib vor
den Plänen der ränkevollen Schwestern ; sie besteht darauf, die-
382 Die römische Novelle.
selben wiederzusehen. Dieselben liebkosen sie und gratuliren
ihr zur Schwangerschaft; dann fragen sie nach ihrem Gatten.
Während nun Psyche beim ersten Besuche gesagt hatte, es sei
ein schöner flaumbärtiger Jüngling, der meist im Wald und
Feld lebe, so sagte sie diesmal in ihrer arglosen Einfalt, weil
sie sich jener Worte nicht mehr erinnerte, er sei ein Kaufmann
aus fernem Lande, der in mittleren Jahren stehe. Diesen
Widerspruch merken die Schwestern recht gut und machen ihr
Angst, indem sie sagen, ihr Gatte sei ein Ungeheuer und sie
werde ein schreckliches Untier gebären. Da gesteht Psyche,
sie habe allerdings ihren Gatten noch nie gesehen, sie möchten
ihr doch helfen und sie vor dem Schrecklichen schützen. Die
Argen raten ihr, sie solle ein Lämpchen verstecken, nachts
aufstehen und bei Licht das Haupt des schlafenden Drachen
abhauen. Dann eilen sie davon, Psyche aber trifft ihre Maass-
regeln für die Nacht. Statt des Ungeheuers jedoch sieht sie
den herrlichen Kupido in voller Schönheit daliegen; vor dem
Bette lagen Bogen, Köcher und Pfeile. Während Psyche in
freudigem Schreck alles betastet, verwundet sie sich mit einer
Pfeilspitze, so dass sie heftige Liebe zu Amor in ihr Herz
schHesst. In heisser Leidenschaft beugt sie sich auf ihn und
küsst ihn zärtlich; dabei fällt ein Tropfen heissen Oeles auf
die rechte Schulter des Gottes. Er erwacht und erzürnt über
das Gebahren seines Weibes fliegt er davon ; von der nächsten
Cypresse aus ruft er ihr noch zu : „Ich weiss, du hast blos aus
Leichtsinn gefehlt, deine Schwestern sind die Schuldigen, die
ich bestrafen werde; dich strafe ich dadurch, dass du mich
nicht mehr siehst." Verzweifelnd stürzt sie sich in den nahen
Strom, aber dieser trägt sie in eine liebliche Aue. Dort ruft
Pan sie zu sich und rät ihr, sie solle den Kupido durch
Bitten und Gehorsam begütigen.
Auf ihrer Wanderung kommt sie zu einer der Schwestern,
erzählt, wie es ihr ergangen sei, und sagt, der Gott habe er-
klärt, er werde nun sie d. i. die Schwester heiraten. Diese eilt
sofort zum Felsen hin, stürzt sich hinab und kommt zerschmet-
tert unten an ; dies war die Rache Amor's. Dasselbe Schick-
sal erlitt bald darauf die andere Schwester. Der im Meere
badenden Venus verrät indessen die weisse Möve, was ihrem
Die römische Novelle. 383
Sohne passirt sei. Wütend eilt die Göttin ins Gemach des
Sohnes, schilt ihn aufs heftigste und droht, die Sobrietas d. i.
Nüchternheit zu rufen, damit ihm diese die Waffen, Haare und
Schwingen nehme. Vor der Türe begegnen ihr Ceres und
Juno und fragen erstaunt, was ihr widerfahren sei. Sie ver-
langt, jene sollen ihr Psyche suchen helfen, dann stürzt sie
hinaus. Psyche ist unterdessen in einen Tempel der Ceres ge-
treten; dort begegnet ihr die Göttin und teilt ihr mit, dass
Venus sie suche. Sie bittet, einige Tage im Tempel bleiben
zu dürfen, Ceres schlägt es ab mit Rücksicht auf ihre Freund-
schaft zu Venus. Ebenso geht es ihr bei Juno. Da beschliesst
Psyche in der Verzweiflung, geradenwegs zu ihrer Feindin hin-
zugehen und sich ihr zu stellen; dabei hegt sie die geheime
Hoffnung, ihren Kupido zu sehen. Venus hat indessen den
ganzen Himmel zur Hülfe aufgeboten, und Mercur muss über-
all auf der Erde ausschnarren: „Wer die entlaufene Psyche
herbeibringt oder ihr Versteck anzeigt, erhält von der Venus
sieben süsse Küsse und dann noch einen, der durch die Berüh-
rung der Zunge honigsüss wird!" Dies veranlasst Psyche zur
Beschleunigung ihres Vorhabens. Vor dem Eingang tritt ihr
Consuetudo, eine Dienerin der Venus, entgegen und schleppt
sie an den Haaren hinein. Venus ruft sogleich Sollicitudo und
Tristitia; diese geissein die Gefangene und schleppen sie dann
wieder vor die Herrin. Diese stürzt auf sie zu, zerreist die
Kleider, rauft die Haare, schlägt ihr Haupt und peinigt sie
auf martervolle Weise. Dann stellt sie ihr folgende Aufgaben:
1) muss sie einen Haufen bunt vermengter Körner sondern ;
statt ihrer besorgen die Ameisen die Arbeit; 2) soll sie aus
dem nahen Haine die Flocke eines goldgelben Schafes bringen;
das grüne Schilf gibt ihr an, wie sie das Wagnis ausführen
kann; 3) soll sie von der Quelle eines nahen Felsen Styxwasser
holen; der Adler Juppiters füllt ihr das Gefäss. Da wird Venus
wütend darüber, dass Psyche alle Aufgaben so rasch und leicht
löse, und giebt ihr noch die allerschwerste: sie soll 4) zur Pro-
serpina hinabsteigen und sie bitten, sie möge der Venus ein
wenig von ihrer Schönheit zuschicken, auch wenn es nur für
einen kurzen Tag genüge. Psyche will sich aus Verzweiflung
vom Turme stürzen, dieser aber spricht zu ihr: „Warum willst
384 Die römische Novelle.
du dich tödten? Höre auf mich! Gehe nach Tänarum bei
Lakedämon und steige hinab in den Schlund, doch nicht mit
leeren Händen, sondern Klöschen von Gerstengraupen, mit
Honig versetzt, trage in den Händen und zwei Goldstücke im
Munde, letztere für den Hin- und Eückweg, erstere für den
Cerberus als Ein- und Ausgangszoll; ausserdem darfst du
nichts anrühren, noch essen ausser einfachem Brote ; das Büchs-
chen aber, das dir Proserpina geben wird, öffne ja nicht!"
Oben wieder angelangt, kann Psyche der Neugierde nicht wider-
stehen, erblickt aber in dem geöffneten Büchschen nichts von
Schönheit, sondern blos stygischen Schlaf, der sie sogleich be-
fällt. Unterdessen ist Cupido seinem Gefängnisse entschlüpft
und gelangt zufällig dahin, wo Psyche schläft; er weckt sie,
steckt den Schlaf wieder in's Büchschen und trägt ihr auf, das-
selbe der Venus hinzutragen,
Amor selbst eilt schnurstracks zu Juppiter und trägt ihm
seine Sache vor; dieser verspricht ihm beizustehen unter der
Bedingung, dass, wenn jetzt ein schönes Mädchen wieder auf
Erden sei, dieses ihm zufalle. Sofort lässt derselbe durch Mer-
cur eine Götterversammlung ansagen und gebietet jedem zu er-
scheinen, bei 10,000 Sesterzen Strafe. In derselben tut er seinen
Willen kund: Amor solle die Psyche ehelichen und Venus solle
zustimmen, zumal er Psyche zur Göttin machen werde; dies
geschieht sofort dadurch, dass sie Ambrosia geniesst. Die
Hochzeit wurde sogleich gefeiert; Vulkan kochte, die Hören
streuten ßosen, die Grazien Balsam, die Musen sangen, Apoll
spielte die Cithara, Venus tanzte. So kam Psyche in gesetz-
licher Weise in Amor's Besitz und gebiert diesem eine Tochter,
die wir Voluptas nennen.
Der Bischof Ful gen tius, der ums Jahr 500 in Afrika
lebte, erklärt in seinem Mythologikon den allegorischen
Sinn der Erzählung also: In der Welt ist Gott und die Mate-
rie ; ihre drei Kinder sind : Fleisch , freier Wille und Seele.
Auf diese letztere ist Venus, d. i. böse Lust, neidisch und
schickt Cupido, sie zu verderben. Aber weil es eine Begierde
des Guten und des Bösen gibt, so gewinnt die Begierde die
Seele lieb und mischt sich gleichsam mit ihr, ermahnt sie je-
doch, nicht ihr Antlitz zu schauen d. i. nicht ihre Ergötzungen
Die römische Novelle. 385
zu lernen (wie ja auch Adam , obwol sehend, seine Nacktheit
nicht sieht, bis er vom Baum der Lust isst); sie möge ja nicht
gleich ihren Schwestern, Fleisch und Freiheit, ihre Gestalt zu
erkennen trachten. Aber von jenen verlockt, deckt sie die in
der Brust verborgene Flamme der Sehnsucht auf und gewinnt
die so gesehene heb. Diese aber soll sie durchs Austropfen
der Lampe entzündet haben, weil jede Begierde so erglüht, wie
sie geliebt wird, und den sündigen Flecken ihrem Fleische an-
heftet. Nach Enthüllung der Begierde wird sie ihres Glücks
beraubt, in Gefahren gestürzt und aus dem Palast getrieben.
Das Uebrige, meint Fulgentius, kann sich jeder Leser aus der
Erzählung selbst zusammenreimen.
Aehnliche Märchen mit denselben Zügen finden sich in der
ganzen indogermanischen Welt. Wenn Appulejus vier Prü-
fungen der Psyche ansetzt, so ist dies eine ganz willkürliche
Steigerung, denn das gewöhnliche ist die Dreizahl der Prü-
fungen; doch ist dies dadurch ausgeglichen, dass die zwei letz-
ten Prüfungen zusammenfallen. „Wasser aus der Stjxquelle
holen" hat ebendieselbe Bedeutung wie das Hinabsteigen in
den Hades selbst am Tanaron. Im Hades darf sie nichts tun,
weil sie sonst diesem verfällt ; ferner muss sie dem Cerberus
einen Honigkuchen reichen, und stillschweigen, dreimal wird sie
versucht. Ferner darf sie nichts essen ; Appulejus hat diesen
Zug so modificirt, dass sie vom lockeren Mahle nur ein Stück
Schwarzbrot essen darf, ein Zug, wie er im Märchen vorkommt
und ganz für dasselbe passt. Zweimal wird sie von Neugierde
verleitet ; doch versöhnt sie sich das letzte Mal sofort mit Eros,
ohne dass dies im mindesten motivirt wird. Der Zug, dass
Tiere, sogar leblose Gegenstände der Psyche helfen, findet sich
im Märchen „von der weissen Schlange" bei Grimm Avieder.
— Die Liebe ist in dieser Erzählung auf ihre Prinzipien zu-
rückgeführt; Psyche ist die Liebe empfindende Seele, Eros die
liebende Kraft, Venus hat zu Dienerinnen die consuetudo d. h.
den sinnlichen Umgang, ferner die Trauer und die Wehmut;
es sind dies die beiden Seiten der Liebe: Freude und Schmerz.
Auffallend bleibt der Schluss ; sie zeugen eine Tochter Yolu-
ptas, während man doch nach der früheren Verheissung Cupido's
(infantem divinitm) einen Sohn erwarten sollte. Was die Dar-
Archiv f. n. Sprachen. XLVm. 25
386 r^ie römische Novelle.
Stellung anlangt, so ziehen einfache menschliche Erapfindun-
gen durchs ganze Stück ; die Götter des Olymps werden alle
srewissermaassen burlesk behandelt. Venus ist nach mensch-
licher Weise eitel und stolz, Ceres und Juno wissen den gan-
zen Liebeshandel zu entschuldigen, Merkur tritt als gemeiner
Ausrufer auf, Juppiter will mit Amor halbpart machen. Es
erinnert dies an die schon bei Homer vorkommende Episode
von Ares und Aphrodite, an den Hymnus auf Hermes und an
die Behandlung der Götter durch die Komödie.
Allgemeine Züge des Eros und der Psyche,
Darstellung auf Gemälden. Schon bei den ältesten grie-
chischen Dichtern wird Eros personifizirt als allgemeiner Schö-
pfungstrieb, und dieser Zug ist für alle Zeiten geblieben ; alle
feineren geistigen Beziehungen knüpfen sich an ihn, nicht an
Aphrodite. Plato fasst ihn als Vermittler zwischen Menschen
und Göttern, als Sohn des üeberflusses und der Armut; dieser
Eros facht nicht blos die Leidenschaft der Liebe an, sondern
unterhält und weckt alles , was der Mensch geistig producirt.
Daher verbindet sich Eros mit Psyche, einer ähnlichen Perso-
nificatlon der menschlichen Natur. Die älteste Vorstellung vom
Geiste des Menschen als einer Potenz, die sich ablösen kann,
findet sich bei Homer ; der Atem, der den menschlichen Körper
belebt, verlässt den Menschen durch den Mund oder die Wunde
und lebt in der Unterwelt ein Scheinleben weiter als Nachtbild,
Schatten; um menschliches Tun daselbst zu vollbringen, muss
die Psyche Blut trinken, cf Hom. Od. 11, 152:
Aber ich harrete dort standhaft, bis die Mutter herankam;
und wie des schwärzlichen Blutes sie trank, so erkannte sie plötzlich.
und mit jammerndem Laut die geflügelten Worte begann sie u. s. w'
Die Alten nannten auch den Schmetterling „Psyche," mit
Bezug auf die eigentümliche Entstehung desselben aus der
Puppe oder Raupe. Der Schmetterling gleitet wie die Seele
leicht und unbemerkt durch die Luft hin, daher wird derselbe
auf Bildwerken geradezu als Symbol der Seele aufgefasst. Dass
überhaupt das Märchen einen oft gesuchten und reichlich loh-
nenden Vorwurf für den Künstler abgab, Ist leicht erklärlich;
gehört doch diese Dichtung zu den gehaltvollsten, zugleich ein-
fachsten und kindlichsten, die das Altertum je geschaffen hat.
Die römische Novelle. 387
„Der Gedanke, dass Psyche, die Seele, durch ein Vergehen
ihres ursprünglichen, unschuldigen Glückes beraubt, nach man-
nichfaltigen Leiden und Prüfungen ihr höheres, bewussteres,
vergeistigtes Glück am Herzen der ewigen Liebe wieder fin-
det, ist so tiefsinnig und doch so allgemein verständlich , dass
sich kein reicherer Stoff für den Dichter wie für den Bildner
erträumen lässt. So wohnt diesem Märchen eine süsse, my-
stische Poesie inne, an deren berauschendem Kelche wir uns
nicht satt schlürfen können." Unter den neueren Künstlern
sind zu nennen: Eafael, der die Erzählung in zwölf reizenden
Compositionen der Decke an der Villa Farnesina in Rom be-
handelte, und der jüngst verstorbene Moritz von Schwindt, der
gleichfalls den Stoff des Märchens zu Gruppen für die Aus-
schmückung einer Villa benutzt hat. Die Darstellungen der älte-
ren Künstler fassen hauptsächlich drei Gesichtspunkte ins
Auge: entweder Eros quält die Psyche, oder Psyche quält den
Eros, oder beide sind glücklich vereinigt.
Eros quält die Psyche. Eros nimmt von der Seele
Besitz ; dies zeigt sich in Qualen, die er ihr zufügt, gewöhnlich
brennt er den Schmetterling oder das junge Mädchen mit Schmet-
terlingsflügeln durch die Fackel. Die Verbrennung hat man
aufgefasst als ein Symbol der Läuterung durchs Feuer. Die
Gruppe ist nach einer Gemme des Florentiner Museums (cf.
O. Jahn in seiner Ausgabe von Psyche und Cupido) folgende :
Der zürnende Eros hält mit der Linken die mit ausgestreckten
Beinen halb knieende Psyche an den Kopfhaaren fest, den lin-
ken Fuss auf Psyche's Schenkel stemmend, in der rechten Hand
mit der Fackel ausholend; Psyche hebt beide Arme angstvoll
flehend zu ihm empor und sieht auf, als wolle sie um Schonung
bitten; Eros ist geflügelt, nackt, Psyche halbbekleidet, mit
Schmetterlingsflügeln. Auf diese Situation beziehen sich fol-
gende Epigramme, deren Verfasser Meleager ist:
1) Brennest du noch so sehr die im Feuer befindliche Psyche,
dennoch flieht sie davon; hat sie doch Flügel, du Tor!
2) Sage mir, weinende Psyche, warum die geheilete Wunde,
die der Cupido dir schlug, wieder im Herzen entbrennt?
Sei doch nicht, beim Zeus, so mit Willen töricht und rühre
Feuer von neuem hervor, während die Asche noch glimmt.
Wenn du vergissest die Leiden und flüchtig du wieder gefasst wirst,
wird er dich, glaube das mir! ärger noch kränken fürwahr.
25*
388 Die römische Novelle.
3) Rief ich es nicht dir zu, bei der Kypris, du werdest gefangen
hängen am klebenden Leim, weil du zu nah dich gewagt?
Rief ich es nicht? Nun fing dich die Schlinge. Du zappelst ver-
geblich,
dass du den Fesseln enteilst; ist doch der Flug dir gelähmt!
Hart an's Feuer gestellt und mit Salben besprengt in der Ohnmacht
bist du, während den Durst Nass aus den Augen dir stillt.
O schwerleidende Psyche, die bald von dem Feuer verbrannt wird,
bald sich wieder erholt, wenn auch nur wenig erquickt.
Aber die Schuld trifft dich. Als den harten Cupido du aufzogst,
dachtest du nicht, dass nur gegen dich jener erwuchs?
Also das ahntest du nicht? Nun trage die schöne Vergeltung,
dass das Feuer, zugleich eisiger Schnee dich verletzt.
Selbst so gewollt hast du; nun trage die Qual, da du. leidest
würdige Strafe dafür, arg von dem Wachse verbrannt.
Psyche quält den Eros. O. Jahn in seiner Miniatur-
ausgabe „Psyche und Cupido" gibt uns zwei Gebilde dafür.
Auf dem einen steht Amor nackt, geflügelt, mit weinerlichem
Gesicht, auf runder Basis ; die Hände sind ihm auf den Rücken
gebunden. Das andere ist eine grössere Gruppe: Amor steht
steif, regungslos, betrübt auf runder Basis ; Psyche hält ihm
die gebundenen Hände auf dem Rücken fest. Eine andere
Psyche, nur um die Hüften abwärts ein Gewand tragend, steht
sich beugend vor ihm und hält in der Rechten eine Fackel, um
die ihm abgenommenen Waffen: Köcher mit Pfeilen und den
Bogen, die sie in der Rechten hält, zu verbrennen; ihr zur
Rechten steht ein bekleideter Eros, ratlos dareinschauend, das
Gesicht auf den erhobenen rechten Arm stützend. Auf diese
Lage beziehen sich die folgenden von Jahn angeführten Epi-
gramme :
4) Ja bei der Kypris, Eros, ich werde die Waffen im Feuer
tilgen: den Bogen sowol, wie auch den spitzigen Pfeil.
Lache nur nicht und verspotte mich nicht mit Hohn in dem Antlitz!
Lache nur nicht; du wirst gleich nun die Miene verzieh'n.
Denn dir gedenk' ich zu stutzen die Flügel, die Boten der Liebe,
und mit erzenem Band werd' ich belegen den Fuss.
Freilich es ist kadmeischer Sieg nur, den ich gewinne,
wenn mit der Psyche verknüpft, Wolf in den Schafen du bist.
Doch wolan, der du schwierig besiegt wirst, hebe die Sohlen,
breite die Schwingen doch aus, nur nicht, das bitt' ich, auf mich!
5) Wer hat dich, den beschwingten, in Banden gekettet, und wer nur
wagt es, den feurigen Brand, der aus dem Köcher entspringt,
greifend zu fassen und dir die zum Schusse gerüsteten Hände
einzuspannen in's Joch, fest an die Säule gedrückt?
Immerhin ist es ein Trost für die Menschheit, wenn auch ein kleiner,
Sage mir: den du da quälst, hat er nicht selber gequält?
6) Wer hat ohne Befugnis in Ketten dich also geworfen,
dass dich jedermann sieht? Sage mir: wer hat gewagt,
Die römische Novelle. 389
dich so in Ketten zu legen? Der garstige Anblick! Abscheulich!
Wo ist das rasche Geschoss? Wo ist der bittere Pfeil?
Wahrlich, nicht recht ist's, dass dich der Steinmetz also gemeisselt,
der du die Götter bezwingst, der du mit Liebe sie zwingst.
7) Wer ist's, der dir die Hände mit unentrinnbaren Banden
hier an die Säule anband? Zwang er doch Feuer und Licht!
Trockne doch nur, ich bitte dich, Tor, die Tränen im Antlitz,
denn dich freuet ja nur, machst du den Menschen recht Pein.
8) Weine nur, fest an den Händen gebunden, willkürlicher Dämon,
weine nur immerhin mehr, locke die Thränen hervor,
welche das Mitleid wecken, du sinnbetörender Frevler!
fliegendes Feuer der Seel', heimliche Wunden du schlägst.
Dass du gefesselt hier stehst, ist den Menschen ein Ende des Leides ;
bitte und flehe du nur! stumm ist 'der Wind und die Luft.
Hast du auch früher die Glut in dem menschlichen Herzen entzündet:
sieh! jetzt ist sie gelöscht, ist von dir selber gelöscht.
9) Ja weine nur und suche du die Hand heraus
zu ziehen, Schalk! Denn solches ziemet dir zu tun.
Hier löst dich niemand, siehst du auch recht kläglich drein.
Du selbst hast andern Augen Thr'änen viel' entpresst
und bittre Pfeile hast du tief in's Herz gesenkt
und hast das Gift der Sehnsucht vielfach ausgesprengt,
Eros ! denn dir macht Freude nur der Menschen Qual.
Gerecht ist deine Straf; du leidest, was du tatst.
Das vierte dieser kleinen Gedichte wird dem Meleager zu-
geschrieben, das fünfte dem Satyros, das nächste dem Alkäos,
das folgende dem Antipater, das achte dem Mäkios, das neunte
dem Krinagoras.
Glückliche Vereinigung von Eros und Psyche.
Appulejus sagt zum Schlüsse: „Auf dem obersten Platze lag
der Gatte bei Tische, die Gattin im Schoosse umfasst haltend."
Diesen Worten entsprechend sehen wir auf einem Marmorsar-
kophage des britischen Museums, wie Eros auf dem Triclinium
liegt, seine Psyche im Schoosse haltend, die Rechte um ihren
Nacken schlingend, w'ährend sie ihre Rechte auf seine Schulter
legt; sein Gewand hat sich vom Oberkörper zurückgeschoben,
während das ihrige noch oben über die Brust reicht. Sie naht
mit geöffneten Lippen denen des Eros, die sich in ähnlicher
Bewegung befinden. Es kann kein Zweifel obwalten, dass der
Künstler den Moment gewählt hat, wo der Kuss unmittelbar
erfolgen soll. Das Jugendliche und Kindliche ist beibehalten,
um das Sinnliche zu vermeiden, es ist eine geschlechtslose Zu-
neifjuno^ im Auo;enblick des inniijsten Gefühls. Kein Kunst-
werk ist späterhin öfter benutzt worden, um die glückliche Ver-
einigung auszudrücken.
390 Diß römische Novelle.
Das andere Bild ist folgendes: Stehend auf runder Basis
halten sich beide so umschlungen, dass Eros ganz nackt seinen
Unterkörper dem Beschauer zukehrt, den Oberkörper nach links
biegend; seinen Mund drückt er auf den der Psyche, so dass
wir das Profil seines Gesichts sehen ; mit dem im rechten Win-
kel gebogenen rechten Arm stützt er ihr Kinn. Psyche ist
von den Hüften abwärts mit faltenreichem Gewand umkleidet;
ihr Oberleib ist nackt, ihre Brust verdeckt, teils durch die Bie-
Sfunff auf Eros zu, teils durch dessen Arm und weil sie ihren
linken mitten um den Leib ihres Geliebten schlingt, während
sie mit dem rechten den Kopf des Eros an sich drückt; ihr
Antlitz verschwindet hinter dem des Eros so, dass blos das
linke Auge sichtbar ist. Die Gruppe befindet sich im Capito-
liuischen Museum. — Endlich ist auf einer Gemme im Berliner
Museum die unübertreffliche göttliche Schönheit der Psyche
dargestellt, wie sie von Appulejus gleich zu Anfang der Novelle
beschrieben wird.
II.
Die deutsche Novelle und der deutsche Roman.
Die Eigentümlichkeit des Appulejus, dass in die längere
Erzählung kürzere, mit jener gar nicht zusammenhängende,
episodisch eingeflochten werden, finden wir bei Göthe namentlich
in „Wilhelm Meisters Wanderjahren" häufig wieder. Solche
Episoden sind: die Flucht nach Egypten und Set. Joseph, Die
pilgernde Törin, Wer ist der Verräter? Das nussbraune Mäd-
chen, Der Mann von fünfzig Jahren, Die neue Melusine, Die
gefährliche Wette, Nicht zu weit. Daran schliessen sich noch
zwei, die wahrscheinlich an irgend einer Stelle eingeschoben
werden sollten : die Reise der Söhne Megaprazon's und die No-
velle vom Kind und Löwen, deren letztere wir zum Gegenstand
unserer Betrachtung machen wollen.
Zu Anfang führt uns Göthe auf den in Nebel gehüllten
.Schlosshof, in dessen Räumen Menschen und Tiere, zur Jagd
sich vorbereitend, auf das Erscheinen des Fürsten warten. Kein
Name wird genannt, während andere Schriftsteller, der natür-
lichen Neugierde der Menschen Rechnung tragend, solche Namen
fingirt oder war, ganz ausgeschrieben oder blos mit Anfangs-
buchstaben anführen. Wenn Göthe dies vermeidet, so will er
der Phantasie des Lesers freien Spielraum geben, sich den Ort
der Handlung; beliebio- auszumalen. Der Fürst ist erst vor
kurzem getraut und lebt in glücklicher Ehe; der Vater hat ihn
zu einem rechten Fürsten ausgebildet, der für's Wol der Unter-
tauen sorgt, besonders für Handel und Wandel, wie aus der
392 Die deutsche Novelle und der deutsehe Roman.
eben in der Stadt abgehaltenen Messe hervorleuchtet. Nach
anwestrencter Arbeit findet der Fürst an diesem schönen Herbst-
tag Zeit zur Jagd, von welcher die Fürstin ungern zurück-
bleibt; indessen die Entfernung ist für sie zu gross. Zum Er-
satz dafür schlägt er ihr einen Spazierritt vor, auf dem der
fürstliche Oheim Friedrich und der Hofjunker Honorio sie be-
gleiten sollen. — So kennen wir nach wenigen Worten schon
die Hauptpersonen der Handlung und die Hauptmotive für den
Fortschritt derselben; letztere sind die Jagd und der Markt.
Wir sehen den Fürsten wolmeinend , arbeitsam, zärtlich ; die
Fürstin gütig, liebevoll, ritterlich, doch zugleich nachgiebig ; den
Pagen jung und wolgebildet. — Das Schloss liegt auf einer
Erhöhung, mit Aussicht auf das Gebirsre, das Ziel der Jaa^d.
Dadurch kann die Handlung im wesentlichen eine einheitliche
bleiben, wenn auch nicht dem Orte nach, so doch dadurch, dass
beide Punkte durch die Gedanken und Sinne der Hauptper-
sonen auf einander bezogen werden. Die Fürstin blickt durchs
Teleskop dem Zuge nach und sieht ihn noch einmal am Fusse
der alten Stammburg vorüberziehen, die von Gebüsch umwach-
sen schon längst in Trümmern liegt. Kaum ist dies geschehen,
so verlieren wir den Zug aus den Augen, erhalten aber durch
Hinweisung auf die Stammburg das Ziel der nächsten Hand-
lung schon vorgezeichnet. Dies geschieht noch mehr durch
den Eintritt des Oheims; derselbe überbringt Zeichnungen jener
Burg und erläutert sie der Fürstin in so anziehender Weise,
dass diese dorthin den Spazierritt zu richten beschliesst. Nach
Vorlegung zweier Blätter, die den Schauplatz des folgenden
anschaulich beschreiben und die Liebe des Oheims für die wilde
ungebeugte Natur kennzeichnen, tritt Honorio ein und meldet,
die Rosse seien vorgeführt. Die Fürstin verlangt, über den
Markt geführt zu werden und begründet dies mit Worten,
welche ihrem Verstand und ihrem Interesse für die Volkswol-
fart alle Ehre machen. Der Oheim gibt ihr Recht, weigert
sich aber, über den Markt zu reiten, da er ein grässliches Un-
glück, den Brand eines solchen Budenmeeres, noch vor Augen
habe, welches . . . Seine weiteren Ergüsse schneidet die leb-
hafte Frau, welche dieselben schon öfter gehört hat, dadurch
ab, dass sie aufs Pferd steigt ; so bleibt ihren Begleitern nichts
Die deutsche Novelle und der deutsche Roman. 393
übrig, als ihr zu folgen. — Sehen wir hier die Kunst des
Autors ! Nicht g-leich von Anfans^ an gibt er uns eine Charak-
terzeichnung der auftretenden Personen, sondern fügt wie un-
absichtlich Zug um Zug hinzu: wir brauchen blos dieselben zu-
sammenzustellen, um ein volles abgerundetes Bild von jeder
Persönlichkeit zu gewinnen. Zeigt sich hier auf der einen Seite
die rasche Entschlossenheit und Furchtlosigkeit der Fürstin, so
tritt auf der anderen Seite die gutmütige Plauderei und Aengst-
lichkeit'des würdigen Oheims hervor; ferner hören wir, dass
Honorio gerne von der Jagd zurückgeblieben, ein Wink für's
Folgende : Schon können wir ahnen , dass er sich zu der schö-
nen Gebieterin hingezogen fühlt.
Langsam reiten sie über den Markt, wegen des Gedränges ;
freundlich wird die Fürstin von allen Umstehenden gegrüsst.
Dabei macht sie scharfe Beobachtungen über die Tracht der
Marktleute, welche dieselbe als sparsame Frau kennzeichnen.
Beim Eintritt in die Vorstadt erblicken sie am Ende derselben
die Menagerie, die zum Markte gekommen ist ; furchtbares Ge-
brülle empfängt die Vorüberreitenden, vor wetchem die Pferde
sich entsetzen. Die bunten Bilder mit dem Tiger und dem
Löwen fallen ihnen in die Augen; auf dem Rückwege, sagt
die Fürstin, wollen wir einmal eintreten. Haben wir den Oheim
vorhin als Liebhaber der Zeichenkunst, als Freund der Natur,
als wolwollenden Beurteiler kennen gelernt, so finden wir jetzt,
dass er während seines Lebens auch Erfahrungen gesammelt
hat, die er gern in Sentenzen verwertet. So sagt er hier, der
Mensch wolle immer durch Schreckliches aufgeregt sein, um
hinterdi'ein erst recht zu fühlen, wie schön es sei, frei Atem zu
holen. In dem bangen Abmahnen des Oheims, in der Erinne-
rung an jenen schrecklichen Brand, in dem Bilde der Bude lie-
gen schon genug Hindeutungen auf das Folgende: für den
Augenblick wenig beachtet, gewinnt das in die Zukunft vor-
greifende Motiv dadurch, wenn es später nun wirklich eintritt
und als Folge auf jene Ahnung bezogen wird.
Gut, dass der Leichtsinn des Menschen Gef arte ist ! Kaum
ist das Tor den Reitern im Rücken, so verscheucht der lieb-
liche Anblick der Natur die sorgenvollen Gedanken; die Mena-
gerie ist vergessen. Unter heiteren Gesprächen, aufgeräumt
394 Die deutsche Novelle und der deutsche Roman.
durch die ihrem Inneren entsprechende Natur, reiten sie am
Laufe des Flusses hinan. Auch sein Name wird nicht genannt;
es heisst blos, dass er nach und nach als grösster Strom seinen
Namen behalten und ferne Länder beleben solle. Auf einem
freieren Standpunkte angelangt, ebenda wo kurz vorher der
Fürst, wie seine Frau zu erkennen glaubte, noch einmal sich
nach ihr umgeschaut hatte, machen sie Halt und geniessen
gleichfalls das schöne Schauspiel der Fernsicht. Erst jetzt
hören wir näheres über die Lage der Stadt und über den zu-
rückgelegten Weg: die Stadt lag teils hoch, teils tief, leichte
Rauchwolken erhoben sich über ihr, das Schloss war glänzend
von der Morgensonne beschienen, die den Herbstnebel indes
überwältigt hatte ; Mühlen schaute man, die am Ufer des Flus-
ses entlang lagen. So überblicken wir die Oertlichkeit erst all-
mählich, und zwar immer aus der Entfernung : während vorhin
vom Schlosse aus das Gebirge bis zum Stammschlosse über-
schaut wurde, wird jetzt der umgekehrte Blick gewonnen. —
Sie reiten weiter hinan und kommen an den Fuss der grünum-
kränzten Felsenburg, und zwar an die steilste Seite derselben.
Gerade dies reizt den kecken Mut der Fürstin ; hier soll auf
einen Felsenvorsprung geklettert werden, während die Pferde
unter den Bäumen halten sollen. Die Sonne steht gerade am
höchsten und verleiht die klarste Beleuchtung ; das Schloss, die
obere und untere Stadt, die Buden, die Gegend diesseit und
jenseit der Stadt sind durchs Fernrohr deutlich zu erkennen.
Heitere Mittagsstille ruht über dem Ganzen. — Warum machen
sie aber gerade hier Halt? Erstens ist die Burgruine durch
die Vorlegeblätter und die daran geknüpfte Interpretation hin-
länglich beschrieben, so dass ein Durchgehen der einzelnen
liäume unnütz wäre; ferner will ja überhaupt der Oheim ihr
dieselben nicht eher zeigen, bevor alle Reparaturen beendet
sind. Nun lässt sich nicht annehmen, dass die lebhafte Frau
ihren vorhin so energisch geäusserten Wunsch ohne alle Ur-
sache aufgegeben habe. Sie hat also das Endziel noch vor sich,
Göthe lässt sie aber hier halten, angeblich der Aussicht halber,
in der Tat, damit des Oheims Verbot gewahrt bleibe ; das nächst-
folgende Ereignis hindert dann die Erfüllung des Vorhabens.
Bis jetzt traten der Oheim und die Fürstin in den Vordergrund,
ö
Die deutsche Novelle und der deutsche Roman. 395
Honorio war Nebenperson ; jetzt tritt, damit das Interesse gleich-
massig verteilt werde , dieser Page in den Vordergrund. —
Eben macht die Fürstin die Bemerkung, „das friedHche Leben
der Natur mache den Eindruck, als ob gar nichts widerwärtiges
in der Welt sein könne," da ruft Honorio, der durchs Fernrohr
nach der Stadt sieht: „Seht hin! auf dem Markte fängt es an
zu brennen." Man sah, wie der leichte Eauch plötzlich in
dicken Dampf sich verwandelte, und rote Flammen hervor-
brachen. Aus dem Herabsteigen der drei Personen sehen wir,
dass sie, was vorhin nicht erwänt war, auf jenen Vorsprung
o-eklettert sind. Der Oheim soll mit dem Reitknecht rasch vor-
aneilen, die Fürstin will mit Honorio langsamer folgen. Die-
ser, indes ruhiger geworden, warnt die Fürstin vor allzu raschem
Eeiten; doch diese, jetzt nur allzusehr die oft gehörte Erzäh-
lung vor Augen habend, eilt schnell über den steinigen Ab-
hang. — Waren wir durch die obige Andeutung schon gespannt,
den Hergang jenes Brandes genau zu erfahren, so erfolgt jetzt
als rückgreifendes Motiv die ebenso fesselnde als frische Be-
Schreibung desselben, die den Leser einerseits auf das folgende
Schrecknis vorbereitet, andererseits einige Zeit lässt für die
Annäherung desselben. Herrlich ist am Schlüsse des Abschnitts
der Contrast: die eben noch heitere Natur erscheint umnebelt
und verdüstert; das anmutige Wiesental, der freundUche Wald
haben einen wunderbaren bänglichen Anschein.
Eben sind sie an der oben schon genannten Quelle vorüber-
geeilt, als von unten herauf der Tiger heranspringt, den die
Fürstin bei ihrer Rückkehr im Käfig hat schauen wollen. Herr-
lich ist die Form der folgenden Schilderung, wie die Fürstin
denselben Weg zurücksprengt, Honorio mit dem ersten Schusse
fehlt, dann nachsprengt und mit der Pistole das Tier durch den
Kopf schiesst, wie es eben die vom Pferde gestürzte, aber
schon wieder stehende Frau erreicht. An dieser Stelle lernen
wir passend den Jünghng näher kennen, indem hier die Schilde-
rung an die eben bewiesene Geschicklichkeit anknüpft. Im fol-
genden tritt er etw^as keck und leichtsinnig auf, so dass die
fromme Fürstin ihm dies verweist. Der Page benutzt sein
Knieen, um sich eine Gnade zu erbitten; er will Urlaub zu
einer grösseren Reise haben, um die Welt kennen zu lernen.
396 Die deutsche Novelle und der deutsche Roman.
Ist wirklich dies die Veranlassung seiner Bitte oder ist es das
Bestreben, die in ihm aufkeimende Liebe zur Fürstin durch
andere Eindrücke zu ersticken? Ich glaube das letztere. Die
Fürstin sagt ihm die Erfüllung seiner Bitte zu, und zwar bal-
digst. Warum zieht in diesem Augenblick Trauer über das
Antlitz des Jünglings? Bewirkt dies die Sehnsucht in die
Ferne, gemischt mit der Liebe zur Heimat und seiner näch-
sten Umgebung? Einer weiteren Gefühlsäusserung überhebt
ihn der Schriftsteller, indem plötzlich die Wärterin des Tie-
res und ihr Knabe, welcher die Flöte hält, heranlaufen und
weinend über den Leichnam herstürzen. Man möchte hier
die Frage einwerfen: woher kommt es, dass der Oheim und
der Reitknecht dem Tiere nicht begcegnet sind, da sie doch
jedenfalls denselben Weg einschlugen? Doch lässt sich darauf
erwidern, dass der Autor nicht über jede Möglichkeit uns Aus-
kunft zu erteilen braucht.
Es folgt das Klagelied der Wärterin, das in seiner rühren-
den Einfachheit und in seinen Gegensätzen an alttestaraentliche
Sprache erinnert. Jetzt sprengt der Jagdzug heran, der gleich-
falls das Feuer gemerkt hat und dem Rauche zugeeilt ist. Erst
sprachloses Entsetzen, dann kurze Erzählung des Geschehenen.
Da tritt der Wärter des Tieres heran und bittet um Schonung
für den Löwen, der ebenfalls im Gebirge schweife. Nachdem
die nötigen Anordnungen vom Fürsten getroffen sind, dessen
militärische Erfahrungen und Kaltblütigkeit in Gefahren geprie-
sen werden, erzählt der Wärter, naturgemäss in kurzen drän-
genden Sätzen, warum sie, erschreckt durch das Auffliegen eines
Pulverschlags, die Tiere losgelassen. In diesem Moment er-
scheint der Wächter der Ruine und meldet, der Löwe habe
sich am Gemäuer gelagert. Die Frau und das Kind erbieten
sich, denselben zu zähmen, bis der Kasten für ihn herangeholt
sei; Honorio erhält den Auftrag, den einzigen Hohlweg zu be-
setzen, der zur Burg hinanführe. Nun tritt der Wärter nebst
Frau und Kind in den Vordergrund der Handlung. Der
Knabe, die Flöte in rührend einfacher Weise spielend, rückt
den Berg hinan. Unterdessen hält der Wärter „mit anständi-
gem Enthusiasmus" eine lange Rede über die Pracht der Schö-
pfung und die Werke [des Herrn , in bilderreicher Sprache ;
Die deutsche Novelle und dei- deutsche Roman. 397
eine genaue Anschauung der Natur prägt sich darin aus. Der
Schluss sagt, dass der Mensch auch den Löwen zu zähmen
verstehe ; dabei wird auf Daniel in der Löwengrube hingedeu-
tet. Was soll diese Rede? Die Kraft des Menschen verherr-
lichen? Mir scheint sie für den Stand eines Wärters zu hoch
gehalten. Nachdem zwei )Strophen vom Knaben allein, die dritte
von allen dreien o-esungen sind, herrscht allgemeine Rührungr.
Der Fürst hält seine Gattin, die sich fest an ihn lehnt und mit
einem Tüchlein ihre Tränen verbirgt; sie fühlt die jugendliche
Brust von dem Druck erleichtert, mit dem die vorhergehenden
Minuten sie belastet haben. Nachdem die Wärterin nochmals
versichert hat, sie werde den Löwen beruhigen, reitet der Fürst
mit Frau und Gefolge nach der Stadt zurück.
Älutter und Kind fliegen, vom Wärtel geleitet, den Berg
hinan. Die Frau bittet den tief in Gedanken versunkenen Ho-
norio, das Feuer im Hohlweg nicht anzünden zu lassen: er
hört nicht. Unverwandt schaut er nach Abend, wo eben die
Sonne sich zu neigen beginnt. Da ruft sie ihm zu: Eile nur
hin, du wirst überwinden ; aber zuerst überwinde dich „selbst!"
— Ist sie eine Zigeunerin, dass sie zu merken vorgibt, was im
Herzen des jungen Mannes vorgeht, und ihn tröstend zu er-
mutigen sucht? Ihre äussere Erscheinung wenigstens und die
Kenntnis der Eigenschaften der Tiere lassen sie als ein ausser-
gewöhnliches Weib erscheinen. Zu beachten ist ferner die
Harmonie, Avelche zwischen der Stimmung der Handlung und
zwischen der Tageszeit stattfindet. Die nach dem Nebel sich
öffnende Aussicht auf einen heiteren und schönen Tag entspricht
der hoffnungsvollen und freudig erregten Stimmung am Morgen;
die drückende Mittagshitze und die verdüsterte Luft stehen par-
allel dem Brande in der Stadt und dem Kampfe vor der Burg;
die in goldigem Rot untergehende Sonne deutet auf die Be-
ruhigung und stille Verklärung nach dem Sturme. — Wärtel
und Mutter warten oben, Avährend der Knabe hinter der Mauer
verschwindet; das Flötenspiel verstummt. Nach einer für den
Wärtel peinlichen Pause tritt er wieder hervor, der Löwe lang-
sam und müde hinter ihm her. Bei einer Lücke in den Ruinen
setzt er sich und beginnt das beschwichtigende Lied von neuem.
Der Löwe reicht dem Kind seine Tatze ; dieses sieht darin einen
398 Die deutsche Novelle und der deutsche Roman.
scharfen Dorn, zieht ihn heraus und verbindet die Wunde. Der
Löwe erscheint dankbar, freundlich, beruhigt. Das Kind flötet
und singt die Schlussstrophe:
Und so geht mit guten Kindern
Seliger Engel gern zu Rat,
Böses Wollen zu verhindern,
Zu befördern schöne Tat.
So beschwören, fest zu bannen
Liebem Sohn ans zarte Knie,
Ihn, des "Waldes Hochtyrannen, ^
Frommer Sinn und Melodie.
Hiermit schliesst die Novelle, ohne dass wir erfahren, wie
das Tier wieder eingefangen ,. wie es Honorio weiter ergangen
sei, ob er seinen Urlaub erhalten, wie es in der Stadt ausge-
sehen habe. Doch ist der Abschluss in anderer Weise erreicht.
Erstens tritt der Fürst mit der Fürstin ab, die im Innern beruhigt
und still gerührt ist; der über ihr Bündnis ausgegossene Friede
bleibt ungetrübt. Dann verlassen wir den schwermütio^ lächelnden
Honorio in einer warhaft maleriscen Beleuchtung: „eine röt-
liche Sonne überschien sein Gesicht; sie glaubte nie einen schö-
neren Jüngling gesehen zu haben." „Wir sind sicher, dass auch
er überwinden und ein neues Leben beginnen werde, wir ver-
lassen ferner das Kind und den Löwen, wie sie friedlich-idyl-
lisch neben einander ruhen; keine Gefahr ist mehr vorhanden.
Fragen wir nach ähnlichen Zügen, die Göthe als Vorbild könn-
ten gedient haben, so fällt uns sogleich die Geschichte von An-
droclus und dem "Löwen ein, welche Gellius überliefert hat.
Die stumme Beziehung zwischen Junker und Fürstin erinnert
an die in mittelalterHchen Ritterzeiten häufig vorkommende Sage
(nur dass sie darin bestimmter ausgeprägt zu einem tragischen
Ende fülirt), welche am deutlichsten sich um die Burg Kynast
im Hirschberger Tale rankt: vom Edelknaben und der schö-
nen Herzogin von Liegnitz. Jener, in diese verliebt, leert auf
der Turmzinne einen Becher auf das Wol seiner Herzensköni-
gin und besiegelt dann, ihren Namen nennend, seine Liebesglut
durch den grausigen Sprung in die Tiefe.
Ueberblicken wir noch einmal die Novelle! Da ist keine
verwickelte Knoten Schürzung, ~- einfach und ohne Hindernis
wickeln sich die Ereignisse ab; keine Masse auftretender Per-
Die deutsche Novelle und der deutsche Roman. 399
sonen, — sondern wenige, doch scharf gezeichnete; keine gross-
artige Handlung mit grossen Zwecken, — die Heldentat eines
einfachen Junkers, durch den Zufall hervorgerufen; kein Ver-
heren und Finden, kein Hoffen und Lieben, — einfach verstän-
diges Gefühl, liebende Verhältnisse zwischen Mann und Weib,
Kind und Tier. Auch finden wir nichts Unerwartetes in der
Entwickelung, was etliche fälschlich als Charakteristicum der
Novelle annehmen, sondern der Verlauf ist ein ganz natürlicher,
schon im voraus angedeuteter. Die Zeit beansprucht als Rah-
men der Handlung einen Tag vom Nebelgrauen des Morgens
bis zum Untergang der Sonne; ebenso ist der Schauplatz ein
einheitlicher, leicht zu überschauender, da wir vom Schlosse
aus die Stammburg, von dieser aus das Schloss im Gesicht
behalten, und wenn der Fürst auch weit hinten in den Wäl-
dern schweift, so wird uns dies doch blos erzählt. Mit diesen
Punkten sind überhaupt die Merkmale der Novelle gegeben.
Die Wahlverwandtschaften.
Der berühmteste Eoman Göthe's, der die vielseitio;sten Be-
urteilungen erfahren hat, sind die Wahlverwandtschaften, welche
in zwei Teilen ä 18 Capitel erschienen sind. Die zwei ersten
Capitel bilden die Grundlage des Ganzen, die Exposition, auf
welcher die übrige Erzählung fusst. Wir lernen einen reichen
Baron in besten Mannesjahren und seine ebenso alte Frau ken-
nen, Eduard und Charlotte, die, nachdem ihre Jugendliebe ge-
löst war und sie andere Ehe eingegangen hatten , durch Zufall
beide wieder frei wurden und nun, frei von stürmischer Jugend-
liebe, verständig neben eihander das Leben geniessen. Dass
sie erst seit kurzem verheiratet, zeigen Charlotten's Worte:
„ich habe mir aus allem diesem den ersten warhaft fröhlichen
Sommer zusammengebaut, den ich in meinem Leben zu genies-
sen gedachte." Von dem früheren Leben der beiden erfahren
wir durch nachträgliche Notizen das nötige. So erzählt uns
Ch. selbst ihre frühere Heirat, ihre nachmalige Verbindung, die
Entfernung ihrer Tochter Luciane und ihrer Nichte Ottilie in
eine Pension, die Teilung der häuslichen Arbeit. Ferner lernen
400 Die deutsche Novelle und der deutsche Roman.
wir aus Ch. Munde das Wesen der beiden Pensionärinnen ge-
nau kennen : Luciane ist die gewandte Salondame, für Sprechen
und Musik sehr begabt, gewandt im Umgang, die erste in ihrem
Kreise; wenn auch Ottilien's Natur noch nicht geschildert wird,
80 können wir doch so viel schliessen, dass alles eben Genannte
ihr fehlt. Ferner hören wir etwas von Eduard's fürsorgender,
ängstlicher Mutter. E. wird geschildert als edel und gut, als
lebhaft und vieles wollend ; Ch. als ruhig, verständig, klug über-
schauend, sie kennt den Charakter ihres Gatten und weiss sich
in ihn zu finden; gesellschaftsliebend, so viel eben nötig ist,
weiss sie das gemütliche Stillleben recht wol zu schätzen. Hier-
mit haben wir vier Hauptpersonen kennen gelernt , doch nicht
alle; denn noch treten auf als abwesend der Hauptmann, als
anwesend der sogenannte Mittler. Von beiden werden wir
gleich hören.
Der Anfang ist rein idyllisch. E., im Park spazieren-
gehend, findet Ch. in der Mooshütte, von welcher aus ihre unten
angelegten Schöpfungen leicht zu übersehen sind. Der Mann
gesteht ihr, er habe schon lange einen Wunsch auf dem Her-
zen : er wolle den Hauptmann, seinen alten Freund, der unver-
schuldet in drückende Verhältnisse gekommen sei, zu sich
nehmen. Ch. rät ab, weil ein dritter zwischen zweien leicht
Unfrieden stifte und weil ihr nichts gutes ahne. E. setzt aus-
einander, wie viel jener ihm nützen könne ; sie schildert die
friedliche Einsamkeit, in welcher sie jetzt lebten, die aber dann
würde gestört werden. Verdriesslich will E. abschreiben, da
bringt am nächsten Tage die Frau das Gespräch von neuem
auf den Gegenstand und äussert den Wunsch, Ottilien ihrer
peinlichen Lage in der Pension zu entreissen und zu sich zu
nehmen. In diesem Augenblick wird Mittler angemeldet, der
seltsamste aller Menschen. Früher Geistlicher, dann Gutsbe-
sitzer, fühlt er den Beruf, überall vermittelnd und friedenstiftend
aufzutreten ; deshalb verweilt er auch blos da, wo es Uneinig-
keit gibt. Wie ihm die Ehegatten die Sache, um die es sich
handelt, vortrugen, ging er ärgerlich weg, stellte aber seine
Dienste für später etwa vorkommende Fälle bereitwillig in Aus-
sicht. Also der Hauptmann, den Ch. schon von früher her
kennt, wird eingeladen, und das musikalische Duett, welches
Die deutsche Novelle und der deutsche Roman. 401
Abends stattfindet, bringt die Gemüter vollends ins richtjge
Gleichgewicht.
So haben wir in dem harmonisch sich abrundenden Ab-
schnitt die Grundlage des Ganzen. Gab uns derselbe einer-
seits einen Einblick in das frühere Leben der Hauptpersonen
und in die Gegenwart, so öffnete es auch schon den Ausblick
in zukünftige, bereits geahnte Verwickelungen; unser Interesse
für den dritten, der in den Bund so. aufgenommen werden, ist
lebhaft erwacht. Die Zeit der Handlung ist, wie gleich zu
Anfang steht, der Aprilmonat, der Schauplatz Eduards Gut.
Er weiss es nicht, wol aber der Hauptmann, dass Ch. einst
wünschte, jenem Ottilie zuzuführen; nur die heissen Wünsche
des lebhaften Anbeters hatten sie dazu bestimmt, ihm selbst
die Hand zu reichen.
So stehen die Dinge, als der Hauptmann kömmt; er zeigt
sich welterfahren, gewandt und dabei bescheiden, so dass Ch.
völlig beruhigt ist. Abends führt man den Gast in den neuen
Schöpfungen umher und geuiesst von der Höhe die Aussicht
bis zu der im Grund versteckten Mühle, die mit ihren Um-
gebungen als ein freundliches Ruheplätzchen er-
scheint. (Diese Stelle ist zu beachten; denn nichts ist un-
bedeutend bei unserem Schriftsteller, eine nebensächliche Be-
stimmung wie hier hat Bezug auf Späteres.) Die beiden
Freunde machen sich ans Vermessen des Gutes, wobei Char-
lottens Einrichtungen vom Hauptmann kritisirt werden ; Eduard
teilt dieselben später seiner Frau mit. Scherzend widerspricht
sie erst, verspricht aber dann, die Sache zu bedenken. Da
die Freunde meist im Freien sich bewegen, so sehnt sich Ch.
nach Ottilien und unterhält mit ihr und der Pension einen leb-
haften Briefwechsel. Die Vorsteherin hat nur zu tadeln, da-
gegen ein männlicher Gehülfe am Institut urteilt richtiger über
sie: „Sie trägt verschlossene Früchte, die sich erst später ent-
wickeln und reifen werden, sie schreitet langsam und sicher
vorwärts. Sie lernt nicht als Schülerin, sondern als künftige
Lehrerin, wenn sie auch augenblicklich hinter ihren Mitschüle-
rinnen zurückbleibt.« Ch. merkte recht gut, dass unter diesem
wahren und offenen Urteile eine mehr als gewöhnliche Teilname
zu finden sei; denn sie verstand sich auf die Menschen. —
Archiv f. n. Sprachen. XLVHI. 26
402 Die deutsche Novelle und der deutsche Roman.
Einen eio-entlichen Fortschritt sehen wir in diesem Kapite
nicht: nur lernen wir das Wesen Ottiliens und den Gehülfen,
eine ganz neue Person, kennen.
Die Arbeiten gehen zur Freude aller rüstig fort, und na-
mentlich Ch. freut sich nicht wenig, dass ihr jetzt durch das
Geschick des Freundes mehr als früher Gelegenheit gegeben
wird, tätig und hülfreich zu sein. Aus solcher Freude entsteht
oft Hinneigung zu der Person, die uns dieselbe verschafft.
Abends las E. gewöhnlich vor ; dabei hatte er die Manie, sich
nicht ins Buch sehen zu lassen. Wie er dies einst seiner Frau
in ärgerlichem Ton verweist, erkennen wir einen neuen Charak-
terzug derselben; sie weiss in den Cirkeln jede heftige Aeusse-
rung zu beseitigen, jede Unterredung aufs richtige Maass zu-
rückzuführen. Wichtig ist die daran sich knüpfende Besprechung
des Begriffes „AVahlverwandtschaften" in der Natur; denn die-
selbe weist uns sowol auf die Veranlassung zur Benennung des
Romans, als auch werden wir dadurch vorbereitet auf die
diesem Naturgesetz entsprechende menschliche Erscheinung, die
sich bald unter unseren drei Personen vorbereiten wird, dass
nämlich von zwei Stoffen, die bisher in innigster Verbindung
waren, wenn ein dritter hinzutritt, der eine verwandte sich die-
sem zugesellt und die alte Verbindung aufgibt. Charlotten ge-
fällt es nicht, dass man eine menschliche Ausdrucksweise auf
Naturstoffe angewandt habe und spricht dieselbe Befürchtung
aus wie oben, dass ein drittes Element den Bund zweier leicht
störe. Im Scherz wird ihr geantwortet, dann müsse ein viertes
eintreten und sich mit dem nun alleinstehenden vereinigen.
Dies deutet E. auf Ottillen, die nun wirklich gerufen werden
soll. Dies ist der einzige Fortschritt der Handlung, zugleich
haben wir eine wichtige Andeutung für die Zukunft erhalten.
Das nächste Kapitel enthält einen Brief der Vorsteherin
über Luciane und einen des Gehülfen über Ottilie, der den eben
im Scherz gefassten Entschluss , dieselbe aus der Pension zu
nehmen , zur Reife und sofortiger Ausführung bringt. Der
Gehülfe schreibt in warmen, ehrlichen Worten von den Demü-
tigungen, die das Mädchen ohne ihr Verschulden beim öffent-
lichen Examen erlitten habe, und bezeugt sein Interesse da-
durch, dass er auf zwei Eigenheiten desselben aufmerksam
Die deutsche Novelle und der deutsche Roman. 403
macht: ^.erstens werde bei jeder unangenehmen Erregung ihre
rechte Wange bleich und die linke für einen Augenblick rot;
zweitens wenn sie etwas ablehne, mache sie eine unwidersteh-
liche Geberde, indem sie die flachen Hände zusammen hebe
und dann gegen die Brust drücke, mit einem bittenden Blick."
Wir werden im folgenden beide Aeusserungen kennen lernen;
sie sind mit Absicht hier einstweilen angedeutet.
Ein wesentlich neues Moment tritt in die Handlung durch
das Erscheinen Ottiliens; bescheiden und emsig, wie sie ist,
wirkt sie sofort ein auf die Lebensverhältnisse der drei und
erweckt für sich das günstigste Vorurteil. E. findet etwas an
ihr, was sie noch gar nicht bewiesen hat, nämlich Gabe der
Unterhaltung, abends kommen er und der Hauptmann jetzt
pünktlicher und bleiben länger. Ch. sucht dies zu erklären,
vermag aber keinen tieferen Grund zu entdecken. Die Arbeiten
der beiden Männer gehen rüstig fort ; neue Projecte zur Ver-
schönerung werden gefasst; Ch., praktisch wie immer, verlangt
Veranschlagung derselben. Da sie hierbei viel mit dem Plaupt-
mann zu arbeiten hat, so trifft ein, was bei gleichgesinnten
Personen häufig vorkommt: sie werden einander unentbehrlich,
und Ch. will dem Hauptmann wirklich wol; während sie früher
sich heftig darüber ärgerte, darf er jetzt eine ihrer Anlagen
zerstören, ohne dass sie die mindeste unangenehme Empfindung
dabei fühlt. So hat sich denn schon, wenn auch nicht ofien,
die Trennung des Ungleichartigen und das Suchen des Gleich-
artio;en vollzogen.
Zu Anfang des nächsten Abschnittes tritt ein rein äusser-
licher Gegensatz zwischen Mann und Frau hervor ; jener kann
die Zugluft nicht leiden, diese liebt sie. Da O. sie möglichst
abzuhalten sucht und in allem dienstfertig gegen ihn ist, so
fühlt er sich zu ihr hingezogen ; sie erzählen sich gern von
ihrer Jugend. Beiden Männern will das Arbeiten nicht recht
mehr gelingen, beim Spazirengehen finden sich die Paare un-
willkürlich zusammen. So eilen E. und O. einst zu jener ver-
steckten Mühle voraus, das andere Paar folgt langsamer. E.
bittet O. um Entfernung des Miniaturbildes ihres Vaters von
der Brust; es ist ihm, als ob durch die sofortige Erfüllung
dieser Bitte die Scheidewand zwischen ihnen gefallen sei. Zu
26*
404 Die (kutsche Novelle unrl der deutsclie Roman.
Hause wieder angelangt, freuen sich alle über den angenehmen
Spazirgang, nur soll der Weg gerader und kürzer gemacht
werden. Beim Besprechen des Plans verrät sich Eduards Lei-
denschaft : er findet Ottiliens Plan wunderschön und durch-
streicht die saubere Zeichnung mit derbem Strich, was dem
Hauptmann sehr misfällt. — Der erste Schritt zum Conflict
der Leidenschaften ist getan: Eduard und Ottilie haben ein Ge-
heimnis mit einander.
Eduard's Schritt für Schritt wachsende Neigung bekundet
sich durch neue Aufmerksamkeiten; er kürzt abends die Spa-
zirgänge ab und liest dann solche Lieder vor, in denen sich
eine leidenschaftliche Liebe ausspricht. Ferner rückt er jetzt
zu ihr hin , weil sie gern ins Buch sieht. Wie ganz anders
früher! Ch. und der Hauptmann sehen es und lächeln einan-
der zu ; also haben auch sie ein stilles Geheimnis. Eines Abends
begleitet O. das Flötenspiel Eduard's am Ciavier und versteht
ihm dabei besser zu folgen als Charlotte; so gut hat sie sich
eingeübt. Wir sehen darin die still aufkeimende Neigung Otti-
liens, wie auch gleichzeitig die stetig wachsende des anderen
Paares; denn der Hauptmann sucht Ch. schon auszuweichen,
ein Zeichen, dass er etwas für sie fühlt.
An Ch. Geburtstag, für welchen der Hauptmann vielfache
Vorbereitungen getroffen hat, findet die Legung des Grundsteins
zu einem neuen Hause Statt; unsere vier Personen wohnen der
Feierlichkeit bei. Dabei Avirft O. ihre goldene Kette, an welcher
das Medaillon gehangen hat, zu E. Freude mit in das Loch,
das für die Aufnahme solcher Raritäten bestimmt ist. Ein
Fortschritt der Handlung wird in Aussicht gestellt durch die
Ankündigung des für morgen kommenden Besuches, des Grafen
und der Baronesse, deren Leben beschrieben wird. O. erbietet
sich , die Abschrift über den Vorwerksverkauf anzufertigen.
Am nächsten Morgen erscheint ungerufen Mittler; sowie er aber
hört, was für Besuch eintreffen werde, eilt er entrüstet fort,
nachdem er offen seinen Abscheu vor den beiden und seine
düsteren Ahnungen ausgesprochen hat. So sehen wir mit Inter-
esse, doch auch mit banger Ahnung dem Erscheinen der Gäste
entgegen. Warum, so könnte man fragen, führt GÖthe diesel-
ben überhaupt ein? Sie sollen meines Erachtens eine Parallele
Die deutsche Novelle und der deutsche Roman. 405
för das noch im Entstehen begriffene Verhähnis zwischen E.
und O. geben; hier wie dort ist der Mann gebunden, das Weib
frei. Ferner soll ihr Erscheinen den Anstoss dazu geben, dass
sich die Einzelnen über ihr Verhältnis völlig klar werden ; denn
bis jetzt leben sie noch in schuldiger Unschuld dahin.
Die Gäste zeigen sich in jeder Hinsicht als gewandte Welt-
menschen, durchweg fein und interessant. Seltsam fühlt sich
Ch. berührt, als sie bei der Frage nach einer gemeinsamen
Jugendfreundin erfährt, dieselbe solle ehestens geschieden wer-
den. Darin liegt wieder ein hindeutendes, vorbereitendes Motiv.
Unwillkürlich drängt sich hier die Frage auf: warum benutzt
Göthe in seinen Prosaerzählungen meist aristokratische Gestal-
ten? Ich glaube, nicht blos deshalb, weil er selbst in solchem
Sinne dachte und lebte, sondern die menschlichen Verhältnisse
sind einmal so beschaffen, dass das gemeine Volk zu solchen
wie zu höheren hinaufsieht, dieselben also ein allgemeineres In-
teresse beanspruchen können. Ist doch seit den ältesten Zeiten
der griechischen Poesie in Epos und Drama vorherrschend von
fürstlichen Personen die ßede; denn sie sind es, die vermöge
ihres Einflusses die Geschichte machen und die Augen der
Menschen auf sich kehren. — Das Gespräch geht jetzt über
aufs Gebiet der Ehe, wobei der Graf, erbittert darüber, dass
die Gerichte seine Ehe nicht trennen, die freisten Ansichten
über dies Institut äussert; Ch. sucht das Gespräch um üttiliens
willen abzulenken, doch vergebens. Der Graf macht den Vor-
schlag, eine Ehe solle blos dann unauflöslich sein, wenn jemand
sie zum dritten Male eingehe; diesen Fall wendet die Baronesse
scherzhaft auf unser Ehepaar an. Dann geht das Gespräch zu
Ch. Freude darauf über, wie E. und Ch. früher das schönste
Paar am Hofe gewesen seien ; die Gäste führen dabei fast aus-
schliesslich die Unterhaltung. Zuletzt versteigt sich dabei der
Graf zu einer argen Blasphemie der Heiraten überhaupt; dann
erst gelingt es Charlotten, die Unterredung auf andere Gegen-
stände zu lenken. Sie zeigt durch dies wiederholte Bestreben,
dass sie einen tief innerlichen, moralischen Kern besitze. Um
einen guten Schritt rückt die Handlung am Schlüsse des Ka-
pitels vorwärts, insofern als das eine Verhältnis zwischen E.
und 0. der Baronesse durch Gefühlsäusserungen jener klar vor
406 Die deutsche Novelle und der deutsche Eoman.
Augen tritt, so dass diese aus Neid und Aerger über das män-
nerbezaubernde Jüngferchen beschliesst, für die Entfernung
Ottiliens zu sorgen; doch lässt sie von diesem Plane nichts
merken. So wissen also schon dritte Personen von dem Ver-
hältnis : es ist ein offenkundiges geworden. Auch bei Ch. kommt
die bisher still genährte Leidenschaft zum offenen Durchbruch,
wie ihr der Graf vorschlägt, den Hauptmann zu einem seiner
Bekannten in eine sehr günstige Stellung zu bringen. Unfähig,
sich länger zu beherrschen, stürzt sie fort in die Mooshütte,
Tränen machen ihrem gepressten Herzen Luft. Von diesem
Verhältnis merkt am Abend selbst die Baronesse nichts, nur
trennt man sich ziemlich verstimmt. So haben also die beiden
Gäste Veranlassung gegeben zu einer freien, nicht mehr zurück-
haltenden Aeusserung der Gefühle ; nur ist dieselbe hier schmerz-
licher Art, dort freudig angetan.
Das nächste Kapitel ist eins der wichtigsten im ganzen
Roman. War vorher die Trennung noch möglich, weil kein
Kind als Pfand der Treue vorhanden war, so nimmt die fol-
gende Nacht durch die während derselben gepflanzte Frucht
auch diese Möo;lichkeit we«;. Allerdino;s ist der Hero^ang ein
merkwürdiger. Der Graf, von E. aufs Zimmer geleitet, kömmt
mit diesem auf Charlottens frühere Schönheit und einen gemein-
sam ausgeübten Jugendstreich zu sprechen ; dann schleicht er
um Mitternacht zur Baronesse. E., der ihn begleitet, sieht sich
vor Ch. Türe; eine sonderbare Verwechselung geht in seiner
Seele vor ; er klopft. Sie, die eben geweint und nur an Otto,
so heisst der Hauptmann mit Vornamen, gedacht hat, wünscht
einerseits und fürchtet andererseits, diesen eintreten zu sehen.
Beide wissen sich jedoch rasch zu sammeln und in Scherz
überzugehen; er glaubt Ottilie, sie glaubt Otto im Arme zu
haben, cetera quis nescit ? Am Morgen schleicht er wie ein
Missetäter davon, er glaubt ein Verbrechen begangen zu haben.
So hat denn dieses Kapitel völlig neue Momente in die Hand-
lung hineingebracht ; eine ernste Verwickelung ist vorhanden,
ein schwer zu lösender Knoten geknüpft. Sonderbar ist mir
bei der Unterredung der Wechsel der Anrede vorgekommen:
erst sagt der Graf „Du," K. consequent „Sie," dann tut letzte-
res auch der Graf.
Die deutsche Novelle und der deutsche Roman. 407
Sehen wir, wie sich am folgenden Morgen ■" die Personen
gegenübertreten ! Heiter und unbefangen vermögen dies die Gäste
zu tun; denn sie haben ihrer Ueberzeugung nach etwas ganz
natürliches verübt, sich von neuem ihrer Liebe versichert. An-
ders ist es mit E. und Gh.; da jedes von ihnen an seiner Liebe
gesündiort zu haben glaubt, so ist ihr Entgegentreten ein be-
schärates und verlegenes. Was bisher noch still im Herzen ge-
schlummert und höchstens dritten Personen sich verraten hatte,
das tritt nun zu voller Klarheit durch die offene Kundgebung
der Liebenden. O. bringt E., der allein im Saale verweilt, die
Abschrift, an der sie indessen Tag und Nacht gearbeitet hat,
und o Wunder ! wie E. dieselbe durchblättert, sieht er, dass
auf den letzten Seiten seine Handschrift ganz täuschend nach-
geahmt ist. Da kann er sich nicht länger halten : beide liegen
sich in den Armen und halten einander liebend umschlungen.
Jetzt ruft er, das gewohnte „Sie" verändernd: „Du liebst mich!
Ottilie! Du liebst mich!" Hiermit ist die Schuld begangen;
sie sündigt einfach, er doppelt. Die anderen beiden kommen
zu früh, obwol es schon spät Abend ist. Den Abend über zeigt
sich E. äusserst nachsichtig in seinem Urteil über die wegge-
fahrenen Gäste und überhaupt heiter angeregt. Doch, fragen
wir, wie Ist es indessen dem Hauptmann und Ch. ergangen?
Um nicht unsere Aufmerksamkeit von dem ersten Paar ab-
ziehen zu müssen, gebraucht Göthe den geschickten Kunstgriff,
dass er Ch. ihr Zimmer aufsuchen und das vorgefallene über-
denken lässt. So erhält er Gelegenheit, episodisch dasselbe
nachzuholen. Auch sie haben sich gefunden und gesprochen.
Wie sie auf dem Teiche fahren, läuft der Kahn auf; der Haupt-
mann muss aussteigen und sie ans Land tragen. Wie sie an
seinem Halse hangen bleibt, küsst er sie, ruft aber auch sofort
auf die Kniee fallend: „Charlotte, vergeben Sie mir?" Also
kein süsses „Du," keine Liebes Versicherungen, kein zärtliches
Denken in die Zukunft, — nein, Zurückhaltung selbst in dieser
Aufwallung der Leidenschaft; kurzes Vergessen ihrer selbst,
dafür aber auch sofortiges dauerndes Erstarken der Willenskraft
und das feste gegenseitige Versprechen, sich zu trennen und
zu beherrschen. Wir erkennen die strenge Selbstbeherrschung
und eine ernste Auff'assung des Lebens. So ist also der Con-
408 Die deutsche Novelle und der deutsche Koman,
flict in der ernstesten Weise da, aber auch die Lösung dessel-
ben scheinbar angebahnt und leicht. Sie haben sich ausge-
sprochen und wollen entsagen. Welcher Contrast mit gestern!
Während gestern die beiden Gatten , einander in den Armen
liegend, der ehelichen Zärtlichkeit sich erfreuten, finden sich
einen Tag darauf schon beide in den Armen anderer wieder,
freilich in den Armen derer, die sie gestern zu umfassen
glaubten.
Während Ch., da ihr Gewissen nach dem gefassten Ent-
schlüsse beruhigt ist, unter heiteren Ahnungen einschlummert,
treibt sich E., den die kochende Leidenschaft nicht schlafen
lässt, ruhelos in Feld und Wald umher. Unruhig wie er ist,
findet er am frühen Morgen alle Arbeiter zu langsam, keine
Verschönerung geht ihm rasch genug von Statten, alles soll
rasch fertig werden, ohne Rücksicht auf die Kosten — nur für
Ottilie! Wie ganz anders verhält sich die ruhige Charlotte?
Weit entfernt über diese Leidenschaft, die doch im Grunde se-
nommen ihrem Bedürfnisse blos entgegenkommt, sich zu freuen,
hofft sie vielmehr auf Dämpfung derselben und wendet Mittel
an. Doch E. merkt die Absicht und wird verstimmt; die Folge
ist, dass auch O. mehr zu ihm hält und unbedachtsam ihm das
harte Urteil des Hauptmanns über seine Flötendudelei mitteilt.
E. fühlt sich furchtbar verletzt; denn alles andere lässt sich
noch verzeihen, nur nicht der Hohn über eine Lieblingsneigung.
Da es mündlich nicht mehr angeht, so wird ein geheimer Brief-
wechsel zwischen E. und O. eingeführt. Ln folgenden beachte
man die Vorliebe Göthe's für Zufall und Aberglauben! Der
Kammerdiener versengt den ersten Brief, E. fühlt Gewissens-
bisse ; er steckt die Antwort Ottiliens in die Tasche, Ch. gibt
ihm die verlorene ungelesen wieder. Eine doppelte Warnung,
doch E. beachtet sie nicht. Immer mehr verschliesst er sich
gegen Frau und Freund; auch zeigt sich E. unedel in seiner
Aeusserung gegen Ottilie, Ch. wünsche selbst eine Scheidung,
und er suche dieselbe nur auf anständige Weise zu bewirken.
Dabei geht das Leben in der alten Weise fort. So sehen wir,
dass der erste Versuch zur Lösung des Conflicts gescheitert ist.
Der Hauptmann, der unterdessen durch Vermittlung des
Grafen eine Stelle erhalten, beschleunigt die Vorbereitungen
Die deutsche Novelle und der deutsche Roman. 409
und Arbeiten, die nach E. Wunsche zur Verherrlichung des
Geburtstages von O. dienen sollen. Ein junger verständiger
Architekt tritt dem Hauptmann hülfreich zur Seite. Reiche Ge-
schenke, ein grossartiges Feuerwerk, Säuberung des Platzes
unter den Platanen werden ins Auge gefasst: O. soll glänzend
gefeiert werden. Wieder zeigt sich hier die Vorliebe Göthc's
fürs ZufälHge, die hier allerdings ihren tieferen Sinn hat, darin,
dass E. in den alten Akten findet: der Tag, das eTahr jener
Platanenpflanzung sei zugleich der Tag, das Jahr von Ottiliens
Geburt.
Die Richtung des Hauses, zu dem man früher den Grund-
stein gelegt, erfolgt an ihrem Geburtstag; hinterher ist ein
Tanz, bei welchem E. flott mit O. tanzt ; abends soll das Feuer-
werk bei den Platanen abgebrannt werden. Bei dem Gedränge
bricht der Damm ein, und mehrere Personen stürzen ins Was-
ser; der Hauptmann rettet einen Knaben, der als todt ins Haus
getragen wird. Hat E. anfangs dem Hauptmann, der das
Feuerwerk allein besorgen wollte, scharf erwidert, so tut er es
jetzt in demselben Tone gegenüber Charlotten, die das Fest
wegen des Zwischenfalls eingestellt Avissen und O. mit ins
Haus ziehen will. Also die erste off^ene Differenz zwischen den
Gatten, die zeigt, welche Wand sich zwischen beider Herzen
gelegt hat. E. ist so liebetoll, dass er weder auf die Ermah-
nung seiner Frau, noch auf das Fortlaufen der sonst schau-
lustigen Menge, noch aufs Anstandsgefühl achtet; das Feuer-
werk wird abgebrannt, während er mit O. unter den Platanen
sitzend zuschaut. Durch einen einfachen Zug deutet hier Göthe
den Sinneswechsel Eduard's an, ebenso wie vorher bei Charlotten.
Er, der noch kurz zuvor so arg über die Bettelei schalt, gibt
jetzt in seinem Liebesglück demselben ihn ansprechenden Bett-
ler — ein Goldstück, Am Abend teilt der Hauptmann seinen
Entschluss zur baldigen Abreise den Freunden mit; ruhig und
gefasst, im Gegensatz zur früheren Erregtheit, hört Ch. es an,
erfreut E., der nun hoff't, der Hauptmann werde bald Ch. hei-
raten können und er selbst dann am Ziel seiner Wünsche
stehen, üeberrascht ist Ottilie, wie sie in ihrem Schlafzimmer
einen Koffer, mit Geschenken gefüllt, vorfindet. — Auch äusser-
lich vor den Leuten ist das Band zwischen E. und Ch. nun-
410 Die deutsche Novelle und der deutsche Roman.
mehr zerrissen, weil jener heute offenkundig überall O. bevor-
zuo-t hat; Ch. auf der anderen Seite hofft eine bedeutende und
nicht unglückliche Zukunft, zumal der Hauptmann nun bald
scheidet.
In der Nacht verschwindet derselbe mit Hinterlassung eini-
ger Dankeszeilen; fein gedacht ist es, wenn Göthe auf solche
Weise den peinlichen Abschied uns erspart. Ch. benutzt dies
Erei^cnis, da sie ihrer Liebe entsagt hat und völlig rein ihrem
Gatten entgegentreten kann, um sich mit E. ehrlich auszu-
sprechen. Da E. in seinem Schuldbewusstsein der aufrichtigen
und entschlossenen Sprache seiner Gattin, die O. Entfernung
verlangt, nicht ebenso entgegentreten kann, so macht er unhalt-
bare Ausflüchte und gibt zuletzt scheinbar nach, um indes auf
Gegenmittel zu sinnen. Ch. steht jetzt bedeutend hoher in un-
seren Augen, ihre Willenskraft und klare Auffassung der Dinge
flössen uns Bewunderung lür sie ein. So ist der Conflict zu
einer offenen Besprechung zwischen den Hauptbeteiligten vor-
gerückt, ohne aber damit seiner Lösung irgend wie näher ge-
kommen zu sein ; im Gegenteil die Verwickelung wird schlim-
mer, indem E. seiner Frau schriftlich den Entschluss mitteilt,
selbst das Haus auf unbestimmte Zeit meiden zu wollen, nur
damit O. bleiben könne. Am Schlüsse sehen wir den Bettler
zum letzten Male auftreten; E. erblickt ihn, wie er in der Laube
des Wirtshauses vom gestrigen Almosen ein reichliches Mit-
tagsmahl zu sich nimmt; er vergleicht sich mit ihm und rauss
ihn beneiden.
Am JMittag fehlt E., den O. hat wegreiten sehen, zur Be-
stürzung derselben, auch die folgenden Tage; der Kammerdie-
ner sucht vergebens sie zu sprechen und aufzuklären. Erst
allmählich Avird sie ruhiger, aber nicht ergeben in ihr Schicksal.
Ch. sucht sie zu beschäftigen und spricht von der nahe bevor-
stehenden Heirat des Hauptmanns, scheinbar ohne Absicht; O.
wird aufmerksam auf diese Aeusserungen, scharfsinnig, arg-
wöhnisch, sie entfernt sich innerlich von Ch., M'eil sie ihr nicht
traut. Wie der Architekt eine Knabenschule zur Reinigung des
Parks, so richtet O. (blos in dem Wunsche, den zurückkeh-
renden E. damit zu erfreuen, auf den heimlich ihr ganzes Sin-
nen gerichtet ist) eine Mädchenschule ein; dabei gewinnt sie
Die deutsche Novelle und der deutsche Roman. 411
ein junges Mädchen, Nanny, besonders lieb. Ch. hält O. für
beruhigt; doch diese hat nicht im mindesten entsagt, sondern
hofft stets auf E. Rückkehr. Nachts nimmt sie — und darin
spricht sich eine recht kindliche Naivetät aus — die Geburts-
tagsgeschenke heraus und mustert sie, das macht ihr Freude.
Einen Fortschritt bringt dieses Capitel nicht, blos die Aussicht,
dass an eine Lösung des Conflicts vorerst gar nicht zu denken
ist; E. Entfernung macht das Uebel nur schlimmer. Uebri-
gens entspricht die beim nahenden Herbst absterbende Natur
der Stimmung der Personen.
Zum dritten Male in diesem Teile erscheint Mittler. Kaum
hat er vom Schicksal der Freunde Kunde erhalten, so sucht er
E. auf und findet ihn auf einem abgelegenen Vorwerk in lieb-
licher Gegend. Allmählich macht ihn E. zum Vertrauten und
schildert ihm in leidenschaftlichen Ergüssen seine Träumereien
an O., seine Sehnsucht, seine Hoffnungen. Mittler macht ihm
Vorwürfe und hält moralische Predigten des Inhalts, er solle
sich ermannen. E. wird bitter und glaubt sich verkannt; zu-
letzt verlangt er, Mittler solle zu Ch. hingehen und eine Schei-
dung erwirken. Jenes Glas, mit den Anfangsbuchstaben E. und
O. geziert, das beim Kichtfeste in die Höhe geworfen und auf-
gefangen worden war, hat E. gekauft und schöpft aus diesem
zufälligen Umstände Hoffnung. Diesen Aberglauben verweist
ihm Mittler mit scharfen Worten und eilt zu Charlotten. Ruhig
empfängt ihn diese, teilt ihm das Vorgefallene mit und hofft
für sich das beste, da sie guter Hoffnung sei. Dies Argument
ist für ihn so einleuchtend, dass er freudig ruft, nun sei alles
gut, hier sei für ihn nichts mehr zu tun. Ch. schreibt ihre
Hoffnung an E. ; dieser, bestürzt und verzweifelt, macht sein
Testament und geht in den Krieg. Ottilie, die nunmehr Char-
lottens Geheimnis auch erfährt, wird noch mehr betroffen als
E. und zieht sich ganz in sich zurück ; Hoffen und Wünschen
sind vorbei. — So ist der Conflict unlösbar geworden; düster
erscheinen die Aussichten für die Zukunft, und eine gewaltsame
Zerhauung des Knotens scheint sich vorzubereiten. Warum
schliesst Göthe nicht hier ab? Er konnte ja, sollte man mei-
nen, Ch. in die Scheidung willigen lassen, und dann war alles
gut. Nur dem gemeinen Menschenverstand kann dies so er-
412 Die deutsche Novelle und der deutsche Roman.
scheinen, aber es würde durchaus der poetiechen Gerechtigkeit
widersprechen ; schlösse die Erzählung hiermit, so müsste man
dem Urteil derer beipflichten, welche den Roman für verwerflich
und unsitthch erklären.
Der zweite Teil beginnt mit einer Einleitung, gewisser-
maassen Entschuldigung des Autors, Auf ein Grundprincip
des Epos sich berufend, lässt er jetzt die Hauptpersonen ein
wenig ruhen und Nebenpersonen in den Vordergrund treten.
Ist es doch auch für den Leser angenehm, dass jene nach den
Stürmen, die sie erschüttert haben , auf einige Zeit verschwin-
den und neue Kräfte sammeln! Der Architekt, der jetzt her-
vortritt, weiss sich durch seine bescheidene Tätigkeit so unent-
behrlich zu machen, dass ihm die Ehre der Repräsentation des
Hauses bei eintretendem Besuche zu Teil wird. Ein Rechts-
gelehrter kömmt als Vertreter einer benachbarten Familie und
beschwert sich, dass der Kirchhof auf Ch. Geheiss völlig geeb-
net und mit Klee bepflanzt sei ; in folge ' dessen will er eine
Stiftunjj zurückziehen. Es folfjt dann eine längere Discussion
zwischen den beiden Frauen, dem Architekten und dem Rechts-
gelehrten über Wert oder Unwert , Stellung und Form von
Grabdenkmälern, Sie schliesst, ohne dass wir den Erfolg der-
selben hören; auch der Rechtsgelehrte verschwindet ohne Ab-
schied. Das Kapitel bezweckt, den Architekten mit seinen ge-
sunden Ansichten und Kenntnissen in ein helles Licht zu stellen ;
die Discussion ist der Ersatz für mangelnde Handlung.
Der Architekt übernimmt die Verschönerung der Kirche,
entdeckt bei dieser Gelegenheit eine Seitenkapelle mit altmo-
dischen Zieraten undbeschliesst dieselbe heimlich auszuschmücken.
Auch als Sammler alter Waffen, Münzen, Kupfer, Holzschnitte
u. s. Av, zeigt er sich und erfreut abends oft die Damen durch
Vorzeio;en derselben. Zuletzt denkt er mit Wehmut an das
baldige Scheiden ; ein Zeichen, dass er eine stille Neigung ge-
fasst hat. Nun beginnen und kehren oft wieder Aufzeichnungen
aus O. Tagebuche. Wir wissen aus „Wilhelm Meister," dass
Göthe solche Ergüsse einer edeln Seele, die uns tiefe Einblicke
ins Innere derselben tun lassen, mit Vorliebe wiedergibt ; dabei
huldigt er der Neigung seiner Zeit , die (anders wie unsere
schnell lebenden Generationen) alles ihr begegnende zusammen-
Die deutsche Novelle und der deutsche Eoninn. 413
stellte und sichtete, gewissennaassen sich selbst betrachtete.
Solche Tagebücher findet man noch in vielen Familien von
Gross- und Urgrosseltern her. Göthe hat hier noch einen an-
deren Zweck: da O. sich mit Niemanden über E. unterhalten
kann, auch nicht brieflich mit ihm, so werden diese Zeilen ein
Ersatz für das Fehlende und lassen uns erkennen das geistig
zwischen den beiden Herzen fortdauernde Band. Auch würde
ohne diese Hindeutungen die Hauptperson zu lange verschwin-
den. Die erste Sentenz, die O. niederschreibt, „es sei schön,
dereinst neben dem Geliebten im Grabe zu ruhen," ist prophe-
tisch für die Zukunft. Fast in jeder Zeile lesen wir die trau-
rige Sehnsucht des Mädchens, die stillen Gedanken des Todes,
des ewigen Friedens.
Das dritte Kapitel beginnt mit einer allgemeinen Sentenz,
die Göthe überhaupt in diesem Teile als Einleitung vorauszu-
schicken liebt. O. hilft dem Architekten in der Kapelle malen,
Ch. wandelt einsam und hängt ihren Betrachtungen nach. Wo-
her diese Sorgen Charlottens? Sie hat in den Zeitungen ge-
lesen, E. habe sich bei einer Kriegsaffaire ausgezeichnet ; sie
sieht, er ist zum Aeussersten entschlossen. Die Engelsköpfis,
die der Architekt an der Decke der Kapelle malt, beginnen
immer mehr Ottilien zu gleichen, der letzte wird ihr ganz ähn-
lich. Acht Tage lang reinigt der Architekt allein ; dann ersucht
er eines Abends beide Damen, einzutreten ; er bleibt zurück.
Mit Rücksicht auf ihren Zustand bleibt Ch. zurück; O. tritt
ein, freut sich, setzt sich nieder und träumt: es ist der Vor-
abend von E. Geburtstage. Sie erinnert sich dabei ihres
Geburtstages und fühlt sich einsam und verlassen. Die Kapelle
als eine für zwei Personen passende Grabstätte hat eine tiefe
Bedeutung. Die Sprüche des Tagebuchs zeugen vom Verkehr
mit dem Künstler, bringen auch geschichtliche Rückblicke auf
Begräbnisarten der Alten. Wichtig ist der letzte Abschnitt;
denn das Blasen des Windes über die Stoppeln und der Takt-
schlag des Dreschers deuten auf den nahenden Winter.
Das folgende Kapitel bringt einen merkwürdigen Contrast
zum vorhergehenden ; dort traurige Stille, hier lärmende Lustig-
keit. Musste uns der Autor schon so wie so mit Luciane, der
Tochter Charlottens, näher bekannt machen , so tut er es mit
414 Die deutsche Novelle und der deutsche Roman.
gesundem Takte gerade jetzt, um uns vom Ernste der Situation
abzuziehen und dieselbe mit äusserer Heiterkeit zu übertünchen ;
wir vergessen formlich, wie ernst eben das Leben gewesen sei.
Diese Dame, von der schon oben geredet M'urde, kommt von
der Tante, bei der sie die letzte Zeit zugebracht hat, und bringt
einen reichen Bräutigam und einen ganzen Wust von Sachen
mit, so dass O. vollauf zu tun hat. Ist sie schon an sich leb-
haft, so wird sie es noch mehr durch die Besuche, die sie so-
fort in der Umgegend macht. Nun wird Leben im Schlosse,
Herren und Damen erscheinen in Menge, Spiele, Bälle und
lebende Bilder kommen auf, Luciane weiss jeden zu beschäf-
tigen, jeden sich zu verbinden ; nur mit dem stillen und ruhigen
Architekten will es ihr nicht gelingen. Sie will gefallen, ist
flatterhaft, für äusseren Tand empfänglich, launisch, ohne tiefes
Gefühl. In Ottilien's Tagebuche, das ein ßeflex der jedesmaligen
Stimmung und Lebensweise ist, drücken die ersten und letzten
Sätze Gefühle aus, die sich aufs Verhältnis zu E. beziehen; sie
handeln von Wünschen der Zukunft und von der schwierigen
ßesiegung der Leidenschaften. Die übrigen Sentenzen beziehen
sich aufs gesellschaftliche Leben, stehen also in Zusammen-
hang mit dem Ganzen.
Auch gute Seiten lernen wir an Luciane kennen bei allen
ihren Tollheiten und Wunderlichkeiten: sie verschenkt gern an
Arme, ist hülfreich gegen Unglückliche und Aengstliche. Bos-
haft ist sie eigentlich nicht, aber jeden sucht sie zu necken und
lächerlich zu machen ; nur gegen O. ist sie bitter. Die Blumen
derselben werden leichtsinnig verschwendet, alle Bälle muss sie
trotz ihres Widerstrebens mitmachen. Dabei zieht O. weit mehr
die Männer an als Luciane, sogar deren Bräutigam ; mit diesem
spricht sie namentlich über den Architekten, den jener bei sich
zu beschäftigen wünscht. Auch finden wir hier wieder einen
Hinweis auf E. ; Ottilien's Herz ist ganz vom Gedanken an
ihn erfüllt, an den von den übrigen Niemand zu denken scheint.
So weiss Göthe durch einen kurzen Fingerzeig zu bewirken,
dass wir die Hauptperson nicht aus den Augen verlieren. Da
erschemen der Graf und die Baronesse wieder; des ersteren
Frau ist endlich gestorben, und die Verbindung soll nächstens
erfolgen. O. empfindet Trauer, wenn sie ihr eigenes Geschick
Die deutsche Novelle und der deutsche Roman. 415
damit vergleicht. Musiken und Concerte folgen; ein Dichter
soll Luciane verherrlichen, feiert aber lieber Ottilien. Auf Ver-
anlassung des Grafen werden lebende Bilder aufgeführt, der
Architekt muss das Theater dazu erbauen. Allmählich verreisen
einige Gäste, so der Graf und die Baronesse, die nach stattge-
fundener Verbindung wiederzukehren versprechen. Die übrigen
werfen sich nun auf benachbarte Schlösser und ziehen von einem
zum andern, immer toller in Saus und Braus lebend. — Das
Tagebuch enthält Bemerkungen über Besuch, welche mit frühe-
ren Aeusserungen Eduard's übereinstimmen.
Damit ist nun die ßuhe bei unseren Lieben wieder einge-
kehrt, doch nicht völlig; denn der Besuch hat eine Nachwir-
kung hinterlassen. Diese kommt daher, dass Luciane überall
einwirken, namentlich Kranke und Verstimmte wieder in die
Gesellschaft ziehen wollte. Die Geschichte ist kurz folgende:
„Ein Mädchen, das am Tode eines der jüngeren Geschwister
schuld war, härmte sich seitdem einsam ab. Luciane führt das-
selbe in eine glänzende Soiree, das Mädchen stürzt schreiend
hinaus und wird so krank, dass sie in eine Anstalt gebracht
werden muss." Auch dieser Vorgang ist ein Hinweis auf die
Zukunft. Vor seinem bald bevorstehenden Weggang will der
Architekt noch eine Weihnachtsvorstellung veranlassen, bei der
O. die Mutter Gottes vorstellen soll. Dieselbe gelingt vortreff-
lich, da O. in die Stimmung der bescheidenen Ehre und des
unverdienten Glücks sich zu versetzen versteht. Während der
Vorstellung sieht sie, wie neben Gh. der im vorigen Teil schon
zweimal erwähnte Gehülfe aus der Anstalt sitzt. Wir können
ahnen, dass damit ein neuer Versuch angebahnt wird, denCon-
flict zu lösen. Der Architekt hat eine innige Neigung zu O.
gefasst, aber er kommt gar nicht einmal dazu, sich zu äussern.
Jetzt, wo derselbe bald scheiden muss, tritt in die Lücke der
Gehülfe, der O. Eigenheiten früher so trefllich erkannt hat. Er
hat O. noch nicht vergessen und kommt, um frühere Verbin-
dungen wieder anzuknüpfen oder vielmehr noch fester zu
knüpfen.
Weder die Belustigungen, noch die Beschäftigung, welche
der Verkehr mit dem Architekten O. bot, haben vermocht, die
Aufmerksamkeit derselben von E. abzulenken : nun versucht es
41 G Die deutsche Novelle und der deutsche Roman.
der Schriftsteller mit den pädagogischen Bestrebungen des Ge-
hülfen. O hat, wie derselbe meint, Geschick und Interesse
für's Unterrichten ; bei den pädagogischen Discussionen spricht
er seine Zufriedenheit mit O. Verfahren gegenüber ihren Schü-
lerinnen aus und verfehlt dabei nicht die Bemerkung, wie es
ihm in seiner Pension an einer gleichgesinnten treuen Gehülfin
fehle. Wir erfahren nun, wie derselbe überhaupt auf die Idee
gekommen ist ; es ist eine neue Verwickelung , von der Baro-
nesse eingefädelt und von Ch. stillschweigend gebilligt. Der
Graf und die Baronesse sind ins Institut gegangen, haben das-
selbe in Begleitung des Gehülfen gemustert und diesem zuge-
redet, hinzufahren und um O. Hand anzuhalten. Doch so oft
er auf das Thema kommen will , hält ihn eine gewisse Scheu
zurück. Endlich bringt Ch. absichtlich das Gespräch darauf,
dass O. in die Pension zurückgehen solle , um in ihre Kennt-
nisse mehr Zusammenhang zu bringen; doch einstweilen soll
sie noch bleiben. Schaudernd denkt O. daran, mit Hinbhck auf
die Trennung von E., den sie über alles liebt. Wir sehen,
auch dieser Angriff von aussen wird fehlschlagen. — Das Tage-
buch hat Bezug auf Jüngsterlebtes, auf die Scene zwischen
Luciane und den AfFenporträts , sowie auf die Ansichten des
Gehülfen über die Natur.
Nach einer einleitenden Sentenz folgen Gespräche wissen-
schaftlicher Art über Menschen- und Zeiterscheinungen ; Göthe
tadelt dabei, dass man das Alte vernachlässige und dem Neuen
sich zuwende. Bei einer solchen Unterredung spricht der Ge-
hülfe von Charlottens einstigem Sohne und diese fasst es als
eine angenehme Prophezeiung auf. Da erst nach der Nieder-
kunft über das Weitere entschieden werden soll, so kehrt er in
seine Pension zurück. O. tut indessen ihre Pflicht und findet
darin ihren einzigen Trost; was sonst werden soll, weiss sie
nicht. Das Kind kommt zur Welt, O. findet es dem Vater
unähnlich. Mittler erscheint und besorgt alles auf die Taufe
Bezügliche ; nach seiner Ansicht ist nun alles gut und in Ord-
nung. Während das Kind über das Taufbecken gehalten wird,
erkennt O. in den Augen desselben ihre eigenen, Mittler in sei-
nen Gesichtszügen die des Hauptmanns. Waren Avir durch den
obigen Wink schon gespannt, so sind wir jetzt überrascht ; die
Die deutsche Novelle und der deutsche Roman. 417
Erklärung der Tatsache liegt in den Ereignissen jeuer Nacht.
Während der langen Rede, die Mittler hält, sinkt der Geist-
liche um ; das lange Stehen, die Anstrengung, die neutestament-
liche Anspielung auf Simeon und den Heiland hielt der hochbe-
tagte Mann nicht aus; er lag todt im Sessel. Wie bedeutungs-
voll ist es, dass er, der eben das Kind getauft hat, nun schon
entschlummert ist, dass O. ihn um dieses Loos beneidet! —
So ist das Kind, an dessen Erscheinen Ch. und Mittler so
grosse Hoffnungen geknüpft haben, da; aber nichts ändert sich
dadurch. Die Handlung hat zwar nach dem Stillstand, der zu
x\nfang des zweiten Teils eingetreten war, einige Fortschritte
gemacht, aber ein Kesultat oder auch nur eine Annäherung an
dasselbe wurde nicht erzielt ; wichtiger ist dafür das folgende.
Das neue Capitel handelt zunächst von O. Fürsorge für
den Garten ; alles ist auf Eduard's Erheiterung berechnet. Die
Pflege für das Kind, welche sie übernommen hat, bringt ihr
viel Freude, und indem sie an dessen Zukunft denkt, sieht sie
allmählich ein, dass eine Aenderung eintreten müsse: sie will
ihrer Liebe entsagen. Was kein Impuls von aussen, was keine
Tätigkeit noch Zerstreuung zu bewerkstelligen im Stande war,
das vermochte ihre eigene gesunde Seele, ihr eigenes richtiges
Gefühl. Edle Naturen finden von selbst das Rechte. Wie
schön sind die Hoffnungen, welche O. auf das Kind setzt! Wie
sollten sie getäuscht werden ! Ein wesentlicher Fortschritt ist
es, dass die Gefühle bei der einen hauptbeteiligten Person sich
geklärt haben, dass das Gute zum Durchbruch gekommen ist;
es kommt blos darauf an, wie sich die zweite Person zu dieser
Lösung verhält. — Von den Gedanken des Tagebuchs steht
blos der letzter „ein Leben ohne Liebe sei nichts," in Bezug
auf Eduard.
Wie der Gute überall das Beste denkt, so auch Charlotte;
bei ihr unterHegt es gar keinem Zweifel, dass die Aussöhnung
erfolgen werde. Schon plant sie, wie sie in der Mooshütte
sitzt, ein Yerhältniss zwischen O. und dem Hauptmann an.
Beide Frauen wohnen jetzt in dem neugebauten Hause, das
oben auf dem Berge liegt. O. macht mit dem Kinde oft Spa-
ziergänge zu den Platanen, wohin sie am liebsten geht; nur
aufs Wasser soll sie dasselbe nicht mitnehmen. Da kommt
Arcl'.iv f. n Sprach":' XLVm. 27
418 Die deutsche Novelle und der deutsche Roman.
wieder Besuch: ein englischer Lord, Freund Eduard's, mit sei-
nem Begleiter ; grosses Interesse für neue Anlagen bewegt ihn
zum Kommen. Der wolwollende Engländer verletzt, ohne es
zu wollen, in seinen Plaudereien Ottilie durch die Bemerkung,
dass meist der Schöpfer neuer Anlagen am wenigsten Genuss
davon habe; denn sie muss an E. denken, der dürftig, freud-
los, heimatlos umherirre, und besehliesst, sich zu entfernen, da-
mit er heimkehren könne. Hat sie vorher ihrer Liebe entsagt,
so will sie nun auch seinem Anblick entsagen. Der Begleiter,
der den Misgriff merkt , macht den Lord darauf aufmerksam ;
dafür soll der Begleiter abends eine Geschichte zum besten
geben, welche den Übeln Eindruck wieder verwische. Doch
auch hiermit soll es den Freunden nicht glücken, da ein noch
weit grösserer Fehlgriff begangen wird durch die Novelle : „die
■wunderlichen Nachbarskinder." Der Gang derselben ist kurz
folgender :
„Zwei Nachbarskinder sind seit früher Jugend für ein-
ander bestimmt ; mit den Jahren zeigt sich aber eine wach-
sende Feindschaft, so dass die Eltern den Plan aufgeben. Die
Jungfrau verlobt sich einem anderen Manne. Später kommt
ihr früherer Verlobter, der indes zum herrlichen JünoHnjr her-
angewachsen ist, wieder vor ihre Augen ; sie sieht ihn, vergisst
alles und gewinnt ihn leidenschaftlich lieb, er aber bleibt kalt.
Da besehliesst sie zu sterben. Einst macht eine Gesellschaft,
zu der auch diese drei Personen gehören, eine Fahrt auf dem
grossen Strome; der Jüngling steuert. An einer gefährlichen
Stelle springt sie ins Wasser, der Steuermann sofort ihr nach.
Nach langer Zeit erreicht er • sie und schwimmt ans Ufer. In
einer nahen Hütte kommt sie Avieder zum Leben und fällt ihm
um den Hals. Beide schwören sich Liebe, eilen umgekleidet
an den Strand, treffen das eben vorüberfahrende Schiff und er-
bitten den elterlichen Segen, der nicht ausbleibt." Dies ist der
Inhalt. Da ist zwar ein Conflict der Liebe, aber er wird ein-
fach und sofort gelöst; die Entwickelung ist eine unerwartete;
grossartige Seelenkämpfe finden nicht Statt. Die Verhältnisse
sind klar und einfach, ebenso Ort und Zeit; daher kann auch
der Umfang der Erzählung nicht gross sein. Charaktere wer-
den nicht geschildert; die leidenschaftliche Braut, der gesetzte
Die deutsche Novelle und der deutsche Roman. 419
Bräutigam, der erst ruhige, dann in heisser Liebe entbrannte
Liebhaber sind blos in einzelnen Zügen gemalt.
Sehen wir uns wieder um nach unseren Lieben! Ch. ver-
lässt bewegt das Zimmer, O. eilt ihr nach. Die zwei Freunde
sehen, dass sie wieder gefehlt haben; denn die Geschichte hat
zwischen dem Hauptmann und einer Nachbarin wirklich statt-
gefunden. Danach ist also jener, wovon wir früher nie gehört
haben, ein Witwer; denn zum Heiraten muss es doch gekom-
men sein. Oder war der Schluss noch nicht da und hätte sich
ein Hindernis eingestellt, das der Engländer nun nicht mehr
erzählen konnte? — Die Fremden empfehlen sich. Beide Frauen
finden ihr Glück in dem heranwachsenden Knaben, dem O.
eine zweite Mutter geworden ist. Mit diesem idyllischen Bilde
schliesst das Capitel; Beruhigung der Leidenschaften ist einge-
treten und stille Zufriedenheit eingekehrt. Der Hauptzweck der
ganzen Episode ist, uns nachholend noch einiges über das
frühere Leben der Hauptpersonen zu berichten.
Wie, so fragen wir, kann der Autor, nachdem völliger
Stillstand in der Handlung eingetreten ist, einen Fortschritt
derselben herbeiführen? Nur, indem Eduard wieder auftritt.
Deshalb führt er uns nach der langen Abschweifung, die durch
volle elf Capitel des zweiten Teiles sich hingezogen hat, wie-
der zu dem aus dem Feldzug heimgekehrten, der sich von
neuem auf dem Gütchen aufhält. Derselbe will nun entschei-
dende Schritte tun zur Lösung der. Ehe, selbst der Krieg hat
ihm diesen Gedanken nicht nehmen können. Wir sehen den
oben erwähnten Charakterzug völlig bestätigt: er kann den ein-
mal gefassten Wunsch nicht aufgeben. In dieser Entschlossen-
heit beruft er den inzwischen zum Major avancirten Haupt-
mann; er will sich aussprechen, die Scheidung veranlassen und
ihm, dessen Liebe zu Ch. er kennt, diese als Gattin zuführen.
Dieser, eine ernste und gesittete Natur, macht ihm eindringliche
Vorstellungen; erst als er ihm alle Pflichten gegen Charlotte,
gegen das Kind , gegen die Meinung der Welt vergebens auf-
geführt hat und ihn beharrlich bleiben sieht, sowie entschlossen,
seinen Willen durchzusetzen, es koste was es wolle, willigt er
ein, die Sache in Erwägung zu ziehen. — Schon zu Ende des
ersten Buches war dieses Mittel gewählt worden; allein Mittler
27*
420 Die deutsche Novelle und der deutsche Roman.
war bei Nennung der Vaterfreuden gar nicht erst auf die Sache
zu sprechen gekommen ; diesmal wird nun ein gefährlicher Un-
terhändler, der stillgeliebte Freund, vorgeschoben. Jetzt rückt
die Handlung wieder vor, nun aber auch Schlag um Schlag,
immer neue Momente bringend, zum Zerhauen des Knotens
hindrängend.
Vollends sicher und freudig erregt in der Hoffnung des
baldigen Gelingens wird Eduard, wie er vom Major hört, dass
Ch. selbst einmal ihm O. zugedacht habe. Wie passend, dass
er dies erst jetzt, unter solchen Verhältnissen erfährt! Sogar
das Kind will E. dem Major abtreten, auch Güter und Geld,
soviel er haben will. Otto muss sich gleich auf den Weg machen ;
E. hält sich in der Nähe verborgen, um sofort den Erfolg
zu vernehmen. Doch Ch. ist in die Nachbarschaft gefahren,
60 dass der Major sie nicht gleich sprechen kann, O. sitzt
lesend am Teiche. Lange vermag E. seine Ungeduld nicht
zu zügeln ; er schleicht auf geheimen Wegen in den Park, sieht
O. und eilt auf sie zu. O. zaudert, ihn warm zu empfangen,
sie deutet auf das Kind als Hindernis. Jetzt erst erblickt E.
dasselbe und staunt über die Aehnlichkeit, die dasselbe mit
dem Major hat; O. weist ihn jedoch auch auf die mit ihr statt-
findende hin. E. entschuldigt sich wegen jener Nacht und sieht
gerade darin nur ein schwerwiegendes Motiv zur Trennung der
Ehe. Hier zeigt sich O. wieder als die energischere; sie ver-
langt, E. solle sich entfernerv In leidenschaftlicher Freude tren-
nen sie sich ; nach E. Mitteilungen scheint ihnen alles geebnet.
Zum zweiten Male ist es hier dem Autor vergönnt, die Sache
einem glücklichen Ende zuzuführen; wieder bedarf es blos des
Jaworts von Charlotte, um alle des Glückes teilhaftig zu
machen. Wir haben oben schon bemerkt, dass dann die poe-
tische Gerechtigkeit würde vermisst werden, die jede Schuld
verfolgt und bestraft. Dem höchsten Glück folgt, wie so oft
im Leben, der herbste Schmerz. Ein vorhin nicht geahntes
Ereignis tritt ein, welches die eben noch so klare Sachlage völ-
lig umändert und neue Verwickelungen, aber die letzten, schafft.
— Nie ist O. mit dem Kinde, da Ch. dies ausdrücklich ver-
boten hat, über das Wasser gefahren ; diesmal wagt sie es,
durch E. so lange aufgehalten, um rasch oben im Hause zu
Die deutsche Kovelle und der deutsche Koman. 421
sein. Sie fährt ab mit einem heftigen Stosse , das Kind fällt
ins Wasser, von O. herausgezogen ist dasselbe todt. Der
Kahn bleibt, da ihr das Ivuder entfallen ist, regungslos in der
Mitte des Sees stehen ; sie sucht in ihrer Herzensangst das
Kind wieder zu beleben, doch umsonst. Nirgends erscheint
Hülfe; da wendet sie sich zum ersten Male an den, der allein
helfen kann. Ihr Gebet wird erhört; denn ein sanfter Wind
treibt den Kahn ans andere Ufer, Freilich hätte dies auch auf
andere Weise bewerkstelligt werden können; wenn nun Göthe
hier das Wunderbare vorzieht, so will er auf die entschiedene
Sinneswandelung hindeuten, die nunmehr bei O. erfolgt. Vor-
her fest entschlossen zu entsagen, hat sie jetzt, wo es zur Prü-
funo; gekommen ist, sich in selbstischem Interesse dem Gelieb-
ten zwar zögernd, aber doch wieder hingegeben, ohne zu
bedenken, dass sie Gottes Strafgericht herausfordere. Rasch
hat sich dieses erfüllt; indem sie das erkennt und bereut, ist
sie auch für E. verloren.
Nach fruchtlosen Bemühungen des Chirurgen sinkt O. ohn-
mächtig hin. Ch. kommt und erfährt alles; anfangs will sie es
nicht glauben, das Grässliche ; dann setzt sie sich gefasst aufs
Sopha, das Antlitz Ottiliens, die stumm und unbeweglich ver-
harrt, auf ihre Kniee hebend. Auf die Kunde von dem gräss-
lichen Unglück eilt der Major herbei, sieht mit geheimem Grausen
sein Ebenbild und setzt sich schweigend ihr gegenüber. Der
grösste Schmerz macht stumm, das sehen wir an diesen beiden.
Die ganze Nacht hindurch sitzen sie sich so gegenüber; erst
ain Morgen fragt Ch. den Major, was die Ursache seines Kom-
mens sei. Ch. willigt gefasst in die Scheidung, nachdem sie
seine Rede gehört, und macht sich noch Vorwürfe, dass sie so
lange mit dieser Entscheidung gezögert habe. Verständig ist
ihr ganzes Raisonnement; nur indem sie von Eigensinn spricht,
scheint eine kleine Bitterkeit «ces'en E. erkennbar zu sein. Der
Major geht, aus Ch. letzten Worten das beste für sich erhof-
fend. Das Ende des Kindes vermag er nicht zu bedauern, im
Gegenteil scheint ihm gerade dadurch ein Hindernis aus dem
Weo;e o-eränmt und E. stimmt ihm hierin völlig bei. Nicht so
Ottilie, deren sittliche Natur sich Bahn gebrochen hat. Aus
dem Starrkrampf erwacht, in welchem sie alles Verhandelte mit
422 Die deutsche Novelle und der deutsche Roman.
angehört hat, weist sie zuerst auf einen ähnlichen Fall hin, der
in ihrer Jugend ihr zugestossen sei und mit dem jetzigen viele
Aehnllchkeit biete ; dann erklärt sie bestimmt , sie werde nie
Eduard's Weib werden, und droht, wenn Ch. sich würde schei-
den lassen, im See ihr Verbrechen büssen zu wollen. Bei die-
sem bedeutenden Ereignis hat das conventionelle „Sie" dern
traulichen „Du" Platz gemacht. So erheben sich von einer
Seite, von welcher aus dasselbe früher am wenigsten erwartet
wurde, Einwendungen, welche die Aussicht auf eine friedliche
Lösung trüben.
Das Kind wird in der Kapelle beigesetzt als das erste
Opfer eines ahn ungs vollen Verhängnis se s. Beide Frauen
leben ruhig neben einander fort; Ch., die das Abenteuer mit
E. erfahren hat, schont O. möglichst, in der Hoffnung, ihr Sinn
werde sich doch noch ändern. O. dagegen sucht Charlotten
möglichst zu unterhalten und zu zerstreuen. Dabei ist das
Verhältnis immerhin ein peinliches, weil sie nie vom Vergange-
nen sprechen mögen; auch der Ort gefällt ihnen nicht mehr.
O. ist sich ganz klar über ihren Zustand , ihre Pflicht ; in die
Welt hinaus mag sie nicht gehen, in der Pension wünscht sie
jetzt zu verweilen und tätig zu sein. Der Einwand , den Ch.
hinsichtlich des Gehülfen macht, ist für O. nicht stichhaltig ;
von E. will sie nichts mehr wissen. Mittler soll erforschen,
wie E, jetzt gesinnt sei, ob auch er entsagen wolle ; er rät, das
Mädchen sofort in die Pension zu schicken. O. reist ab, ohne
den von E. geschenkten Koffer mitzunehmen. So scheint noch
einmal durch diesen freiwilligen Schritt des Mädchens die Sache
ins Gleichgewicht kommen zu wollen; hofft doch selbst Ch. jetzt
noch einmal auf Wiederherstellung des früheren Verhältnisses !
Doch die Katastrophe naht.
Mittler sucht E. auf, teilt ihm die Abreise mit und findet
ihn resignirt und gleichgültig. Kaum aber ist derselbe wegge-
gangen, so ergreift ihn die Sehnsucht nach O. unwiderstehlich.
Er eilt in dasselbe Wirtshaus, wo sie übernachten wird. Brief-
lich will er sie vorbereiten ; in der Kammer, die sie betreten
wird, legt er den Brief auf den Tisch ; da rasselt schon der
Wagen, er kann nicht mehr aus dem Zimmer eilen : sie sehen
sich. Doch welcher Contrast mit der letzten Begegnung!
Die deutsche Novelle tuad der deutsche Roman. 423
Stumm steht sie ihm gegenüber und weicht vor seiner Annähe-
rung zurück. Auf seine Bitte liest sie den Brief, und wie sie
ihn gelesen hat, macht sie jene oben vom Gehülfen bezeichnete
Bewegung, vor deren unwiderstehlichem Zauber E. hinausflüchtet.
So sehen wnr, wie nichts beim Autor ohne Absicht steht ; die
obige Bemerkung des Gehülfen findet hier ihre Bestätigung,
und zwar, wie beim Epiker, in denselben Worten, die der Ge-
hülfe gebraucht. Am nächsten Morgen tritt E. noch einmal
vor sie hin; nach längerem Schweigen antwortet sie seinem
Drängen mit einem sanften, aber festen Nein. Willenlos lässt
sie sich bev/egen, zu Ch. zurückzufahren.
E. sprengt hinter dem Wagen her ins Schloss ; O. drückt
die Hände beider Gatten zusammen und stürzt in ihr Zimmer.
Erst durch den Major, der sofort gerufen wird und von E. das
Vorgefallene vernimmt, erfährt Ch. dasselbe vollständig. E.
ist krank, unmutig, hastig; Ch. muss dem Major ihre Hand
versprechen, die Männer wollen sich durch eine Keise zerstreuen.
O. dagegen schweigt beharrlich, isst und trinkt nicht; schon
soll der Gehülfe geholt werden, um auf sie einzuwirken, da
schreibt sie an die Freunde und bittet, man möge sie ruhig
leben lassen und nicht in sie dringen, die Zeit brinj^e manches
ins Gleichgewicht. E. fasst sogleich vermöge seiner natürlichen
Anlage die besten Hoffnungen und bleibt, O. verkehrt ruhig
und lieiter mit den Freunden. Stets sitzen E. und O. neben
einander, aber ohne Wort, ohne Geberde von ihrer Seite. Alles
scheint wieder in dem alten Geleise zu gehen, wie es zu An-
fano; des ersten Buchs gewesen war. — Herrlich ist dieser Pa-
rallelismus des wirklichen und des Scheinzustandes, sowie der
Contrast der durch den Zeitraum eines Jahres getrennten Situa-
tionen. E. liest abends wieder vor, O. sieht ihm ins Buch wie
sonst ; Violine und Ciavierspiel, Flöte und Saiten erklingen wie
früher; man lebt, als sei nichts vorgefallen. So rückt E. Ge-
burtstag heran, den man im vorigen Jahre nicht hatte feiern
können ; diesmal soll er still begangen werden. Je näher der
Tag kommt, desto feierlicher wird Ottiliens Stimmung. Schon
einmal hat sie sich auf diesen Tag gefreut, in der Hoffnung,
selbstgezogene Blumen an diesem E. darbringen zu können ;
jetzt hat sie E. bei sich, und die Blumen prangen in derselben
424 Die deutsche Novelle und der deutsche Roman.
Weise. Die Empfindungen, von denen O. damals in der Ka-
pelle bewegt wurde, die herbstlichen Tage, die das Absterben
der Natur anzeigten, — sind sie nicht die leisen Vormahnungen
dessen, Avas jetzt werden sollte? Es ist, als ob damals die
Natur und die ganze feierliche Umgebung hätte sagen wollen :
üeber allen Gipfeln
Ist Ruh' ;
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Und jetzt ist es, als ob das leise Gebet zum Himmel stiege:
Der Du von dem Himmel bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest,
Ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süsser Friede,
Komm, ach komm in meine Brust!
Damals konnte O. noch reiche Hoffnungen hegen, jetzt ist stilles
Entsagen ihr Teil.
Es beseofnet häufig im menschlichen Leben, wenn Jemand
an seiner althergebrachten Gewohnheit , seiner Lebens- und
Denkweise etwas ändert, dass wir dann sagen, mit dem betref-
fenden müsse es bald zu Ende gehen ; denn wir nehmen an,
dass blos das nahende Verhängnis eine solche Wirkung aus-
üben könne. Etwas ähnliches sehen wir zu Anfang dieses letz-
ten Capitels. Während O. bisher den Koffer nebst Inhalt gar
nicht beachtet, ja sogar verabscheut hat, öffnet sie jetzt den-
selben und fertigt sich ein vollständiges Gewand. Ihre Freu-
digkeit wächst immer mehr auf Eduard's Geburtstag hin; nie-
mand aber merkt, dass sie zu Zeiten Anfälle von Schwachheit
hat. Mittler, der viel im Hause verkehrt, ist sehr schonend in
seinem Auftreten ; nur wenn er auf ein moralisches Thema zu
sprechen kommt, bricht er rücksichtslos die Zurückhaltung.
Die deutsche Novelle uud der deutsche Roman. 425
Während er zu Ende des vorigen Teiles vergeblich den Mittler
spielte, ist er jetzt dazu ausersehen, die Veranlassung zur Lösung
des Knotens zu geben, freilich in ganz anderer Weise , als er
zufolge seiner praktischen Klugheit es erwartet. Er ist eben
im besten Eaisonniren über das Unzweckmässige einzelner Ge-
bote und besonders des sechsten : ohne Ottiliens Eintreten zu
bemerken, fährt er lebhaft fort, seine Ansicht darüber zu ent-
wickeln, — da geht diese plötzlich, äusserlich ganz verwandelt,
wieder aus dem Zimmer. In ihrem Gemach angelangt, fällt sie
in Ohnmacht, sei es nun, dass ihre körperliche Schwäche dar-
an schuld war, oder dass es den kräftigen Ausdrücken Mittler's
zuzuschreiben ist. Nanny gesteht auf Drängen des Arztes, O.
habe heute, sie habe seit vielen Tagen so viel wie nichts ge-
nossen. Was sollen wir urteilen? Entweder es war eine be-
wusste Absiclit in diesem Fasten, das an dem folo-enden Tage
einen tragischen Abschluss finden sollte, oder es war ein unbe-
wusstes, apathisches Hinleben, dem der Zufall ein Ende gemacht
hat; dass sie wirklich Avieder die Absicht gehegt habe, E. zu
heiraten, daran können wir nach ihren Aeusserungen und Hand-
lungen nicht glauben, — Wie O. daliegt, kommt E. und stürzt
in leidenschaftlicher Aufregung vor ihr nieder ; bald darauf ver-
scheidet sie. Anfangs will E, verzweifeln, dann willigt er ein,
dass O., im Glassarge liegend, in der Kapelle beigesetzt werde.
So ist sie denn todt, die herrliche Blume, geknickt in der Blüte
der Jugend ! Kaum ins Leben eingetreten, verlässt sie dasselbe,
geliebt und betrauert. Auf Erden war ihr nicht verstattet, dem
Geliebten anzugehören; dies brach ihr das Herz. Der Tod war
das einzige Mittel zur Lösung der Verwickelung; sie büsst da-
durch ihre Schuld. Die Uebertretung des Moralgesetzes, die
sie sich zu Schulden hat kommen lassen, ist gesühnt. Am fol-
genden Morgen wird ihre Leiche hinübergetragen, von der eben
tiufgehenden Sonne bestrahlt. Eine zartsinnige Hindeutung auf
die Auferstehung des Geistes ! Nanny, die seitdem, beinahe
irrsinnig, hinter Schloss und Riegel gehalten wird, springt in
den vorübergehenden Leichenzug vom Oberboden hinab, sie
scheint todt. Plötzlich springt sie auf, Ottiliens sanfte Gesichts-
züge scheinen ihr zu vergeben. Die Leiche wird in der reich
geschmückten Kapelle beigesetzt , und Nanny, die wunderbar
426 Die deutsche Novelle und der deutsche Roman.
unbeschädigte, bleibt neben der Lampe als Wächterin. Abends
tritt der Architekt ein und naht stumm der Leiche; er muss
weinen, wie er die Inniggeliebte sieht. Seine Stellung gleicht
derjeni<i-en, in welcher derselbe schon einmal vor Belisar bei
Geleo-enheit des lebenden Bildes aufgetreten ist, das auf Lu-
cianens Geheiss aufgeführt wurde. Nanny's wolwollende Reden
trösten ihn. War Nanny bei dem Sturze so merkwürdig un-
verletzt geblieben, so schrieb dies das Volk einer wundertätigen
Kraft der Verstorbenen zu; von weither wallfahrtete man, um
geheilt zu werden. Dies ist das zweite Beispiel eines Wunder-
glaubens. Kehren wir zurück zu Eduard! Nie tritt er in die
Kapelle, trostlos und apathisch irrt er umher, Avenig essend und
trinkend, wenig gesprächig. Auch hier flicht sich wieder die
Liebe zum Wunderbaren ein. Eines Tages erscheint ihm das
mit E. und O. gezeichnete Glas, das er stets bei sich führte,
nicht mehr dasselbe. Er fragt den Kammerdiener und hört,
das alte sei zerbrochen und ein ähnliches untergeschoben ; er
scheint darin sein Schicksal zu lesen. Er ist unmutig darüber,
dass er langsam abstirbt; endlich wird er todt aufgefunden.
Dass er sich nicht selbst getödtet habe, sondern vom Tode
überrascht worden sei, darauf schien der Umstand zu deuten,
dass Locken, Blumen, Blättchen, Erinnerungen an Ottilie, aus-
gebreitet vor ihm lagen, auch das Papier, welches ihm einst
Ch. so zufällig ahnungsreich übergeben hatte. Seine Leiche
wird neben O. in der Kapelle beigesetzt. — So ruhen die Lie-
benden neben einander; was ihnen das Leben versagte, das
schenkte der Tod. Dies war der einzige Abschluss, den Göthe
dem Roman geben konnte. Beide haben eine Schuld begangen,
beide haben die sittliche Weltordnung nicht anerkennen wollen ;
beide konnten nicht ohne ein Verbrechen sich hier in diesem
Leben angehören, ebenso wenig aber vermochten sie einander
zu entsagen ; — der Tod löste den Conflict und rächte die Ver-
letzung des sittlichen Institutes der Ehe. Die tragische Ka-
tharsis ist erreicht.
Zum Schlüsse kommt es noch darauf an, folgende Punkte
näher zu beleuchten; die scharfe Charakterzeichnung, die feine
Die deutsche Novt-Ue und der deutsche Roman. 427
und sichere Durchführung der Gegensätze , die künstlerische
Einheit des Ganzen, sowie die harmonische Verknüpfung und
Gruppirung des Einzelnen, das Seelen- und Gemütsleben, die
Vorliebe für Ahnungen und Wunderglauben, den Stil und die
Darstellung, die Bezeichnung des Romans und die Beziehung
auf ähnliche Werke.
Die Charaktere sind durchgehends scharf entwickelt und
rein gezeichnet ; wie Bilder und Statuen glauben wir die Per-
sonen vor uns zu sehen : in so scharfen Umrissen treten sie vor
unser geistiges Auge. Wir sehen Eduard rasch in seinen
Entschliessungen , keinen Widerspruch duldend, etwas einmal
beschlossenes bis zur äussersten Consequenz durchführend;
lebhaft vom Temperament, leicht aufwallend, ohne rechte Auf-
merksamkeit auf sich selbst, daher sich leicht verratend, arg-
wöhnisch gegen andere, sich selbst widersprechend in seinen
Handlungen; heftig und leidenschaftlich in der Liebe, tapfer
bis zur Verzweiflung im Kampfe, freigebig bis zur Verschwen-
dung, edel von Gesinnung; ahnungsvoll, auf Zufälle und un-
bedeutende Ereignisse viel gebend; keine Moral anerkennend,
sondern blos das Bedürfnis des Herzens, dabei kindliches Wesen
behaltend bis ins Mannesalter. Seine Gattin Charlotte ist
kühl und verständig, selbst im Moment der Leidenschaft zu-
rückhaltend und sich beherrschend; dasselbe fordert sie von an-
deren. Sie zeigt sich liebevoll und teilnehmend gegen ihre
Mitmenschen, selbst gegen ihre Nebenbuhlerin. Die Kraft des
moralischen Gesetzes überschätzt sie so, dass sie immer wieder
auf Besserung hofft. Sie ist aufopfernd und entsagend, ohne
egoistisches Interesse; sparsam und einfach, anregend und schaf-
fend, tätig im Hauswesen; das zukünftige leicht erratend mit
praktischem Verstände; geistreich in der Unterhaltung, über
philosophische Materien mit Geschick sich verbreitend , dabei
feingebildet und gewandt im Umgang. Der Hauptmann er-
scheint praktisch, verständig, vielseitig gebildet, im Leben schon
vielfach erprobt; leicht in seine Lage sich findend, kühn und
mutig in Gefahren, zartfühlend und gern tätig für seine Freunde;
entsagend durch männlichen Entschlu,ss, weniger durch mora-
lische Erkenntnis, daher auch leicht wieder für sein Glück hof-
fend und von selbstischem Begehreu. Ottilie ist jugeudlieh-
428 Die deutsche Novelle und der deutsche Roman.
schüchtern, bescheiden in ihrem Auftreten, ungern glänzend und
beachtet; kindlich giebt sie sich hin in ihrer Liebe, ohne Ah-
nuno- der darin liegenden Schuld; wenig mitteilsam, zieht sie
sich mehr in ihr Inneres zurück, daher tritt sie auch hinter an-
deren Mitschülerinnen zurück ; dabei ist sie dienend und ge-
fallifT^, tätig und arbeitsam, einfach und sparsam, zartfühlend und
zartbesaitet, die geringste Kränkung leicht spürend und tief
empfindend; ausharrend in der Liebe, erst leidenschaftlich >sich
hinsrebend, dann nach Erkenntnis ihrer Schuld standhaft im
Entsagen trotz aller Versuche des Geliebten und der Freunde,
zuletzt den Tod für ihre Liebe erleidend. Eine merkwürdige
Person ist Mittler, sonderbar in seinem ganzen Auftreten,
ein närrischer Kauz, aber gern gesehen. Er tritt jedesmal auf
kurz vor einem wichtigen Ereignis, so vor der Berufung des
Hauptmanns, vor dem Besuch des Grafen und der Baronesse,
vor dem Tode des Geistlichen und Eduard's Zuge in den Krieg,
vor dem Tode der beiden Liebenden. Streng morahsch, achtet
er bei seinen Forderungen auf nichts anderes ; Menschen, die
gegen das Moralgesetz Verstössen, meidet und hasst er; wenn
auch wolmeinend und für das Beste der Menschen besorgt, geht
er doch blind drauf los und verletzt, ohne es zu wollen ; san-
guinisch in seinen Hoffnungen, weil das seinen Wünschen ent-
spricht, wird er leicht und bitter getäuscht. Luciane ist eine
lebhafte Weltdame, ohne Sinn für Häuslichkeit und Sparsam-
keit, kokett und luxuriös, nur bei geräuschvollen Festen sich
wolfülend. Leicht auffassend, glänzt sie äusserlich durch ihre
Kenntnisse und blendet durch ihre Eigenschaften. Sie ist lustig
bis zur Ausgelassenheit, zumutend bis zur Frivolität, aufdring-
lich bis zur Belästigung und Beschädigung anderer, überall
glänzen und alles an sich fesseln wollend, keinen Widerspruch
duldend; dabei zeigt sie sich jedoch auch manchmal woltütig
und mitleidig. Der Gehülfe ist ein praktisch und theoretisch
erfahrener Pädagfoo-e, vom Ernste des Lebens und seines Be-
rufes durchdrungen, tiefer Menschenkenner, gebildet und welt-
erfahren, angenehm in der rnterhaltung. Durch das Aeussere
lässt er sich nicht bestechen , er sieht auf den inneren Wert.
An jedem Menschen weiss er, wohvollend in seiner Beurteilung,
das Gute hervorzuheben , selbst gegenüber dem oft taktlosen
Pie deutsclte Novelle uufl der deutsche Roman. 429
Benehmen der gutmeinenden Vorsteherin; offen begründet und
ruhicj verteidiot er seine entgegengesetzte Meinung vor seinen
Vorgesetzten, In seiner Liebe ist er verständig und gelassen;
das nil admirari des Horaz scheint ihm in Fleisch und Blut
übergegangen zu sein. Die Natur des Architekten ist eine
ähnliche wie die des Gehülfen; er erscheint gebildet, tätig, er-
fahren. Doch besticht er mehr durch seine künstlerischen Be-
strebungen , als jener durch seine Erziehungsmaximen. Beide
ergänzen sich gegenseitig: der praktische, belehrende Verstand
und die erheiternde Kunst. Dasselbe zeigt sich in der Liebe
zu Ottilien ; jener sieht in ihr die treue Gehülfin bei seinem
schwierigen Werke ; dieser schätzt ihr jungfräulich-zurückhal-
tendes, kindliches Betragen, ihre Liebe zur Malerei, seine Liebe
hat einen poetischen Anhauch, welcher bei dem Gehülfen fehlt.
Dabei ist er ohne Neidgefühl gegen den Nebenbuhler, durch
den er sich völlig ersetzt sieht; zurückhaltend in seinem Gefühl,
äussert er erst in der Scene am Grabe Ottiliens eine tiefe Lei-
denschaft. — Ebenso wie die Charaktere scharf gezeichnet
sind, ist auch die Darstellung der Situationen, in denen sich
die einzelnen Personen befinden, eine sehr anschauliche und
bietet dem Maler vielfache Motive; daher kann es auch nicht
fehlen, dass der Pinsel der bedeutendsten Künstler der Gegen-
wart sich dieses Stoffes bemächtigt hat. Wie wunderbar pla-
stisch steigt die Scene in unserer Phantasie empor, wo Ottilie
in ratlosem Jammer das Kind in ihren Armen hält, „da der
Kahn ohne Bewegung auf der Wasserfläche steht!" Kaulbach
hat diese Scene malerisch gestaltet mit schöpferischer Kraft.
Ferner zeichnet sich der Koman aus durch feinste und
sicherste Durchführung der Gegensätze. — Ist der Kontrast
überhaupt ein Mittel von hoher Bedeutung für die Zwecke des
Dichters, — denn er allein ermöglicht durch die herbeigeführ-
ten Verwickelungen den Fortgang der Handlung, spannt das
Interesse und bewirkt eine klare Uebersicht der Personen, —
so hat er namentlich in unserem Roman vielfache Verwendung
gefunden. Da stehen sich gegenüber: der lebhafte Eduard —
der ruhige Hauptmann ; die sittliche Charlotte — die leichtlebige
Baronesse; die gesetzte Ottilie — die flatterhafte Luciane; der
egoistische Eduard — die entsagende Ottilie; die ewig sich
430 Die deutsche Novelle uml der deutsche Roman.
gleich bleibende Natur und das friedliche Schaffen derselben —
das aufgeregte und unruhige Treiben der in derselben sich
bewegenden Menschen, die des inneren Friedens erman-
geln ; die Krankheit — die oft, aber vergebens versuchte Hei-
lung.
Nicht minder ist hervorzuheben die künstlerische Einheit
des Romans, sowie die harmonische Verknüpfung und Gruppi-
rung des Einzelnen. Alles, was im Roman vorkommt, hat Be-
zug auf den Conflict der Liebe und dessen Lösung ; die Neben-
personen treten blos in so weit hervor, als sie die Hauptper-
sonen in helleres laicht stellen sollen. Dabei zeigt sich eine
harmonische Verknüpfung im Auftreten einzelner Personen ;
wie deutlich zu erkennen ist, sind oft zwei ähnliche Erschei-
nungen auf einander bezogen ; etwas lange vorher angedeutetes
geht später in Erfüllung, z. B. der Rückfall des kranken Mäd-
chens, welches am Tode eines seiner Geschwister schuldig war,
steht parallel dem Wiedererwachen der Liebe in Ottiliens Her-
zen, die gleich darauf den Tod des Kindes verursacht; der Lie-
besbrief, den Charlotte einst ihrem Manne so zufällig ahnungs-
reich übergeben hat, kommt wieder zum Vorschein nach Eduard's
Tode, auf dem Tische liegend. Nicht minder ist zu loben die
Gruppirung der Personen, die einander suchen oder er-
gänzen ; solche sind : Eduard und Ottille, der Hauptmann und
Charlotte, der Graf und die Baronesse, der Architekt und der
Gehülfe.
Das Seelen- und Gemütsleben der Einzelnen zeigt die
Kunst des Schriftstellers in ihrem geheimsten und innersten
Wesen ; wie geöffnet liegt dasselbe vor uns, bald in klarer
Freude, bald in trüber Stimmung. Gross sind die Leidenschaf-
ten, welche die Herzen der Hauptpersonen aufregen, und Avür-
dig der Darstellung; dieselben werden in rein objectiver Weise
geschildert. Wir tun einen Einblick in das Räderwerk des
menschlichen Herzens mit seinen Fluten und Wallungen, in die
Liebe mit ihren Stufen und Gegensätzen von der höchsten Lust
bis zum herbsten Schmerz. Wie vielfach tritt dieselbe auf!
bald ist sie zärtlich und leidenschaftlieh, bald ernst und ent-
sagend. Von Stufe zu Stufe sehen wir dieselbe aufkeimen in
Die deutsche Novelle und der deutsche Roman. 431
Ottlliens Herzen: anfangs still sich äussernd in einzelnen kaum
zu bemerkenden Erscheinungen, dann plötzlich sich enthül-
lend, unzerreissbar , stark, wieder enttäuscht und still ent-
sagend, dann frische Hoffnung schöpfend, durch das plötzliche
Unglück von neuem unmöglich gemacht und zum Tode ge-
brochen.
Gradezu auffallend ist die Vorliebe für Ahnungen und für
das Spiel des Zufalls. So steigt in Chai'lotten eine schlimme
Ahnung auf, wie ihr Eduard sein Vorhaben in BetreflF des
Hauptmanns mitteilt. Mittler stellt seine Vermittelung in Aus-
sicht, wenn man deren bedürfen solle. Ferner wird das zufäl-
lige Auffangen des Glases als ein glückliches Zeichen ange-»
sehen, und wir finden im folgenden, dass dasselbe öfter zu
Eduard in Beziehung steht. Mittler befürchtet schlimmes für
die Freunde, wie ihm die bevorstehende Ankunft des Grafen
und der Baronesse mitgeteilt wird. Die Erzählung der Baro-
nesse über die Freundin, die demnächst von ihrem Manne werde
geschieden werden, dient dazu, das kommende vorzuberei-
ten ; ebenso die Aeusserung derselben Dame über die dritte
Stufe, welche Charlotte und Eduard im ehelichen Leben noch
zu erreichen hätten. Seltsam ist die Ahnung, von welcher Ch.
nach der Scene mit dem Hauptmann ergriffen wird. Zufallige
Ereignisse mahnen E. wiederholt ab, sich in einen Briefwechsel
mit Ottilie einzulassen. Zu beachten ist, dass die Zeit der
Baumpflanzung am See und der Geburt Ottiliens auf Tag und
Jahr übereinstimmt. Ahnungsreich ist ferner der Gedanke,
dass die Seitenkapelle zur Grabstätte für zwei Personen wie
geeignet schien. Von Bedeutung ist auch, dass der Gehülfe
Charlotten einen Sohn prophezeit, sowie dass der Geistliche bei
der Taufe stirbt. Das Kind wird in der Kapelle beigesetzt
als das erste Opfer eines ahnungsreichen Verhängnisses. Auf
das Wunderbare ist früher schon hingedeutet worden.
Der Stil ist glatt und graciös, die Sprache künstlerisch voll-
endet. Unebenheiten und Absonderlichkeiten des Ausdrucks
kommen nur höchst vereinzelt vor, öfter noch in der zuerst be-
handelten Novelle als im Roman. Häufig sind Sentenzen in
das Werk eingestreut, teils in Gesprächen, teils als Einleitun-
432 Die deutsche Novelle und der deutsche Roman.
gen der Capitel, teils als Aufzeichnungen im Tagebuche; hier-
her o-ehören auch die ethisch- philosophischen Betrachtungen,
namentlich über die Ehe. Begründet sind dieselben dadurch,
dass das Alter seine Erfahrungen anbringen will ; eine parallele
Erscheinung findet sich im Wilhelm Meister. P]benso bemer-
ken wir eine Vorliebe für die Natur und technische Fertigkeiten.
Davon zeugen die chemischen Beispiele von Verwandtschaften,
die Sprüche des Maurers bei der Richtung des Hauses, die Er-
klärung der Benennung der rote Faden, die Discussion des
Architekten über die Baukunst, die Bemerkungen Ottiliens über
die Natur, zu denen sie durch die Affenporträts veranlasst wird,
die Unterhaltung über die Gärtnerei, die Versuche mit dem
Pendel, die Darstellung lebender Bilder nach Kupferstichen, die
Bemerkung über Declamation, dass beim epischen und lyrischen
Vortrag Gesten möglichst zu vermeiden seien. Ein ferneres
Merkmal ist die Vorliebe für Pädao-oscik, welche gerade so her-
vortritt wie im Wilhelm Meister. Dies beweist zunächst die
ganze Erscheinung des Gehülfen ; seine zwei Beilagen an Char-
lotte, die über Ottilie handeln, enthalten viele feine und schätz-
bare pädagogische Kunstmittel und eröffnen einen weiten Blick
ins Getriebe dieser Kunst. Später wie der Gehülfe die beiden
Frauen besucht, teilt er denselben ganz eingehend seine Er-
ziehungsgrundsätze mit, durch Ottiliens Mädchenschule dazu
ano-eregt. Dahin gehört auch die Ausleo;unof des fünften und
sechsten Gebotes durch Mittler, deren Fassung im Katechismus
derselbe hart tadelt.
Vielfachen Tadel hat hervorgerufen die Benennung des
Romans, sowie die sittliche Anschauung, die das Werk durch-
zieht. Indessen aus der Benennung folgt noch lange nicht die
von Vilmar aufgestellte Behauptung, dass Göthe dadurch die
Sittlichkeit einem Naturgesetz unterordnen wolle ; dass er dies
nicht hat sagen wollen, erhellt hinlänglich aus der Unterredung,
die zwischen Eduard, dem Hauptmann und Charlotte über den
Begriff: „Wahlverwandtschaften" stattfindet. Wenn aber Vil-
mar auch vom sittlichen Standpunkt aus das Werk verurteilt,
so lässt sich erwidern : die Sünde wird nirgends gelobt, son-
dern in ihrem Wesen dargestellt; auch zeigt der Schluss, in-
dem die rächende Nemesis die Schuldigen ereilt, dass keine
Die deutsche Novelle und der deutsche Roman. 433
Apotheose derselben bezweckt wird. Jedenfalls ist es gut,
wenn die Wahrheit offen enthüllt wird; denn nur dadurch
kommt der Mensch in die Lage, Klarheit zu gewinnen und das
Böse zu fliehen. Wenn Vilmar zuletzt sogar aus künstlerischen
Gründen den Schluss verurtheilt, so hätte er seine Gründe da-
für anführen sollen. Ihm wäre wol die liebste Lösung gewesen,
wenn Eduard seine Schuld erkannt, sich gebessert hätte und
zu Ch. zurückgekehrt wäre ; für die Moral war dies freilich
das natürlichste, nicht so für den Aesthetiker. Denn wer möchte
annehmen, dass das Zusammenleben beider ganz das frühere
geworden wäre? Wo solche Störungen der Ehe stattgefunden
haben, da ist eine völlige Versöhnung unmöglich ; es wäre ein
rein äusseres, gezwungenes Zusammenleben, das den Leser
nicht befriedigen würde. Dass aber Vilmar einen solchen
Schluss gewünscht habe, zeigt die Aeusserung, Mittler gefalle
ihm am besten.
Eine Krankheit der Zeit , welche durch künstliche Mittel
der Menschen nicht geheilt zu werden vermag, sondern einer
gewaltsamen Lösung durch den Tod bedarf, hat Göthe schon
einmal, volle 36 Jahre früher, in einem Jugendproduct geschil-
dert, in den Leiden des jungen Werther. Doch ist die Ent-
wickelung jener alten Erzählung eine ganz andere; nur der
Ausoano; und die Grundanschauung sind dieselben. Hier wie
dort hat Göthe, Avie ja so oft in seinen Werken, eigene Erleb-
nisse und Erfahrungen zu Grunde gelegt; es kam ihm, wie
bekannt, selbst darauf an, eine derartige in ihm aufkeimende
Neiguno; zu hfeilen. So hat man denn auch in manchen Per-
sonen Aehnlichkeiten mit gleichzeitig Lebenden gefunden, wor-
über näheres bei „Stahr, Göthe's Frauengestalten" im Anhang
sich findet. — Die Umgangssprache ist bei der Unterredung
des Lords mit den beiden Frauen die französische; Lokal, Um-
stände und Zeit deuten auf eine Gegend Mitteldeutschlands, in
der Nähe eines kleinen Hofes und auf das Ende des vorigen
Jahrhunderts.
Bei seinem Erscheinen erregte der Roman eine grosse
Sensation, wie bei der Berühmtheit des Autors und bei den
darin enthaltenen Anspielungen nicht anders zu erwarten war ;
Archiv f. n. Sprachen. XLVni. 28
434 Die deutsche Novelle und der deutsche Roman.
aber auch wir lesen ihn stets noch mit Vergnügen, nicht weil
wir vom Namen des Dichters bestochen sind, sondern weil der-
selbe ßoman in jeder Hinsicht den ersten Rang dieser Gattung
einnimmt und weil derselbe Quelle und Vorbild einer Haupt-
gattung der heutigen Roman- und Novellendichtung gewor-
den ist.
Sprottau.
Dr. Härtung.
Die
sprichwörtlichen Formehi der deutschen Sprache.
Von
Carl Schvilze.
I.
„Die Sprichwörter," sagt Gervinus in seiner literaturgeschichte,
„sind das volksmässigste, was es überhaupt nächst der Sprache nur
immer geben kann." Die von mir beim schürfen nach altdeutschen Sprich-
wörtern gesammelten und hier mitgetheilten Sprachformeln möchte ich
als eine Übergangsstufe vom einfachen wort zur sprichwörtlichen redens-
art und zum Sprichwort, also als den der spräche am nächsten stehen-
den volksmässigen ausdruck bezeichnen. Die Sprachformeln sind
Synonyma der Sprichwörter, denn beiden haftet der Charakter des oft
gesprochenen wertes an. Dergleichen formein finden sich ohne zweifei
in allen alten und neuen sprachen, in keiner auf der ganzen erde aber
wol zahlreicher, als in unserer lieben muttersprache, namentlich auf
dem gebiete der rechtspflege, wo ja überhaupt gesetz und feste form
herrschen, wie J. Grimm in seinen rechtsalterthümern ausführlich nach-
gewiesen hat. Freilich sind die formein aus der heutigen Sprache
der gebildeten zum grossen theile gewichen. Mehr dem concreten zu-
gewendet, haben sie sich vor unserer immer mehr abstracter w^erdenden
ausdrucksweise zurückgezogen und leben nur noch im volksmunde,
im munde der bürger und bauern.
Schon im j. 1812 (ausgäbe des Hildebrandliedes) sprachen die
altmeister gebr. Grimm die absieht aus, eine Sammlung deutscher
Sprachformeln zu veranstalten, wendeten auch in der folge dem gegen-
stände dauerndes Interesse zu (vgl. rechtsalt. IL A. Götting. 1854. 8.
28*
436 Die sprichwörtlichen Formeln der deutschen Sprache.
8. 6 — 27, und altd. wälder III, 108 ff.), sind aber durch grössere
arbeiten an der ausführung ihres Vorhabens verhindert worden. Da-
her unternahm Eiselein 1841 „mit minderem geschick," wie er selbst
gesteht, eine derartige Sammlung herauszugeben ; dieselbe führt den
titel: „Die reimhaften, anklingenden und ablautenden formein der hoch-
deutschen spräche in alter und neuer zeit, gesammelt und erläutert von
professor Eiselein. Constanz und Leipzig. (Fleischer.) 1841. 8.
(VIII u. 68 SS.)." Dieser versuch enthält indessen, ebenso wie das
Sprichwörterwerk des herausgebers (Freiburg 1840), nur ein leichthin
zusammengerafftes, unzuverlässiges, schlecht geordnetes, durchaus nicht
aus den quellen geschöpftes und die mundarten ganz vernachlässigen-
des material. Statt der auf dem titel versprochenen formein findet
man in dem sehr unvollständigen werke bei weitem mehr Sprichwörter
und onomatopoetische ausdrücke; das ganze ist also nur eine unreife
frucht zu nennen. Eine recht lesenswerthe, eingehende betrachtung
der Sprachformeln gibt Tobler im Schweiz, museum (IV, 185 — 207)
bei erklärung des ausdrucks „wunn und weide."
Was sind nun Sprachformeln ? Sprichwörter und sprichwörtliche
redensarten sind zwar im gründe auch formein der spräche, im beson-
deren aber bezeichnet man mit diesem worte diejenigen sprichwörtlich
gewordenen ausdrücke, welche aus zwei durch verbindende oder tren-
nende conjunctionen mit einander verknüpften Wörtern bestehen und
dazu dienen, der rede mehr nachdruck und schmuck zu geben. Zu be-
merken ist hierbei, dass immer nur Wörter eines und desselben rede-
theils sich zu einer formel vereinigen, und zwar nur substantiva, ad-
jeetiva, verba, pronomina, adverbia, in einigen fällen auch präpositionen
und interjectionen. Zuweilen kehrt eine formel durch ableitung in
mehreren redetheilen wieder, z. b. schade und schände = schädlich u.
schändlich = geschändet und schadhaft = schaden und schänden ; die
Substantivformeln haus und hof, schlag und stoss, scherz und schimpf,
lehre und rath, lob und preis, ehre und preis, ebenso die adjectivfor-
meln böse und besser, kalt und kfihl werden auch verbal, und die for-
mein laster und schände, sünde und schände, triwe und staete finden
sich auch adjectivisch gebraucht.
Die sprichwörtliche Zusammengehörigkeit solcher Wörter wird sehr
oft durch ein voraufgehendes „beide" (beidiu, bede) angedeutet, z. B.
beidiu berc und tal, beide geberde und bete, beide mit gisel und mit
gebe, beide an gude und Gottes eren, beide lip und laut etc., ja sogar
Die sprichwörtlichen Formelu der deutscheu Sprache. 437
bei mehreren Wörtern : beide schild, speer unde swert (livl. reirakr.
9886). Ihre Zusammengehörigkeit deutet die spräche aber auch noch
ausserdem dadurch an , dass sie declination oder conjugation auf die
formein in anwendung bringt. Man sagt z. B. eren und guotes, stocke
und steine, in worten und werken ; ja, es finden sich auch beispiele, in
denen die formel geradezu als compositum erscheint, wie bei Rachel
(satir. ged. 6, 533): „dass dieses haut und bein der langen jamerszeit
nicht solte müde sein." Zuweilen nimmt eines der Wörter adjectsform
an, z. b. statt jamer und not = jaemerliche not; maidliche muoter;
gewalteskraft. Manche formein waren in bestimmten Zeitabschnitten
vorwiegend im gebrauch, manche werden von einzelnen dichtem mit
Vorliebe angewendet. Jede grössere dichtung weist hierin eigentüm-
lichkeiten auf; so bietet z. b. das Nibelungenlied nicht viel solcher
formein, aber die vorkommenden kehren oft wieder: lIp und guot, ere
und lip je 5 mal, lieb und leit 6 mal, liute und laut 1 1 mal, mage und
man sogar 22 mal. Als formelreiche dichter sind Hartmann, Rudolf
von Ems, der Stricker, der dichter des alten passionale und Konr. v.
Würzburg anzuführen ; bei Hugo v. Trimberg zeigt sich zum ersten
male ein merklicheres hervortreten gereimter formein.
Meist sind diese Wortverbindungen zweigliedrig; doch sind auch
drillingsformeln in allen 3 klassen nicht selten, z. b. A. wort, wille,
werk, — wort, werk, wete — krig, kumber, kost — kerken, klusen,
kloster — wald, wasser, weide — sagen, singen, saitenspil — liute,
lant, lip — Sünde schände, schaden — B. über brock, block und stock —
ez ist malz, salz und schmalz verloren — lehr-, wehr- und nähr-stand —
C. wille, macht u. kunst — gedanken, werk u. wort — saelde, heil
und ere — frunde, mage, man — angst, not, arbeit — . Selbst vier-
gliedrige finden sich ; lant, leute, bauer, burger — in klostern und
klusen, in hoven u. in husen — froude u. ere, gemach u. werdekeit —
über herz u. ü. muot, li. lip u. ü. guot — liebes u. guotes, eren u.
muotes. Mehrgliedrige formein ohne reim u. alliteration weist beson-
ders die altdeutsche rechtssprache auf, wofür J. Grimm (RA. s. 15 — 19)
zahlreiche beläge beibringt. Ja, es finden sich stellen, in denen sich
formel an formel schliesst, wie in den Dreysser weisthümern v. jähre
1588: „weisen dem gotteshaus zu Echternach mann u. bann, wild
u. zahm, zins u. zehend, haupt u. haltung, den vogel in der luft, den
fisch im Wasser, fond u. bront, fleck u. zeck, gebot u. verbot, so weit
u. breit des guten herren s. Willibrots gotteshaus gehet." In einer
488 Die sprichwörtlichen Formeln der deutshen Sprache.
appenzeller Urkunde (Zellvveg) heisst es: „ich vergich, dass ich ze kof-
fent geben an haus u. heim, an wisen u. wasen , mit studen, stock u.
stein, heg, weg u. steg, an wygern u. wassern, wunn u. weid, trieb
u. tratt, grünt u. grat, mietzins u. zehent, handel u. wandel, mit hub
u. hab, ze nutz u. niess, nach pfandrecht u. landrecht, uf zit u. zil, u.
hab es ihm ze banden bracht verriebt u. verschlicht, ohne bene u. pene,
sunder rathen u. gethaten, ledig, los, ganz u. gar."
Die bildung aller sprachformeln beruht einzig und allein auf den
begriffen der gleichheit und der gegensätzlichkeit, und zwar macht sich
das simile und contrarium nicht allein in logischer, sondern auch in
sprachlicher beziehung, also sowol dem inhalte, als auch der form nach
geltend; oft findet sich sogar gleichartigkeit oder auch gegensätzlich-
keit des gedankens und des lautes verbunden.
Zwei Sprachgesetze sind es, deren walten innerhalb unserer sprach-
formeln zu tage tritt, nämlich: der gleichklang und die ablautung.
Der gleichklang kann dreifacher art sein; er kann in den anfangs-
buchstaben zweier oder mehrerer Wörter stattfinden und heisst dann
anreim, Stabreim, alHteration; er kann sich am ende der Wörter in meh-
reren lauten zeigen und wird dann vorzugsweise reim oder endreim ge-
nannt; oder es ist consonantischer oder vocaler gleichklang innerhalb
zweier wörter, und er wäre dann etwa binnenreim zu nennen.
Die älteste form des gleichklangs ist die alliteration. Sie wurzelt
in dem wolgefallen des menschlichen geistes an harmonie und in seiner
neigung mit der spräche zu spielen. Ausgedehnte Verwendung fand
der Stabreim namentlich in den althochdeutschen und angelsächsischen,
zum theil auch noch in mittelhochdeutschen dichtungen. Die allitera-
tion ist eine einfache, wenn nur der erste laut in den zur formel ver-
bundenen Wörtern gleich ist (gold und gimme), oder eine erweiterte,
wenn die ersten zwei (brot und brunnen, blatt und blute), oder drei
(graben und graft), oder wenn noch mehr laute beiden Wörtern gemein-
sam sind (friede und freude, fremde und freunde, wisen und wasen u.s.w.).
Dass der Stabreim auch den Lateinern und Griechen nicht unbe-
kannt war, ist früher vielfach bezweifelt worden ; selbst Lachmann
wollte nichts davon wissen (s. hallische encyclopäd.). Naeke (rhein,
museum 1829: de alliter. sermonis latini), noch eindringlicher aber
Maehly (schweizer mus. 1864, s. 207 — 259) haben indessen gezeigt,
dass dem klassischen altertum gefiihl für sprachlichen gleichklang nicht
fehlte. Nicht nur in Zusammenstellungen von personennamen wie in
Die sprichwörtlicben Formeln der dfutscheii Sprache. 439
den germanischen sprachen (Hengist und Horsa — Solarr und Sne-
varr — Hildebrant und Hadubrant — Hettel und Heike — Günther
und Gernot — Letten und Liven — Reussen und Rassen) findet sich
dort die alliteration (Romulus u. Remus, Seme Sancus etc.), sondern
auch bei der sogenannten reduplication nsTzaidevxa, fefelli) und gerade
in ähnlichen formein wie bei uns, namentlich aber in feierlichen for-
mein des religiösen cultus und der rechtspflege, in sprichwörtlichen
redensarten wie in ausdrücken des bürgerlichen Lebens, wofür folgende
beispiele vollkommenes zeugniss ablegen werden.
Zuerst die substantivischen formein: aves atque altiles, a capite
ad calcem, cor et cerebrum (herz und hirn), domi duellique, facinus et
flagitium, fama atque fortuna (Cic. Sallust.), ferrum et flamma (Erasm.
503), foedus fidesque, forma factisque, fruges frumentaque, locura et
lautia (praebere, Livius. Gellius), luctu atque lamentis, Incus locusve,
in manu mancipioque, inter manum et mentum (auf einer Alldorfer
Schulprämie vom jähre 1593 bei Imhof II, 245 finden sich die worte
mente manuque), maria montesque polliceri (Erasm. 472, Sallust."),
nomen numenque, noxa et nexu solutus (Erasm. 453), oleum et operam
(perdere) in ore afque oculis, inter os et ofl^am (Cato), panem et pugnum
dare (Erasm. 379. 772), pastores pascuaque (Cato), verba sine penu
et pecunia (Erasm. 65), pestis perniciesque, populo plebeique, praedam
et praemium (Erasm. 697), prora et puppis (Erasm. 9), inter sacrum
et saxum stare (sprichwörtlich bei Plautus, Capt.), semen et stirps, so-
lemne sacrum (Sueton.),tabulis et testibus (probare, Gellius 14, 2), templa
tesquaque, tot tantaque, venae et viscera, vineta virgetaque (virgultaque),
vinum et veritas (Erasm. 450); dann die adjectivischen: elarus cano-
rusque, dulce et decorum, felix faustumque sit (so auch auf einer Me-
daille auf die Vermählung kurfürst Johann Georg I. v. Sachsen v.
1718, Erasm. 555), fluxus et fi-agilis, lacerum laesumque (membrum,
Gellius), magnum et memorabile, purus piusque, rebus prolixis atque
prosperis (Cato), sacrosanctus, sanus salvusque, serius atque severus,
vivatus et viv'dus (Festus); ferner die adverbialen: bene beateque,
blande et benivole, longe lateque (auch z. b. im kreuzzug Friedrichs I.,
Sti^tg. vereinsbibl. bd. IX), palam et passim (ebend.), sane sarteque,
satis superque , und in den verbalen: fundere et fugare, injudicatus
inconderanatus, inscripta insculptaque, pudet pigetque, ut sciam, sentiam
intelligamque, vive valeque oder bei Erasmus 618 vivite valete, na-
mentlich aber in den juridischen ausdrücken : cogito coerceto, in der
440 Die spiicbwörtlichen Formela der deutschen Sprache.
Schlussformel der Strafgesetze: dare domino damnas esto, oder in der
forrael des praetors : „do, dico, addico," ferner distribuatur dividatur,
6i furtum faxit noxiamque nocuit, reddatis restituatis, reddatur reficia-
tur, pecunia capta conciliata etc.
Ebenso in dem vulgären praeter propter (Gellius, 19, 10, 1), und
dis dia pason. Es wären hierbei auch noch vielfach aus den dichtem
ähnliche stellen anzuziehen, wie: molem et montes insuper altos im-
posuit Virg. Aen. I, 61.
Auch in den ausgebildeteren lateinischen sprach form ein, also in
sprichwörtlichen redensarten und in wirklichen Sprichwörtern , halte
ich das sehr häufige vorkommen alliterirender wörter durchaus nicht
für bloss zufällig, wie denn überhaupt die Wiederholung desselben Wor-
tes in sehr vielen Sprichwörtern, wie: a bonis bona disce (Erasm. 517),
abyssus abyssum invocat (481), aequalis acqualem delectat (641), cum
care carizas (643), faber fabro invidet (423), homo homini Dens (590),
manus manum lavat (568), malus malum reperit, par pari referre etc.
auf wolgefallen der alten an gleichklang unwiderleglich schliessen
lässt. Als einen neuen beweis dafür will ich von den zahlreichen la-
teinischen Sprichwörtern mit alliteration nur einige anführen : comatis
et calvis pilos velli molestum (383), dicendo dicere discunt (75), faber
cadit cum ferias fullonem (7), facile fustem invenerit, qui cupit caedere
canem (388), ferire frontem, ferire feraur, ferre fraenum, flamma fumo
est proxima (206), fortes fortuna adjuvat (89), inter crura caudam
subjicit (695), lacerat lacertam Largi mordax Memmius (736), manum
peteris et pedem porrigis (21), mense Majo nubunt malae (418), mes-
sem miseram metere (727), non novit natos (289), paxillum paxillo
pellere (646), senex secunda saltat (590), vicinus vocandus ad con-
vicium (44), vestis virum facit (215), ad restim res redit etc.
Die mönchischen deutschen dichter des 11. und 12. Jahrhunderts
bedienten sich ebenfalls in ihren lateinischen erzeugnissen zuweilen der
Stabreimformeln. Wir finden da z. B. nee in hello, nee in bulla, carm.
buran. 93; statt haus und hof = in curte vel in casa, Hattem. I,
352. Haupt z. I, 290; statt, feil und fleisch = coriura et carnem,
Reinardus 11, 296. immundus corde et cute (::= herz und haut) carm.
bur. 64. longe lateque, palam et passim, kreuzz. Friedr. I. (Stuttgart,
ver. bibl. IX); modicum — • magnum, ecbas. 1204. vestes et victum
(= kleider u. kost) Roswith p. 133; victum vel vestem Ruodl. fragm.
in, 277 ; cur voce et vultu minaris, Roswith. p. 22. Andere For-
Die sprichwörtlicheu Formeln der deutschen Sprache. 441
mein wie: nutibus et verbis (Ruodl. 6, 4) (=; mit winken und Worten),
daninum et maledictnm (schaden und spott), viduas — orbos (wittwen
u. Waisen), dictis et actis (= in Worten und werken, Ruodl. 1, 68,
Walthar. 92, 135, vitam et artus (lip u. lider, Walthar. 603) sind
bündige beweise dafür, dass die Verfasser genannter dichtungen aus
Deutschland stammten. Stabreime in romanischen sprachformeln nach-
zuweisen, wird nicht schwer halten , in germanischen finden sie sich
unendlich zahlreich ; hier sind sie die einfachsten dichterischen gestal-
tungen und stehen noch heute da als vertrocknete bluten aus der urzeit
deutscher poesie, namentlich bilden viele einen theil der vom altmeister
Grimm so vortrefflich nachgewiesenen poesie im deutschen recht.
Ueberraschend ist es, mit welcher leichtigkeit man vor alters bei
Verknüpfung gegensätzlicher begriffe die alliteration in anwendung
zu bringen verstand, wofür unter anderen der Heljand mannigfache
beispiele bietet. Kunst u. natur heisst da — giuuarahtes endi giuuah-
sanes, iheorie u. praxis = giuuisda endi giuuarahta, licht u. finster-
niss = fnir enti finstri, anfang u. ende = föne erist unz in ende,
lebendes und todtes = ligentez u. lebentez, berg u. thal :=: grat u.
grund, vom Scheitel bis zur sohle = v. der swarte biz an daz swil,
gold u. edelstein = gimme u. gold, wasser u. brot = brot u. brunnen,
weiss u. schwarz = härm u. harz u. s. w.
Es ist sehr bemerkenswerth, wie auf allen lebensgebieten deutsche
anschauungsweise in alliterirenden formein ausdruck gefunden hat. Da
ist in der kirch liehen gemeinschaft die rede von kirche und klerus,
klöstern u. klausen, kirchen u. kapeilen, kelch u. kirchenschatz, fasten
u. feiern, mette u. messe, gebet u. gesang , beichte u. busse, busse u.
besserung, worten u. werken, wittwen u. waisen, himmel u. hölle, tod
u. teufel, mutter u. magt, propheten u. patriarchen, pfarren u. pfrün-
den; da scheiden sich die stände in bürger u. bauer, fürsten u. freie,
kaiser u. könig; der ritter spricht von land u. leuten, mage u. mann,
ross u. reiter, ritter u. reisige, Schild u. schirm, stab u. stange u. swert,
Speer u. spiess, Stiefel u. sporn, streit u. stürm, bilden, bogen, büchsen
u. bolzen, heim u. haube, halsperc u. heim , halsperc u. hose, heim u.
hut, hämisch, hemde, gebe u. gisel, boten u. briefe; der hausvater
sorgt für haus u. hof, haus u. heerd, geld u. gut, gaste u. gesinde,
hält thür u. thor, schloss u. Schlüssel in Ordnung, lebt von butter u.
brot, von fisch u. fleisch, krume u. kruste, brot u. brunnen, trinkt was-
ser u. wein, muss gift n. gäbe, zins u. zoll geben; die hausfrau sorgt
442 Die sprichwörtlic-hen Formeln der deutschen Sprache.
für kind u. kucken, füllt kisten u. kästen, keller u. kemenaten, schafft
für küche u. keller, hat in der küche putt u. pann, topfe u. tiegel, kan-
nen, krüo'e u. köpfe, kelle u. kreuel, aber auch rauch u. russ; der
richter richtet zu haut u. haar, hals, haupt u. hand, ertheilt rath
u. recht, verhandelt über eigen u. erbe, lässt feierlich entsagen durch
hand u. halm, gibt den Schuldner zu hand u. halfter; der handels-
stand umfasst kaufmann u. krämer; der bau er hat schiff u. schirr,
k.orn u. kraut, wein u. weizen, halde u. holz, wald u. wiese, wald u.
weide u. wasser, wunn u. weide, hirt u. heerde, halm u. hau, saat u.
snit, trib u. trat, auf seinem hofe sind rind u. ross, kuh u. kalb, hahn
u. huhn, er füttert haber u. heu; der schiffer hat schiff u. schalte,
kocken u. kiele, an denen segel u. seile sind, er unterscheidet sand u.
See; der j äger beizt u. birzt, fängt u. fällt, jagt hase, hirsch u. hund
u. huhn, streift durch hau u. holz, über bühel u. berg, stock u, stein,
durch distel ii. dorn, führt hörn u. hund, sagt schrank u. schritt; der
dichter sagt u. singt, dichtet lied u. leich , singt von liebe u. leid,
minnen u. meinen, merken u. melden.
Ebenso werden Vorgänge in der natur in alliterirende formein
gebracht: hagel u. beer, nacht u. nebel, tag u. thau, wind u. wetter,
welke u. wind, wind u. welle, dampf u. dunst.
Endlich treten auch die namen einzelner theile des mensch-
lichen körpers in formelhafte Verbindungen, namentlich in der
rechtssprache in den gesetzen für körperliche strafen. Man unterschei-
det leib u. leben, leib u. lider, feil u. fleisch, haut u. haar, haut u.
hand, haut u. hals, das wort „haupt" wird verknüpft mit haar, hals,
hand, hirn, herz ; herz u. hirn, herz u. hand, köpf u. kragen, lunge u.
leber, kinn u. kehle, rippen u. rücken, bein u. blut.
Ein vergleich der alliterirenden formein meiner Sammlung ergibt,
dass ein vocaler anreim nur selten vorkommt, dass dagegen ein conso-
nantischer sich am meisten bei dem lauten s (seh) findet, dann in fal-
lendem zahlenverhältniss bei den gutturalen g — k — h und den la-
bialen b — f — w, weniger oft bei den liquiden 1 — m — r, noch
seltener bei d — t — z — n.
Für die klasse der formein, welche mit endreim gebildet sind, er-
giebt sich aus den alt- und mittel-hochdeutschen sprachquellen nur ge-
ringe ausbeute. Stärkeres hervortreten dieser art von formein finde
ich zuerst bei Hugo von Triinberg. Die meisten der hierher gehörigen
beispiele sind als erzeugnisse der neuhochdeutschen spräche zu bezeich-
Die sprichwörtlichen Forinehi der deutschen Sprache. -üj
nen, da der sogenannte reim theils ein jüngeres, theils ein kunstvolleres
mittel dichterischer darstellung ist, als die alliteration. In vereinzelten
beispielen ist er auch von lateinisch dichtenden geistlichen angewendet,
z. b. nomen et omen, victu et amictu (Ruodl. 19, 8. slauferlied 6, 20),
welches letztere ganz unserem hülle und fülle oder noch besser „an
spise u. an gewande" entspricht.
Am wenigsten vertreten ist der reim in den rechtsformeln und
aus seiner Seltenheit schliesst Grimm daher mit vollem rechte, dass
sich die gerichtliche spräche unabhängig von anderen einflüssen in ihrer
wesentlichen natur behauptet hat und dass die menge ihrer festen alli-
terationsformen sehr altertümlich erscheinen muss, älter als man den-
ken sollte.
Hin und wieder verfährt der reim in den formein etwas tyrannisch
und erlaubt sich vocalen und consonantischen Umtausch, z. b. winde
(=: winne) u. weide, bind u. kind , gesaden u. gebraden, kribbeln u.
wibbeln, zibbern u. bibbern, plaschen u. waschen, sich bögen u. rögen,
flittern u. kittern, schwellen u. källen, jäke u. stäke u. s. w.
Eine dritte art von reim, welche ich oben binnenreim nannte,
entsteht durch den gleichen stimmlaut in der Stammsilbe der beiden
Wörter einer formel und zeigt sich bei einer grossen anzahl von formein
der klassen A. und C.
a. anger u. wald, schwarte u. haar, äs u. trank, schaden u.
Ungemach, acht u. mass, wag u. zahl, macht u. zahl, acht u. bann,
ambos u. hammer, amt u. gewalt, bart u. haar, ablass u. gnade, laster u.
arbeit, dank u. gnade, färbe u. kraft, gewalt u. kraft, haar u. gewand,
jähr u. tag, jammer u. klage, kraft u. macht, kraft u. mannheit, land u.
mage, -Stadt, -wasser, laster u. and, laster u. schaden, — u. schände,
mass u. zahl, tag u. nacht, jamer u. karmen, krank u. schwach, schach u.
matt, baar u. nackt, hart u. schwarz, alt u. krank, — u. schwach, angst
u. bange, mari endi mahtig, blank u. schwarz, fangen u. schlagen
(vahen u. slahen), halten u. lassen, trank u. ass, gaben u. nahmen.
Auch mit alliteration: brak u. bafel, gang u. gebaren, gnade u.
gemach, — u. gewalt, band u. halfter, — u. halm, karn u. klage,
graben u. graft, mal u. makel, barm u. harz, schaden u. schäm, schade
u. schände, schände u. schmach, wald u. wasser, mage u. mann, baar
u. blank, ganz u. gar, haben u. halten.
e. eher u. sne, erde u. meer, ehre u. selde, ehre u. seele, eigen
u, lehen, bet u. flehen, heller u. pfennig, lehre u. predigt, pech u.
444 Die sprichwörtlicben Formeln der deutschen Sprache.
Schwefel, rede u. werk, bette end flezzi, hefel u. lege], herz u. seele,
hei u. hreni, sengen u. brennen, drehen u. wenden, sterben u, genesen,
heben u. legen, kehren u. wenden, reden u. sprechen, geben u. nehmen,
rennen u. sprengen, wesen u. leben. Mit alliteration : recht u. reden,
recht u. redlich, brechen u. brennen.
i. brief u. Siegel, hieb u. stich, wile u. zit, spise u. win, wip
u. kint, strit u. kif, wise u. zit, friden u. schirmen, sin u. liden, liden
u. schicken, milt u. linde, tief u. wit. Mit alliteration ; zit u. zil,
Schild u. schirm, sinn u. sitte, wissen u. willen, schiff u. schirr, friden
II. fristen, fliegen u. fliessen, schiessen u. schirmen.
o. Schrot u. körn, ton u. wort, not u. sorge, kost u. lohn, spott
u. höhn ; mit alliteration : bogen u. bolzen, gelobt u. gelogen.
u. hunger ii. durst, h. u. kummer, müsse u. ruhe, kurz u. gut,
gut u. nuzze, frut u. gut, lütern u. süvern. Mit alliteration : geburt
u. gut, mund u. muot, krume u. kruste.
ei. bein u. fleisch, zeit u. weile, kleid u. kleinod, zeichen u. zel-
ten, fleisch u. geist, weise u. rein, sein u. bleiben, scheiden und ver-
einen.
eil. freude u. freundschaft.
au. braun u. blau.
ü. süss u. kühl.
Neben dem gleichklange erscheint in den formein, namentlich in
denen mit einsilbigen Wörtern (getrübt bei Wörtern mit mehreren silben
und mit doppelvocalen) als zweites Sprachgesetz die ablautung,
welche am deutlichsten in den formen der Stammzeiten der starken
conjugation erkennbar ist. Bestimmend sind hierbei die beiden vocale
a und i, als die mit weitester und engster niundstellung gesprochenen
stimmlaute. Mit beiden treten die übrigen vocale e, o, u in gegensatz,
auch in der umkehrung, ausserdem finden sich aber auch noch einige
formein mit e u. o, u u. o. Unter allen diesen combinationen fallen
auf die ablautung i — a die meisten belöge, zahlreiche auch auf a — i.
i — a. dienst u. rat, lip u. wat, gisel u. pfant, gedinge noch
wan, lip u. här, zit u. fahrt, fride u. gemach, fr. u. gnade, lip u. habe,
— u. gebare, — u. gewant, — u. haut, zit u. tag, — u. jär, — u.
stat, spise u. trank, — u. gewant, — u. wät, — u. lipnar, gewin u.
schade, list u. gewalt, — u. macht, — u. rät, strit u. haz, nit u. haz,
gir u. trakheit, site u. gebaren, — u. raanheit, wille u. gewalt, — u.
macht, — u. rät, sinn u. gedank, — u. macht, — u. wän, — u.
Die pprichwörtlichen Formeln der deutschen Sprache. 445
manheit, schimpf u. togult, gericht u. Wahrheit, schin u. glast, rieh u.
lant, wip u. man, witze u. manheit, — u. getwange, triwe u. warheit,
■vvisheit u. macht, pin u. klage, misse u. sahnen, pris u. manheit, wile
u. tac, spil u. tanz, wistuom u. rät, Ute u. täl, lip u. gelaz, spisen u.
warnen, binden ii. fangen, liden u. tragen, siden u. braten, riden u.
gän, grifen u. tasten, springen u. tanzen, wil u. mak, stricken u. fan-
gen, berichten u. bewaren, ringen u. fahren, fliehen u. jagen, swigen
u. gedagen, miden ii. lan, licht u. klar, michel u. stark, wild u. zam,
grien u. anger, wiz u. swarz, schier u. dräf, hie u. da. Mit allitera-
tion: bischof u. bader, begin u. bejag, gesin u. gedank, gift u. gäbe,
giks noch gaks, gift u. galle, gedinge u. gnade, gelig u. geschlap, giuuis-
da u. giiiuarahta, grind u. gnaz, kipp u. kant, kisten u. kästen , kind
u. knabe, klick u. klack, klinke u. klanke, spil u. sang, schimpf- u.
schände, schippen u. spaten, stich u. slac, u. swank, stil u, stal, sticht
u. Stadt, stiege u. Strasse, strimen u. Strasse, trib u. trat, wig u. wan,
winke u. wanke, blitzblank, grim u. gradag, klipp u. klar, michel u.
manikfalr, niet u. nagelfest, singen u. sagen, dichten u. trachten, gigen
u. garren, getiselt u. getaselt, grisgramen, kippeln u. klagen, klingen
u. klappen, knistern u. knastern, triben u. tragen, trippeln u. trappeln,
winken u. wanken, schinden u. schaben, zittern u. zagen, winnen u.
warren, wie u. wä, — u. wann, — u. waz, dies u. das.
a — i. acht u. wide, antlitz u. lip, art u. schick, dank u. wille,
kraft u. lip, — u. list, — u. sin, — u. wille, — u. wisheit, ' — u.
witze, jär u. frist, stat u. frist, kämpf u. strit, schaz u. gedinge, — u.
gewin, Wasser u. gries, sand u. wind, gnade u. pris, hals u. wide, haz
u. nit, man u. wip, mass u. gewicht, — u. ziel, wald u. gefilde, qua!
u. pin, rang u. titel, rät u. sin, plan u. gefilde, gewalt u. wiz, — u
list, — u. wisheit, — u. wille, — u. richeit, raarter u. pin, vahen u.
binden, braten u. sieden, tragen u. dinsen, gän noch kriechen, hazzen
u. niden. arm u. rieh, malät u. siech, alt u. firn, alt u. wise, zart u.
fin, halt u. schier. Mit alHteration : gast u. gesinde, läge u. list, lant
11. liute, manheit u. milde, schade u. schimpf, schaf wie schinder, schall
schirm, schrank u. schritt, swarte n. swil, wag u. wind, wän u. wille,
Wasser u. win, — u. wind, spannen u. schiessen, wänen u. wizzen,
bald u. bilde, manag e. mislik.
a — e. altar u. heerd, amt u. ere, gnade u. recht, — u. reste,
band u. leben, land u. meer, rät u. lere, ach u, we, angst u. leid, mark
u. bein, arm u. b., schände n. leid, schaden ii. leid, lang u. breit.
446 Die sprichwürÜichen Formeln der deutsehen Sprache.
e a. "elfe u. gamen, weinen u. klagen, berg u. tal, — u. hac,
eilen u. kraft, — u. macht, erbe u. habe, helfe u. rat, feld u. graben,
u. lant — u. wald, hei u. salida, ker u. wandel, kessel u. pfanne,
ere u. gemach, — u. gewalt.
a 0. A u. O. angst u. not, marter u. not, ban u. bodskepi,
gewand u. gold, schade u. spott, schände u. spott, schmach u. spott,
laster u. spott, zagel u. zopf, jämer u. not, schlag u. stoss, abend u.
morgen, amt u. brot, wasser u. brot, schaden u. fromen, hals u. köpf,
klage u. not, marter u. not.
o — a. sorge u. angst, not u. arbeit, berof u. berade, gebot u.
gewalt, — u. gnade, — u. rät, hopfen u. malz, köpf u. kragen, schloss
u. band, bomben u. granaten, lob u. dank, dorn u. hagen, dös u. schall,
form u. gestalt, lob u. gesang, trost noch gnade, ross u. mann, fromen
u. schaden, fordern u. mahnen, blöz u. nacket.
a — u: gemach u. gut, gewalt u. gut, gnade u. gunst, grat u.
grund, tratz u. trutz, hahn u. huhn, kalb u. kuh, hass u. huld, kraft
u. kunst, last u. lust, macht u. muth, magenkraft u. m., manheit u. m.,
rast u. ruh, saca u. sunda, schade u. schuld, Schätzung u. seh., statt
u. stunde, acker u. pflüg, graben u. bruch, band u. mund, — u. fuss,
katze u. hund, tragen u. dulden, alt u. jung.
u — a. bürg u. land, — u. Stadt, dunst u. dampf, gelust u. ge-
lange, futter u. nagel, — u. mahl, gut u. habe, — u. land, — u. rät,
ruhe u. gemach, huld u. gnade, schaden u. zuht, loub noch gras, gunst
u. macht, mutter u. magd, jubel u. schall, tun u. län, luter u. klar,
krumm u. lahm, kurz u. lang, fruo u. spat, kuon u. stark.
i — e. tisch u. bett, wind u. regen, bild u. lere, himmel u.
erde, pris u. ere, wille u. ger, grimm u. sere, ritter u. knecht, zins u.
pflege, wille u. recht, bitten u. flehen, bitten u. geren, venien u. beten,
fliessen u. schweben, irren u. engen, strichen u. keren, kiesen u. sehen,
billig u. recht, dick u. fett, lieb u. werth, fri u. ledig.
e — i. neffe u. niftel, selde u. sin, u. sigenunft u. sieg, weit u.
wile, Wetter u. wind, gebe u. gisel, lebendez u. ligendez, ere u. lip,
— u. triwe, — u. dienst, senfte u. stille, saete u. snit, scherz u.
schimpf, Schwert u. Schild, leben u. lider, — u. pris, sper u. schild,
herz u. lip, — u. sin, — u. wille, ernst u. schimpf, — u. spil, mete
u. win, eren u. zieren, essen u. trinken, fechten u. ringen, setzen u.
gebieten, wenen u. gillen, edel u. fri.
i — 0. bier u. brot, distel u. dorn, rind u. ross, kiele u. kocken,
Die sprichwörtlichen Formeln der deutschen Sprache. 447
liebe u. lob, schimpf u. spott, spiel u. spott, vville u. gebot, — u. wort,
wisdom u. w., wise u. w., zins u. zoll, site u. gewonheit, bild u. wort,
Silber u. gold, gimme u. gold, gewinnen u. erkobern, michel u. gröz,
dicke u. oft, lieb u. holt, — u. hoch, frisch u. froh, fri u. frö, fier u.
frö, billig u. wol, blide u. frö, getriuwe u. holt, willig u. h., stille u.
offenbar.
0 — i. donner u. blitz, löp u. pris, toll u. blind, gröz u. wit,
hoch u. nider.
i — u. wile u. stunde, zit u. st., girde u. gut, liebe u. lust,
minne u. mut, schirm u. schütz, strit u. stürm, wille u. wünsch, — u.
mut, milch u. blut, fride u. suon, lip u. guot, — u. gesunt, Hute u.
guot, Hinz u. Kunz, sinn u. mut, lip u. mut, pris u. ruom, pflicht u.
Schuldigkeit, pin u. schuld, glimpf u. fug, stille u. überlut, frisch u.
gesund, risch u. gesund, sinnic u. g., lieb u. gut.
u — 1. kunst u. list, — u. sinn, — u. spil, — u. witz, muot
u. sinn, stumpf u. stiel, gelust u. girde, hut u. schirm, nutzen u. dienst,
futter u. spise.
e • — 0. leben u. tod, — u. lob, geld u. gold, ere u. fromen, —
u. löp, bete u. gebot, — u. drö, helfe u. trost, rede u. wort, ernst u.
spott, feld u. holz, — u. mos, helfen u. fromen, setzen u. ordnen.
o — e. ort u. ende, drohen n. flehen, — u. schelten, fordern u.
setzen.
u — 0. grund u. boden, nutz u. frommen, hunger u. not, kum-
mer u. not.
o — u. gold u. gut, Gott u. gut, lob u. rühm.
Ausser der lautlichen gleichheit u. Verschiedenheit in den sprach-
formeln ist nun aber auch ein rhytmisches gesetz erkennbar. Es
verbinden sich nämlich fast immer nur einsilbige Wörter mit einsilbigen
(mann u. maus), zweisilbige mit zweisilbigen (mutter u. maget), drei-
silbige mit dreisilbigen (weder gestochen noch gehauen), oder das kür-
zere Avort geht dem längeren vorauf (heil u. saelde, bomben u. grana-
ten). In den wenigsten fällen folgt auf ein zweisilbiges ein einsilbiges
wort, und findet sich dann gewöhnlich die umkehrung der formel eben
so oft. Eine grosse anzahl dieser Wortverbindungen bildet daher für
die mittelhochdeutschen dichter häufig ein willkommenes material zur aus-
füllung ihrer reimzeilen, besonders bei kurzen Strophen und in helden-
gedichten.
448 Die sprichwörtlichen Formeln der deutschen Sprache.
Die formein der klasse C. sind unter allen am häufigsten, vor-
nehmlich in der rechtssprach e, wo sogar drei- und mehr-gliedrige form
den ausdruck belebt und den rechtsbegriff tautologisch verstärkt und
verdeutlicht. Alle diejenigen formein unter C, welche weder durch
assonanz noch durch ablaut an einander gebunden sind, bilden unter
sich oft die mannigfaltigsten Verkettungen und verschränkungen, zu
denen sinnverwandtschaft leicht veranlassung geben konnte. Es sind
vorzugsweise folgende begriffsgruppen: ere, guot, lip, leben: — lob,
ere, preis, rühm ; — heil, saelde, glück ; — angst, not, jamer, klage,
leid, sorge, sere; — herz, muot, gedanke, sinn, witz, wille; — laster,
schände, sünde, schaden, schäm, ungemach.
Wenden wir uns nun zur betrachtung des logischen Verhältnisses,
in welchem die einzelnen Wörter einer formel zu einander stehen, so
treten uns hier folgende Verschiedenheiten entgegen:
1) Beide Wörter enthalten parallele begriffe, die sich entweder
vollständig oder fast ganz decken, also eine sogenannte tautologie
bilden, welche den einem einzelnen worte innewohnenden begriff noch
verstärken, eindringlicher, in die äugen springender machen sollen.
Solche tautologien finden sich auch schon in manchen compositis. Zu
dem von J. Grimm (gr. II, 442) angeführten gothischen marisäivs
{Xiuvri), dem angelsächsischen aha — ström (flumen), dem althoch-
deutschen öt — wala (divitiae) bei Notker (136, 3 u. Boeth. 120),
welches Grimm zu dem angelsächsischen eäd — vila (beides :=. spes,
felicitas) stellt, will ich aus dem mittelhochdeutschen noch folgende
beibringen: Karlmann (Hattemer III, 267. karle = ehemann), Sprich-
wort (in den anmerkungen zur windberger psalmenübersetzung ps.
113,20: benedico daz ist ein zesamene gesacztes wort von zwein
sprichen, „wole" unde „ich spriche;" in den nordischen umgekehrt:
ordsprog), nötdurft (Muspilli s. 19 bietet „dürft" allein), magenchraft
(zuerst bei Hattemer III, 233), tagaltspil (= scherz u. spiel, troj.
266), spelmaere (beides = fabel, sage, lüge, altd. w. II, 89), diebstal
(= diuba u. stala = furtum, MS I, 136^), schirmschilt (Lanzel.
4039), niessbrauch, schalksknecht (Luther, Matth. 18), diekdamm
(niedersächs. = deich u. dämm, hochdeutsch bei Schleicher 81: deichs-
damm) ; der Ortsname Zehlendorf bei Berlin (= cedel, slavisch =r dorf),
maria, gertrute = gerte u. rute (Ebner, brief 4).
Zum beweise dafür, in welchem nahen verhältniss diese tautolo-
gischen composita zu den formein stehen, lassen sich beispiele anführen,
Die sprichwörtlichen Formeln der deutschen Sprache. 449
in denen zwei Wörter auf beide art verbunden erscheinen, z. b. nöt-
durft (Alexdr. 2193 u. in einem bruchstücke des 14. j., Haupt z. 5,
7: daz im dürft u. not was); — schalksknecht (Gregor 1185: sin
schalk u. s. knecht); — schirmschilt (Parciv. 371, 2: schirm u. schilt),
muotwille (Karl 79^ ra. u. w.), gutwillig (w. u. g. Fribg. Trist. 1470),
hörensagen (Horneck 20^ hören u. sagen).
Die einfachste art und weise tautologischer Verstärkung in sprach-
formeln ist die der blossen Wiederholung eines und desselben Wortes,
wie es z. b. oft im alten passionale begegnet: dicke u. dicke (I, 263,
7 und noch 16 mal), beite u. beite 360, 32, lange u. lanc 137, 45.
IJI, 386, 97, vil u. vil I, 359, 25, er stunt u. stunt III, 397, 1,
Pfenniges wert u. pfenninc, 367, 34; ein u. ein, Engelh. 463; gar u.
gar, ßerthold 39 u. ö. Titur. 6150, müs wie maus, oder in dem
Sprichwort : ein wort ein wort, ein mann ein mann, auch in Wendungen
wie: er heisst so u. so, wohnt da u. da u. s. w.
Eine zweite bei weitem gewöhnlichere art tautologischer formein
enthält zwei ganz verschiedene Wörter, welche aber vollständig in einer
und derselben bedeutung im gebrauch waren, z. b. bruch u. mos, mos
u. mör, eilen u. kraft, falsch u. mein, form u. gestalt, gift u. gäbe,
graben u. graft, gurre wie gaul, hör u. mör, maerte wie müs, mal u.
makel, rast u. ruh, raub u. rappuse, schütz u. schirm, blöz u. bar,
frank u. frei, ganz u. gar, ledig u. los, starr u. steif, sus u. so, beiten
u. harren u. s. w.
2) Beide Wörter enthalten oft convergirende begriffe, d. h. be-
griffe, welche sich einander nähern, und zwar können dieselben in
einem verhältniss zu einander stehen : a) als theile eines ganzen : dach
u. fach, krume u. kruste, köpf u. kragen, b) als theil u. ganzes (all-
gemeines u. besonderes): jähr u. tag, zeit u. stunde, haus u. heerd,
lip u, lider, haupt u. hirn. c) als arten Einer gattung (synonyma):
brunnen u. bach, kloster u. klause, steg u. Strasse, hehler u. Stehler,
lug u. trug, rand u. band, grund u. boden, klage u. kummer, geld u.
gut, gnade u. gute, liebe u. lust. d) als ursach u. Wirkung: knall u.
fall, schände u. spott, nacht u. nebel, tag u. thau, wind u. welle, wille
u. werk, e) Häufig ist eines der beiden Wörter der bedeutung nach
schwächer als das andere und dient dann nur zur Verstärkung, erwei-
terung, Verdeutlichung, oft nur zur poetischen ausschmückung des an-
dern; es entsteht dadurch also ein pleonasmus, den auch die alten
sprachen kennen (casu et fortuito, forte fortuna etc.). Wenn aber
Archiv f. n. Sprachen. XLYIII. ■ 29
4a0 Die sprich wöitllcheu Fürmeln der deutschen Sprache.
Tobler (a. a. o.) behauptet, es sei dies meist das vordere wort der
sprichwörtlichen forrael und dieses sei nur des zweiten wegen da, so
kann ich diesem urtheile nicht beistimmen ; dergleichen fälle kommen
im vergleich zur gesamtzahl nur selten vor, mit alliteration am sel-
tensten.
3) Häufig drückt die formel wirkliche gegensätze aus, die be-
griffe divergiren also, z. B. berg u. thal, freud u. leid, lieb u. leid,
feind u. freund, grat u. grund, hass u. huld, sand u. see, wol u. weh,
binnen u. butten, auf u. ab, hoch u. nieder, alt u. jung, arm u. reich,
gross u. klein.
Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
lieber Wolfram's von Eschenbach Rittergedicht Wilhehu von
Orange und sein Verhältniss zu den altfranzösischen Dich-
tungen gleiches Inhalts. Quedliubuig und Leipzig. Von
San Marte. Druck und Verlag von Gottfried Basse. 1871.
8. 165 S.
Diese Schrift bildet in der „Bibliothek der gesamoiten deutschen Na-
tionalliteratur von der ältesten bis auf die neuere Zeit" den 5. Band der
2. Abtheilung.
Der Herr Geh. Reg.-Rath im Frovinzialschuleollegio zu Magdeburg
A. Schulz, der unter dem Namen San Marte schon so viele Studien über
Wolfram von Eschenbach veröffentlicht hat, spricht sich in dem uns vorlie-
genden Werke über "Wolfram's zweites grosses llitterepos „Wilhelm von
Orange" aus. Lachmann erwarb sich bleibende Verdienste um Herstellung
des gereinigten Textes. Gervinus bemerkte, dass die Charaktere mit W'e-
nigem trefflich geschildert seien. Ettmüller erkannte den Wilhelm von
Orange als Wolfram's feinstes Werk an. Lachmann, Gervinus, Rosenkranz,
Koberstein, Simrock, Gräfe, Vilmar, Eichendorf Holland u. A. gingen je-
doch auf eine ästhetische Würdigung des Gedichtes nicht ein, weil sie das
Gedicht für unvollendet hielten. 1841 trat A. Schulz dieser Ansicht zu-
erst entgegen.
Ueber seine nordfranzösisch geschriebene Quelle zum Wilhelm von
Orange sagt Wolfram:
Lantgräf von Dürkgen Herman
tet mir diz maer von im bekant.
er ist en franzoys genant
kuns Gwilläms de Orangis.
Seit 1854 ist die Sage vom heiligen Wilhelm und der Inhalt der davon
übrig gebliebenen französischen Dichtungen durch folgende zwei Werke be-
handelt: 1) Jonckbloet, Guillaume d'Orange, Chansons de geste des Xle
et XHe siecles, publice pour la premiere fois. La Haye, Martinins Nvhnff,
29*
452 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
1854. 2) Ludwig Clarus: Herzog Wilhelm von Aquitanien, ein Grosser
der Welt ein Heiliger der Kirche und ein Held der Sage und Dichtung.
Münster, Theissing. 1865. Durch Jonckbloet und Clarus, einen Conver-
titen, ist das Material auf lange Zeit erschöpfend gesammelt.
A. Schulz stellt sich nun nur noch die Aufgabe, Wolfram's Verhält-
niss zu den gleichartigen altfranzösischen Gedichten näher zu untersuchen
und festzustellen, um erkennen zu können , in welcher Weise er den über-
lieferten Stoff behandelt hat und welches Verdienst ihm bei dieser Bearbei-
tung desselben etwa zuzusprechen ist.
A. Schulz kommt in seinem Buche zu folgenden Resultaten : Wolfram
erhielt vom Landgrafen Hermann ein französisches Buch über die Thaten
des H. Wilhelm von Orange. Er Hess sich dasselbe vorlesen und reprodu-
cirte den Inhalt in deutschen Versen. Er band sich jedoch nicht so streng
daran, dass seine Worte für eine treue Uebersetzung hätten gelten können,
son'lern modelte ihn frei nach seinem eigenen Geschmacke und seiner künst-
lerischen Einsicht durch Ausscheidung des ihm Unpassenden und Hinzu-
fÜ2ung des seiner Idee Entsprechenden. Sein Werk schliesst sich im All-
gemeinen und im Einzelnen, besonders in der ersten Hälfte, so eng und in
langen Stellen oft ^wörtlich der Chanson Bataille d'Aleschans an,
dass bis zum stricten Beweise des Gegentheils anzunehmen ist, sie liege
seinem Gediclite zu Grunde. Es sind ihm aber auch noch andere Dichtun-
gen bekannt gewesen, aus denen er Anspielungen und einzelne Züge ent-
nahm, die er seiner Erzählung einwob.
Nach der Ansicht von A. Schulz verstand Wolfram die nordfranzö-
sische Sprache, in welcher die Chansons vom H. Wilhelm geschrieben sind,
wie sie in der Champagne gesprochen ward. Dass Wolfram von Eschen-
bach lesen und schreiben konnte, wird von A. Schulz im Widerspruche mit
der Erklärung der bekannten Stelle im Parcival durch Lachmann und Hol-
land in Abrede gestellt.
In seinen eingehenden Untersuchungen citirt A. Schulz auch Bechstein.
Hier wäre der, soviel wir bemerkt haben, fehlende Vorname erwünscht ge-
wesen, da wir zwei Germanisten Bechstein haben, Vater und Sohn.
Heinrich Pröhle.
E. Böhmer, Romanische Studien. Heft I. Halle, Verlag des
Waisenhauses, 1871.
Jede Epoche hat ihre eigenen wissenschaftlichen Bestrebungen. Die
letzten Jahrzehnte haben das Studium der historischen Grammatik und
Sprachvergleichung, das der altgermanischen Dialekte und endlich — wir
müssen es als einen Sieg über erhärtete Vorurtheile und als einen Fort-
schritt der gesammten Philologie anerkennen — endlich auch das der alt-
romanischen Sprachen und Literaturen aufblühen lassen. Zu den Bemühun-
gen auf letzterem Gebiete gesellt sich in den „Romanischen Studien" ein
neues Unternehmen: In zwanglosen Heften sollen unter diesem Titel Arbei-
ten aus dem Gesammtgebiete romanischer Sprachwissenschaft und Literatur
erscheinen.
Heft I. der „Romanischen Studien," welches uns bis jetzt vorliegt, ent-
hält Beiträge zur italienischen Literatur. Eine werthvoUe Arbeit von Karl
Witte — Ueber Michelagnolo Buonarroti's Gedichte — führt uns in den
Kreis der Männer ein, mit welchen der berühmte Maler und Dichter ver-
kehrte, einen Kreis, welcher für die literarischen Bestrebungen der damali-
gen Zeit eine hervorragende Bedeutung hat; der Verfasser zeigt uns den
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 453
Dichter in seinem Verhältnisse zu den einzelnen Personen desselben und
lässt uns zu gleicher Zeit einen Blick in die poetische Werkstatt des Mei-
sters thun. Die nun folgende Inhaltsangabe der vaticanischen Liederhand-
schrift 3793, eines der wichtigsten Codices für die Erforschung altitalienischer
Sprache und Literatur, ist wohl geeignet, unser Augenmerk auf die Fülle
des noch unbenutzten und unedirten, für die "Wissenschaft und Geschichte
der Sprache und Literatur gleich wesentlichen Materials zu richten.
Im Uebrigen scheint uns das erste Heft darauf hinzuweisen, dass in den
„Romanischen Studien" vorwiegend die literarhistorische Richtung, weniger
<He sprachhistorische berücksichtigt werden soll. Beiden sollte in einem
philologischen Unternehmen gleiche Berechtigung zuerkannt werden. Wir
werden uns freuen, wenn unsre Vermuthung uns tauscht, und die Folge lehrt,
dass den Ansprüchen beider in gleicher Weise genüjrt wird, ^^'i^ geben
uns dieser Hofinung um so leichter hin, als wir schon im 2. Hefte eine
sprachhistorische Arbeit zu erwarten haben: De lingua Hispano -Romanica
ex glossario Arabico et Latino saeculi VIII vel IX illustranda scripsit
Eduardus Boehmer. — Die Namen Boehmer, Sachs, Mussafia, Stengel etc.
bürgen dafür, dass die „Romanischen Studien" unter den wissenschaftliehen
Erzeugnissen unsrer Zeit einen ehrenvollen und hervorragenden Platz ein-
nehmen werden.
Eines Gedankens konnten wir uns beim Durchlesen des Prospects zu
diesem neuen Unternehmen nicht enthalten; eines Gedankens, der uns gar
zu oft schon entgegengetreten ist. „Letztere — die Romanischen Studien
— werden auch auf das Gebiet der englischen Sprache nur soweit hinüber-
greifen, als die betr. Arbeiten zur Aufhellung romanischer Erscheinungen
dienen." Also auch diese Blätter wollen dem Altenglischen ihre Spalten
nicht öffnen. — Wir beabsichtigen keineswegs, dem Herausgeber und seinen
Mitarbeitern einen Vorwurf mit. dieser Erwähnung zu machen; wir vermuthen
nur, dass ihnen für die Erforschung altenglischer Dialekte und ihrer Litera-
turen keine Kräfte zu Gebote gestanden haben. Auf allen Gebieten der
Wissenschaft hat sich das Deutschland unseres Jahrhunderts hervorgethan,
auf den meisten ist es maassgebend. Und hier? — Wir wollen Arbeiten
wie die von Sachs, Koch und Mätzner nicht unterschätzen, aber dennoch
können wir uns niciit verhehlen, dass auf einem Felde, auf dem noch so
unen'llich viel zu arbeiten ist, erst sehr wenig geleistet worden ist. Dass
zunächst im Einzelnen noch viel geforscht werden muss, ehe sich für das
Problem der Entwicklung der englischen Sprache bis zum 16. Jahrhundert
hin neue grosse Wahrheiten ergeben, ist selbstverständlich. Hoffen wir,
dass auch auf diesem Gebiete der Geist deutscher Forschung bald mehr
und mehr erkennbar wird.
Prenzlau. Dr. K. Böddeker.
Codicem Manu Scriptum Digby 86 in Bibliotheca Bodleinna as-
servatum descripsit, excerpsit , illustravit Dr. E. Stengel.
Halle, Verlag des Waisenhauses, 1871.
Wir haben in diesem Werke eine werthvolle Arbeit vor uns. Ein
grösserer Codex aus einer oxforder Bibliothek, abgefasst in der wichtigsten
Epoche der mittelalterlichen französischen Literatur, die zugleich eine nicht
unwichtige Periode für englische Sprachbildung ist, wird uns derart zugäng-
lich gemacht, dass die einzelnen Abschnitte desselben in der Reihenfolge,
die der Codex selbst zeigt, ihrem Titel nach angeführt, beschrieben und,
wofern sie nicht schon anderen Ortes edirt sind, theilweise oder ganz ab-
454 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
cetlruckt werden. Wir finden auf diese Weise anglo-normannische, alt-
ent^lische und lateinische Sprachdenkmäler <les XIII. Jahrhunderts neben
einander. .
Das Buch bietet uns Prosaisches und Poetisches. Abhandlungen über
Glanbenss'atze, Gebete und Legenden treffen wir an neben Satyren und
weltlichen p>zählungen, sogar an obscönen Gedichten fehlt es nicht. Es
sind mithin alle Gattungen der damaligen Literatur mit Ausnahme der Ge-
schichtsclireibung vertreten. Einzelnes gehört seiner Form nach zu den
hervorrao-onden Erzeugnissen mittelalterlicher Dichtkunst. Abgesehen von
dem o-rossen Werthe, den eine derartige Ausgabe für das Sprachstudium
hat, triebt sie auch demjenigen, welcher selbst sprachliche und literarische
Quellenstudien zu machen nicht im Stande ist, Gelegenheit, einen Einblick
in einen wichtigen Codex zu thun, in die Art und Weise seiner Abfassung
und in den Umfang der poetischen Ideen und Stoffe der betr. Literatur-
epoche.
Leider sind die altenglischen Denkmäler mit geringerer Sorgfalt be-
handelt als die altfranzösischen : auch ist nur von einer geringen Anzahl
derselben der Text beigefugt. Der Herausgeber giebt zu diesem Umstände
selbst die Erklärung in einer Anmerkung zu Seite IX der Einleitung: Majo-
rem francogallicorum vel anglonormannicorum numerum attuli propterea,
quod anfjUca carmina^ rpiae si linguam respicirnus, pluri7ni facienda sunt,
propeiiiem me editurura esse spero. Hoffen wir, dass er uns auf diese sehn-
lichst wiinschenswerthe Ausgabe nicht zu lange warten lässt. — Nur auf
eine Einzelheit in einer der altenglischen Partien möchten wir noch auf-
merksam maihen. In dem Gedichte: Les XV singnes de domesday (p. 53)
ist uns die 4. Zeile: „After pe wordes of geromie" aufgefallen. Bekanntlich
giebt Jeremias keine Beschreibung des jüngsten Gerichtes. Nun belehrt
uns Mätzner in seinen „Altenglischen Sprachproben," welche p. 121 ein Ge-
dicht über denselben Gegenstand enthalten, wie ibigt: „Die fünfzehn Vor-
zeichen werden auf den heiligen Hieronymus zurückgeführt, welcher als
Gewährsmann im Anticrist, in den Metr. Homilies p. 25, von Hampole v.
4738, 4745, im MS. Harl. 2255, in den Chester Plays II, 147, von Lindsay
u. a. ausdrückhch genannt, und als dessen Quelle Bücher oder ein Buch
der Hebräer bezeichnet wird (Anticr. 456, Hampole v. 4750, 4753, Chester
Plays II, 147). In den Werken des Hieronymus ist kein Vorbild für die
späteren Darstellungen aufzufinden. Nach Anderen sollen die fünfzehn Zei-
chen von des Pomerius oder Julianus, Erzbischofs von Toledo 680^690
Prognosticorura futuri seculi Libb. III. (ed. Lips. 1535) herrühren." —
Nirgends ist hier von Jeremias die Rede.
"Da beide Redactionen, die von Mätzner und die von Stengel, offenbar
von verschiedenen Verfassern herstammend, hinsichtlich ihres Inhaltes genau
übereinstimmen, — selbst directe Rede an entspreohenden Stellen und gleiche
Gedanken in derselben, auch einzelne Sätze in entsprechender Verbindung
stimmen wörtlich überein — so ist es uns sehr wahrscheinlich, dass beiden
ein gemeinschaftliches prosaisches Oi-iginal zu Grunde lag, dessen Gedanken
der Dichter des Stengel'schen Textes ausführlicher darstellte, als der des
Mätzner'schcn, letzterer aus'erdera in vierzeiligen Strophen, ersterer als
fortlaufende Dichtung ohne Strophenabtheilung. — Nun heisst es im Mätz-
ner'schen Text v. 149 :
l)us US tellij) Seint Jeronime.
Es ist daher kaum daran zu zweifeln, dass der Dichter aus Willkür oder
Irrthum Jeromie für Jeronime schrieb. Den Abschreiber kann der Vorwurf
nicht wohl treffen wegen des Reimwortes prophicie. Pomerie wäre eine
andere, aber weniger gegründete Conjectur.
Der beschreibende und erläuternde Text des Herausgehers ist lateinisch
abgefasst. Quum extcrno impulsu tum difficultates quasdam , quae Anglis
Benrtheüungen und kurze Anzeigen. 455
Francogallisque In libris germanice seriptis videntur inesse, minuen(3i studio
adductus sum, ut contra ipsam animi sententiam interpretatlones latine 8cn-
berem, — sagt er zu seiner Reditfertigung in dieser Beziehung. Du sich
für ein Buch, das auf einen so bescbränkten Leserkreis angewiesen ist wie
das vorliegende, schwerlich eine specielle englische und französische Aus-
gabe lohnen niöcbte, da ferner keiner derer, welche Interesse an demselben
haben, des Lateinischen unkundig sein dürfte, so müssen wir den angeführten
Gründen beipflichten.
Prenzlau. Dr. K. Böddeker.
A. Tobler, Li dis dou vrai aniel. Die Parabel von dem ächten
Ringe, franzöv'^ische Dichtung des 13. Jahrhunderts, aus
einer Pariser Handschrift zum ersten Male herausgegeben.
Leipzig, bei Hirzel, 1871.
Herr Tobler hat dieser Dichtung, die von einem verhältnismässig ge-
ringen Umfange ist — sie besteht aus nur 432 Versen — eine sehr
umfassende und gründliche Behandlung angedeihen lassen. In der Vor-
rede zu derselben giebt er uns eine Uebersicht über den Inhalt des
Codex, nach welchem er die Parabel edirt hat — Nr. 25,566 der natio-
nalen Bibliothek zu Paris. Er führt die Titel aller der Texte dieser Hand-
schrift auf, welche bereits Herausgeber gefunden haben, mit Angabe wo?
und von wem? sie edirt sind, um! fügt bei Bezeichnung eines jeden Textes
die anderweitig noch existirenden Handschriften desselben bei, soweit sie
zn seiner Kenntniss gelangt sind. Es folgt eine Zusammenstellung der in
der Handschrift vertretenen Autoren, welche darauf schliessen lässt, dass
der Codex wohl eine Sammlung nordfranzösischer, oder specieller: artesischer
Werke hat sein sollen. Offenbar ist ferner, dass die einzelnen Theile des-
selben geschrieben sind von verschiedenen Händen und zu verschiedenen
Zeiten, gegen Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts. — Hieran
knüpft sich eine mit Umsicht und Urtheil geführte Untersuchung über die
Entstehungszeit der in dem Werkchen veröffentlichten Dichtung, welche ein
bestimmtes Jahr freilich nur mit annähernder Sicherheit als das der Ab-
fassung nachweisen kann. — Auch hat der Herausgeber die Dichtung als
einen Beitrag zur Kenntniss der picardischen Mundart, zur Kenntniss ihres
lautlichen imd graphischen Verhaltens ausgebeutet. Die Resultate seiner
Untersuchung bilden einen in sich abgeschlossenen Theil der Vorrede, wel-
cher zwei Zwecken zu gleicher Zeit dienen soll und dient. Einerseits bietet
derselbe eine übersichtliche Zusammenstellung der J^igenthümlichkeiten des
picardischen Dialectes, andererseits dient er als kritischer Maassstab der von
T. angewandten Orthographie und seiner Textverbesserung. Wo letztere
für nöthig gehalten ist, finden wir die Lesart der Handschrift unter dem
Texte. — Ueber den Werth seines Verfahrens bei der Textkritik spricht
sich der Herausgeber in seiner bekannten Bescheidenheit folgendermaassen
aus: „Dass ich nun bei der Umsetzung meiner Vorlage aus ungleich-
massiger, schwankender Sprache in das, was ich für alte picardische,
oder unter dem Einflüsse ausserpicardischer Literatur in einigen Punkten
(che für ke, g für w) modificirte iMundart halte, durchweg das Eich-
tige , namentlich das richtige ISIaass getroffen habe , dafür kann mir
mein guter Wille allein keine hinlängliche Bürgschaft geben. Mir selbst
sind Zweifel genug geblieben . . . Den Versuch wollte ich um der Möglich-
keit des Fehlens willen nicht unterlassen ; die genaue Wiedergabe des Ueber-
lieferten, wie sie bei einem ersten Abdrucke unerlässlich war, setzt jeden
456 Benrtheilungen und kurze Anzeigen.
in den Stand, aus dem Materiale, das mir vorlag, herzustellen, was ihm
besser dünkt." AVir können die angewandte Methode nur billigen, und ihre
Würdigun"' von Seiten des Herausgebers ist so frei von jedem Vorurtheile
zu seinen Gunsten, dass wir kein Wort hinzuzufügen haben.
Schliesslich giebt T. am Ende seines Werkchens in einer Reihe von
„Anmerkungen" Beiträge zur Etymologie und Bedeutungslehre altfranzösischer
Wörter. Jedes neu edirte sprachliche Material wird, gehörig durchforscht,
neue Beiträge dieser Art gewähren können. Es ist sehr anzuerkennen,
wenn der Herausgeber die neuen Entdeckungen auf dem Gebiete der Wort-
kenntniss, zu welchen ihn der betr. Text geführt hat, auch dann seinen
Lesern mittheilt, wenn sie nicht zum Verständnisse desselben nothwendiger-
weise mirgetheilt werden müssen. Als Ergänzungen zur Kenntniss des
Sprachschatzes werden sie, wie es denn auch von T. geschehen ist, am vor-
theilhaftesten in einem besonderen Anhange zusammengefasst.
Wir brauchen nicht mehr zu erwähnen, dass ein näheres Einsehen die-
ses Werkchens von uns einem jeden Freunde der altfranzösischen Sprache
und Literatur sehr empfohlen wird.
Prenzlau. Dr. K. Böddeker.
W. Shakeppeare's dramatische Werke. Für die deutsche Bühne
bearbeitet von W. Öchelhäuser, Mitglied des Vorstandes
der deutschen Shakespeare-Gesellschaft. Berlin. A. Asher.
8. 1870.
Shakespeare ist und bleibt noch immer das unerreichte Vorbild unseres
Dramas, und seine Werke werden so lange, bis die Deutschen eine wirklich
originelle Kunst entwickeln, den Grundstock unseres Repertoires bilden.
So sehr ich anerkenne, dass Shakespeare unter den Dichtern der neuen
Zeit den ersten Platz einnimmt, so kann ich mich doch nicht denjenigen
seiner Bewunderer anschliessen, welche hierin ein Glück sehen und meinen, die
Zeit würde beklagenswei'th sein, wo die Erzeugnisse der Gegenwart alleinige
Herrschaft auf den weltbedeutenden Brettern ausübten. Meines Erachtens
ist das der einzige Zustand, den eine wirkliche Kunst verträgt; das Leben-
dige will und mag keine Concurrenz mit den Schatten der Vergangenheit
eingehen. Wenn das Interesse an der Leetüre des britischen Dichters auch
von Tage zu Tage zunimmt, muss trotzdem jeder unbefangene Beobachter
schon jetzt gestehen, dass er von der Bühne herab nicht mehr dieselbe Be-
deutung beanspruchen kann, wie früher. Der Pulsschlag unserer Zeit ist
viel zu energisch, und die aus ihr resultirende AVeltanschauung, wenn auch
in noch so abgeschwächter Form, so sehr Gemeingut eines Jeden, dass er
im Theater, wo der Lebendige den Lebendigen gegenübertritt. Fleisch von
seinem Fleisch und Bein von seinem Bein sucht und die ästhetischen Doc-
trinen wie alles Andere vergessen will. So befriedigt unser Publicum seine
idealen Bedürfnisse in der Oper, wo ihm die Zauberkraft der Musik mühe-
los den Weg in eine andere Welt erschliesst, im recitirenden Drama aber
feiert nur noch der ungenirte Realismus seine Triumphe, mag er die lang-
weilige Kleinbürgerlichkeit, wie im sog. deutschen Lustspiel, abconterfeien,
oder in der Posse durch Obscönität zu kitzeln suchen, oder endlich im
Sensationsschauspiel, wie es die Franzosen ausgebildet haben, und ihnen die
Engländer in der diesem Volke eigenthümlichen brutalen Manier nachahmen,
jServenaufregungen erzeugen, wie sie eben so gut durch Stierkämpfe oder
öfl'entliche Hinrichtungen zu Wege gebracht werden könnten.
Es gilt indessen dem idealen recitirenden Drama den Platz offen zu
Beurtheilungen und kurze Anzeigen, 457
halten. Und da leider! der Vorrath einheimischer Producte nicht ausreicht,
auch viele der Schiller'schen Tragödien trotz alles patriotischen Vorurtheils
nach Erreichung einer gewissen Altersstufe auf die Dauer ungeniessbar wer-
den, so niiissen wir beim Auslande um Borg gehen. Natürlich werden wir
dort am liebsten zugreifen, wo dasjenige zu finden, wiis unserer Art am
Verwandtesten ist. Dass die machtvolle Gestalt des grössten Uramatikers
aber vor Allem berufen ist, von Zeit zu Zeit auf der Bühne als zürnender
Herakles zu erscheinen und der Tagesliteratur ihre Unwürdigkeit zu Gemüthe
zu führen, wird der begeistertste Verfechter des „Modernen" nicht ableug-
nen können, zumal seine Werke bis jetzt auch der Kunst des Schauspielers
die höchsten und schönsten Aufgaben bieten und so den entsetzlichen Ver-
fall derselben immerhin etwas auflialten mögen. Ich bin zwar weit davon
entfernt, mit Eduard Devrient die Sliakefpeare'schen Gestalten als das Ein-
zige, Mustergültige hinzustellen. Die Schauspielkunst verhalt sich zur äusser-
Hchen Bühne wie die Plastik zum Gebäude; die classischen Figuren der
griechischen Tempel passen nicht in eine christliche Kirche, und die Detail-
zeichnung der Shakespeare'schen Charakteristik würde in einem antiken
Theater absolut unverständlich bleiben. Unser Theater ähnelt aber weder
dem griechischen, noch dem englischen, soll desshalb ein ihm dargestelltes
Drama ein wahrhaftes Kunstwerk sein, so muss es seinen Gesetzen in der
ganzen Composition angepasst sein. Die Composition der Shakespeare'schen
Dramen erscheint mir vom Standpunkte des englischen Theaters aus so
vollendet wie möglich — einzelne Fehler haften natürlich allem Mensch-
lichen an. In unsere Theater werden aber Sliakespeare's Werke nie voll-
kommen hineinpassen, man mag sie drehen und wenden, zuschneiden und
ausflicken wie man will. Wenn man auch der Venus — um das obige Bei-
spiel noch einmal zu gebrauchen — einen sittsamen Rock anzieht, desshalb
ist sie doch noch lange keine Madonna. —
Soll indessen Shakespeare gegeben werden, so muss er jedenfalls in der
möglichst besten Weise den modernen Verhältnissen accommodirt werden.
Ueber diejenigen Stholastikcr, welche ihn gern mit Haut und Haaren vor's
Lampenlicht schleppten, verlohnt es kaum noch ein Wort zu verlieren. Die
Hauptaufgabe aber ist, der augenblicklich auf den deutschen Bühnen herr-
schenden Barbarei und Zerfahienlieit ein Ende zu machen. Herr Oechel-
häuser entwirft in seiner Einleitung („Grundsätze für die Bühnenbearbeitung")
ein Bild dieser Zustände, das man spassliaft nennen könnte, wenn sich nicht
alle unsere Nationaluntugenden darin spiegelten. Nicht einmal die Schlcgel'-
sche Uebersetzung geniesst unbedingtes Anselin: müssen wir uns doch z.B.
den Othello hier in Berlin in einer aus der berüchtigten Voss'schen P^ibrik
stammenden Verdeutschung gefallen lassen. Ferner hat fast jedes Theater
eine andere Bühnenbearbeitung, von irgend einem Aestheticus loci, Director
oder Regisseur herrührend. Letzteres Ungemach hat übrigens bekanntlich
Shakespeare nicht allein zu erdulden, sondern auch z. ß. Mozart, dessen
Don Juan an jedem Theater anders gegeben wird und dann von den ab-
hängigen Blättern als in dieser Form allein maassgehend gepriesen wird.
Die Grundsätze seiner Bearbeitung setzt Herr Oecheliiäuser höchst an-
ziehend auseinander und können wir ihnen ohne jeden Vorl)ehalt zustimmen.
Zu loben ist auch sein Protect gegen die allzu unbesonnene Verkürzung.
Das Streichen ist die ganze Wissenschaft der ungebildeten Leute vom Metier,
während der Gebildete sich zehnmal bedenkt, ehe er sein eigenes Urtheil
über das des Dichters selbst stellt. Man kann nach meiner Ansicht dem
Publicum dreist etwas mehr zumuthen als eine dreistündige Dauer der Vor-
stellung. Es ist absolut nicht zu begreifen, weshalb Nerven, welche die
fünfstündige Dauer einer Meyerbeer'sJien Oper ertragen können, nicht
auch dieselbe Zeit es bei einem Shakespeare'schen Drama aushalten sollten.
Man wird zwar, wenn man den Zuschauer länger in Anspruch nehmen will,
sein Augenmerk energisch auf die Beseitigung der Verwandlungen richten
458 Beurtbeilungen und kurze Anzeigen.
müssen, denn nichts ermüdet mehr, als ein fortwährendes An- und Absetzen
der Aufmerksamkeit. Dieser unmotivirte Veitstanz der CouHssen bringt das
Auge zuletzt förmlich zur Verzweiflung: die Personen kommen und gehen
wie auf einer Eisenbahnstation, so dass man endlich froh ist, wenn man aus
diesem Wechsel erlöst und wieder zwischen die stabile Decoration seiner
vier Wände gesetzt wird. Ich glaube, man wird in dieser Hinsicht viel
weiter gehen können, als bisher. Unsere Bühne ahmt zwar die Natur nach,
trotzdem ist aber der Schauplatz, auf welchem sich das Drama begiebt, ein
idealer, und nur zu vermeiden, dass sich Alles vor derselben Coulisse in
einer geradezu unglaublichen Weise trifft, wie meinetwegen auf Kaulbach's
Reformationsbilde. Durch geschickte Uebergänge wird die Phantasie leicht
in Stand gesetzt, von den rohen Anforderungen der Wirklichkeit zu abs-
trabiren.
Herr Oechelhäuser bietet den Bühnen eine Bearbeitung von Richard HI.
Hamlet, Heinrich IV. und „AVie es euch gefällt!"
AVas Richard III. betrifft, so unterscheidet sich die vorliegende Bearbei-
tung von allen früheren Versuchen besonders durch das nochmalige Auftreten
der Anna im vierten Acte und die Beibehaltung von Richard's Werbung
um die Elisabeth. Ueber letzteren Punkt hat sich Herr Oechelhäuser selbst
im dritten Bande des Jahrbuchs der deutschen Shakespeare-Gesellschaft
vernehmen lassen. Seine Anschauungen scheinen unwiflerleglich zu sein :
dass ein so gewandter Künstler wie Shakespeare ohne irgend einen Grund
dasselbe Motiv in einem Drama zweimal benutzen sollte, ist nicht anzuneh-
men. Die berühmten Geistererscheinungen des Schlusses hat der Bearbeiter
ihrer AVorte beraubt. Auch hier giebt man ihm vollkommen Recht, denn
diese redenden Gespenster sind für unseren Geschmack unerträglich. Auch
ist der Rathschlag vortrefflich, sie mit einem Gewitter zu accompagniren,
wohingegen eine Musikbegleitung keinen günstigen Effect zu versprechen
scheint. Ueberhaupt ist es bei Inscenirung eines recitirenden Dramas durch-
aus rathsam, nun und nimmer die Musik als idealen Factor zu verwenden,
wie es hier geschähe. Die AVeit der Musik ist eine ganz andere als die des
Schauspiels, und so entsteht für feinfühlende Gemüther ein unangenehmer
Contrast. Es ist etwas anderes, wenn die Musik rein realistisch wirkt, d. h.
auf der Bühne selbst vor unsern Augen ein Marsch geblasen oder zum
Tanze aufgespielt wird. Alle melodramatischen Effecte sind unkünstU-risch.
Es versteht sich von selbst, dass man bei dieser Scene die von DIngelstedt
getroffene Anordnung befolgen muss und nicht ein Arrangement, wie es
z. B. auf der Berliner Bühne im Gebrauch ist, wonach die Heerlager Ri-
chard's und Richmond's durch ein bis zu den Lampen vorgeschobenes ge-
birgsartiges A^'ersatzstück getrennt sind, in dessen transparentem Gipfel die
Geister sich sehen lassen. — Eine vollendete harmonische Bühnenwirkung
ist übrigens mit diesem fünften Acte nicht zu erzielen: das Publicum wird
sich stets einzig und allein an Richard's glanzvolle Einzelheiten halten und
dagegen die Gesammtwirkung. der an und für sich so überaus schön gedachte
Schluss zu Kurze kommen. Die beiden Scenen Richmond's erfordern jedes-
mal eine Verwandlung, ohne jedoch ein abgeschlossenes Gemälde darzubie-
ten. Die Handlung ging auf Shakespeare's Bühne in einem Flusse fort, auf
der unsern aber ist sie in vier Stücke zerrissen. —
Am „Hamlet" ist die Streichung der ganzen Eingangsscene auffallend.
AVenn auch der Bearbeiter dies vortrefflich zu motivi^en weiss, so wird er
dennoch schwerlich jemals mit seinem Vorschlage durchdringen. Er bringt
deshalb auch selbst schon die gestrichene Scene in einemNachtrage. So
sehr ich principiell Herrn Oechelhäuser Recht gebe, so möchte ich doch um
keinen Preis diese wundersame Ouvertüre missen. Grabbe in seinem vor-
trefflichen und leider viel zu wenig bekannten Aufsatze „über die Shakespearo-
manie" meint zwar, auf derartige brillante Introductionen sei nicht viel zu
geben, da das Publicum nur ganz allmälig in Stimmung komme und sie
Beurtbeilnngon und kurze Anzeigen. 459
(ieshalb noth wendig verloren gehen miissten. Ich glaube indessen, dass ge-
rade am Anfang ein kräftiger Ton geboten ist, der die Aufmerksamkeit
reizt : Shakespeare hat diesen Grundsatz fast immer befolgt. — Die Fortin-
brasscenen sind ganz fortgefallen; ich meine, die Reise nach England unter-
drückte man ebenfalls am besten; sie ist ein gar zu novellistisches Element,
ein unangenehmer Zwischenact in der Handlung selbst. Auch der Vers
„der Eine weint, der Andere lacht" fehlt; der Bearbeiter meint, er über-
stiege die Kräfte des Schauspielers. Das ist wohl ein Trrthum; wer Dessoir
z. B. als Hamlet gesehen, muss zugeben, dass dies der Höhepunkt seiner
Leistung ist. Das Fehlen dieses Verses bricht der ganzen Scene die Spitze
ab. Vortrefflich sind <He Bemerkungen über die einzelnen Stellen des
Stückes. Hier verfahren unsere Bühnen oft mit einer unverzeihlichen Nach-
]ä«sigkeit. Die ganze Einleitung zum Hamlet sagt uns überhaupt sehr zu.
Herr Oechelhäuser hält sich nur an seine Sache und vermeidet in Folge
dessen das widerliche Geschwätz, wfis meist über dies tiefsinnige Drama
feilgeboten wird. Hier zeigt sich in der That, dass es nichts Neues unter
der Sonne giebt. Denn wenn man untersucht, ..zu welcher Zeit Hamlet sein
Vcrhältniss mit Ophelia angeknüpft und welchen Grad physischer Vertrau-
lichkeit es erreicht habe, — ob Polonius Mitwisser des königlichen Ehe-
bruchs gewesen und nebenbei auf Hamlet als Schwiegersohn speculirt habe,
oder nicht, — was sich Hamlet bei dem Briefe an den König (Act IV) ge-
dacht habe" — ist man da nicht auf der Fährte des Kaisers Tiberius, von
welchem es im Sueton heisst : Grammaticos ejusmodi fere quMCstionibus ex-
periebatur, quae mater Hecubae, quod Achilli nomen inter virgines fuisset,
quid sirenes cantare sint solitae.
„Wie es euch geföllt," bisher nur vereinzelt dargestellt, wird gewiss in
Herrn Oechelhäuser's Bearbeitung festen P^uss auf unserer Huhne fassen.
Die Episode des Sylvius und der Phöbe ist ganz fortgefallen, was durchaus
zu billigen. Ebenso ist die Härte im Charakter des Oliver beseitigt und zu
diesem Zwecke die Eingangsscene unterdrückt.
Das letzte Her vorliegenden Bändchen endlich enthält den kühnen Ver-
such, aus den drei Theilen Heinrich's VI. ein einziges Drama herzustellen.
Ob die deutsche Bühne viel durch die Darstellung der gesammten Shake-
speare'schen Historien gewinnen wird, ist etwas sehr zweifelhaft ; und ihr Ge-
winn soll doch am Ende der einzige Leitstern sein. Dingelstedt hat den ganzen
Cyclus nach seiner Bearbeitung aufgeführt und beabsichtigt, wie es heisst,
eine Wiederholung dieses Experimentes. Ich glaube, das eigentliche grosse
Publicum wird schwerlich jemals derartige Unternehmungen patronisiren.
Wenn irgend etwas undramatisch ist, so sind es die Kämpfe der rothen
und weissen Rose. Der Shake^peare-Oechelhäuser'sche Heinrich VI. umtasstt
einen Zeitraum von über 26 Jahren. Allerdings fragt man im Theater nichg
nach der Zeit ; aber diese Frage lässt sich nur unterdrücken, wenn da_
Werk so dramatisch ist, dass es so zu sagen die Zeit als ein Ideales be
handelt. Bei einer durchaus epischen Behandlung drängt sieh der Zeitbegriff
unabweislich und störend auf. Es wird kaum gelingen, Richard II. bei uns
einzubürgern. König Johann hat sich nirgends auf dem Repertoire gehalten.
An Heinrich IV. interessirt ganz allein JFallstaff' und sein Kreis. Nur Ri-
chard III. ist wirklich in unsern Besitz übergegangen, aber diese ungeheure
Tragödie kann man nicht zu den Historien rechnen. Es heisst zwar, sie sei
nur als Schlussact des ganzen Cyclus verständlich, das ungelehrte Publicum
indessen urtheilt anders; es giebt sich dem Drama ohne jeden Hintergedan-
ken an seine Vorgänger hin. Shakespeare's Historien haben in Deutschland
eigentlich nur Unheil gestiftet. Eine Unsumme poetischer Kraft ist verpufft,
um die heimische Geschichte analog zu behandeln : ein unmögliches Unter-
fangen. Dazu haben sie durch ihre lose, sich direct an die Chronik an-
schliessende Form viel mitgewirkt, einen ganz falschen Begriff" des histori-
schen Dramas zu erzeugen, als welches nicht die Geschichte selber, sondern
400 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
die in ihr waltenden Gerlanken und Ideen darzustellen hat, nicht eine dra-
matische Geschichte, sondern ein geschichtliches Drama sein soll! Herr
Oechelhäuser hat seine Bearbeitung derart angelegt, dass der erste Theil
vollständig weggelassen ist, Act 1 und 2 des zweiten den ersten Act, Act
3 den zweiten, Act 4 den dritten bildet, Act 5 aber und der ganze dritte
Theil sich an die beiden letzten Acte vertheilen.
Wir wünschen Herrn Oechelliäiiser's Unternehmen den besten Fortgang
und hoffen, dass die Bübnenvorstände von ihm Notiz nehmen werden.
Hans Herrig.
Les Femraes Savantes, mit Einleitung und erläuternden An-
merkungen herausgegeben von Dr. C. Th. Lion, Rector
der höheren Bürgerschule in Langensalza. Leipzig bei
Teubner. 187L
Der Verfasser setzt sich in dieser Ausgabe den Zweck, seme Leser
einen klaren Blick thun zu lassen in die Verhaltnisse der Zeit , in welche
die Ereignisse des Stückes hineinfallen, wie besonders in das Wesen und
die Bedeutung des Cirkels, welcher in demselben näher beleuchtet wird.
Er will eine in allen Punkten verständliche Schullection besonders der Art
bieten, dass das ästhetische Urtheil sich in derselben ausbildet. In der
Einleitung giebt er daher eine ästhetische Würdigung des Stückes, welche
kaum kritisch-wissenschaftlicher und eingehender hätte sein können. Er
legt die Hauptidee des Stückes, die Entwicklung der Handlung und die
Zeichnung der Charaktere mit richtigem Verständnisse der Absichten des
Dichters und mit klarem Einblick in die Zeitideen dar. Sein Urtheil ist
kein subjectiv-willkürliches , sondern ein aus dem Studium der Zeit heraus
gewonnenes; überall belegt er dasselbe durch Citate zeitgenössischer
Schriftsteller, durch Aussprüche von Freunden und Feinden des Dichters,
in deren richtige Würdigung er ebenfalls einzuführen versteht. Er will
zeigen, was das Stück an sich ist, und was es für seine Zeit war. Seine
Aufgabeist, „den Sinn und die Absichten des Schriftstellers
dem Verständnisse möglichst nahe zu legen." Auch für die Per-
sonalnotizen, welche mit Hinzufügung fleissig gesammelter Belege angeiührt
werden, müssen wir ihm dankbar sein. Die lebendige Zeichnung des so
bedeutungsvollen historischen Hintergrundes und die beständige Hinweisung
auf die einzelnen Figuren auf demselben erhöht überhaupt das Interesse an
dem Stücke nicht unerheblich.
Die Inhaltsangaben zu Anfang jeder einzelnen Scene müssen wir aber
um so mehr für unnöthig halten, als sie das selbständige Sichhinein-
denken in die Situation gänzlich verhindern, und dadurch eine nützliche
ästhetische und intellectuelle Uebung aufheben. Ein Maasstab für die Rich-
tigkeit und hinreichende Feinheit der jedesmaligen Auffassung war ja an
anderen Orten gegeben.
Das Sprachliche und Grammatische ist dem Herausgeber im Ganzen
Nebensache gewesen. Die Noten, welche er in dieser Beziehung giebt, die-
nen im Wesentlichen seinem Hauptzwecke: richtige Auffassung des Dichters.
Eine Menge von Anmerkungen weist daher auf den Sprachgebrauch des
17. Jahrhunderts oder specicll auf den Moliere's hin. Doch geht Heraus-
geber auch hier oft zu weit, indem er zu vielen Versen nichts weiter als
eine gute Uebersetzung hinzufügt. Dies dürfen wir ihm da gestatten, wo
nach dem heutigen Sprachgebrauche der Sinn oder die genaue Würdigung
eines Verses unklar oder unbestimmt sein könnfe, wo auf eine versteckte
Ironie oder dergl. aufmerksam zu machen wäre, die herauszufinden oder
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 4Cl
herauszufühlen vielleicht schwer fallen möchte. Aber da, wo der Sinn eines
Verses unzweifelhaft ist und offen daliegt, hatte er es dem Leser iiberlassen
sollen, die richtif;e Uebersetzung aufzusuchen. Es ist dies eine nützliche
und bildende Uebung, die vor Allem dem Schüler nicht er.«part werden darf.
Schliesslich wollen wir uns hinsichtlich der grammatischen Notizen noch
eine Bemerkung erlauben , die wir aber nicht als maassgebend hinstellen,
sondern dem eigenen Urtheile des Lesers anheimgeben wollen: Sollte es
nicht wünschenswerth sein, dass eine Ausgabe, die in Anbetracht der ästhe-
tischen und literar-historischen Würdigung mit so grossem Fleisse und so
treuem Quellenstudium — wenn wir uns so ausdrücken dürfen — angefer-
tigt ist, auch ein wissenschaftlicheres Gepräge in Hinsicht seiner sprachlich-
grammatischen Behandlung trage? Die Erklärungen grammatischer Er-
scheinungen sind oberflächlich, selten oder nie ist ihnen eine tiefere Be-
gründung beigefügt. Einige Beispiele mögen zeigen, wie wir in einer Aus-
gabe, die auf wissenschaftliche Tiefe Anspruch macht, die grammatischen
Anmerkungen wünsclien, — falls sie überhaupt in dieselbe aufgenommen
werden sollen. Zu folgenden Versen giebt der Herausgeber beistehende
Bemerkungen :
545: en croire qn. = s'en rapporter ä qn., Glauben schenken.
858: en findet sich gerade häutig bei dem unpersönlichen il coüte, z. B.
il vous en coutera la vie.
885 : faire un traite de qc, eine Abhandlung über etwas anfertigen.
891: je veux nous venger de cette indigne classe oü nous rangent les
hommes, de bedeutet hier wegen.
917: s'accomoder de qc, sich etwas gefallen lassen.
1194: en etre aux prises = combattre.
1368: en vouloir beaucoup ä := böse sein.
1532: vouloir mal ä qn. de qc. ^= böse sein.
Nirgends ist hier der Gebrauch von de erklärt, und doch genügt es
dem denkenden Menschen nicht, das Wie? zu wissen, er will vor Allem das
Weshalb? erkennen. Es ist dies in diesem Falle ebenso leicht als vortheil-
haft. De = 1) lat. de, von — herab; in Betrefl, über, wegen, = 2) lat. a,
ab, von — her. Früher bezeichnete de alle diese Beziehungen mit voller
Energie; wo irgend eine derselben auszudrücken war, wurde dies Wort mit
dem vollen Bewusstsein seiner Bedeutung in freier Weise als Ausdrucksmit-
tel gewählt. Daneben stets en = inde, mit Beziehung auf etwas Vorge-
nanntes. Vouloir ä qn. de qc. r= Jemandem wegen einer Sache zürnen;
en vouloir h qn. = Jemandem deswegen zürnen. — • Später verlor sich
die Energie dieser Präposition mehr und mehr; sie wurde allmälig blosses
Formwort ohne verstandene oder bestimmt gefühlte präpositionale Beziehung,
— nur in der Bedeutung von — her wohnt ihr heute noch einige präpo.«i-
tionale Energie bei. In der Bedeutung „in Betreff," „wegen," hielt sie sich
in einzelnen Redensarten, aber ohne begriffliche Beileutung für das Be-
wusstsein des Sprechenden. In anderen erhielt sie selbst sich nicht, wohl
aber das ihr entsprechende en als unverstandenen und in der That begriff-
lich leeren Rest. — In dieser leicht zu durchschauenden Darlegung haben
wir den gemeinschaftlichen Erklärungsgrund für alle jene de und en, wie
für alle de und en überhaupt. Einmal verstanden, leitet sie an, jedes de
und jedes en richtig zu würdigen, wo das eine oder andere uns auch be-
gegnen mag. Diese Art der Erklärung ist also der Art, dass Praxis und
Wissenschaft gleiches Interesse daran haben.
Zu Vers 637 giebt der Herausgeber ferner folgende Note: Ne dire mot
= ne point parier. Hierdurch ist lur den Denkenden Nichts erklärt. War-
um nicht erinnern an: ne r=3 nicht, ne — mot = nicht ein Wort, (wie
deutsch nicht ein Haar, nicht ein Buchstabe u. s. w.) ebenso ne-pas =
nicht ein Schritt, ne-point = nicht ein Punkt. Letztere verloren im Ge-
brauche ihre gesonderten Bedeutungen und wurden zu blossen Negations-
462 Beurtbeilungen und kurze Anzeigen.
furmen geschwächt, während sie früher die Negationspartikel ne verstärkt
und hervorgehoben hatten. Ne-mot erhielt sich auch formelhaft als Negi-
rungsniittel, naturgemäss aber nur bei den Verben des Sprechens.
Ferner bemerkt derselbe zu Vers 676 : Mie ein in der älteren Sprache
ganz gebräuchliches Wort für amie: Liebchen. Diese Erklärung ist sehr
ungenau, die richtige Erklärung sehr einfach und leichtverständlich: Früher
m'auiie wie l'amie: später mon amie; m'amie für „mein Liebchen" hatte sich
durch den häufigen Gebrauch im Volksmunde festgesetzt, man verstand es
neben mon amie nicht mehr und schrieb es ma mie, daraus dann la mie.
(Uebrigens selten anders als in der Verbindung ma mie gebraucht.)
Zu Vers 845 linden wir die Anmerkung: llien =: etwas (im negativen
Satze). — Weshalb nicht lieber eine solche Erklärung aus einer guten Aus-
gabe überhaupt weglassen; wenigstens sollte man eine verständliche Be-
gründung bieten, etwa: Rien (rem) = eine Sache, etwas; ne-rien = nicht
etwas, nichts. Ist die Negation nicht durch ne ausgedrückt , sondern durch
ein Wort, welches mit dem Begriffe etwas nicht zu einem neuen negirten
Begrifle zusammenfliessen kann, so hat man natüilich beide getrennt zu
übersetzen, und zwar rien durch etwas. Uebrigens rien nur für das ne-
girt e etwas.
Die Bemerkung zu Vers 1336: Le prendre aux usages des mots =
s'en rappoiter ä, muss geradezu als unnütz bezeichnet werden. W^eshalb
nicht ä = gemäss (vielleicht mit Hinweisung auf den früheren Umfang die-
ser energischen Bedeutung von a), Gedanke und Ausdruck sind klar und
verständlich.
Zu Vers 113 lesen wir: croi für crois; zu Vers 1G32: voi für vois. Der
Leser erfährt hierdurch, dass der Dichter sich die seltsame Freiheit genom-
men hat, das Schluss-s obiger Formen wegzulassen. Erklärt ist für sein
Verständniss hierdurch nichts. Einige Worte können ihm die Erscheinung
klar machen: Video und credo, überhaupt die 1. Pers. Sing, im Latein kein
s, daher auch ursprünglich im Französischen nicht. Das s ist daher ein
späterer, unorganischer Zusatz; Formen ohne dasselbe kommen bei den
Zeitgenossen Moliere's noch vor. Sie sind nicht als unregelmässige, sondern
als regelmässige, aber archaistische Formen anzusehen. — Auf diese Dar-
stellung hin behält der Leser die Erscheinung besser, denn er kennt ihren
Grund; er kennt sie ausserdem in ihrem ganzen möglichen Umfange, nach
Obigem nur an zwei Beispielen; vor Allem aber ist ihm nicht Gelegenheit
gegeben, sich etwas irrthümlicher Weise als unbegründetes und unverständ-
liches curiosum einzuprägen, wofür er den Grund einsehen, was er durch-
aus und leicht verstehen kann.
Aber trotz dieses Mangels in Hinsicht der grammatischen Erklärungen
bleibt die Lion'sche Ausgabe eine empfehlenswerthe. Man bedenke nur,
dass die meisten Ausgaben französischer Autoren in dieser Beziehung nichts
Besseres und in anderen Beziehungen bei Weitem Geringeres bieten.
Frenzlau. Dr. K. Böddeker.
Egmont, a tragecly bj Goethe, ed. by C. A. Buchbeim.
Oxford u. London, Macmillan.
Der Verf., Professor am King's College zu London, hat es übernom-
men, Werke unserer Classiker Lessing, Goethe und Schiller mit Anmer-
kungen herauszugeben. Der erste, 1869 in der Clarendon Press zu Oxford
erschienene Band dieser Sammlung bringt uns Egmont, a Tragedy by Goethe,
und enthält eine Vorrede, ein Life of Goetbe, Historical Litroduction, Cri-
tical Analysis, den Text, dann die Anmerkungen dazu und endlich ein Ver-
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 463
zeichniss der besten englischen Uebersetzungen Goethescher Werke, so dass,
wie man schon an den Titeln dieser einzelnen Capitel sieht, einem Englän-
der, der unsere grossen Dichter nicht kennt, nicht nur eine Erläuterung
des Egmont speciell, sondern eine Einleitung zu Goethe's Dichtung im
Allgemeinen durch Herrn Buchheim's Werk geboten wird.
In der übrigens einfach gehaltenen Vorrede nennt uns der Verfasser
die Quellen, aus denen er geschöpft: es sind immer die besten, die er
braueben konnte, auch muss anerkannt werden, dass sie fleissig und gut
verwerthet worden sind, so dass wir ihm gern glauben, wenn er sagt, dass
er Jahre lang an seinem Egmont gearbeitet habe.
Auf die Preface folgt eine verhältnissmässig ausfuhrliche Biographie
Goethe's, die nicht nur die Schicksale des Dichters und seine Werke auf-
zählt, sondern auch berühmte Streitpunkte behandelt, wie z. B. den Patrio-
tismus Goethe's, einen Vergleich Schiller's mit Goethe u. s. w. Auch ent-
hält es, was für den englischen Leser, der sich mit Goethe's Leben und
Charakter eingehend beschäftigen will, besonders wichtig ist, einen Nach-
weis über die besten Werke, die ihm hierüber befriedigenden Aufschluss ge-
ben können.
Nach dem Life of Goethe kommen wir zu der Critical Analysis. Die-
selbe geht, um den Egmont gegen die Schiller'sche Kritik zu vertheidigen,
auf die Aeusserungen zurück, die Goethe selbst über „seinen" Egmont ge-
than hat. Aber eine Entkräftung der leider so gut begründeten Einwände
Schiller's geUngt ihr damit doch nicht, hätte auch gar nicht versucht wer-
den sollen, wenn sie nicht eingehender und gründlicher ausfallen sollte als
Herrn Buchheim's Critical Analysis.
Die Anmerkungen sind nicht unter, sondern hinter den Text gesetzt.
Dies ist nun zwar nicht bequem für den Schüler, aber in anderer Hinsicht
desto besser für ihn. Ausgaben mit Anmerkungen führen gar zu leicht zu
Unselbständigkeit. Ist eine Stelle auch nur einigermassen schwierig, ist sie
es namentlich in sprachlicher Hinsicht, so wird jeder Schüler, der nicht
einen besonderen Grad von Eifer und Selbstüberwindung hat, die Augen
nach unten wenden, um sich bei einer Anmerkung Eath zu holen, statt ge-
wissenhaft nachzudenken und die Schwierigkeit selbst zu lösen. Durch die
von Herrn Buchheim getroffene Anordnung dagegen wird der Schüler mehr
zur Selbstthätigkeit angehalten und diejenigen Anmerkungen, die für ihn
entbehrlich sind, dienen ihm zur Bestätigung des selbständig Gefundenen.
Ein noch grösserer Vortheil aber ist vielleicht der, dass man den Inhalt der
Anmerkungen besser behält, wenn man weiss, dass man sie erst eigens auf-
suchen muss, sobald man sie vergessen sollte.
Die Notes zu Egmont sind theils sprachliche, theils historische, theils
kritische. Am besten gefallen uns die der ersten Classe. Die schwierige-
ren AVendungen und Idiotismen, deren es in dem Egmont so viele giebt,
sind durchweg gut erklärt und mit Benutzung der besten Uebersetzungen
in gutem Englisch wiedergegeben; längere und besonders schwierige Stellen
sind gleichfalls vollständig übersetzt. Ausserdem finden wir viele gramma-
tikalische und etymologische Anmerkungen (nach Grimm und Becker) und
endlich noch Wörter und Wendungen, die nach ihrer Stilfarbe (familiär,
populär, rare, antiquated u. s. w.) beurtheilt sind. Und alles ist gut und
erschöpfend behandelt bis auf einige Kleinigkeiten. So können wir z. ß.
den Glauben des Verfassers an expletives nicht theilen und glauben viel-
mehr, dass die von ihm als solche angeführten Wörter der Stelle, an der
sie sich befinden, eine besondere stilistische Färbung geben oder auch ihre
Bedeutung geradezu ändern.
Die ebenfalls zahlreichen und guten historischen Anmerkungen sind aus
Schiller, Prescott, Motley und Strada geschöpft und enthalten Citate aus
diesen Historikern, namentlich aus Strada , dessen lateinischer Text auch
noch ins Englische übersetzt ist. Leider weisen diese Anmerkungen nicht
464 " Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
consequent und systematisch auf die Abweichungen des Dichters von der
Geschichte, noch geben sie eine kritische Würdigung derselben. Einzelnes
finden wir freilich, aber es genügt bei weitem nicht. Alles zur Kritik des
Dnmias Gehörige hätte auch wohl besser in die Critical Analysis gehört,
so dass man in den Anmerkungen blos darauf hätte verweisen brauchen;
jedenlalls aber ist leider die Kritik die schwache Seite des sonst so treff-
lichen Buches.
G. Ä. Volchert.
E. Burtin. Recueil de Mots Fran9ais pour les Exercices de
Langage d'apres les Tableaux de M. Strübing, 2"^ Edition,
revue et augmentee. Berlin, H. Sauvage, 1872. 142 S. 8*^.
Diese Vocabelsammlung, walcher Ref. im 43. Bande des Archivs ein
günstiges Progiiostikon stellen zu können glaubte, erscheint jetzt in zweiter
Auflage. Was <ien Zweck des Buches betrifft, so möge auf den Bericht
über die erste Auflage verwiesen sein; in Bezug auf die Einrichtung aber
ist eine so wesentliche Neuerung hinzugekommen, dass hier naher darauf
eingegangen werden niuss.
Der Verf. hat bei Anwendung seiner Sammlung die Erfahrung gemacht,
dass die Schüler und Schülerinnen sich an dem im Anschluss an die Strü-
bing'schen Anschauungstafeln gegebenen Wörtern oft nicht genügen lassen,
diiss sie in ihrem Lerneifer noch oft vom Lehrer zu erfahren verlangen, wie
diese oder jene Dinge heissen, an die sie durch das, was ihnen vorgeführt
wiril, erinnert werden. Ferner hat sich der Verf. auch überzeugt, dass Be-
merkungen über Grammatik, Aussprache, Orthographie, über Homonymen,
leichtere Synonymen u. dgl. im Anschluss an Sprechübungen besser haften,
als wenn sie dem Schüler bei anderen Gelegenheiten gegeben werden. Um
nun dem Lehrer seine Aufgabe zu erleichtern, sind alle derartigen Wörter
und Bemerkungen in einer neu hinzugekommenen dritten Spalte mit kleine-
rem Druck kurz angedeutet, meist ohne Angabe des Deutschen, so dass es
der Auswahl des Lehrers überlassen bleibt, was er davon dem Schüler durch
Erklärung verständlich machen will; doch gewährt bei einer Wiederholung
diese dritte Spähe auch dem Gedächtniss des Schülers einen Anhalt. Hier
finden wir z. B. louer miethen und loben; medecin mit durch den
Druck hervorgehobenem e statt des deutschen i und daneben, zur Vervoll-
ständigung der mit dem Arzt verknüpften Vorstellungen, dient, clien-
tele, eure; le linge neben la ligne, Feder, plume und ressort,
ferner Hinweisungen auf Unregelmässigkeiten in der Flexion, auf syntak-
tische Schwierigkeiten, ja selbst auf bjkanntere Gedichte von Beranger,
Lamartine etc. Diese kurzen Andeutungen werden genügen, um zu zeigen,
auf wie reiehen und mannigfaltigen Stoff' in dieser dritten Spalte hingewie-
sen wird, vielleicht nach Manches Geschmack auf zu reichen Stoff", da der-
selbe den Scluilern zu mehr Fragen Anlass geben kann, als dem Lehrer
lieb ist. Doch diesem bleibt es ja unbenommen, nur das zu behandeln,
was ihm passend scheint. In solchen Dingen eine Allen genügende Aus-
wahl zu treffen ist nicht wohl möglich; vor allem aber soll der Lehrer sich
nicht durch das Buch beherrschen lassen, sondern umgekehrt das Buch be-
herrschen. Dass dies auch des Verf. An- und Absicht ist, gibt er deutlich
genug zu verstehen, und ertheilt ausserdem den gewiss beherzigenswerthen
Rath „de ne se servir des tableau.x que lorsque Tinstruction directe est im-
possible."
Der Verf. weist auch kurz darauf hin, dass sich nicht alle Bücher, die
Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 465
ähnliche Zwecke wie das seine verfolgen, rein von unfranzösischen Wendun-
gen und von Germanismen zu halten verstanden haben. Es sind eben noch
gar viel Lehrer fremder Sprachen nicht zu der Erkenntniss gekommen, dasa
es ein gar heikles Ding ist, in einer fremden Sprache zu schreiben. Da der
Verf. Zartgefühl genug besitzt, die Schriften, die er im Auge hat, nicht zu
nennen, so mögen sie auch hier ungenannt bleiben. Doch sollen einige
St'.'llen aus denselben angeführt werden, um zu zeigen, dass jene Hindeu-
tung ihre volle Berechtigung hat. In einer dieser Schriften lesen wir:
chauffer une chambre moytnmuit un poele und andere derartige Wendungen
mit moyennant; — a la fin de trois semaines on les mot (sc. les tiges de
lin) dans un four bien chauife et ils (zwei Zeilen vorher findet sich derselbe
Druckfehler) sont bris/s etc.; — afin que les oiseau.x ne mangent les se-
mailles et que les grains ne perissent en hivre (zweimalige, doch mindestens
höchst ungewöhnliche Auslassung von pas) ; — des qu'il fait dou.x . . . alors
il se fond; — la figure (soll heissen die Figur!) d'une personne; — le chien
meme ri'est pas sür cZ'etre leur dupe (sc. des corneilles), d. b. ist nicht
sicher davor etc. ; — la robe de chambre n'esi portee que quand on est chez
soi, und mehrmals ein derartiger Gebrauch des Passivs; — im Questionnaire:
Que vient le chicn de faire? -- In einem anderen Buch'' lesen wir: (il)
prdfera ses croissants accoutumes h toutes ces friandes, <1. h. doch : seine
an Leckereien gewöhnte Hörnchen! statt: seine gewohnten Hörnchen; —
notre patrie septentrionale; Verf besitzt oiTenbar noch immer mehrere
deutsche Vaterländer, wie zur Zeit des seligen Bundestages; — arranger
les cheveux a l'aide des epingles ä cheveux; ils sont de bons pietons (mar-
cheurs wäre hier wol auch der gewöhnlichere Ausdruck); und gleich in der
Vorrede: Par conscquence ils ne sont pas ä meme de s'entretenir avec faci-
lite des objets de la vie ordinaire. Or, l'auteur espere remedier par ce petit
livre k ce defaut ci-dessus mentionne. Auch Verstösse gegen den Gebrauch
der Zeiten finden sich verschiedentlich in diesem Buch, doch ergeben sich
dieselben ja nur aus dem Zusammenhang und können deswegen hier nicht
gut aufgeführt werden. F. S.
Die Menaechmen oder ZwilHngsbrüder des T. Maccius Plaulus.
Für deutsche Leser bearbeitet von Dr. Carl Chr. Conr.
Völker, Oberlehrer am Gymnasium zu Elberfeld.
W^erke des klassischen Alterthums so übersetzen, dass sie dem heutigen,
modernen Geschmack zusagen, bleibt stets eine schwierige Aufgabe. Wer
sich derselben unterzieht, hat doppelten Verpflichtungen nachzukommen : er
muss dem ursprünglichen Text möglichst wenig Gewalt anthun, und auf der
anderen Seite ist er doch auch gezwungen, in vielen Punkten den Ton des
Alterthums zu ändern , zu modernisiren. Dass Beides In angemessener
Weise zu vereinigen nicht leicht ist, liegt auf der Hand; um so freudiger
werden wir einen jeden Versuch nach dieser Richtung hin als etwas Löb-
liches und Anerkennenswerthes begrüssen.
Eine solche Arbelt liegt uns vor unter dem obigen Titel. Der Verfasser,
von Freunden des klassischen Alterthums längst wegen verschiedener, tüch-
tiger Arbeiten geschätzt, hat sich auch hier wieder als einen gründlichen
Kenner der lateinischen Sprache bewährt. Die Uebertragung giebt den
Sinn des Originals scharf und getreu, soweit nicht die versuchte Modernl-
sirung In Form und Inhalt Aenderungen nothwendig erscheinen Hess. Dass
der Verfasser die oft recht complicirten und kühn gehandhabten Vers-
maasse des Originals nicht wiederzugeben versucht hat, Ist entschiedeu als
ein glückhcher Griff zu bezeichnen; wir stimmen in diesem Punkte vollstän-
Archiv f. n. Sprachen. XLVIH- 3Q
466 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.
dig mit dem in der Vorrede (pag. 5, f.) Gesagten überein. In der Moder-
nisirung hätte der Herr Verfasser wohl etwas weiter gehen können: der
antike Ton ist nirgends verfehlt, im Gegentbeil, er ist oft zu getreu, d. h.
auf Kosten des modernen Gesprächstones wiedergegeben. Manche Aus-
drücke in der Uebersetzung erinnern einen Jeden, der mit den antiken
Sprachen bekannt ist, sofort an die betreffende lateinische Wendung, und
dem Leser, der jene Kenntniss nicht besitzt, werden sie fremdartig vorkom-
men. Nach unserer Ansicht hätte der Verfasser bei der Modernisirung sich
enger an die Manier einzelner Vorgänger, namentlich Droysen's (in der
Uebersetzung des Aristophanes), anschliessen sollen. Dann würden ähnliche
Arbeiten noch mehr auch bei den nicht stieng klassisch Gebildeten den Bei-
fall finden, den ihnen Männer von Fach längst nicht versagt haben. — Der
Uebersetzung geht eine recht hübsche Einleitung voraus, welche den Leser,
auch wenn er ganz ohne Vorkenntnisse an die Leetüre des Buches heran-
geht, in practischer, passender Weise einführt. — Auf jeden Fall verdient
die Schrift eine weitere Verbreitung, wozu auch ganz besonders noch eine
durchweg klare, allgemein verständliche Sprache berechtigt. H.
Miscellen.
Göthe's Euphrosyne.
Göthe's sinnige Elegie „Euphrosyne" ist bekanntlich dem Andenken der
Schauspielerin Christine Amalie Louise Becker, geb. Neumann, geweiht,
welche von dem Augenblicke an, da sie (i.J. 1791), ein zwölfjähriges Kind,*
den Altmeister um künstlerische Ausbildung angefleht und dieser in ihr
„das liebenswürdigste, natürlicliste Talent" kennen gelernt hatte, bis zu
ihrem leider schon 1797 erfolgenden Tode immer höher in seiner Gunst ge-
stiegen. „Sie war mir in mehr als einem Sinne lieb," schrieb der Dichter
am 2ö. Octob. 1797 an Böttiger.** „Wenn sich manchmal in mir die gestor-
bene Lust, für's Theater zu arbeiten, wieder regte, so hatte ich sie gewiss
vor Augen, und meine Mädchen und Frauen bildeten sich nach ihr und
ihren Eigenschaften. Es kann grössere Talente geben, aber für mich kein
anmuthigeres." So entstand denn die tief und poetisch empfundene Ele-
gie, „eins der naturseligsten und zartesten Werke," wie sich Knebel aus-
drückt, „die je von eines Dichters Seele durcli die Feder geflossen, einzig,
eigen und schön, die Verse frei wie die Natur." „Unbezwingliche Trauer,"
— um mit Göthe's eigenen Worten zu reden — tritt uns hier in edel an-
tiker Einkleidung entgegen. Von weit geringerem Werthe, als diese Elegie,
sind drei andere Dichtungen, welche Göthe schon früher für seinen Lieb-
ling geschrieben: Der Epilog zum Jahresschlüsse 1792 und die Prologe zu
Goldoni's „Krieg" und zu Iffland's „Alte und neue Zeit." Ob die Aehn-
lichkeit einiger Zuge in den Charakteren einer Marianne, Melina, Aurelie
und Philene in „Wilh. Meister's Lehrjahren« mit solchen in dem Bilde der
Christine Becker eine mehr als zufällige sei, wie es Wdh. Hosäus in seinem
verdienstlichen, die Euphro^yne-Literatur zu einem völlig befriedigenden
Abschlüsse bringenden Werkchen „Euphrosyne"*** anzunehmen scheint, lassen
wir dahingestellt sein, aber um so entschiedener theilen auch wir die An-
sicht, dass Mignon in mehrfacher Hinsicht eine aufl'allende Portraitähnlich-
kelt mit der Becker -Neumann aufzuweisen hat. Namentlich erinnert die
• Am 15. December 1778 geboren, zählte sie damals noch nicht, wie
Göthe in seinen „Jahres- und Tagesheften" (Werke in 40 Bdn., 1869,
XXXIX. Bd., 7. S.) schreibt, 14 Jahre.
** „Reise in die Schweiz," XXVIII, 99.
*** Dessau, E. Barth. 1871.
30*
4C8 Miscellen.
Scene am Ende des zweiten Buches, in welclier Wilhelm Meister Älignon
in seinen Armen hält, deutlich an einen Vorfall, der sich bei einer Probe
zu „Koni"- Johann" zwischen Göthe und seinem Günstlinge ereignete.*
Wegen der keineswegs unbedeutenden Rolle, welche somit „Euphro-
ßvne" in Göthe's Dichtungen zugefallen, ist es von allgemeinem Interesse,
d.-tss es nach langem vergeblichen Suchen endlicli gelungen ist, das Portrait
Christlnens aufzufinden, welches nach zwei Anfiaben ilires Biographen
AriiüM"* in ihrem zehnten Lebensjahre von der Herzogin-Mutter Ainalie in
Oel gemalt worden sein soll. Dasselbe befindet si(h nämlich, wie Herr
Hofrath Dr. Wilhelm Hosäus in Dessau glücklich ermittelt hat, in der her-
zoglichen Gallerie des Georgiums bei — • nicht aber, wie man, irregeleitet
durch Musculus, bisher geglaubt hat, des Schlosses zu — Dessau und
hat wahischeinlicli im Wesentlichen den in Göthe's Werken oft genannten
Hofmaler G. M. Kraus zum Urheber.*** Das Bild, wovon Hosäus eine pho-
tographische Nachbildung seiner Schrift beigegeben hat, stellt einen lieb-
lichen Mädchenkopf mit grossen sinnenden Augen, einem neckischen Stumpf-
näschen, schwellenden Lippen und kurzem dichten Haar, in •welchem ein
bunt zusammengestellter Blumenstrauss prangt, dar. Die Zweifel, welche
gegen die Aeclitheit des Portraits etwa erhoben Averden könnten, erweisen
sich bei vorurtheilsfreier Prüfung als hinfällig, und so darf denn abermals
ein Problem der Göthe-Forschung als gelöst betrachtet -werden.
Julius Reuper.
A n a 1 e c t a von E. Krüger.
1. Habere. Mittellateinisch.
Habet facere = Er hat zu thun ist eine nicht ungewöhnliche Redeweise
auch im Altlateinischen; so Cicero: Habeo dicere, scribere u. s. w. Ein
Beispiel des passiven Infinitivs ist im Altlateinischen nicht bekannt, da-
gegen im Mittellatein ziemlicli häufig, daher auffallend, dass du Gange s. v.
Habeo es nicht erwähnt. Wir lesen
Quomodo regula habet intelligi Coussemaker. Scriptores de
musica med. aevi 3, 246 a.
Habet nominari, denominari ib. 3, 194. 226. 235.
. Habet fieri ib. 3, 249.
Compositiones . . . habent cognoscl his [ligaturis] et per modum in
quo sunt ib. 2, 243.
Danach ist zu corrigiren das seltsam verwirrte in Forkel's Gesch. der
Musik 2, 473 aus der Schrift des Prosdocimus de Beldomandis, de Cou-
trapunctu (1412)
Contrapunctus proprie s. stricte sumptus est unius solius notae
contra alicjuam aliam unicam solam notam contraposilio, cum hie
vere contrapunctus nominari habeatque coatrapositio vere est
interpretatio istius termini contrapunctus,
was uns nur verständlich schien als verschriebenes nominari habeat, quae
contrap. . . . Die neueste Ausgabe des genannten Schriftstückes in demselben
Couss. Scr. 3, 194 bestätigte unsere Vermuthung.
Im Italienischen kann man sagen: Tu ai ad essere lodato, nominato.
* Vergl. Eduard Genast: „Aus dem Tagebuche eines alten Schau-
spielers." Leipzig, 1862. I, 82.
** Im Gotha'schen Theateralmanach von 1800.
*** Vergl. darüber Hosäus a. a. O. S. 67 ff.
Miscellen. 469
Ob Aehnliches im älteren Italienisch gebräuchlich, habe ich nicht gefunden
dagegen der active Infinitiv kommt vor: Tu hai da sapere bei Antonio de
Leno (1400). ebenfalls bei Couss. I. c. 3, 307.
Im Englischen sagt man: It is to be done; — it has to be done
scheint nicht üblich.
Merkenswerth ist das Oesterr eichi sehe: Es hat zu geschehen =
habet fieri; auch: Die Schrift hat alsbald gefertigt zu werden u. s. w.
Goethe in seltener Naivetät verbindet sogar:
Romantische Gespenster kennt ihr nur allein,
Ein acht Gespenst auch classisch hats zu sein.
G. W. 41, 109 (Faust II. Act 2 Homunculus.)
Also habet audire und habet audiri sind beide mittellatein. Während
nun jene active Form Neuromanisch als angewachsenes Hülfswort dem acti-
ven Futur dient servire servira = servir avra = habebit habuerit (erit)
fccrvire, so ist die passive Wendung, wie es scheint, verschwunden. Man
sagt: il vient d'etre puni, aber nicht: il a ä etre puni.
2. a) Bejahendes verneinend gebraucht
ist in mehreren Sprachen nicht seifen, doch, wie es scheint, häufiger in den
Perioden abgebrauchter Cultur als in einfältiger Grunds])rache, z. B.:
yviöoj Glieder lähmen, nicht: gliedern, Homer. Hippocr. — ei'sxv-
^ä'Qo} pfänden, Pfand nehmen, nicht : geben. Dem. — xe^alaioat
Kopf verwunden, NT. —
Molior Damm machen, Damm zerbrechen, — obices, portas moliri
Liv. — pilare, Haare rauben.
Aedern Adern ausreissen, schlesisch. — G rasen Gras fressen. - Hau
ten Schlange legt Haut ab (empfängt neue?). — Köpfen Kopf
nehmen, abschlagen. — Krönen die Brustwehr, Krone der Fe-
stung, zerschiessen. — Lausen Läuse wegnehmen. — Pellen
Kartoffeln die Schale abziehen: pelle = pellis. IJambg. — Pfän-
den = si'ayvont,co. — Heuten Roden Grütli (Gerodet) Wurze^
ausreissen (root :- radix). — Schälen vgl. pellen. — Schuppen
den Fischen die Schuppen abstreifen, Ostfr. Hambg.
b) Verneinendes (scheinbar) bejahend.
Untiefe bald für geringe Tiefe, bald unergründlich tief. — Un-
masse, Unzahl, Unsumme scheint einerlei oder sinnverwandt mit
unzählig. — Unthier soll ein Thier xar i^o'/'y'^ bedeuten, nicht
ein ISicht-Thier, .'ondern überthierischer Mensch, vgl. noch Un-
kosten, Unkraut u. a.
c) Verneinende Wertform mit Un- (in . . a . . av)
gehört vernünftigerweise nur Dingwörtern an, weil nur an Dingen das
Sein und Nichts, Dasein und \Vegnehmen, Nicht und Nichts darstellbar ist,
während die l)ewegliche Gedankenfigur des Verbs jene Form ursprünglich
verschinäht. Die Zeitbeweglichkeit, aus welcher unsre Väter das Zeitwort
benannten, lässt inhaftende Negation nicht zu: sei auch die Bewegung in
mathematisflicr Fiction positiv oder negativ, logisch bleibt sie immer positiv
als Beweglichkeit. Wir können denken und sagen: Mensch, Unmensch,
nicht: Unthun — Sehen, nicht: Unsehen, unlieben, untreffen. ~ y^äyco,
nicht: dyoäfio — deleo, nicht: indeleo.
Dassnn Mittellatein gesagt wird imperficio für unvollkommen machen
(Scr. de musica: nota perfecta imperfieitur = die dreizeitige oder perfecte
Note wird zweizeitig, imp^rfect, gemaclit; — diese abnorme Bildung möchte
470
Miscelkn.
wohl die einzige Ausnahme von jenem Grundgesetz sein. * — Die neu-
deutschen Bildungen verunreinigen, verunzieren, verunehren sind nicht un-}-
Verb sondern denoiuinativa, so auch das mhd. uneret mich, von: unrein,
Unzier Unehre ; ingleiehen invideo v. invidus, aaxri^oveco von aa%r]fiu)v.
Dagec'en das Englische ist auch in diesem Gebiete fessellos: unbind
entbinden, Bande lösen — undo ungeschehen machen, vernichten — un-
kiss, unkinged king, unhorse in Shakesp. Rieh. III. — unlock, un-
know, unloose u. a. Der Grund, dass solches im Englischen möglich,
scheint darin zu liegen, dass jedes Wort stammähnlich gedacht, keinem
sicheren Redethell angehört, daher bei Wortangaben nie das nackte
Wort ersclieint, sondern immer gestützt mit the, a, to: the preach, to
preach. Nicht wie im Deutschen heisst es dort Berliner Zeitung , oder
Zeitung für Jedermann, sondern The Times, The Saturday Review, The
London News, The medical Journal; — nicht: Englisch W'örterbuch, son-
dern: The .english dictionary; — ebenso nicht: thun, lieben, sondern: to
do, to love u. s. w. Nackte Wörter werden nur adjectiv oder adverbiel
gesagt und verstanden: good, gloomy, thereby — oder als Nomina propria.
d) die Betonung der Un-Formen
schwankt im Deutschen auffallend, und ist nicht immer, wie C. F. Becker
fausf. Gr. I, § 75 S. 157) annahm, aus dem ISinne zu erklären, was folgende
Vergleichtafel beweist:
Nichtbetontes Un:
unausstehlich,
unbegreiflich,
unendlich,
unerträglich,
unheilbar,
unhörbar,
unnachsichtlich, auch -^■
unnahbar,
unnennbar,
unsäglich, unsagbar,
untrennbar,
unzertrennlich.
Betontes Un :
unabsichtlich, auch '^■^■i-^
unartig, --^
unanständig,
unerzogen,
ungeachtet,
ungereimt,
ungezogen,
unhöflich,
unmittelbar, auch — ^-
(Unmittelbärkeit Hegel mündlich)
unnütz,
unordentlich,
unschädhch,
unthunlich,
unverbrennlich -^^-^ und ^--i^
unvernünftig,
unvorbereitet, '
unvorhergesehen, auch -■^- — >^ i
unvorsichtig, i
unwiderstehlich. |
Weder der Unterschied in Conträre und Absolute (logische) Negation,
noch etwa diei euphonische Tonstellung, noch die Ableitungsform in Adjecti-
ven oder Part cipien lässt sich durchführen. Dass eine feste Regel vielleicht
unfindbar bleiben wird, mag man schon aus der provinciell schwan-
kenden Betonung einiger Beispiele abnehmen. Poetische Wortstellung er-
laubt sich in diesem Falle häufiger als in anderen eine gewisse Lässlichkeit ;
— ähnliches Schwanken der Willkür bei schwerwiegenden Worten, wie:
Freiheit, Wahrheit, ist bekannt genug. Schiller betont: Freiheit ruft die
Vernunft, Freiheit die wilde Begierde, -- und --im selben Verse.
* Auch das ältere Kirchenlatein hat Aehnlithes, doch substantivisch :
Ep. Jacobi 1, 13 Vulgata: Dens enim intentator malorum est = 6>«ö« änei-
paaros xnxäv.
Miscellen. 471
3. Constante Betonung
überhaupt wird angenommen als Vorzug, als Eigenthum der germanischen,
insonderheit deutschen Sprache, dergestalt, dass der einmal gültige gram-
matische Stammton durch keine Ableitung verändert wird, wie etwa in dem
wunderlichen französischen puisse-je aus je puisse. Doch finden sich hier
Ausnahmen , theils aus Willkür lebendiger oder poetischer Rede,* theils
aus provinciellem Eigensinn , zuweilen auch von grammatischer Doctrin ein-
geschwärzte.
Vielleicht rhythmisch euphonisch wird gewandelt:
Augenblick: augenblicklich ■^^- | -^-^^ ] ebenso: Augenschein.
Nachsicht: unnachsichtlich --> \ -^-■^
Unterricht: unterrichten -^- \ ^^^^
Provinciell abweichend sind:
Andacht: andächtig -- | -^^ ostfriesisch ^--^
Vorsicht: vorsichtig ebenso „ ^-^
wogegen ostfriesisch und schwäbisch ganz stammgemäss gesprochen wird
lebendig -^-' | wo das Nhd. schief sagt ^-•^.
Die feinsinnige nhd. Unterscheidung von übersetzen, unterhalten u. ä.,
welche sich auch in der Flexion kundgibt: übersetzt - übergesetzt u. s. w.
geht durch alle nhd. Mundarten, während das Holländische allerdings nur
das Eine zulässt: overgezet, — das Englische überhaupt diese Art Flexion
nicht kennt. Bei diesen Wörtern ist offenbar der Sinn an die Grundbedeu-
tung geknüpft, indem übersetzen --^-^ die körperliche Bewegung aus der
Präposition abnimmt, dagegen übersetzen — -^ durch das Vorwalten des
Verbs die geistige Uebertragung abbildet.
Ungleichheit oder Unregelmässigkeit der Betonung kommt noch auf
andre Weise vor, und zwar insonderheit bei mehrsilbigen Zusammensetzun-
gen, worüber nach C. F. Becker auch Andre behaupten, es gehe derWort-
accent (Tt^oscoSia) nicht hinter die erste Zusammensetzung zurück. Dies
scheint fast dem Griechischen entlehnt, wo jedoch der Fall nicht über das
Dreisilbige hinausgehen kann, also drei einzelne (trennbare) Wörter in sich
fasst. Solches ist daher ausnehmend selten; sind ausser av/^Tigoes und disx-
rcQO noch welche bekannt? Im Deutschen ist's entweder allgemein ungültig
oder nur zuweilen provinciell. Gewöhnlicher Ton ist:
Hofmeister Haushofmeister
Lehrer Schullehrer Landschullehrer Landschullehrerseminar
Baumeister Landbaumeister
Meister Schneidermeister Hofschneidermeister
Hauptmann Feldhauptmann
-- --^ nach B. — ^^
Generalfeldzeugmeister mag auf der 4. Silbe betont sein, der vox
bybrida schadet's nichts.
Andre mögen zweifelhaft sein, gehen auch als seltnere oder gelehrt-
wissenschaftliche der Volkssprache wenig an, z. B. :
Schwefelwasserstoffgas —-«;!_
* Von poetischer und mündlicher Rede wäre eines der seltenen Bei-
spiele die Verschiedenheit in:
Wenn der Mond aufgeht -^---^ und
Wird der Mond nicht aufgehn -^-«-^^
472 Miscellen.
Auffallend sind im Ostfrie?ischen, vielleicht als Attributivform zu ver-
stehen, folgende Betonungen:
kerkhofsdöre kellerdör (Kirchhofs-, Kellerthür) — '-- \ — -
karmelkerbree (Buttermilchbrei) ■^-^'-
speckpankok (Speckpfannkuchen) -—
und ähnliche.
Les Matinees Royales.
Dies berüchtigte Machwerk aus der Zeit Friedrichs des Grossen ist
neuerdings wieder zu einer Mystification verbraucht worden, worüber die
Correspondance de Berlin untenstehenden Bericlit giebt ; derselbe erweckt
eil) um so grösseres allgemeinf-s Interesse, da er über das sonderbare Buch
in grosser Selbständigkeit alles Geschichtliche beibringt:
Le Figaro a commence (le 18 septembre) dans son feuilleton la publi-
cation du , Testament de Frederic 11 dit le Grand.« — „Ce testament est
^crit" — c'est le Figaro qui parle — „sous forme de conseils k son neveu."
„Nons avons achete le droit de reproduire ce manuscrit exfrö-
mcment curieux et dont la lecture est on ne peut plus attrayante. Son
histoire notis est racontee. II est rcste dans la famille de Tun des secr^-
tiiires i!e Freiieric et il a ete vendu ä Londres dans une vente d'auto-
graphes. . . . Ces pages, on les croiiait ecrites hier par le prince de Bis-
marck ..."
II est difficile de mystifier plus grossierement le lecteur, — ä moins
que le Figaro n'ait ete le jouet lui-meme de quelquo mystificateur qui aura
specule hardiment sur la candeur de ce Journal en matiere de bibliographie.
Le Tesiiiment ou Vart de gouverner ddooile n'est autre cliose que ces
fameuses Matinees royales ou \!Art de regnir, insigne libelle du dernier
siede, que la presse parisienne semble devoir exhumer de temps k autre
comnie une precieuse decouverte oflerte en prime a l'abonne.
Voici rhistoire de cet opuscule, — un peu plus authentique que celle
du manuscrit achete par le Figaro.
Les Matine'e^ royales furent imprimees pour la premiere fois en 1766
& Paris (naturellemeiit sur la couverture on avait indique Berlin comme
Heu (iimpression); elles eurent, cette nieme annee, deux editions que le
baren de Grin.m envoya au Roi, de Paris ä Potsdam. Le lieuteuent-colonel
Quintus Icilins ecrivit a ce sujet, le 4 mars 176G, la lettre suivante au mi-
nistre-resident de Prusse k Hambourg, M. de Hecht:
„Le Roi m'ayant ordonne de faire inserer dans les gazettes d'Al-
tona et de Humbourg l'article cijoint contre ['infame aiiteur des Ma-
tinees du Eoi de Prusse, j'oserai, eher ami, m'adresser a vous dans la
conviction que vous me preterez volontiers votre aide et que vous
ferez tout ce qu'il denendra de vous pour fletrir publiquement cet
execrahle ecrit.^
L'article dont il est question dans cette lettre fut public, le 12 mars
176G, par le Correspondant imparfial, Journal de Hambourg; il denon(jait
au mepris des honnetes gens, dans les termes les plus energiques, cet
opuscule «candaU'ux, „ceuvro de qtielque grcdin aux gages d'un libraire"
(e'est ainsi que Voltaire qualifiait ks libelles semblables qui fi isonnerent de
son temps).
Plus tard, les Älatinees royales furent maintes fois reimpriniees, notam-
nient a Paris en 1801. Une "traduction allemandc en avait ete publice a
BosUju en n8'2; une traduction espagnole du meiue pampldefe parut en
178S. — II y a vingt-cinq ans (1845), le Consiiiuiionnel de Paris donna —
Miscellen. 478
plus ou inoins sincerement — dans le mcrae pidge oü le Figaro parait tom-
ber a son tour; il publia la ,^Copie crtin manuscrit de Fr^ckric-le-Grand
trouve dans la hibliotheque de Sans-Souci dans Vannee 1806." Malheureuse-
nient le Journal officiel de Berlin, Staatszeilung, devoila la supercherie (No.
du 26 juin 1845); et le Constitutionnel, ainsi convaincu de duper ses lecteurs
ou deire dupe lui-meme, gMrda un silence prudent, comme sans doufe le
Figaro se taira demain. — On pouvait croire le pamphlet de 1766 decide-
ment enterre, . lorsqu'il reparut encore une fois. M.Nadaud de Bufibn publia
„los Matinees royales" dans la Correspondance inediie de Biiff'on; le nouvel
dditeur, ayant trouve le manuscrit dans les papiers de Buflon, imsiginait que
Frcddric II lui-meme en avait fait present au celebre savant vers 1782.
Un Journal allemand, le Magasin de iiltcratiire ^trangere (nuniero du 10
avril 1861) eclaira sur la vaieur de sa pretendue decouverte M. Nadaud de
BufTon, lequel reconnut lionorablement son erreur et ecrivit de Chälons-
sur-Saone (25 avril 1861) a la redaction du ]\Iagasin: „J'en avais trouve le
manuscrit ])armi mes papiers de famille, ecrit en entler de la main du Recri-
laire de ßußon . . . Bientot, je pense je publierai une edition nouvelle de
la correspondance de Bußbn et je m'empresserai de rcpandre au dehors les
lumieres que vous aurez bien voulu me donner."
Deux ans plus tard ecc'e itcrum . . . ; c'est en Angleterre que renaissent
les Matinees. — Sir John Acton en publia „le vrai texte sur un manuscrit
— c!isait-il, — trouve ä Sans-Souci, en 1806, par le baron do Menneval,
secretaire du portefeuille de l'empereur, — ä l'epoque oü Napoleon 1" oc-
cupait l'ancienne residence de FreJeric II." Cette fois encore s'eleverent
des voix allemandes contre une mystification dejä eventee, mais qui se re-
nouvelait sans cesse et toujours avec ce genre de succes sur lequel on peut
compter en s'adressant a l'jgnorance et ä la malignite publique. L'illustre
historien Puinke ecrivit au correspondant bcrlinois du Times une lettre oü il
deniontrait sans peine la fausscte et Tindifinite de ce factum attribue au
grand Fiederic. — Un peu plus tard, dans la Revue de Leipzig: Die Grenz-
boten, Charles Samwer (Ueber Uyiechtheit und Ursprung der Älatinees ro-
yales) termina la controvcrse de maniere a couvrir de confusion les faussai-
res et les dupes que ce libelle centenaire continuait de produire.
Ce qui n'empecha pas, au mois d'aoüt 1870, M. J. Janin de tirer des
Matinees royales (pour les besoins sans doute de la cause francj^aise) 50 pages
inechantes ou 50 mechantes pages sous ce (itre nouveau: „Le breviaire du
Roi de Pruste." Avec le vieiix pamphlet do 1766 M. Janin composait un
pasc/uin de circonstance, dans lequel, disait-il, „Frederic-le-Grand se montre
en son plein jour." — Cette facetie, assez indigne, parait avoir eu quelques
succes ä Paris, dans l'intervalle de ^A oerth ä Sedan.
Voilä l'histoire, un peu longue, du manuscrit inedit achete par le Figaro,
au poids de l'or, nous aimous a le croire. Maintenant que ce Journal est
ddifie sur la primeur de son acquisition, s'il desire en connaitre exactement
aussi la vaieur, nous lui indiquerons, comme un assez bon expert et romrae
un juge qu'il ne recusera pas, l'eminent historien anglais Themas Carlyle.
Dans son histoire de FreJeric II (tome premier) Cailyle qualifie les prd-
tendues „Matinees royales" d'inrpttdent libelle, oü Ton fait confe-sser au grand
roi que le machiavelisme, qu"ii a combattu Ini-meme avec une si sincere
eloquence dans son Anti-Machiavel, est le genie de .'^^a maison et celui tle
Ja Prusse! Carljle ajoute ~ dans la note qu'il ccnsacre a Topuscule en
(juestion:
„Teile est la doctrine de ce pamphlet ehonte, dont le manuscrit original
rouve encore des gens assez . . . simples pour Tachtter comme une curio-
sitd inestimable!"
474 Miscellen.
Tübingen's Lob.*
„Dann durch Gottes miltreiche Gnad vnnd Barmhertzifrkeit, dise Statt
auch gesegnet, mit seinem heilsamen vnnd allein Seeligmacbendem Reinem
Wort, sie ist gesegnet mit den lieblichen Brünnlin der freyen Künsten, sie
ist gesegnet mit den edlen Cedern Bäumen der Studierenden Jugendt, sie
ist gesegnet mit Milch und Honig der lieben Frucht- und dess Wein Wach-
ses, sie ist gesegnet mit den starken Mauren des Güldenen Friedens, sie ist
gesegnet mit der kostbaren Krön der Gerechtigkeit, welche allliie als vom
Thron Salomonis bey Statt- und Hoigericht meniglichen ertheilet würdt,
welche der himmlische König aller König auch furohin durch sein starken
Arm mit den Flügeln seiner Cherubim vnd Seraphim gnädiglich beschirmen
vnd erhalten wolle." S. 6. 7.
Eberhard III., ein Constanzer Bischof, der nicht Deutsch
versteht.
Onangesehen aber er ein fast gelehrter Herr gewesen, doch weil er
der teutschen Sprach nicht erfahren, auch jhme die Geschäft oder Sitten
der Teutschen gar nicht bekannt, so kundte er sich desto minder in ein
ordentliches Regiment schicken. Dessenthalben under jhme das Bisthumb
sich nicht sonders in den zeitlichen Sachen gebessert.
198. Merk, Costanz. Chr.
Eine zeitgemässe schwäbische Dedication.
Es wollen derowegen E. F. Gn. dise mein Chronik gnädigst auff- und
annemmen und ob gleich wol dieselbig von mir kein Glanz und schein hat,
so ist es doch genug, wenn sie von den Fürstlichen Augen einen Blick er-
langt.
Merk, Constanz. Chr. 1627. Ep. dedicatoria.
Ehrenerschleichung.
Solche die erlangte Wurden durch allerlei Laster missbrauchen, kann
gesagt werden, „dass sie vom underen Gemach in das mitle per cochleam
durch einen Schnecken oder Wendelstein hinauffsteigen, das ist, nicht grad
und rechtmässig, sondern krumb , steigen ihre Viel zu Geistlicher Würde
gleich wie man durch die Schnecken krumb umhergeht."
G. Wittemweiler, Ps. III. Cant. 203.
Jacobus Furnius ein Genueser hat in lateinischer und griechischer
Sprache Carminae nach Davids Weiss disen Psalmen eben also beschriben
dass alle Octonarii und versicul mit dem Buchstaben des Griechischen und
Lateinischen Alphabets anfangen.
Wittweiler, Psalter III, 201. Constanz 1619. 4.
* Samuel Hafenreffer, Unda Bethhestae Repullulani. Tüb. b. Dietrich
Wedlin 1629. (Bläsibad b. Tüb.)
Miscelleu. 475
Ihr seydt zuf'riden mit eweren newerdichten mehrthails Schmachliedern
vor und nach dei' Predig; Kinder in Wiegen singen ewere Mette, wann sie
nach ewers Breviers Milch schreien. S. 261 ff.
Räthsel, sicilianisch.
Ich bin nichts und bin die Tochter jedes Wesens,
Su seegnu nenti e su frigghia d'ogni enti,
Von Natur flüchtig und unbeständig.
Di natura volubile e inconstanti.
Wer will hat im Augenblick mich gegenwärtig.
Cu voli 'ntra un momente m'ha presenti.
Und im Augenblick entfernt er mich.
E'ntra un momente mi leva d'avanti.
Ich gehe aber empfinde nicht.
Camminu nia non haju sintinienti.
Bin taub, blind, stumm und bin unwissend,
Su surda, orva, muta e su gnuranti.
Bin lang und breit, aber wiege nichts,
Su lunga e larga nia non pisu nenti.
Bin zweighaft, rechter Grösse und bin riesig,
Su nana, su giustera o su giganti.
Wenn die zweite über die vierte läuft und fällt in die dritte, so wird
sie die erste. Das ganze ist ein untergegangenes deutsches Fürstenhaus.
A. ßirlinger.
Bibliographischer Anzeiger.
Allgemeines.
Dr. L. Wiese, Deutsche Bildungsfragen aus der Gegenwart. (Berlin, Wei-
gandt & Grieben.) 8 Sgr.
H. Thilo, Der Sprachunterricht auf der Mittelstufe in der Volksschule
(Osterburg, Doeger.) 4 Sgr.
K. Bartsch, Bibliographische Uehersicht der Erscheinungen auf dem Ge-
biete der g rmanischen Philologie. (Wien, Gerold.) 10 Sgr.
H. Deinhardt, Lehrerbildung und Lehrerbildungs-Anstalten. (Wien,
Pichler.) 20 Sgr.
L'interprete universel ou langue pour toutes les nations de l'univers.
üuvrage pasigraphique ä 2000 mots radicaux et 200 syllabes de forma-
tion. (Graz, Leykam.) 12 Sgr.
Archiv für Literaturgeschichte. Hr^g. von Rieh. Gosche. 2 Bd. 4 Hefte.
(Leipzig, Teubner.) 4 Thlr.
H. Neubauer, Gymnasium u. Realschule. Wider Herrn Direetor Jäger.
(Langensalza, Veriags-Comptoir.) 5 Sgr.
G. Süssniann, Die sechsklassige Bürgerschule. Stellung, Aufgabe und
Organisation. (Hannover, Blandes.) 1 Thlr.
Lexicograph ie.
C. Sachs, Encyclopädisch französisch-deutsches und deutsch-französisches
Wörterbuch. 10. u. 11. Lfrg. (Berlin, Langenscheidt.) a 9 Sgr.
J. J. Lyragd, Taschenwörterbuch der französischen und deutschen Sprache.
(Reutlingen, Fleischhauer.) 18 Sgr.
J. & W. Grimm, deutsches Wörterbuch, fortges. v. R. Hildebrand & K.
Weigand. 4. Bd. 2 Abth. 4. Lfrg. Bearb. v. Mor. Herne. (Leipzig,
Ilirzel.) ' 20 Sgr.
Bibliographischer Anzeiger. 477
D. Sanflers, Wörterbuch deutscher Synonymen. (Hamburg, Hoffmann &
Campe.) 1. Lfrg. 20 Sgr.
J. C. A. Heyse's Fremdwörterbuch. Neu bearb. u. erweitert von Prof.
Dr. Carl Bottger. 1. Lfrg. (Leipzig, Fues.) 5 Sgr
U. Cubasch, Neues Fremdwörterbuch. 16. u. 17. Lfrg. (Hamburg,
Kirhter.) ä 5 Sgr.
M. A. Thibaut, Vollst. Wörterbuch der französ. u. deutschen Sprache.
Vollständig umgearbeitet. (Braunschweig, Westermann.) 2 Thlr.
S. H. Helms, Vollst, schwedisch-deutsches und deutsch-schwedisches Wör-
terbuch. 2 Bde. (Leipzig, Holtze.) 3 Thlr.
Fr. Booch & A. Frey, Hand-Wörterbuch der russischen und deutschen
Sprache. 1. Lfrg. (Leipzig, Haessel.) 10 Sgr.
Grammatik.
K. Mülle.nhoff, Paradigmata zur deutschen Grammatik. 3. Aufl. Nebst
Laclimann's Abriss der mittelhochdeutschen Metrik. (Berlin, Hertz.)
71/2 Sgr.
Erörterungen über deutsche Orthographie zur Begründung und Erläuterung
der Schrift: Regeln und Wörtervt-rzeichniss hrsg. von dem Verein Ber-
liner Gymnasiallehrer. (Berlin, Weidmann.) 5 Sgr.
G. Michaelis, Ueber die Berliner Gymnasial- Orthographie. (Berlin,
Ebeling.) 27., Sgr.
A. Mussafia, Darstellung der romagnolischen Mundart. (Wien, Gerold.)
10 Sgr.
L. Wimmer, Altnordische Grammatik. Aus dem Dänischen übersetzt von
E. Sievers. (Halle, Buchh. d. Waisenh.) 20 Sgr.
A. F. C. Vilmar, Anfangsgründe der deutschen Grammatik. HL Wort-
bildungslehre. (Marburg, Elwert.) 6 Sgr.
M. Trautmann, Bildung u. gebrauch der tempora u. modi in der Chanson
de Roland. 1. Heft. (Halle, Lippert.) 10 Sgr.
Oesterlen &Wiedmayer, Schulgrammatik der franz. Sprache. H.Kurs.
(Stuttgart, Metzler.) 21 Sgr.
J. G. Deutsch, Internationale Grammatik f. d. Italienische, Deutsche u.
Französische. (Zürich, Schabelitz.) 20 Sgr.
Th. Möbius, Dänische Formenlehre. (Kiel, Schwers.) 24 Sgr.
A. Benecke, Die französische Aussprache in methodischer Darstellung.
(Potsdam, Stein.) 15 Sgr.
Grammaire du pensionnat en 5 cours. (München, Leutner.) 1 Thlr. 2 Sgr.
Literatur.
C. Lemcke, Geschichte der deutschen Dichtung neuerer Zeit. 1. Bd.
(Leipzig, Seemann.) 1^4 Thlr.
Sakantola oder der entscheidende Demantring. Metrisch übersetzt von A.
Arthur. (Dresden, Schöpft".) 6 Sgr.
478 Bibliographischer Anzeiger.
Hildebold v. Schwangau, Minnelieder, übers, v. Jos. Schrott. (Augs-
burg, Kollmann.) 25 Sgr.
P. Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied. 34. Lfrg. (Leipzig, Teubner.)
20 Sgr.
O. Jänicke, E. Steinineyer & W. VVillmanns, Altdeutsche Studien.
Der Ritte von Staufenberg. Das jüngere Gedicht vom Riesen Sigenot.
Zur Geschichte des Eckenliedes. (Berlin, Weidmann.) 1 Thlr.
W. Wackernagel, Gothische u. altsäcbsische Lesestücke nebst Wörter-
buch. (Basel, Schweighauser.) 20 Sgr.
H. Kurz, Geschichte der deutschen Literatur. 4. Bd. von Goethe's Tod
bis auf die neueste Zeit. 15. Lfrg. (Leipzig, Teubner) 7Vj Sgr.
R. Gottschall, Die deutsche Nationalliteratur des 19. Jahrh. 3 Bde.
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Fr. Kreyssig, Shakespeare-Fragen. Kurze Einführung in das Studium d.
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Otto Ludwig, Shakespeare-Studien., hrsg. v. M. Heydrich. Leipzig.
Cnobloch.) 2V4 Thlr,
W. Scott, The lady of the lake. A poem in six cantos. With a glossary
(Stuttgart, Metzler.) 12 Sgr.
W. Scott, Die Dame vom See, übers, von L. Frey tag. (Bremen, Küht-
mann.) 20 Sgr.
W. Scott, Die Jungfrau vom See, übers, v. K. Overbeck. (Oldenburg,
Stalling.) 18 Sgr.
Dante Alighieri's Göttliche Komödie. Metrisch übertragen v. Philalethes.
2. Ausg. 3 Thle. (Leipzig, Teubner.) 3 Thlr.
Romancero del Cid. Nueva ed. p. Carolina Michaelis. (Leipzig,
Brockhaus.) IV3 Thlr.
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H. Th. Traut, Lehrbuch der deutschen Literaturgeschichte. (Halle,
Scbwetschke.) 28 Sgr.
J. Agrent und Kukula, Deutsches Lesebuch für untere Klassen. (Wien,
Braumüller.) 20 Sgr.
0. Lange, Deutscher Lesestoff f. Schulen. (Berlin, Gärtner.) 12 Sgr.
Dielitz u. Heinrichs, Deutsches Lesebuch f. d. unteren Classen. (Berlin,
Reimer.) 3. Aufl. 20 Sgr.
Seffer und Dieckmann, Anleitung zur Deutschen Rechtschreibung.
3. Aufl. (Hannover, Rümpler.) 3 Sgr.
J. Riedel, Lehr- und Lesebuch der franz. Sprache. (Mannheim, Bens-
heimer.j 28 Sgr.
Moliere, Les femmes savantes. Mit Anmerkungen herausgegeben von C. T.
Lion. (Leipzig, Teubner.) 13V2 Sgr.
Bibliographischer Anzeiger. 479
F. Fäsch, Ausgeführte Stilarbeiten zum 2. Hefte des deutschen Uebungs-
buches. (bt, Gallen, Huber.) 7 Sgr.
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Offenhauer.) 5 Sgr.
R. Benedix, Der mündliche Vortrag. 3. Aufl. (Leipzig, Weber.)
7 7, Sgr.
C. Chambeau, Handbuch z. Uebersetzen aus dem Deutschen ins Franzö-
sische. (Berlin, Guttentag.) 15 Sgr.
E. Burtin, Exercices de gymnasticjue intellectuelle ou enigmes, charades,
logogriphes et jeux pour le jeune äge recueillis. (Berlin, Plahn.)
V/., Sgr.
Bozzi's Conversations-Taschenbuch der französischen und deutschen Sprache.
Ein Mittel durch praktische Anleitung Anfangern in beiden Sprachen
das Sprechen zu erleichtern. Nach J. Perrm, Mar], de Genlis und
Duvez. Durchgesehen und mit Anmerkungen und Gesprächen etc. er-
weitert vom Lehrer J. Grüner. 27. Aufl. 12. (XVL 436 S.) (Wien,
Lechner.) cart. V4 Thb:.
S. With, Comeilies et proverbes destines aux jeunes fiUes. (Berlin, Hen-
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(Leipzig, Fleischer.) 12'/.. Sgr.
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burg, Pierer.) 15 Sgr.
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(Mainz, Kupferberg.) 227, Sgr.
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heimer.) 10 Sg«".
W. Ulrich, Der englische Examinator oder Repetition der engl. Gramm, in
Frage u. Antwort. (Leipzig, Luckhardt.) 12 Sgr.
Appleton, John L., Neue praktische Methode, die englische Sprache in
kurzer Zeit lesen, schreiben und sprechen zu lernen. Mit Angabe der
enghschen Aussprache und Betonung. — A new and practical method
of learning the english language. 16. Aufl. 8. (558 Seiten mit einer
Steintafel.) Philadelphia, Schäfer & Konradi. geb. Vj-i Thlr,
Boltz, Prof. Dr. Aug., Neuer Lehrgang der englischen Sprache nach einer
praktischen, analytischen, theoretischen, synthetischen Methode von
T. Robertson. Für den Schul-, Privat- und Selbstunterricht, unter
Benutzung der neuesten englischen Sprachwerke, und mit beständiger
sehr vollständiger Angabe der germanischen und französischen Analogien,
nach der 6. Original-Auflage zum Gebrauch für Deutsche vollständig
neu bearbeitet. 1. Tbl 6. Aufl. gr. 8. (VL 172 S.) (Berlin, Gasrtner.)
n. 72 Thlr.
C. von Reinhardstoettner, Holländische Conversations- Grammatik.
2. Aufl. (Heidelberg, Groos.) 1 Thlr. 10 Sgr.
Bozzi's Conversations-Taschenbuch der italienischen und deutschen
Sprache. Vom Schulrath Prof. Dr. Alois Cäsar Pavissich. IG.
durchgesehene und verbesserte Auflage. 12. (X, 364 S.) Ebd. cart.
3/4 Thlr.
480 Bibliograpliischer Anzeiger.
CoUot, Prof. A. G., A new and improverl Standard french and english
anl english and french dictionary. Kevised ed. gr. 8. (1324 S.)
(Philadelphia, Schäfer & Koradi.) geb. 4 Thir.
Cornet, Jules, Manuel de la conversation Russe & Francjaise. 4. Eii. gr.
16. IX, 425 ö. (Leipzig, Hoitze.) V, Thlr.
Fuchs, Prof. Paul, Russische Conversations-Grammatik zum Schul- und
Privatunterriclit. gr. 8. (VII, 365 S.) (Heidelberir, J. Groos.)
n. IV3 Thlr. (2 fl. 20 Kr. rh.)
Schlüssel (143 S.) geb. n. 16 Sgr, (54 Kr. rh.)
F. Henschel, A collection of anglicisms, germanisms and phrases of the
germ. and engl, languages. (Berlin, Henschel.) 20 Sgr.
Easy English readings. I. Niebuhr's tales of greek heroes. Aus dem
Deutschen übers. (Gotha, Schioessmami.) T^/, Sgr.
F. H. Ahn, Theory and practica of english composition. (Mainz, Kupfer-
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Macaulay's Essays. With explanatory not es by J Morris. (Leipzig,
Friese.) 12 Sgr.
L. Noire, Italienische Grammatik für obere Klassen. (Mainz, Zabern.)
7V. Sgr.
James Worman, A first course in the german language. (Berlin, Cohn.
ly, Thlr.)
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3 der neueren Sprachen
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