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ARCHIV
FÜR DAS
STUDIUM DER NEUEREN SPRACHEN
UND LITTERATUREN.
HERAUSGEGEBEN
VON
LUDWIG HERRIG.
XXXIX. JAHRGANG, 73. BAND.
BRAÜNSCHWEIG,
DRUCK UND VERLAG VON GEORGE WESTER MyV NN.
1885.
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3
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Cr. ("5
Inhalts-Verzeichnis des LXXIII. Bandes.
A bhandlungen.
° Seite
Eine Fortsetzung von Lessings Nathan und ihr Verfasser. Von Th. Ebner 1
Über das Wort und den Begriff Posse. Von Dr. Biltz 35
Aimon de Varennes. Von A, Risop 47
Bemerkungen zu Otfrid ad Liutbertum. Von G. Michaelis . . . . 73
Einige Bemerkungen über den Unterricht in der englischen Grammatik an-
geknüpft an den „Lehrgang der englischen Sprache" von Deutschbein.
Von Hermannisaac 85
Der Ebingersche Vokabularius 1438. Von Dr. Renward Brand-
stet ter. II 99
Der Lucidaire Gilleberts. Von Dr. P. Eberhardt 129
Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben. Von Hermann Isaac . . . 163
Kyffhäuser, Tannhäuser, Rattenfänger. Von Adalbert Rudolf . . . 179
Über Karl Wilhelm Ramlers Änderungen Hagedornscher Fabeln. Von
Dr. Albert Pick , 241
Xavier de Maistre. Von Adolf Ey - 273
Das Leben des heiligen Alexis, Mit Beifügung des altfranzösischen Originals
(aus dem 1 1 . Jahrhundert), nach der Ausgabe von Gaston Paris, über-
setzt von TheodorVatke 290
Dickens und seine Hauptwerke. Eine kritische Studie von A. Ball . . . 325
Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben. Von Hermann Isaac. (Fort-
setzung) 371
Sitzungen der Berliner Gesellschaft für das Studium der neueren Sprachen 415
Beur teilun o-en und kurze Anzeioren.
Breymann, Französische Elementargraramatik für Realschüler. Ausgabe für
Lehrer. — Breymann und Möller, Französisches Elementarübungsbuch
für Realschüler. — Breymann und Möller, Zur Reform des neusprach-
lichen Unterrichts. Anleitung zum Gebrauch des französischen Ele-»
mentaiübungsbuches von Hermann Breymann und Hermann Möller.
(Th. Wohlfahrt) 106
IV
Seite
Karl K. Holzinger von Weidlich, Die einfachen Formen des französischen
Zeitwortes in geordneter Darstellung. ( — g — ) 111
Prof. Dr. W. "Wiedmayer, Französische Stilübungen für obere Klassen . . 112
Dr. J. B. Peters, Materialien zu französischen Klassenarbeiten. Für obere
Klassen höherer Lehranstalten 112
R. Wilcke, Anleitung zum englischen Aufsatz. ( — g — ) 113
Jules Theisz, Petite histoire de la litterature fran9aise 113
Guillaume le Conquerant. Aus Augustin Thierrys Histoire de la Conquete
de TAngleterre par les Normands. Mit Einleitung und Noten zum
Schulgebrauch herausgegeben von Dr. H. Robolsky 113
La lettre francaise 114
Grammatisches Übungsbuch für den Unterricht in der französischen Sprache.
Im Anschiufs an die Schulgrammatik von Plötz bearbeitet von W. Ber-
tram. (L.) 114
Internationale Zeitschrift für allgemeine Sprachwissenschaft. Herausgegeben
von Dr. F. Techmer. L Band 205
J. Stürzinger, Orthographia Gallica. Altester Traktat über französische Aus-
sprache und Orthographie. (Fr. Bischoff) 208
Dr. Hubert H. Wingerath: 1) Choix de lectures fran^aises I, 3. Aufl.:
2) Lectures enfantines d'apres la methode intuitive; 3) Petit Vocabu-
laire fraucais. (Th. K rafft) 211
A Spanish Grammar of the modern Spanish language as now written and
spoken in the capital of Spain. By William Knapp. — Modern Spanish
Readings. embracing text, notes and an etymological vocabulary, by
W. Knapp. (Dr. Paul Förster) 212
Booch-Arkossy, Praktisch-theoretischer Lehrgang der französischen Schrift-
und Umgangssprache. — H. Brei tinger, Elementarbuch der franzö-
sischen Sprache für Mittelschulen. 1. und 2. Heft. — W. Fr. Eisen-
mann, Schulgrammatik der französischen Sprache. — J. Hunziker,
Französisches Elementarbuch. I. Teil. — F. W. Körbitz, Lehr- und
Übungsbuch der französischen Sprache für Real- und Bürgerschulen.
Eine vollständige Schulgrammatik zur Beförderung einer rationellen
ünterrichtsweise. 1. Kursus, 7. Aufl. 2. Kursus, 4. Aufl. — Dr. G. F.
Pflüger, Grammatik der französischen Sprache für höhere Schulen.
1. Teil. — Dr. K. Brandt, Kurzgefafste französische Grammatik für
die Tertia und Sekunda eines Gymnasiums. ( — t — ) 214
Dr. J. W. Zimmermann, Schulgrammatik der englischen Sprache für Real-
gymnasien und andere höhere Schulen. Erster Lehrgang. (Professor
J. G Utersohn) 216
J.-B. Bossuet, Ausgewählte oraisons funebres, für den Schulgebrauch erklärt
von Dr. Völcker. (R. Scherffig) 219
Lamprechts Alexander, herausgegeben von Karl Kinzel. — Germanistische
Handbibliothek, herausgegeben von Julius Zacher. VI 221
Dr. R. Sonnenburg, Grammatisches Übungsbuch der französischen Sprache.
Methodische Anleitung zur Einübung der syntaktischen Regeln. (L.) 221
1) Internationale Zeitschrift für allgemeine Sprachwissenschaft, herausgegeben
V
Seite
von F. Techrtier. — 2) Die Sprachlaute im allgemeinen und die Laute
des Englischen, Französischen und Deutschen im besonderen. Von
Moritz Trautmann 426
Spanische Grammatik mit Berücksichtigung des gesellschaftlichen und ge-
schäftlichen Verkehrs. Von J. Schilling. — Portugiesische Grammatik
mit Berücksichtigung des gesellschaftlichen und geschäftlichen Verkehrs.
Von F. J. Schmitz. (Dr. Franz Lütgenau) 430
Franz Hirsch, Geschichte der Deutschen von ihren Anfängen bis auf die
neueste Zeit. (H. H.) 436
Geschichte der deutschen Voikspoesie seit dem Ausgange des Mittelalters
bis auf die Gegenwart. Von Dr. T. H. Otto Weddigen. (Dr. A.) . 438
Elementarbuch der italienischen Sprache für den Schul- und Privatunter-
richt. Von Sophie Heim 439
Fr. Müller, Grundrifs der Sprachwissenschaft. III. Band: Die Sprachen
der lockenhaarigen Rassen; II. Abteilung: Die Sprachen der mittel-
ländischen Rasse, I. Hälfte. (H. Buchholtz) 439
Martin Hartmann, Chronologisch geordnete Auswahl der Gedichte' Victor
Hugos, Heft 2 und 3 440
G. Strien, Choix de Poesies francaises a l'usage des e'coles secondaires . . 443
Karl Foth, Bonaparte en Egypte, aus Thiers, Hist. de la Rev. fran*;. und
Hist. du Cons. et de l'Empire. (Joseph Sarrazin) 444
Petry, Die wichtigsten Eigentümlichkeiten der englischen Syntax .... 445
Zeitschriftenschau. (H. Buchholtz) . . 445
Proorammenschau.
Über Wolframs Willehalm. Von Prof. Jos. Seeber. Programm des k. k.
Privatgymnasiums am Seminarium Vincentinum zu Brunn .... 448
Dreizehnlieder. Von F. W, Weber. Inhalt und Bemerkungen von Dir.
Dr. B. Werneke. Programm des Gymnasiums zu Montabaur . . . 449
Oidipus und Lear. Eine Studie zur Vergleichung Shakespeares mit Sophokles.
- Von Prof. Dr. J. J. Richter. I. Teil. Programm des Gymnasiums zu
Lörrach . ~ 449
Der Lanzelot des Ulrich von Zatzikhoven. (Schlufs.) Von AI. Neiimaier.
Programm des Gymnasiums zu Troppau 450
Ein Beitrag zur Kenntnis des Sprachgebrauchs Klopstocks. Von Christ.
Würfl. (Fortsetzung.) Programm des zweiten deutschen Gymnasiums
zu Brunn 450
Lessings Hamburgische Dramaturgie als Schullektüre. Von Dr. Schmitz.
Programm des Gymnasiums zu Wehlau 451
Die Lektüre der Hamburgischen Dramaturgie Lessings in der Oberprima.
Von Professor L. Zück. I. Teil. Programm des Gymnasiums zu
Rastatt 452
Zu Lessings Laokoon. Bemerkungen zu Blümners Laokoonstudien. Heft II:
Über den fruchtbarsten Moment. Von Oberlehrer Dr. H. Fischer.
Programm des Gvmnasiums zu Greifswald 453
VI
Seite
Goethe als Student in Leipzig. Von Prof. L. Blume. Programm des aka-
demischen Gymnasiums in Wien 454
Zu Goethes Gedichten. Von Karl Rieger. Programm des Franz-Joseph-
Gymnasiums zu Wien 454
Goethes Iphigenie auf Tauris, nach den vier überlieferten Fassungen. Von
M. Reckling. Programm des Gymnasiums zu Buchsweiler .... 455
Die Schicksalsidee in Schillers Wallenstein. Von Dr. F. G. Hann. Pro-
irramm des Gvmnasiums zu Klagenfurt 456
M i s c e 1 1 e n.
Seite 115 — 124. 222—237. 457—476.
Bibliographischer Anzeiger.
Seite 125 — 128. 238—240. 477—480.
Eine Fortsetzung von Lessings Nathan
und ihr Verfasser.
Von
Th. Ebner.
I.
Es wird in dem Nachfolgenden keinesweo-s eine der seit
Lessins so genannten Rettungen beabsichtigt. Die Schilderung
eines Mannes, der, zu seiner Zeit eine hochgeachtete Persönlich-
keit, sich berufen fühlte, in dem um Lessings Nathan ent-
brennenden Streit ein Wort mitzureden, findet in der Art und
AVeise, wie dies geschah, ihre Berechtigung. Denn man ist
gewöhnt, bei den Gegnern immer an die Person des durch
Lessing unsterblich gewordenen Hauptpastors Göze zu denken,
und es mag ein um so erfreulicherer Anblick sein, mitten unter
der feindlichen Schar einen Mann zu erblicken, der, w^ohl auch
nicht einverstanden mit den erst in den Fragmenten und dann
im Nathan dargestellten Ideen, doch in seiner Bekämpfung und
Widerlegung derselben einen anderen Weg wandelte als die
meisten von Lessings Gegnern!
Die Entstehung des Nathan geht nach Lessings eigenen
Worten in einem Brief an seinen Bruder weit zurück über
seine Streitigkeiten mit Göze nach der Herausgabe der Wolfen-
bütteler Fragmente, die als bekannt vorausgesetzt werden dürfen.
Will man die erste Idee dazu nicht schon in dem Jugendwerk
„Die Juden" entdecken, so giebt die Stelle aus seinem Briefe:
„Ich habe vor vielen Jahren einmal ein Schauspiel entworfen,
dessen Inhalt eine Art von Analogie mit meinen gegenwärtigen
Streitigkeiten hat, die ich mir damals w^ohl nicht träumen liefs"
den ersten Anhaltspunkt für die Entstehung, zu der auch noch
Archiv f. n. Sprachen. LXXIII. ' ^ (s4-^
2 Eine Fortsetzung von Lessings Nathan und ihr Verfasser.
die ohnedem schon sehr dramatisch gehaltene „Rettung des
Cardanus" das Ihrio^e beiojetraojen haben ma^. Nun er aber
sah, welchen Sturm überall die Herausgabe der Wolfenbütteler
Fragmente hervorrief, und wie es sich namentlich sein Haupt-
gegner Göze angelegen sein liefs, den ohnedem schwer be-
drängten Mann in jeder Weise unschädlich zu machen, mufste
ihm das Wiederauffinden dieses Entwurfes eine willkommene
Gelegenheit sein, mit der Ausführung desselben „den Theologen
einen ärgeren Possen zu spielen, als noch mit zehn Fragmenten".
„Ich mufs versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel,
auf dem Theater, wenigstens noch ungestört will predigen lassen,"
schreibt er an Elise ßeimarus, und macht sich allsogleich an
die Ausarbeitung seines Nathan. Dafs ihm in der That die
Möglichkeit vorschwebte, diesen auf dem Theater aufgeführt zu
sehen, sagen nicht nur seine Worte an den Buchhändler Vofs :
„ich will ihm den Weg nicht selbst verhauen, endlich doch
einmal aufs Theater zu kommen, wenn es auch erst nach hun-
dert «Jahren wäre," sondern auch der Schlufs einer von ihm
entworfenen Vorrede: „Noch kenne ich keinen Ort in Deutsch-
land, w^o dieses Stück schon jetzt aufgeführt werden könnte ;
aber Heil und Glück dem, wo es zuerst aufgeführt wird."
Einstweilen erschien Nathan im Jahre 1779, und seine Auf-
nahme entsprach allen Erwartungen, die Lessing hierfür gehabt
hatte, vollkommen: Herder nannte das Stück in einem Briefe
an Lessing „Mannes werk", Goethe rühmte die heitere Naivität
im Nathan, und dem begeisterten Gleim galt der Verfasser des
Nathan als „ein Gott und kein Atheist". Die Theologen frei-
lich schwiegen, und als Stimmführer seiner Gegner trat nicht
ein solcher, sondern ein Arzt und Dichter aus Gottscheds
Schule, Dr. Balthasar Ludewig Tralles, mit seinen „Zufälligen
altdeutschen und christlichen Betrachtungen über Lessings neues
dramatisches Gedicht Nathan der Weise" auf. Lessinor würdiojte
den Mann, den „nur sein hohes Alter von einem Tanze, den
ich sonst mit ihm versuchen würde" rettete, keiner Antwort.
Einen Verteidiger fand er in dem kursächsischen Hofrat F. W.
V. Schütz mit dessen „Apologie, Lessings Nathan betreffend,
nebst einem Anhang über einige Vorurteile und nötige Toleranz",
deren Wert Jördens freilich nur gering anschlägt. „Die einzige
Eine Fortsetzung von Lessings Nathan und ihr Verfasser. 3
warme und eingehende Beurteilung, welche Lessing noch er-
lebte, brachte die Akademie der Grazien in dreizehn Briefen
an Madame B., deren ungenannter Verfasser Professor Schütz
in Halle war." Der erste theatralische Versuch freilich, den
Drebbelin in Berlin machte, mifc^lang vollständig. Erst Schiller,
der den Nathan für die Weimarer Hofbühne bearbeitete, gelang
es, demselben einen Platz auf den Brettern zu erobern und ihm
von da aus den Weg auf alle Bülmen der gröfseren Städte
Deutschlands zu bahnen.
Im Jahre 1782 erschien „der Mönch vom Libanon, ein
Nachtrag zu Nathan der Weise", mit dem Motto: Totg lomoTg
tv TiaQaßolaTg, und im Jahre 1785 eine zweite, sehr veränderte
Auflasse. Verfasser dieser Schrift, die von seinen Zeito^enossen
mit viel Beifall aufgenommen wurde, war J. G. Pfranger, Hof-
prediger zu Meiningen. Der Verfasser des Mönches vom
Libanon wurde am 5. Auojust 1745 zu HildburMiausen ije-
boren. Trotz aller Talente, die er schon in früher Juo;end
zeigte, wurde er dazu bestimmt, das Gewerbe seines Vaters,
das eines Lohgerbers, zu erlernen. Allein Pfranger wufste
seinen Willen, der nun einmal auf das Studium ging, durch-
zusetzen und ^inoj nach Coburoj zum Besuch des dortio^en
Gymnasiums. Noch einmal, beim Tod seines Vaters, versuchte
seine Mutter, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, aber er
blieb standhaft, und bezog, freilich unter den kümmerlichsten
Verliältnissen, die Universität Jena, wo er bei Walch und Polz
Theologie und Philosophie hörte. Schon im Jahre 1772 kam
er als Pfarrsubstitut nach Strefsenhausen und im Jahre 1776
bekam er den Antrag zur Hofpredigerstelle nach Meiningen
und behielt dieselbe auch bis zu seinem am 10. Juli 1790 er-
folojenden Tode. Pfranger war als Schriftsteller unsiemein thätior,
und wenn sich auch seine Hauptthätigkeit als solche hauptsäch-
lich auf das pastorale und theologische Gebiet erstreckte, so
fand er doch noch Zeit und Mufse, auch seine poetischen An-
lachen zur Geltunoj kommen zu lassen. Seine nach seinem Tode
von J. E. Berger herausgegebenen Gedichte, die aufserdem eine
ausführliche Biographie, teilweise aus der Feder seiner Gattin,
enthalten, zeigen allerdings kein hervorragendes Talent, wohl
aber an vielen Stellen, und namentlich in seinen geistlichen
1*
4 Eine Fortsetzung von I^osslngs Nathan und Ihr Verfasser.
Liedern, warme Empfindung! Manclie derselben erinnern leb-
haft an entsprechende Stellen in dem „Mönch vom Libanon",
und namentlich das in seiner Art charakteristische Gedicht
„Gewifsheit der Auferstehung" weist direkt auf einen dasselbe
Thema behandelnden Dialog im „Mönch" hin. Was Pfranger
als Mensch und als Schriftsteller war, sagt Jördens im An-
schlufs an die obengenannte Biographie: „In diesem Amte —
nämlich dem eines Hofpredigers in Meiningen — erwarb er
eich die ganze Achtung und das Zutrauen, dessen er nach
Geist und Herz so würdig war. Vornehm und Gering schätzten
seine Wahrheitsliebe und Redlichkeit, seine stille Frömmigkeit,
seine anspruchslose Gelehrsamkeit, und suchten seinen L^mgang,
den er durch Witz und Laune und vorzüglich durch schätz-
bare Bemerkuno^en über AVeit und Menschen sehr anö-enehm
und anziehend zu machen wufste. Am meisten liebte er die
stillen Freuden des häuslichen Lebens. Er gab bei mehreren
Gelegenheiten Beweise einer aufgeklärten Denkungsart, und be-
nutzte das Gute, was er in den Schriften der Neueren fand,
ohne desweofen die Verdienste der Alten zu verkennen. Überall
bemerkte man an ihm den Mann, der gewohnt war, über die
wichtiofsten Gegenstände des menschlichen AVissens selbst nach-
zudenken. Seine Liebe zur AVahrheit war unbestechlich, und
er warnte ohne Menschenfurcht vor herrischen Thorheiten und
Modesünden. Und doch hörte man ihn gern, und selbst Grofse,
denen Widerspruch oftmals so unerträglich ist, schätzten ihn
nur um so höher: denn was er sprach, kam vom Herzen, und
er wufste zu rühren, wie es wenio;e können. Mit der Offenheit
seines Charakters verband er eine musterhafte Bescheidenheit.
Er haschte nicht ängstlich nach Lob und Beifall. Er trat als
Schriftsteller auf, aber er arbeitete langsam und war streng
gegen seine Arbeiten, ehe er sie dem Druck übergab. P2r
würde vielleicht sehr weniij oder jrar nichts für das Publikum
geschrieben haben, wenn ihn nicht der Wunsch, Gutes zu wirken,
und die Sorge für seine immer gröfser werdende Familie dazu
ermuntert hätte. Er war unstreitiij einer der beliebtesten und
vorzüglichsten Prediger seiner Zeit. Seine Vorträge w^aren so
reich an Gedanken, in eine so schöne, edle Sprache gekleidet,
so voll praktischer Lebensweisheit, dafs sie immer Eingang in
Eine Furtiictzung von Ltssings Nathan und ihr Verfasser. 5
die Herzen seiner Zuhörer fanden. Er empfahl vorzüglich
thätiges Christentum, nicht nur durch Lehren, sondern auch
durch seinen frommen Wandel. Er lebte wie er lehrte. Das
Publikum hat Pfranger aus seinen Predigten als einen vortreff-
lichen Kanzelredner kennen gelernt. Überall findet man den
Denker und Menschenbeobachter, der in seine Vorträsfe eine
brauchbare Philosophie des Lebens zu verweben weifs, den
geübten Mann, der die bekanntesten Dinge durch neue Dar-
stellungen und Wendungen interessant zu machen versteht, den
toleranten Moralisten, der nicht kanzelt und poltert und doch
derbe Wahrheiten sagt, sie aber mit Bescheidenheit vorbringt,
und dem der Andersdenkende gern auch seine Anhänglichkeit
an das kirchliche System, die hier und da durchschimmert,
zuirute hält. Pfranojer besafs bei einem sehr o-ebildeten Ver-
stand eine lebhafte Phantasie, die ihm immer die schönsten und
fruchtbarsten Bilder darbot, wodurch er seinen Vortrag beson-
ders anziehend zu machen wufste. Als Dichter hat er die
Poesie der Deutschen zwar nicht mit ausoezeichneten Meister-
stücken bereichert, aber die sanften, frommen Empfindungen,
die er mehrenteils in einer fliefsenden Sprache vorträgt, machen,
dafs man seiner Mufse gern zuhört. Überall verrät sich in
seinen Gedichten Empfänglichkeit für das Schöne und Reiche
der Natur und Sitten, die aber durch Kritik und Poetik noch
zu keinem sicheren Takt ausgebildet worden. Einzelne wahr-
haft schöne Stellen triift man allenthalben auch selbst da an,
wo das Ganze uns minder gefällt. Eben das gilt von seinen
geistlichen Liedern. Manche derselben können den besten un-
serer Liederdichter an die Seite gesetzt werden."
Was nun die eigentliche Entstehung seines Mönch vom
Libanon betrifft, so wissen wir aus der Erzählung seiner
Gattin, dafs ihm schon die von Lessing 1778 herausgegebenen
Fragmente viel zu schaffen gemacht hatten. „Als Lessings
Nathan erschien und so allgemeinen Beifall fand, so gab ihm
das Veranlassung den Mönch vom Libanon, Dessau 1782, zu
schreiben. Nicht eben um mit Lessing eine Lanze zu brechen,
sondern um manche Angstliche zu beruhigen und zu zeigen,
was das Christentum auf so manchen witzigen und scheinbaren
Einwurf des Lessingschen Dramas antworten könnte. Es war
6 Eine Fortsetzung von Lessings Nuthan und ihr Verfasser.
immer ein Wagestück, sich neben Lessing zu stellen. Aber
es war gar nicht Pfrangers Absicht, zu einer Vergleicliung mit
Lessings Meisterwerk aufzufordern. Daher kein polemischer
Ton, kein zürnender Seitenblick auf Lessing, aber gcwifs
schöner und starker Stellen viele."
Unter den gleichzeitigen Kritiken möchte ich diejenige der
„Göttinger gelehrten Anzeigen" und die der „Allgemeinen
deutschen Bibliothek" besonders als eingehend, freilich auch äu
verschiedenem Resultat gelangend anführen. Die ersteren sag^n:
„Alles ist überhaupt mehr theologisch als philosophisch gestellt
und behandelt. Lessingschen Scharfsinn findet man also frei-
lich nicht, der Tempelherr und Recha werden bekehrt, man
weifs nicht wie. Doch eben der theologische Gang des Dramas
macht vielleicht bei einem Teil der Leser das Verdienst aus.
Da es übrigens in Anlage und Ausführung neben den Nathan
crestellt ist, so mufs es wohl auch in diesem Lichte betrachtet
werden, und so mufs man Stellen übersehen, wo man sonst
den blofsen Nachahmer finden würde. Dagegen kommen ein-
zelne Züo-e vor, insonderheit an Saladin, welche selbst nach
Lessings Saladin noch immer gefallen. Wenn der Mönch her-
vorstechen sollte, so mufste Nathan freilich zurückstehen, und
er macht auch hier, sowäe der Tempelherr und Recha, eine
ziemlich gemeine Figur. Hingegen erkennen wir an vielen
Stellen den glücklichen Wetteiferer mit Lessing." Die „All-
"■emeine deutsche Bibliothek" dagegen weifs sich nur an die
Schwächen in Pfrangers „Mönch vom Libanon" zu halten. Die
offenbare Erkenntnis, dafs seine Persönlichkeiten mit denen
Lessings nichts gemein haben, hebt sie in einer wenig passen-
den Heftigkeit hervor und gelangt am Ende zu der Frage:
„Was soll uns nun dies Stück hinter dem Nathan lehren?
Die Absicht des Verfassers scheint zu zeigen: dafs unter allen
positiven Religionen die christliche die beste und die wahrste
ist. Sonderbar, dafs er, was die Glaubenssachen betrifft, den
Saladin für einen echten Mohammedaner, Nathan und Recha
für Juden und den Tempelherrn für einen Christen annimmt;
nach Lessings Zeichnuno; scheinen sie so ziemlich frei von
allem, w^as in einer Religion positiv ist, und nur das anzu-
nehmen, was die reinste geläutertste Vernunft von Gott lehrt.
TEine Fortselzuns von Lessiiiirs Nathan und ihr Verfasser. 7
Dies verändert bei Sakulins Zweifeln und Rechas Bekeh-
runs: sar merklich den Fall. Man weifs eioentlich nicht, wie
man mit diesem Saladin daran ist; an Gott, Vorsehung, Un-
sterblichkeit der Seele zw^eifelt er doch nicht. Er wird hier
als blutdürstiger Eroberer beschrieben, darum fürchtet er den
Zorn des Richters, und gegen diese Furcht sichert ihn nur sein
Traum! Das kann doch wohl kein Beweis sein sollen. Recha
gewinnt den Stifter der christlichen Religion lieb, da sie sein
Leben liest, w'ie bei jedem fühlenden Herzen natürlich ist. Aber
nun soll sie auch den Beweis aus den Wundern und sogar aus
den Märtyrern glauben, den der Mönch ihr vordemonstriert.
Nathan ist doch vom Verfasser selbst im Handeln als höchst
edel und höchst fromm und gottergeben dargestellt worden.
Der Hauptheld ist der Mönch, allein seine gepriesene Tugend
scheint uns so ziemlich mönchisch. — Sein Handeln ist
Möncherei und übertriebene Grille eines dickblütigen Fanatikers ;
nicht Forderunjy des Christentums. — Die Fabel von den drei
Ringen wird ein wenig bespöttelt und dagegen eine Parabel
vom Ackerbau erzählt, die w^enigstens an poetischem Verdienst
weit unter jener steht. — Um auf unsere Frage zurückzukom-
men: w'as lernt man aus diesem seinsollenden Lehrgedichte?
so läfst sich nichts anderes antworten als: dafs ein Sultan zu-
weilen an Gründen der Vernunft nicht genug hat, sondern auch
Spiele der Einbildungskraft verlangt; und dafs ein Christ sehr
edel sein kann (nur schade, dafs dieser hier zugleich mön-
chisch ist)."
IL
Es mas: nun, wenn die Handlung im Mönch vom Libanon
des näheren erzählt werden soll, mit wenigen Worten die Vor-
aussetzuuo[, auf der sich Lessino^s Nathan und dieses Drama
aufbaut, erwähnt sein. Saladins Bruder Assad hatte aus Neigung
zu einer Christin vor Jahren seine Familie und seinen Glauben
verlassen. Unter dem Namen eines Wolf von Filneck lebte er
eine Zeit lang in Deutschland, der Heimat seines Weibes, bis
ihn das rauhe Klima von dort ins Morgenland zurücktrieb. In
Deutschland liefs er einen Sohn zurück, den sein mütterlicher
Oheim Konrad von Staufen, ein Tempelherr, erzog. Im Morgen-
8 Eine Fortsetzung von Lessings Nathan und ihr Verfal^scr.
laiicl wird ilmi eine Tochter geboren. Er verteidigt mit den
Kreuzfahrern Gaza und übergiebt bei dieser Gelegenheit ehiem
seiner vertrautesten Freunde, dem Juden Nathan in Jerusalem,
seine Tochter, die dieser, da Assad bei Askalon gefallen und
er selbst seine ganze Familie verloren, nun als sein eigenes
Kind erzieht. Das Weitere bildet den eigentlichen Inhalt des
Lessinascheu Drames und bedarf als solcher keiner näheren
Erwähnung. Bei der Erzählung der Handlung folge ich zu-
nächst der ersten Ausgabe des Mönch vom Libanon, die im
Jahre 1782 in Dessau erschien.
Auf einem Wege in Damaskus, nahe bei dem Palaste des
Sultans, an der Kirche vorbei, nach welcher ein grofser Zu-
sammenflufs von Menschen ist, treffen sich der schon von
Lessinix so wohlbekannte Klosterbruder und der Mönch vom
Libanon, und da beide erfahren, dafs in der Kirche ein
„Thränen-Fest für unseres Sultans Leben" gefeiert werde,
eini2:en fie sich schnell und schliefsen sich dem Zu^'e in die
Kirche an. Li der ersten Scene des ersten Aktes führt uns
der Dichter in Saladins Krankenzimmer, wo der Sultan seiner
Schwester von der Ahnung seines nahen Endes spricht. Sittah
freilich will noch nicht an dieses glauben, aber Saladin bleibt
auf seinem Glauben bestehen, und angesichts des Todes läf&t
er sein o;anzes Leben noch einmal vor seinem Au2:e vorüber-
ziehen. Indessen bringt der Diener Abdallah die Kunde von
der Ankunft des sehnsüchtig erwarteten Arztes und dieser selbst
erscheint gleich darauf in Gestalt des Mönches vom Libanon.
Er meint zu Siitahs Trost, dafs die Krankheit noch nicht 2'ar
so verzweifelt sei, und eilt, die nötigen Arzneien zu bereiten.
„Doch wieder ein Gesicht wie Assads; freilich die Jugendblüte
nicht" meint Saladin nach seinem Weggang, und Sittah be-
stätigt diese Ähnlichkeit: „Bald hätt ich ihn gefragt, ob Kurd
nicht etwa sein Sohn sei." Indessen ist dieser Gedanke nur
ein augenblicklicher, und Saladin aufsert ein Verlangen nach
Nathan, den Sittah augenblicldlch rufen lassen wiU. In einem
nun folgenden Monologe Saladins erfahren wir, dafs seine
eigentliche Krankheit keine körperliche, sondern eine geistige,
hervorgerufen durch die letzten Vorgänge und Erfahrungen, ist.
Aus Ermattung entschlummert Saladin, und an seinem Laster
Eine Fortsetzung von Lessings Natlum und ilir Verfasj^cr. 9
entspinnt sich nun ein Gespräch zwischen den beiden Mame-
luken Ofsmaun und Abdallah, in welchem der letztere Saladin
oecren die Vorwürfe des in seinem Innersten verbitterten Ofsmann
schützt. Da dieser sich nun entfernt und Nathan herbeikommt,
erzählt Abdallah dem Juden von dem Mönch, hinter dessen
Gebaren gar leicht VerrUterei stecken könnte. Denn da er
von den Christen in Jerusalem gesandt sei, den Sultan zu
retten, und bekannt sei, wie ungern sich die Christen unter die
Herrschaft der Türken beugen, so wisse man nicht, was da-
hinter stecke, und selbst Nathan meint nun: „ganz scheint der
Verdacht nicht ohne Grund." Indessen ist Saladin erwacht
und versucht mit einem «"rausamen Scherz die maulfertioe Er-
es C3
gebenheit Abdallahs auf die Probe zu stellen; während er in
dem nun folgenden Gespräch mit Nathan, dessen eingehende
Charakteristik ich mir für spater vorbehalte, diesem offen und
ehrlich bekennt: „Ich hiefs dich kommen, Nathan, dem Herzen
die verlorene Kühe wiederzugeben, die ihm deine Weisheit
nahm", denn „Wie schrecklich hat die Wahrheit ihren Ernst
an mir irerochen." Die Aufreijuno: aber, in die den Sultan das
Gespräch mit dem Juden versetzt, ist eine für den Kranken zu
grofse, und in wirre Fieberphantasien verfallend sieht er sich
mitten auf dem Schlachtfelde unter Toten und Verwundeten.
Nur der klugen Rede seiner indessen wieder herbeiüekommenen
Schwester o-elin^^t es, den Aufo:ereo;ten zu beruhioen und zum
Schlummer zu bringen.
Der zweite Aufzug zeigt uns den Mönch und den Tempel-
herrn in einer grofsen Gartenlaube am Palast in vertraulichem
Gespräche sitzend. Eingehend erkundigt sich der Mönch nach
Familie und Geschick des Tempelherrn und seiner Schwester,
und es drängt ihn, dem Templer zu gestehen: „Sieh, junger
edler Mann, dein Schicksal hat mich so gerührt, dafs alles mir
so lieb ist, was dich betrifft." Dieser zögert nicht mit einem
gleichen Bekenntnis der Sympathien für den Mönch: da sich
derselbe des weiteren nach der Schwester erkundigt: „hat die
Schwester auch ihres Bruders edles Herz ; sie ist als Jüdin
ohne Zweifel auch erzogen?" erbietet sich der Tempelherr, seine
Schwester herbeizuholen, und Recha trotz ihres Widerwillens
gegen alles, was eine Kutte trägt, folgt dem Bruder. Der
10 Eine Fortsetzung von Lessings Nathan und ihr Verfasser.
Mönch, den der Anblick des Mädchens aufs tiefste ergreift,
erzählt diesem von ihrem Vater, mit dem er „manche gute,
nicht üanz unedle That ojethan", und verweist die Geschwister
auf ein Wiedersehen mit demselben im Jenseits. Er versteht
es, in einem längeren Gespräche mit dem Mädchen, das den
Wert des Christentums behandelt, das Herz Rechas so ganz
für sich zu gewinnen, dafs sie ihm bekennt: Guter Vater, du
hast mein Herz! selbst eine Kutte kömmt mir nicht mehr
schrecklich vor, seit ich dich reden gehört. Der Mönch aber,
der dem Mädchen ein Evangelienbuch zur fleifsigen Benutzung
übero-iebt, stellt ihr, da sie meint, sie werde der Versuchun^j
Christum lieb zu gewinnen wohl kaum widerstehen können, das
Zeu<Tnis aus ; ..Lies und lieb ihn, dein Herz ist seiner wert."
Der sich indessen den Dreien mit Schmeichelreden nahende
Abdallah wird von Recha und Assad — so heifst ja nun seinem
Vater nach der junge Templer — in kurzen Worten abgefertigt,
und macht dann in einem Monolog seiner wilden Eifersucht auf
den Mönch Luft, denn
Mein ist Recha!
Auf ihr beruht der glänzende Entwurf
Von meinem Glück.
Zu geeigneter Stunde naht sich ihm darum auch jetzt der
Imam Jezid, und durch allerlei Stachelreden weifs er diesen
so ofesen den Mönch, der ihn beim Sultan schon vollständii^
verdrängt habe, aufzureizen, dafs der Imam, seiner nicht mehr
mächtior, ein aefüoriores Werkzeuo^ für den Plan Abdallahs wird.
Beide belauschen in einem Versteck ein Gespräch Nathans mit
Sittah, die sich höchst verächtlich über Jezid und seine Kunst
und Wissenschaft aussprechen, dagegen dem Mönche und seinem
Gebaren das vollste Lob spenden. Natürlich steigert dieses
den Zorn Jezids bis zur Raserei, so dafs ihm Abdallah nur
wie von ungefähr einen Gedanken hinzuwerfen braucht, wie
Nathan und der Mönch unschädlich zu machen wären, um eicher
zu sein, dafs derselbe von dem Imam gierig aufgegriffen und
zur That gemacht wird.
Indessen sind der Mönch und der Klosterbruder mit Zu-
bereiten von Arzeneien beschäftigt, bei welcher Gelegenheit der
redseliixe Klosterbruder erzählt, wie treulich er seinem Herrn
Eine Fortsetzung von Lessings Nathan uml ihr N'erfasser. 11
cjedlenf, der bei Askalon im Treffen fyeblieben und ihm seine
Tochter für den Juden Nathan zuvor überijeben habe. Daneben
freilich drängt es ihn, dem Mönche von seinem Auftraij, mit
dem ihn der Patriarch diesem nachgeschickt, zu erzählen. Dieser
Auftrag laute auf nichts anderes, als wohl zu erwägen, welche
Vorteile aus der Krankheit des Sultans „der lieben Christen-
heit zu Nutz und Frommen" zu ziehen wären. Auch sei nach
Ansicht des Patriarchen gegen Saladin als einen Feind der
Christenheit keinerlei Bedenken gültig: „Und könnte nur die
Kunst des frommen Herrn Noch ein'ge Wochen ihn so zwischen
Leben Und Tod erhalten, bis man insgeheim Auf jeden Fall
bereitet sei, dann so wollte Er wohl dem frommen Herrn davon
berichten. Noch etwas mehr. Es würde dann, sagt er, dies
Pülverchen, das er mir anvertraute, schnell entscheiden Auf
Leben oder Tod." Die durch diese Nachricht hervoro-erufene
Angst des Mönches beruhigt der Klosterbruder durch die Ver-
sicherung, dafs er das Pülverchen verloren habe. Noch naht
sich nun dem allein weiterarbeitenden Klosterbruder Abdallah,
um ihn auszuforschen, erfährt aber nur das Notwendigste von
diesem.
Die erste Scene des dritten Aufzusjes zeisjt uns in Saladins
Krankenzimmer diesen sowie Sittah und Recha. Saladin fühlt
sich durch den Trank des Mönches wunderbar gestärkt; dieser,
da er eben den Sultan besucht, wird nun bald in ein religiöses
Gespräch verwickelt und nimmt natürlich hier wiederum die
Gelegenheit, das Christentum als die allein echte Religion dar-
zustellen. Bei Erwähnung der Erzählung Nathans wird der
Mönch von Recha aufgefordert, seine Ansicht in ein ähnliches
Gewand zu kleiden, und er folgt diesem Wunsche. Nathan,
der nach dem Weorofano^ des Mönches ins Zimmer getreten,
kann sich nicht enthalten, den ihm dort ento^eo^entönenden
Ruhraeserhebungen des Mönches Nachrichten aus Jerusalem
entgegenzuhalten, die denselben als ein Geschöpf des Patriarchen
verdächtigen. Diesen Verdacht bestärken in seiner Weise Abd-
allah und ein eben aus Jerusalem an den Sultan kommender
Brief seines Vaters, der den Mönch als geheimen Meuchel-
mörder verklagt. Recha und der Tempelherr w^erden nun ver-
hört, und ihr Lob und Vertrauen zu dem Manne machen den
12 Eine Fortselzung von Leasings Nathan und ihr Verfasser.
Sultan wieder schwankend. Indessen nahen sieh Nathan, Jezid,
Abdallah und der Mönch mit einem Becher Arznei. Jezid aber
nimmt heimlich Gelegeidieit, den Becher des Mönches mit einem
anderen zu vertauschen, und nur durcli eine l\ede Saladins auf-
merksam gemacht, sieht der Mönch noch einmal in den Becher
und entdeckt, dafs derselbe Gift enthält. Trotz aller Beteue-
runoen seiner Unschuld wird er gefangen genommen, und der
vierte Aufzus: zei^rt uns nun denselben im Gefänofnis. Abdallah
triumphiert, dafs sein Plan gelungen, und er erneuert sein Bünd-
nis mit Jezid. Indessen trifft Nathan vor dem Gefängnis mit
dem Klosterbruder zusammen, und dessen Erzählung giebt ihm
einen deutlichen Wink, wo und in wessen Person der richtige Gift-
mischer zu suchen und zu finden sei. ßecha und der Tempelherr
besuchen den Mönch im Gefängnis und überzeugen sich von
seiner Unschuld, die nun auch durch Nathan, der indessen die
Vertauschuns der Becher entdeckt, bestäti2;t wird. Jezid, dessen
Gewissen sich regt, wird von Nathan mit allerlei Andeutungen
in die Enge getrieben und begiebt sich zu dem Mönch, um von
diesem das Eecept seiner Arznei erfahren und so den Sultan retten
zu können. Bei seinem Austritt aus dem Gefängnis wird er
von dem mit der Wache sich nahenden Ofsmann verhaftet und
in denselben Turm, in dem der Mönch gefangen ist, geworfen.
Der fünfte Aufzuo- zeiot uns das Verhör von Jezid und
Abdallah und die Befreiung des Mönches, der bei dem Sultan
um Verzeihung für die Mörder bittet und von allen als ein
neues Mitglied der Familie mit Begeisterung aufgenommen wird.
Unterdessen wird auch noch ein Diebstahl entdeckt, denn die
Heilkräuter des Mönches sind verschwunden, und Abdallah, der
alle Schuld auf den Imam zu schieben sucht, wird zum Tode,
der Imam zu lebenslänolichem Gefänfinis verurteilt. Abdallah
aber rächt eich an dem Sultan, indem er sich als den Enkel
Nurredins, dem Saladin einst Thron und Keich entwendet, zu
erkennen giebt, nachdem er zuvor durch eine Erzählung den
Sultan sich selbst das Urteil des Verräters hat sprechen lassen.
Dem mit dem Tode Ringenden giebt sich, um dem Unglück-
lichen weuio^stens eine Freude noch zu bereiten, der Mönch
vom Libanon als seinen Bruder Assad zu erkennen. Saladin
stirbt, und sein Vater Nodgemeddin, der herbeigeeilt, findet
tiine Fortsetzuncj von Lessinrjs Nathan und ihr Verfasser. 13
seinen verlorenen Sohn wieder. Der Klosterbruder aber, der
eben mit einem Korb voll Kräutern und Blumen herbeieilt, damit
daraus der MÖnch die rettende Arznei zubereite, kann diese
nur noch als letzten Grufs über die Leiche Saladins streuen.
Dies der Gang der Handlung in der zweiten Auflage des
Buches von 1785. Dieselbe erscheint der ersten von 1782
o^egenüber in manchen Stücken umgeändert. So weifs diese
letztere nichts von der Bercegnun«]^ des Mönches mit dem Kloster-
bruder, sondern führt uns direkt in Saladins Krankenzimmer,
wo Sittah dem Bruder die Ankunft eines Mönches und Arztes
vom Libanon meldet. Saladin scherzt nicht in so grausamer
Weise mit Abdallahs Opferwilligkeit, und dieser, der nach der
Unterredunor Rechas mit dem Mönch sich dem Mädchen naht,
ist nur der Diener und nicht, wie in der zweiten Auflage, auch
der glühende Liebhaber Rechas, so dafs auch sein Monolog
nur ein oreo-en den Mönch als eine bei Hof schon so rasch be-
liebte Persönlichkeit, nicht aber gegen ihn als einen Neben-
buhler um Rechas Gunst gerichteter ist. Als in die zweite
Auflage erst ein":eschoben erweist sich ebenso die neunte Scene
des zweiten Aktes, in welcher der Mönch und der Kloster-
bruder miteinander beschäftigt sind, dem Sultan eine Arznei
zuzubereiten, eine Gelegenheit, bei welcher letzterer dem Mönch
den oanzen Plan des Sultans entdeckte. Statt dessen findet
sich in der ersten Auflao;e eine Scene im Garten, wo Saladin
von einem Traum erzählt, der ihm die drei Gestalten des
Heidentums, Judentums und Christentums vorführte und die
Ohnmacht der beiden ersteren dem letzteren gegenüber in über-
wältigender Weise zeigte, zugleich ihm aber auch sagte, dafs
sich das Wort: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein"
noch vor Abend an ihm erfüllen sollte. In der sodann in dem
Gespräche Saladins mit dem Mönch eingeflochtenen Parabel
hatte der Verfasser da, wo er in der zweiten Auflage mit
einem kurzen „doch ging's nicht immer so" die Entwickelung
des Menschengeschlechtes erwähnt, diesen Gedanken des näheren
ausgeführt :
Dies ruhige Gartenleben war
Für Menschen nicht, wo Sinn an Sinn, der Geist
Im Zirkel aller Schönheit der Natur,
14 Eine Fortsetzung von Lessings Nathan und ihr Verfasser.
Durch immerwährenden GenuTs entnervt
Bald seiner Wiird entsinkt.
Unmittelbar
Nur immer Kraft aus Kraft zeugt Übermut
Und träge Lüsternheit. Für Kinder ist's,
Die selbst sich zn versorgen noch zu schwach sind,
Zu unerleuchtet, sich zu leiten, dafs
Auf jedem Schritt noch Amm' und Lehrer ihnen
Zur Seite gehen. Da die Ersterschaflfnen
Nunmehr zum reifen Alter aufsfe wachsen
Sich fühlen lernten, trieb sie Gott ins Feld,
Und sengte mit dem Flammenschwert des Cherubs
Zur Od' ihr Paradies,
Die Welt war jüngst
Mit Kraut und Gras, mit Baum und Saat, hervor
Aus Gottes Schöpferhand gegangen. Immer
Fand der Vertriebne noch den Segen Gottes,
Afs ohne saure Müh von seinem Tisch.
So auserlesen waren nur die Früchte
Nicht mehr, er mufste suchen, prüfen, sammeln,
Was heilsam war.
Die Menschen mehrten sich —
um dann in der Fassung, wie sie auch die zweite Auflage hat,
fortzufahren. Dao:eo;en weifs die erste Aufla2:e wiederum noch
nichts von einer Besreo^nuno: Nathans mit dem Klosterbruder
vor dem Gefängnisturm, in welcher der Jude die Spuren zur
Entdeckung des Giftmischers findet. Aber in der ersten Auf-
lage hatte der Mönch den Verdacht selbst ausgesprochen und
eich dann, da die Geschwister seine Leiden beklagen, bei Recha
mit der Frage nach dem Forto;ano^e ihrer Lektüre im Neuen
Testament erkundio^t. Bald sind die beiden wiederum in eifrio^-
stem Disputieren über die Wunder, den Tod und die Auf-
erstehung Christi, und der jNIönch bereitet sogar Recha darauf
vor, dafs ihr Vater noch lebe. Dem hinzukommenden Nathan
erwidert er auf dessen freundlichen Vorwurf; „Du solltest doch
nicht meine Tochter mir abtrünnior machen wollen!" mit der
Versicherung;
Das will ich nicht, das rächt, wenn sie als Christin
Verlernte dich zu lieben, Gott im Himmel!
Was wäre dann das Christentum ? Und Nathan
Zürnt nicht, wenn seine Recha neue Gründe
Lernt, gut und fromm zu sein, und gottergeben.
Eine Fortsetzung von Lesslngs Nathan und ihr Verfasser. 15
Und mit Nathans Antwort an Recha:
Nein, gutes Kind, ich zürne nicht: je besser,
Um desto h'eber deinem Vater: nur
Sei was du bist mit Überzeugung.
ist bei den Dreien die Harmonie vollständig geschlossen.
Im fünften Aufzug bringt sodann die erste Auflage un-
mittelbar vor dem Verhör des Jmam ein Zeugnis für die Un-
schuld des Mönches auch in einem Briefe von dem Vater des
Sultans, wodurch sich der erste, in dem der Mönch als Meuchel-
mörder verklagt w^urde, als Fälschung erweist, während die
letzte Scene, welche die zweite Auflage vorführt, die Ankunft
Nodgemeddins, des Vaters des Sultans, und des Klosterbruders
mit den Kräutern hier noch fehlen.
Die meisten der in der zweiten Auflage von dem Verfasser
vorgenommenen Änderungen, soweit sie nicht blofs einzelne
Sätze und Wendungen betreffen, zeigen das unverkennbare Be-
streben, der Handlung in jedem ihrer Teile eine scharf aus-
geprägte und logische Motivierung zu geben, ohne Charakter
und Tendenz des Ganzen zu beeinträchtigen. Allein auch wenn
dies besser gelungen wäre, als es in der That der Fall ist, so
erhöht das den Wert des Stückes keineswegs, wenn es ihm
auch zur Zeit seiner Entstehung einen w^eiteren Leserkreis ver-
schafft haben mag als den, welchen der Nathan gefunden.
Eine dritte Auflage, die im Jahre 1817 erschien, bringt
das Stück unverändert und weist als Beigabe nur eine Einlei-
tuno^ von A. Wendt auf.
Mit einer Erkennungsscene schliefst Lessings Nathan, und
mit einer Erkennungsscene der Mönch vom Libanon. Allein
während sich bei Lessing gerade in dieser Schlufsscene der
ganze mächtige Gedanke seines dramatischen Gedichtes in einer
Weise verkörpert, dafs wir von ihm scheiden in einer gehobenen
Stimmung, wie sie nur ungewöhnliche Ereignisse im Menschen-
leben erzeugen, ist es dagegen im Mönch vom Libanon ein
wahrer Akt der Gnade vom Verfasser, wenn er uns end-
lich mit der schon lange bekannten Thatsache zum Schlüsse
führt.
Freilich der ganze Plan dieser Fortsetzung baute sich schon
auf einer Anschauung auf, die dem Lessingschen Gedanken
IG Kine l-'ortsetzung von Lessings Nathan und ihr Verfasser.
von einer immer ü:röfseren \'ollkommenheit des Menschen-
gescblechtes in seiner Entwickelung schnurgerade entgegen-
lauft. In geiner Erziehun«: des Menschenojeschlechtes mit den
Worten schliefsend „Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige
Vorsehung! Nur lafs mich dieser Unmerklichkeit wegen an
dir nicht verzweifeln! Lafs mich an dir nicht verzweifeln,
wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten zurückzugehen.
Es Ist nicht wahr, dafs die gerade Linie immer die kürzeste
ist," und mit den Worten: „Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?"
eine Aussicht eröffnend, die uns an einer endlichen Vollendung
der tausend tausend Jahre des weisen Richters nimmermehr zwei-
feln laföt, mufste er einem von der absoluten Vollkommenheit
seiner christlichen Religion schon In dieser Zelt überzeugten
Menschen In einer Weise nahe treten, die diesem w^ie eine
«lotteslästerllche Schmähuno^ auf das Allerheillijste erschien.
Wenn nun Pfranger sich berufen fühlte, diese Schmähungen
7.U widerlegen, und die Frage über die Echtheit einer Religion
von seinem Standpunkt aus zu beantworten, so mag dem dichte-
risch beanlagten Hofprediger der Gedanke einer Fortsetzung
des Nathan am nächsten gelegen sein. Wir wissen von Lessing
aus seinen eigenen Worten, dafs etwas Derartiges auch in seiner
Absicht lag: „Da ich übrigens nun sehe, dafs das Stück zwi-
schen 18 und 19 Bogen wird, so bleibt es dabei, dafs Ich ent-
weder gar keine oder doch nur eine ganz kurze Vorrede vor-
setze, und dafs ich alles Übrige unter dem Titel: ,Der Derwisch,
ein Nachspiel zum Nathan' besonders drucken lasse," schreibt
er an seinen Bruder. Und er, der von seinem Nathan selbst
sa^t, dafs er ein Sohn seines eintretenden Alters sei, den die
Polemik habe entbinden helfen, mag allerdings, nun dieses sein
Vermächtnis zum Abschlufs gekommen, manches auf dem Herzen
gehabt haben, das Ihm Stoff zu einer solchen Fortsetzung ge-
boten hätte. Dies sagen ja ganz deutlich seine . Worte an
Elise Relmarus, bei der er sich wegen Verzögerung einer Zu-
sendung entschuldigt: „Der Schubjak Semler ist einzig daran
schuld! Ich bekam sein Geschmiere eben als ich noch den
ganzen fünften Akt am Nathan zu machen hatte, und wurde
über die impertinente Professorengans so erbittert, dafs ich alle
gute Laune, die mir zum Versemachen so nötig ist, darüber
Kine Fortsetzung von Lessings Nathan und ihr Verfasser. 17
verlor und schon Gefahr lief, den stanzen Nathan darüber zu
vero^essen." Dafs es ihm nicht mehr o;elano;, diesen Plan zu
einem Nachspiel auszuführen, dafs es im Gegenteil einem seiner
theologischen Gegner einfallen mufste, diesen Gedanken aufzu-
greifen und nach seiner Weise auszuführen, gehört vielleicht
auch zu dem tragischen Mifsgeschick, unter dem Lessiug in
seinem ganzen Leben zu leiden hatte. Lessing beabsichtigte
den Derwisch, der nach Nathans Ansicht unter Menschen gar
leicht verlernen könnte, Mensch zu sein, zum Mittelpunkt eines
Nachspiels zu machen, Pfranger liefs aus dem Totenfeld in
Askalon die durch Saladins Erzählung so anziehende Gestalt
seines Bruders Assad wieder auferstehen, kleidet ihn in eine
Kutte und macht aus ihm, dem tapferen Kämpfer und feurigen
Mann, einen weltentsagenden Mönch, dem Bekehren und Pre-
dio;en die liebste pjeschäftijrunon sind. Neben ihm, dem Mittel-
punkt des Ganzen und Hauptträger der Idee des Dichters, sind
es noch Nodgemeddin, der Vater des Sultans, dem wir aller-
dings erst in der vorletzten Scene des letzten Aktes begegnen,
um die Überzeugung von der gänzlichen Entbehrlichkeit dieser
Persönlichkeit zu gewinnen, da er nur eingeführt wird, um ja
kein Glied der ganzen Familie fehlen zu lassen, und die beiden
Mameluken Ofsmann und Abdallah mit dem Lnam Jezid, die
uns, von Lessing her unbekannt, hier vorgeführt w^erden. Es
entspricht dem von seinen Zeitgenossen und seinem Biographen
entworfenen Bilde Pfrangers vollständig, dafs die Polemik gegen
den Nathan, wie er sie in seinem Mönch vom Libanon ausübte,
eine durchaus friedliche und, wenn ich so sagen darf, liebens-
würdioe war. Man sieht ihn niro-ends eine absichtlich feind-
liehe Stellung gegen Lessing einnehmen. Es ist als ob er
seinem Leser die beiden Stücke zur freien Wahl hinstellte,
ohne auch nur den geringsten Versuch zu einer Bevorzugung
seiner Ansicht zu machen. Freilich der Beifall, den das Stück
dann fand, ist auch nicht sowohl auf Rechnung seiner ästhe-
tischen Vorzüge, als vielmehr auf seinen christlich-orthodoxen
Zweck eines Schutzes gegen die vermeintlichen Angriffe Lessings
zu schreiben. So läfst es sich auch erklären, dafs den Haupt-
inhalt des Stückes, dessen Handlung ja am Ende die eines
ganz gewöhnlichen Intriguenstückes ist, Belehrungen und Be-
Archiv f. n. Sprachen. LXXIII. . 2
18 Eine Fortsetzung von Lesslngs Natlian und ihr Verfasser. "
trachturifren über das Christentum und seine allsie";ende Gewalt
bilden, und dafs daneben die bei Lessing so bis in die kleinsten
Teile hinein individualisierte Charakteristik der einzelnen Per-
sonen vollständig: verloren £!;ehi. Schon ästhetisch verfehlt ist
es, fünf Akte hindurch einen kranken Mann, wie Saladin es ist,
reden zu lassen, und es ist mit Ausnahme der Hauptperson im
Mönche nicht eine einzige im Ganzen, bei der man ein wirk-
lich individuelles Leben oder aucli nur eine entfernte Ähnlich-
keit mit den Gestalten Lessin^s entdecken könnte. Dadurch
hat sich der Verfasser die Lösuno^ des im Nathan enthaltenen
Problems sehr leicht gemacht. Denn da nun einmal schon im
voraus all seine Persönlichkeiten nach christlichem Muster zu-
gerichtet und im geheimen eigentlich schon gut protestantische
Menschen sind, so müssen all ihre Einwände und Zweifel, die
sie dem Christentum des Mönches gegenüber geltend machen,
nur als harmlose und unschuldige Wortgefechte, keineswegs
aber als charakteristische und in sich selbst abgeschlossene An-
schauungen und Gedanken erscheinen. Man durfte ja wohl,
da sich das Stück als eine Fortsetzung des Nathan ausgab,
darauf gespannt sein, wie der Dichter gerade die Gestalt des
Juden weiterentwickle. Allein schon in der Scene mit Saladin,
wo ihm dieser seine Zweifel betreffs des Märchens mitteilt,
kommt man zu dem Resultat, dafs hier eine ganz neue, mit
dem Lessingschen Nathan in keinerlei Zusammenhang stehende
Figur geschaffen sei. Saladin, bei Lessing eine königliche
Figur vom Scheitel bis zur Sohle, eine Natur, in der „nichts
klein, nichts eng und schwächlich ist", ein Mann, der bei aller
echten Menschenliebe, bei jedem Mangel an Hochmut und Stolz,
doch ein starkes und edles Selbstbewufstsein bekundet, ist hier
zum kleinlichen, disputiersüchtigen und begriffspaltenden All-
tagsmenschen geworden, und Nathan, der in jedem seiner Worte
den klugen Menschenkenner, den Mann der moralischen Selbst-
verleugnung bekundet, ist ein gutmütiger, zu Zeiten auch senti-
mentaler Schwätzer, der sein früheres Denken und Handeln
vollständig vergessen zu haben scheint. Saladin ängstigt sich:
Nun soll ich sterben? soll mit meinem Ring
In dieser Üngewifsheit hin zum Richter.
Wie wenn ich nun betrogen wäre, Nathan?
Eine Fortsetzung von Lessings Nathan und ihr Verfasser. 19
und dieser antwortet ihm darauf mit der Gegenfrage:
Wie wenn sie alle nun betrogen wären?
freilich um gleich darauf, da Saladin nur Irrtum und Wahn
überall erblickt, den Sultan in langer Rede mit der Schilderung
der menschlichen Schwachheit zu trösten und ihn darauf hin-
zuweisen:
Wie,
Wenn Wahn, wenn Morgendämmerung auf Erden
Das höchste Ziel für Menschenkräfte wäre;
Dort erst ging dann das volle Licht uns auf.
Gott steigt auf Stufen zur Vollkommenheit,
Und viel, viel Stufen sind der Täuschung aus
Der tiefen Nacht hinauf zum vollen Mittaof.
Was man nicht fassen kann, doch fassen wollen,
Ist unzufriedner Stolz.
Zu tief für unsren Horizont. Gott ist
Die Wahrheit: Gott! — Der Mensch ein Ding das irrt.
Das fehlt.
Drum meint Nathan, müsse Saladin auch den Menschen neh-
men wie er ist, müsse nicht suchen und sich abquälen nach
einer allgemein gültigen Wahrheit, da ja doch dem einen als
Irrtum gelte, w^as dem anderen als W^ahrheit erscheine. Saladin
aber sagt:
Es mufs nicht richtig sein mit deinen Schlüssen,
Denn ist die Wahrheit Hirngespinst, so ist's
Die Tugend auch. — Was sagst du?
Und Nathan analysiert ihm die Tugend ebenso als etwas Indi-
viduelles wie die Wahrheit, denn
Hängt was mehr
Vom Zufall ab als sie? Die Lagen sind's,
Worein ein glücklich Ungefähr dich setzt ;
Das Land, das du bewohnst : die Art von Menschen,
Worunter du zu leben hast; die Speise,
, Die du geniefsest, und der Wasserquell,
Woraus du schöpfest; endlich selbst die Luft,
Die dich umgiebt, und mehr als alles dies
Die frühe Stimmung jeder Kraft, Erziehung
Und väterliches Vorurteil; und dann
Der erste Stofs, womit das Schicksal dich
Hin in des Lebens wßite Laufbahn wirft.
20 Eine Fortsetzung von Lessings Kathan und ihr Verfasser.
Allein Saladin kann nicht oelten lassen, dafs der ^Mensch
so ganz baumartig, so ganz der Sklave seiner Masse sein soll,
denn „Was wäre Freiheit?"
Auch auf diese Frage hat dann Nathan rasch eine Antwort
bereit :
Ein Spielwerk, Saladin, für üpp'ge Kinder,
Ein Gängelband, woran der Mensch allein
Zu gehen träumt und doch nicht weiter kömmt,
Als ihn die Wärtrin kommen läfst. Wenn's hoch kömmt,
Ein Laufkarrn, wo das kindische Geschöpf
Im Kreis der Welt und ihrer Kräfte stolz
Herumrennt und den Mitgespielen zuruft:
Seht, ich bin frei: das ist's.
Saladin kann sich mit all dem, zumalen da nun Disputieren
seine Sache nicht mehr sei, und es ihm bedünke, als ob Nathan
damit nur der Wahrheit ausweiche, nicht begnügen, er verlangt:
Du hast mich ganz verwirrt:
Nach Wahrheit handeln, sagst du ? — Doch nicht wissen,
Was Wahrheit sei ? selbst es nicht wissen wollen ?
Und blindlinjjs aufs Geratewohl so fort";ehn ?
Wie ist das, Nathan?
und dieser giebt ihm den Bescheid:
Sieh, der Wahrheit darf's
Nicht viel um Mensch zu sein: „Es ist ein Gott:
Sei fromm und fürchte den ; und trau ihm zu,
Dafs er der Tugend lohnt, das Laster straft,
Da hast du Wahrheit gnug.
Ebenso giebt er ihm nun, da den Sultan seine Erklärung
der Tugend so irregeführt, einen gedrängten Bescheid in dieser
Frage, da Saladin sich selbst der gröfsten Laster anklagt:
Nathan,
Wer kennt ihn nicht,
Den frommenden Saladin?
Saladin.
Den Räuber auch,
Den Bluthund, Nathan, auch? Kennst du auch den?
Der mehr unschuld'ges Blut vergossen als
Zehntausend Mörder, die das Rachschwert würgt?
Nathan.
Nein, Saladin, den kenn ich nicht.
Eine Fortsetzung von Lessings Nathan und ihr Verfasser. 21
Saladin,
So kennt ihn Gott.
Nathan.
Wie er das Chaos kennt,
Aus dessen Tiefen einst das Licht hervorstiejj.
Ist es drum noch ? Du bist der erste nicht,
Den er durch Ubelthaten unvermerkt
Den rechten Weg der Tugend finden liefs.
Gesetzt, du warst es einst, so bist du's jetzt
Nicht mehr: und Gott straft nicht die Übertretung
Des Sünders an der Tugend des Gerechten,
Den frommen Saladin nicht statt des bösen.
Aber all das genügt dem kranken Sultan nicht. „Ach, das
Gewissen ist keine Krankheit, Nathan;" und da ihm nun, am
Ende seines Lebens, auch der Glaube genommen ward, so
Aveifs er nicht mehr, wohin sich wenden, ohne Irrtum und Wahn
zu erblicken. Gewifsheit, ruft er aus:
Gewifsheit ist die Kraft der Wahrheit ! Zweifel
Ihr Feind! ein tötendes Insekt, das tief
Und tiefer in die Wurzel gräbt, bis endlich
Die schöne Blume sinkt ! — Sie ist verwelkt,
Für mich verwelkt, zerfallen liegen noch
Die dürren Blätter um mich her.
So findet der Sultan, anstatt der Widerlegung seiner Zweifel,
nur neuen StofiT für dieselben, und man empfindet hier schon
deutlich den Unterschied in der Charakteristik derselben Person
durch beide Dichter; denn ein solches Irreführen, ein solches
Verwirren von Anschauuno'en und Beorififen ist dem Lessino-
sehen Nathan vollständig fremd. Bei ihm erweist sich jedes
Wort und jeder Gedanke als erzeugt aus einem festen und ab-
geschlossenen System, aus einer nicht auf der schwankenden
Grundlage dehnbarer und willkürlich auszuleckender Worte be-
ruhenden Weltanschauung. Für diesen Gedanken des Zweifels
an allem hatte er im Nathan keinen Kaum, da es ja hier galt,
der Welt ein neues Evangelium zu bieten, und einmal getränkt
mit diesem alles zersetzenden und alles zerstörenden StoflPe,
mufste das von Lessings Künstlerhand so wohlbedächtig zu-
sammengefügte Ganze auseinander fallen und jeden Versuch,
aus den Bruchstücken ein dem Sinne der Zerstörer entsprechendes
22 Eine Fortsetzung von Lcssings Natli;in und ihr Verfasser.
Gebäude emporzurichten, aufs empfindlichste strafen. Am wenig-
sten natürlich empfinden wir dies bei dem Mönch, der, wie
oben schon bemerkt, der einzige sein dürfte, in dessen Charak-
teristik individuelles Leben zu spüren ist. Freilich mufste ja
er, der sich in den Mittelpunkt des Ganzen zu stellen hatte,
auch mit dem ganzen Rüstzeug des positiven Christentums
gegen die gefürchteten Angriffe versehen sein, und wir sehen
hier mit Freude nicht einen in dem aus Leasings Streitschriften
so wohl bekannten Gözeschen Gewände einherstürmenden und
schreilustigen Gegner, sondern einen ruhig und friedlich seinen
Standpunkt wahrenden, aber denselben nirgends marktschreierisch
als den allein richtigen anpreisenden Mann und Theologen.
Dafs man namentlich den letzteren, d. h. den Prediger, dessen
eigentliches Gebiet die Kanzel und ihre Beredsamkeit bilden,
da und dort, und so namentlich auch in dem ersten Monoloji
des Mönches, vielleicht gar zu deutlich hervortreten sieht, daraus
kann wohl dem Verfasser, den wir als eine auf diesem Felde
gerade berühmte Persönlichkeit kennen o;elernt, schwerlich ein
Vorwurf gemacht werden. Nebenbei läuft freilich auch die
durch Klopstock gewissermafsen klassisch gewordene christliche
Geiühlsseligkeit und Sentimentalität und das poetische Spiel
mit manchen durch den Dichter des Messias o-leichsam officiell
gewordenen Begriffen. Stellen wie die folgende aus dem Mono-
loge des Mönchs:
Bald ist vielleicht
Der Abend da; lafs mich noch wirken, weil
Es Tag ist, dafs mein Glaub ein Licht sei, das
Im Dunkeln leuchte, dafs ich nicht umsonst
Errettet von dem Reich der Finsternis
Zum Reiche deines Sohnes, Herr, gebracht sei!
Ihn zu bekennen sei mir hohe Pflicht!
Durch gute Thaten ihn zu ehren Wonne
Und Seligkeit. Durch ihn lafs diesen Tag
Mir, Herr, gesegnet sein.
bestätigen das oben Gesagte wohl am deutlichsten.
Am übelsten wurde wohl in der Fortsetzung des Nathan
Lessings Tempelherr bedacht. Man begegnet ihm da und dort,
sei es allein oder in Gesellschaft seiner Schwester Recha, allein
es hat den Anschein, als ob er dem Verfasser des Mönches
Eine Fortsetzung von Lcssings Nathan und ihr Verfasser. 23
eine der unbequemsten Figuren, mit der er gar nichts anzu-
fangen gewufst, gewesen ^e'i. Nur einmal, da er seine Schwester
Kccha, die seiner Aufforderung, den Mönch zu sehen, mit den
gewifs nicht aus Lessings Charakteristik stammenden Worten
ento^efrnet;
Ja war es nur
Kein Mönch, mein lieber Assad! Diese Menschen
Sind mir so grauerlich, so ausgezeichnet,
Die ihre Tugend so zur offnen Schau
Zu tragen pflegen !
sieht er sich zu einer längeren ßede, in welcher er diese An-
schauung seiner Schwester zu widerlegen strebt, veranlafst.
Diese letztere dagegen sucht nicht allein in ihrem Gespräch
mit dem Mönch, sondern auch in der Folge ihre Persönlichkeit
zur Geltuno^ zu brinofen. Freilich unterlieot auch sie dem
Schicksal der übrigen aus Lessing herübergenommenen Per-
sonen. Dort von dem so oft wegen mangelnder Poesie ver-
urteilten Lessing mit dem ganzen Zauber einer echten, er-
freuenden und ergreifenden Jungfräulichkeit ausgestattet, eine
schwärmerische Natur, die all ihr Denken und Empfinden, sich
selbst und ihr ganzes Leben nicht von ihrem Vater trennen
kann, und hier ein Mädchen, das sich scheinbar wohl da und
dort auf die Autorität Nathans beruft, im übrigen aber ihre
eigenen Wege, die einer kleinlichen, BegriflPe spaltenden Dispu-
tiersucht geht. Mit einer schon durch die obigen Worte cha-
rakterisierten Abneigung gegen jegliches Christentum ausge-
stattet, kann sie sich nicht genug darüber verwundern, dafs der
Mönch auch einem Judenmädchen einen Platz im Paradiese
einräumen will. Aber auch sie erkennt gar bald in dem Mönch
und seinem Glauben einen Stärkeren. Nicht ihr Spott, mit dem
sie den Mönch angreift:
Ihr Christen seid doch sonst
,Mit eurem Himmel so freigebig nicht,
Seitdem der heil'ge Petrus auf- und zuschliefst,
bringt den Mönch aus der Fassung:
Nein, Recha,
Der heil'ge Petrus ist nicht schuld daran,
Dafs Menschen ihre Brüder in die Hölle
24 Eine Fortsetzung von Lesslngs Nathan und ihr Verfjisser.
Verstofsen ; wifst es, dafs von jedem Volk
Wer recht thut und gottselig lebt, dem Herrn
Gefällt.
Recha.
Recht thut? — recht glaubet, sagen sie,
Und würgen lieber, was nicht glauben will.
Als wenn sie Gottes Richteramt zu führen
Berufen wären! Menschen sind sie nicht,
Nur Christen.
Mönch.
Christen nicht, nur Menschen, Menschen !
Und da er dem Mädchen in begeisterten Worten Christus
preist, als den, in dem sie alles finden werde, was sie sucht:
0 wie wird meine Recha da am Kreuze
Bei seiner Mutter stehn und ihn beweinen:
Und traurig dann auf Erden suchen, ob
Nicht einer noch, ihm gleich, zu finden wäre.
Und keinen finden!
und Recha ihm hierauf entgegenhält:
Den lehrten
Euch eure Väter, eure Lehrer lieben,
Mich Nathan jenen (Moses), nun wem soll ich glauben?
hat der Mönch sogleich die Antwort bereit:
Der AVahrheit, Recha!
Der hieraus sich selbst ergebenden Frage „Was ist die Wahr-
heit" stellt er natürlich w^iederum Christum als des Gesetzes
Erfüllung entgegen. Wir erfahren die endgültige W^irkung
dieser Worte auf Recha aus einem sich noch in der ersten Auf-
lage vorfindenden z\veiten Gespräche des Mönches mit Recha,
wo dieselbe im ganzen bereits als Christin erscheint und nur
noch in einigen Bedenken der Aufklärung des Mönches bedarf.
Da ist namentlich die Auferstehung, mit der sich Recha durch-
aus nicht befreunden kann:
Mönch.
Für Gott giebt's keine Wunder, nur für uns.
Denn was er wirkt, thut alles eine Kraft,
Wenn er die Toten weckt, so ist's dieselbe.
Die sie zuerst erschuf, die sie erhielt.
Hätt er auf unsern Glauben warten wollen,
Eine Fortsetzung von Lessings Nathan und ihr Verfasser. 25
Bis er das erste gröfste Wunder that,
Wo wäre dann die Welt?
Kecha.
Allein der Fall,
Dafs solch ein Toter wiederlebt, ist doch
So einzig, unerhört.
Mönch.
So einzig, Recha,
Sind alle Fälle in der Welt, ein jeder
Ist solch ein eigener Gedanke Gottes,
Dem seine Macht das Dasein giebt; je feiner
Der eine sich vom andern unterscheidet,
Nur desto herrlicher wirkt seine Kraft,
Strahlt seine Weisheit.
Es zeigt sich ganz deutlich, mit welchem Wohlbehagen
der Verfasser gerade auf diesem Punkte verw^eilte, und die
Gründe hierfür lassen sich ja leicht finden: Gilt es ihm doch
hier namentlich einen der HauptangrifFe Lessings und seines
unbekannten Wolfenbütteler Fragmentisten abzuwehren, und so
bemüht er sich, jedem scheinbar noch so gerechtfertigten Ein-
wand gegen die Glaubwürdigkeit der Auferstehung die Spitze
abzubrechen :
M ö n c h.
Dein Moses
Gab seinen Wundern durch die Hoffnung des
Verheifsnen Landes ein Gewicht, das leichter
Ihm Glauben schaffen konnte. Was denn Christus?
Nichts, nichts was Menschen reizt, im Gegenteil
Verleugnung alles Irdischen und Leiden ;
Zuletzt schmachvoller Tod war seiner ersten
Bekenner Los. Doch glaubten sie, bekannten :
Und starben fröhlich.
ßecha.
Nun das war mir immer
Sehr sonderbar! Für was zu sterben, und
So blutig! noch mit solchem lauterem
Bewufstsein seiner selbst, mit solchem Trost,
Mit solcher Freudigkeit zu Gott! — und für
Die gröfste aller Lügen! — dacht ich oft.
Die niemand glücklich, aber viele, viele
Unglücklich macht, aufs ganze Leben elend!
26 Eine Fortsetzung von Lessings Nathan und ihr Verfasser.
Die Gottes cw'gen Zorn dem Sünder häuft,
Der seinen heil'gen unnennbaren Namen
Durch schändh'chcn Betrug entweiht ; das ist
Doch unbegreiflich, dacht ich. — Aber Nathan
Erkhirte mir das anders: „Liebe Recha,"
Spracli er, „zu allen Zeiten starben Menschen
Für ihre Meinungen, so gut für Lügen
Als für die Wahrheit; Muselmann und Christ.
AVoran das Herz gewöhnt ist, nun das denkt
Sich's dann als wahr und stirbt darauf.
Mönch.
So! so!
So waren sie daran gewöhnt, den Toten
Als lebend sich zu denken?
Recha.
Freilich wohl!
Mönch.
Den toten Christus, den sie sterben sahen,
Als auferstanden sich zu denken ? mufs
Ein sonderbarer Traum gewesen sein,
Für den sie Vaterland, Relis-ion
Und Ehr und Leben fahren liefsen, und
Um Christi willen Narren wurden — mufs
Ein langer eigner Traum gewesen sein.
.,Ein "Wunder will geglaubt sein," sprachst du. Ist's
Für uns mehr Wunder als für jene? — Menschen
Sind ans Natürliche gewöhnt: was für
Ausnahmen waren denn die ersten Zeuo;en
Des Lebens Jesu, dafs sie unbewiesen
Ein Wunder glaubten, das so viel Beweis
Erfordert? — Sieh, wenn ich dir sagte, Recha,
Dein Vater lebt —
Recha.
So wärst du ein Betrüger!
Mönch.
Du übereilst dich.
Recha.
Wie, das wäre möglich?
Mönch.
Warum denn nicht?
Recha.
Weil Wunder möglich sind?
Mönch.
Das brauchte keines Wunders.
Eine Fortsetzung von Lesslngs Nathan und ihr Verfasser. 27
Es ist freilich auch hier, wo doch ein Hauptpunkt be-
sprochen wird, die Ruhe und Entfernung jeglicher Streitsucht
anzuerkennen, mit der Pfranger verfährt; ein Verfahren, das
trotz aller Schwächen in manchen Scenen einen Ton von Gemüt-
lichkeit und warmer Empfindung hervortreten läfst, wie er sich
wohl bei keinem anderen Gegner Lessings gefunden haben
macr. Und w4e dort Nathan mit seiner Erzähluno: von den
drei Ringen den Mittelpunkt bildet, so konnte es sich erklär-
licherweise der Verfasser des Mönches auch nicht versagfen,
dieser seiner Hauptperson ein Gegenstück hierzu in den Mund
zu legen, in dem die Quintessenz seiner ganzen religiösen An-
schauung zusammengefafst erscheint. Auch hier ist es wiederum
Saladin, der Veranlassung hierzu giebt, da er den Mönch
scherzend ob seiner Zuneigung zu Recha der Kuppelei be-
schuldigt. Die oben erwähnte Unterredung Saladins mit Nathan
hat diesem keinen Trost gebracht, und es mufs nun dem Mönch
vorbehalten bleiben, in die von Zweifeln durchwühlte Seele
Saladins Ruhe und Frieden zu brino^en. Wie ihm dies sfelino^t,
und wie auch hier wiederum die allein und ewi": sültio^e Wahr-
heit des Christentums es ist, die als Retterin erscheint, die als
eine herrliche Thatsache das verkündet, was Lessinofs Nathan
und Saladin erst nach tausend Jahren zu hoffen w^as^en, das
eben ist der Inhalt der Scene, in welcher der Mönch dem
kranken Sultan neben der leiblich stärkenden Arznei auch eine
solche für die kranke Seele bietet. Lessing wufste wenigstens
diese bedeutende Scene auch äufserlich zu motivieren, während
bei Pfranger die das ganze Gespräch einleitende Frage des
Sultans;
So kannst
Du aber deines Glaubens nicht gewifs sein.
Wenn ich bei meinem selig werden kann.
Wie du ?
so ziemlich aufser jedem Zusammenhang mit dem Vorhergehenden
steht. Von solcher Ungewifsheit kann und darf natürlicherweise
der Mönch nichts wissen :
Ob dich dein Glaube selig macht,
Ob er dem Geiste Freudigkeit zu Gott,
\ Dem Herzen Trost und Kraft zum Guten giebt,
Die Wunden des Gewissens heilt, dich heiter
28 Eine Fortsetzung von Lessings Nathan und ihr Verfasser.
Den Tod erwarten lehrt und festen Grund
Dir legt zu Hoffnung an der Ewigkeit,
Das mufst du fahlen, wissen kann's kein Mensch.
Allein auch in des Mönches Reden kann im Anfang Saladin
die Wahrheit nicht finden, die er sucht:
Aufrichtig, Freund,
Es scheint mir Widerspruch in deinen Reden
Zu sein, wenn anders Unterschied in deinem
Und meinem Glauben ist. Denn sieh, die Wahrheit —
Mönch.
Ist nicht des Menschen eigene Erfindunf]j:
O DJ
Ist Gottes Gabe, wie die andren Güter
Des Lebens. Diesem giebt sie die Geburt,
Und eigner treuer Fleifs erwirbt sie jenem.
Sittah freilich, die bei dieser Unterredung zugegen ist, und
dieselbe gelegentlich mit einer Bemerkung unterbricht, meint
bei dem Disputieren der zwei:
Nur schade, dafs
Ihr noch nicht einig seid, was eigentlich
Der rechte Glaube sei, die Lehrer selbst
Verdammen sie einander. Wie? ist denn
Dein Christus auch so zwiefach? griechisch und
Lateinisch ? und verdammt wie seine Christen
Auch so sich selber?
und da ihr der Mönch diese Uneinio^keit aus der menschlichen
Leidenschaft erklärt, meint sie, es wäre Avohl das Beste, zu
warten mit den Hingen, bis einst der Richter entscheiden wird.
Hiermit, mit der kurzen Erwähnung des Nathanschen Märchens
ist ein fester Stand gewonnen, und es bleibt dem Mönch ja
nur die Aufgabe, demselben die richtige Deutung zu geben:
Mönch.
Der Vater starb, vermochte selbst nicht mehr
Den Ring zu unterscheiden.
Saladin.
Ist auch wahr,
Er mufs ein Mensch gewesen sein.
Mönch.
Der nirgends ^
Zu finden ist, so wenig als der Künstler,
Eine Fortsetzung von Lesslngs Nathan und ihr Verfasser. 29
Der ihn so sinnreich hinterging — du siehst,
Er pafst nicht weiter.
Saladin.
Gott, das giebt mir Licht!
Mönch.
Auch drückt es mir den Sinn der Thoren aus.
Dem srofsen Haufen unter allen Völkern
War freilich immer die Religion
Ein Amulet, das ohne weitre Müh
Dem Menschen, der's besafs, die Gnade Gottes
Und unleugbares Recht zum Himmel gab.
Der blofse Name war's, das Götzenbild,
Der Tempel, nicht Religion. Allein
Dem Klügern ist der Glaube nur das Werkzeug
Zu seinem ew'gen Glück.
Recha.
Du könntest uns
Wohl auch so was erzählen?
Mönch;
Wenn Erzählen
Nach meiner schlechten Klosterart Erzählen
Genug ist, Recha, ja.
Saladin.
Erzähle nur
So gut du kannst.
Mönch.
Es hält sich ungefähr
Mit der Religion wie mit dem Feldbau.
Da hat sich viel verändert in der Welt,
Seitdem sie w^ar. Allmählich lehrten erst
Not und Bedürfnis Kunst und Wissenschaft.
Die ersten Menschen nahmen ihre Früchte
Unmittelbar aus Gottes Hand in Eden.
Auch als Vertriebne fanden sie noch gnug
Zusammen ohne saure Müh. Doch ging's
Nicht immer so. Die Menschen mehrten sich.
Was nun die Erde noch freiwillig schenkte,
War, alle zu ernähren, nicht genug.
- Man fing zu pflanzen an, natürlich nicht
Das, was die beste Nahrung gab, vielmehr,
Was so am leichtsten wuchs, den Gaumen reizte,
Und überhaupt den Sinnen wohlgefiel.
Nicht lange müh^e sich der eigne Fleifs.
30 Eine Fortsetzung Von Lessings Nathan und ihr Verfasser.
Denn einer plünderte den andern. Völker
Vertrieben Völker, wanderten umher
Und raubten was sie fanden, Frucht und Götter.
So konnte kein gesittet Volk entstehn.
Man sann auf Künste. Da erfand ein Mann
Das Grabscheit, lehrte dann sein Volk den Feldbau
Mit eigner Hand ; und zäunte rings umher
Vor jedem andern Volk die Grenzen ein.
Des fremden Guts gewohnt, verkannten sie
Die wahre Absicht gröfstenteils, und glaubten
Der Sache genug gethan zu haben, wenn
Sie sich des Werkzeugs rühmten, welches sie
In einem goldnen Tempel aufbewahrten.
Das Land blieb ungebaut:
Man fiel in heidnisches Gebiet und lebte
Von Zeit zu Zeit von ihren Opfermalen.
Doch fanden sich auch hier und da noch Biedre,
Die die Erfindung ehrten, und durch Fleifs
Bewiesen, dafs das Land, so steil und bergicht
Es immer war, durch Hilfe dieses Grabscheits
Mit reichem Wucher zu benutzen wäre.
Doch scheute man die Mühe, denn es <nr\cr
Nicht ohne sauren Schweil's. Ein andrer dachte
Der Sache weiter nach und fand den Pflug.
Saladin;
Und wie ging's dem?
M ö n c h.
Wie's allen Klügern geht.
Wie's auch dem Stifter meines Glaubens ging.
Das Grabscheit war, so wenig man es nützte,
Gleichwohl das Heiligtum der Nation.
Man schmähte, lästerte, verfolgte, würgte
Den edlen Mann, mit einem Wort, er ward
Ein Märt'rer seiner Kunst. Doch hinterliefs
Er die Erfindung in den Händen ein'ger
Gutdenkenden, die sie nach seinem Tode
Der w^eiten Welt bekannt zu machen suchten.
Da war denn hin und wieder grofse Freude.
Die Saaten fingen herrlich an zu grünen ;
Das gute Land trug doppelt, und die dürren
Und unfruchtbarsten Heiden wurden fruchtbar.
Bald artete der Fleifs
In Laster und in Thorheit aus, denn manchen
Ging so das Ding zu langsam ; sieh, da kehrten
Kine Fortsetzung von Lessings Nathan und ihr Verfasser. Sl
Sie flugs die Sterze um, und fuhren flink
Weg über's weite Feld, und riefen denen,
Die lang in tiefen Furchen weilten, stolz
Und spöttisch zu : seht, wir sind fertig. Doch
Der Herbst bestrafte ihren Wahnwitz bald
Durch fehlgeschlagne Hoffnung. Andre pflügten
Nicht tief genug. Da blieb das Unkraut und
Vertilgte jede befsre Saat. Boshafte
Gemüter fuhren mit dem Pfluge, statt
Ihr Feld zu bauen, in des Nachbars Weinberg,
Und schnitten Stock und Rebe durch. Die andern,
Statt die Erfindung zu benützen, wollten
Gern selbst Erfinder sein. Man nahm den Pflug,
Zerlegt' ihn, wollte wissen und berechnen,
Wie's immer möglich wiire, dafs das Ding
So grofse Wirkung thät. Man wollte bessern;
Warf dies und jenes weg und setzte dies
Und jenes zu, wie's jedem nützlich schien.
Natürlich glaubte jeder recht zu haben,
Und hafste jeden, der ihm widersprach.
Darüber ging der Sommer hin; das Feld
Lag ungeackert da ; der Weinberg war
Verwüstet; und vom Pflug blieb endlich nichts
Als noch das blofse Eisen.
Saladi n.
Nun, das Eisen,
Was ward damit?
M ö n c h.
Hier lafs mich enden, Sultan.
Man fand indessen ein Vermächtnis des
Erfinders, das den ganzen wahren Bau
Des Werkzeugs Stück vor Stück beschrieb, wonach
Die Klügern sich mit leichter Müh den Pflug
Verfertigten. Die Trümmer des zerrifsnen,
Die wurden hier und da als Heiligtümer
Von Thoren aufbewahrt, und jedes hiefs
Der Pflug bis auf den heut'gen Tag.
S aladin.
Gut! Gut!
Allein das Eisen, Mönch; das Eisen!
Mönch.
Nun,
Ist die Erzählung nicht schon hing genug?
Lafs mich hier enden, Sultan.
32 Eine Fortsetzung von Lessings Nathan und ihr Verfasser.
S a l u d i n .
Nein, es fehlt
Zu Rechas Moses und zu deinem Christus
Mir noch der dritte Mann.
Mönch.
Den Saladin
Doch besser kennt als ich.
Saladin.
Nein rede! rede!
Das Eisen.
INIönch.
Du befiehlst. Gut dann, so wisse!
Dies fand ein hitz'ger Kopf und dachte: ha!
Das Ding ist scharf, ist gut zum Hauen, und
Verwandelte die Pflugschar in ein Schwert.
Er zog damit von Land zu Land und hieb
Und mordete und rief bei jedem vSchlag:
Seht, Thoren da, dies ist Religion !
Saladin.
Beim ]\Iuhamed, da hast du wahr geredet.
Mit diesem Gespräch, der Schilderung des Mosaismus, des
Christentums und des Islams, wobei das mittlere in seinen An-
fängen in idealer Reinheit und Vollkommenheit verklärt er-
scheint, schliefst der eigentliche Inhalt des Stückes ab. Denn
das nun Folo;ende ist, wie sich aus dem oben ang^esebenen
Inhalt ersehen läfst, nur eine äufserliche Fortentwickelunof und
Beendigung des wenig interessanten Inhalts, und Pfranger mufste
sich ja wohl selbst sagen, dafs hiermit seine eigentliche Auf-
gabe gelöst sei. Für ihn und seine Gesinnungsgenossen jeden-
falls in einer durchaus befriedigenden und jede gegenteilige An-
sicht endgültig abweisenden Form. Es drängt sich nun freilich
die Frage auf, ob Pfranger mit dieser Parabel, die manche
schöne und poetische Stelle enthält, der Lessingschen Parabel
eine Leistung gegenübergestellt, aus der eine endgültige Ent-
scheidung der Frage nach der Wahrheit einer Religion zu holen
wäre. Freilich, er hält sich nur an historische Daten, er schil-
dert die Entwickelunii' der Relio^ion aus dem Mosaismus zum
Christentum, und stellt als eine widerliche Mischunsr von beiden
o
den Islam zuletzt. So ist ihm auf diesem Grunde die Wahr-
Eine Fortsetzung von Lesslngs Kaihan und ihr Verfasrer. 33
heit des Christenturas eine thatsächllche, ohne dafs er sich der
Erkenntnis seiner Verirrunfren und Verzerrunofen verschllefsen
will, und mufs es ihm auch als Notwendigkeit erscheinen, in
seiner Fortsetzung des Nathan die Person des Mönches zu
schildern, wie er dies wirklich that. Hier will uns bedünken,
als ob Pfranger eine Schwäche bei Lessing entdeckt habe, die
bei der Prüfuno^ von dem Inhalt der Parabel nicht senus: be-
achtet werden kann. Wollte dieser mit den drei Kinoen die
drei Religionen des Juden, des Christen und des Moslem be-
zeichnen, und wollte er in der That die absolute Wahrheit von
einer derselben unentschieden lassen, so war es auch eine Not-
wendigkeit für ihn, seine Vertreter dieser drei Kellgionen, einen
jeden nach dem thatsächlichen Gehalt der seinigen, zu charak-
terisieren. Dafs dies nicht geschehen, dafs Lessing es wohl
verstand, dieselben als treffliche und edle Menschen, nicht aber
mit den gleichen Eigenschaften als Juden und Mohammedaner
zu schfldern, das darf ausdrücklich hervorgehoben werden. W'enn
nun bei ihm Jude und Moslem die Hauptträger von des Dich-
ters Gedanken sind, und die Christen, denen er In seinem
Nathan eine ßolle zuw^eist, einen mehr oder w^enlo^er unter-
ixeordneten Rano- aecrenüber denselben einnehmen, so kann dies
gesagt werden, ohne dem Vorwurf gegen Lessing zuzustimmen,
dafs er sich eine absichtliche Herabwürdio:uno^ des Christentums
liabe zu Schulden kommen lassen. Ja wenn man den ganzen
thatsächlichen Gehalt des Nathan heraushebt und ihn mit den drei
dargestellten Religionen zusammenhält, so kann man sich der
Erkenntnis nicht verschllefsen, dafs, wenn irgend eine derselben,
es trerade und einzloj nur die christliche Relloclon ist, die nach
all ihren Lehren und Ideen für die nach den tausend tausend
Jahren vollendete allixemelne Menschheltsrellorlon die alleInio;e
Grundlao'e bilden kann. Dafs ihre Vollenduno; hierzu noch
ferne ist, dafs sie bis zu ihrer vollständigen Reife und Ausbil-
dung noch mancherlei Irrungen unterworfen ist, das ist doch
kein Grund, um an ihrer Wahrheit zu zweifeln, und das mag
auch dem Verfasser des oSlönches vom Libanon geholfen haben,
die Zweifel zu besiegen, in die ihn die Wolfenbütteler Fra^-
mente und der Nathan versetzt. So darf in ihm auch der Ge-
danke entstanden sein, zu zeigen, dafs gerade das, w^as Lessing
Archiv f. n. Sprachen. LXXIII. ' 3
34 Eine Fortsetzung von Lessings Nathan und ihr \'erfasser.
als seine eigenen Gedanken, als seine von jeglicher Berührung
mit den positiven Religionen befreiten Ideen darzustellen suchte,
der Inhalt des Christentums sei, dessen Wahrheit er nicht höher
stellt als die des Mosaismus und Islam. Diesem Gedanken
verdankt die Person des Mönches vom Libanon offenbar ihre
Entstehung, und wenn auch das ganze Stück, das eben nur
zufällig sich in dramatische Form kleidete, im Vergleich mit
Lessinofs Nathan einen untero-eordneten Wert seiner Form
und seinem Inhalt nach beanspruchen kann, so ist doch die
Liebe und Milde hervorzuheben, mit der Pfranger diese Haupt-
person charakterisierte, um in ihr zu beweisen, dafs, so oft man
sich auch von dem Christentum lösen und befreien wollte, um
an seiner Statt ein anderes zu bieten, es doch immer wieder
nur die von ihm gegebenen und gebotenen Lehren und Grund-
sätze sind, auf denen sich unser Leben aufbaut. Es wäre dem-
nach auch nur falsch, wenn man in dem Mönch vom Libanon
eine feindliche Polemik ireojen Lessing erblicken oder Ptran<2[er
gar eine souveräne Verachtung der im Nathan ausgesprochenen
Ideen unterschieben wollte. Für ihn waren sie ja, da er sich
einmal zu einer tieferen Prüfung derselben veranlafst sah, am
Ende nur christliche, und es erwuchs ihm daraus die Aufgabe,
in einer friedlichen und milden Art, wie sie ihm eigen war, dies
zu zeigen. Dafs er darum auch da, wo er dem Verfasser des
Nathan gegenüber einer geradezu gegenteiligen Meinung war,
ruhig und ohne jede Gehässigkeit sprach, ist um so mehr an-
zuerkennen, als männiglich bekannt ist, dafs ein solcher Gegner
Lessinojs nur selten orefunden ward.
Der Mönch vom Libanon ist heute vergessen, Lessings
Nathan ist für viele ein Evanorelium der Toleranz j^eo^enüber dem
sogenannten starren und einseitigen Christentum geworden. Ob'
sie aber, wie ja wohl ihr Lob und Rühmen beweisen soll, den
Kern des Nathan verstanden und seinen Inhalt zur That ge-
macht, mufs dahingestellt bleiben. Pfrangers Buch, mag man
nun nach seiner hier «Tegebenen Schilderuno; darüber denken wie
Od o
man will, bleibt immerhin eine charakteristische Erscheinung für
eine Zeit, deren gewaltige Gärung gerade auf religiösem Gebiete
eich bis auf unsere Ta^^e hinaus fühlbar j^emacht hat.
über das Wort und den Begriff Posse.
„Bücher haben ihre Schicksale", wie ein geflügeltes Wort
besagt, einzelne Wörter aber auch. Es giebt schöne, glück-
liche Wörter, die sich einer alten, edlen und allgemein aner-
kannten Herkunft erfreuen. Mit sicherem Tritt, mit stolzem
Klange sind sie in die Litteratur eingetreten, haben ihren Lauf
in derselben gemacht, jede Rede geschmückt, in welcher sie
vorkamen, und noch jetzt freut sich jeder Schriftsteller ihrer
Anwenduno-. Dao^esjen finden sich andere, minder beoünsti^te
Spröfslinge des Sprachgeistes, von zweifelhaftem und ver-
stecktem Herkommen, deren man sich nur zur Bezeichnung
von niederen, unfeinen Dingen bedient, ja, mit deren Begriff
sich geradezu von vornherein ein Tadel und eine Herabsetzung
verbindet. Ein solches sprachliches Aschenbrödel ist das Wort
Posse. Seine Abkunft ist zweifelhafter Natur, der deutsche
Ursprung wird ihm von einigen geradezu bestritten, und seine
Bestimmung ist bis auf den heutigen Tag die, etwas Niedriges,
ja Gemeines zu kennzeichnen. Eines solchen übel angesehenen,
raifsbrauchten Wesens sich anzunehmen, hat einen gewissen
Reiz. Rettungen sind ja in unserer Litteratur von jeher etwas
Beliebtes gewesen ; die ärgsten erlauchten Dirnen und Tyrannen
hat man neuerdinsfs in Schutz genommen. Warum also nicht
auch einem so unschuldigen, eigentlich doch seiner Schlechtig-
keit sich gar nicht bewufsten Wesen, wie einem Worte, zu
Hilfe kommen?
Zunächst, was sein Herkommen betrifft, so werde ich die
Dunkelheit, welche auf demselben liegt, wenn auch vielleicht
etwas aufhellen, doch kaum, gänzlich zerstreuen können. Zwar
3*
36 Über das Wort und den Begriff Posse
o
die gröbste Anschuldigung, welche man in dieser Beziehung
jiesfen das Wort erhoben hat, bin ich allenfalls im stände
zurückzuweisen. Man hat es geradezu von böse, Bosheit her-
zuleiten versucht. Und dieser Versuch ist schon sehr alt.
GrafF verzeichnet im Ahd. Sprachschatz, Bd. III, Sp. 217, alt-
hochdeutsche Glossen aus einem Bibelkodex und aus einem
Kodex des Boethius de consolatione philosophiac, wonach nugaj
mit gebosc, der Akkusativus dazu nugas mit giposi übersetzt
wird. Anderweitige althochdeutsche Glossen zu den Satiren
des Persius übertragen nugari mit böson, nugaris mit thu
bosos ; in den Glossen eines Tegernseer Kodex zu einer Historia
ecclesiastica wird ineptus mit giposer, der Akk. plur. ineptas
mit giposo gedeutet; in Glossen zum Prudentius nugator inanis
mit giposari wiedergegeben. Hieraus zu schliefsen, dafs unser
neueres Posse, unter dem man doch eben solche nuga3 versteht,
von jenem bosi, gabösi herzuleiten sei, lag nahe. Nichtsdesto-
weniger hat schon Grimm im „Deutschen Wörterb." in dem
sehr ausführlichen Artikel „Bosse" jene Ableitung zurück-
gewiesen, indem er, wie mir scheint, mit Grund darauf auf-
merksam macht, dafs nicht nur der lange Vokal 6 in jenem
ahd. gabösi, sowie der allmählich eintretende Umlaut ö in böse,
sondern auch das Doppel-s in Bosse, Posse jenem Ursprünge
widerspreche. Wenn freilich Grimm gleichzeitig an derselben
Stelle als Grund orejren diese ahd. Ableitunjr von Posse den
Umstand geltend macht, dafs das Wort im Mhd. nicht vor-
komme, so möchte ich diesen nicht für stichhaltig ansehen.
Einerseits findet sich posse in der Bedeutung von „mutwilliger
Streich" in der That in einem Gedichte Frauenlobs (Minne-
sänger, herausg. von v. d. Hagen, Bd. III, 149^'), andererseits habe
ich schon bei früheren Gelescenheiten die eigentümliche Erscheinuno;
hervorgehoben, dafs einzelne, im althochdeutschen Zeiträume vor-
kommende Wörter in der mittelhochdeutschen Periode wie ver-
schwunden sind und erst im 15. und 16. Jahrh. wieder auftauchen.
Jak. Grimm wendet sich, und nach ihm mehrere andere
Verfasser von deutschen Wörterbüchern, wie z. B. Weigand,
bei der Ableitung des Wortes Posse vielmehr dem Ahd. puzan,
mhd. bozen, spät mhd. bossen, schlagen, stofsen, zu. Man
könnte nun denken, dafs der Übergang aus dem bözen, bossen,
über das Wort und den lk'<rriir Posse. 37
-o
schlagen zu Posse einfach so zu machen sei, dafs Posse ein
Schlag, Streich sei. Schon Adelung weist sub voce Posse dar-
auf hin, dafs die meisten gleichbedeutenden Wörter, wie Gauke-
lei, Schwank, lateinisch jocus, von einer Bewegung hergenom-
men seien und zunächst possenhafte Bewegungen und Stellungen
bedeuten. Er hätte auch scherzen anführen können, welches
ursprünglich hüpfen, springen bedeutet und nichts als eine Er-
Aveiterung von schern, dann schernen, eilen, rasch fortgehen, ist.
Ebenso ist im Griechischen naieiv, schlagen, und nait^tiv, spielen,
offenbar nah, d. h. wie Mutter und Kind verwandt. Dem ana-
logen, anscheinend so leichten Übergange von bözen, bossen,
schlagen, zu Posse steht aber zunächst die Thatsache entgegen,
dafs sich kein vermittelndes Verbum bossen, im Sinne von
scherzen, Mutwillen treiben, findet. Ein Frequentativum bosseln,
bössein, im Sinne von scherzen, nugari, kommt allerdings vor.
Allein nur dialektisch und vereinzelt; in Stalders „Schweize-
rischem Idiotikon" S. 200 ist „pösseln" im Sinne von „kleine
mutwillige Streiche" machen aufgeführt. Dagegen giebt es ein,
mit bözen, bossen, schlagen zusammengehöriges Substantivum
bosse, welches in einer so ganz eigentümlichen, von zahlreichen
Stellen namhafter Schriftsteller belegten Bedeutung vorkommt,
dafs der Übergang davon zu unserem jetzigen Posse, so um-
ständlich und indirekt derselbe auch erscheint, in der That als
der richtigste und zuverlässigste sich darbietet. Jenes bosse,
es findet sich auch im italienischen bozza, im französischen
bosse wieder, bedeutet zunächst eine, durch einen Stofs oder
Schlao' hervorojebrachte Beule oder Erhöhuno- und wird dann
vor allen Dingen und hauptsächlich, ebenso wie das davon ab-
geleitete bosseler, bossieren, von den durch getriebene Arbeit
hervorgebrachten erhabenen Figuren gebraucht. Dann von
Figuren und Steinarbeit überhaupt. Ein oder eine Bosse, Posse
ist also eine auf Brunnen, Gesimsen oder sonst passenden
Stellen angebrachte Figur, meist von komischem Aussehen. In
diesem Sinne wird das Wort von allen hervorragenden Lexiko-
graphen des 16. bis 18. Jahrh. verzeichnet. Maaler (lat. Picto-
rius) hat in 'seiner „Teutsche Spraach" S. 319^: „Possen, als
die man an die Brunnen macht, wasser aufszeblaasen oder
kindle an den rören, die wasser aufsschrävend (d. h. ausspritzen)
38 Über das "Wort und den Begrifif Posse.
oder biüntzlend." Namentlich kommt das Wort so in den
Kompositis bossenwerk und bossenstück vor. Dasypodius giebt
bosseuwerk dm'ch parergon. Deutlicher nennt Henisch S. 466
und 467 bossenwerk „das laub, so man zur zier von stein oder
holzwerk um die Thüren macht." Er spricht von einem „trink-
«Teschirr mit allerlei bossenwerk von gold oder silber geziert."
Frisch, Bd. II S. 66^. hat: „Bossenstück von Laubwerk, wunder-
liche Figuren und Auszierunojen von Larven und Fratzen-
gesichtern, larva^, terribiles ornamentorum, anaglyphorum figura3,
ab artificibus fictjc." In diesem Sinne kommt Posse, Bossen-
werk u. s. w. bei den Schriftstellern namentlich des 16. Jahrh.
sehr häufig vor. Bei Grimm ist eine ganze Keihe von Bei-
spielen dafür angeführt. So heifst es in Stumpfs Schweizer-
chronik 669^: „Neben jeglichem Wappen und Ehrenzeichen waren
zween Bossen" (d. h. in Bern zwei Bären, in Zürich zwei
Löw^en). In der deutschen Übersetzung der remedia utriusque
fortuna> Franz Petrarchas vom Jahre 1559 heifst es: „Warum
lafst Ihr Euch also bewegen die Bilder, die sich weder wiegen
noch regen mögen, ob sie schon im Bossen stehn, als wollten
sie srehn, lachen und weinen." Bei H. Sachs I, 399^ liest man:
Auf dem Gesimbs sach ich viel Possen
Ans Glockenspeis künstlich gegossen.
Ob das „bofs", welches sich bei Schriftstellern aus jener
Zeit im Sinne von lustiger Mensch, lustiger Gesell findet, eben
jenes Possen, also nichts als eine Übertragung von jenen leb-
losen komischen Relieffio-uren auf lebende Menschen sei, lasse
ich dahingestellt. Bei Kaisersperg im Ev. Septuag. heifst es:
Aber die erbern dingt man nit, wenn nieman fragt von der leer,
dann allein, ist er ein gut gesel und ein guter bofs." Und
in seinen Predigten über Brands Narrenschiff c. 50 : „Mancher
in disem schyflf gern fert, dann es sind viel gut bossen drynn,
die grofs arbeit und klein gewinn haut." Scherz und Oberlin, die
diese Stellen aus Kaisersperg anführen, erklären das Wort mit
homo facetus. Jedenfalls dürfte der Übergang aus jenen lustigen
Figuren, aus jener komischen Eelief- und Feuilletonarbeit auf
unser Posse im Sinne von lustiges Ding, belustigende Arbeit
überhaupt das Richtige sein. Grimm weist mit Grund darauf
hin, dafs sich daher auch wohl die Wendungen : einen Possen
über das Wort und den Bejrrifl' Posse. 39
reiföcn, einen Possen treiben, erklären. Erwähnen will ich noch
eine Stelle in Joh. Mathesius' Sarepta oder Bergpredigt (Bl. 181''
ad fin., Ausg. v. 1587, Nürnberg), wo das Verbum possieren
geradezu in der Bedeutung von „in komischer Weise erdichten"
gebraucht wird. „Dise heimliche heillose vnnd Gotteslester-
liche abgötterey," sagt er dort, „will vns nun vnser Preceptor
seliger in seinem gemalten glast fürstellen, damit wir die triege-
rey neben Gottes Wort in gleichnufö erkennen — selber auch
keinen Gott oder Gottesdienst possirn, erdichten vnnd vns
vor menschentand vnd Satzungen hüten."
Wann und bei welchem Schriftsteller zuerst der Übersfan"-
dieses, in früherer Zeit überall als Maskulinum gebrauchten
Bosse, Posse in das Femininum „die Posse" eingetreten sei,
läfst sich kaum angeben, noch schwieriger dürfte der Nachweis
sein, wann dies „Posse" zuerst als Bezeichnung für ein ganzes
dramatisches Stück angewendet worden ist. Ursprünglich war
der Posse (bei Adelung zuerst „der Possen") nur ein einzelner
lustiger Streich, eine einzelne lustige Gebärde, Possenreifser
Männer, welche solche lustige Streiche oder Grimassen machten.
Allerdings gebrauchte man diese Bezeichnung schon immer haupt-
sächlich von solchen Streichen und Gebärden in dramatischen
Spielen. „Alle comedische Scribenten, denen Bossen zu reifsen
angeboren" schreibt schon Fischart im siebenten Kapitel seiner
„Geschichtklitterung". Die Sache selbst, das dramatische Possen-
spiel, ist ja uralt und hat mit den Anfängen unseres Dramas
überhaupt begonnen. Schon in die geistlichen Ludi des Mittel-
alters waren possenhafte Elemente eingemischt, und zusammen-
hängende Possenspiele, oft auch nur als Anhängsel an gröfsere
ernste Stücke, weist die Theatergeschichte in allen Ländern,
hauptsächlich an den Hauptstätten der Entwickelung unseres
deutschen Dramas, also in Nürnberg, AVien, Hamburg, Berlin
nach. Die Bezeichnung Posse für Komödie findet sich aber
erst bei -Gottsched:
Drum tummle sich im Thal der Posse,
Wer sich nicht höher schwingen kann,
heifst es bei ihm, und damit ist zugleich jener Begriff der Posse
als etwas niedrig Komisches, als eine gemeine Gattung des
Dramas gegeben und mehr -als ein Jahrhundert lang im wesent-
40 Über das Wort m\^ den BegrilT Posse.
liehen oeblieben. Was man sich unter Posse vorstellt, dafür
dürfte der Artikel bezeichnend sein, welcher sich dafür in dem
von Herlüfssohn und R. Blum herausgegebenen Theaterlexikon
findet, einem Werke von nicht gerade autoritativer Bedeutung
in der Litteratur, aber interessant als Echo dessen, was in den
Theaterkreisen herrschende und allgemein gültige Meinung war
mid auch noch ist. „Die Posse," heifst es dort in dem von
Louis Schneider geschriebenen Artikel, „schildert gewöhnlich,
ohne die strengen Regeln des höheren Lustspiels zu befolgen,
Beo-eo-nisse und Situationen des o-emeinen Lebens, durch Gegen-
Überstellung lächerlicher Individualitäten, deren Konflikt eine
komische Wirkung hervorbringt. Die Posse will nicht Cha-
raktere folgerecht entwickeln, will keinen Grundsatz, keine
Wahrheit zur Anschauung bringen, sondern ohne tiefere Ab-
sicht das Ungewöhnliche, Lächerliche in oft gewagter und kaum
zu rechtfertigender Zusammenstellung darstellen. Ihr Feld ist
die Übertreibung in Situation und Charakter, ihr äufseres Ge-
wand der Witz in seiner gröfsten Ausgelassenheit, ihre Grenze
das Läppische, absolut Gemeine und Niedrige. Aus diesen
Gründen ist eine gute Posse eine so seltene Erscheinung auf
der deutschen Bühne. Es gehört eine ganz besondere Be-
fähio-uns: dazu, die Grenzen zu erkennen, bis zu welchen der
Dichter hier gehen kann, und es ist eine alte Bühnenerfahrung,
dafs eine Posse entweder vollständig durchfällt oder einen
o-länzenden Erfol": hat." Im weiteren Verfolo- des Artikels wird
dann darauf hingewiesen, dafs gute Possen, da sie ein Spiegel-
bild des wirklichen Lebens seien, meistens nur in gröfseren
Städten entständen, ,,wo das Volksleben bewegt, schnell wechselnd
und eigentümlich sich gestalte." Auch sei für die Entwicke-
lung der Posse die grofse Stadt insofern Vorbedingung, als sie
eine besondere Bühne für sich verlange und man weder dem
Publikum zumuten könne, auf denselben Brettern, wo noch
eben „die klassischen Gebilde unserer Dichterfürsten erschienen
seien", Stücke wie „das Landhaus an der Heerstrafse" oder
den „Pachter Feldkümrael von Tippeiskirchen" darzustellen oder
zu goutieren. Die beiden Dinge, welche der Posse hier vorgeworfen
werden, Übertreibung in Situation und Charakteren und das
Streifen an das Niedrige und Gemeine im Menschen, sind jene
über das Wort und den BegrllT Posse. 41
beulen Eij^cnschaften, welche man noch heutzutaii:e ofemeinhin
mit dem Be<>;riffe der Posse verbindet und weisen deren man
sie eben zum bas j^enre der Poesie rechnet. Sind diese Eisten-
schaffen denn aber in der That so schlimm und so herabwür-
digend? Finden sie sich, frage ich zunächst, nicht in den aus-
gezeichnetsten Stücken der hervorra^fenden Komödiendichter aller
Zeiten und Nationen? Wenn in den „Vögeln" des Aristophanes
die Übers"dtti2:uno; der beiden wackeren Bürsfer Beschwatzefreund
und Hoffegut an dem politischen Treiben in Athen so weit geht,
dafs sie in eine Felseneinöde zum Vogel Wiedehopf flüchten,
mit den Vöi^eln ein Wolkenkuckucksheim ijründen und sich
selbst in Vögel verwandeln, ist das nicht „Übertreibung in
Situation und Charakteren"? Verdient es eine andere Bezeich-
nung, wenn Sokrates in den „Wolken" seine Phantastereien so
weit treibt, dafs er mit diesen luftigen Wesen selbst in Verkehr
tritt und dem Sohne des bei ihm Hilfe suchenden Strepsiades
mit seinen Sophistereien den Kopf derartig verdreht, dafs dieser
seinen eigenen biederen Vater durchprügelt? Ja man kann
sasfen, wo ist ein einzio-es Stück des i^rofsen griechischen
Komödiendichters, welches nicht eben solche hochgetriebene
oder übertriebene Situationen und Charaktere darbietet? Von
dem Streifen an das Niedrige und Gemeine im Menschen will
ich, was die Personen des Aristophanes betrifft, ganz schweigen.
Sie streifen nicht blofs daran, sie greifen oft derb hinein. Und
ißt dies bei den Komödien eines Shakespeare, eines Moliere
etwa anders? Ist das Benehmen Petrucchios gegenüber dem
trotzköpfigen Käthchen in „der Widerspenstigen Zähmung", ist
der Charakter des Haushofmeisters Malvolio in „Was ihr wollt",
sind die Doktoren in Molieres „Eingebildetem Kranken" und
dieser selbst, um aus den zahllosen sich hier darbietenden Bei-
spielen die ersten besten herauszugreifen, nicht alles solche über-
triebene, nach dem gewöhnlichen Mafsstabe gemessen unwahr-
scheinliche und unnatürliche Charaktere? Sie sind es so sehr,
dafs man sagen kann, keines der Stücke der genannten drei
grofsen Komödiendichter, die dadurch eben auch alle zu Possen
gestempelt werden,- sind ohne solche Überschwenglichkeiten.
Ja sie müssen es sein, weil eben solche sogen. Übertreibungen
notwendig zum Wesen der Komödie, naujentlich der höheren
42 Über Jas Wort und den Begriff Posse.
Komöilie gehören. Dieselbe erblickt eben die Dinge und Per-
sonen, ^velcllen sie strafend den Stempel des Lächerlichen auf-
drücken will, im Hohlspiegel der Phantasie, und indem sie sie auf
diese Weise ins Ungeheuerliche vergröfsert, handelt sie genau
nach den Gesetzen des Dramas, welches, da es sich mehr als
jede andere Dichtungsart an die Sinne, an die Augen und Ohren
der Menschen wendet, diesen daher auch alles möglichst drastisch
und plastisch, grofs und hervorspringend darzeigen mufs. Ist
es doch mit der Tragödie nicht anders ; denn die äufsere Gröfse
und der äufsere Glanz der Könige und Kaiser, Prinzen, Prin-
zessinnen und heldenhaften anderen Personen, mit denen sie es
zu thun hat, haben schlechterdings keine andere Bedeutung, als
Exponenten ihres inneren Wertes zu sein und dadurch das Un-
heil, welches sie anrichten oder welches sie trifft, desto augen-
fälHuer und erareifender zu machen.
Nicht minder zu entschuldigen ist es, dafs die Posse, wie
ihr vor«:eworfen wird, an das Niedri<];:e und Gemeine in der
menschlichen Natur rühre. Ja sie mufs es geradezu, wenn sie
ihrer Aufo^abe als Komödie o-erecht werden will. Um dies er-
sichtlich zu machen, ist es nötig, einen kleinen Streifzug in das
Ästhetische zu thun und das Wiesen des Komischen zu be-
zeichnen. Von diesem Wesen des Komischen sind schon viele
Definitionen und zum Teil in einem so hochtrabenden philoso-
phischen Jargon gegeben worden, dafs der natürliche Mensch
eine gewisse Scheu empfindet, überhaupt darauf einzugehen.
Ich will mich kürzer und einfacher fassen. Wie dasjenige tra-
gisch ist, was uns traurig, so ist das komisch, was uns lustig
macht. Traurig sind wir aber, wenn es uns übel, lustig, wenn
es uns ffut ero^eht. Nun liecrt es allcrdin";s nicht in der Macht
des dramatischen Dichters, es uns selbst wirklich gut oder übel
ergehen zu lassen, wohl aber uns Personen vorzuführen, welche
sich in einer üblen Lage befinden und aus Mitgefühl mit denen
wir traurig gestimmt werden, wenn ihre üble Lage eine unver-
diente, heiter aber, wenn sie verdient und dabei doch nicht so
ßchliram ist, dafs sie die in derselben Befindlichen geradezu zu
Grunde richtet. Das Bewufstsein, um Avie viel besser es uns
ergeht als jenen, durch irgend eine Inkonvenienz oder Aus-
schreitung in eine üble Situation Geratenen ist es, welches in
über das Wort und den Begrifl* Posse. 43
uns jenes behagliche Gefühl erzeugt, das wir Lustigkeit oder
Heiterkeit nennen. Idealer gestimmte Gemüter dürften geneigt
Bein, dies zu leugnen und der edlen menschlichen Natur wider-
sprechend finden. Unbefangene Dichter und Philosophen haben
es aber von jeher zugegeben. „Süfs ist es," singt schon
Lucretius im zweiten Buche seines Werkes de rerum natura,
„bei hoher See, wenn die Winde das Meer peitschen, vom
sicheren Lande aus der o^rofsen Mühe eines anderen zuzuschauen,
nicht," fährt er fort,
quia, vexari quemqnam, est jucunda voluptas,
Sed qiiibus ipse raalis careas, quia cernere suave est.
Schopenhauer, der unbefangenste der modernen Philosophen,
stimmt dem ausdrücklich bei. Das eigentliche Element und die
Wurzel des Komischen ist also die Schadenfreude. Nun giebt
es freilich einen doppelten Schaden, einen solchen, welchen der
Mensch erleidet, wenn er sich unberechtigten und tadelnswerten
Extravao'anzen hinoreo-eben hat, und diesen zu strafen ist die
Aufgabe der Satire oder der ofev/öhnlichen Komödie und des
Lustspiels, und einen Schaden, eine Enttäuschung, die uns
treffen, nicht weil wir einer tadelnswerten Neigung oder Rieh-
tunof nachsieoeben, sondern weil wir nur einem üjanz berech-
tigten, in der Menschennatar liegenden Streben gefolgt, mit
diesem Streben aber an den Grenzen, welche überall unserer
Natur gezogen sind, an dem gemeinen Gange der Dinge ge-
scheitert sind. Das Gefühl, welches ein solcher vergeblicher
Kampf eines berechtigten höheren Strebens mit der Unzuläng-
lichkeit der menschlichen Natur erzeugt, ohne gerade das Indi-
viduum wesentlich zu schädigen, ist der Humor, und dieser
Humor, der mit dem einen Auge weint und mit dem anderen
lacht, weint über jene Vereitelung unseres besten Strebens und
lacht über das Unverhältnismäfsige desselben zu unseren Kräften,
ist recht eiojentlich das AVesen der höheren Komödie oder der
Posse,- welchen deutschen Namen ich dieser höheren Komödie
eben, im Gegensatze freilich zu dem gewöhnlichen Gebrauch,
vindizieren möchte. Die obige Erklärung des Humors stimmt
auch mit der alten bekannten klassischen Definition des Wortes
überein, welche sich in Ben Jonsons Lustspiel: Every mau in bis
humour findet, und welche wnser verehrter Mitarbeiter H. Vatke
44 Über das Wort und den Begrifl' Posse.
neulich in seinem trefFlichen Aufsätze „Ben Jonson in seinen
Anrcin""en" wieder citierte. „Wenn irgend eine besondere Eigen-
echaft,'' helfet es darin, „so Besitz ergreift von einem Menschen,
dafö sie alle seine. Neigungen, seine Geister und Kräfte dahin
brincrt, in ihrem Zusammenflusse alle in einer Richtuno; hinzu-
Stürzen, das mag wahrhaft ein Humor genannt werden." Jener
zweite wesentliche Umstand zur Erzeugung der komischen Wir-
kung- ist freilich bei dieser Erklärung des berühmten englischen
Humoristen noch weggelassen, dafs nämlich jene von ihm so
geschilderte und in ihrer Entstehung detaillierte einseitige Rich-
tung: des Menschen in Konflikt gerät mit seiner eigenen oder
seiner Mitmenschen beschränkten Natur und dadurch, wie be-
merkt, jener lächerliche Gegensatz eines hohen Strebens und
einer niedrigen, unzulänglichen Kraft entsteht. Es ergiebt sich
hieraus eben, wie wesentlich die scharfe Hervorhebung dieser
Beschränktheit, schärfer ausgedrückt, dieser Gemeinheit und Nie-
drio'keit der menschhchen Natur der Komödie oder Posse ist.
Es erhellt daraus aber auch gleichzeitig, und mit dieser
freilich paradox erscheinenden Ansicht will ich meine gegen-
wärtiizen Ausführungen schliefsen, die eigentümliche Erscheinung,
dafs die Neigung zur Posse und die Pflege derselben gerade
bei den Völkern in den Epochen ihrer höchsten Kultur und
wenn sie die Höhe ihrer Entwickelung zu überschreiten be-
ginnen, hervorzutreten pflegt. Es soll ein Ausspruch Goethes
sein (ich selbst vermag ihn augenblicklich in seinen Werken
nicht zu finden), dafs er den Humor in der Litteratur nicht
liebe, weil er das Zeichen einer sinkenden Epoche sei. Mag
man von der Thatsache erbaut sein oder nicht, sie drängt sich
doch sichtlich der Beobachtung entgegen. Als die Griechen
nach langiem lebhaften Ringen nach einer freiheitlichen Gestal-
tun^»- ihrer Politik, und trotz desselben in eine immer wüstere
und wechselvollere Demokratie gerieten, so dafs den besten
Bürgern das Leben in ihrer Hauptstadt unleidlich erschien, da
dichtete ihnen ihr ungezogener Liebling der Grazien seinen
Vogelstaat; als alles ihr Philosophieren ihnen kein Heil, sondern
nur immer nebelhaftere und unfafsbarerc Phantasiegebilde bringen
woUte, da hält er ihnen als Spiegelbild ihres Treibens seine
Wolken- vor; alc ihre Litteratur von den Idealen eines Aschylus
n
über das Wort und den BegrifT Posse. 45
und Sophokles zu den flachen Wahrheiten eines Euiipides
herabgestiegen war, da quakten ihnen seine „Frösche" diese
Thatsache entgegen. Den Römern, welche es im Drama, also
auch in der Komödie, niemals zu eigenen selbständigen Lei-
stun2:en orebracht haben, hielt Horaz in seinen unübertrcfFlichen
Episteln und Satiren auf der Höhe ihrer staatlichen Entwicke-
lung den Humor ihrer Lage vor. AVenn w^ir in Shakespeares
und Molieres Stücken weniger jenen Humor über die Unlös-
barkeit staatlicher, sittlicher und religiöser Probleme, welcher
der höheren Komödie eigen ist, entwickelt sehen, so dürfte die
Signatur ihrer Zeitalter, welche eben noch aufstrebende, nicht
durch die Überfülle der Kultur übersättigte waren, eine Ur-
sache davon bilden.
Paradoxer noch als das bisher Gesagte erscheint es, wxnn
man in unserer Zeit, auf der glücklichen Höhe einer nach so
lanjjem Streben erreichten Machtstelluno; Elemente zu solchem
Humor, zu einer possenhaften Stimmung, wie die oben ge-
schilderte, finden wollte. Und doch ist eine Neigung dazu, doch
sind alle Bedingungen zu einer höheren Gestaltung der Posse
bei uns vorhanden. Man beobachte, wie bei immer gröfserer
Ablenkung vom Idealen, ja bei einer Geringschätzung desselben,
alles, im Leben nicht weniger als auf den Brettern, welche
dieses Leben bedeuten sollen, nach dem Heiteren, Amüsanten,
Possenhaften förmlich hascht und lechzt. Wenn man Geleo^en-
heit hat, das Publikum in unseren Theatern häufiger zu beob-
achten, so sieht man, wie jede lustige, humorvolle Wendung bei
den Vorstellungen förmlich wie ein Labsal, eine Oase nach der
Wanderuno' durch ernstere oder auch lanorweilio-ere Strecken
begrüfst wird. Nähern wir uns auch schon einem Aristopha-
nischen Zeitalter des Humors, d. h. der über alle Enttäuschungen
dieses Erdenlebens durch ein bitteres Gelächter sich tröstenden
Posse? Enttäuschunoen dieser Art freilich, o-crade auf der
Höhe der Kultur, auf der wir uns befinden, sind uns nicht er-
spart geblieben, und vielleicht datiert daher die pessimistische
Strömunof, welche oferade die Werke vieler der schärfsten Denker
der Neuzeit durchzieht. In so vieler Hinsicht sind wir trotz
redlichsten Bemühens der Faust, welcher sieht, „dafs wir nichts
wissen können."
46 Über das Wort und den BegrilT Posse.
Wenn wir alle philosophiöclien Systeme, von Heraklitos
dem Düsteren bis auf Ed. v. Hartmann, durchstudiert haben,
so wissen wir von denjenigen Fragen unseres Daseins, die uns
am meisten interessieren und die uns am nächsten liegen, von
dem Schöpfer und der Schöpfung dieser Erdenbühne, von dem,
wie es sein wird, w^enn für den einzelnen unter uns die Lampen
derselben erlöschen, von jenen leuchtenden anderen Welten,
welche sich über unseren Köpfen drehen, wenn wir abends nach
Hause wandern, von allen diesen Dingen wissen wir dann so
viel wie vorher, das heifst nichts. Der mancherlei Enttäu-
schungen, welche das 19. Jahrhundert hinsichthch der freiheit-
lichen Gestaltung des politischen Lebens gebracht hat, will ich
irar nicht o-edenken. AVie hat unser transrhenanisches oder
transvoofesisches Nachbarvolk, seitdem es aus den Blutströmen
seiner ersten grofsen Revolution der Menschheit die kostbaren
Gaben einer freieren Humanität, einer den Menschenrechten
entsprechenderen politischen Entwickelung dargebracht hat, in
immer neuen Revolutionen sich abringen müssen, und wohin ist
dasselbe mit diesen Kämpfen endlich gelangt? Sind das, wird
man uns freilich fragen, Gedanken der Lust, Gefühle der Heiter-
keit, Stoff für Possen, höhere oder geringere, welche uns durch
solche oreschichtliche oder kulturhistorische Enttäuschuno^en ein-
es o
geflöfst und dargeboten werden? Mufs niclA die Menschheit,
indem sie dadurch an ihre Grenzen erinnert wird, vielmehr
Trauer und Schmerz emj)finden? Gewifs mufs sie es. Aber
ein so dringendes Bedürfnis für das Dasein ist andererseits in
jeder Lage, um eben nur darin bestehen und dauern zu können,
gleichsam wie das Licht für den Äther, für die Menschennatur
die' Freude und die Lust daran, dafs sie auch jene demütigenden
Empfindungen über die Grenzen und Mängel desselben schliefs-
lich kleidet in die Formen des Humors, desjenigen Humors,
der jene Jeaune qui pleure und »Jeanne qui rit des französischen
Lustspiels zugleich ist, und zuletzt, künstlerisch geleitet und
gestaltet, alle seine Empfindungen ausströmt und ergiefst in
dein glänzenden oder unscheinbaren, goldenen oder bleiernen,
wie immer und aus welchem Stoffe gebildeten Gefäfse der
Posse.
Dr. ßiltz.
A i m o n de V a r e n n e s.
Die Zahl derer, die, sei es in kurzen Notizen oder in län-
geren Abhandlungen, dem Dichter des Roman de Florimojit,
jenes altfranzösischen Gedichtes, welches eine Schilderung sagen-
hafter Vorgeschichte der makedonischen Könige enthält, ihre
Aufmerksamkeit geschenkt haben, ist gewifs keine geringe;
indes sind ihre Angaben meist so willkürlich und tragen so
deutlich den Stempel eines unkritischen Verfahrens, dafs der
wissenschaftliche Wert der von ihnen gewonnenen Ergebnisse
nicht eben hoch ano:eschlao;en werden darf. Ob unter den von
Borel in seinem Tresor des recherches et antiquites gauloises
et frauQoises, der von 1655 — 1667 erschien, s. vv. seiieschal und
drudus geojebenen Bezuostellen die eine oder die andere auf
empfehlenswerterer Basis beruht, konnte ich nicht ermitteln, da
mir jenes Werk , nur in der neuen von Favre besorgten und
1882 zu Niort erschienenen Ausgabe vorgelegen hat, die selt-
samerweise einio:e in der Orio^inalaus^abe stehende Abband-
lunofen und weitere Ausführun^^en zu einzelnen Artikeln, darunter
auch wohl die hier in Betracht kommenden Stellen, unterdrückt
hat (vergl. Bd. I, S. II). Indessen wird auch auf das daselbst
gelieferte Material kein besonderer Wert zu lesjen sein; Paulin
Paris, Manuscrits frangais III, S. 52 hat bereits auf darin ent-
haltene Irrtümer hingewiesen. P. Paris ist denn auch der ein-
zige, der (1. c. S. 9 — 53) nach bestimmten kritischen Gesichts-
punkten verfahren und d-aher auch zu einigen richtigen Resultaten
gelangt ist. Aber auch an seinen Ausführungen wird sich
48 Äimon ile VarenneS.
inancheilei aussetzen lassen, und ille Untersuehung einiger Piu^kte
auf der Grundlacre eines aus":edelmteien handschriftlichen Ma-
cs o
terials und unter Heranziehunoj umfano^reicherer litterarischer
Hilfsmittel wird dieselben in einem ganz anderen Lichte er-
scheinen lassen, als sie von P. Paris gesehen wurden. In der
Bezeichnuno: der Handschriften schliefsen wir uns an E. Steno-el
an, der dieselben in seinen Mitteiluns-en aus französischen
Handschriften der Turiner Universitätybibliothek (Halle 1873,
S. 41) in folgender Weise angeordnet hat: A = jMs. i\\ 353
(alt 6973); ß = iMs. fr. 792 (alt 7190--^); C = Ms. fr. 1374
(alt 74983);* D =^ Ms. fr. 1376 (alt 7498^); E r= Ms. fr. 1491
(alt 75592); F = Ms. fr. 15101 (suppl. fr. 413); G = Ms.fr.
24 376 (La Vall. 47), alt 2706 (vergl. De Bure Cat. d. 1. Bibl.
de la Valllere II, 164); H = Ms. Harl. 4487 (vergl. Michel,
Kapp. 98); I = San Marco 22** (vergl. Champollion Figeac,
.Mel. bist. IH, 369). Die Turiner Handschrift (Ms. fr. 27, jetzt
L. H, 16, alt g I, 41) bezeichnen wir mit K. Stengel nennt
dann die beiden Prosabearbeitungen Ms. fr. 1490 (alt 7559)
und Ms. fr. 12 566 (alt suppl. fr. 199).*** Über die von ihm
* Vergl. Fr. Michel, R. d.i. Violette, Paris 1831, S. XL— XLIV; Parise
la Duchesse ed. Guessard et Larcliej pref. S. XIII.
** Vergl. Paul Lacroix, Mss. des Bibliotheques ditalie 1839, S. 180.
Jacob, Dissert. sur quelques points curieux de l'histoire de France et de
rhist. litteraire VII, 179. Macaire ed. Guessard pref S. CII u. CVI,
*** Beschreibungeil bezw. Spuren sonstiger Handschriften unseres Ge-
dichtes liefsen sich an folgenden Stellen entdecken: 1) bei Anton-Francesco
Frisi in den Memorie storiche di Monza e sua corte etc. Milano 1794,
Bd. III, S. 214, Nr. CXCV: Poema^ o rotnanzo, detto di Florimondo in 4^,
scgn. R. Ill^ del See. XIIJ^ scritto von lingua Protienzale (Frisi meint Alt-
franz.) in doppia coloiina, di foglj LXVI. Er verweist ungenau auf die
Turiner Handschrift bei Pasini, Bibliotheca Regia Taurinensis pag. 468
(=: Bd. II, S. 468); mit seinen sonstigen Ausführungen werden wir später
zu rechnen haben. 2) Bei Antoine du Verdier, Bibl. franc. Bd. I, S. 697 :
Le Pt.oman de FLoritmmd, en rinie ecrit en /nain, en la Bidliotheque du Capi-
taine Sala^ a Lyon. 8) In der Aufzählung der Lin'es en Fran<;ois escriptz
a la main^ a Tors^ devont Vostel de Monseigneur de Diinois {Extroit du
Ms. de la Bihl. roy. No. Peih. S4ö2). bei Le Roux de Lincy, Les Cent Nouv.
Paris 1841, Bd. I, S. LXXI wird Le Duc Florimons erwähnt, h) Eine Ab-
schrift der Venediger Handschrift (l) von der Hand des St. Palaye befindet
sich zu Paris auf der Arsenalbibliothek Belles-Lettres No. 179 (3320). Vgl.
St. Palaye, Dict. Bd. X, Liste des principaux ouvrages S. 27 (Hist. litt. XV,
S. 490). 6) Eine Prosaversion auf der Arsenalbibliothek zu Paris Nr. 217
befindlich nennt Hsenel, Catalogi Hbrorum manuscriptorum qui in Biblio-
thecis Galliai, Helvetia?, Belgii, Britanniae M., Hispaniie, Lusitaniaß asservan-
tur, Lipsiae 1830, S. 352: Roman du Chevalier Florirnont; lettre du pretre
Jean ä Vempereur et au roy de France; vel. 4.
Aimon de Varennes. 49
erwähnten Drucke vgl. Brunet, Manuel du Libralrie s. v. Flori-
mont; Antoine du Verdier, Bibl. frangoise Bd. I, S. 697
(= Bd. III der Bibliotheques fran^oises de la Croix du Maine
et de du Verdier etc., Paris 1872—73); Grässe Ilg,!, S. 448;
llist. litt. Bd. XV, S. 488. Es existiert in der Bibl. Harl.
noch ein gleichfiiUs aus der Bibliothek des Nicolas Joseph
Foucault, Comitis Consistoriani, stammende Handschrift Cod.
See. XIV, Mus. Brit. Bibl. Harl. 3983, PL. LXIX, A, von
der ich die Kollation besitze; der Schlufs lautet: Explicit li
ronmans de florimont Cil qui foit ait hien en ce mont Cil qui
lescript en j^ci'i'cidis soit de p ihiicrist eslis Et de hien faire ne re-
croie IJiücrist tiengne en droite voie De desuoier sire le gar de Gar
dou tont satent en . . . .? Lau mil l>CC (das erste dieser drei CCC
ist in der Handschrift nur verstümmelt vorhanden) et .i\v et trois
./. mois deuant la sainte crois Fist thomas le hucJiier cest Hure
Mult fu delie que en fu deliure Le tiers iour de lassumption acompli
sa deuotion. (H2.)
P. Paris hat seinen Angaben eine Handschrift (A) zu Grunde
gelegt, die er trotz vieler Nachlässigkeiten des Schreibers für
die sprachlich beste und zugleich älteste Darstellung des Textes
hält, die aber thatsächlich, wie vor Paris schon Ginguene, Hist.
litt^XV, 486 angiebt, sicher erst im 14. Jahrhundert entstanden
ist. Dies läfst sich, abgesehen von dem Charakter der Schrift,
auch an sprachlichen Eigentümlichkeiten nachweisen. Neben
zahlreichen metrisch fehlerhaften Versen und sonstiojen argen
Verstümmelungen begegnen Fälle, in denen die Imperfektendung
-olent bereits einsilbig gebraucht ist, z. B. lapeloient le bois del lion
fo. 2c;^9?ani/r^ iür planeure : .II. jonrnees 2^(^^ auenture Pooit durer
cele planure fo. 2 c (poid aler la pleneure D) u. s. w. Unter
den übrigen Handschriften, die zum gröfsten Teile dem 14. Jahr-
hundert angehören, dürfte wohl keine gröfseren Anspruch darauf
erheben, als die älteste und beste Überlieferung unseres Ge-
dichtes zu gelten, als das von Stengel mit F bezeichnete Ms. fr.
15101 (suppl. fr. 413). Allerdings hat das Ms. auf den ersten
Blick und bei einer weniger eingehenden Prüfung nicht viel
Empfehlendes für sich, und daraus mag sich denn auch erklä-
ren, dafs demselben, wiewohl hier und da citiert, bisher noch
von keiner Seite, soviel ich sehe, die ihm gebührende Beachtung
Archiv f. n. Sprachen. LXXIII. ' 4
50 Aimoii de Varennes.
und Würdigung zu teil geworden, — auch ist dasselbe bis auf
den heutigen Tag unpaginiert. Die ersten acht Blätter und das
letzte Blatt müssen vielleicht nicht allzu lanjre nach Entstehun«;
der Handschrift durch irgend welche äufseren Einflüsse zerstört
worden sein ; die vernichteten Folios wurden später ersetzt
durch einen Schreiber, dessen bessernde Hand auch im übrigen
Teile der Handschrift bei der Wiederherstellunor einiger ver-
wischten Lettern sichtbar wird. Die Unechtheit dieser späteren
Hinzufüo:unoren läfst sich, ab<]jesehen von der wenis^er ver^^ilbten
Färbuno; des Peri2:amentes und dem verschiedenen Charakter
der Schrift, auch an einio;en lautlichen Abweichunoen mit Leich-
tigkeit erkennen. Die Infinitive und Farticipia der ersten Kon-
jugation haben in den unechten Teilen fast durchgängio- die
Endungen eii\ ei{s), während der Schreiber des echten Teiles
entschieden er^ es bevorzugt ; einem dort stets gebrauchten hoin
steht hier überall die Form hoen gegenüber, ebenso verhalten
sich faisce und jascet^ apeler aj^elent und ajialer aj^alent^ fault und
fat, fauble und fahle u. s. w. Es ist anzunehmen, dafs dem
späteren Überarbeiter bei seiner ergänzenden Arbeit die ver-
derbten Folios des Originals noch vorgelegen haben und dafs
er versucht hat, den von denselben gebotenen Text sachlich
und mundartlich nach Möglichkeit wiederherzustellen. Dafs
einem Schreiber des 13. Jahrhunderts, der nach einer gewifs
arg zerstörten Vorlage zu arbeiten hatte, dies nicht durchweg
gelang, und dafs er seine ihm anhaftenden sprachlichen Eigen-
tümlichkeiten dabei nicht ganz unterdrückt hat, ist nicht zu ver-
wundern. Immerhin wird man, gestützt auf den von ihm ge-
botenen Text, der ursprünglichen Form der zerstörten Teile
des Gedichtes am nächsten kommen. Die Mundart der echten
Handschrift trägt, wie ich in der Ztschr. f. rom. Phil. VII, S. 63
bemerkt habe, einen hervorstechend lothringischen Typus, doch ist
die Mischung mit weiter westlichen Sprachformen eine derartige,
dafö eine strengere Lokalisierung der Handschrift die Feststel-
lung ihres Ursprunges in der Umgegend des an der Grenze der
heutigen Champagne gelegenen Städtchens Varennes zum wahr-
scheinlichen Ergebnis haben dürfte, und diese Erfahrung würde
zugleich erweisen, dafs dieses Varennes der Geburtsort unseres
Dichters ist. Es ist damit noch nicht gesagt, dafs wir in un-
Almon de Varennes. 51
serem Ms. das Archetypon oder die Handschrift des Dichters
selber zu sehen hätten: diese Annahme wird verhindert durch
einige sachliche Unklarheiten und Mifsverständnisse, die hin
und wieder begegnen. Doch kann als sicher gelten, dafs der
Schreiber, der, nach einer Marginalglosse fo. 79 zu schliefsen,
sich vielleicht Tkiohalz le se ... .? nannte, dieselbe Mundart
sprach wie der Dichter, und dafs sich beide auch der Zeit nach
ziemlich nahe gestanden haben müssen. Jedenfalls gebührt un-
serer Handschrift in der Kritik des Textes der hervorragendste
Platz. Eine Zusammenstellung der mundartlichen Eigentüm-
lichkeiten derselben liegt an dieser Stelle nicht In unserer Ab-
sicht, doch sei es vergönnt, hier auf einige Reime hinzuweisen,
die die Ürsprünglichkeit unserer Handschrift den übrigen Hand-
schriften oreo;enüber zur Genüge darthun werden. Eine Eigen-
DO O O
tümlichkeit des lothringischen Dialektes ist, wie Friedr. Apfel-
stedt, Lothr. Ps. S. XXXVHI, an der Mundart von Metz
nachweist, die Verstummung des auslautenden r, so dafs z. B.
der Infinitiv und das Part. pass. der ersten und zweiten Kon-
jugation in der Aussprache zusammenfallen. So erklären sich
denn in Ms. F Reime wie : en lor lit sen sen uont reposer Poe
ont dormit et mit pense fo, 44 a, wo die anderen Hss. se sont
rej)Ose ändern; oder qant ont maingie si sont leite Li un salerent
deporter fo. 63 c, wo die anderen Hss. teils au disner, teils si fönt
leuer oder laver für si sont leue setzen ; oder li dus florimonz fait crier
Que li somier soient trosse fo. 88 b, wo die anderen Hss. que il
facent soumiers trousser ändern. Auch bin ich geneigt, den Reim
2'>er foi : avoir fo. 77 a dem Dichter zulieb, der seine Mundart,
wie wir später sehen werden, so wacker verteidigt, unange-
fochten zu lassen, wiewohl hier so leicht, nach dem Vorgange
anderer Hss., in por voir zu ändern wäre. Von Wichtigkeit
ist auch der Reim li rois en une chamhre entra\it~\ A sa fille q
mit li p)laist fo. 96 c, wo die anderen Hss. vait : p>lait setzen.
Nicht blofs in dem unechten Teile begegnet eine Bildung der
3. Pers. Plur. Fut. auf ant^ und zwar im Reime: le treu nos
aporterant Si com il faxoient deuant fo. 3 b, eine Lesart, die nur
Mss. C G beibehalten, während die anderen Hss. sich genötigt
sehen, aj^orteront : tenront B oder aporteront : ont D E Ho zu
schreiben; A setzt aporteront : deuant-, auch der echte Teil
52 Aimon de Varennes.
bietet für diese Eigentümlichkeit ein Beispiel; .V. roiame len
seruirant Bleu seront riclie li enfant fo. 12c, wo die anderen Hss.,
mit xA^usnahme von C, entsprechende Änderungen eintreten
lassen.
Ein beträchtlicher Teil der unklaren und verkehrten Auf-
stellungen über die unseren Dichter und sein Gedicht betreffen-
den Daten haben in der frühzeitig zertrümmerten Textüberliefe-
rung ihren ersten Ursprung gefunden und sind aus den zahl-
reich verbreiteten Hss. auch in die Berichte mancher Litterar-
historiker übergegangen. Für die Bestimmung der persönlichen
Verhältnisse unseres Dichters kommen drei Stellen des Komans
in Betracht: zunächst der Anfang und das Ende, die in dem
von uns als Grundlafje der Uberlieferunoj bezeichneten Ms. F,
wie oben ausgeführt worden, unecht sind. An diesen beiden
Stellen zeigen denn auch die verschiedenen Handschriften die
weitoehendsten Abweichuno;en voneinander, und diese Thatsache
läfst sich nur im Zusammenhano;e mit der frühzeitis^en Zer-
Störung der betreffenden, später notdürftig wieder hergestellten
Teile der Urhandschrift F erklären. An der dritten Stelle
Ms. F fo. 80 a ff. zeioren die verschiedenen Hse. viel s^röfsere
Übereinstimmung — und mit Hilfe der hier gebotenen An-
gaben wird sich ein grofser Teil der durch die beiden anderen
Stellen veranlafsten Irrtümer richtigstellen lassen, besonders
weil wir es hier in F mit dem unstreitig echten Texte zu thun
haben.
Was zunächst den Namen des Dichters angeht, so wird
derselbe fast einstimmig unter der Form Aymes bezw. Aymon
überliefert. Abweichende Schreibungen sind Haimes, Haimon DC
8. V. festa convivia ; Ilaime C ohne flexivisches s wird gerecht-
fertigt durch allerdings selten begegnende Verse wie: ayme en
ait trouei une brauche Ms. F fo. 80 a oder on ayme ot iai maint
ior esteit fo. 2 c; in Ms. F begegnet Aigmes neben häufigerem
Aymes; doch dieselbe Handschrift schreibt auch aigmet oder
ainmet = amat. Bei St. Palaye Bd. X, Liste des principaux
Ouvrages S. 1 wird die Namensform Aymar erwähnt; auch
Frisi a. a. O. nennt ihn ^^Aymer, o meglio Aymes^^. Nicht so
glimpflich wird mit des Dichters Zunamen verfahren ; derselbe
begegnet in drei oder noch mehr verschiedenen Formen. Auf
Aimon de Varcnncs. 53
dem inneren Deckblatte des Ms. E findet sich von moderner
Hand die Angabe, der Dichter helföe in einem Ms. Aymes de
Varentines; du Meril, Flore et Blancheflor S; CXCVI Anm.
nennt ihn ebenfall?, gestützt auf Ms. D, ,.At/mes de Varennes
Oll pliitot de Varentines'''. Noch weiter geht Dinaux, Trouv. Brab.
S. 53; derselbe hält die Form Varentines für unkorrekt, ändert
r in l und gelangt so zu Valentines, eine Bildung, die er an-
standslos für die alte Benennung der Stadt Valenciennes aus-
giebt. Den ersten Anlafs zu dieser in einigen Handschriften
(vergl. A fo. 1 a, geändert fo. 28 d, und D fo. 1 b, 64 b) enthal-
tenen irrigen Lesart scheint die verderbte Stelle in Ms. F fo. 1 b
sreji^cben zu haben, aus der ich varatru oder dergleichen (nach
du Meril a. a. O. naratbi) herausgelesen habe. Schon de Bure,
Cat. Vall. H, 164 hat die Lesart Varentine als irrig bezeichnet,
und dies wird zur Evidenz erwiesen durch Ms. fo. 80 a, wo
der Dichter Ai/nies de naranes und damit in Übereinstimmung
von den anderen Hss. aufser D Aymes de Varennes genannt
w'ird.* Wenn dem Dichter von einer Reihe Berichterstattern der
Name Aijmon de Chastillon beigelegt wird,** so geben die Hand-
schriften keine unmittelbare Veranlassung zu dieser Bezeich-
nung, und besteht hier der Irrtum darin, dafs eine der zahl-
reichen in Frankreich gelegenen Städte Namens Chastillon, die
der Dichter nur vorübergehend als den Ort, an welchem er sein
Gedicht verfafst habe, bezeichnet, ohne jede weitere Berech-
tiiiuno; ihm als Beiname gegeben wird.
Bei der Erörteruno^ der Zeit, in der unser Dichter o^elebt
hat, lassen sich zunächst einige Bemerkungen an die zuerst
von De Bure Cat. d. 1. Vall. U, S. 166 gemachte und später
von P. Paris Ms. fr. IIT, 94 — 95 weiter ausgeführte Beobach-
tung knüpfen, nach welcher der Roman d^Aliicandre des Lambert
li Tors der Zeit nach vor dem Roman de Florimont zu setzen
* Aimes de Varnies le retrait Ms. E fo. 1 b, Haimes deleneos nous
dist ib. fo. 58 c: Varienes G fo. 1 a, fo. 53b.
** Vergl. Glnguene, Hist. litt. XV, S. 490; Amaury-Duval, Hist. litt.
XIX, 678 Äinion de Varannes ou de Chastillon; so auch Reiffenberg, Phil.
Mousk. II, S. CCXCIV; Galland, Mein, de l'Acad. des Inscript. Bd. II (cf.
P. Paris, Mss. fr. III, S. 51>; Antoine du Verdier a, a. O. I, S. 176; Adal-
bert Keller, Roravart S. 97, der sich auf Jacob, Dissert. sur quelques points
curieux de l'histoire de France et de Thistoire litt^raire VIL 179 beruft.
54 Aimon de Varennes.
sei. De Bure beruft sich auf folgende Worte Aimons: Signor
ie sai ai<sez de /i Que dalixandre auez oi Mai ne sauez ancore pas
Dont fiit sa meire olipias Del roi jiheUpon ne sauez Qtä fiit ses
pcire dont fut nez Ms. F fo. 1 d. Allerdings geschieht in dem
Roman d'Alixandre der Lebens Schicksale Philipps und der
Olympias nur vorübergehend Erwähnung, und Aimon hat eich
möo-licherweise mit obigen Worten auf die Unvollkommenhcit
der dort gemachten Angaben berufen. Wenn nun aber P. Paris
a. a. 0. meint, iVimon habe an einer anderen Stelle daran er-
innert, dafs man auch im Roman d'Alixandre erfahre, wie
Olympias mit Unrecht angeklagt worden und wie Alexander
an Nectanabus Rache genommen, so ist zu bemerken, dafs dies
bei Aimon durchaus nicht in Form einer ausdrücklichen Hin-
weisuniT auf den Roman d'Alixandre j^esehieht. Der Dichter
erzählt, wie der flüchtige Nectanabus nach Griechenland gekom-
men und dort Lehrer Alexanders geworden sei, und fährt dann
fort : les gens en dissoient folie Que olipias fut samie Alixandres ses
fils estoit Mai eil mantoit q le dissoit Grant mensonge fut con le
dist Car Alixandres puels losist Mult dist on de mal per le mont
Ms. F fo. 34 c. Doch nicht blofs in den branches des ge-
nannten Alexanderromans (vergl. ed. Michelant 4, 25 ; 9, 3 ff.)
wird eine Ehrenrettung der Olympias versucht, sondern da-
durch, dafs bereits Alberic de Besanc^on die seit dem Pseudo-
callisthcnes verbreitete und in allen Litteraturen des Morgen-
und des Abendlandes* als Thatsache anerkannte Überlieferung
* Zur Litteratur der Sage vom Nectanabus konnte ich, abgesehen von
den in der Praf. zu der Ed. des Pseudocallisthenes von Carolus Müller in
<len ReUqua Arriani et scriptorum de rebus Alexandri M. fragmenta etc.,
Parisiis 1846, in Zachers Pseudocallisthenes (1867) und E. Rhodes „Der
griechische Roman und seine Vorläufer", Leipzig 1876, S. 180 fl". gelieferten
Beiträgen, folgende Stellen entdecken. Im Sinne des Pseudocallisthenes
wird die Sage erzählt bei Photius, Bibliotbeca ed. Immanuel Bekker, Berolini
1825, S. 148a 21; Vincentius Bellovacensis, Spec. Hist., Duaci 1624, lib. IV,
S. 117 — IIH (vergl. auch Malus, Prasf. zu Julius Valerius S. XIV); auch die
lateinische Version des Qualichino d'Arrezzo (erste Hälfte des 13. Jahrh.),
von der A. Krefsner H. A. G8 (1882), S. 29 (cf ßrunet I, S...60) den An-
fang mitgeteilt hat, erzählt die Sage nach der gewöhnlichen Überlieferung.
Nicht in diesen Zusammenhang gehört die lateinische Alexandreis des Gaultier
de Chastillon (gegen 1180, cf. P. Paris, Mss. fr. III, S. 90), der nicht, wie
Krefsner a. a. O. meint, auf den Archipresbyter Leo, sondern auf Curtius und
Justinus zuriickgeht, vgl. Michelant, R. d'Ahx. Vorrede, S. XVIII; ten Brink,
Engl. Litt. S. 232; Chassang, Hist. d. Roman 1862, S. 442; auch Bojardo, Orl.
Aimon de Varenncs. 55
von der Vcrfülirung der Olynipias durch den ägyptischen Köni_
und Zauberer Nectanabus als schnöde Lüge brandmarkt, wird
der Versuch, den gefeierten Helden Alexander von dem Vor-
wurfe einer illegitimen Abkunft zu reinigen , geradezu zum
charakteristischen Zuoe sämtlicher französischen Bearbeiter der
Alexandersage, zu denen wir Aimon de Varennes in gewissem
Sinne füglich rechnen können.*
Dafs Alberic, dem sich auch hierin sein deutscher Nach-
ahmer, der Pfaffe Lamprecht, eng anschlielst, ** der erste ge-
inani., canto XXX, 22 ; so auch die englischen Bearbeitungen der Alexandersagc,
vgl. ten Brink, Engl. Litt. S. 301 ; von späteren englischen Bearbeitern sind zu
nennen: John Gower, Confessio Amantis ed. Reinhold Pauly, London 1857,
Bd. 111, S. 61 u. 128, der einige von der sonstigen Gestalt der Sage ab-
weichende Züge entliält ; besondere Eigentümlichkeit zeigt auch in einer
mittelenglist'hen Bearbeitung der Historia de excidio Trojie des Phrygiers
Dares eine Stelle, in der lies Neptanahus (diese Namensform begegnet auch
sonst) und der Olynipias Erwähnung gethan wird, die sich aber nur in Ms.
Marl. f^25 findet im Gegensatz zu Ms. Lincoln's Inn 150 und dem latein.
Original, vergl. H. A. LXXII, S. 25; das von Büchner, Gesch. d. Engl.
Poesie, Darmstadt 1855, S. 98 erwähnte Gedicht des Nicolas Grimoald
(zweite Hälfte des 16. Jahrh.) ü?er Fall des ägyptischen Astronomen Zoroas.
Von den byzantinischen Chronographen erzählt z. B. Michaelis Glycas An-
nalium Pars II ed. J. Bekker (bei Niebuhr, Corp, Script. Hist. Byzant.),
Bonn 1836, S. 267 die Überlieferung als Thatsache; mit weniger Bestimmt-
heit Georgius Syncellus, Chronogr. ed. Dindorf (Niebuhr 1. c.) Bd. I,
S. 486 — 487, der auch die Überlieferung erwähnt, nach welcher Nectanabus
nach Äthiopien floh ; und mit aller Vorsicht fügt Cedrenus (Niebuhr a. a, O.)
Bd. I, S. 264, 8 IF. seiner Darstellung die Bemerkung hinzu: JwSwqos Se
fr^oiv ort, Idle^av^QOs «1 'Hoay.Xiovs x6 ttoos Ttar^os elly.e ysi^os, ttqos
fitirobs Ss ^laxiScov.
* Nicht nur die wahrscheinhch auf der Grundlage des französischen,
von Lambert li Tors und Alexandre de Bernay verfafsten Alexanderliedes
auf Befehl Johanns, von Burgund (Jean sans Peur, f 1419) in Prosa ge-
schriebene Histoire d'Alixandre des JOHANNES VVAÜQVALIN (Jean
Fauquelin, Hist. litt. XV, S. 163) schliefst sich in der Darstellung der Ge-
burt Alexanders und in der Beurteilung der daran geknüpften schlimmen
Gerüchte den in ihrem Vorbilde zum Ausdruck kommenden Anschauungen
an, sondern auch der ungenannte Verfasser einer jedenfalls nach 1466 in
französischer Prosa geschriebenen und von jener Quelle offenbar ganz un-
abhängigen Geschichte Alexanders verhält sich der Sage von der Vater-
schaft des Nectanabus gegenüber durchaus ablehnend, und zwar unter Hin-
weis auf die heilige Schrift (1. Maccab. 1, v. 1), wo Alexander ausdrück-
lich Phihpps Sohn genannt werde. Vergl. Beiträge zur älteren Litteratur
oder Merkwürdigkeiten der Herzogl. öß'entl. Bibliothek zu Gotha, hrsgb.
von Fr. Jacobs und F. A. Ukert, LeijJ^ig 1835—38, Bd. I, S. 371—415.
** Man vergl. die Worte Alberics : Dicunt nlquant estrohatour Quel reys
fud filz d'encantatoiir. Mentent, fellon loseng et'mr ; Mal en credreyz nee un
de lour ; Qu\mz fud de ling fTenperatour Et filz al rei Macedonor (Paul
Heyse, Rom. Inedita, Berlin 1856, S. 3—6) mit den Worten des Pfaflfen
Liimpreclit: noch sprechint manige lugenere Daz eines goucheleres sun icere
56 Aimon de Varonnes.
wesen ist, der den Glauben an jene, aus ägyptischem Lokal-
patriotismus entstandene Fiktion zu erschüttern versuchte,*
ohne dalß ihm seine Quelle, die bisher unveröffentlichte soge-
nannte ITistoria de prceliis des Avcldpreshyter Leo (erste Hälfte
des 10. Jahrh.) darin vorausgegangen wäre, läfst sich schliefsen
aus dem bei Pertz, Monumenta VIII, S. 62 — 77 mitgeteilten
Ed'ceq^üun de Vita Alexandri magni aus der Feder des latei-
nischen Chronisten Ekkehardus Uraugiensis, der ebenfalls auf
den Archipresbyter Leo zurückgeht und zwar auf ziemlich
reiner Quelle beruht (vergl. Zacher, Pseudocallisthenes S. 109),
die Überlieferung der Sage von der illegitimen Geburt Alexan-
ders aber noch ganz in dem Stile des Pseudocallisthenes vor-
träf^t. Aimon scheint nun nicht blofs einer vielleicht seit Alberic
in Frankreich allmählich herrschend gewordenen Anschauung
oder dem Zuge seines Herzens gefolgt zu sein, wenn er jene
Tradition als unwahr zurückweist, sondern sein dabei beob-
achteter Gedankengang scheint in der That in einem gewissen
Zusammenhange zu stehen mit Kom. d'Alix. 9, 3 fF. Bei Aimon
kommt Nectanabus nach Griechenland und wird Lehrer Alexan-
ders, daran schliefst sich die Bezeichnung seines Verhältnisses
zu Olympias als Lüge, die erwiesen sei durch den Umstand,
dafd er später seinen Tod durch Alexander fand. So auch im
Rom. d'Alix. 9, 3 fF. : une grant piece apres c Alixandres fu 7ies,**
Alexander, den- ih ü von nagen Si liegent alse hose zcujen Alle di is ie ge-
dächten Wände er iras relite kunincsluhte Sulhe lugenmere Sulen sin iinmere
Jeqelichen frumen man Sin r/eslecJde ih tcol gcreiten kanr Sin geslehte icas
herilch etc.l, vergl, A. Rochart, Pfeiffers Germania I, S. 284.
* Auch der Verfasser des altspanischeii Alexanderliedes (Mitte oder
Ende des 13. Jahrhunderts), mag es nun der WeltKeistliche Joan Lorenza
Öegura de Astorga (nach Sanchez, Coleccion de poesias castellanas anteriores
al siglo XV, Bd. III, S. 1 — 352) oder der arcediano de Toledo Jofre
Garcia de Loaysa (nach Amador de los Rios in seiner Ausgabe der Werke
des Marques de Santillana, Madrid 1852, S. 614 s. v. Gaufredo) gewesen
sein, bezeichnet copla 19 — 20 die Verführung der Olympias als Verleum-
dung, folgt hierin indes nur seiner französischen Vorlage, der Alexandreis
des Lambert 11 Tors und Alexandre de Bernay; vergl. Ferd. Wolf, Studien
zur Geschichte der spanischen und pjortugiesischen Nationallitteratur, Berlin
1859, S. 73.
** Man sieht, dem Dichter dieser zu 4, 25 in Widerspruch stehenden
Stelle ist die historische Thatsache bekannt gewesen, dafs Nectanabus erst
lange nach der Geburt Alexanders rnach Diodorus XVI, 51 in Ol. 107, 3) aus
Ägypten geflohen ist; vergl. die Erörterung dieser chronologischen Frage
bei Carolus Müller, Prasf. zum Pseudo-Callisthenes S. XX— XXI in den
Aimon de Varennes. 57
Vint ./. hom e T jiais^ de graut sens renoim's, Natabus ot a non,
des arts ert bieii fondes. Cil fu puis d^AlLv andres et mestres et
prives De Im fast AlLvandres mescreus et hlames Por coii
que de sa mlre fa durerncnt prives, Dist-on FU ert ses fius et de
Im engenrcs. .1. jor le jirist as maints sor .7. rnont ü il ert, Si le
houta aval que il fu lues tues. Vergl. dazu ib. 4, 25 ff. Man
\vircl also anstandslos mit De Bure und P. Paris, denen sich
auch Michelant, Rom. d'Alix. S. XV, anschliefst, den Roman
de Florimont der Zeit nach später als den Roman d'Alixandre,
also mit Sicherheit nach der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts
setzen können, und zwar wird sich das von JF(?)CE M(onza)
vertretene Datum 1188 oder 1189 GK vor allen anderen Zeit-
angaben empfehlen. Die Jahreszahl 1180 B D H erklärt sich
vielleicht aus der unklaren, auch metrisch ungenügenden Lesart
des an dieser Stelle unechten iMs. F: 21 et c .iiii. .vx et vin ans;
spätere Abschreiber haben dieses et vin (^= VIII?) als überflüssig
we^jzelassen oder auch in der verderbten Urhandschrift nicht ver-
standen und sind dann mit Hilfe eines etwas gewaltsamen Poly-
syndetons zu der metrisch richtigen aber sachlich falschen Les-
art M et c et iiii dw ans orelano;t. In ähnlicher Weise ist, wie
es schon durch P. Paris, Mss. fr. IH, S. 17 geschehen, das
von Borel, Galland und Amaury-Duval vertretene Datum 1128
zu beseitioen ; dasselbe beruht auf Verlesung^ des Textes des
Ms. A, welches hier die metrisch mangelhafte Lesart mil cenam
rins huit ans bietet ; hier läfst sich aus dem Grundstrich des a
in cenam zusammen mit den drei Grundstrichen des ni bequem
die Zahl .IUI. rekonstruieren, woraus sich dann mit Leichtigkeit
die Zahl 1188 ergiebt. Für das von Frisi, Mem. stör, di Monza
Bd. HI, S. 214 als irrig hingestellte Datum 1146, sowie für das bei
St. Palaye Bd. X, Liste des principaux ouvrages S. 1 erwähnte
1159 haben eich für mich keine Anhaltspunkte ergeben, letz-
teres ist vielleicht Druckfehler für 1189. Das ebenfalls bei
St. Palaye a. a. O. angeführte, vorgeblich von einem Ms. Karl.
gebotene Datum 1224, für welches De Bure, Cat. Vall. II, S. 165
sich entschliefst, weil es uns der Zeit, in der der einzige im
Reliqua Arriani et scriptorum de rebus Alexandri M. fragmenta — Parisiis
MDCCCXLVI.
68 Aimon de Varennes.
12. und 13. Jalirh. hckimnie Aimon de Varoines (J26S) gelebt hat,
nälier bringe, und welches auch von Roquefort, Gloss. als das
richtige bezeichnet wird, ist mir nicht erklärlich, es sei denn,
dafs darunter das in Ms. Ho fo. 82 d sich findende Datum I22'3
(oder gar lo2o? s. o. S. 49) zu verstehen ist; dasselbe bezieht
fcich aber nicht auf die Zeit der Abfassung des Gedichtes, son-
dern auf die Zeit der Beendigung der Handschrift durch den
Schreiber Thomas le IJuchier. Hat also Aimon seinen Roman
im Jahre J188 oder 1189 gedichtet, so dürfte er vielleicht um
das Jahr JJ60 geboren worden sein, wenn es erlaubt ist, aus
seinem Verhältnisse zu einer schönen Dame, die er an meh-
reren Stellen in begeisterten Worten preist, sowie aus seiner
oft wiederholten Klage über Untreue und verschmähte Liebe
den Schlufs zu ziehen, dafs er zur Zeit der Abfassung in ver-
hältnismäfsig jugendlichem Alter gestanden habe.
Wenn oben die Stadt Varennes als der wahrscheinlich an-
zunehmende Geburtsort des Dichters bezeichnet w'urde, so lieiit
darin ein Widerspruch gegen eine wohl zuerst von P. Paris,
Mss. fr. IH, S. 12 aufgestellte und nach ihm von Gidel, Etutle
sur la litterature grecque moderne, von Holland in Pfeiffers
Germania I, S. 246 und auch sonst wiederholte Ansicht, welche
dem Aimon griechische Abkunft zuschreibt. Es war mir nicht
möglich, iimerhalb des Gedichtes auch nur eine einzige Stelle
zu entdecken, die zu der von Gidel 1. c. S. 8 gethanen Aufse-
rung berechtigte, dafs der Dichter sieh selber für einen Grie-
chen von Geburt ausg^egeben oder auch nur den Versuch dazu
gemacht hätte. Mit einiger Sicherheit läfst sich nur behaupten,
dafs Aimon in der Balkanhalbinsel gereist ist, wenn man sich
auf einige genaue Ortsangaben, die in der Art, wie sie gegeben
werden, auf eigener Anschauung beruhen können, berufen will.
Im allgemeinen beirnügt er sich zwar mit der nackten Aufzäh-
lung der Städte und Länder, die er zu erwälmcn Gelegenheit
hat, und nur diejenigen Orte, in denen er längere Zeit ver-
weilte, w^erden relativ genauer beschrieben, so Gallipoli und der
hras Saint iorge: A r/alijjol iine citeit Ou aijme ot iai maint ior
esteit Illuec est li hras phis estroit Passer le ^n^ß^ le ior HI fois
Ms. F fo. 2c; oder Ahydos: A quinzime (seil, ior) sont arriveis
A eucdon une cijteis La citeis nomne auedon Boucadaide (Boca
f Äimon de Varennes.
59
dauede Ms. E =^ Bouche d^Avie bei Villehardouin, Bouke dave
bei Robert de Clary ed. Hopf, Chroniques greco-rom. ined.
ou peu connues, Berlin 1873, S. 34) po?' ce ait non Li leiis
qid drols le seit nonmeir Qiie illuec clüet II hras en meir Ms. F
fo. 4d. Seine geographischen Kenntnisse gehen aber auch
über die Balkanhalbinsel hinaus, er ist auch in Ägypten
gewesen, wenigstens beschreibt er uns die doppelte Möglichkeit,
wie man von jenem Lande aus nach Griechenland gelangen
könne: Qid veult degipte en gresce aleir La graut meir* li couient
passeir Mai sil veut aleir p suide Per anthioche et per turquie Au
longue voie a p)ort (1. hord) de rneir Porait il hien en gresce aleir
Le hras saint iorge passerait Jai plus de meir ni trouerait Ms. F
fo. 2 b — 2 c. Diese Stellen zeigen genugsam die Art und
Weise, in der der Dichter von seinen Reisen zu erzählen pflegt,
nirgends aber «"eben seine Aufseruno;en über die von ihm be-
DO O
rührten Städte Anlafs, die eine oder die andere derselben als
seinen Geburtsort anzusehen. Dafs ferner das Griechische nicht
seine Muttersprache gewesen sein kann, sondern dafs er des-
selben wenig oder gar nicht mächtig gewesen, dafür sprechen,
abofesehen von den öfter angeführten vulsfär-o-riechischen Stellen,
mit denen Aimon seinen Erzählungen zuweilen einen grofseren
Reiz zu verleihen sucht,** einige begrifflich und sachlich falsche
Auffassungen, die den Dichter deutlich als Nichtgriechen kenn-
zeichnen. Adam Smith bei Max Müller, Vorlesungen über
die Wissenschaft der Sprache I, S. 320 erzählt von einem
Bauernburschen, der den Eigennamen des an seinem Hause
vorüberfliefsenden Flusses nicht kannte; es sei der „Flufs'',
pflegte derselbe rundweg auf diesbezügliche Fragen zu ant-"
Worten. Dieser Gattungsname ^,Flufs'^ war ihm also ofl^enbar
zu einem ein individuelles Objekt bezeichnenden Eigennamen
jxeworden. Ähnlich ero;eht es Aimon de Varennes, der den
Namen des Flusses, an dem Phili'ppopolis gelegen ist, nicht
* Bei Chaucer, Prol. ed. Zupitza 59 the Grete See, alte Benennung des
Miitelländisclien Meeres \ vergl. trertzberg, Chaucer S. 579.
** Eine Erklärunfi dieser vulg:'ar-griechischen Stellen ist in ungenügen-
der Weise von du Meril. Flore-ßlancheflor 8. CXCIX, versucht worden;
dagegen scheinen die Erklärungen Paul Meyers, Bibl. de rEcole d. Chartes
Ser. VI, ß, II, 331 (1866) überall das Richtige zu treffen.
60
Alraon de \'arennes. *
kennt,* vielleicht auch von den PldUposes^ wie in F die Be-
wohner dieser Stadt heifsen, nie gehört hat, indem diese stets
nur von einem Flusse sprachen, ohne den Namen IleLrus oder
Maritza zu gebrauchen — kurz, für Aimon wird der ihm, dem
Nichtgriechen, fremde Gattungsbegriff >Tor«/fo^ zum Eigennamen;
er sagt gelegentlich der Schilderung der Gründung von Philijjpo-
jwUs: Li rols la nomina de son nom PliiUpople Vapella oni Sor
ung ßiiue sijet la citeis Qni est jyodoinen ** ajyeleis Ensi ait il non
eil greiois Ne sai con ai non en Fransois i\Is. F fo. 8 b.*** — An
einer anderen Stelle erzählt der Dichter, der Ort, wo der König
Candiohras mit seinen drei Verbündeten vom König Philipp
besiegt worden sei, werde seitdem .sahato {asabato, Ms. B: aiisa-
hato) genannt, und zwar deshalb, weil sahato im Französischen
ost^ Heer bedeute: Li leus e)i (d. h. von der Niederlage des
feindlichen Heeres) ait aneov le nom Asabato \ le nöniet on Seu
q dist on ost en fransois Noment sahato en grezois Et li leus
ou farent xiencu Li quatre roi et ahata Si fiit p)er droit de lost
noniez Et sahato fat apalez Des greus et de la gent latine Ms. F
* Auch Villehardouin und Henri de Valenciennes nennen niemals, wo
sie Anlafs haben von dem Flusse Hehriis oder Maritza zu sprechen, den-
selben bei einem dieser Namen; er heifst bei ihnen stets nur, soviel ich
sehe, hl rivitre (VAndrenople^ oder sie begnügen sich mit der Angabe U y a
lins ßuns. Vergl. Villehardouin ed. Buchon, Recherches et IMatefiaux pour
servir a une histoire de la domination francaise aux Xllle, XlVe et XVe
siecles dans les provinces demembrees de i'empire grec ii la suite de la
quatricme croisade, Paris 1809, S. 151. Dafs der Hebrus in der Vulgär-
sprache {yjOQiTixr Sid/.sxTOS oder /; '/ydi]i' oioiau yltozrn) bereits Maoir^a
hiffs, berichtet Georgius Acropolita (1220 — 1282), Annal. ed. J. ßekker
(Xiebuhr, Corp. Script. Hist. Byz.)- Bonn 1836, S. 05, 77, 126.
** Hs. Harl. 3983, fo. 8b, die in dem p das griechische P =. o sieht,
bietet hier die interessante Variante rodomans.
**^- Eine derartige Specialisierung eines GattungsV.egriffes — vielleicht
indessen weniger harmloser Art wie hier — findet sich in der Fabel XX 11
des Lyoner Ysopet, ed. Förster S. 29, die die Überschrift trägt: dou roi
fjue li Antique eslirent ; es heifst daselbst v. 1073 fl. : Une gent en une con-
tree De Grece ot^ moiit fu sennee. Ce/e gent apele on Antique, De rou per-
lent pou les croniques. Es ist damit zugleich ein Wortspiel verknüpft, wie
die Überschrift des lateinischen Textes S. 107, XXI a zeigt: qualiter Attici
elegerunt sibi regem (v. 4 attica terra), wo der Lyoner Text (L), der dem
französischen Übersetzer vorirelesen, schon die Vai-iante antica bietet.
f Die Form as(d>oto neben sahato erinnert an das euphonische oder
pleonastische «, welches im Vulgärgriechischen oft am Anfang der Wörter
steht und sich auch in einigen antiken Wörtern findet, z. B. aorayvs für
orrv/vs, noTtaioo) tlir onnion), oaT^noTirj für orfQont]; vergl. F. \V . A. Mullach :
Grammatik der griechischen Vulgärsprache in historischer Entwickelung.
Berlin 1856, S. 143.
Aimon de Vareunes. . 61
fo. 93 d — 94 a. Thatsächlich entspricht dieses vulgäre sahato
dcQi klassischen GeßaoTogj welches in seiner Bedeutung und
Anwendung dem lateinischen angustus ungefähr gleichsteht. Du
Meril 1. c, P. Paris, Mss.fr. III, 46 und nach ihm GIdel 1. c.
S. 180 — 181 meinen nun, Aimon verwechsele hier die beiden
französischen A\'örter ost = aiinee und aost = angustus mit-
einander; denn Geßaorog entspreche dem lateinischen augustus^
und dies letztere habe im Altfranzösischen aost oder, wie P. Paris
in etwas unklarer Weise hinzusetzt, oust gelautet, wie noch der
moderne Monatsname aout dokumentiere. Wir gestehen, dafs
wir auf ein Verständnis des Gedankenganges, der den Dichter,
ob er nun Grieche oder Nichtgrieche gewesen, zu einer der-
artigen Verwechselung hätte führen können, völlig verzichten
müssen, und Avenn diese Erklärung einen Beweis für des Dich-
ters griechische Abkunft abgeben soll, so ist dieselbe recht un-
o-lücklich orewählt. Die ano^ezoofene Stelle zeigt vielmehr deut-
lieh, dafs der Dichter kein Grieche gewesen sein kann, denn
sonst hätte er doch wissen müssen, dafs dem Worte sahato
nicht die Bedeutung des französischen ost, Heer, sondern die
des lateinischen augustus, erlaucht, zukommt. Der Sach-
verhalt ist offenbar ein viel einfacherer; Aimon sagt weiter:
Et sahato dient ancour A la cort a lempereor Cil ~q apres lui sont
pose Protosahato sont nome Proto dist en fransois premier Et
sahato por ostoier Protosahato fait nomer Siax q doient ses os
guier Ms. F fo. 93 d — 94 a. Der Dichter weifs also, dafs p>roto
der erste bedeutet, er weifs oder glaubt zu wissen, dafs der
Oberanführer das byzantinischen Heeres protosahato heifst, und
so war es für ihn, den Nichtgriechen, der aber gern mit seiner
vermeintlichen Kenntnis der griechischen Sprache* prunkt, das
Einfachste und Natürlichste, in sahato die Bedeutung des franzö-
sischen ost zu erblicken und protosahato im Anklang an franzö-
sische Ausdrücke wie quievetains de lost oder de la guerre (vergl.
Beaumanoir 12) mit Heerführer zu übersetzen. — Eine Ver-
wechselung scheint übrigens Aimon bei dieser Gelegenheit immer-
* Übrigens hat er auch einige Kenntnis des Persischen, wie folgende
Stelle zeigt: la dame (die Mutter des Florimont) auoit nom eJozie Em
fransois icelt dire /iorie Iseu q nos apalons ßor Apalent li persant edor
'Ms. F fo. 15 c.
6t^ Aimon de Varennes.
hin beoran2,en zu haben, dieselbe trifft dann aber weniger das
Wort als die Sache. Es ist zunächst zweifelhaft, ob mit der
von Alexius Comnenus I (1081 — 1118) geschaffenen Würde
des TTQiOTooißaoTog die Stellung eines Heerführers verknüpft
war; es hat vielmehr den Anschein, als wäre dieselbe nur an
hochverdiente Personen als ehrende Auszeichnuno; verliehen
worden. Die ßedinjrunoren für die Erteiluno; dieses Ehrentitels
sclieinen sich aus einer von D C s.v. mitgeteilten Stelle zu
ergeben : Erat enim {Constanthius) vir sapiens, discretus, eloquens,
et curialitate multiinoda redimitus, ^>?'o quihus in eiusdem Lnjjera-
toris aula maxiniani habehat dignitatem, de qua Protosevasto dice-
hatur; nee erat ita magnus prineeps post logofhetam. Aimon täuscht
sich also nicht, wenn er von dem hohen Range {eil q apres lui
[dem empereor'] sont pose Protosahato sont nome Ms. F fo. 93 d)
seines p^rotosahato zu berichten weifs; bezüglich seiner Amts-
thätigkeit scheint er ihn aber zu verwechseln mit dem tiqcoto-
GrouTjjyog, der nach D C gloss. ad Script, med. et infim^e grxc.
(Lugduni 1688) ßd. II, S. 1342 auch den Titel nuvotßaoTog
führte, oder, was ebenso wahrscheinlich ist, mit dem tiqmto-
OTQUTWQ, dem aufser seinem Amt als marescallus oder primiis
equorum curator auch militärische Obliegenheiten zufielen, wie
aus einer Stelle bei DC 1. c. Bd. II, S. 1463 — 1464 hervor-
geht; zudem zeigt eine Stelle bei Willelmus Tjrius lib. 18,
cap. 24 (cf. DC gloss. lat. s. v.), dafs der jwotostrator an Würde
dem protosehastos gleichgestanden haben mufs : duo nepotus eins
(des Alexius Comnenus), fratres uterini, Joannes scilicet Proto-
sebasto, et Alexius Protostraior^ qui inter illustres sacri Palatii
ptrimuni obtinebant loeum. Man sieht, dafs es durchaus verzeih-
lich ist, wenn ein Mann wie Aimon, der des Griechischen wenig
kundig und allein auf seine Erinnerung des von ihm Gesehenen
und Gehörten ang^e wiesen ist, die schon an sich so schwierig-en
und spitzfindigen Rangunterschiede der byzantinischen Be-
amtenhierarchie zusammenwirft und die schwankenden Vorstel-
lungen seines gewifs recht vielseitig in Anspruch genommenen
Gedächtnisses für Thatsachen aussfiebt. Diese Verwechselunoj
des TioioTOOtßaoTog mit dem TZQMioGTQdrr^yog oder dem 7iq(oto-
OTQUTOJQ zeigt dann vielleicht auch den Gedankengang, der ihn
dahin führte, den Ort ,,sabato^ oder „^eßuortj''' mit dem Begriff
Aimon de Varennes. 65
„05^, Heer" in Verbindung zu bringen, und vielleicht trägt fol-
gende von Malalas, Chronographia lib. VIII, cap. I, S. 192 — 193
(ed. Dindorf bei Niebuhr, Corpus scriptorum historite byzantina?)
berichtete Thatsache zur Klärung des richtigen Sachverhalts
bei; Malalas 1. c. erzählt: oang ßaoilavg ^AXti.auÖQog nQoiQexpd-
jLiepog b(.i6(jQ0vag ycvvaiovg OTQaTi]yovg, xara, Ttjg dnovotag Aoav^kov
OQyioß^eig, nQcorog na^era^aro zlaQtico no ßaoileX rLtQO(nv. Kai
tld^iüv dg BvtovnoXiv (d. i. Byzanüum oder Stadt des Byzas, cf.
Malalas ib. b, 5) r^g EvQCuniig l'y.ziGev ly.tT roTioy, orntQ l/.dXtoa
tÖ ^TQaTTjyiov ' l'/.H yoQ, OTQurriyi^Gug rd tov nolt/nov (.leid rov
idiov OT^uTOv Y.ai Tiov üv^if-id/iov avTOV InkQuotv exeT&ey gvv tw
\öi(o nXri&ai di'Tr/.Qvg aig eiiiTioQiot^ T-rig Bid-vriag Ityofiavov /Jio/.oi etc. —
Den grellsten Widerspruch gegen die etwaige griechische Ab-
kunft unseres Dichters bildet die hohe stilistische Vollendung
und Gewandtheit im Gebrauche des Französischen, Eigenschaf-
ten, die dem roman de Florimont im besonders hohen Grade
eioen sind. P. Paris selber zollt an mehreren Stellen seiner
Besprechung diesen Vorzügen die höchste Anerkennung (Bd. III,
S. 39) und läfst sich einmal sogar zu dem schmeichelhaften
Zugeständnis hinreifsen, dafs eine derartige Keinheit und Ge-
wandtheit des Ausdrucks sich schwerlich in anderen Werken
jener Epoche antreffen lasse. Diese Stelle ist zugleich charak-
teristisch für die Parissche Auffassung und mag deshalb hier
mitgeteilt w^erden : c'est dejä quelque chose d^issez remarquahle
qu'un Grec venant composer un j^oeme francais en France, au
XIP siede, dans le Lyonnais^ ou saus doute on iiarloit alors un
d.ialecte fort peu litteraire^ et l'ecrivant avec wie elegance et wie
nettete d^expr^ession que Von trouverait difficilement dans les coiii-
p>ositions de la meme epoque Mss. fr. Bd. III, S. 12. Besonders
werden die kurzen Wechselreden, in deren Bau Chrestien von
Troyes so grofse Kunstfertigkeit zeigte, auch von unserem
Dichter mit grofsem Geschick behandelt; ein Beispiel davon
hat Ludwig Holland in Pfeiffers Germania I, 241 mitge-
teilt.
In diesen Zusammenhan-g gehört auch eine Stelle, die mir
von P. Paris 1. c HI, 15 — 16 und von Gidel 1. c. S. 9 — 10
völlig mifsverstanden zu sein scheint. Der Dichter schlief^t
sein Gedicht mit folgender Apostrophe an sein etwaiges Publi-
64 Aimon de N'arennes.
kuni, die ich hier zunächst wörtlich nach P. Paris und Gidel
wiedergebe: O'it auez de Florimont Dou roi Florimont uos ai dit
Or pri a celz qid Vont o'it Et as bons troueors dou mont Quant
Festoire o'i/e aueront Et as francois pri par amour Qu'ils ne
hlasment mon lahour Qui hlasme ce qu'il doit her Et loe ce qiCil
doit hlasmer II ne se puet pas phis Jwnnir As Francois voll de
iant sendr Que ma langue lor est saluage Et ie ai dit en leur
langage Tot au miecc que ie le sai dire Si ma langue la lor empire
Por ce ne men dient anui Miex ahn ma langue que Valtrui. P. Paris
lir, 16 sieht in diesen Worten einen Versuch seitens des Dich-
ters, sich den Franzosen jreo'enüber weo;en der Wahl seines
ihnen fremden und fernlleo'enden Stoffes zu entschuldio-en, und
dies sei ein neuer Beweis für Aimons griechischen Ursprung,
wahrend Gidel, der an dieser Stelle etwas dunkel bleibt, ge-
neigt scheint, in der langage, von der der Dichter spricht, das
griechische Idiom zu erblicken, für welches die Nachsicht der
Leser in Anspruch genommen würde. Zunächst sei darauf hin-
gewiesen, dafs ein Teil dieser Quelle in Ms. F etwas abweicht
und zwar, wie mir scheint, zu gunsteu eines besseren Ver-
ständnisses derselben. Ms. F fo. 118 a (zum unechten Teil s^e-
hörig) schreibt : Qui hlasme ce quil doit loeir Et loe ce quil doit
hlaimeir II ne se p)uet pas mues honir As fransois veult de tant
seruir Que ma langue lor est saluaige, setzt also die 3. Pers. Sing,
statt der 1. Pers. Sing., und dies entspricht offenbar mehr dem
Zusammenhange und der bitteren Stimmung, die des Dichters
Worten zu Grunde liegt: wer mein Werk tadelt, meint er, der
will damit den Franzosen dienen, ihnen eine Gefälligkeit er-
weisen, denn mein Idiom klingt ihnen saluage, was doch wohl
nicht fremd, unbekannt bedeutet, sondern den Sinn des latei-
nischen agrestis, rudis = roh, barbarisch, hat. Und nun fährt
er nach Ms. F fort: car ie ai dit en mon langaige az muelz q
in ai seu dire Se ma langue la lor empire Por ce ne men dissent
(sie!) anui Miex ahn ma langue que lautrui. Seine Tadler würden
fcich um so mehr herabwürdigen (Jionir)^ als er sein Möglichstes
versucht habe ; und mit einer herben Anspielung auf die Eigen-
liebe und Hoffart der Franzosen fährt er dann fort: Romans
ne estoire ne plet A fransois se il ne Ion fet^ und dies sei auch
gar nicht zu verwundern, car ou houcaige Ken est si lais oisiaux
Almon de Varennes. 65
saluaige Qne ses nis ne li soit plus Maus Que tous li miudres
des oisiaus Et II estre de mon pays Me sont plus beiz ce
rnest auis.
Wir haben gesehen, dafs das Lothringische der vom Dichter
gesprochene Dialekt gewesen sein mufs, und dieser ist denn
auch das Idiom, welches den Centralfranzosen so barbarisch
klang und ihren tadelnden Spott herausforderte. Dafs Aimon,
der Lothringer, allen Grund hatte, die beifsende Laune der
Franzosen zu furchten, die sie gegen alle diejenigen, die nicht
ihren am Hofe und in der eleganten Welt gebräuchlichen cen-
tralfranzösischen Dialekt sprachen, rücksichtslos und ohne Zart-
gefühl spielen liefsen, das erhellt genugsam aus dem unange-
nehmen Abenteuer, welches der gleichzeitige artesische Dichter
Quenes de Bethune am Hofe der Königin Alix, Witwe Lud-
wiorg VH., zu bestehen hatte und welches die Veranlassun«^ zu
jenem bekannten, vielfach veröffentlichten Gedichte wurde, in
welchem der Dichter seiner Entrüstung über den ihm noch
dazu in Gegenwart seiner Angebeteten, der Comtesse Marie
de Champagne, wegen seines eigentümlichen Dialektes wider-
fahrenen Spott in erbitterten Worten Luft macht; ich citiere
nach Dinaux, Trouv. artes. III, S. 388: Mout me semont amours
que je m'envoise Quant je plus dois de chanter estre cois, Mais
j'ai plus graut talent que je me coise Por cou jai mis mon chanter
en defois Que mon langage ont hlasme U Fransois Et tnes cliansons^
oyant les Cliampenois^ Et la contesse encoir, dont j)lus me poise.
La Roine ne fit pas que courtoise Que me reprist, eile et ses fiex
li rois; Encoir ne' soit ma parole francoise Si la puet on hien
entendre en fransois etc. etc. Einen weiteren Beitrag zum Ka-
pitel von französischer Hoffart und Verkleinerungssucht findet
Reiffenberg in der Eingangsstrophe zu der Genesis des Herman
de Valenciennes, wo der Dichter mit äufserster Bescheidenheit,
in deren Ausdruck allerdings eine «gewisse unterdrückte Bitter-
keit und Ironie wiederklingt, das Interesse des Publikums für
sein AVerk in Anspruch nimmt: Signor, or escotes, entendes ma
raison: Je ne vos di pas fahUj ne ne vos' di cancon: Clers sui,
povres de sens, si sui moult povres hon Nes sui de Valencienes,
Herman m'^apiele on. De persone Dex eure ne prend, s'est grande
u 7ion; On a sovent grant aise en p>etite maison; De petite fon-
Archiv f. n. Sprachen. LXXIII. 5
GJ Aimon de Varcnnes.
taine tot son saol holt on. Tot ce di-je j^our voir, je suis moult
pcfit Jio)i, Canones sui et j'^^estre par grand electlon, cf. Phil.
Mousk. 11, S. CCXCIII.*
Als litterarische Frucht seiner orientalischen Reisen ist nun
des Dichters roman de Florimont zu betrachten, und es entsteht
die Frage nach der Art der Quellen, aus denen derselbe ge-
schöpft ist. Zwar unterrichtet uns Aimon so bald als möglich,
dafs er seine Geschichte aus dem Lateinischen ins Romanische
übersetzt habe : ensi com il lauoit empris Lait de latin en romans
mis Ms. F fo. Ib, und nach seiner an zwei Stellen wiederholten
Versicherunaj hat er die lateinische Version selber aus einem
griechischen Original entlehnt; Ms. F fo. 80a sagt er: a siax
q seuent de clergie Contet per ethymelogie Que j^or samie uialine
Traist de greu listore latine Et del latin fist le romans Aymes q
fut loials amans, vergl. auch ib. fo. 118 b. Du Meril, Flore et
Blancheflor S. CC findet in dieser Versicherung des Dichters
genug Gewähr für die Wahrheit derselben, nimmt ein grie-
chisches Original an, welches Aimon zunächst ins Lateinische
übersetzte und in seiner lateinischen Fassung dann als Grund-
lage für seinen französischen Roman benutzte — der Beweis
für das V^orhandensein eines lateinischen Mediums werde er-
bracht durch eine Stelle, in der lire in seiner lateinischen Be-
deutung choisir erscheint ; wir geben die betreffenden Worte
nach Ms. F fo. 48 c : hiaw ostes sont les rohes faites Oil iiolez q
* Derartige Äufserungen sind für das Verständnis der Entstehung einer
mustergültigen Schriftsprache, sowie für das V-'erhältnis der Mundarten zu
letzterer gewifs nicht ohne Wichtigkeit. Zu den oben angeführten Bei-
spielen mag sich hier aus späterer Zeit die mehrfach wiederholte Bitte um
Nachsicht gesellen, die Sebastian Moreau aus Villefranche in Beaujolais,
der \'erfasser eines La Prinse et Delivrance du Roy (seil. Francois I) be-
titelten Berichtes, wegen seiner sprachlichen Eigentümlichkeiten an sein
Lesepublikum richtet und die zugleich von dem geringen Selbstgefühl des
Schreibers Zeugnis ablegt. So sagt er im Prolog: plaise aux lecteurs sitj)-
porter htnlgnement le gros lanr/aige pen elegant^ cur fay ph/s de retard ä In
verite qua la colourer de rMtorique ; und am Schlüsse seines Werkes schützt
er geradezu seine Abkunft aus Beaujolais als Entschuldigung vor: ... sup-
pliant iceux et tous aultre.s lecteurs et auditeurs qiiil ne preignent les
chosesj sinon en bonne part^ et excusent les faustes par leiir Mntoolence^ et
le langaige mal aorne^ cueiily dt ma natiuite heaujoloyse qui en fera excuse,
vergl. Archives curicuses de l'histoire de France depuis Louis XI jusqu'ä
Louis XVIII par M. L. Cimber et F. Danjou, Paris 1835, premiere
Serie, Bd. II, S. 254 und 451.
Aimon de Varennes. G7
soient traites De soie sont dune qlor On ne p?«?^ lire la millor {ne
sai eslire la inillous Ms. B fo. 22 u). Belege aus altfranzösiacher
Zeit sind mir zwar nicht bekannt, doch sei daran erinnert, dafs
noch heute lere im Wallonischen diese Bedeutung zeigt; vergl.
Grandsaffnase s. v. Zunächst mufs es, nach den Irrtümern
zu urteilen, in denen wir den Dichter hinsichtlich des Sinnes
ziemlich gewöhnliclier griechischer Wörter betroffen haben,
recht zweifelhaft erscheinen, ob seine griechischen Sprachkennt-
nisse überhaupt so weit reichten, um ihn zu der Übersetzung
eines griechischen Originals zu befähigen, und selbst wenn
ihm dieselben zuo-estanden werden müfsten, so bliebe es doch
immerhin noch höchst seltsam, dufs er seine griechische Vor-
lage vorerst ins Lateinische übersetzt haben sollte; viel Zeit
und j\Iühe hätte er sparen können, wenn er das Verfahren
jenes Franzosen eingeschlagen hatte, der nicht allzu lange nach
ihn) die Legende von Barlaam und Josaphat direkt aus dem
griechischen Original übertrug, vergl. Paul Meyer, Barlaam et
Josaphat, Fragments d'une traduction fran9aise de Barlaam et
floasaph faite sur le texte grec au commencement du XIII*^ siecle,
Paris 1866 (vergriffen); auch abgedruckt in der ßibl. de l'Ecole
des Chartes, Ser. VIB, II, 331 (1866).* Man darf um so
mehr geneigt sein, an diesen Quellen des Dichters zu zweifeln,
als sich aus dem Gedichte Stellen beibringen lassen, die auf
eine ganz andere Art der Überlieferuno;, nämlich auf mündliche
Tradition, hinweisen, und diesbezüglichen Äufserungen Aimons
darf man desto mehr Glauben schenken, als dieselben harm-
loser klingen, weil sie nicht einer blofsen Mode entstammen,
wie dies mit den Berufun2:en altfranzösischer Dichter auf latei-
nische Quellen so häufig der Fall ist. Der Dichter hat die
Gründung von Philippopolis erzählt und fährt nun fort: Signov
cest istoire est vertauhle Nen ia mensonge ne faiihle Phelipople
est ancor ades Bien seiuent II pJiiUposes Qui listoire ont cn baillie
Se vos voleis qiie ie vos die ^Is. B fo. 8 b, und dafs die zu er-
zählende istoire nach der Erfahrung Aimons zu urteilen so recht
eigentlich in Philippopolis ihren Boden und Pflege fand, geht
* Eine schriftliche Quelle des Roman de Florimont nimmt auch an
Nicolai, Griech. Litt. III, 314, dt^r sich auf Gidel beruft.
5*
G8 Aimon de Varennes.
hervor aus den Worten il (Aimon) lauoit en gresse veiie Mai
nestoi't ^)«.9 j^ertot seiie A felipople la troua Ms. F fo. 1 b, und
unter dieser istoire scheint er geradezu das durch mündliche
Tradition Vernommene zu verstehen, wenn er sagt: Aijmes Je
naranes vos dist Qui Ustoire mist en escrit, Si com fine amor li
eonsoiUe Et ses cuers les mos appai'oille Ms. F fo. 80a. Wir
möchten diese Erörterung in den Zusammenhang verweisen, in
welchem Erwin Rohde, Der griechische Roman und seine Vor-
läufer, Leipzig 1876, S. 536 ff., die verschiedenen Möglich-
keiten der Einführuncr crriechischer Sa^enelemente in die Litte-
raturen des Abendlandes erwogen hat. Vergl. auch ten ßrink,
Engl. Litt. S. 212.
Wenn der Dichter nun ferner berichtet, er hätte den in
Philippopolis gesammelten Rohstoff zu seinem Gedichte mit sich
nach CJiastillon gebracht (a felij^ople la troua Ä chastUlon len
aporta Ms. F fo. 1 a) und hier demselben die uns vorliegende
Fassung gegeben, so sind wir damit vor ein neues Rätsel ge-
stellt, insofern die Handschriften in der näheren Angabe der Lage
dieses ChastUlon bedenklich auseinander^jehen. Nach der Mehr-
zahl derselben, A, B, C, G, I,T, M, mufs diese Stadt in Lyonnais
gelegen haben, und diese Bestimmung wird besonders unter-
stützt durch eine Aufserung des Dichters, nach welcher das
Gedicht gar nicht in Frankreich gedichtet wurde {il ne fnt mie
fait en france Ms. F fo. 1 a), und bekanntlich wurde Lijon erst
1307 durch Philipp den Schönen mit Frankreich vereinigt.
De Bure (1788) 1. c. II, S. 165 hat, soviel ich sehe, zuerst
darauf hingewiesen, dafs die Familie de Varennes ein Schlofs in
Lyonnois besafs ; mit gröfserer Vorsicht wird diese Notiz von
Fr. Michel, R. d. 1. Violette (1834) S. XLIII— XLIV, aufge-
nommen, der indes noch eine weitere Angabe hinzufügt, die
geeignet ist, zu gunsten derselben zu sprechen. Nach D. Lobi-
neau, Histoire de Bretagne Bd. II, S. 100 lebte im Jahre 1268
in Lionnois ein Aymon de Varennes, und wir haben gesehen,
dafs De Bure 1. c. sich für das Jahr J224: als Abfassungszeit
des Gedichtes entschieden hatte, weil dieses Datum uns der
Zeit, in der der einzige aus dem 12. und 13. Jahrhundert be-
kannte Aimon de Varennes gelebt hat, näher bringt. Nach
Michel a. a. O. hätten wir es dann mit dem in der Nähe von
Aimon de Varcniies. G9
Lyon, bei der Ilc Barbe gelegenen Städtchen Cludillon tVAzergue
zu thun; und P. Paris (1840) Bd. III, S. 11 nimmt, gestützt
auf die Lesart des von ihm benutzten Ms. A fo. 1 a sor aselr/ne
a rJiastillon keinen Anstand, mit aller Bestimmtheit in dem sre-
nannten Chatillon den Ort zu erblicken, in welchem der roman
de riorimont gedichtet wurde; nach ihm ist der von D. Lobi-
neau erwähnte Aimon de Varennes ein Nachkomme unseres
Dichters.
Dieser scheinbar o-ut unterstützten Ortsbestimmung]: steht
gegenüber die Annahme, dafs wir in dem von x\imon be-
zeichneten chastillon das in Laonnais G^eleü'ene Chdiillon-du-
Temple zu sehen hätten (vergl. Michel 1. c. S. XLIV) ; und in
der That zeigt ein Teil der Handschriften, darunter auch das
von uns als Grundlage der Überlieferung aufgestellte Ms. F
(an dieser Stelle allerdings unecht), die Lesart loenols fo. 1 a.
Kein einziger der Punkte, die sich zu gunsten der Lesart
lionois anführen liefseu, ist geeignet, die Wahrscheinlichkeit
der Lesart loenois zu erschüttern. Das in der Nähe von Lyon
gelegene Schlofs und sein Besitzer Aimon de Varennes mögen
immerhin zu unserem Dichter in Beziehung stehen, ohne dufs
daraus mit Notwendigkeit folgt, dafs schon der letztere in jener
Gegend gelebt hat. Die von Ms. A vertretene Lesart aselffue,
die erst, allerdings mit aller Leichtigkeit, in asergue zu ändern
wäre, ist in Mss. F und E ersetzt durch die Lesart Lo^^s a
aeionr a chastillon Estoit ainnie une sakon fo. Ib; letztere er-
mangelt also jeder genauen Ortsangabe; a seiour braucht nicht
die ursprüngliche Lesart gewesen zu sein, denn die angezogene
Stelle gehört zu dem unechten Teile des Ms. F. Der hier
schon frühzeitig zertrümmerte Text hat der AVillkür der Schreiber
einen grofsen Spielraum gelassen, und die von Ms. A vertretene
Variante aselyiie hat nicht mehr Berechtigung als die von Ms. B
ccebotene Lesart desor saine a chastillon fo. o a, oder das von
anderen Handschriften gegebene a siege, au siege etc.; die ver-
schiedenen Schreiber suchten sich eben jeder auf seine eigene
Art die ihnen dunkel erscheinende Stelle zu erklären. ^lehr
Bedenken geiren loenois könnte die oben mito-eteilte Versiehe-
runoT des Dichters erregen, nach welcher das Gedicht o-^ir nicht
in Frankreich gedichtet \A:urde, und Laon hat auch zu jener
70 Aimon de Varemics.
Zelt, wie fast stets, zu Fninkreich gehört. Der ganze Wort-
laut der Stelle il ne fut mie fait en france Maix en la langne
de francois Le prist (fist die anderen Hss.) aijnies en loenols
Ms. F fo. 1 a macht es wahrscheinlich, dafs Aimon sich auf
seine Quelle bezog, die, wie er ja später wiederholt versichert,
in Philippopolis zu suchen ist — der eigentliche roman wurde
nicht in Frankreich gedichtet, doch wurde dessen Bearbeitung
in französischer Sprache von Aimon in loenols vorgenommen.
In der zwischen lionois und loenols (nur Als. E hat leonois*)
«geteilten Überlieferung bietet sich ein neues Beispiel zu der
uralten Verwechselung der beiden Städte Lyon und Laon\ die-
selbe findet ihren Ursprung in der Benennung Lugdumim an
Stelle von Laudununi^ welches der eigentliche Name für Laon
ist, und ging zu Zeiten so weit, dafs man Übei-lieferungen, die
sich ausschllefslich auf eine der beiden Städte bezogen, auf die
andere übertrug; so wurde z. B. die Thatsache der Gründung
Lyons durch den Legaten Cäsars L. iMunatius Plancus an-
standslos auch von dem Entstehen der Stadt Laon erzählt.
Verorl. Devisme Histoire de Laon Bd. I, S. 2 und 58. Man
sieht jedenfalls, dafs wir hier vor eine wenigstens mit dem bis
jetzt vorhandenen Material unentscheidbare Frage gestellt sind,
und wenn daher Dinaux, Trouv. Brab. IV, S. 53 ff., geradezu
und mit aller Bestimmtheit behauptet, der Dichter hätte seinen
Roman in dem in Laonnais gelegenen Chdtlllon-du'Temple ge-
dichtet, so verfährt er mit gewifs nicht geringerer Willkür wie
diejenigen, die sich für das in Lyonncds gelegene Chdtillon'
d'Azergues entschieden haben. Einige weitere von Fr. Michel,
R. d. 1. Viol. S. XLIV, erwähnte, vielleicht auf unseren Dichter
bezügliche Andeutungen, darunter namentlich das Epitaphium
in der Abtei Salnt-Martln-des-Champs, welches den Namen
eines Haymes de Varry trägt (vergl. Monasterii regalis S. Martini
de Campis Historia S. 571), sowie die von Dinaux a. a. O.
möglicherweise anzunehmenden Beziehunfjen unseres Dichters
zu dem Templer-Orden, gehören in das Gebiet reiner Ver-
* L^onnois heifst die die Stadt Saint-Pol-de- Leon umgebende Land-
Schaft, und nach Michel, R. d. 1. \'iol. S. XLIII, kann hier Chätillon-en-
Vendelais oder Chätillon-sur- Seiche geraeint sein.
Aimon de Varcnnes. 71
mutuni]^; es mixcs' daher an dieser Stelle i>:enüi»en, einfach darauf
zu verweisen.
Wie die Lebcnsvcrhühnisse des Dichters selber, so ist
aucli die Persönlichkeit der Dame, der zu Ehren er sein Ge-
dicht verfafst hat und die an die Beschützerin des Dichters des
Cleomades (cf. den Anfang und V. 18 519 ff.) erinnert, in ein
wie es scheint nicht zu lichtendes Dunkel gehüllt; das einzige,
was sich an ihr mit einiger Sicherheit feststellen läfst, ist der
Name. Derselbe begegnet innerhalb des Gedichtes an vier
Stellen, von denen drei denjenigen Teilen angehören, die in
Ms. F unecht sind, und hier zeigen denn auch die verschie-
denen Handschriften bedeutende Abw^eichungen voneinander.
Jedenfalls lassen sich aus der grofsen Masse von Namen zwei
ausscheiden, die beide berechtigt sind und von denen der kür-
zere vielleicht eine Koseform des längeren sein soll: wir finden
den Namen einmal im Reime auf z, das andere Mal im Keime
auf ine], so schreibt Ms. F fo. la: or oies signor q ie di Aymes
por amor amdli Fid le romant- si saigeinent u. s. w. [Auahii
oß A, Aualls B, por Allane vi C; de ailli E; Anali G, Po7xi-
lanui I, de noilli Ho, Ancdid K). Der längere Name mufs vier-
silbig gewesen sein; er begegnet auf dem letzten unechten
Folio des Ms. F in der jedenfalls verderbten Form uilonine :
tont ensi com per uilonine Trait del greu listoire latlne. Zum
Gluck begegnet der Käme auch in dem unbestreitbar echten
Teile des ]Ms. F fo. 80 a Que j^or samie uialine Traist de greu
listore latine. Den Namen vialine hat Ms. B denn auch an
zwei Stellen fo. 35 a und fo. 50 b; dagegen steht ebendaselbst
fo. 3 a 2^of malina li dis fu dis, wo Ms. F fo. la p cortoisie fut
escris schreibt. Jedenfalls zeigt der Reim idaline : latine zur
Genüge, dafs die Namensform iidiane CE fo. la oder iuliaine
D fo. 64 b, die dann auch in den Prosabearbeituno^en des
15. Jahrhunderts und bei mehreren späteren Berichterstattern
steht, ohne Berechtiojunoj ist.
Zum Schlufs sei noch erwähnt, dafs Frisi, Memorie sto-
riche di Monza Bd. HI, S. 214 in der Jidiane seines Codice
Monzese ein männliches Wesen erblickt, welches er ins 13. Jahr-
hundert verleojt und zum Übersetzer des von Aimon sedich-
teten Romans in die lingua Provenzale macht; er sagt: Qiiesf
72 Aimon de Varenncs.
opera, che coidiene la vita di Filippo il Macedone, fii composta
da certo Aymer, o mcglio Aymes 7iel 1188, e ncl seguente secolo
tradotta nclla lingua iudicata, da uno Scrittore chiamato Giii-
liano .... Che jioi VAutore di questa traduzione sia il nominato
Giuliano non vlia luogo a duhitarne, leggendosi nel Codice Äfon-
zese poco dopo il suo principtio : Par Jidiane fit escrit
Berlin. A. Risop.
Bemerkungen zu Oifrid ad Liutbcrtum.
Von
G. Michaelis.
Zu der kleinen Zal der einfachen Vokale und Diphthongen, welche
uns von den Römern überlifert find und an welche fich unl'ere Schriit
anlente, kamen durch die Entwicklung der neueren Sprachen allmäh-
licli neue, indem fich mannigfache Zwifchenftufen zwifchen den drei
Eckpunkten a, i, u, fowie neue Diphthongen bildeten. Anlich war eä
mit den Konfonanten, die fich durch Vor- und Rückfchiebungen der
Artikulationsftellen und durch Abftufungen in den Artikulationsgraden
vervilfciltigten. Es konnte daher nicht ausbleiben, dass man einzu-
fehen anfing, dass die uns überliferten lateinifchen Schriftzeichen zu
einer genaueren Darftellung der neueren Sprachen nicht ausreichten.
Schon der Frankenkönig Chil per ich (561 — 584)hatte verfucht,
das lateinifche Alphabet für vier deutfche Laute zu ergänzen, ono
damit durchzudringen.
Otfrid von Weißenburs: machte um 868 in dem an Liutbert,
Erzbifchof von Mainz, gerichteten Schreiben, welches er feinem Evan-
gelienbuche als Vorrede voranfchickte, wenn auch nur in fer knapper
Weife, auf einige Übelftände aufmerkfam, welche die zu geringe Zal
der lateinifchen Buchftaben boten. So vilfach die betreffenden Stellen
auch fchon befprochen find, fo dürfte doch eine erneuerte Betrachtung
derfelben vom Standpunkte der heutigen Sprachphyfiologie aus nicht
überflüssig fein.
Es heißt bei Otfrid:
„Hujus enim lingnse barbaries ut est inculta et indisciplinabilis
atque insueta capi regulari freuo grammatica? artis, sie etiam in multis
74 Bemerkungen zu Otfiid ad Liutbertum.
diotis sciiplo est proptcr Htcrarum aiit congeriem aut incognitam sono-
ritatcm difiicilis. Nam inteidum tn'a uuu^ iit puto, qua?rit in sono,
priores dno consonantes, ut mihi videtur, tertium vocali sono manentc;
inlerdum vero nee a, nee e, ncc i, nee u vocalium sonos pra^eavere
potni: ibi y greeum mihi videbatiir ascribi. Et etiarn hoc elementuni
lingua ha?c horrescit fnterdum, niilli sc caracteri aliquotiens in qiiodam
sono, nisi difficile jungens; h et z sepius ha?e lingua extra usum latini-
talis utitiir, qua^ grammatici inter literas diciint esse superfluas. Ob
Stridoren! au lern dontium, ut puto, in hac h'ngua z utuntur, k autem
ob fautium sonoritatera. — Ilic sepius i et o cetera^que similiter cum
illo vocales simul inveniuntur inscripta?, interdum in sono divisaj vo-
cales manentes, interdum conjunetae, priore transeunte in consonantium
potestatem."
Die Worte: „Et etiarn.. . superfluas" find in der Wiener Hand-
fchrift in drei Zeilen an Stelle zweier früher dageftandenen nicht mer
erkennbaren durch den Korrektor eingefchriben. (Vergl. das genaue
Facfimile bei Kelle II, Tafel 2. Erdmanns Otfrid p. IX und 328.)
Wir dürfen in den anirefürten Worten im sjan/.en wol den Stand
der Laut- und Schreiblere erkennen, wie folche in Fulda unter der
Leitung des H r a b a n u s Mau r u s (822 — 847), dessen Schüler Ot-
frid war, gelert wurde, über den aber Otfrid im einzelnen hinauszu-
gehen verfuchte. (Vgl. Job. Müller, Quellenfchriften S. 191 ff.)
Bei der Aufzälung der Vokale a, ^, i, u ist o villcicht zu ergän-
zen, indem es nur zufällig ausgelassen wurde; villeicht ist es aber
auch abfichtlich nicht mit aufgefürt, da für o kein ij eintritt.
Die Eingangsworte der anjjefürten Stelle erinnern wol an Donat:
„Omnis vox aut articulata est aut confusa. articulata est quce litteris
comprehendi potest, confiisa quas scribi non potest" (Keil IV, 367).
Wie weit lautgetreu gefchriben werden kann, das hängt eben von dem
Zuftande der Entwicklung der Schriftzeichen ab.
0. Erdmann, Otfjids Evangelienbuch S. XIII, bemerkt über
das y der Wiener Handfchrift: ,.y ftellt der Korrektor befonders häufig
(aber nicht durchgehend) aus i des ersten Schreibers her in der Vor-
filbe />-, die derfelbe öfters (namentlich in den Marginalien) auch fchon
fo gefchriben hatte; ferner ebenfalls beim ersten Schreiber einmal aus
e in fyrsagenti I, 4, 68; einigemal aus ^i: blyent III, 7, 64, gimyatu
III, 22, 37, gimyato II, 21, 27. III, 6, 26 (fo fchreibt Sehr. I von
felbst Sah 32), syah Ilf. 18, 19 (wol um der Lefung suah =z swah
Bemerkun<ren zu Otfrid iul Liutbertum. 75
•&
vorzub( ijgen); st/uzo III, 5, 20; beim zweiten Scbroiber iVy aus Xu
IV, 28, 11, bhjent ans W?^e«/ V, 23, 273. — S. 328: y ist in Y
häufiic aus einem vom Schreiber «refotzten Vokal korriofirt, nnd zwar
im eiirentlioLen Sinne durch Hinzufchreiben oder durch Anfii^runn: eines
Striches." (Vgl. Kelle II, 445.)
Lachmann (Otfrid 1833, Ersch und Gruber Sect. III, T. VII,
Kl. Schriften I, 459) fagt über Otfrids Angaben : „Er bemerkt, i vor
Vokalen fei bald diphthongifch, bald Konfonant, er erklärt die Schrei-
bung nun, wenn ivu gemeint ist, für genauer als das in den Hand-
fchriften feines Werkes doch auch vorkommende im. Wunderbar ist
das y, welches er gefetzt habe, 'wo er den Laut keines der fünf Vokale
habe können befchaffen. Nach dem Gebrauch in den Handfchriftcn
könnte man wol an ein verkünmiertos und an ein umgelautetes u den-
ken, aber für difen Umlaut in fo früher Zeit wage ich mich nicht auf
mu'dleii im Gedicht auf den h. Georg zu berufen, welches villeicht
malljen heißen foll. Den hbenten Vokallaut, welchem auch ij nicht
genügen foll, weiß ich nicht zu erraten."
Dagegen bemerkt Müllen ho ff (Denkm.- 322) zu dem in der
pfiilzifchen Handfchrift des Otfrid erhaltenen Georgsliede, V. 38:
man goihezen muillen ze pulver al uerptjrnnen,
nach Müllenhoffs Lesung:
man goliiez en müllen, ze pulver al verprennen:
„Durch das ui in muillen fcheint der Umlaut ü bezeichnet zu fein. Auf-
fallend genug: doch liisst fich die Anficht, dass die ersten Anfänge difes
LTmlauts nicht in die ahd. Zeit hinaufreichen, daraus nicht erweifen,
dass er aus den Handfchriftcn nicht zu erkennen ist; noch mhd. Hand-
fchriftcn, z. B. die Gießener des Iwein lassen ihn unbezeichnet."
Auch im Ndd. blib der Umlaut oft noch lange unbezeichnet, wo er
doch wol fchon vorhanden war. Lübben fcheint mir in der Läugnung
des Umlautes im Mnd. zu weit gegangen zu fein. (Vgl. darüber meine
Beiträge zur Gefchichte der Rechtfchr. II, 72 ff.) Das y wurde ja auch im
Nord, und Agf. als L^mlaut von u gebraucht. Wir werden daher" wol dabei
bleiben müssen, dass Otfrid durch y den Laut ü habe andeuten wollen.
Für das griechifche y im fremden Worte sillala fchreibt Otfrid I,
1, 23 bereits i. (Vgl. Grimm Gramm. I^ 80, Wackernagel, Umdeut-
fchung, Kl. Sehr. HI, 276.)
Was den fibenten Vokal betrifft, von dem Lach mann fagt
dass er ihn nicht zu erraten w^sse, fo kann, da an den Umlaut ö zu
76 Bemerkungen zu Otfrld ad Liutbcrtum.
Otlrids Zeit im Hoclideutfchen nicht zu denken ist, wol nur das ton-
lofe e gemeint fein. In unbetonten Silben war dis, wenn es auch kein
befonderes Zeichen hatte, im Ahd. nach Lachmanns eigenen Ausfürun-
gen fchon vorhanden. Lach mann, über ahd. Betonung und Vers-
kunst (Kl. Sehr. I, S. 401) bemerkt: „dass die hochdeutfche Sprache,
fo früh wir fie kennen, fchon einzeln und allgemach immer mer, den
Ableitungsfilben ire vollen Vokale entzieht und fie in ein unbetontes
e abf eh wacht, wärend fie den Flexionsendungen bis ins 12. Jarh. weit
mer die urfprünglichen Laute, oft fogar noch die Länge lässt."
S. 402 . „Die oberflächlichste Betrachtung otfridifcher Verfe muss leren,
dass ihm das tonlofe e ein fo guter Vokal ist als alle anderen, dass er
es fer oft in die Hebung des Verfes fetzt, wo die folgende Senkung
einen vollen und oft einen langen Vokal oder Diphthong enthält."
Auch unfere gewönliche Schrift hat noch heute kein befonderes
Zeichen für difen unbetonten, außerhalb des Hell wag- Chladnifchen
Dreiecks flehenden Vokal (Siueets mid-viLved-narroiv), und überlässt es
der genaueren Schreibung der Dialekte, ficli zu helfen. S e h m e 1 1 e r
hat dafür d. andere haben e oder e eino;efürt.
Otfrids Bemerkung über das unfilbige (halbkonfonantifche) in
consonantium potestatem übergehende / vor anderen Vokalen fch ließt
fich unmittelbar an Donat an, bei dem es heißt: „/ et u transeunt in
consonantium potestatem, cum aut ipsaj inter se gcminantur aut cum
aliis vocalibus iunguntur, ut luno, vates.'^ (Keil IV, 367.) So heißt
es auch bei Aelfric, ed. Zupitza, S. 6 : „i and u bcou dwende to con-
sonantes, gif hi beod toga^dcre gesette odde mid odrum swegendlicum."
(Über die unfilbigen Vokale vgl. Sievers Phonetik 123,- Kräuter Laut-
verfeh. Anh. I.) Bei Otfrid find die vokalifchen i und u von den kon-
fonaiitifchen forgfältig durch die Accente unterfchiden. (Vgl. Erdmann,
S. lU und 329; Piper, Lit.-Gefch. u. Gramm. 278.)
Die Entftehung des Zeichens iv aus iiu deutet fchon darauf hin,
dass IV im Ahd. noch dem Vokal u näher ftehend halbvokalifch und
bilabial, noch nicht labiodental (genauer labio-marginal) war. (Vgl.
Grimm I- 139.) Statt der zufammcngefetzten Anlaute siv, thw, die,
zw fteht bei Otfrid noch einfach sii, ihu, du, zu (cf. Erdmann XII)
z. B. ijisukhen IV, 13, 25, tliuingan III, 7, 65, thuungin V, 20, 87;
duellen I, 27, 16, dualta I, 19, 17; suival II, 12, 17 etc. (vgl. Kelle
II, 483 f.). Die Angelfachsen fuchten fich durch die Rune wen zu
helfen, f'ir welche fpäter ebenfalls lü eintrat.
Bemerkungen zu Otfrid ad Liutbertuni. 17
In betreff des k und z bemerkt Lachmann : „dass Otfrid die iin-
lateinifchen Bucliftaben als notwendiges Übel anfehe, fei ihm oft als
Befchränkung vorgeworfen." Ich kann indes in den Worten Otfrids
nicht finden, dass er die k und z als ein Übel anfehe. Er Tagt vilmer
nur: unfere Sprache gebrauche fie öfter extra usiim laiinitatis^ und dass
es grammatici gebe, welche fie für überflüssig erklärten.
Das durch die hochdeutfche Lautverfchiebung aus t eniftandene
z liatte (ich, wie Jakob Grimm und G ra ff unzweifelhaft nachge-
wifen haben, fchon im 8. Jih. in zwei Laute gefpalten :
1) z =n dem Affrikatdiphthongen ts,
2) 3 =:: einer einfachen Spirans (= unferm ß wie in gießen).
Im Anlaut ist z diphthongifch = ts geblibon, wärend urfprüng-
lich einfaches t im In- und Auslaut im allgemeinen unter Verdrängung
des t zur bloßen Spirans geworden ist.
Otfrid hatte, wie es mir fcheint, in der citirten Stelle den Ge-
brauch des z für die Spirans im Sinn. Von z ^= ts hätte er wol kaum
fagen können, dass es extra usum latinitatis fei, da Z, wenn es auch
erst nach Festfetzung des übrigen Alphabetes, zugleicli mit dem Y, aus
dem griechifchen Alphabet in das lateinifche aufgenommen und an den
Schluss desfelben hinter X geftellt wurde (vgl. Kirchhoff, Studien zur
Gefchichte des griech. Alph.^ 120), doch in der lateinifchen Schrift die
Geltung =r=ts erlangt hatte. Von difem z hätte er doch wol nur fagen
können, dass es in der deutfchen Sprache vil häufiger vorkomme als in
der lateinifclien.
Schon der Schreiber der Parifer Handfchrift des Ifulor de nativitate
domini^ wol auch ein gelerter Mönch, hatte das Bedürfnis gefiilt, den
Spiranten 3 durchgehends von dem Affrikatdiphthongen z v.w unter-
fcheiden ; er hatte zu dem Hilfsmittel gegriffen, dass er f, {{ als De-
terminativ hinter z fetzte, wärend andere Schreiber das Determinativ
f vor das z fetzten, was mit der Zeit das gewönlichere wurde.
Doch vfüY man in Fulda und in St. Gallen in bezug auf die
Schreibuno; der Zifchlaute hinter der Genauis^keit des Schreibers des
Ifidor zurückc-ebliben, indem in beiden Schulen das Zeichen z in der
doppelten Bedeutung der Affrikata und der Spirans one Unterfchei-
duno; beibehalten wurde, obwol fich auch fow^ol in Fulda wie in St.
Gallen einzelne sz einftellten. Im Tatian (vgl. Sievers Vorrede
S. 14) findet fich einmal sz : gisaaznisso^ urfpninglich hatte es aber
öfter in der Handfchrift geftanden. In der Benediktine rregel
!?Ö t3cmerkun<xen zu Otfrid ad Llutbertum.
'Ö'
lindet lieh c?^ zweimal: hiwi6zida^ Ilatt. I, 72, tui6zun 98, o; bei
Notker: rdbena iinde dlbisze Mcp. llatt. III, 285. Vgl. Seiler bei
Paul-Branne I, 416. Auch fönst kommen vereinzelte sz oder zs vor.
Dass das 3 als Spirans ein dem s naheftehender Laut war, geht
ichon daraus hervor, dass fich bei Otfrid, wenn das folgende Wort
mit einem s beginnt, häufig durch Assimilation hervorgerufen, was für
wai gefchriben findet: icas so, was sies etc. (Vgl. Kelle II, 367, 508.
Piper I, 104.)
In bezug auf die genauere phyfiologifche Beftimmung der Spirans
3 flehen noch immer hauptfächlich drei Anflehten neben einander:
1) Die Kumpel tfche, zu der fich auch Wein hold (vgl. mhd.
Gram.- § 203) gewandt hat, dass fchon die ahd. Spirans nichts ande-
res als ftimmlofes alveolares s gewefen fei, mochte dis nun apikal oder
doifal gebildet werden. Der Keim zu difer Anficht findet fich fchon bei
Wolke und in R. v. Raumers Schrift übe)' die Aspiration inid Laut-
verj cliiebung 1837. Die Deductionen Raumers find fönst vorzüglich,
aber darin ftrauchelte er, dass er von vorn herein (§ 21, 22) die Arti-
knlationsftelle von 3 = ß als identifch mit der von f annam.
2) W. Wackernagels Anficht geht dahin, dass die Spirans 3
vom alveolaren s verfchiden gewefen fei, dass fich aber nicht mer
ermitteln lasse, worin der Unterfchid beftanden habe. Noch 1866
fagt er ausdrücklich: „Der Laut des altd. z oder sz ist fchon feit einem
halben Jartanfend und darüber erftorben und für uns unwid erfind-
bar." (Kl. Sehr. III, 34.) Auch Andrefen erklärt noch 1870 den
Laut des 3 für unbekannt: „Wer vermag anzugeben, in welcher Weife
verfchiden?" (ZS. f. d. Phil. II, 325.)
3) Die dritte Anficht, welche die Spirans 3 als marginal-dentale
vom alveolaren s unterfcheidet, ist, fovil ich weiß, zuerst von mir 1862
aufgeftellt. (Herrigs Arch. Bd. 32.) — Herrn. Paul (Beiträge I,
1.S74, S. 169) ist dann genau zu derfelben Beftimmung gekommen:
..Bei der Bildung des 3 wird die Zungenfpitze nicht fo weit vorgefcho-
ben als bei der des englifchen tli, fondern kommt höchstens bis an den
Rand der oberen Zanreihe.'* — Braune (Beitr. I, 530) kommt eben-
falls zu der Anficht: 1) dass der Unterfchid zwifchen s und 3 in der
ahd. Zeit ficher nicht auf tönender und tonlofer BefchaflTenheit beruhte,
2) dass difer Unterfchid ein Unterfchid der Artikulationsftelle war, und
zwar, dass die Artikulationsftelle des mhd. 3 mer nach vorn an den
Zänen. die des s weiter nach oben und fo den slavifchen kakuminalen
Bemerkungen zu Otfrid ad Liutbortuni. *9
Lauten verhältnismäßig am nächsten lag. — Seh er er (zur Geioh. d.
d. Spr.2 184) ftimmt fchließlich dem zu, dass das auslautende s tonlos
fei, und dass der Unterfchid zwifchen e^ und es nicht in feiendem oder
zutretendem Stimmton beftehen könne. (Vgl. meine Zifchlaute. 2. Aufl.)
Hätte Otfrid die Spirans 3 als alveolares s gefpiochen, wie es
Rumpelt und feine Anhänger annemen, fo würde er fchwerlich
gegen die grammatici aufgetreten fein, die das 3 inter Uteras siiperßaas
rechneten ; er hätte es dann vilmer felbst in difem Sinne als eine litei^a
superflua bezeichnen müssen, wogegen er (ich deutlich genug erklärt.
(Für z =r (s hätte man, wenn auch weniger beholfen, ts fetzen können.)
Eine prägnantere Bedeutung erhalten indes die Worte Otfrids, wenn
wir 3 als Zeichen des marginalen Lautes anfehen, den die lateinifche
Sprache überhaupt nicht kannte, als wenn wir es als identifch mit
alveolarem s annemen.
Dife Aufflissung, meine ich, werde auch durch die Worte oh stri-
dorem dentium einigermaßen, wenn auch allerdings nicht ausreichend,
unterftützt. Auch unfer alveolares s pflegt man, da der Luftftrom des
an den Alveolen gebildeten Fricativlautes an den Kanten der Zäne
vorbeipassiren muss und hier noch eine Brechung erhält, einen Stridor
dentium zu nennen; aber der unmittelbare fpecififche Stridor dentium ist
doch der, welcher direkt an den Kanten der Zäne feine Artikulation
erhält.
Auch Otfrids scepius erhält damit eine fchärfere Bedeutung, da
die Spirans 3 im Ahd. häufiger ist als die Affrikata z.
So meine ich, dass wir Olfrids Anficht wol am nächsten kommen,
wenn wir annemen, dass er unter Stridor dentium genau das verftanden
hat, was ich feit 1862 als marginal-dentale Spirans anfgeftellt habe.
Der Laut hat fich vom Beginn des Hochdeutfchen ab nach betontem
langem Vokal bis insNhd. erhalten, wärend er nach kurzen und schwach-
betonten Vokalen und nach Konfonanten feit der Mitte des 13. Jrh.,
wie allgemein anerkannt wird, in alveolares s übergegangen ist. Der
zur Tradition gewordene Satz, dass die Spirans 3 feit der Mitte des
13. Jrh. allgemein in alveolares s übergegangen fei (cf. Weinhold mhd.
Gramm.2 § 204), bedarf jedenfalls einer Befchränkung.
Kräuter, zur Lautverfch. 56 bemerkt, dass die Länge fowol
Vokale als Konfonanten häufig vor Veränderungen fchütze, welchen
die Kürze unterlige. „Vile Sprachen und Mundarten haben das kurze
s zwifchen Stimralauten auch nach kurzoreblibenen Selbstlautern tönend
so Bemerkungen zu Otfrid ad Liutbertum.
o
gemacht, abei nicht das iiri'prünglich gedente ss." Dagegen zeigt uns
das marginale 3 ein anderes Verhalten : die Verdoppelung 33 nach
kurzem Vokal ist in alveolares s übergegangen, wärend 3 nach langem
A'okal unverändert geblibcn ist: iva^ier ist zu wasser geworden, wärend
gro},e einer folchen Veränderung allgemein nicht unterlegen ist.
Anlautend kommt die Spirans 3 im Hochdeutfchen nicht vor, da
hier z diphthongifch =r ts gebliben ist, doch darf die marginale Spirans
villeicht angenommen werden, wenn in einem Reichenauer Nekrologe
des 9. Jrh. nordifehe Pilgrime J)or, porgils als zor, zurgils eingetragen
lind. (Grimm, Gefch. d. d. Spr. 395.) Auch wird in englü'chen Dia-
lekten oft z für th gefchriben, wo wol auch an marginales 3 zu denken
ist. Villeicht dürfen wir überhaupt das nord. und agf. th noch unferm
marginalen 3 näher flehend annemen als es gevvönlich nach der heut
liberwigenden interdentalen Ausfprache des englifchen ili gefchiht.
Es feit ja auch noch heute in England nicht an Phonetikern, welche
das th nicht interdental, fondern marginal bilden (Svveets iwmf-teeth-
opeii). Bell fpricht es marginal und divided.
Paul weift zugleich noch darauf hin, dass die Spirans 3 = ß im
Judendeutfch für anlautendes hochd. z eingetreten fei. Im Hochdeut-
fchen hat fich die Verfchiebung von der AfTrikata zur Spirans auf den
In- und Auslaut befchränkt. Das Judendeutfch ist aber in difer Ver-
fchiebung um einen Schritt weiter gegangen, indem es auch anlautendes
hochd. z in die Spirans 3 verwandelt: yßu''* ftatt „-2"«", wie dis der
Abgeordnete Frhr. v. Hamm er stein in der Sitzung am 5. December
1883 bei dem Worte „woßu" dem Abgeordnetenhaufe ad aures demon-
strirt hat. In dem ftenographifchen Berichte hat Frhr. v. Hammer-
stein, wie er felbst erklärt hat, z in ß korrigirt.
Grimm (Gefch. d. d. Spr. 416) weift darauf hin, dass anlauten-
des sz (ich im Ungarifchen finde; „Auch finnifch T follte einen ver-
fchobenen ungr. Laut zur Seite haben, und wirklich fcheint ihm sz
zu enlfprechen in ^M2iZ2 ventus, ungr. 52-^/, tahho angulus, ungr. szöglel.''''
Doch dürfte aus difem Vorkommen wol nicht auf einen direkten Zu-
l'ammenhang zwifchen ungarifchem sz und judendeutfchem ß zu fchlie-
ßen fein ; das Ungarifche ligt dazu doch wol zu fern. Indes verdient
die Frage, wie die in Rede ftehende Eigentümlichkeit des Judendeutfch
entftanden fei, noch weitere Prüfuns:.
Wie weit der marginale Laut nach betontem langem Vohal noch
heute von dem alveolaren hinreichend fcharf unterfchiden wird, darüber
Bemerkunjien zu Otfrld aJ Llutbertum. 81
e
gehen die Anßchten nocli auseinander. Sievers (Litt. Centralbl. 1883
No. 23) hat zugegeben, dass in gewissen Gebieten der preußifchen
Provinzen Brandenburg und Sachsen der Unterfchid noch ftatlfindet;
am fchärfsten ist er mir bei Eingebornen der Provinzen Preußen ent-
gegengetreten. Auch ist es gewiss nicht zufällig, dass feit dem An-
fange der fünfziger Jare Österreich der Hauptfitz der Kämpfe für die die
Untcrfcheidnng von ß und ss durchfürende Heyfefche Regel geworden
ist, und dass dife bei der Festfetzung der Rcchtfchreibung für die öster-
reichifchen Schulen durch die Epoche machende Verordnung der öster-
reichifchen Regirung vom 2. Aug. 1879 den Sig davongetragen hat.
Das Streben, unfere Laute in die engen Fesseln des lateinifchen
Alphabets zu zwängen, hat feit einem Jartaufend an der dentalen
Spirans gerüttelt, am meisten zu Luthers Zeit und von neuem durch
Rumpelt, one ihn doch ganz befeitigen zu können. Um fo anerken-
nenswerter ist es, dass Otfrid bereits als Wächter auftrat, dass wir
uns von der lateinifchen Schrift nicht ganz behindern lassen füllten für
die eigentümlichen deutfchen Laute eigentümliche Bezeichnungen ein-
zufüren. So gut die Grundlage des lateinifchen Alphabets für unfere
Natlonalfchriften ist, und fo woltätig Cie feit Einfürung des Chiisten-
tums gewirkt hat, fo durfte doch für fie nicht jede weitere Entwick-
lung abgefchnitten werden. Für die phonetifch genaue Umfchreibung
der Sprachen und Mundarten fteigern ßch natürlich die Anforderungen.
(Vgl. darüber H. Hübfeh mann, Umfchreibung der iranifchen Spra-
chen und des Armenifchen.)
Noch eins tritt uns aus der Handfchrift des Otfrid entgegen.
Jakob Grimm hat für die dentale Spirans, um fie von z = ts zu
nnterfcheiden, das fogenannte gefchwänzte 3 angenommen. R. v. Muth
in feiner Anzeige der 3. Auflage von Lübbens Wörterbuch zu den
Nibelungen (Anz. f. d. A. III, 272) nennt das nach feiner Anficht
ganz überflüssige und entberliche 3 „eine üble Nachamung der franzö-
lifchen Cedille." Allein fchon zu Otfrids Zeit ftehen z und 3 als gra-
phifche Varietäten fridlich nebeneinander. (Über frühere Vorkommen
des 3 vgl; Wattenbach, lat. Pal.^ 55.) Gerade an unferer Stelle fteht
in der Handfchrift ein fer fchön gefchwänztes 3. Dife Form wird nach
Wattenbach fpäter die gewönliche, weil die auch noch vorkommende z
dem r rotundum zu änlich wird. Was lag daher näher als dass
Grimm die beiden handfchriftlich vorhandenen Zeichen dazu benuzte,
um für das ahd. und mhd. die 'beiden verfchidenen Laute des alten z,
Avcliiv f. n. Sprachen. LXXIII. 6
82 Bemerkungen zu Otfrid ad Llutbertüm.
die AftVikata und die Spirans, von einander zu unterfclieiden ? Die
fpan i Icl 1 - fr an zoll fehe Cedille, aus untergefetztem z entftanden (vgl.
AVatlenbach, p. 5G), ist jüngeren Urfprungs und wir bedürfen ircr nicht,
um uns das Grimmfche 3 zu erklären. Für das Nhd. bot lieb als Erfatz
das ß, ßi über dessen Gcfcbichte ich an anderm Orte gefprochen habe.
Was endlich das k betrifft, fo unterfcheidet Otfrid feinhörig das
deutfche von einem Nachlaute begleitete h (x/) von der echten reinen
romanifchen tenuis c. Difer Unterfchid ist namentlich von Kräuter
ausfürlich erörtert. Derfelbe lagt darüber (Lautverfeh. 84): „Otfrid
fchreibt im Anlaut, ferner nach rj /, n im Inlaut beinahe immer k (zu-
weilen auch ch) und gewönlich auch für ck; leztercs ist nur dadurch
erklärlich, dass k eine Doppelkonfonanz bezeichnete; auch im Tatian
kommen folche k =z ck vor (bei Williram, welcher im Anlaut ebenfalls
k hat, zeigen fich wie im Ifidor, bei Notker und in der Benediktiner-
regel auch eck für ck). Wenn Otfrid das k vor flexivifchem t regel-
mäßig in g verwandelt, fo ist k offenbar eine Affrikata, welche iren
Reibelaut vor einer Tenuis einbüßt, änlich wie im Griechifchen und
Sanskrit kJit, plit zu kt, pt werden." (Vgl. Kelle II, 523; Piper Lit.-
Gefch. u. Gramm. 241.)
Damit dürfte auch unfere Bezeichnung ck einen weiteren Hinter-
grund gewonnen haben.
Otfrid verlangt das Zeichen k : oh faucium sonoritatem.
Fauces oder isthmus faucium heißt die Enge zwifchen dem Gaumen-
fegel, den Gaumenbögen und der Hinterzunge, welche die Mundhöle
von der Rachenhöle (griechifch pharynx) trennt. (Vgl. Grützner,
Phyf. der Stimme 68, v. Meyer, Sprachwerkzeuge 124.) Doch wii-d
fauces lateinifch auch für die Rachenhöle felbst gebraucht.
Faucal hätte man danach villeicht die Artikulation nennen können,
welche Rumpelt velar^ Kräuter postpalatal, Sievers guttural nennt.
Es fei mir hier geftattet, noch eine Bemerkung aus der Gefchichte
der Vokallere einzufchalten. Hieronymus Fabricius ab Aqua-
pendente, de locutioue., Ven. 1601 fetzte die Umwandlung der Stimme
in die verfchiden artikulirten Vokale in diu fauces; er fügte dann frei-
lich hinzu: „At quonam modo afficiatur aer et in quam figuram partes
varlae ad variam Vocalium formam contrahendain conformentur, ab-
strusa sane res est. Et num in vocali 0 rotundari magis faucium cavi-
tatem contingat ; in A vero potius ovalem figuram in longum productam
Bemerkungen zu Otfrkl a I Liutbertum. 83
Ö
efficere: quemadmodum in E Iraiisverse ovalem: in I autem acuminatam :
in U demum profundiorem cavitatem, ego sane rem difficillimam definiro
minime ausiin." — Dass indes die Konformation der fances allein nicht
ausreiche, um die Klänge der verfchidenen Vokale zu erklären, wussle
fchon das Altertum und ist durch alle neueren Unterfuchungen beftä-
tigt. Doch ligt in den angefürten Worten immer fchon ein Vorbote zu
den neueren Vokaltheorien.
Mir fcheint es keine glückliche Wal gewefen zu fein, als Lep-
s i u s die im Kelkopf an den Stimmbändern (iramediately at the larynx,
fagt er ungenau, Stand. Alph. 68) gebildeten Laute, wie unfer h,
fauccd nannte. Für dife Laute wird wol der Ausdruck laryngal^ den
ich in meiner Abhandlung über die Benennung der Kelkopflaute 18G3
(ZS. f. Sten, u. Orth. IL Jarg.) vorgefchlagcn habe, der zweckmäßigste
fein. Die lateinifche Benennung des Kelkopfs war guttur, die griechi-
fche larynx. Schon der Begründer der neueren Anatomie Andreas
Ve sali US, Corporis Immani fahrica, Bas. 1543, gab der griechifchen
Benennung den Vorzug vor der lateinifchen. Er fagt: „Caput quidem
asperos arteria^ laryngem potius quam guttur mihi appellandum putave-
lim." Den Grund zu difer Entfcheidung könnte man darin fuchen
wollen, dass fich die ungute Bezeichnung guttural für die mit dem hin-
tern Teil der Zunge am Gaumen artikulirten Laute bei den Grammatikern
bereits festgefelzt hätte; allein das ist in hohem Grade unwarfcheinlich ;
ich finde den Ausdruck guttural zuerst bei Joh. Wallis 1653, alfo
erst 110 Jare nach dem Erfcheinen von Vesals Werk. Es haben fich
bereits vile Stimmen dafür erhoben, dass man den von Wallis einge-
Kirten verkerten Gebrauch des Wortes guttural wider aufgeben foUe.
Nach Vesal haben die Anatomen aller Nationen die griechifche
Benennung des Kelkopfs larynx angenommen und dabei wird man wol
bleiben. Die phonetifche Nomenklatur wird fich aber immer der fest
beftimmten anatomifchen möglichst nahe anzufchließen haben. Dadurch
werden am besten Missgriffe vermiden, wie fie fo vilfach vorgekom-
men find und noch täglich vorkommen.
Otfrid fagt gegen den Schluss feiner Vorrede vom Schöpfer der
]\[enfchen: „qui plectrum eis dederat linguae." Darin könnte man
villeicht einen Anklang an Galen finden, welcher dem Zäpfchen {uva,
7ivula, griechifch yaQyaQscöv^ die Rolle eines Piektrums zugefchriben
hat: „0 ftlr ovQaviOKog oiov i]x£l6v ti TTQOxeifisvor, b 8l yanyuQecov o'iov
nlr^HTQov.'* (Gal. ed. Kühn III, 526.) Allein der leztere Vergleich
6*
84 Bemerkungen zu Otfrld ad Liutbertum.
ist fchon bei Galen fchwerverftändlich (vgl. Grützner, 73). Wir wer-
den daher in dem Ausdruck plectrum bei Otfrid wol nur eine allge-
gemeine Hindeutung auf die Beweglichkeit und Schlagfertigkeit der
Zunge erblicken; in difer Beziehung dürfte ja doch die Zunge das
Zäpfchen, dessen Functionen erst die neuste Zeit richtig erkannt hat,
wol noch weit übertreffen.
Wir müssen nach allem fchließlich Scherer (z. Gefch. d. d. Spr.^
31) recht geben, wenn er Otfrid bessere Kentnis vom Mechanismus
des Sprechens zufchreibt, als etwa das gelerte Deutfchland des 11. Jrh.
fich gebildet hatte, welches wol kaum über Donat hinausgekommen ist,
und werden dem Dichter des Evansfelienbuches, des jjrößten Denkmals
ahd. Sprache, fo kurz und fragmentarifch feine Bemerkungen über die
Laute find, gern auch einen hervorragenden Platz an der Spitze der
Gefchlchte der deutfchen Phonetik einräumen.
Einige Bemerkungen * i
Über den Unterricht in der englischen Grammatik
aDgelcniipft
an den „Lehrgang der englischen Sprache" von Deutschbein.
V^on Hermann Isaac.
Dafs die Grammatik von Deutschbein* sich grofser Beliebtheit
erfreut, beweist die Zahl der Auflagen, die sie im Laufe eines neunjähri-
gen Bestehens erlebt hat ; und diese Vorliebe ist allerdings eine berech-
tigte. Der Herr Verfasser hat es sich angelegen sein lassen, durch
unablässige, verbessernde Arbeit seine Grammatik zu einem äufserst
praktischen Schulbuche zu machen, das dennoch diejenige Wis-
senschaftlichkeit, wie sie für höhere Knabenschulen erlaubt und
erforderlich ist, nicht vermissen läfst.
Als ein Vorzug nach der letzteren Seite hin, der den meisten eng-
lischen Grammatiken abgeht, ist die Verwertung der Resultate der laut-
physiologischen Forschungen zu bezeichnen, die einerseits in einer ein-
leitenden Abhandlung zusammengestellt sind, andererseits in den vor-
trefflichen Lautbeschreibungen der ersten Lektionen zur Geltung kom-
men. Der viel beklagte Mifsstand der Aussprache des Englischen auf
unseren Schulen kann nur gehoben werden auf dem Wege wissenschaft-
licher Vertiefung in die Gesetze der Lautbildung. Und da nun vor-
aussichtlich nicht alle Lehrer eins oder das andere der hervorragenden
Werke auf diesem neuangebauten Gebiete — EUis, Sweet, Sievers,
Vietor — zum Gegenstande privaten Studiums machen werden, so ist
* Theoretisch-praktischer Lehrgang der englischen Sprache mit genü-
gender Berücksichtigung der Aussprache für höhere Schulen. Achte ver-
besserte Doppelauflage. Köth^n (O. Schulze), 1884. — 8. XX u. 440 S.
Kl Einige Bemerkungen über den Untei rieht in der engl. Grammatik.
die erwjilinle .Vbliuiidlimg, welche nicht für Anfanger, sondern für die
Lehrer und auch wohl für die Schüler der obersten Stufe berechnet ist,
ein verdienstliches Werk. Ebenso anerkennenswert ist es, dafs der
Verfasser fortgesetzt auf analoge Erscheinungen der deutschen und
französischen Grammatik aufmerksam macht und an geeigneten Stellen
- — z. B. bei der das Particip und das Verbalsubstantiv zugleich ver-
tretenden Form — auch den älteren Sprachstand zu kurzen, sachlichen
Erklärungen heranzieht.
I Der Verfasser einer Schulgramniatik mufs aber nicht blofs Philo-
loge, sondein auch praktischer Schulmann sein; und als solcher bewährt
sich Deutschbein in der wohldurchdachten, methodischen Verteilung des
Lernstoffes und in der klaren, logisch knappen Fassung der Regeln ;
grammatische Abhandlungen, die das bekannte Mühlrad in den Köpfen
der Schüler in Bewegung zu setzen pflegen, kommen in diesem Lehr-
buche nicht vor. Der Stoff ist auf vier Jahreskurse verteilt: auf den
ersten (Abschnitt 1, 2) fällt die Einübung der Aussprache, der elemen-
taren Formenlehre und der zur Satzbildung unentbehrlichsten syntakti-
schen Verhältnisse, auf den zweiten (Abschnitt 3, 4) die vollständige
Formenlehre, auf den dritten (Abschnitt 5, 6) die Syntax ; der vierte
ist ein Repetitions- Kursus mit vorzugsweise zusammenhängenden
Übungsstücken, in dem die früheren Abschnitte eine Reihe von gram-
matischen Erweiterungen erfahren.
Die Aussprache wird, wie es sich gehört, in einer Reihe von
einfachen Reseln neben der Formenlehre bis zur vierzehnten Lektion
behandelt; die Bezeichnung derselben erfolgt durch Zeichen über und
unter den Vokalen (- - - . .. "') und Schrägstellung der stummen Buch-
staben. Daneben werden eine Anzahl von orthographischen
Regeln seireben, die den Anfän<rer vor manchen überflüssi;ren Fehlern
bewahren. Nach der 17. Lektion (d. h. nach einem Semester) ist der
Schüler weit «zenu"; fortjreschritten, um mit der Lektüre leichter, zu-
sammenhängender Stücke zu beginnen; das dem Lehrbuch angehängte
Lesebuch ist für die Bedürfnisse des ersten Jahres vollkommen aus-
reichend. Die Übungssätze, in denen auch die Umgangssprache
zur Geltung kommt, sind anfangs sehr einfach, steigen aber hinsicht-
lich ihrer grammatischen Schwierigkeit wie ihres Gehalts in angemes-
sener Stufenfolge empor; erwähnenswert sind die den Übungsstücken
angehängten Sprichwörter und Dichterstellen. Repetitionsstücke
sind zahlreich eingeschoben, und am Ende der Abschnitte hat der Ver-
Einige Bemerkungen über den Unterricht in der engl. Grammatik.
87
fa>ser zum Zwecke grammatischer Rcpctition eine groi'se Anzahl von
Sätzen, in denen die behandelten Regeln in prägnanter "Weise zur Dar-
stellung gelangen, zusammengestellt.
Im besonderen ist lobend hervorzuheben die Behandlung der un-
regelmäfsigen Verba, welche ihrer grofsen Wichtigkeit ent-
sprechend in zwölf Lektionen verarbeitet werden. Ihre Einteilung ist
die von der Sprachwissenschaft geforderte, in schwache und starke,
welche letzteren nach der Art ihres Ablautes geordnet werden; jedem
Verbum ist eine kleine Sammlung von Redensarten beigegeben. Ein
vortreffliches phraseologisches Material bietet der Abschnitt über die
Präpositionen. Die Regeln über die Satzstellung gründen sich
auf die bedeutende Arbeit von Verron und meine Besprechung dersel-
ben (Herrigs Archiv LXVII, 213—232). Den Vokabeln sind
sehr häufig kurze synonymische Bemerkungen zugesetzt, und das
deutsch -enijlische Lexikon unterscheidet sich von den mir be-
kannten dieser Art dadurch , dafs es bei verschiedenen englischen
Übersetzuniien einer deutschen Vokabel immer mit weni^^en Worten
den Unterschied des Gebrauches klar macht. So ist die Gram-
matik nach allen Richtungen bemüht, dem Schüler das Lernen, dem
Lehrer das Unterrichten zu erleichtern; niemals bietet sie — z. B. in
den zu lernenden Wortreihen, in denen manche Grammatiken geradezu
Vollständigkeit anstreben — dem Schüler zu viel, eher an einzelnen
Stellen zu wenig. Sie verlangt nirgends von dem Lehrer etwas Unbil-
liges — etwa wie Plötz, aus dem sich jener durch methodische Neu-
ordnung des Stoffes, durch Umarbeitung ganzer Kapitel, logische
Fornuilierung zahlloser nicht durchdachter Regeln erst eine neue
Grammatik schaffen mufs, wenn er nicht Lust und Streben des
Schülers in dem Ciiaos eines derartig präparierten Lernstoffes versinken
sehen will.
Jede gute Grammatik bietet jedem Recensenten immer noch eine
Reihe von Einzelheiten, die er verbesserungsbedürftig findet, und es
lassen sich dann leicht einige Seiten füllen mit solchen Ausstellungen
im Kleinen. Aber es scheint doch zweifelhaft, ob man einem guten
Buche damit einen Dienst erweist, und jedenfalls vorzuziehen, dafs
man diese kleinen — mitunter nur vermeintlichen — Korrekturen
direkt an die Adresse des Verfassers richtet. Im vorliegenden Falle
soll nur auf einige wichtigere Punkte, deren Behandlung keineswegs
bei Deutschbein allein, sondern im allgemeinen in methodischer oder
88 Einige Bemerkungen über den Unterrielit in der engl. Grammatik.
wissenscliaftHclier Beziehung noch zu wünschen übrig läfst, aufmerk-
sam gemacht werden.
Ililfszeitiuörter, Der Unterschied von can und maij (S. 70) wird
meistens dahin bestimmt, dafs das, erstere die physische, das letztere
die moralische und logische Möglichkeit ausdrücke (Deutschbein bedient
sich deutscher Worte). Der Schritt von dem Wissen dieser eine gewisse
philosophische Bildung voraussetzenden Regel zu ihrer richtigen An-
wendung ist aber nach meiner Erfahrung nicht für alle Schüler gleich
leicht; die meisten bedürfen einer praktischeren Handhabe, die ihnen
etwa in folgender Gestalt geboten w^erden könnte: Ich kann = ich
bin im stände I can, =r ich darf I may =::es ist denkbar
dafs ich... I may. — Dafs to clo (S. 204) auch in affirmativen
Sätzen zur Hervorhebung des Verbalbegriffes gebraucht wird, wird
kaum von einer Grammatik übersehen ; dafs es aber in negativen
Sätzen fortbleibt, wenn der Ton auf der Negation ruht, steht nicht
überall: I did not say so heifst „das sagte ich nicht", „das sagte ich
nicht" (frz. ne — point) heifst I said not so. — Für das Verbum lassen
im Sinne von „veranlassen" die verschiedenen Ausdrucksweisen —
cause, Order, bid, make, have oder get mit Part. — blofs anzugeben,
ist nicht ausreichend. Die gröfste Schwierigkeit macht den Schülern
die richtige Verwendung von make, das sie mit der viel gröfseren
Feiheit des frz. faire zu behandeln pflegen, und have, die sich in ihrem
Gebrauche gefjenseitis: ausschliefsen. ..Ich licfs ihn eintreten" kann
nur heifsen I made him enter (I had him [besser his name] entered
könnte höchstens den Sinn haben „ich liefs ihn eintragen in irgend eine
Liste"). „Ich liefs meine Stiefel putzen" kann nicht mit make ge-
geben werden, sondern nur mit I had my boots cleaned. Have kann nur
gebraucht werden, wenn in dem von „veranlassen" abhängigen Satze
mit „dafs" eine passive Verbalform, make nur, wenn darin eine aktive
Verbalform vorkommt: ich veranlafste, dafs er eintrat; ich veran-
lafste, dafs meine Stiefel geputzt wurden. Bid schliefst sich dem
Gebrauche von make vollkommen an, nur dafs bei ihm wie bei order
ein wirklicher Befehl vorausgesetzt wird. Bei order und cause kommt
es auf die Beschaffenheit des abhängigen Satzes — ob aktiv oder pas-
siv — nicht an: I caused, ordered him to enter; I (caused) ordered
my boots to be cleaned.
Der Gebrauch des eigentlichen englischen ä'o//;m?21;/ü5 (S. 211), der
bekanntlich nur in der 3. Sing. Präs. und im Präs. und Impcrf. von
Einige Bemerkungen über den Unterricht in der engl. Grammatik. S9
to be besondere Formen hat, ist im Vergleich zu früherer Zeit (z. B.
bei Shiiksperc) ein sehr beschränkter geworden. Er wird heute vorzugs-
weise durch Umschreibung mit Hilfszeitwörtern gebildet; und die rich-
tige Verwendung der konjunktivischen Hilfszeitwörter je nach den ver-
schiedenen Satzarten ist eine Schwierigkeit der englischen Syntax, die
sich mit dem Gebrauch des Konjunktivs und des Optativs im Griechi-
schen messen kann. Am schwieri"^sten ist die Unterscheidung des
Gebrauchs von shall und should, je nachdem im Hauptsatze eine per-
sönliche Zeit oder ein Präteritum steht, und von should allein für
Gegenwart und Vergangenheit; und es wird sich schwerlich auf diesem
Gebiete eine hinreichende Klarheit erzielen lassen, ohne dafs die Satz-
lehre herangezogen wird — wie es auch in einigen Grammatiken ge-
schehen ist. Demgemäfs — die folgenden Angaben wollen den Gegen-
stand nicht erschöpfen — wird der Konjunktiv in Subjektsätzen
nach unpersönlichen Ausdrücken gegeben durch should allein (nach
einzelnen it is possible etc. durch may und might); in Objekt-
sätzen nach Verben des Wünschens, HofFens, Bittons, Befehlens
durch may und might, will und would, nach den letzteren na-
türlich auch durch shall und should; nach den Verben des Sasrens
und Denkens und der Geraütsempfindung durch should allein, nach
den Verben des Fürchtens durch may und might nach that, durch
should allein nachlest; in Relativsätzen durch shall und
should (drücken sie eine Absicht aus, durch may und might); in
solchen Temporalsätzen, die sich auf eine noch ungewisse Zu-
kunft beziehen, shall und should; in Konsekutivsätzen durch
shall und should; in Konditionalsätzen durch should
(shall selten) und to be mit präpositionalem Infinitiv; in Kon-
zessivsätzen durch may und might; in Finalsätzen durch
may und might, nach lest durch should. Dafs neben dieser, wie
ich glaube, gebräuchlichsten Verwendung der konjunktivischen
Hilfszeitwörter zahlreiche Abweichungen in der modernen Litteratur
vorkommen, ist dem Kundigen bekannt. Über die wesentlichen Fra-
gen, wann der Konjunktiv gebraucht werden mufs oder nur kann,
wann der einfache Konjunktiv heute noch statthaft und modern ist,
wann der umschriebene eintreten mufs, ja über den ganzen Ge-
brauch der Hilfszeitwörter in Haupt- und Nebensätzen herrscht noch
grofse Unklarheit, die nicht eher gehoben werden wird, bis endlich
die für exakten englischen Sprachunterricht unerläfsliche Specialfor-
f'O Einige Bemerkungen über den Untcrrielit in der engl. Granimaiik.
schung über die Iicutigen cnglisebtin Hilfszeitwörter vorliegen wird.*
Vielleieht dürfen wir gründliche Helchrung von dem Miirraysehcn
Lexikon erwarten, wie ja auch das ausgezeichnete Shakespeare-Lexikon
von AI. Schmidt den Gebrauch der Hilfszeitwörter bei Shakespeare
erschöpfend bestimmt hat.
Gebrauch des persönlichen Fürtvortes im Engli-
schen für das refle.vive im Deutschen (S. 92). Einzelne
Grammatiken geben die grundfalsche Kegel, dafs nach Präpositionen
das [>ersönliche und nicht das reflexive Fürwort zu setzen ist. Es
liandelt sich für den Anfanger gerade um die Entsclieidung der schwie-
rigen Frage, wann er nach Präpositionen das reflexive, wann das
persönliche zu setzen hat. Meistenteils finden wir die Regel, dafs nach
Präpositionen das reflexive Pronomen gebraucht wird, wenn dieses, das
persönliche, wenn die Präposition betont ist (sobald in dem letzteren
Falle kein Mifsvcrstandnis entsteht): he thought of himself er dachte
an sich; he took the child wM*th him er nahm das Kind mit (sich);
so he spokc to himself so sprach er bei sich (hier ist weder to noch
himself betont, aber to him würde auf eine andere Person hinweisen).
Zur Not kann man mit dieser Regel auskommen; aber leicht zu hand-
haben ist sie nicht, und auf welchem wissenschaftlichen Grunde ruht
sie ? Die einfachen Objekts-Akkusative (sich verteidigen etc.) sind alle
nicht betont und werden doch alle mit -seif geireben. — Mit Hilfe der
Satzlehre kanu man das Verhältnis sehr kurz und unzweideutig be-
zeichnen : In adverbialen Bestimmungen steht das per-
sönliche Fürwort für das reflexive. Die Verba „denken,
sprechen, sich verlassen'* fordern als notwendige Ergänzungen die
Präpositionen ,,an, zu, auf*'; die vom Ycrbum notwendig geforderte
Ergänzung ist aber ein Objekt, daher: he thought of himself. he spoke
to himself, he relied on himself. Die Verben „nehmen, schliefsen"
erfordern jedoch durchaus nicht die Präpositionen ..njit, hinter", die
?>iränzuniren ..mit sich, hinter sich" sind also adverbiale Bestimuiun-
gen; daher: he took the child wiih him, he shut the door bchind him.
— Die Erklärung dieses Gebrauches giebt die Sprachgeschichte: noch
bei Shakspere und im 17. Jahrhundert werden die reflexiven Objekts-
* Über den Gebrauch des Konjunktivs giebt rs eine Schrift von Gavin
Hamilton (The True Theory of the feubjunctive. Edinb. I«b4), die mir
bisher ni' ht zugänglich g«.*wesen ist.
Einige Bemerkungen über den Uiiterrieht in der engl. Grammatik. Ol
AkkiKsative ebensowohl durch das pers()nliche Fürwort wie durch
-seif gegeben ; seit jener Zeit haben nun die Kompositionen mit -seif
das Gebiet der Objekte definitiv erobert,* in das Gebiet der adverbialen
Bestimmungen sind sie nur S[)oradiseh eingedrungen; vielleicht wird es
ihnen später einmal auch gehören, wie das deutsche „sich" das früher
gebranchte persönliche Fürwort ebenfalls daraus verdrängt hat. Die
obige Regel hat nämlich Ausnahmen : es giebt einzelne adverbiale Be-
stimmungen, in denen das Reflexivum allein üblich ist: by one's seif
für sich, abseits, beiseite; in one's seif an und für sich; between our-
selves unter uns; she was beside herseif with awe; he thought within
himsclf; und nach den Präpositionen for (vorzugsweise), on und to
wird es gern gebraucht: so findet sich bei Macaulav die Zweckbestim-
mung nach den Verben build, choose, claini, earn, establish, findj form,
gain, keep, obtain, prepare, procure, provide, reservc, say, secure, select,
shift, trace, win, write durch das Reflexivum (for one'.s seif) gegeben ;
ebenso die Ortsbestimmung mit on (on one's seif) nach bring, draw,
invoke, lay, picture, put, take ; die Zweck- oder Ortsbestimmung mit to
(to one's seif) nach bring back, draw, havc, keep, read (to one's seif
für sich haben, behalten, lesen), reserve (to neben for s. oben), take;
und nach for und in einigen Wendungen mit to ist das Reflexivum
entschieden gebräuchlicher als das Personale. Ja, es finden sich sogar
Konstruktionen in Macaulay wie contain within one's seif, collect
round, disguise from, encourage in one's seif (a disposition), portion
out a m 0 n g, raise, rouse a g a i n s t , say a b o u t one's seif. Look at,
on one's seif, inflict a w^ound on one's seif, take care of one s seif,
want to one's seif dagegen fallen unter die Regel; die Ergänzungen
sind hier Objekte. (Über den Gebrauch der reflexiven Verba bei Ma-
caulay siehe die vortreffliche Arbeit von Dr. E. Beckmann. Herrigs
Archiv LIX 205-239.)
Die Genitive des Relativ-Pronomens ivhose, of whom. of ivhich
(S. 195) wird der Schüler niemals besser unterscheiden lernen, als
wenn er über die grammatischen Begriffe des subjektiven (oder possessi-
ven), des objektiven und des partitiven Genitivs verfügt. Der subjek-
tive Genitiv wird ausgedrückt durch whose, w^enn er eine Person, durch
of which (whose), wenn er eine Sache bezeichnet. Der objektive und
* Die Dichter selbst dieses Jahrhunderts machen eine Ausnahme: bi-i
ihnen finden sich die Personalia picht selten für die Reflexiva gebraucht.
02 Einige Bemerkungen über den Unterricht in der engl. Grammatik.
der partitivc Genitiv werden gegeben durch of wliom, of which. Auch
für die Stellung der Genitive ist die Kenntnis dieser Begriffe insofern
wiciitig, als der partitive Genitiv (of whom, of which) dem unbe-
stimmten Fürwort, Zahlwort, Superlativ, von dem er abhängt, nach-
treten mufs. (Die ausführliche Regel hierüber nach Verron s. Archiv
LXVII, 216.)
Dafs any (S. 93) in fragenden, verneinten, bedingten Sätzen steht,
wird ebenso regelmäfsig angegeben, wie die vergleichenden Sätze mit
US, than übergangen werden. In einigen Grammatiken fehlt eine An-
gabe über den Gebrauch von any in affirmativen Sätzen, in denen es
eine Verstärkung von every, ein betontes „jeder" ist; es sollte daher
unter den verschiedenen Ausdrücken für „jeder" nicht fehlen :
either each every any
(von zweien) (von einer beschränkten (kollektiv) (Verstärkung von
Anzahl) every)
ebenso entsprechen sich ;
every one every body everything) ^^ everywhcre) -i , ii —
any one any body anything \ anyvvliere \ ' anyhow (auf
jede Art).
Zu den Ausdrücken, welche „kein" bedeuten, gehört auch not any:
neither none (nur substantivisch) no (etc.) not any
(von zweien) (von beschränkter Anzahl) (kollektiv) (Verstärkung
von no und none);
in demselben Verhältnis stehen
no none nobody nothing nowhere
not any one not any body not anything not anywherc.
Unter den Regeln über die Pluralhüdiuig (S. 172) machen in der
Schule diejenigen die gröfsten Schwierigkeiten, welche von den Sub-
stantiven ohne besondere Pluralform oder mit doppelter Pluralform,
sowie von den nur im Singular oder im Plural vorkommenden Sub-
stantiven handeln. Gewöhnlich werden diese Regeln in ein Dutzend
Paragraphen verteilt und lassen jene übersichtliche Zusammenordnung
vermissen, welche aus dem scheinbar Vielgestaltigen ein leicht über-
sehbares Weniges zu schaffen im stände ist. So z. B. finde ich nir-
gendwo die doppelten Pluralformen von Englishman etc. und hair etc.
zusammengestellt, die doch hinsichtlich ihres Gebrauches demselben
Gesetze folgen. Ich möchte folgende Ordnung vorschlagen;
1) Eine doppelte Pluralform haben, je nachdem sie von
Einzelwesen oder kollektiv gebraucht werden :
Einige Bemerkungen über den Unterricht In der engl. Grammatik. 93
an Englishman some Englishmen the English
(ebenso Scotchman, Lishman, Welshman, Frenchman, Dutchman)
a hair some hairs my hair
„ fruit „ fruits fruit
„ fowl „ fowls fowl
„ fish „ fishes fish
(ebenso die meisten Fiseharten).
(Bemerkungen über die Bedeutung von fruit?, über die Neben-
formen von Scotchman etc. sind hinzuzufügen.)
2) Nur als Singularia werden gebraucht — das V e r b u m
folgt im S i n g u 1 a r :
advice (Ratschläge) merchandise (Waren) income (Einkünfte)
knowledge (Kenntnisse) business (Geschäfte) property (Besitztümer)
progress (Fortschritte) strength (Kräfte).
(Eine Bemerkung über die Plurale progresses, properties ist viel-
leicht hinzuzufügen.)
3) Nur als Pluralia werden gebraucht — das V e r b u m folgt
im Plural — die Singularformen :
people Leute (People Volk — besonders im Gegensatz zu den herr-
schenden Klassen — hat den Plural peoples, der aber weniger
gebräuchlich ist als nations),
cattle (ein Stück Vieh a head of cattle),
swine (ein Schwein a pig [bog]).
(Das letzte Wort findet sich gewöhnlich mit deer und sheep in
den Grammatiken verbunden, selbst in solchen, die seine Ungebräuch-
lichkeit im Singular konstatieren.)
4) Im Singular und Plural dieselbe Form haben — das
Verb um folgt im Singular oder Plural:
a) Die Volke rnamen auf -ese und Swiss.
b) Die Tiere deer und sheep.
c) Die Mafs begriffe head, couple, pair, dozen, score, groce,
fathom.
(Brace, hogshead, stone, quire, reara dürften, da sie in der Schule
wenig vorkommen, überflüssig sein.)
d) Die militärischen Ausdrücke: horse, foot, sail (Schiff),
cannon, gun, shot.
e) Die Pluralformen means, news, alms.
An diese letzteren dürfte^ sich am natürlichsten die Wissen-
&4 Einige Bemerkungen über den L'ntcrrlclit in der engl. Grammatik.
schuften auf -ics anscliliefsen, die ja heute auch vielfach als Sin-
giilaria gebraucht werden. Dann würden die aus zwei gleichen Teilen
bestehenden Gegenstände folgen: spectacles etc. und schliefslich die
allers^ebräuchlichsten Pluralia tantum.
Es ist eine Erfahrung, die mit mir wohl alle Lehrer des Englischen
gemacht haben werden, dafs die Schüler von vornherein geneigt sind,
die englische Apposition, wie die französische, ohne Artikel zu gebrau-
chen. Es ist daher ratsam, sich nicht, wie viele Grammatiken (S. 162)
ihun, mit einer Regel über den Ausfall des Artikels bei Titeln etc. zu
begnügen, sondern das Hauptgesetz hinzustellen : „die englische
Apposition hat den Artikel", dann als Beschränkung hinzuzu-
fügen : „der Artikel fällt nur bei solchen Appositionen aus, welche
einen Titel oder einen Verwandtschaftsgrad bezeichnen."
Ausgenommen sind die ausländischen Titel czar, czarina, emperor,
empress, grandduke, grandduchess, archduke, archduchess, elector, elec-
tress und princess, wenn sie dem Namen vorangehen. (Prince folgt
bekanntlich der allgemeinen Regel.)
Verschiedene Grammatiken geben noch als zweite Ausnahme den
Fall, wo der Name mit of folgt: the Earl of Essex, the Duke of
Hereford. Nun sind aber Essex und Hereford ebensowenig Personen-
namen wie the Prince of Wales, the King of Bavaria, sondern
Ortsnamen; es kann also gar kein appositives Verhältnis von Earl zu
Essex stattfinden. Sobald jedoch ein wirklicher Personennamen zu the
Earl of Essex tritt, fällt der Artikel natürlich fort: Robert, Earl of
Essex ; Henry, Prince of Wales.
Bei der Präposition um (S. 146) mufs der Schüler notwendig auf
den Unterschied von about und round aufmerksam gemacht werden:
he walked round ihe garden (um den Garten herum) und he walked
about the garden (im Garten herum). — Für die Unterscheidung der
verschiedenen Übersetzungen von vor möchte ich folgende Fassung
vorschlagen :
vor — von örtlicher oder zeitlicher Reihenfolge — before
— wenn von einem beliebigen Zeitpunkt in
die Zukunft ojerechnet wird — before
— wenn von einem beliebigen Zeitpunkt in
die Vergangenheit gerechnet wird — ago, since.
(Gewöhnlich findet man den Gebrauch von ago auf die Gegenwart be-
schränkt: I was in F^ngland five years ago „jetzt vor fünf Jahren."
%
Einige ßemerkunrien über den Unterricht in der enfrl. Grammatik. 95
Das ist nicht richtig: man kann mit ago sehr wohl von einem Zeit-
punkte der Vergangenheit in die fernere Vergangenheit zurückrechnen.)
Sobald erröfsere Wortreihen anfjefiihrt werden, scheint es mir nn-
erläfslich für ein Schulbuch, die Wörter nicht zufälh'g, nicht alplia-
betisch, sondern nach der Bedeutung zusammenzustellen, wie es in der
Grammatik von Deutschbein in der That auch meist geschieht. Für
die Verba jedoch, welche abweichend vom Deutschen den Akkusativ
regieren (S. 181), wäre meines Erachtens eine übersichtlichere Ord-
dieselbe, wie wir sie in französischen Gram-
nunw möirlich «gewesen
c c o
matiken häufig finden :
\'erba des Sagens.
advise
answer
contradict
jorder
jcommand
forbid
jaliow
(permit
eongratulate
tbank
flatter
(menace
Ithreaten
\'erba der Bewegung. Beliebige andere Vevba.
precede
follow
jmeet
lencounter
Jimitate
lemulate
Je quäl
/resemble
please
serve
obey
resist
(brave
(defy
assist
help
belleve.
Diese Ordnung wird den Schülern zu klarem Bewufstsein bringen,
dafs sie nur wenige Verba zu denen, die sie aus dem Französischen
bereits kennen, hinzuzulernen haben und ihre Sicherheit im Gebrauch
derselben ohne o^rofse Gedächtnisanstren^uns: erhöhen. — Die Verba
doubt und repent (S. 187) gehören doch wohl besser zu den Verben,
die den Accusativ oder den Genitiv nach sich haben (S. 234), wenn
auch die Konstruktion mit dem Genitiv gewöhnlicher sein mag.
Wendungen wie go a-hunting (auf die Jagd gehen), go a-fishing
(138) dürfen jetzt aus unseren Grammatiken ausgemerzt werden, sie
sind veraltet und nur noch vulgär (s. Storni 270 ff.); man sagt go (out)
fishing. Die Verben der Bewegung go, be out, take out, come (run-
ning) sind also zusammenzustellen mit jenen anderen (commence, cease,
intend, deny etc.), nach denen das Gerundium ohne Präposition folgen
kann. — Dafs das substantivische Subjekt des Gerundiums nicht
immer in den sächsischen Genitiv verwandelt wird, sondern auch
96 Einige Bemerkungen über den Unterricht in der engl. Grammatik.
Xoniinailv bleiben kann, wird von den meisten Grammatiken erwähnt
(8. 220); aber die Grenzen für diesen Gebrauch werden nicht gesteckt.
Giebt es keine oder sind sie auch nicht bekannt? — Mir sind bei der
Lektüre vier Fälle aufgefallen, in denen das Zeichen des sächsischen
Genitivs fortzubleiben pflegt: 1) selbstverständlich, wenn es eine
Sache bezeichnet, 2) wenn es einen Zischlaut am Ende hat (im Plural
z. B.), 3) wenn es Bestimmungen bei sich hat, 4) beim passiven
Gerundium. Aber auch aufserhalb dieser Fälle findet sich der Nomi-
nativ statt des Genitivs vor dem Gerundium, kurz — non liquct.
Es giebt eine im modernsten Englisch ziemlich häufig vorkom-
mende Konstruktion, die von der Mehrzahl der englischen Gram-
matiken gar nicht einmal erwähnt wird — eine recht auffallende Er-
scheinung, die deutlich bew^eist, dafs die Zahl oder Unzahl der täglich
erscheinenden Grammatiken zu dem Umfang und der Tiefe der gram-
matischen Specialforschung nicht in geradem Verhältnis steht. Diese
Konstruktion ist der Accusativ mit dem Infinitiv nach for (S. 216),
Er ist, wenn mich meine Beobachtung nicht täuscht, im neuesten
Englisch mehr in Aufnahme, als er früher, z. B. in den Schriften des
vorigen Jahrhunderts \var. Vorhanden ist er aber bereits bei
Shakspere; freilich kommt er dort nur ein paarmal vor und nur
als Vertreter von Subjektsätzen, während er heute für alle möglichen
Arten von Sätzen gebraucht wird. Am ausführlichsten finde ich diese
Konstruktion bei Bandow behandelt, dessen Beispiele den mannigfiichen
Gebrauch derselben hinlänglich erläutern. Ich selbst habe in den letz-
ten Tagen in wenigen Kapiteln aus „Silas Marner" und „Romola"
von George Eliot sieben Beispiele gefunden, die ich mir hinzuzufügen
erlaube: (Subjektsätze.) It is easier for a camel to go
thron gh a needle's eye than for a rieh man to enter the king-
dom of God. — How considerate it was for San Francisco to
rest contented with so small a portion of ihe wealth. — It is enough
for a man to understand his own business. — It's part of my
punishment for my daughter to dislike me (Eliot). — It will be
to very little purpose for you to frequent good Company, if you
do not learn their manners (Deutschbein). — (Objektsätze.) The
sturdy boy longed for the time to corae which gave the ocean
for his home. — I longed for John to speak and teil me some-
thing. — I should be very thankful for father never to be trou-
bled with know^ing what was done in the past (Eliot). — We shall
Einige Bemerkungen über den Untcrriclit in der engl. Grammatik. 97
be glad for you to stop as long as you likc. — (Es ist gewifs
nicht als Zufall zu betrachten, dass sich der Accusativ mit dem In-
finitiv nach for bei Verben der Gefühlsthätigkeit und gerade bei solchen?
die ein Objekt mit for verlangen, findet.) — (Attributivsätze.)
Dombey is the man for you to choose asa friend. — He put a
ladder up for m e to get down by. — Is this not a stränge Situation
for me to be found in? — Truth is a riddle for eyes and wit
to discover (= to be discovered by eyes) (Eliot). — (Finalsätze.)
The hour was now come for him to awake. — The crocodiles leave
iheir eggs in the sand for the sun to hatch [them?]. — She held the
door wide for them to enter (Eliot). — Thy tongue can [not] leave
off' its everlasting chirping long enough for thy understanding to
consider the matter (Eliot). — (Vergleichssatz nach too.)
Her thoughts were too busily occupied with the sad transactions for
sleep to visit (als dafs) her pillow. — The Roman writers have
transmitted some reports . . . too audacious for even themselves
to have believed [them?]. — The heap of coins had become too large
for the iron pot to hold them. — Godfrey's mind was too füll
of his lot for him to gi ve much thought to Wildfire (Eliot). — Die
Grenzen des Gebrauchs dieser Konstruktion fest zu bestimmen, bin ich
ebensowenig im stände wie die Grammatiker, welche ich durchsucht
habe;* wir haben hier wiederum ein interessantes Gebiet der eng-
lischen Grammatik, das der Specialerforschung wartet. Für die Schule
indessen wird es kaum erforderlich sein, in alle Verwendungsmöglich-
keiten einzugehen; sondern genügen, auf die häufigst vorkommenden
aufmerksam zu machen. Notwendig ist die Konstruktion zum Aus-
druck von „als dafs" nach too, wenn das Subjekt des Ne-
bensatzes ein anderes als das des Hauptsatzes ist, übri-
gens eine Bedingung, die, wie Deutschbein richtig bemerkt, für alle
Fälle Geltung hat. Sehr gewöhnlich ist sie als Vertreterin von Sub-
jektsätzen vorzugsweise nach unpersönlichen Ausdrücken
(it is possible etc.), häufig an Stelle von Finalsätzen. Jeder Satz
aber, dea sie vertritt — auch hierin folge ich Deutschbein — mufs
eine Notw^endi^keit oder Möo-lichkeit ausdrücken, und nicht ein Faktum ;
nach it is true, certain, probable, it happened wäre sie undenkbar.
* In Mätzner habe ich wohl die jetzt veraltete Konstruktion von for
to mit dem Infinitiv ausführlich behandelt gefunden ; für die vorliegende
habe ich nur ein, wie es seheint znfiillig hineingekommenes Beispiel entdeckt.
Archiv f.n. Sprachen. LXXIII. 7
98 Einige IBemerkungcn über den ünterriclit in Her engl. Grammatik.
Ich wiederhole nochmals, dafs die vorausgehenden Erörterungen
sich nicht ausschliefslich gegen die Grammatik von Deutschbein wen-
den sollen — sie könnten es doch nur zum Teil — sondern ganz
objektiv einzelne verbesserungsfähige Seiten des grammatischen Unter-
richts in der englischen Sprache bezeichnen. Ich schliefse mit dem
Wunsche, dafs die nicht unbedeutenden Lücken, welche das Funda-
ment dieses Unterrichts dem sehenden Auge bietet, durch eifrige, viel-
seitige Detailarbeit ausgefüllt werden mögen. Denn es giebt keinen
gröfseren Feind eines wissenschaftlichen, eines methodischen d. h. eines
fruchtbringenden Unterrichts als — Unklarheit.
Der Ebingersche Vokabularius 1438.
Von
Dr. Renward Brandstetter.
II.
Die Pflanzen- und Tiernamen.
Abies etis tanne 3. d. f. g.
Abrotanum gertwurtz vel schab-
wurtz.
Abrosiana huswurtz.
Absintheum wermuet.
Accasium schiebe.
Accancie allant.
Acbantus hufen dorn vel wasolter.
Acer eris massolter.
Acera grund rebe.
Accidula sur ampber.
Achileya = mille folium.
Agaricus est quEedam herba.
Agacia schiebe, agazio ich schieben
brichen.
Agarica est fungus candidus et odi-
ferus nocte lucens.
Agrestis = villikanus dorfman aker
man vel qu^dam herba.
Agrimonia queedara herba.
Agnus castus est herba conseruans
castitatem.
Albutum haselwurtz.
Aleum knobloch.
Allia knoblocb.
Alica ein körn.
Aloa est herba suauissimi odoris.
Algo vel .alga herba marina.
Allutum est herba marina.
Alnus erle.
Amarellus emerze. .
Amarillus amelber böm.
Ambrosia est herba perdulcis.
Amigdalus mandel böm.
Amonis amenböm.
Amorusca gensbluem vel eyter bluem.
Anisium enis.
Appallaria schafft höw,
Appium ephe.
Aquilegia agleige vel agrimonie.
Arbutus butten böm 4. d.
Asarius hasel wurtz.
Asarabacaria idem est.
Ascalonia est herba sicut dicta ab as-
calon ciuitate.
Accorus herba s. swertel.
Atriplex herba s. melden.
Auena habern.
Auellannus hasel stud.
Auelianna hasel nus oder stud.
Aurisea masledi herba quasdam.
Ayzon huswurtz.
Baleranus katzen krut.
Balausterium dicitur centifolium pul-
uis foliorum eius sauat wlnera.
Barba iouis huswurtz.
Bardana gröfs klett.
Bedula, bedorgar brunn wurtz.
Bedellium est arbor aromatica.
Benedicta bach miintz.
Betonica est quaadam herba.
Betbonia, betenia herba.
Bidellum brunn wurtz,
Bismabia ibsch.
Bistorta müntze.
Blattulum schnitloeh.
Bletra manglod.
Boletus phifferling,
Borith est herba fullonum ad lauan-
das vestes.
Borrago burrethz.
Brassamica brunnwurtz.
7*
100
Der Eblnffersclie VokabularluS.
Brionia finer wertz.
Biijrlossa ochsen zunoj s. herba.
Calcaiidida kürbs.
Camomilla giamill herba.
Canapns hanf vel hanf söm.
CaputHum kabus.
Caprifolium winda.
Capilhis vemeris est quaedam herba.
Carpeus hagenbuoch.
Carui, carium kümi.
Cardamus wilder kresse.
Carendula riugel bluom.
Castaneus kestenböm vel pannus dun-
kel gräw.
Caulis köl.
Cedus cederböm.
Celidonia schelwurtz vel cold wurtz.
Centinodia wagbreiti.
Centauria maior erde galle.
Cepa 1 . d., cepe 3. d. zubele. cepa
mariua wurmkrut. cepulacen zübel
nuiols. ceparium ein muofs mit
zubellen, cepulatum ein muos mit
fleisch vnd ' pheffer wurtzen vnd
zubellen gemacbet.
Cerussus, cerasus kirsbom.
Cicer is kiker erwis.
Cicuta wütrich vel Schmerling.
Cidamen winde.
Cidonius kütten böm.
Cingus est arbor flexibilis vel cingus
dicitur schwam.
Cimium römsch kümi.
Cinoglossa huntz zung talis herba.
Cinus melböm vel eschi böm.
Cippressus crippes böm.
Ciparis wilder galgan.
Ciprus merbintz.
Cirpus holbintz.
Citrus tierli böm citrum tierli.
Consolida quedam herba.
Concurbita kürps.
Cornus hagen dorn,
Coruins liasel stud.
Corriola, corrigiola artzme vel kratzme
winde herba.
Cordiaurum est herba frigida scilicet
coriander s. rmgelbluom.
Corinbus rebgebli winda.
Crassula basilie.
Crocum sallran.
Cucumer kurbs vel erdöpfel. cucu-
marius kiirbsgart.
Cucusta wütrich.
Draguntea nater wurtz.
Dumus hurst hegg vel heidelber vel
bramber.
Ebulus, ebulum attich.
FAersL guot wurtz ebhöw.
Elobrum album gemerr s. wis wurtz.
Elitropa sunnen wirbel.
Enulancampana alant.
Emicedo Brachloch.
Epatica leber krut,
Epithimum est flos thimi.
Ericonon vntzitig krutt.
Ernum vislig körn vel quoddam le-
gumen.
Ernus wiki vel dicitur ficus.
Eruca brachkrut.
Esula wolf milch.
Esulus brach krutt.
Esculus nespel böm.
Eupatorium wildi salbin.
Faba bona.
Fagus buocha.
Farrago, farraga grüni gerst.
Far weise.
Fenum grecum kriechs höwe.
Feniculum venchel.
Ficus figbom vel figboms fruht vel
morbus s. figwertz.
Filipendula herba s. meiolan.
Filix varn herba.
Finecula = parua ficus.
Fraga erdber. P'ragus erdherstud vel
curuatio pollicis vel ipse pollex.
Fraxinus eschkriech. iraxinium est
locus vbi crescunt.
Frambosus hinber.
Fu = herba quae etiam Valeriana
dicitur.
Galbanus qu^edam herba.
Galganum gallgan. galanga galgan.
Galla merhirs vel eich öpfel.
Gallianum = gabanus herba.
Gamandres gamandre.
Gariophilum, gariophilata, gariophila-
trix gamandre.
Girasolis wunder böm.
Glans dis evchel.
Gladiolus, giadiola schwertel.
Gleba turd vel kle vel erd scholl.
Glissidis herba s. bethenie.
Glos ful holtz bruoder wip bluom.
Granum solis gich körn.
Herebitus erbselböm.
lacinctus flos s. gleige.
Ibiscus est genus virgulti quod vtitur
pro flagello.
Tris refrenboo; glevsre.
luniperus rekolter.
luncus semd vel bintz.
lusquianum pulsen talis herba.
Der Ebinoersclie Vokabularius.
101
L.iblcium io?sl)uob vel blacbte.
Labrusca tistel vel haf» rcb vel nah-
tjchatt vel vuzitig fruht vitis agrestis.
Laotiica latocb. lactoca arcestis vvil-
der lattich.
Lanceo rippe qiueJam berba.
Lanugo tütenkolb vel nuwer bart
vel flos cerbuli qui postquam ex-
siccatus est leui flatu l'ertur in
aerem.
Lappa klette.
Lapacium, blachte sed credo dici la-
bicium.
Laurus lorbon.
Laureola zilant.
Lauribacca lorbona.
Lauendula lauendel vel ringel bluom.
Lens lentis linsi.
Lenticula öluas vel clein linsi vel est
diniinutum a lens tis.
Lentiscus kriet-bböm vel melböni.
Libisticuni lubstek qua3dam herba.
Lilium lye est lactei coloris vel
Stengel.
LinuDi flachs vel viluin vel rethe.
Lii2;wa canis huntz zung quiedam
herba.
Ligwa ceruina hirtzung talis herba.
Liquaricia süses holtz.
Lupinus Wölfin genus leguminis.
Lupulus hophe.
Lut'jm prima producta est rubeus flos.
Macis muscat bluem.
Macracen venchel.
Macropiper est longum piper.
Maguderis köl dorse.
Malua papel quedam herba.
Malomellum maltz öpfel.
Malum terre eröpfel.
Mandragora alruna vel erd öpfel
herbu habens poma.
iMastix weid vel berchtram.
Medica est quoddam genus legu-
minis quod quum semel seritur
decem annis permanet vel est arbor
que alio nomine dicitur citrus.
Mel siuestre sunt folia in deserto
lata rotunda lactei coloris et mel-
litum saporem habentia.
Melanpiper lang pheffer.
Mellilotum himel schlüssel.
Melotum wilder kle.
jMempheus grensing.
Menta müntz scilicet herba.
Mercularis hopfe.
Migra vngestampti gerst.
Migma est ordeum cum palea munita.
Millefollium gerwel herba quaedam.
Millemorbium truoswurtz.
Mirifica birche.
jMirra e est arbor vel gumi eiusdem.
Mirtis mirtelböm vel stund krut
scilicet herba.
Molusca dicitur nux castanea.
Morus mulböm.
Moradium heydeber.
Mora rubi branber.
Moracelsi mulber.
INluscisca muscat böm,
Musous miesch.
Napa m rapula = rübe. napus idem,
Nardus ein krut vel ein böm.
Narstutium kress herba.
Nepeta dicitur menta siluestris.
Nerpulum velt kümi.
Nespulus nespel böm.
Nux longa mandelkern.
Oliua ölbom.
Olea idem scilicet arbor.
Oleaster wilder Ölböm.
Olus köl.
Origanum roter kost.
Orphinum est herba crescens sine
bumore s. bönlen.
Ossinum herba s. basilie.
Paliurus distel s. talis herba.
Palimmus agleye.
Pandeconum wilder venchel.
Panicium = lilium.
Papauer 3. d. magsamen.
Papirus gross gesemd vel mer bintz
vel papir.
Pastinaca girgell scilicet herba radix
vel nüw setz mit reben oder ein
karst.
Passul mer trübel.
Pepo bebena.
Perforata sant Johannes krutt.
Pes uitula arone scilicet herba.
Petercilium peterli.
Petaffium fünfbleter quasdam herba.
Pyonia gibt körn.
Picea vorha quaedem arbor.
Pinpinella bibinella.
Piper pheffer.
Pirus bierböm,
Piretrum behtram herba.
Pisa, pisum erwis.
Plantago wegrich.
Pomus öpfel böm.
Policaria wund krut.
Polipodium stein varn vel engel süsse.
Polium ried krut.
Populus est arbor.
102
Der Ebingersche Vokabularius.
PoiTum loch vel burreths.
Fortulaca bürtzel.
Porrusecilis schnitloch.
Precula schnit loch.
Prunus kriechbom.
Fulicaria agleya.
Quercus eych böm.
Quiniorda = rosa caniua.
Rabacaulis rübkrut.
Rafi\nus rnaior reticb.
Kaphanus minor mer rätich.
Roborum mora dicuntur agrestia
poma.
Rodans tis rosen stude.
Rosmarinus mer röfs.
Rubus dorn bösch vel bramc.
Rubeta lob frösch vel mulber.
Rubetum harnstein bösch.
Rubea lidwurtz.
Rufa coccio = lens lentis.
Ruta rut talis herba.
Satirion stendel wurtz.
Sagaeia schlehbom.
Salix "wid.
Salina naht schatt vel esels burdi
vel locus vbi invenitur sal.
Saluia salbey.
Saliunca riet grafs.
Salmentum herba spinosa.
Sambucus holder vel species simphonie
de sambuco facta.
Saginarius hartrvigel s. arbor vel id
est homicida.
Sandix rietkrut rubea herba.
Sanda pheffer böm.
Sauisma seinböm.
Sencio agleye vel senex.
Senecion brunnen kress vel brunnen
wurtz.
Serpillum kenle kein scilicet poleium
siluestre veltken scharley.
Serpentina serpetin wurm krut.
Siligo rogg siliginus roggin.
Silermontanum siermandra.
Simula bluom vel simelbrot.
Sinapis, sinapium senf,
Spargus rossmüntz.
Squamonia ein krud.
Spillus agley.
Spinnellus spinelböm.
Stimula est quedam herba.
Solsequiura sunnen wurbel talis flos
qui sequitur solem.
Sorbum sefi böm.
Strucianum wilkol. ,
Tamariscus bantz scilicet herba.
Therebintus rekolter böm.
Thymus quidem flos.
Thireus swertel.
Tormentilla fruwurtz quasdam herba
milch krut.
Tragenta senf.
Tremula aspa.
Valendriana baldram.
Veniculum venchel. veniculum porci-
num wilder venchel.
Vertilago wolf milch.
Virga pastoralis wolfstrel.
Vitulamen abschniten winter gerst.
Viola vigelbom viglat. violacium, vio-
laria vigel krut.
Vlmus wul böm vel vlm böm.
Viticella liela herba.
Vua passa mer trübel.
Ybischus ybsch.
Ybiquincida merbintz.
Yrios arone.
Yliaca wermuot.
Accipiter habk.
Acciclus egli.
Achaneis = carduellus vel distcl kolb.
Attago birch huon.
Agredula = parua raua.
Alauda lerch.
Alchion est auis maritima.
Amma est auis nocturna qu£e alio
nomine dicitur stryx.
Amio piscis quidem ein brahsrae.
Amphisebeua zwöhöptig wurm.
Aneta ente.
Anetarius entrech.
Ano angel visch.
Anser gantz.
Apper eber schwin.
Apis big.
Arapagarius egden pherid.
Aranea spinne vel mer spinne.
Assilus big on angen alias trien.
Aspiriolus eychorn.
Asturcio habk vel einer leige ross dz
man einem herren nach füret.
Attelibus brucus s. keuer.
Atticus humel vel keuer.
Auea gans dicitur ein stroneggler.
Auis vogel. auigerulus qui gerit aues
ad uendendum.
Aurata quidam piscis.
Aurificeps quidam volucris s. eserli
vel rott brüstli.
Aurifrisius reigel.
Babalus barbe.
Baleam piscis hus vel wal visch.
Bardalus quoddam animal.
Der Ebingersche Vokabularius.
103
Bibio onis wIn mugg.
Blatta glissent vogel vel purpura vel
fledermus.
Borbeta triscbe.
Bos rind.
ßotraca eyd ochse scilicct habcns
faeiem rane.
Brucus keiier parua locusta.
Brunellus esel.
Bubalus walt öchs vel vrochs. buba-
linus idem est. bT^bulus klein wald
öchs bucalis wald öch. bucula wald
öchsin.
Buchingus büking.
Caballus hengst vel stechross.
Cabellus buren rössli.
Cabo bonis = equus.
Calamita vergift frösch.
Canielon est bestia in ethiopia.
Camelopardus kemelbar.
Canapeus est parua auis habitans in
canapo.
Candaride guldin wiirmli die vß'
eschin bömen wachsent.
Caprea rechgeis vel varn wider.
Capricanus, capricornus steinbok.
Capitarus groppe.
Carduellius distel uogel.
Cariola iserli s. volucris.
Caropus gropp.
Cattus katz.
Cattellas hündli.
Catulaster paruus canis scilicet weif.
Cecula blinden schlich vel ciser mus.
Cefalus groppo.
Celido = byrundo.
Cerastes gehurnter wurm.
Ceruus hirtz vel furca quc sustinet
domum rustici.
Cerua bind.
Cethus wall visch.
Cicada niuchein.
Ciconia storch.
Cicedula klein cisli.
Cimex wandlus.
Cinifes fis f. g. huutzmug.
Cinomia huntz flieg.
Cinifex mugga s. cinifes.
Cinomolgus = ciniphes vel pellicanus.
Cirogrillus = erinacius.
Cix = cisli.
Clebia hasel scilicet visch quidam.
Cocodrillus finna marina vel auis
cocodrille.
Congros pisces scilicet hasel.
Conturnix wachtele brachuogel sed
debet dici cuturnix.
Corilius karph.
Coredula dula.
Cornix krega.
Coruus rapp.
Coturnix rephuon.
Crabrona est vermis quidam ein böser
fliegender wurm.
Crotalus ein tier.
Culex mug wantlufs.
Culpar ein barg schwin.
Curiegus rephuon.
Delphin mer schwin.
Dentrix est piscis multos et grandis
habens dentes.
Diomede grasmugg.
Diomeda wasser vögelli.
Dispas adis est genus serpentis sci-
licet wasser wurme.
Duraapiscis stichling.
Edis ein kitzi. edos wider, edum
kitzi vel widerli.
Ella alant quidam piscis.
Emissarius bok vel Cursor vel schell
s. equus qui aptus est ad coeun-
dum ad equas.
Emorreus bluet wurm.
Equus ein ross. equa merch. equester
rossman. equitius ross staller.
Ericinus mersnek.
Ericius, erinacius vgel.
Erodius valk.
Erugo egel s. röti rubigo vicium se-
getum.
Erudo egel.
Esinus merswin.
Escaurus huso quidam piscis esok idem.
Fenix est auis coccinei coloris.
Ficedula ried schneph.
Foca e merkalb.
Frigellus buochfink.
Fucus est apis non mellificans sed
aliorum mel comedens vel brem
vel mul kefer crescens in stercore
mulorum vel farwe krut.
Fulica bilgrim gir valk vel hör gans.
Fundula grundel.
Furfarina dorntüchel.
Gacius, gadiolus quidam piscis.
Gallina henna.
Gallinacius kappun.
Gamma wasser wurm.
Gamarius est piscis scilicet salm.
Girofalko girfalk bönfalk.
Glis animal glis terra tenax glis lappa
vocatur ein ratt muos lette ein
klette.
Grus krye kranch.
10-i
Der Ebingerschc \'okfibularius.
Guggulut; göcli.
Ilerodius herodiou valk.
llirperius liusieit s. piscis.
lacukis fliegend schlang vel schütz
wurm.
Ibris vel ibrida est porcus natus de
apro siUiostri et porca domestica.
Idrox wasser steltz.
Ixion onis est alba auis de geuere
vulturum scilicet minor.
Lamia hechsi tale animal et est mon-
strum.
Larus secundum quosdem müsser vel
weche vel wasser vogel s. hünli.
Laudula lerche sed crede debere
dici alauda.
Ledia quidem pisces.
Leena löwin vel helfant.
Lepus has.
Lepos est auis in stangnis habitans.
Leporarius canis s. wind.
Letofagus est vermis mortuus come-
dens.
Liraax snegg.
Linx luhs.
Ligwa auis vogel raug.
Licissa est animal natum ex patre
lupo et matre cane.
Loaficus weche talis volucris.
Locusta höwstaflel matschrek vel
quedani herba.
Lumbricus regen wurm vel wurm in
dem buch.
Lupus ein wolf.
Lupus hecht.
Luscina mer vögellin.
Lusculus quidem piscis.
Lutilia wasser steltz.
Melus hermli vel tachs inde melota.
Melomurus vnda aque vel est swartzer
mer visch.
Melaurus schiige vel piscis.
Älenonides swartz mer vögelli.
Mergulus tucherli.
Merges etis ysuogel.
Merops grün specht.
Mergus = mergulus scharbe.
Merulus qui cantat pro vino vel
smierling.
Merula amsula.
Meranulus schwartzer mer visch.
Meropis muser.
Merocor horrnus.
Migale hermli.
Miluus wige.
Millabo dicitur piscis volitans supra
aqua et significat tempestatem.
Mingcus ad parictem est canis vel
intirmus qui non potest longus ire.
Mirlus smirlus scilicet auis.
Mix iserli s. auis.
Monedula tula.
Mugilus est piscis valde agelis.
Multipes vermis multorum pedum.
Murena lemphir piscis quidem.
Murenula diminutum nünög vel sil-
brin vel guldin kettena vel fur-
spang vel ornatus colli.
Muriceps, murilegus katze.
Muricio merschnegg.
Murex icis est piscis.
Murica e est coclea vel conchilium.
Musio catze.
Musca flieg vel monile.
Mustela wisel.
Musmo est animal natura ex caprea
et ariete.
Nictimena wigla.
Nicticorax naht rapp.
Nicinus huntz fliege.
Nigella ratte.
Ninulus binden kalb.
Obices dicitur serpens colorem arene
habens.
Onager wald esel. •
Onocrotulus vel onocrotalum est auis
wulgariter hortrübel.
Ontragus est auis secundum quos-
dam dicitur schnephe.
ünoliras dicitur quasi asinus.
Orix est quidem mus s. animal in
mundum vel heher vel hasel huon
vel animal simile capre siluestri.
Oriolus witewal quidam volucris.
Ornix heher est auis vel quercus.
Orthigomet... rephuon orhuon.
Orthimetra vrhön.
Orticulerna hortuba.
Ossifrangus bein brüchel quedam
auis.
Ostrea wasser schnegg piscis.
Palumber ruoder laff'e slage tube oder
holtz tube.
Papilio phiffblter.
Pardulus phigargan origen cameleon.
Parix meise.
Parias est animal quod cauda ambu-
lat = pareas.
Passer gespar.
Passilis est auis vel animal quod
manu pascitur.
Paua phewin.
Pegasus phawe.
Pellicanis est auis.
Der Ebinjicrsclie Vokabularius.
lOö
Pellauus sohlyge talis piscis.
Pelliades idem est,
Pelora tröstel auis.
Pellargosis dicitur ciconia.
Perdix rephuon.
Periboluni belua marina.
Piconcus picconius rötbrüstli.
Piciis Specht.
Pigargonius quoddam aninial vel auis.
Pigargus quffidam auis parua.
Pipus Specht.
Pipiones sunt pulli columbarum.
Piscis visch. pisciculus, piscillus
vischli.
Phasianus fasant.
Philomena nahte galla.
Platanus eychorn.
Phus schlyg talis piscis.
Polernus füli = pollendrus.
Porcus swin. porca mora.
Poruirlo, porphirio est qiia3dam auis.
Pulex floh schwartze lufs.
Puto onis vltisen animal.
Rana frösch.
Rubicula rötteli talis piscis.
Rucius ross.
Salmo salm piscis.
Salmandra ein für wurm ein liutwurm.
Saura moll scilicet vermis.
Scarabius wibel vermis.
JScabro ross keuer crescens in ster-
kore.
Serpedo tö wurm = lumbricus vel
dorn wurm.
Seta burst vel wasserkalb.
Sibulus wisplung vel serpens.
8ilarus barbe.
Sillago quidam piscis.
Simeus all'.
Sparus tratt piscis.
Speriolus eichorn.
Strix wisfcla hiilen.
Sorex schermufs spitzmufs.
Scorpia nater.
Scrofa SU vel more.
Tabellius zabel animal quoddam.
Tereo holtzwurm.
Tbeballus zebel zilitz quedam ani-
mal.
Tirus ein land vel triatel madc.
Tortuca scharphe s. vermis.
Tragficus wefze.
Träges quedam anmial.
Tragfilaphus hirtz bok.
Trossa trossel.
Tuligo mer visch.
Turdus brach vogel stare.
Turdela trostel.
Turnilla grundel quidam piscis.
Veiter wind scilicet canis.
\'ermis wurm, vermiculum rot wiirmli
sidin würmli.
Vespa wespi.
Vippera nater vipperus natreht.
Vitulus kalb vitula kalba.
VUula hüwlem auis.
Vppupa widhopf.
Vrculus mer ross.
A'ria schwin lus.
Vrsus bere vrsa berin.
Ypotus raersohwin.
Ybex ibsch est genus quadrupedis.
Yrundo schwalb vel yrugo.
Yrugo egla.
Ydrus wasserschlang.
Zomus phaff in der fedren.
Beurteilungen und kurze Anzeigen.
BreymanD, Französische Elemenfargrammatik für Realschüler.
Ausgabe für Lehrer. München, R. Oldenbourg, 1884.
XII u. 75 S. — Breymann und Möller, Französisches Ele-
mentarübuno'sbuch für Realschüler. München, R. Oklen-
bourg, 1884. VI u. 175 S. — Breymann und Möller, Zur
Reform des neusprachlichen Unterrichts. Anleitung zum
Gebrauch des französischen Elementarübungsbuches von
Hermann Breymann und Hermann Möller. München,
R. Oldenbourg, 1884. 48 S.
Seit mehreren Jahren sprechen sieh immer mehr Stimmen, sei es in
Zeitschriften, sei es in selbständigen Veröffentlichungen, für die Notwendig-
keit einer Änderung der bisherigen Methode des Unterrichts in neueren
Sprachen aus. Diese Änderung wird teils in Bezug auf die Unterweisung
in der Aussprache, teils in Bezug auf die in der Grammatik verlangt.
Man verlangt heutzutage vor allem eine bessere theoretische Einsicht
des Lehrers in die Natur der Laute der fremden und derjenigen der eige-
nen Sprache, und man behauptet mit Recht, dafs der Lehrer einer fremden
lebenden Sprache die Pflicht habe, sich mit diesem Gegenstande zu befassen,
nachdem Miinner wie Brücke, Sievers, Trautmann, Vietor, von den Auslän-
dern gar nicht zu reden, so feine Untersuchungen und Beobachtungen auf
diesem Gebiete gemacht haben, Untersuchungen und Beobachtungen, die
ebenso interessant an sich, als zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis eines
wichtigen Teils der Sprachkunde notwendig sind. Kennt der Lehrer aber
die Physiologie der Laute der fremden Sprache und den Unterschied, der
zwischen ihrer Hervorbringung und derjenigen der verwandten Laute seiner
Muttersprache stattfindet, so ist er auch offenbar besser im stände, seinen
Schülern nicht blofs durch einfaches Vorsprechen und Nachsprechen ihrer-
seits auf rein empirische Art die Aussprache beizubringen, sondern auch
durch fafsliche Angaben über die Hervorbringung der Laute ihnen die
Schwierigkeiten hinwegzuräumen oder zu erleichtern. Es ist ja selbstver-
ständlich, dufs es dem Schüler leichter sein mufs, einen gewissen Laut her-
vorzubringen, wenn er eine Anleitung über die Art der Stauung
der Sprach Organe bei Aussprache desselben erhält, als wenn
man ihm noch so oft einen Laut vorspricht, den er trotz sei-
nes guten Willens nicht trifft, weil er nicht weifs, wie er
denselben hervorbringen soll. Dafs man aber die richtige Aussprache
I
Beurteilungen untl kurze Anzeigen. 107
schon gleich in der ersten Stunde zu lehren hat, liegt ebenso klar am
Tage, denn „quo semel est imbuta recens servabit odorem testa diu."
Die zweite Forderung, die man in neuerer Zeit an den Sprachunter-
richt stellt, betrifft die Verminderung des grammatischen Stoffes, der dem
Lernenden zur Aneignung dargeboten werden soll. Es ist bis jetzt zu viel
Grammatik getrieben worden, man hat dem Schüler Regeln und Ausnahmen
zu lernen aufgebürdet, die er nie Gelegenheit hatte anzuwenden. Die mei-
sten Verfasser von Schulgrammatiken suchten ihre Vorgänger durch gröfse-
ren Regelreichtum und gröfsere Vollständigkeit der Ausnahmen zu übertreffen
— zur Qual der Schüler und zum Schaden der Sache. Warum dem Schüler
zumuten, Regeln und Ausnahmen zu lernen, die er während seiner ganzen
Schulzeit und selbst bei späterer schriftlicher oder mündlicher Anwendung
der fremden Sprache nicht brauchen wird? Stellt nicht die heutige Zeit
überhaupt mehr Anforderungen an die Lernkraft der Jugend, als dies früher
der Fall war, und soll man nicht einem Schwerarbeitenden jede unnötige
Last im Interesse seiner Leistungsfähigkeit abnehmen ? Also auch diese
Forderung — Vereinfachung des grammatischen Lehrstoffs — ist sicher be-
rechtigt und wird im Princip nicht auf grofsen Widerstand stofsen, wenn
auch im einzelnen bei der Festsetzung des zu Bietenden und des Wegzu-
lassenden sich Meinungsverschiedenheiten ergeben dürften.
Diesen beiden Forderungen in Bezug auf Aussprache und Grammatik
suchen nun die Bücher von Breymann und Möller zu entsprechen.
L Die Elementargrammatik von H. Breymann enthält auf 52 Seiten das
Regelmäfsige aus Laut-, Schriftzeichen- und Formenlehre.
a) Die Lautlehre behandelt in übersichtlicher, leicht fnfslicher Weise
das Notwendige über die Vokale und Konsonanten und deren Aussprache,
die Silben, Doppelkonsonanten, die Betonung und die Bindung. Eine schöne
Tabelle in § 9 gieht dem Lehrer Gelegenheit, den Schüler auf die Art der
Hervorbringung der Konsonanten aufmerksam zu machen. Da es nun vor-
kommen kann, dafs der Lehrer selbst nicht genau über die Bildung der
Konsonanten informiert ist, so hat sich der Verfasser die Mühe o-enommen,
für denselben in einem Anhang der Elementarorammatik (der sich nur in
der Ausgabe dieses Buches für Lehrer findet §§ ,55 bis 74) das Notwen-
digste der französischen Lautlehre zusammenzustellen. Es mufs wiederholt
werden, dafs diese Abhandlung sich nur in der Lehrerausgabe befindet, wie
auch der Verfasser auf Seite VI der Vorrede ausdrücklich erklärt: „Dem
Ermessen und pädagogischen Takte des Lehrers bleibt es natürlich anheim-
gestellt, wie viel er von dem in den §§ 161 bis 207 Gebotenen dem Schüler
mitzuteilen für nötig hält." Und sicher ist der Gedanke des Verfassers
auch gewesen, dafs -dem Ermessen des Lehrers auch die Art anheimgestellt
bleibe, in der er das in den citierten Paragraphen Gebotene mitteilen will. Ein in
den bayerischen Realschulblättern auftretender, etwas hastiger Recensent der
Elementargrammatik scheint nun zu glauben, als verlange der Verfasser
beim Unterricht wörtliche Wiedergabe des in dem Anhange für den Lehrer
Mitgeteilten, denn nur so ist es zu erklären, wenn dieser Recensent empha-
tisch ausruft: „B. kann ein vbrzüglicher akademischer Lehrer sein, zu Kin-
dern von zehn Jahren versteht er nicht zu sprechen." Wenn der Verfasser
gewollt hätte, dafs seine Erklärungen über die Laute den Schülern wörtlich
mitgeteilt werden sollten, so hätte er doch nicht zwei Ausgaben seines
Buches herstellen lassen, sondern er hätte den genannten Anhang gleich in
das Schülerbuch aufgenommen. Nun kann man aber doch nicht verlangen,
dafs der Verfasser einer Abhandlung, die sich an Lehrer, also an erwach-
sene, gebildete Personen richtet, sich einer so einfachen und elementaren
Redeweise bedienen solle wie die ist, die man zehnjährigen Knaben gegen-
über anwenden mufs.
Der Verfasser läfst jedem Lehrer die Freiheit, wie viel Aussprachetechnik
er lehren will, und wir behaupten, dafs es ein armseliger Lehrer sein müfste.
108 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
tler nicht fühlte, in welchem Tone er zu seinen jedesmaligen Schülern spre-
chen mufs, und der nicht im stände wäre, irgend einen der Lehrsätze des
Anhangs in eine Sprache umzuwandeln, die von zehnjährigen Schülern ver-
titanden wird. Es sind ja nicht Abstraktionen, die mitzuteilen sind, sondern
man arbeitet ja beim Ausspracheunterricht gleichsam mit einem Instrumente;
nicht blofs der Gedanke, sondern auch der Sinn des Gebörs wird in An-
spruch genommen; was aber mit Instrumenten betrieben wird und in die
Sinne fällt, kann unmöglich dem Verständnis zu grofse Schwierigkeiten be-
reiten.
Dafs man aber eine lebende Sprache richtig oder wenigstens annähernd
richtig aussprechen lehren müsse, wird ja wohl kein Vernünftiger bezwei-
feln. Dann gehört aber auch die Unterweisung in der richtigen Aussprache
• in die wSchule und zwar an den Anfang des Unterrichts, denn wollte man
diesen Gegenstand an das Ende der Schulzeit verlegen, so würde die falsche
Gewöhnung unausrottbar sein. Man stelle sich nur vor, was es für uns, die
wir sechs Jahre lang an der Schule und bei privatem Lesen in späteren
Jahren das Griechische nach Quantität und mit deutschen Vokalen ge-
sprochen haben, für Schwierigkeit hätte, nach dem Itacismus und nach dem
Accent lesen und so Gesprochenes verstehen zu lernen.
Die Erfahrung lehrt auch, dafs es den Schüler sehr interessiert, die
richtige Aussprache und die Unterschiede zwischen der Hervorbringung der
fremden Laute und jener der Muttersprache kennen zu lernen, und es freut
ihn, einen Satz mit dem echten fremden Klange sprechen zu hören und
selbst so sprechen zu lernen.
Grundbedingung zu einem anresjenden Unterrichte dieser Art ist nun
aber selbstverständlich, dafs der Lehrende selbst die Sache kennt. Lehr-
talent mufs wohl jeder Lehrer haben, aber ein Lehrer einer lebenden
Sprache mufs vor denen anderer Fächer noch ein empfindliches Ohr für den
Sprechton und eine natürliche Gabe der Tonnachahmung voraus haben.
Gerade in dem Mangel dieser beiden P^ifordernisse scheint ein guter Teil
der Opposition gegen eine exakte Behandlung der Aussprache ihren Grund
zu haben. Denn diejenigen, welche selbst nichts hören und nicht im stände
sind, ein Wort der fremden Sprache mit dem ihm eigentümlichen Klange
auszusprechen, sondern ihren heimischen Dialekt auch in der fremden
Sprache nicht zu verleugnen vermögen, diese können natürlich den neuen
Forderungen nicht gerecht werden ; sie werden deshalb, um ihre Unfähigkeit
in diesem Stücke nicht eingestehen zu müssen, sich gegen jeden Versuch in
dieser Richtung sträuben. Solche Lehrer eignen sich dann allerdings eher
zu Schreib- als zu Sprechlehrern.
Es giebt jedoch noch eine andere Klasse von Lehrern, denen es weder
an gutem Willen, noch an der Fähigkeit fehlt, sich selbst eine annähernd
richtige Aussprache anzueignen, die aber entweder durch die Ungunst der
Verhältnisse nicht in der Lage gewesen sind, einen kundigen Mann zum
Lehrer gehabt zu haben, oder die sich durch die etwas anspruchsvollen
Namen Lautphysiologie oder Phonetik haben abschrecken lassen, der Sache
näher zu treten. Auch mufs zugestanden werden, dafs nicht alle diesen
Gegenstand behandelnden Werke in der für praktische ^''erwertung wün-
schenswerten Weise abgefafst sind. Von diesem Standpunkte aus ist der
Anhang in der Lehrerausgabe der Breymannschen Elementargrammatik ein
wahrer Schatz für die zuletzt genannte Klasse von Lehrern zu nennen. Es
ist da alles Nötige so übersichtlich zusammengestellt, es finden sich da so
viele praktische Winke, so viele feine Bemerkungen, dafs wir überzeugt
sind, dafs manche sich darunter befinden, die selbst solchen, die einer guten
Aussprache sicher zu sein wähnen, beherzigenswert erscheinen werden. Wir
sind ferner überzeugt, dafs jeder Lehrer, der einigen Sinn für die lebende, ge-
sprochene Sprache hat, sich durch die Lektüre dieser Paragraphen zum Studium
einer unserer gröfsercn Phonetiken veranlafst sehen wird. Alle diejenigen,
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 1Ö9
die es mit ihrem Berufe ernst nehmen und einen Sinn für das Künstlerische
bei der Erlernung einer fremden Sprache besitzen und noch nicht mit dem
Studium dieser J3inge sich befafst haben, werden dem Verfasser für diese
klare Einführung in die Technik der französischen Aussprache Dank wissen.
b) In der Buchstaben- und Silbenlehre geht des Verfassers Bestreben
vor allem dahin, dem Schüler die keineswegs selbstverständliche Thatsache
zum Bewufstsein zu bringen, dafs der Laut, d. h. der gesprochene Ton
etwas ganz Selbständiges ist und dafs die Schrift nur ein Mittel ist, den-
selben darzustellen, und dafs ein und derselbe Laut durch verschiedene
Ikichstabenverbindungen dargestellt werden kann. So einfach dieser Satz
klingt, ist er doch erst in neuerer Zeit allgemein reeipiert worden. Früher
hat man gewöhnlich den Buchstaben mit dem Laute identifiziert. Der neue
Satz entspricht aber offenbar allein der Wirklichkeit und bei konsequenter
Durchführunoj ist er wohl geeignet, den Schüler mehr, als es bisher der
Fall war, auf den Gebrauch des Ohres statt auf den des Auges hinzuweisen.
Durch die ganze Art des hisherioen Unterrichtes wurde und wird der Schü-
1er daran gewöhnt, sich nur diejenigen Wörter zu merken, die er geschrie-
ben oder gedruckt vor sich sieht, andere Wörter, die er nur hört, wird er
kaum im Gedächtnis behalten, er fragt unwillkürlich: wie schreibt man das?
Wenn der Schüler aber an Aufmerksamkeit an den Laut gewöhnt wird, so
wird er auch Wörter behalten, die ihm blofs vorgesprochen werden, und er
wird so von der Schrift unabhängiger. Es ist dann auch kein Unglück, wenn
er ein nur gehörtes Wort unorthographisch schreibt, unpbonetisch wird er
es nie schreiben. Auf Grund dieses Gedankens leitet Recensent seine Schü-
ler stets an, nicht zu fragen: Hat religlon einen Accent? sondern nur:
Spricht man religlon oder religlon? In dieser Emancipation von der Schrift
liegt unserer Ansicht nach das Geheimnis der angeblichen Begabung der
slavischen und orientalischen Völker für Erlernung fremder Sprachen. Sie
lernen die fremden Sprachen meist mit dem Ohre, nicht mit dem Auge, und
sind deshalb besser im stände, das Gesprochene zu verstehen und nachzu-
f>prcchen. während bei unserer Lehrmethode der Schüler zwar besser schreibt,
aber schlechter spricht und noch schlechter hört oder versteht. Wir wollen
hier keineswegs dem Empirismus das ^Vort reden; eine Sprache, die mit
dem Auge gelernt wird, haftet vielleicht auch länger im Gedächtnisse als
eine blofs mit dem Ohr erlernte, aber es ist behufs allseitiger Ausbildung
des Lernenden nötig, auch das Ohr und die Sprachorgane besser zu üben,
als es bisher geschah. Schüler, deren Ohr nicht systematisch geübt wird,
werden kein Diktat schreiben können, weil sie das gesprochene Wort nicht
klar aufzulassen im stände sind: sie wissen nicht, wo ein Wort aufhört und
das andere anfängt.-
Dieser wichtigen Thatsache ist nun vom Verfasser der Elementargram-
matik auch in
c) der Wortlehre Rechnung getragen. Überall wo die Wortform sich
infolge der Flexion ändert, ist sorgfältig zwischen einer Veränderung des
Lautes und einer \'erän'.lerung der Schrift unterschieden, eirte Unterschei-
dung, die unseres W^issens hier zum erstenmal konsequent durchgeführt wird.
Auch bei den Fürwörtern zeigt sich in der glücklich gewählten Unterschei-
dung von tonlosen und betonten derselbe Gedanke.
Der oben erwähnte Recensent erklärt: „Der grammatische Teil macht
auf Originalität wohl kaum Anspruch." Man kann doch nicht verlangen,
dafs ganz neue Sprachgesetze aufgedeckt und aufgestellt werden sollen.
Aber unseres Erachtens ist die oben erwähnte Unterscheidung, ferner die
Behandlung der regelmäfsigen Verba, sowie die ganze Vorführung (ter
Sprachgesetze originell genug. Die Originalität bei der schulniäfsigen Be-
handlung grammatischer Dinge ist in der Anordnung und Darstellung zu
suchen. Und hierin hat dieses Buch ganz bedeutencJe A'orzüge vor ande-
ren: die Knappheit der Regeln, die Zusammenstellung des Zusammen-
HO Beurteilungen und kurze Anzeigen.
gehörigen, die Beschränkung des StoII'es und, was nicht zu unterschätzen
ist, die Übersichtlichkeit des Ganzen, welche wesentlich durch die typogra-
phische Ausstattung unterstützt wird. Auch die Ausstattung des Buches in
Bezug auf Papier, Schönheit und Gröfse der angewandten Lettern läfst nichts
zu wünschen übrig.
Da es dem Kecensenten mehr um Darstellung der gröl'seren Gesichts-
punkte zu thun war, von denen aus diese Grammatik zu beurteilen ist, so
kann er sich von der näheren Erörterung des Details dispensieren und zur
Besprechung des die Grammatik ergänzenden Übungsbuches übergehen,
nicht ohne den \\'unsch ausgesprochen zu haben, dafs die Grammatik den
Kampf mit Vorurteil, Schlendrian und Übelwollen siegreich bestehen möge.
II. Das Französische Elementarübungsbuch von H. Breymann und H. Möl-
ler schliefst sich an die Paragraphen der Schulgrammatik an und stellt gleich-
falls einen ganz bedeutenden" Fortschritt gegen die bisherigen Übungsbücher
dar und darf deshalb als ein vorzügliches Lehrmittel bezeichnet werden.
Die Verfasser arbeiten schon auf der Elementarstufe auf Anbahnung der
Fertigkeit im mündlichen Gebrauch des Französischen hin. Es geschieht dies
von § 97 an (die Zahl aller Paragraphen ist 284) durch die Abteilung „Question-
naire", welche den Inhalt der zusammenhängenden französischen Lesestücke
in Frage und Antwort behandelt. Von § 88 an bilden nämlich die franzö-
sischen Mustersätze zusammenhängende Stücke über Dinge und Verhält-
nisse, die durchaus im Anschauungskreise des Schülers liegen. Jedoch sind
auch die einzelnen Muster- und Übungssätze der vorausgehenden Paragraphen
«lurchaus nicht trivial, sondern sie sind mit Geschick ausgewählt oder erfunden.
Die französischen Stücke überwiegen die deutschen Aufgaben an Zahl (die
Dictees mitgerechnet um ca. 15) und namentlich an Länge. Sollte ein Lehrer
das umgekehrte Verhältnis wünschen, so würde er die französischen Stücke
mit besonderer Aufmerksamkeit durchnehmen und als Grundlage zu münd-
lichen Ketroversionen benützen können, wodurch sich viele Übungen er-
geben würden. Die Zahl der im Buche vorkommenden Vokabeln scheint
etwas zu bedeutend ; aus dem angebängten deutschen Wörterverzeichnis
ergiebt sich eine Summe non ca. 2000 \'okabeln, die gewifs nicht alle in
einem Jahre gelernt werden können. Die Verfasser wollen allerdings, dafs
das Buch in einem Jahre absolviert werde. Aber was hindert denn, zwei
Jahre auf die Durchnahme desselben zu verwenden? Recensent würde vor-
schlagen, einige — etwa hundert — der ungewöhnlicheren Wörter wegzu-
lassen und mit § 198 das erste Schuljahr abzuschliefsen. Dann würden —
das Schuljahr zu 240 Sprachstunden gerechnet — auf jede Lehrstunde vier
Wörter treffen, so dafs also der ganze Vokabclreichtum des Buches in zwei
Jahren angeeignet werden könnte. Dann würden die unregelmäfsigen Verba
in den III. Kurs zu verweisen sein, im IV. und V. würde die Syntax ab-
solviert und das sechste Schuljahr zu einer Generalrepetition verwendet wer-
den. Recensent würde also lieber die Behandlung der Syntax um ein Jahr
verschoben sehen, als auf die Aneignung der im Elementarübungsbuch ge-
botenen Vokabeln verzichten. Denn die ersten Lnterrichtsjahre sind er-
fahrungsgemäfs die günstigsten für das Erlernen von Wörtern, während die
späteren günstiger für das Erfassen der Syntax sind, und andererseits ist
es unbedingt nötig, dafs zur Erzielung besserer ünterrichtsresultate und um
den Schüler in den Stand zu setzen, sich nach dem Verlassen der Schule
selbständig fortzubilden, mit Bedacht und systematisch auf
<lie Erwerbung eines ausgedehnteren Vorrates unentbehr-
licher und brauchbarer Vokabeln hingewirkt werde.
Nun noch einige Worte über den dritten Gegenstand dieser Besprechung,
über die
III. Anleitung zum Gebrauch des französischen Elementarbuches von
H. Breymann und H. Möller.
Es ist dies eine sehr beachtenswerte kleine Schrift, deren „Allgemeiner
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 111
Teil" auch diejenigen interessieren wird, welche das Elementarbucli nicht
benützen.
Der besondere Teil der Schrift giebt dann Aufschluls darüber, wie sich
die Verfasser die Art der Benutzung ihres Buches beim Unterricht vorstel-
len. Sie beeilen sich jedoch hinzuzusetzen, dafs ihre Erläuterung keines-
wegs die Freiheit des Lehrers hemmen wolle, sondern dafs die Ziele,
welchen das Elementarübungsbuch zustrebt, innerhalb des vom Buche vor-
gezeichneten Rahmens auch auf verschiedenen "Wegen erreicht werden
könnten.
Wir schliefjien diese Besprechung in der Überzeugung, dafs die be-
sprochenen Bücher einen wesentlichen Fortschritt in der Unterrichtsmethode
des Französischen bezeichnen, und mit dem Wunsche, dafs dieselben allseitig
die Anerkennung finden möchten, die sie so sehr verdienen.
München, Dezember 1884. Th. Wohlfahrt.
Karl R. Holzinger von Weidicb, Die einfachen Formen des
französischen Zeitwortes in geordneter Darstellung. Graz,
Leuschner & Lubensky, 1883. 618. 8.
Die Schrift ist für den Lehrer bestimmt und versucht,' die Formen
des französischen Verbums ihrer Bildung nach zu erklären; und zwar weder
rein geschichtlich, noch rein deskriptiv, sondern es wird „derjenige Teil
eines Zeitwortes, durch welchen es sich von allen anderen Zeitwörtern seiner Be-
deutung nach unterscheidet", als Stamm des neufranzösischen Verbs angesehen
und aus diesem die verschiedenen Formen hergeleitet, insofern das zwi-
schen dem Stamm und der betreffenden Form bestehende Verhältnis auch
im Lateinischen oder wenigstens in der alten Sprache vorhanden war und
sich somit geschichtlich rechtfertigt. So wird für tenir als Stamm ten an-
gesehen, dessen e in den stammbetonten Formen zu ie diphthongiert wird,
während die flexionsbetonten Formen, die des Futurs ausgenommen, dumpfes
e zeigen. Das p. p. bu wird durch bevu, beu erklärt. Als ursprünglicher
Stamm dieses Verbums gilt bev; in den stammbetonten Formen des Prä-
sens ist der Vokal des Stammes zu oi gesteigert. Die lautflektierenden
(Gegensatz: stummflektierenden) Formen des Präsens bildet ein anderer
Stamm: buv; boire ist also ein „mehrstämmiges" Verb, indessen gehören
seine verschiedenen (Tempus-)Stämme demselben V^okalstamme an.
Dieses Verfahren des Verfassers läfst sich gutheifsen, soweit das sprach-
geschichtliche Korrektiv im Auge behalten wird. Dies geschieht aber nicht
immer. So ist das „Konjunktivsuffix" ss in j'aimasse aus essem erklärt,
während amassem zu gründe liegt. Die lateinischen Verbalstämme na, pa,
cre, pare und (con) no diphthongierten — so giebt der Verfasser an —
beim Übergänge ins Französische ihre Vokale im Präsensstarame und setz-
ten das Inchoativsuffix an. So entstanden die Präsensstämme naiss, paiss,
croiss, paroiss, connoiss. Die Entwickelungen, welche hier als „Diphthon-
gierungen" zusammengefafst werden, sind aber nicht in eine Reihe zu stel-
len. Über das S. 37 Angegebene: „Für den Ausdruck ,leben' ergänzen sich
die beiden defektiven Zeitwörter vivre und das untergegangene Zeitwort
vescoir," ' wozu es in der Anmerkung heifst: „das altfrz. p. p. vescut läfst
auf einen Infinitiv vescoir schliefsen" (!), und „für den Ausdruck ,wissen'
ergänzen sich savoir und das untergegangene sachir", hätte sich der Ver-
fasser auch aus der Sprachgeschichte eines anderen belehren lassen können.
Das Büchlein will ein Leitfaden für die Behandlung des französischen
Verbs im Unterrichte sein. Ich gestehe indessen für meinen Teil, zu den
„praktischen" (die Anführungszeichen rühren vom Verfasser her) Lehrern
zu gehören, bei denen „die Versuche dieser Art die Furcht vor einer Ver-
Il2 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
j^röl'serung der Uiiterrichtsschwierigkeiten nicht zu beseitigen vermocht hat".
Gewils ist es für den Schüler am leichtesten, die Verbalformen mechanisch,
ohne Erklärung zu lernen. AVill man aber auf einer höheren Stufe eine Er-
klärung hinzutreten lassen, so kann dieselbe nur die historische sein, weil
es eine andere nicht giebt. Auf der Gymnasialprima wird man dies gewifs
zu thun wünschen, sieh aber damit begnügen müssen, gelegentlich an Bei-
spielen die strenge Gesetzmäfsigkeit der Entstehung der späteren Sprach-
formen aus älteren nachzuweisen. Ein weiteres ist nicht Sache der Schule.
— g—
Prof. Dr. W. Wiedmayer, Französische Stilübungen für obere
Klassen. Stuttgart 1883. 126 S. 8.
Das Buch bietet eine treffliche Sammlung zusammenhängender Stücke
zum Übersetzen aus dem Deutschen ins Französische. Das Übersetzen der-
selben, obwohl durch grammatische, stilistische, auch synonymische Anmer-
kungen erleichtert, wird dem Primaner noch Schwierigkeiten genug machen,
ihn aber in gleichem Mafse üben und fördern. Der praktische Versuch hat
mir dies bestätigt. Lobenswert ist auch, dafs hinsichtlich des Inhalts die
französische Litteratur besonders berücksichtigt worden ist.
Das Buch ist zunächst im Anschlufs au des Verfassers „Syntax" be-
arbeitet, setzt aber deren Gebrauch keineswegs voraus.
Dr. J. B. Peters, Materialien zu französischen Klassenarbeiten.
Für obere Klassen höherer Lehranstalten. Leipzifj 1882.
72 S.
Dieses Büchlein dient ungefähr dem gleichen Zwecke wie das vorher-
gehende. Über die Art seiner Benutzung giebt der Verfasser noch näher
an, dafs es Extemporalien zur Übung — zu unterscheiden von solchen,
deren Zweck Prüfung ist — dnrbietet und dafs die ganz besonders berück-
sichtigten Synonymen jedesmal, wenn eine Gruppe derselben (ohne Anfüh-
rung des Unterschiedes) zusammengestellt ist, in der „vortrefflichen" fran-
zösischen Synonymik von Dr. K. Meurer, die er bei den Schülern voraus-
setzt, nachzuschlagen seien. Auch ich unterscheide, wie der \'erfasser, beim
Extemporale zwischen den beiden Zwecken der Übung und der Prüfung.
Das dem letzteren Zweck dienende Extemporale mufs der Lehrer selbst aus-
arbeiten, da der augenblickliche Standpunkt der Schüler und die besonderen
Erfahrungen des Lehrers dabei Berücksichtigung fordern. Mit manchen
neueren Schuhnännern ganz auf dasselbe zu verzichten und das Feststellen
des \Aissens- und Könnensmafses nur dem mündlichen Unterricht zuzu-
weisen, halte ich nicht für rätlich: die bevorstehende Prüfungsarbeit ist ein
zu gutes Motiv des Lernens für den Schüler. Freilich darf sie dann nicht
zu häutig kommen — vielleicht monatlich, das Übungsextemporale wöchent-
lich. Was aber die Behandlung der Synonymen angeht, so ist zunächst das
Meurersche Büchlein, welches gleichzeitig mit den „Materialien" benutzt
werden soll, herzlich schlecht. Wissenschaftlich selbständige Arbeit läfst
sich ihm nicht nachrühmen, es zeichnet sich auch nicht einmal durch scharfe
Bedeutungsbestimmung oder treffliche Beispiele aus. Überhaupt aber soll-
ti. n die Synonymen nicht nach einem Buche und gewissermafsen systematisch
«lurchgenommen werden. Es ist kaum ein geistiger Gewinn damit erzielt,
dafs der Schüler hundert synonymische Gruppen kennt und das über die
Unterschiede Bemerkte mehr oder minder gut wiederzugeben weifs. Viel
mehr gewinnt er, wenn ihm in einigen gelesenen Stellen der Unterschied
deutlich vor Augen tritt, so dafs eine Vermittelung durch das Hilfsbuch
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 113
unnötig wird. Dabei kann man etwa so verfahren, dafs eine zuerst begeg-
nende Stelle, welche den Bedeutungsumfang des einen Synonymums (z. H.
la puissance) klar erkennen läfst, zunächst scheinbar aus Anlafs irgend einer
anderen, z. B. grammatischen, Eigentümlichkeit oder als Sentenz memoriert
wird. Tritt nun später das zweite S}'nonymum (le pouvoir) an einem an-
deren Orte gleichfalls scharf charakteristiscli auf, so lenkt man die Auf-
merksamkeit der Schüler zugleich auf die früher memorierte Stelle zurück
(falls sie sich nicht von selbst alsbald darauf besinnen sollten) und entwickelt
so den Unterschied, bezw. läfst sie selbst denselben auffinden. Auch kann
eine dem Denken des Schülers bisher noch nicht geläufige logische Distink-
tion ihm an zwei Synonymen deutlich gemacht werden; z. B, subjektive und
objektive Beziehung an engl, freedom (Zustand oder Eigenschaft eines Sub-
jekts) und liberty (objektiv, die Freiheit substantiell gedacht, daher auch
bestimmte, einzelne Freiheiten). So wird zunächst dem Erkennen des Schü-
lers ein gewisser formaler Gewinn zugeführt, und die verschiedenen Bezeich-
nungen, welche eine andere Sprache für die aufgefundenen Begriffsnüancen
ilarbietet, prägen sich ganz von selbst und nebenbei ein, weil sie zur Ver-
deuthchung der Erkenntnis dienen. Es wird hierdurch diejenige Behand-
lung der Synonymen, welche ich die stoffliche nennen möchte, vermieden
und durch eine vorwiegend begriffliche ersetzt: es wird das formelle Den-
ken geschärft, nicht aber das (ledächtnis belastet. Bei systematischer Be-
handlung dagegen verliert die Synonymik das Anregende und vermehrt
eio;entlich nur den Unterrichtsstoff".
Die „Materialien" sind im übrigen zur Übung der Schüler oberer Klas-
sen nicht ungeeignet. Sie setzen etwas geringere Kenntnisse voraus als das
vorher besprochene Wiedmayersche Buch.
R. Wilcke, Anleitung zum englischen Aufsatz. Berlin 1881.
68 S.
Nach dem Titel wird man von dem Büchlein etwas anderes erwarten
als das, was es wirklich darbietet. Dasselbe enthält nämlich eine allgemeine
Stil- und Dispositionslehre und es wird dabei das Englische nur insofern be-
rücksichtigt, als einmal bei den vorkommenden Kunstausdrücken neben der
deutschen die englische Bezeichnung angegeben wird, und als zweitens die
Beispiele dieser Sprache entnommen sind. Hierbei hätte sich immer noch
viel Idiomatisches heranziehen lassen, so dafs das Buch wenigstens einen
Teil seiner Aufgabe gelöst hätte; doch ist dies nur wenig geschehen. Auf
unseren Schulen dürfte sich hiernach von dem Büchlein kaum Gebrauch
machen lassen. - — g —
Jules Theisz, Petite histoire de la litterature francaise. Löcse
(Hongrie) 1883. 66 S. 8.
Nicht besser und nicht schlechter als die meisten ähnlichen Zusam-
menstellungen. Der Selbständigkeit entbehrt das Büchlein so gut wie ganz,
Sainte-Beuve, Demogeot u. a. sind oft wörtlich ausgeschrieben.
Guillaume le Conquerant. Aus Augustin Thierrys Histoire de
la Conquete de l'Angleterre par les Normands. Mit Ein-
leitung (2 Seiten) und Noten (3 Seiten) zum Schulgebrauch
herausgegeben von Dr. H. Robolsky. Leipzig (ohne
Jahreszahl).
Die Wahl dieses Gegenstandes für ein Schullektürebuch war recht
glücklich und hat, wie das Erscheinen einer zweiten Auflage beweist, Bil-
Archiv f. n. Spraclien. LXXIII. S
114 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
ligung gefunden. Inhalt und Sprache sind zu dem angegebenen Zwecke
durchaus geejfrnet.
Gleiches Ivob verdient das von demselben Verfasser herausgegebene
Büchlein
La lettre fraiKjaise. Leipzig, Renger.
RoboLsky hat dasselbe aus dem Nachlafs seiner verstorbenen Schwester
(Frau Dr. Toppe) veröffentlicht. Das Büchlein soll dem weiblichen Ge-
schleclit als Hilfsbuch für den Briefstil dienen und dürfte diesen Zweck
nach unserer Meinung ausgezeichnet erfüllen.
Grammatisches Übungsbuch für den Unterricht in der fran-
zösischen Sprache. Im Anschlufs an die Schulgramraatik
von Plötz bearbeitet von W. Bertram. Bremen 1881.
Ein willkommenes Materialienbuch für denjenigesn, welchem der Umfang
der in der Plötzschen Schulgraramatik gebotenen Übungsstücke nicht aus-
reicht. Zugleich kann der gebotene Stoff für die Konversation benutzt wer-
den. Für einen Vorzug halten wir es, dafs die französischen Sätze puten
nationalen Autoren entnommen sind und somit die Gewähr eines guten Fran-
zösisch bieten. Wir sind im Gegensatze zu anderen der Meinung, dafs ein
französisches Lehrbuch seine französischen Sätze stets mustergültigen fran-
zösischen Schriftstellern entlehnen sollte. Schreibt der Verfasser sie selbst,
so läuft höchst wahrscheinlich manches Nichtidiomatische mit unter. Und
sind die meisten Lehrer des Französischen in der französischen Stilistik (der
praktischen) denn so sattelfest, dafs das Deutsch-Französische manches Lese-
buches auch sie selbst niemals irreführt? L.
Miscellen.
Re Umberto.
\'on Richard Schmidt- Cabanis, übersetzt von Leopolde Bizio.
Heil dir, Savoyens fürstlicher Sprofs,
Der sich den Kampfpreis gewann!
Tapferster Helden würd'ger Genofs —
Wird man dich rühmen fortan !
Mocht auch in Kriegestänzen
Blutiger Lorbeer dir
Nimmer den Scheitel noch kränzen:
Hell soll die Palme dir glänzen —
Reinere Zier! —
Wenn durch die Gaue erschütternd
wild
Donner der Schlachten grollt;
Wenn auf verwüstetem Saatgefild
Ehern der Würfel rollt:
Höllische Mifsgewalten
Können doch nimmer im Bann
Mark und Sehnen dort halten;
Frei darf die Kraft sich entfalten —
Mann gegen Mann!
Rüstiges Ringen im wogenden Kampf
Frischt und weitet die Brust;
Wiehernder Rosse mutig Gestampf
Steigert des Reiters Lust;
Ob auch sein Blut mufs färben,
Rinnend, die Scholle rot,
Sieg doch half er erwerben :
Für das Vaterland sterben —
Ruhm reicher Tod !
Salve, 0 sabaudo Principe,
Che la gran lotta hai combattuto e
vinto !
AI par degli avi tuoi
Magnanimo sei tu, figlio d'eroi.
Se pur la fronte di cruenti allori
Mai piü non cingi,
E d' ogni altro piü splendida e piüpura
Questa palma, che in pugno oggi tu
stringi.
Quando 1' urlo selvaggio
E il tuon delle battaglie empie le
terre,
E le ubertose biade
11 bronzo del cannon devasta e rade ;
Poter non v' ha, che il braccio e il
nerbo al prode
Abbia mai domo:
La forza crompe, ebbra e la pugna,
ed arma
La febbre del lottar 1' uom contro
r uomo.
11 fluttüar deir ardua
Tenzon rinfranca al combattente il
petto;
La scalpitante zampa
E il nitrir del cavallo il cuor gli
avvampa.
Sia pur ch'ei debba imporporar delsuo
Sangue la terra,
Se il premio alfin della battaglia ei
giunge :
Hello e il morir per la sua patria in
guerra !
8*
116
Miscellen,
Aber ein grausiges Blachfeld zumal
Dehnt sich schweigend und weit
Dort, wo im dumpfigen Krankensaal
Lager an Lager gereiht ;
Dort, wo in Jammerhöhlen
Lauernd die Pest sich birgt;
Wo sich der Kühnste mufs stählen,
Nur die Opfer zu zählen,
Die sie erwürgt!
Nimmer der Hörner kriegrischer Klang
Dringt dort befeuernd ans Herz;
Nimmer ein freudiger Schlachtgesang
Sänftigt den brennenden Schmerz ;
Nimmer der Banner Winken
Hebt den zagenden Sinn —
Nimmer der Waffen Blinken:
Streiter um Streiter sinken
Wehrlos dahin!
Tückisch des Dämons eisige Hand
Taucht in schwärendes Gift
Pfeile — schärfer denn Diamant;
Ziellos schiefst er — und trif!t!
Wälle verwesender Leiber
Stützen des Furchtbaren Macht;
Greise und Kinder und "Weiber
Rafft er — ein gieriger Räuber —
Jäh über Nacht! —
Du aber trotztest des Würgers Wut,
Hieltest dem Schrecknis stand ;
Fachtest der Feigen gesunknen Mut,
Die zur Flucht schon gewandt.
Furchtlos, inmitten Leichen,
Ruhte dein Königsblick
Auf dem Unhold, dem bleichen,
Bis er doch mufste weichen
Endlich zurück !
Also hervor aus grimmem Gefecht
Schrittest als Sieger du,
und deine Bürger jauchzen mit Recht
Ihrer Edelstem zu —
Weihen den Kranz dir der Ehren,
Der deinem Wirken gebührt;
Sieh, und den friedlich hehren
Haben des Dankes Zähren
Perlengeziert.
Selbst deiner Feinde düsteres Heer,
Das sich „unfehlbar" glaubt:
Ma miserando e lugubre
L' ampio quadro ivi s' apre, ove fra
il greve
Tanfo deir ospedale
Lunghe file di letti empion le sale;
Ove in tugurii squallidi la peste
Tende 1' agguato ;
Ove fino il piü ardito ha raccapriccio
Le vittime a contar, ch' essa ha
strozzato.
Ivi al clangor di belliche
Trombe non vibra e non si accende
il cuore;
Ivi non tempra il fiero
Duol di chi sofl're un lieto inno
guerriero ;
Ivi il lampo delT armi, e la bandiera
Ai venti stesa
Non rialza il coraggio a chi vacilla:
Iva cade ciascun senza difesa.
La fredda man del demone,
Piü che il diamante aguzze, entro
il veleno
Marcio le freccie intride:
Scocca senza mirar, colpisce e uccide.
Vigor le danno i monti dei cadaveri
Tmputriditi;
Vecchi, donne e fanciuUi, in una notte,
II vorace ladron tutti ha rfipiti.
Ma tu 1' ernpio carnefice
Tu r hai sfidato, e atteso a pie' sicuro ;
Alle turbe fuggenti
Nuovo cor desti tu, nuovi ardimenti.
Fra i cadaveri immoto, il tuo fissasti
Sguardo di Re
Sovra il pallido mostro; ed esso infine
Ceder dovette, o Umberto, innanzi
a te.
Cosi dal fiero eccidio
Trionfatore uscisti, e al sommo erede
Delle virtü sabaude
Dair Alpi al mar tutta l'Italia applaude.
La Corona al valor t' han consacrata
Tutte le genti;
Ma le perle piü belle al tuo diadema
Le lagrime saran dei tuoi redenti.
Perfino il bleco esercito
Che „infallibil" si crede e sul tuo
capo
Miücellen.
117
Ol) dich's verflucht und verketzert
schwer,
Neigt nun verstummend das Haupt;
Leider vergebens flehten
All ihre Heilgen sie an,
Dafs die ein \\'under thäteu —
Du aber — ungebeten —
Hast es gethan !
Heil dir, Italias tapferer Hehl,
Blühendes Königsreis!
Klingen soll hinaus in die \\'elt
Laut deines Namens Preis!
Mehrt' auch kein ^'ölkermorden
Noch deiner Krone Glanz:
Bist doch für Süd und Norden
Wahrhaft ein Vater worden i
Des Vaterlands! ♦
Impreca c malcdice,
Ammutoliscc c piega la cervice;
Invan dai loro santi essi un prodigio
Hanno invocato,
Li pregarono invan ; — ma lo facesti
11 miracolo tu: — tu non pregato.
Italo eroe, di Principi
Rampolio vigoroso, io ti saluto !
Dee d' ogni terra in fondo
Empiere il suon della tua fama il
S' anco il fulgor
mondo.
di tua Corona in
guerra
Tu non aumenti,
Fin nel settentrione ultimo, Padre
Te della patria chiameran le genti.
Lateinschrift oder deutsche Schrift?
Es ist in neuerer Zeit vielfach der Wunsch ausgesprochen worden, in
unseren Büchern und Schriften nur ein Alphabet, und zwar das sogenannte
lateinische anzuwenden, und da diese Frage für das deutsche Kultur- und
Geschäftsleben von gröfserer Wichtigkeit ist, als es bei oberflächlicher Be-
trachtung scheint, dürfte eine nähere Beleuchtung jedem vaterländisch Ge-
sinnten von Interesse sein. Wägen wir die Gründe für und wider parteilos ab.
Gründe gegen die ausschliefs liehe Anwendung der Latein-
sch rift.
1) Die Gegner der Lateinschrift sagen, es sei unpatriotisch, die uns
eigentümliche deutsche Schrift aufzugeben. Sie sprechen damit einen
Grund aus, der, wenn er sich als richtig erweisen sollte, schwerwiegend
cenug wäre, die vorgeschlagene Neuerung zurückzuweisen. Es ist dies
jedoch nicht der Fall. Die Sache liegt anders. Um sie richtig zu stellen,
müssen wir sagen: Die „lateinische" wie die „deutsche" Schrift sind beide
deutsch; oder: die lateinische Schrift ist die runde — die deutsche
Schrift die eckige Form desselben Alphabets.
Hier der Beweis dafür. Eine Schrift, welche aus dem Wesen unserer
Sprache hervorgegangen wäre, also eine eigentümliche deutsche Schrift,
haben wir nie gehabt: die Runen wird man weder so nennen, noch sie
wieder einführen wollen. Wir bekamen unsere Kultur von den Römern
und mit ihr, vorzüglich bei Einführung des Christentums, die lateinischen
Buchstaben. Die lateinische Schritt wurde, nachdem sie sich unseren Laut-
verhältnissen angepafst hatte, zur christlich-deutschen.
Alle -deutschen Werke bis zur Erfindung der Buchdruckerkunst sind in
dieser, der „lateinischen" Schrift geschrieben. So die Bibelübersetzung des
Ulfila um 400, wie das Wessobrunner Gebet, das Hildebrandslied, der Heliand
um 800, das Ludwigslied, Notkers Psalmen und die ganze reiche Litteratur,
deren Sprache durch „mittelhochdeutsch" bezeichnet wird, z. B. das Nibe-
lungenlied, Gudrun, Titurel, Parsifal, Lohengrin, Tristan und Isolde, Frei-
danks Bescheidenheit, Reineke Fuchs, sämtliche Minnelieder von Heinrich
von Veldeke bis Ulrich von Lichtenstein u. s. w.
Begreiflicherweise stimmten die Schriftzüge der verschiedenen Schreiber
118 Miscellen,
nicht völlig überein, namentlich suchten die Mönche, welche sich mit Ab-
schreiben beschäftigten, die Buchstaben auf mannigfache Weise zu verzie-
ren, und so kam es, dafs Gutonberg, als die Entscheidung an iim trat,
welche bestimmte Form er den Drucklettern geben solle, statt der reinen,
runden Form der Lateinschrift die gebrochene, verschnörkelte Zierschrift
zum Muster nahm.
Natürlich druckte man allenthalben mit diesen Lettern : nicht nur in
Deutschland, sondern auch in Frankreich, Spanien, Holland u. s. w. lange
Zeit hindurch. Bei der steigenden Geschmacksbildung indessen wurden die
Buchstaben wieder mehr gerundet. Die nicht gebrochene Schrift trug den
Sieg davon. Zuerst bei den romanischen Völkern und dann bei Schweden,
Dänen, Böhmen. Nur die Deutschen blieben zurück. Sie sahen sich zwar
durch den internationalen Verkehr gezwungen, die alte runde Schrift wieder
anzuwenden, behielten aber unpraktischerweise die eckige Schrift daneben
bei. So entstand die unnatürliche, unerhörte Einrichtung, dafs eine Sprache
durch zwei Alphabete dargestellt wurde.*
AVir haben also jetzt eine runde und eine eckige Lateinschrift und
nennen unlogischerweise die letztere deutsch. Freilich kommt auf den Namen
wenig an ; er ändert an der Sache nichts, wohl aber erschwert er die Heilung
des Übels. Hätte man stets von Rundschrift und Eckenschrift geredet, so
würde jetzt keine patriotische Regung der Rückkehr zu den einfachen
natürlichen, sprachrichtigen \ erhältnissen hemmend entgegentreten, sondern
man würde fragen : Welche Schrift sollen wir aufgeben, die runde oder die
eckige? Und die Antwort könnte nicht schwer fallen.
Verschieben wir diese Antwort jedoch bis ans Ende unserer Unter-
suchung. Alle Vorzüge und Mängel der einen wie der anderen Schrift
müssen erwogen sein, bevor eine gründliche Entscheidung getroffen werden
darf. Trotzdem die sogenannte deutsche Schrift nicht ausschliefslich
deutsch ist, könnte es sich doch herausstellen, dafs sie als die zweckmäfsigere
anerkannt werden müfste. Haben wir doch unsere deutschen Mafse un<l
Gewichte gegen fremdländisshe aufgegeben, ohne uns dabei durch mifsver-
standenen Patriotismus beirren zu lassen! Deutsche Verkehrtheiten be-
wahren zeugt eher von allem anderen als von Liebe zum V'aterlande.
2) Die Rundschrift, heifst es bisweilen, nimmt mehr Zeit in Anspruch.
Zur Klarstellung dieser Angabe frage man sich : Nehmen die Rundbuch-
staben mehr Raum ein? Und die Antwort lautet: Nein, im Gegenteil; folg-
lich kann das Überblicken durchaus nicht mehr Zeit erfordern. „Gleich-
wohl," wird vielleicht dieser oder jener Leser erwidern, „bedarf ich that-
sächhch mehr Zeit dazu." Zugegeben. Das aber liegt nicht an der Schrift,
sondern an Übung und Gewohnheit. Der Ausländer wird Gleiches von der
deutschen Schrift behaupten. Was aber das Schreiben der beiden Schrift-
arten betrifft, so beachte man den Umstand, dafs die deutsche Schrift 101,
die lateinische dagegen nur 94 Grundstriche in ihrem Alphabete enthält.
3) Endlich macht man noch darauf aufmerksam, dafs die allgemeine
Einfuhrung der Lateinschrift auf grofse Schwierigkelten stofsen würde.
Ohne Zweifel entständen solche, wenn z. B. die Rede von dem griechischen
oder arabischen Alphabete wäre; allein die Kundschrift brauchen wir nicht
zu lernen — wir alle kennen und können sie ohne Ausnahme. Sie wird
nicht etwa nur in den Gymnasien und Realschulen, sondern schon in der
* Der Natur der Sache angemessen, mufs die Sprache für jeden Laut einen
Buchstaben besitzen, also für den Laut a den Buchstaben a; wir aber haben acht
Zeichen dafür: ein geschriebenes, ein gedrucktes, und zwar grofs und klein in deut-
scher Schrift und ebenso viele in Latein — sämtlicli voneinander verschieden. Und
so alle übrigen Buchstaben. Welche Last durch diesen nutzlosen Uberflufs vor-
züglich der lernenden Jugend erwächst, fällt in die Augen.
Miscellen. 119
untersten Klasse siimtUcIier Volksscbiilen gelehrt und jnjeiibt und findet in
stets wachsendem Mafse Anwendung. Wir sind an ihren Gebrauch der-
gestalt gewöhnt, dafs sie in manchen Fallen als selbstverständlich erscheint.
Giebt es irgend eine Landkarte, einen Globus mit sogenannter deutscher
Schrill? Oder Post- und Stempelmarken, ]\liinzen, Postkarten? Auch die
Inschriften auf Denkmalern, die Schilder an Verkaufsstellen, die Eisenbahn-
Fahrplane und Billets, die durch den Drucktelcgraphen hergestellten Tele-
gramme, das Papiergeld und Millionen von Cirkularen und Formularen der
Kaufleiite werden fast ausschliefslich in Rundsclirift gedruckt, sowie Tau-
sende von deutseben Büchern und Zeitschriften. Der Einführung der Rund-
schrift steht also kaum eine nennenswerte Schwierigkeit entgegen. Es ist
keine Neuerung, sondern lediglich eine praktische Durchführung des Be-
stehenden. Wir brauchen nur zu wollen.
Gründe für die ausschliefs liehe Anwendung der Rundschrift.
Ergiebt sich aus dem Obigen, dafs die Anwendung der Rundschrift
mit keinem Nachteile verbunden ist, so bleibt noch übrig, zu untersuchen,
ob sie auch genügende Vorteile bietet, um ihre Durchführung anzuraten.
AVir bemerken darüber folgendes:
1) Die Rundschrift, wie bereits angedeutet, zeigt einfachere, edlere,
deutlichere Formen als die gebrochene, verschnörkelte, altmodische Ecken-
schrift; sie ist also schöner. Vergl. % A. S W, 9Ji M, ^ K, ! k, ^) p,
v^ s u. s. w. 2)(5lIX2(£§eS Si^SCsSi? DEUTSCHES REICH! Dafs wir
auch die gebrochene Schrift schön finden, ist ein Ergebnis des falschen
Patriotismus und der Macht der Gewohnheit. Der Mensch und besonders
der deutsche Philister findet überall das schön, was er liebt und woran er
sich gewöhnt hat. Jeder Fremde wird unsere Eckenschrift unschön finden.
Und wir sollten stolz auf diese Schrift sein?
2) Die Rundschrift ist wohlthätig für die Augen. In keinem Lande
giebt es so viel Kurzsichtige wie in Deutschland. In den Oberklassen der
(Tvmnasien finden sich nach ärztlich und amtlich angestellten Untersuchungen
durchschnittlich 60 Proz. Kurzsichtige ^verschiedenen Grades, und selbst in
Töchterschulen 20,30 Proz. Fremden Ärzten, welche Deutschland besuchen,
fallen die vielen jugendlichen Brillenträger als etwas Besonderes auf, und
fast alle stimmen darin überein, dafs sie die Eckenschrift als Hauptquelle des
Übels ansehen. Die vielen Spitzen und Zacken der deutschen Buchstaben
reizen das Sehorgan. Ein ermüdetes Auge fühlt sich erleichtert, wenn es
zum Lesen lateinischer Schrift übergeht. Freilich mufs man im Lesen der-
selben geübt sein. Wer selten Lateinschrift liest, ist gezwungen, schärfer
zuzusehen, weil ihm die runden Formen ungewohnt sind, und er kann des-
halb leicht in den Irrtum verfallen, die Rundschrift sei anstrengender.
Indes, das Lesen der deutschen Druckschrift ist noch nicht halb so
veiiderblich wie das Schreiben und Lesen der Schreibschrift. Die feinen
Striche, aus welchen sie besteht, erfordern eine hohe Spannung der Seh-
kraft, vollends bei der meist blassen Schultinte und bei schwacher Beleuch-
tung, weitab vom Fenster, in der Abenddämmerung, bei einer flackernden
Kerze u. s. w. Und nun ermesse man die Verwüstung, welche die jetzt
gebräuchlichen häuslichen Aufgaben: stundenlanges Schreiben in solcher
Schrift, an den Augen anrichten müssen! Es ist kaum begreiflich, dafs
sich nicht deshalb schon längst alle Eltern, denen die Gesundheit ihrer
Kinder am Herzen liegt, gegen die Beibehaltung der verderblichen Ecken-
schrift empört haben.
3) Die Handschrift wird fester, wenn die Jugend nur eine Art von
Schrift zu lernen hat. Rundschrift und Eckenschrift sind so grundverschie-
den, dafs sich die Führung der Feder danach richten mufs. Hat sich der
Lernende kaum an die eine Art der Handbewegung gewöhnt, so zwingt
uum ihn, zu der anderen überzugehen. Beide stören sich gegenseitig. Erst
j20 Miscellen.
spiit wird Festigkeit erlangt. Daher fimlet sich in Deutschland verhalt-
nismäfsig viel seltener eine sichere, ausgeprägte Handschrift als z. B.^ in
Enal.'iiut AVer sich auf zwei verschiedenen Instrumenten, etwa auf Geige
und Klavier, ausbildet, erreicht niemals Virtuosität.
4) Die Lernlast der Jugend wird durch Beseitigung der Eckenschrift
erleichtert. Das Lesen- und Schreibenlernen nimmt, von Orthographie ganz
abgesehen, bekanntlich geraume Zeit in Anspruch, in Deutschland augen-
fäUig doppelt so viel als in Frankreich oder England, und es nützt wenig,
wenn man, wie es z. B. in manchen Fibeln geschehen ist, zu der Schreib-
schrift zugleich die Druckschrift deutsch und lateinisch hinzufügt, weil dem
Kinde dabei für einen Laut acht Zeichen gegeben werden und diese Zeichen
zum Teil so verschieden sind, dafs sie den Schüler notwendig verwirren.
Wie ganz anders würde sich dieser Unterricht gestalten, wenn wir nur ein
Alphabet: das lateinische, hätten! Rektor R. Dietlein hat sich das grofse
Verdienst erworben, eine Fibel (Berlin 1881, Th. Hofmann) drucken zu
lassen, welche nach dieser Voraussetzung eingerichtet ist. Mittels eines
solchen Buches lesen und schreiben zu lernen, wird den Kindern eine
Freude sein. Die Ähnlichkeit zwischen Schreib- und Druckschrift braucht
nicht mühsam aufgesucht zu werden, da namentlich bei den kleinen Buch-
staben (rt d e h m n r v u. s. w.) thatsächlich fast gar kein Unterschied
vorhanden ist, wie die Dietleinsche Fibel deutlich zeigt. Hier sind es vor-
züglich Lehrer und Eltern, von denen wir das werkthätige Handeln er-
warten, um der Jugend das Kleinod der einheitlichen Schrift zu erringen.
5) Die ausschlief<liche Anwendung der Rundschrift erleichtert den Ver-
kehr mit anderen Völkern. Der Rundschrift bedienen sich, Russen und
Griechen ausgenommen, alle V^ölker von Europa, Amerika und Australien,
und bekannt ist sie, wohin nur Europäer und Amerikaner gedrungen sind:
sie ist eine Weltschrift. Der Wunsch, dafs alle Menschen eine Sprache
reden möchten, wird vielleicht nie in Erfüllung gehen; dagegen ist wenig-
stens eine einheitliche Schrift fast erreicht, und damit für den geistigen wie
geschäftlichen Verkehr der Völker ein ebenso wichtiges Erleichterungs mittel
geschafien, wie die Eisenbahnen und Telegraphen es bieten.^ Wie seltsam,
dafs gerade das Volk der Dichter und Denker in diesem einen Punkte so
hinter' der vorschreitenden Kultur zurückgeblieben ist und den augenfälligen
Gewinn für Verlust ansieht!
Dafs Deutschland diese aufserordentlich grofsen Vorteile nicht beachtet,
läfst sich, wie gesagt, nur aus mifsverstandenem Patriotismus erklären und
aus jenem unglückseligen Eigensinne, der die Schwächen früherer Jahr-
hunderte in ehrfurchtsvoller Scheu auch jetzt noch beibehalten will. Es
sollten gerade die Deutschgesirnten für einen Fortsehritt eintreten, welcher
uns nur P2hre und Nutzen bringen kann und den Ausländern ein grofses
Hindernis bei Erlernung unserer Sprache hinwegräumt. Die deutsche Sprache
und Litteratur kann sich an Schönheit und Gediegenheit mit allen andeT-en
der Erde messen, ja, übertrifft sie in manchen Beziehungen; aber dennoch
wird sie im Auslande noch immer zu wenig erlernt und gewürdigt, und
daran träo-t einen erofsen Teil der Schuld unsere unglückliche, altmodische
Eckenschrift.
Wir sind mit unserer Betrachtung zu Ende und glauben ihr gemäfs zu
folgendem Schlüsse berechtigt zu sein:
„Die alleinige Anwendung der Lateinschrift bringt keinen nationalen
Nachteil, wohl aber wichtige Vorteile; die Lateinschrift ist also unbedenk-
lich vorzuziehen, und es liegt jedem Deutschen die Pflicht ob, diese wohl-
thUtifre Reform mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote stehen, herbeiführen
zu helfen."
Schliefslich führen wir noch einige Urteile anderer über die Latein-
schrift an.
Jakob Grimm und alle germanistischen Sprachforscher haben die
Miscellen. 121
Rundschrift für die eigentlich deutsche und vorzüglichere erklärt. Der 1868
zu Jena verstorbene, als Sprachforscher weit berühmte Prof. A. Schleicher
z. B. sagt darüber in seiner Schrift „Die deutsche Sprache": „Ein grofser
Übelstand ist die Beibehaltung der von unseren romanischen, germanischen
und slavischen Nachbaren fast durchaus bereits abgeschafften verzerrten
und verschnörkelten Schrift, wie sie zur Zeit der Erfindung der Buchdrucker-
kunst gerade üblich war. Keineswegs ist die Schrift etwa eine deutsche,
etwas uns Eigentümliches, Nationales; diese Entstellung der lateinischen
Schrift war vor einigen Jahrhunderten bei allen Nationen üblich; aber, wie
denn überhaupt der Geschmack sich in vieler Beziehung wieder dem Ein-
fachen, Natürlichen zuwandte, man kehrte auch hier zu den edleren, reinen
Formen zurück; nur wir Deutschen halten zur Unbequemlichkeit für den
Ausländer und für uns sellist, die wir alle zwei Schriften lesen und schreiben
lernen müssen, an der verkehrten Sitte einer geschmacklosen Zopfperiode
fest."
Als Beleg für den Eindruck, welchen unsere Schrift auf Nichtdeutsche
macht, möge auch eine Stelle aus der in London erscheinenden Daily News
hier Platz finden. Dort heifst es: Frankreich, Italien und England bringen
allerdings so gute Bücher hervor wie Leipzig, Hannover, Berlin ; aber wir
können doch ohne die deutschen Bücher nicht wohl fertig werden. Die
deutsche Schrift jedoch giebt der ^' ersuchung, an der deutschen Wissen-
schaft vorbeizugehen, eine besondere Stärke. Die Druckbuchstaben sind
knorrig, verzwickt, spitzig, abstofsend. Jeder hat eine Familienähnlichkeit
mit irgend einem anderen und viele sind so vollgespickt mit kleinen Dornen,
d.ifs die dem Auge wirklich weh thun. Das kleine f z. B. ist so zackig wie
die Kriegskeule eines Südsee-Tnsulaners, das kleine f und f kosten dem Aus-
länder, der Deutsch lernt, manche mühselige Reise durchs Wörterbuch.
Das 33 und 3} führen zu verhängnisvollen Verwechselungen. Natürlich lernt
durch beständige Übung der Fremde seinen Weg ins Alphabet, aber auf
Kosten seiner Zeit, seiner Augen und auch wohl seiner guten Laune.
. Wiesbaden. Dr. W. Fricke.
Lettres de M. Guizot.
Vor kurzem erschienen in der bekannten Verlagsbuchhandlung von
Hachette & Cie. in Paris „Lettres de AL Guizot a sa famille et a ses amis
recueillies par Mme de Witt nee Guizot." — Die von einer Tochter oder
Cousine des 1875 .verstorbenen Autors herausgegebene Sammlung besteht
aus 153 Briefen znd bildet einen der bekannten stattlichen Gelbbände von
436 Seiten. Die Briefe sind chronologisch geordnet, beginnen vom 28. Ok-
tober 1810 — also im 25. Jahre Guizots — und reichen bis zum 22. Mai 1874.
Wenn auch das Werk in erster Linie in Frankreich, vor allem von den
Freunden des Schriftstellers und von den politischen Gesinnungsgenossen
des Staatsmannes mit Enthusiasmus gelesen werden wird, darf es doch in
Deutschland nicht unbekannt bleiben. Denn wenn die Briefe schon als
Vervollkommnung und Vervollständigung des biographischen Materials man-
chem willkommen sein dürften, wenn sie manche neue Linie zur Zeichnung
und Beurteilung des Verstorbenen bieten, so übt vor allem der geistvolle
Stil eine hohe Anziehungskraft aus. Neben der Kürze, Präcision und Klar-
heit, welche Guizot in seinen geschichtlichen, politischen und philosophischen
Werken anstrebt, wirkt hier die dem Briefstil eigene Innigkeit — ich möchte
sagen Innerlichkeit — wohlthuend auf den Leser. Der Autor ist hier nicht
blofs Verstandesmensch und nobeler Charakter, er erscheint als liebender
Gatte, sorgsamer Vater und teilnehmender Freund; er läfst uns hinter den
durch Politik und Ceremoniell gezogenen Vorhang in das innere Seelen-
leben blicken.
122 Miscellen.
In Bezug auf die bei der Korrespondenz in Betracht kommenden Per-
sonen lassen sich die 153 Briefe in vier Gruppen teilen: 1) Briefe an
Familien gl ie der (Frau, Kinder, Schwägerin u. s. w.) — etwa 40 — ;
2) Briefe an Schriftsteller des In- und Auslandes (Barante, Remusat,
Vitet, Mad. Au;zuste de Gasparin, MIstress Austin, Älad. Lenormant), ca. 50:
3) Briefe an französische und englische Staatsmänner (Duc de Broglie,
General Bugeaud, Lord Aberdcen, Mr. Piscatory), vielleicht 30; endlich
4) Briefe an Freunde und Gesinnungsgenossen.
Von den an die Familie n gl ie de r gerichteten Briefen tragen die an
Mme Guizot, nee Dillon, den Stempel innigster Liebe, herzlichster Zärt-
lichkeit. Auf seinen Keisen zu politischen Zwecken erzählt er seiner „chere
uiaman" die kleinsten Umstände auf das genaueste und spricht der „bien
aimeo" sein Bedauern über die Trennung aus. Mit eben solcher Zärtlich-
keit wendet er sich an die noch im zarten Alter stehenden Kinder. Er ver-
steht es so w^ohl, den kindlichen, unmittelbar herzlichen Ton zu trefien,
dafs man z. B. bei folgendem, an sein Töchterchen Henriette gerichteten
Briefe denken könnte, Guizot habe sich den bekannten Brief an seinen
Sohn „llänsichen" zum Muster genommen:
A mademoiselle Henriette Guizot.*
Londres, samedi 21 mars 1840.
Je re^ois a l'instant meme, ma chere Henriette, une lettre de Rosine,**
qui me fait grand plaisir par tout ce qu'elle me dit de votre santc et de
votre gaiete. Je n'eu doutais pas, mais je suis charme de Ie lire en detail,
ce qui ne vaut pourtant pas autant que de Ie voir de pres. Ceci reviendra.
Grandissez et engraissez d'ici lä. Et faites des progres en sagesse comme
en force. II me semble que la musique va assez bien. Pour Tecriture, je
juge par moi-meme, et Ie progres est sensible.
J'espere que vous me racontercz demain votre gaite chez Mme Lenor-
mant et toutes vos joies. Je vous ai bien regrettee l'autre jour au Musee
Britannique ; mais vous auriez ete fatiguee. Je l'etais moi-meme, C'est
trop de choses ensemble. Imagine-toi Ie Jardin des Plantes, Ie Musee du
Louvre et la Bibliotheque du roi reunis dans un meme edifice. Les livres,
les e.<tampes, les statues, les antiquites egyptiennes, les vases etrusques,
les animaux et les oiseaux empailles, les mineraux, l'herbier, tout est lä.
On rencontre sur l'escalier des rhinoceros, des hippopotames, des girafes,
des elans, places lä comme des sentinelles. Et puis, au haut de l'escalier
DU entre dans une salle remplie d'armes, de vetements, d'ornements de guerre
de sauvages des iles du Sud ; c'est effroyable. II y a des masques de guerre
tout rouges, grands comme trois ou quatre tetes pour donner ä ceux qui
les portent l'air de colosses, la bouche ouverte, avec deux rangees de
cinquante enormes dents chacune, des cheveux noirs tout berisses et des
yeux hagards. Ces masques, que les grands chefs seuls sont en etat de
posseder, sont faits avec les plumes des alles et de la queue de charmants
pctits oiseaux rouges; il faut tuer cinq ou six mille oiseaux pour avoir de
quoi faire un niasque. — Ce que j"ai trouve de plus beau au INIusee Bri-
tannique, ce sont les bas-reliefs du Parthenon d'Athenes, enleves du
Parthenon meme par lord Elgin et ranges i<i tout autour des murs d'une
meme salle. C'est magnifique et rien n'en peut donner lidec; pas meme les
petits plätres de la galerie du Val-Richer.
II n'y a au Musee Britannique que des animaux empailles. Les betes
Vivantes sont dans un etablissement particulier qui s'appelle Zoological Gar-
dens, et qui n'est soutenu que par des souscriptions volontaires. J'irai Ie
visiter un de ces jours.
* Lettre 61, V^S' 183 f. ** Mme de Chabaud-Latour.
Miscellen. 123
Tu vois que je commence h aller voir les choses. Ce dont je suis le
plus curieux, c'est l'abbaye de Westminster, admirable ci^Hse i>;othique (|ui
coutieut les tombeaux de tous les jrrands hommes de l'Angletorre ; mais que
le tcmps soit doux. Le froid des egllses m'est fatal.
Je suis charme, ma chere enfant, que tu apprennes et retiennes beau-
coup de beaux vurs. Dans le cours de ta vie, il te sera souvent agreable
de les retrouver dans ta memoire, et puls, c'est un vif plaisir de voir ses
propres sentiments, ses sentiments les plus chers, exprimes dans un beau
langage. 11 y a longtemps que j'admire et que j'aime les vers que tu
m'as eites.
Adieu, mon Henriette, j'ai pres de eliez moi une rue qui s'appelle Hen-
rietta-Street. Je ne passe jamais devant sans un sentiment de plaisir. Adieu,
je vous embrasse, bonne maman, Pauline, Guillaunie et toi. —
Wir haben diesen Brief vollständig gegeben, einmal um Guizot als
Familienvater vorzufiihren, dann aber, weil wir glauben, dafs Herausgeber
von Chrestomathien etc. diesen Brief gern in ihre Bücher übertragen
werden.
Guizots Korrespondenz mit den ihm befreundeten Schriftstellern
bezieht sich zum Teil auf die Tageslitteratur, auf die von Guizot in der
Eevue des deux mondes veröffentlichten Artikel, auf seine und seiner Freunde
Werke, sowie auf die wichtigeren Famifienangelegenheiten der letzteren.
Wir verweisen in dieser Beziehung auf Brief 19 und 21, wo Guizot seinen
Freund Kemusat über den Verlust seiner Gemahlin zu trösten sucht, welche
im Wochenbett gestorben war, und auf Brief 87 und 126 an Barante. —
Während der Schreiber im ersten dem Freund bei dem Tode seines zwanzig-
jährigen Sohnes teilnahmvolle Trostesworte spendet, drückt er im anderen
(vom Jahre 1860) seinen Schmerz über das Hinscheiden des Lord Aberdeen
aus. Höchst charakteristisch für die schriftstellerische Thätigkeit, für die
Art seiner Geistesarbeit ist ein Brief Guizots an Kemusat vom Jahre 1828.
Guizot wollte seine „Conseils de morale" veröffentlichen und wünschte ein
\ orwort von Remusat. Er schreibt: „Mon eher ami, rends-moi un service,
un grand service. Vous savez qu'en tete de ces trois grands volumes que
je vais publier, il doit y avoir une notice. J'ai voulu la faire; j'ai ecrit,
reecrit; j"ai essaye de toutes les manieres ; j'ai parle en mon nom au nom
d'un tiers ; j'ai tente toutes les formes. Je ne peux pas, je ne peux ab-
sülument pas. Je tombe sur-le-champ dans une intimite, une souff'rance,
qu'il est impossible de laisser voir. Si je me permettais de tout dire,
(i'ecrire je ne sais pas combien de centaines de pages, j'en viendrais peut-
etre a bout; peut etre me ferais-je comprendre. Mais il n'y a pas moyen.
Depuis six semaines, ce supplice-la s'est ajoute a mon supplice et je ne
suis pas plus avance. pp.
Während dieser Brief einen Einblick in die Gedankenwerkstatt des
Autors gewährt und als Beispiel hochherziger Offenheit dienen kann, finden
sich in anderen beachtungswerte Belege für die religiösen Ansichten Guizots,
Gedanken, aus denen man mit ziemlicher Sicherheit auf seine Stellung zur
Offenbarung, auf sein aus Philosophie, Ethik und Christentum konstruiertes
Glaubenssystem schliefsen kann. Einige Belege. Guizot schreibt an Re-
musat (13. Novbr. 1826): ... J'y travaille sans cesse ; cet ete encore pen-
dant six semaines j'ai laisse lä toutes mes affaires pour m'en occupcr; j'ai
employd ce temps-lä a rechercher exactement ce que veut dire le mot foi,
quel est cet etat de l'äme son origine, son veritable sens. Je ne suis
pas mecontent du resultat; des questions vagues sont devenues pre-
cises pour moi, des difficultes ont ete levees. Mais plus j 'avance, plus je
me confirme dans cette double certitude qu'il y a lä un monde reel, auquel
nous tenons par des rapports assures, et que ce monde est interdit ä la
connaissance humaine, que nous n'en pouvons jouir ici-bas, de cette possession
claire et satisfaisante qui s'attache ä la science. Nous pouvons, j'en suis
124 Misccllen.
convaincu, nous assurcr qu'il est, mettre la main sur le sceau qui le couvre,
janiais le ronipre ...
An den Abbe Gratry, welcher ein Werk über Religion und Philo-
sophie verölTentlicht hatte, schreibt Guizot am 5. Dezbr. 1863: „Vous
avez Joint l'exemple au precepte; ce que vous avez dit, vous l'avez fait;
vous avez ete croyant et philosophe; vous avez uni la raison k la foi.
. . . c'est un acte chrctien. Vous croyez Fhomnie intelligent et libre, comrae
Dieu Ta fait, et vous le traitez en consequence; vous respectez son intelli-
geuce et sa liberte. Et en raeme temps vous savez que ni l'intelli-
gence ni la volonte libre de Fhonime ne suffisent a le gouverner et a le
sauver ; et vous travaillez a le ramener dans la foi et sous la loi que Dieu
lui-meme a donnees aux hommes, tout en livrant le monde ä leurs disputes.
C'est-lä le christianisme, monsieur, c'est la philosophie et la pratique chre-
tiennes." Und an Wad. Lenormant (3. Novbr. 1853): „En fait de sou-
mission a Dieu, j'ose croire qu'il n'y en a point de plus entiere que la
mienne. Elle a ete mise h Tepreuve. J'ai ete bien frappe, au fond de
l'esprit comme du coeur, dans la vie privee et dans la vie publique. Jamais
un murmure ne s'est eleve, je ne dis pas sur mes levres, mais dans mon
äme. J'ai tout accepte, non seulement sans rebellion Interieure, mais avec
confiance. Les voies de Dieu ne sont pas nos voies dans notre destinee
personnelle, comme dans celle du monde; je ne sais ni le motif ni le but
des voies de Dieu, mais je crois en Dieu; et la foi, c'est la confiance dans
la soumission."
Am interessantesten sind vielleicht die Briefe, in denen sich Guizot
direkt mit Politik beschäftigt. Verfolgt man nur sie, so kann man das
Werden des Fachmannes, das Sichbilden des Talents beobachten. Gleich-
viel, ob wir ihm als Kandidaten oder berufenen Volksvertreter, als Minister
oder Kritiker, als unbeteiligten Zuschauer oder geschäftigen Agitator be-
gegnen: überall finden wir in Guizot den geborenen Staatsmann, den fer-
tigen Politiker, der ruhig und sicher, beobachtend und berechnend sein
Ziel fest im Aujie behält. Schmiegsam als Minister, selbstbewufst als Ab-
geordneter, weitblickend als Zuschauer!
Gestattete es der Raum und die Tendenz dieser Anzeige, so führten
wir gern einige Briefe an aus der Sturmperiode von 1847 — 1852. Langsam
sieht Guizot das Wetter heranziehen, mit ziemhcher Sicherheit stellt er
seine Prognostika. Ohne Scheu und Rückhalt spricht er sich gegen seine
Freunde und Gesinnungsgenossen über den „neuen Kaiser" aus, mit dem er
sich übrigens später auf guten Fufs zu stellen wufste. In der Entschei-
dungszeit (1870 — 71; unterzieht er auch die deutschen Verhältnisse — auf
die er schon in seinem Briefe aus Ems an Mistress Austin vom 5. August
1850 zu sprechen kommt — einer eingehenden Beurteilung. Im November
1870 hoß't er noch auf eine gute Wendung für sein Vaterland.
Lausanne. Otto Wendt.
Bibliographischer Anzeiger.
Allgemeines.
G. Körting, Encyklopädie und Methodologie der romanischen Philologie.
Teil II: Die Encyklopädie der romanischen Gesamtphilologie. (Heilbronn,
Henninger.) 7 Mk.
O. Gerber, Die Sprache und das Erkennen. (Berlin, Gärtner.) 8 Mk.
F. Heger, Sprache. Gebärdensprache. (Progr. der Realschule zu Wien.)
Arno Grimm, Über die baskische Sprache und Sprachforschung. (Breslau,
Hirt.) 2 Mk.
A. Goerth, Einführung in das Studium der Dichtkunst. II. Bd.: Das Stu-
dium der dramatischen Kunst. (Leipzig, Klinkhardt.) 6 Mk.
A. Gerber, Die Sprache als Kunst. 2. Aufl. (Berlin, Gärtner.) 1. Lfrg.
2 Mk.
Grammatik.
H. Rötteken, Der zusammengesetzte Satz bei Berthold von Regensburg.
(Strafsburg, Trübner.) 2 Mk. 50 Pf.
H. Harth, Die Qualität der reinen Vokale im Neufranzösischen. (Oppeln,
Franck.) .. 1 Mk. öO Pf.
E. Engel, Über den Gebrauch der Präpositionen bei Joinville. (Progr.
der höheren Bürgerschule in Heidelberg.)
G. H. Webster, A grammar of new English, beginning with the age of
Elizabeth. Pittsburgh.
E. Bourciez, Origines et formations de l'ancien fran9ais. Premiere lecon
du cours complementaire de langue francaise ä la Faculte des lettres de
Bordeaux. (Bordeaux, Gounouilhou.) 1 fr.
L. Wespy, Die historische Entwickelung der Inversion des Subjekts im
Französischen. (Oppeln, Franck.) 2 Mk.
Th. Meyer, Die proven9alische Gestaltung der mit dem Perfektstamm ge-
bildeten Tempora des Lateinischen. (Marburg, Elwert.) 1 Mk. 80 Pf.
M. Hüllen, Über den Vokalismus des sicilianischen Dialekts. (Diss. Bonn.^
M. Zschalig, Die Verslehren von Fabri, Du Pont und Sibilet. (Leipzig,
Frohberg.) 1 Mk. 50 Pf.
M. Mussafia, Della prosodie francese. (Progr. d. Realgymn. in Triest.)
D. Zatelli, De l'emploi de la negation en fran9ais et en itahen. (Progr.
des Gymn. in Rovereto.) 1 Mk.
Lexikographie.
D. Sanders, Verdeutschungswörterbuch. (Leipzig, Wigand.) 5 Mk.
F. Khuli, Beiträge zum mittelhochdeutschen Wörterbuche. (Graz, Selbst-
verlag des Verf.)
1^6 Bibliographischer Anzeiger.
P. Andreci", Dictionnaire tecbnologique fran9ais-russe-allea)aad-anglals,
contenant les termes techniqiies employes dans Industrie, les sciences
appliquees, les arts et metiers. 1. Bd. (12 Lfrgn.) (Petersburg, Zinser-
ling.) . ^ , 25 Mk.
E. Deseille, Glossaire du patois des matelots Boulonnais. (Paris, Picard.)
J. Moers, Die Form- und Begrillsveränderungen der franz. Fremdwörter
im Deutschen. (Progr. Bonn.) 1 Mk.
Delinotte, Dictionnaire des synonymes fran9ais. (Paris,NIIfsen.) 7 fr. 50 c.
Litteratur.
Wolfram von Eschenbach, Parzlval, in neuer Übersetzung für alle Freunde
deutscher Dichtung. (Berlin, Friedberg & Mode.) 3 Mk.
Hartmanns armer Heinrich. Mit Anmerkungen von W. Wackernagel hrsgb.
von W. Toischer. (Basel, Schwabe.)
R. Froning, Zur Geschichte und Beurteilung der geistlichen Spiele des
Mittflalters. (Frankfurt a. M., Jügel.) 75 Pf
R. Schneider, Die namenlosen Lieder aus Minnesangs Frühling, erläutert
und ins Neuhochdeutsche übertragen. (Berlin, Friedberg & Mode.) 60 Pf.
H. Kau ff mann, Über Hartmanns Lyrik. (Leipzig, Fock.) 1 Mk. 50 Pf.
H. Hai 1 wich, (i estalten aus Wallensteins Lager. (Leipzig, Duncker.) 3 Mk.
P. Th. Falck, Friederike Brion von Sesenheim. Eine chronologisch be-
arbeitete Biographie nach neuem Material aus dem Lenz-Nachlasse. (Berlin,
Kamiah.) ^ 4 Mk.
M. Rödiger, Kritische Bemerkungen zu den Nibelungen. (Berlin, Weid-
mann.) 2 Mk. 40 Pf
M. Schwarze, Die Frau in dem Nibelungenliede und der Kudrun. (Diss.
Halle.;
G. Krause, Friedrich der Grofse und die deutsche Poesie. (Halle, Waisen-
haus.) 2 Mk.
W. Eigenbrodt, Hagedorn und die Erzählung in Reimversen. (Berlin,
\Veidmann.) 2 Mk. 40 Pf.
F. Überweg, Schiller als Historiker und Philosoph. Hrsgb. v. M. Brasch.
(Leipzig, Reifsner.) 8 Mk.
Kritische und nicbtkritische Versuche: Egmont, Die göttliche Komödie,
Faust. (Danzig, Axt.) 1 Mk. 20 Pf.
O. Lücke, Goethe und Homer. (Progr. d. Gymn. zu llfeld.)
E. Mauer hof, Zur Idee des Faust. (Leipzig, Wigand.) 2 Mk.
J. Schmidt, Schiller und Rousseau. Sammlung gemeinverständlicher Vor-
träge, (Berlin, Habel.)
K. Rieger, Zu Goethes Gedichten. (Progr. des Joseph-Gymn. in Wien.)
H. Welli, Geschichte des Sonetts in der deutschen Dichtung. (Leipzig,
Veit.) 5 Mk. 40 Pf.
A. Schüll, Gesammelte Aufsätze zur klassischen Litteratur alter und
neuerer Zeit. (Berlin, Hertz.) , 7 Mk.
J. Vising, Sur la versification anglo-normande. (Upsala, Almqvist & Wiksell.)
1 Mk. 75 Pf.
L. Römer, Die volkstümlichen Dichtungsarten der altproven^alischen Lyrik.
(Marburg, Elwert.) 1 Mk. 50 Pf.
L. Müller, Das Rondel in den franz. Mirakelspielen und Mysterien des
15. und IG. Jahrhunderts. (Marburg, Elwert.) 1 Mk. 60 Pf.
A. Keller, Die Sprache des Ven. Roland. (Diss. Strafsburg)
G. Raynaud, Bibliographie des chansonniers du XHIe et XI\'e siecles.
Comprenant la description de tous les mss., la table des chansons classees
par ordre alphabetique de rimes et de la liste des trouveres. 2 vols.
(Paris, Vieweg.) 15 fr.
O. Born er, Raoul de Houdenc, Eine stilistische Untersuchung über seine
I
ßibllograplilscher Anzcigef. 12?
Werke und seine Identität mit dem Verf. des Messire Gauvain. (Leipzig,
Dissert.)
Di Saint Pierre, B. ßaoul de Cambrai. Chanson de geste. In den
Akten der Turiner Akad. d. Wissenschaft.
L. Arreat, La morale dans le roman. L'epopee et le roman. (Paris,
Alcan.) . 2 fr. 50 c.
S. Berger, La Bible franc^aise au moyen-äge. Etüde sur les plus anciennes
versions de la Bible ecrites en prose de langue d'oil. (Paris, Champion.)
J. Brauns, Über die Quelle und Entwickelung des altfranzösischen Cangun
de Saint Alexis. (Kiel, Lipsius & Tischer.) 1 Mk. 80 Pf.
Le roman de Renart, public par E. Martin. 2 vol. 2 partie du texte:
Les branches additionnelles. (Strafsburg, Trübner.) 8 Mk.
H. Herzog, Die beiden Sagenkreise von Flore und Blancheflor. Eine
litterarische Studie. (Leipzig, Fock.) 1 Mk. 50 Pf.
Rustebuefs Gedichte. Nach den Handschriften der Pariser National-Bibl.
hrsgb. von A. Krefsner. (Wolfenbüttel, Zwifsler.) 10 Mk.
E. Vaudin, Gerard de Roussillon. Histoire et legendes. (Paris, Champion.)
3 fr. 50 c.
E. Penning, Ducis als Nachahmer Shakespeares. (Progr. der Realschule
zu Bremen.)
A. Rebhann, Einflufs der französ. Litteratur auf die grofse Revolution
Frankreichs im 18. Jahrh. (Progr. des Ober-Gymn. zu Hrüx.) 1 Mk.
A. Ricard, Monographie sur le Gil Blas de Le Sage. (Progr. der Han-
delsschule zu Prag.)
J. Hagmann, Über Voltaires „Essai sur les moeurs". (Leipzig, Fock.)
1 Mk. 50 Pf.
E. Le Herich er, Litterature populaire de Normandie. (Paris, Maison-
neuve.) , 5 fr.
V. Fournel, De Malherbe a Bossuet. Etudes litteraires et morales sur
le XVIIe siecle. (Paris, Didot.) 3 fr.
H. Merbach, Das Meer in der Dichtung der Angelsachsen. (Breslau,
Köhler.) 1 Mk.
R. Fricke, Die Robin-Hood-Balladen. (Strafsburg, Diss.)
B. ten Brink, Chaucers Sprache u. Verskunst. (Leipzig, Weigel.) 5 Mk.
E. Koppel, Lydgate's Storv of Thebes. Eine Quellenuntersuchung.
(München, Oldenbourg.) ' 1 Mk. 50 Pf.
S. Stapf er, Shakespeare et l'antiquite. (Paris, Fischbacher.)
A. S. G. Canning, Thoughts on Shakespeare's historical plays. (London,
Allen.) 12 sh.
Feis, Shakespeare and Montaigne. (London, Paul & Trench.) 8 sh.
E. Hermann, Ergänzungen und Berichtigungen der hergebrachten Shake-
speare-Biographie. (Erlangen, Deichert.) 5 Mk.
L. Arrigoni, Souvenir de Petrarque. (Milan.)
C. M. Sauer, Geschichte der italienischen Litteratur, von ihren Anfängen
bis ayif die neueste Zeit. (Leipzig, Friedrich.) 10 Mk. 50 Pf.
L. de Camoens' sämtliche Gedichte, deutsch von Wilh. Storck. G. Bd.
(Paderborn, Schöningh.) 5 Mk. kompl. 25 Mk.
A. Reinholdt, Geschichte der russischen Litteratur von ihren Anfängen
bis auf die neueste Zeit. In 10 Lfrgn. I. Lfrg. (Leipzig. Friedrich.) 1 Mk.
H. V. Faucker, Das Lied von der Heerfahrt Igors Fürsten von Seversk.
Aus dem Altrussischen übersetzt. (Berlin, Deubner.) 1 Mk. 20 Pf.
^ Hilfsbücher.
J. Wagner, Musterbeispiele zu deutschen Aufsätzen für Volkspräparanden
und Fortbildungsschulen. 2 Bändchen. (Langensalza, Schulbuchhandlung.)
ä 90 Pf.^
128 Bibliograptilsclier Anzeiger.
A. Wentzcl, Themen aus den verschiedenen Gebieten der Pädagogik,
nebst Dispositionen und Winken zu ihrer weiteren Ausführung, für Lehrer.
(Langensalza, Scbulbuchhdlg.) 80 Pf.
F. W. Bürgel unil F. Wimmers, Die deutsche Lektüre in Lehrerbildungs-
anstalten. Litteraturkunde und Methodik. 3. Jahr: Die Arten der dra-
matischen Poesie. Das Epos. Abschlufs des Lehrstoffs. Nebst einer
Karte zu Schillers Teil. (Aachen, Barth ) 1 Mk. 30 Pf.
tl. E. Haselmayer, Neue deutsche Aufsätze und Aufsatzpläne für höhere
Kurse der Mittelschulen. (\\'ürzburg, Staudinger.) 1 Mk. 20 Ff.
II. Spelthahn, Die französische Aussprache. (München, Seitz.) 50 Pf,
K. Stadler, Französische Grammatik für höhere Mädchenschulen. L
(Kassel, Kay.) 2 Mk. 50 Ff.
K. Stadler, Methodik des grammatischen Unterrichts in Mädchenschulen.
(Kassel, Kay.)
A. E. Beauvais, Grofse deutsch-französische Fhraseologie. (20. bis 30.)
Schlufs-Lfrg. (Wolfenbüttel, Zwifsler.) ä 50 Pf.
Corneilles Polveucte, erklärt für obere Klassen von K. Brunn emann.
(Wolfenbüttel, Zwifsler.) 90 Pf.
Victor Hugo, p]ine chronologisch geordnete Auswahl seiner Gedichte, mit
Einleitung und Anmerkungen zum Gebrauch in oberen Klassen. In drei
Heften hrsgb. v. A. M. Hartmann. (Leipzig, Teubner.) älMk. 50Pf
Thiers, Expedition de Bonaparte en Egypte. Für den Schulgebrauch erklärt
von K. Foth. (Leipzig, Renger.) 1 Mk. 40 Ff.
Mi' haud, Influences et resultats des croisades. Für den Schulgebrauch er-
klärt von F. Hummel. (Leipzig, Renger.) 1 Mk. 15 Pf.
Voltaire, Mahomet, erklärt v. K. Sachs. (Berhn, Weidmann.) 1 Mk. GO Ff.
L. Herrig, The British classical authors. Select specimens of the national
literature of England and America with biographical sketches and a his-
torical outline of English literature. 56*1^ ed. (Braunschweig, Wester-
mann.) ^ 4 Mk. 50 Pf.
Mcrope. Tragedia di Soipione Maffei. Mit Anmerkungen und Wörterver-
zeichnis von K. Goldbeck. (Berlin, Simion.) 50 Pf,
Maly-Motta, Italienische Grammatik. II. Kursus: Syntax, Stilistik und
Poesie in ital. Sprache. (München, Lindauer.) 2 Mk. 80 Pf
S. V. Man stein, Handbuch der russischen Sprache. Grammatische Über-
sicht. Text und phonetische Transskription, Glossar. (Leipzig, Brock-
haus.) 4 Mk. 50 Pf.
Der Lucidaire Gilleberts. *
r Von
Dr. P. Eberhardt.
Der Liicidaire ist in fünf Handschriften vorhanden:
Handschrift A in Paris, Bibl. de l'Arsenal, BLF 283 (neu
3516). Nach Le Roux de Lincys Beschreibung in der Einleitung
seines Roman de sept sages S. XL wurde dieses Manuskript
im Jahre 1268 vollendet (vergl. ferner Z. F. R. P. H, 438 und
Herrigs Archiv Bd. LXVIH, S. 319). Unser Text ist in dem
auf Bl. 1 befindlichen Inhaltsverzeichnis unter dem Titel „De
Lucidaire" und als auf Bl. 148 beo^innend ano;eführt. Jedes
Blatt hat auf jeder Seite vier Spalteu zu je fünfzig Zeilen. Das
Gedicht enthält hier 4142 Verse. Glücklicherweise war der
Lucidaire nicht mit Miniaturen versehen, durch deren Aus-
schnitt er wie andere Stücke dieser Handschrift arg verstümmelt
worden wäre.
Handschrift B in Paris, Bibl. nat., franc?. 1807, Bl. ITS^'
bis 207v.
Handschrift C in Paris, Bibl. nat., frang. 25 427 ist unvoll-
ständig.
Handschrift D in Florenz, Lauren ziana, Coventi soppressi 99,
ein Bruchstück von 1600 Versen, wovon G. Paris und Alphonse
* Meine am 26. Juni 1884 bei der philosophischen Fakultät in Halle
eingereichte Arbeit sollte bereits gedruckt werden, als mir eine Leipziger
Dissertation von Hugo Schladebach: „Das Elucidarium des Honorius Augusto-
dunensis und der französische metrische Lucidaire des 13. Jahrhunderts von
Gillebert de Cambray''- zu Gesicht kam, auf die ich nachträglich an ein-
zelnen Stellen Rücks'icht nehme. Die Scbladebachschen Bezeichnungen der
Handschriften und Verse habe ich bei jeder Bezugnahme "zum besseren
Verständnis in Klammer ( ) hinter den meinigen angegeben.
ArcUiv f. n. Sprachen. LXXIII. 9
i;>0 t)er Luc'idaire Gilleberts.
Bos in der Einleitung zu der Vie de St. Gilles par Guillaume
de Berneville, Paris 1881, p. Xllf, die 26 Eingangs- und
4 Schlufsverse abs^edruckt hat.
Die Plandschriften ß, C, D, sowie eine vierte zu Ashburn-
haniplacc, Barrois 171, führt P. Meyer, der sie in das 13. Jahr-
hundert versetzt, in der Romania VIII, 327, Anm. 1 an.
Handschrift E in Cambridge, Corpus Christi College Nr. 405
behandelt auf Bl. 425 unter der Überschrift „Hie incipit de
Antichristo" das P^rschelnen des Antichrist?, welcher Passus
dem Lucidaire v. 1108 ff. entnommen ist. Die Kenntnis dieser
Handschrift, sowie die Übermittelung der vier ersten Verse
verdanke ich der Freundlichkeit des Herrn Dr. Stürzinger. Sie
lauten:
jNleistre, beneit seies tu,
ben me as de tut rendu.
Mes de Antechrist demandasse
mout volenters si je osasse.
Unser Lucidaire ist in Achtsilblern gedichtet und beruht
auf dem dritten Buche des Elucidarlus des Honorlus von Augusto-
dunum (Auegabe Sancti Anselmi Cantuarlensis Opera ed. Ger-
beron). Er ist wie der lateinische Text in der beliebten Form
von Frage und Antwort verfafst. Mehrere französische Über-
setzungen in Prosa aus dem 13. Jahrhundert sprechen für die
damalige Beliebtheit dieses Stoffes. Über Nachbildungen in der
französischen Litteratur vergleiche man Z.F.R.P. I, 91, wo Suchier
nachweist, dafs der Sermo de sapientia in W. Foersters Dialoges
Gregolre lo Pape S. 283 — 298 auf die ersten siebzehn Kapitel
des ersten Buches des Elucidarlus zurückgeht, ferner P. Meyer,
Romania I, 421 und Ed. Stengel, Mitteilungen aus Handschriften
der Turiner Bibliothek S. 40.
In Versen haben wir noch eine Bearbeitung des Eluci-
darlus in dem ersten Buche der Lumiere as Lais von Peter
von Peckham, von deren Anfang und Schlufs P. Meyer in der
Romania VIII, 328 einen Abdruck giebt. Peter benutzte den
Elucidarlus nur für das erste Buch seines Werkes, und nahm,
da jener seiner Ansicht nach in verschiedenen Punkten Irrtümer
enthielt, seine Zuflucht zu anderen (Quellen. Im Prolog seiner
Lumiere sagt er v. 583 — 588:
Der Lucidaire Gilleberts. 131
„Le primer liver en acun endreit
Est de Lucidarie estreit,
Mes pus jo me percevoie
Ke mespriz en poinz, ne vuloie
Pins de cel liver treiter,
Enz comensai en autres estudier."
Diese Aussao-e bestätio-t sich vollkommen. Denn obwohl
das sechste Buch der Lumiere as Lais (OKI Royal 15 D II,
Bl. 88») überschrieben ist „Ja comence le sime livre he est del
jour de jiigenient e des peines de enferii e des joies du ciel'^ also
ähnlich wie unser Text, und die Überschriften vieler Kapitel auf
denselben Inhalt wie im Lucidaire schliefsen lassen, wie Bl. 88^'
,^E)i quel vertu leverunt de mit ou de jour,''' Bl. 88^' ,,Le quel vendra
nostre seigmir, Si tuz serrunt de wie estature, quant leverunt de
mort en rz^," etc., so zeigt doch eine nähere Einsicht in den
Inhalt dieses Buches, dafs der Schüler wohl im allgemeinen
dieselben Fragen stellt wie im Elucidarius, wenn auch in ganz
anderer Reihenfolge, der Lehrer aber den Stoff zur Beantwortung:
O ' «TD
derselben anderen Quellen entlehnt hat. Einmal beruft er sich
auf den heiligen Ambrosius, sehr oft auf den heiliiJi:en Au<2;ustin
und Greoforius. Den Dialos2:en des letzteren hat er den ganzen
Passus vom Fegefeuer entnommen. Denn in dem Kapitel „Ou
purgatoire put estre" (Bl. Ob) sagt Peter:
„Dunt une partie vus dirai
de ees countes, si cum jeo sai,
que sunt verreis e esprovez,
cum seint Gregoire l'ad recitez
en un livere qne est nome
jDyaloge' saunz fausete."
Bei der Herstellung des Textes standen mir nur die Hand-
schriften A,B, C vollständig zu Gebote. Ich liefs mich bei der
Herstellung eines kritischen Textes, die ich zu meiner Orientie-
rung vorgenommen habe, von dem Grundsatz leiten, alles, was
in einer- Handschrift überliefert ist, in denselben aufzunehmen.
Jedes Plus der einen Handschrift im Verhältnis zu den übrigen
ist in eckige Klammer [ ] gesetzt und, wenn aus B, mit [''],
und wenn aus C entnommen, mit [^J bezeichnet.
Daher halte ich es auch für geraten, eine Tabelle aller
Lücken der drei Handschriften aufzustellen, die zeigt, welche
9*
132
Der Lucidaire Gilleborts,
Stellen ß oder C ausschliefslich angehören, ferner eine Über-
sicht ofewährt, wie die Handschriften sich o;eo;enseitio; ergänzen,
und endlich auch ^Yichtige Anhaltspunkte für die Klassifikation
der Handschriften giebt.
In den Varianten ist die richtige Lesart immer voraus-
geschickt und mit L bezeichnet, wenn Übereinstimmung mit
dem lateinischen Texte stattfand.
In der Tabelle wird das Vorhandensein einer Stelle in
einer der drei Handschriften durch das Plus-, das Fehlen durch
das Minuszeichen aus2:edrückt. Mit ü sind alle Überi^änore
bezeichnet und mit L alle Stellen, die nur in R, C, nicht aber
in A vorhanden und auf den lateinischen Text gestützt, also
ursprünglich sind.
A
B
C
A
^
C
49—54
+
! +
660 — 1
+
79 80
+
+
674
+
+
243—5
675
—
+
246—55
Ü
—
676
+
270—1
L
+
677
—
280—1
j
735
+
—
314—5
U
-{■
746-9
+
—
336-7
u
—
752—3
342 — 3
—
1
766-7
—
348 — 9
ü
--
768—9
U
--
—
358—9
-}-
+
—
770—1
+
362—3
772-3
-|-
365
f~~
776 — 7
—
467
800—1
u
410—3
L
+
807
-|-
—
414 5
U
+
--
824—5
-(-
•- ^
420 1
L
+
855
423
860—1
u
—
428—9
U
870—1
-|-
445
+
+
896-911
—
+
446 7
+
914 — 5
u
448
--
916 7
—
508—9
920—1
'
+
525—6
+
922-3
613
+
932—3
+
622—3
—
' —
938—9
-1-
+
625
960—1
—
+
630—1
U
—
964-5
+
636-7
' 968—9
L
+
+
612—3
u
978—9
U
— —
646—9
u
—
1
1 986—9
— —
658—9
+
+
993
1
--
—
4-
Der Lucidaire Gilleberts.
133
A
13
1
c
A
B
c
998 9
+
1758—9
—
1002-3
1760-1
1017
1762-7
U
1022 5
u
—
1769 70
—
1030—1
—
1776
1100—1
-h
1822-3
1106-7
u
—
1828—31
U
—
—
1125
1834—5
1127
—
-t-
1862 3
U
1128-9
—
1864 5
—
1136-7
—
1868 — 9
1154—5
—
4-
+
1874 — 7
—
1156-7
1890 1
LI
—
1172
—
1894-5
U
—
1173
—
1896 7
1175
—
1898 9
—
1180-90
1905-6
—
1
1192—3
1908 13
U
1198-1201
1915
4-
—
-(-
1260—1
+
1935
1262—7
1937
-j-
—
1274-5
+
1916 — 9
1296-7
—
^ __
1953
-(-
1300—1
1968 — 9
—
1337
—
—
—
1970—1
u
—
1339
i
2014—5
+
1356-7
2032 — 3
u
1380 — 1
—
2040-1
u
1390-1
2067
—
-4-
--
1436—9
2068
1470—1
—
2070 3
1517—8
—
2078—9
L
—
-\-
1541 — 7
2082 3
L
1548 — 9
2084-5
U
4-
1552—3
+
2096-7
1576 81
u
—
2108-9
U
—
1563a— b
2114—5
+
--
1576—81
—
2158-61
L
1594—1623
L
+ ,
2162-3
1624—5
2170 1
U
1626 — 31
L
—
—
2186-7
-h
1632—3
1
__ 1
1
—
2198—9
1634—61
L
i
2204 — 5
ü
—
1660—7
-[-
2208-9
1679
2223
+
1682
—
2225
—
-f
1688—9
U
'
2230 — 1
-h
1695
-■-
—
2231—7
u
+
—
1698 9
+
2245
+
1703
--
2248
1710—1
+
2318-9
1726—7
u
2328
1730—1
u
+
<
2331
—
134
Der Lucitlaire Gilleberts.
A
B
C
A
ß
C
2346—51
1
+
3301 2
u
+
2354-5
L
—
3381—4
ü
—
2358-61
—
3389 — 90
+
2362 5
U
+
■ —
3403 10
u
-|-
2368-9
U
+
—
3504
2386-7
+
--
3533—4
L
2394—5
(
—
+
3573—4
-
+
2424-5
L
—
3577—8
"
2426 — 7
+
3595—8
-j-
2430—1
—
3638—9
—
2432—43
L
—
3640—1
—
2450—1
U
3642-3
H~
2458—61
U
3644—51
U
—
2480—1
L
3655—6
--
2498-9
3688-9
—
+
2537—8
+
—
3694-5
U
2557—8
—
'
3698 — 703
+
2582
3705
-}-
2625—6
-\~
]
3718—23
2643-4
1
3730-1
--
2653
3738-45
u
2657 — 60
3751
2681 2
—
+
3753
2685—7
4-
—
3758 — 9
u
2705 — 6
3766—9
L
2717—8
—
3788 91
2733—4
-j-
3796—7
2801-4
—
3812-3
U
2833 — 6
3820—1
U
—
—
2863—4
3832—3
U
-1-
2879—80
3851
+
2907 — 8
—
3852 — 5
u
2925-8
U
+
—
3864 88
—
2935—6
U
+
—
3892—3
u
—
2945—6
U
3900—1
u
4-
—
2957
—
3916 — 7
+
2967 8
3924—5
+
2995 — 6
-|-
3930-1
3049 54
U
—
3956—7
+
3063 4
U
—
3962 3
L
+
3071—4
u
3966—7
L
--
3079
3970—3
—
3080-5
+
—
3980— 1
ü
3099 — 100
3990-1
+
3153 4
I
+
3996—7
—
+
3157 — 60
i
1
4048—9
—
4-
3169 72
u
+
4054—70
+
—
3225—6
4071 — 6
4-
3233—6
u
-4-
—
—
4077 — 99
+
—
3247 — 8
4100—3
• —
3249-50
-f
—
4104 9
--
+
3267—8
u
+
—
4110—3
U
3297—8
u
+
—
4118-9
-j- .
—
Der Lucidaire Gilleberts.
135
A
B
C
A
B
C
4120-5
u
4186-95
_ _
4130-1
—
4206—13
4134 — 5
-4-
4216—23
—
4142—5
4224—5
u
+
—
4152 -y
4236 - 9
Explicit
4160-2
424G — 7
+
4163
—
4276 — 7
4165
__
—
4302—5
4170-3
+
4308-9
-f
4176 9
4328—9
4184
4352 — 9
—
4185
i
Klassifikation der Handschriften.
Da B und C neben gemeinsamen Lücken auf den latei-
nisclien Text zurückgehende Partien gemeinschaftlicli aufweisen,
die A nicht kennt, so können sie nicht aus A geflossen sein."^
Wohl aber könnte man bei dem auffälliojen Zusammen o-chen
von B, C das unvollständige C für einen Auszug aus dem um-
fangreicheren B halten. Doch dagegen sprechen folgende, wenn
auch zum Teil entbehrliche, aber sich nicht in B findende
Stellen: v. 342-3, 660—1, 752—3, 1030—1, 1563a— b, 2198-9,
2907—8, 3956—7, 3996—7. Doch auf L ist folgende gestützt:
Wie die klare und frische Quelle den ermüdeten Land-
mann erquickt, „ita," fährt Honorius Kap. XX, A fort, „delecta-
bilis fiivus de ore tuo distillans meam refocillat animam," und
der französische Dichter v. 3687 — 9:
„si as tu m'ame saolee
et replenie et abevree
de bon miel a tote la ree
dont ta beuche est asavouree,"
wovon V. 3688 — 9 nur C angehören, vergl. Schi. S. 35. Daraus
folgt, dafs C wenigstens nicht ganz aus B geflossen sein kann.
Doch eine genauere Vergleichung von A, B, C und D,
soweit letzteres von G. Paris abgedruckt ist, unter sich und
mit dem lateinischen Texte führt zu dem überraschenden Resultat,
* B und C stimmen zu L, währemi A den Text entstellt liat: v. 4G0 — 5,
666, 715, 780, 781, 812, 863, 870, 918, 1060, 2000, 2124, 2264, 2321, 2482,
2-186, 2981, 3428, 3587, 3902.
136 Der Lucidaire Gillcbcrts.
dafs zunächst A, C gegen B eine Gruppe bilden. Denn es
findet eich in A, C zunächst ein gemeinschafthchcr Fehler, der
sich durch den Sinn als solcher beweisen läfst und durch B
korrigiert Nvird. Es ist fol^fender:
Als V. 3503 die Vero-nüo^en des Salomon denen der Guten
gegenübergestellt werden, lesen A,C: et des delices Salemon,
ß aber richtig: et les delices Salemon werden gegen die der
Seliiren nur Elend sein.
Bestätigt wird unsere Vermutung, A,C eine Gruppe gegen
B, durch folgende Stellen, wo B und L den Handschriften A, C
als Korrektiv dienen:
1) V. 438: Genau wie L verlegt B die obere Hölle ou
plus bas leu, aber A,C el plus haut lieu que la terre a. Im
Elucidarius heifst es Kap. IV, C : Duo sunt inferni, superior,
et inferior. Superior iußma pars hujus mundi, quae plena est
poenis.
2) V. 3453: Die Schnelligkeit der Gerechten schildernd,
sagt der Dichter, dafs sie im Augenblick auf und nieder steigen.
Dasselbe thun die Engel. Dem letzten Satze entspricht in
B et li angle dii'u aiiisiiit fönt,
A et 11 angele derlsey sont,
C et li ande devise lont.
Der Elucidarius liest Kap. XVIII, D: Hoc etenira angeli fa-
cere possunt.
Das Resultat unserer bisherin^en Untersuchunii: ist nun kurz
folgendes: A, C gehören wegen gemeinschaftlicher Fehler zu-
sammen, doch ist C nicht aus A geflossen. Wir müssen daher
annehmen, dafs A, C auf eine gemeinsame Quelle x zurück-
gehen. Doch dafs C nicht nur aus x geflossen ist und noch
nähere Beziehuniien zwischen B und C bestehen, beweisen fol-
gende auf L zurückgehende, sich nur in A findende, also B, C
gemeinschaftlich fehlende Stellen:
a) L Kap. VII, C: Illorum etiam orare, est cruciatus cor-
poris vel bene gesta pro Christo, deo repraesentare.
V. 920 — 3 : Et ses encor qu'est lor orer
le bienfait a deu demostrer
de lor cors le cruciement
k'il sofrirent et le torment.
Der Lucidaire Gillcberts. 137
Strcnji: frenomiiicn "-ehört dieser Fall niclit hierher, weil C für
V. 'J20— 1 liest:
Ses encore quel sont leiir veu
lor bien qu'il deprii-nt a den,
sei aber doch erwähnt wegen der in B, C fehlenden Verse 922 — 3.
b) L Kap. VIII, A : Quae autem in poenis sunt, non appa-
rent, nisi ab angelis permittantur .... etc.
V. 986 — 9: Mais celes qui en travail sont,
ja nule fois ne s'aparont,
se li annale ne lor otroient
qiii par condiiit les i envoicnt.
c) L Kap. X, E: Nequaquam, sed diabolus ejus maleficiis
corpus alicujus (V* alicujus damnati) intrabit, et illud apportabit,
et in illo loquetur.
V. 1262 — 6: Et la ou trovera les mors
fera diable entrer el cors
par art et par encantement,
dont saudront sus isnelement,
parier les fera a la gent.
d) L Kap. XX, B: Quod enim quisque in se non habuerit,
in altero habebit.
V. 3930 — 1: Ce que li uns en soi n'avra,
en son proisme le portera.
e) L Kap. XXI, C; Sicut isti immensa voluptate delicia-
buntur, ita illi immensa miseria amaricabuntur.
V. 4152 — 5: Si con cels se deliteront
es grans delices qu'il aront,
si seront cels en amertume
et en misere par costumo.
f) L Kap. XXI, C: Sicut isti egregia sanitate vigebunt,
ita illi infinita infirmitate deficient.
V. 4156 — 9: Si con ces grant sante aront
ki puis enterte ne criendront^
isi seront eil soffissant
de male enferte et de grant.
* V = Variante.
138 Der Lucidairc Gillcberts.
Der letzte Fall gehört eigentlich auch nicht hierher, da C für
V. 4158-9 liest:
cnsi erent eil dcfaillant
et de male enfrete pcsant,
doch fehlen C v. 4156—7.
Diese Erscheinungen sind keinem blofsen Zufall zuzu-
schreiben. Denn es wäre sonderbar, wenn B, C, ganz unab-
hängig voneinander, in sechs Fällen dieselben auf L gestützten
Partien ausliefsen. Es müssen daher nähere Beziehungen zwi-
schen B und C existieren.
Allen Anforderungen genügt nun die Annahme, dafs C
unter der Benutzung von B und x entstanden ist.
An ihre Vorlaoe traten die Schreiber von A und C be-
arbeitend heran, änderten, fügten hinzu oder liefsen aus, je nach
ihrem Geschmack.
Wie frei der Schreiber von A verfuhr, mögen folgende
Stellen zeigen :
1) Nach der Schilderung der unteren Hölle heifst es in
Ij Kap. IV, C: üt sicut corpora peccantium terra cooperiun-
tur, ita animae peccantium sub terra in inferno sepeliuntur. Dem
echlief:*en sich B, C genau an, wenn sie lesen:
Car si con 11 cors est enfrez:
et est de terre acouvetez,
si ont les ames sepulture
soz terre en l'infernal ardure.
Daseien A v. 460 — 5 :
o^o
Quant l'ame est partie del cors
se il estoit mangies de pors
ou il fust cn poldre ventes,
ja ne seroit si tormentes
que l'ame n'eüst sepouture
SOS terre en l'infernal ardure.
2) Als Grund der vierten Qual der Bösen giebt L Kap. IV, A
an : Qui autem hie foetore luxuriae dulciter delectabantur, juste
ibi foetore putrido (V et pulredine) atrociter cruciantur.
Ebenso B, C:
Apres, por ce que en vieute
de luxure sont enorte,
Der Lucidairc Gilleberts. 139
trop (loucement si deliterent,
como bestes si saoulcrcnt ;
par droit la piior infernal
seiifrent eil sanz fin et le mal.
Dafijefi-en versl« A v. 680 — 95:
DO O
Apres, por ce c'onques nul jor
n'orent vers danieldeu amor,
ne vors les povres en bienfais,
ne envers les mesiax des fais,
ne ne lor voldrent riens doncr,
quant lor venoient demander
lor almosnes par charite,
et por le roi de majeste,
ains lor puoient si forment
qu'il nes aperchoient noient
ne nes pooient endurer,
por ce lor covient sans doiitcr
soffrir icele grant puor
qui en infer est nuit et jor
dont il ne seront ja oste,
si con nos dist l'autorite.
Dieses Verhalten unseres Schreibers zu seiner Vorlage
fAcht denn auch Berechtio:unfr zu der Vermutun"^, die in der
Tabelle mit Ü bezeichneten Übero^'änge für sein Produkt zu
hahen, denn ohne dieselben schreitet die Erzählung wie in B
und C schneller fort und gewinnt die Sprache an Kraft. Ganz
gegen die Gewandtheit der Sprache unseres Dichters und daher
auch in B und C nicht vorhanden sind mehrfache, fast wört-
liche W^iederholungen, wie:
1) V. 648-9, 766—7, 1730-1:
Li maistres lors li respondi:
„Amis," fait il, „entent a mi!"
2) V. 914-5, 2032—3:
Volontiers amis le dirai
ke ja ne vos en mentlrai.
3) V. 1726—7, 1908-9:
„Maistres," dist il, „par vo coniant
encor voil demander avant."
4) v. 2935-6, 3820—1, 4246—7:
Apres li a 11 maistre dit:
„Amis, enten moi un petit!"
140 Der Lucidaire GilUberts.
5) V. 3040— 50, 3063-4, 3()12— 3:
Li disciples II respoiuli:
„INIciistre, je Tai mout bion oi!"
6) V. 3232—3, 3407—8, 3G48-9:
Li maistres dist : „Amis, enten
et si retien et si apren!"
Dem Schreiber von A sind auch die letzten acht, B feh-
lenden Verse zuzuschreiben, wo er, „qui che escrit", Gott bittet,
ihm Verstand zu geben, so zu handehi, dafs er die Qualen der
Hölle vermeiden und die Freuden des Paradieses geniefsen könne.
C hat einmal eine Umstellung vorgenommen (322 — 35, 288 — 319).
ß ist äufserst flüchtig kopiert. In vielen Fällen (vergl. Tabelle)
fehlt entweder zur vorherg-ehenden oder folgenden Zeile der
entsprechende Keimvers. Den Passus von v. 750 an kopiert
der Schreiber nach v. 799 ein zweites Mal, bricht aber nach
drei Zeilen, seinen Irrtum noch rechtzeitig gewahr werdend,
ab, dann überspringt er wieder v. 1899 und trägt ihn acht
Zeilen später nach. Die Vorlage von B war eine zuweilen
vom Original abweichende Bearbeitung y, eine Vermutung, die
folixende auf L gestützte Stellen zu bestatio-en scheinen:
1) Als der Schüler in L Kap. XI, E den Lehrer fragt,
..qua aetate vel mensura*' die Guten auferstehen würden, antwortet
dieser: „Qua erant, si (V cum) essent triginta annorum," und
dem schliefsen sich A, C v. 1772 an: En sanblance erent de
.XXX. ans, während B .xxxni. liest.
2) In der Beschreibung der Kleidung der Gerechten folgen
A,C gegen B genau L Kap. XVI, E: Salus autem justorum
et laetitia erunt illorum vestimenta, indem sie lesen v. 2336 :
II seront ilueques vestu
de grant leece et de salu,
B dagegen: de grant biaute, de grant vertu.
Das Endresultat unserer Untersuchuns: ist also foljjendes:
A hatte zur Quelle eine Vorlage x, welche die A,C ge-
meinschaftlichen Fehler enthielt, aber das Oriirinal vollständi^:
gab, also auch die auf L zurückgehenden, aber in A fehlenden
Stellen von C; B ist eine flüchtige Kopie einer Bearbeitung y
und unabhängig von A, C aber eine eklektische Bearbeitung
Der Lucldairo Gillebcrts.
141
von X und B, worauf sich das B, C eigentümliche Fehlen von
durch L oestützten Stellen zurückführen läfst.
Diese Verhältnisse lassen sich, wenn O das Original be-
deutet und die Länge der Vertikalstriche den Grad der Ent-
fernung von O angiebt, durch folgende Figur veranschaulichen:*
O
X
y
B
Für eine kritische Bearbeitung^ des Textes erojiebt sich dem-
nach, dafö jede Übereinstimmung von A,B den Originaltext liefert.
Was D angeht, so zeiget eine Vero-leichunfy des Abdrucks
von G. Paris mit den übrigen Handschriften, dafs D den Hand-
schriften B, C näher steht als A.
E tritt infolge der mit C gemeinschaftlichen Umstellung
von demandasse und osasse in nähere Beziehunnj zu C.
Die Person des Dichters.
Über die Person des Dichters erfahren wir näheres am
Schlufs des Lucidaire v. 4338 — 47, wo der Dichter ausruft:
* Die auf S. 45 bei Schi, befindliche Klassifikation der Handschriften
ist weder genau noch überzeugend. Denn aus gemeinsamen Varianten,
übereinstimmenden \ ersen, möglicherweise vom Dichter herrührenden Er-
weiterungen und Zusätzen können in Bezug auf das Verhältnis der Hand-
schriften zueinander nicht immer endgültige Schlüsse gezogen werden. Un-
trügeriscbe Kriterien liefern nur gemeinschaftliche Fehler. Hätte Schi, die
Handschriften auf solche geprüft und kritisch behandelt, so hätten ihm
die nahen Bezielumgen zwischen A, C (B) nicht entgehen können. — Ferner
wird man weniger von Mittelstufen zwischen B und C als von Bearbeitungen
von B (C) sprechen müssen.
142 t)(3r Lucid.iire Gilleberts.
„Merchi cri a cels, qiil l'oront
et qui bone essample i prendront,
qu'il cleprient le fils Marie
qiii por nos vint de mort a vie,
qu'il merchi ait de Gillebcrt
et qn'en son regne le herbert,
eil qui a Qiiambroi fu noris,
a Beaubec a deu convertis,
de sa mere meesmement
et de ses amis ensenient!"
Der Name des Verfassers ist also Gillebert. In der An-
ffabe des Ortes, wo der Dichter erzoo;en wurde, v. 4344, oehen
die Plandschriften auseinander. A nennt Chambres (Dep. de la
Manche). Doch einen Ort der Normandie als Heimat des Dichters
anzuneluuen, verbietet uns, wie wir sehen werden, die Sprache.
Ich bevorzuge daher die Lesart von B „Quambroi", das wir
nach dem Resultat der Sprachuntersuchung mit Cambrai (Dep.
du Nord) werden identifizieren dürfen.* Nach A war er in
Beaubec (Dep. de la Seine inferieure) „a deu convertis", d. h.
wahrscheinlich in die 1116 oder 1127 cjegründete Cistercienser
Abtei eingetreten. In B ist die zweite Silbe dieses Ortsnamens
nicht recht erkennbar; man kann lesen Belboec und Belborc.
Wahrscheinlich lebte Gillebert in seiner Jugend in Cambrai
und zog sich im späteren Alter in ein normannisches Kloster
zurück.
Über Peter von Peckham, den Verfasser der Lumiere as
Lais sagt P. Meyer in der Romania VIII, 327: „II s'est nomme
non pas par vanite, mais pour obtenir le benefice des prieres
de ses lecteurs, pieux motif auquel nous devons en plus d'un
cas de connaitre les noms de ceux qui, au moyen age, compo-
serent des poesies morales et religieuses."
Diese Ansicht liifst sich auch für unseren Dichter geltend
machen. Die Antjabe seines Namens ist nur in dem frommen
Wunsche begründet, in das Gebet seiner Leser eing-eschlossen
zu werden, damit er mit seiner Mutter und seinen Freunden
vor Gott Gnade und in dessen Reiche Herberge finde, v. 4338 — 47.
* Auf keinen Fall war er aus Launoy, wie Schladebach S. 47 ohne
jeglichen Grund vermutet.
Der Lueidalre Gilleberts. 143
Die Sprache des Dichters.
A. Erojebnisse der Unters uchun"; der Reime.
a) Vokale.
1) 0. o', das tiefe geschlossene, und o-, das hohe offene o, werden
stets gesondert.
2) an und en werden nicht vermischt, noient 279, negligent G50,
esciönt 967, 29G9, occhident 2378 haben e. Mit a und e werden im
Lucidaire dolent und talent gebraucht:* dohms : ans 3243; dolent :
haltement 501, : froment 726, : torment 1284; dolens : tormens 1012,
: pnlens 3551; talant : avant 248; lalent : gent 204, : voirement 982,
: largement 1292, : bonement 3866. Die vom Part. Präs. imd Gerun-
dium abgeleiteten Snbstantiva gleichen sich in der Endung ance der
ersten Konjugation an: conissance : ramenbrance 874, etc.
3) e^, das offene e (aus lat. e oder ae in geschlossener Silbe), e-,
das halb offene e (aus lat. e oder i in geschlossener Silbe), und e^, das
geschlossene e (aus lat. a in off^ener Silbe) hat der Dichter nicht ver-
mischt. Beispiele: e': apres : pres 1023, terre : conquerre 1360, estre
: senestre 1866, bele : novele 2565. e^: destrece : tristrece 291, 1875,
: leece 422 etc. e^: de : virginite 151, : majeste 1431 etc. Ob der
Reim bele : mele 2509 dem Dichter angehört, lassen die Lesarten von
B bele : vice und C eüst : fust unentschieden.
4) i. e -|- i ergab in der Sprache unseres Dichters keinen
Diphthong oder Triphthong, sondern i. Beweisend ist der Reim (ire):
: baptestire 1367, doch als in Übergängen befindlich weniger belegend:
desir : (plaisir) 1910, (respondi) : pri (preco) 1971, (dit) : delit
3234.
* Schladebach erwähnt S. 56 nicht den gemischten Gebrauch von dolent
und talent, giebt dagegen irrig an, dcifs noient mit a und e im Lucidaiie
gebraucht werde. Die hier einschlägigen Verse 276 — 9 lauten:
Li un sont ichi espurgie,
quant lor cors sont bien cruchie
(v. 263) et travelllie de male gent
qui nes deportent de noient
(B gent : neant, C gent : nient). Schladebach liest unbegrelfliciierweise
grant statt gent, obwohl B,C gent ausschreiben und grant keinen Sinn
giebt. — Ebensowenig ist noians 1832 (v. 1682), das übrigens alle drei
Handschriften nicht mit s, sondern t überliefern, für die Sprache des Dich-
ters gesichert, denn A liest: certainemant : noiant, B neant : haustement,
C noient : hautement.
144 Der Lucidaire Gilleherts.
h) DiphtJiojige.
5) ui. Der Lucidaire weist keinen Reim auf, der den Übergang
u -|- i zu ui bewiese.
6) oi. Für die Vermischung von abam und ebam zeigt unser
Gedicht mehrere Beispiele: venoient : lechoient 474, amoient : faisoient
704, servoient : sauvoient 1008, lapidoient : faisoient 1946.
Der Reim ot : sormontot 3952 durfte beweisen, dafs Gillebert
auch die Imperfektbildung der ersten Konjugation auf -oe, -one kannte
(vergh H. Suchier Z.F. R. P. II, 276 „im Pikardischen Avurde aller
Wahrscheinlichkeit nach das normannische -oe (amoe) gesprochen, ehe
-oie (aus ebam) die Alleinherrschaft an sich rifs").
7) ai. ai reimt im allgemeinen nur mit sich selbst. Doch be-
gegnen uns auch Bindungen von ai zu e^, die beweisen, dafs ai in ge-
schlossener Silbe wie offenes e gesprochen wurde: estre : maistre 326,
: naistre 1194, set (septem) : ait 2474, apres : mais 3303. Ferner
finden sich Reime, in denen ei aus lat. e oder I vor n zu ai wird und
mit ai aus lat. a gebunden ist: paine : semaine 308, 628, mains (minus)
: daerains 950.
8) ie. e und ie sind auseinander gehalten. Der Reim pendie :
clocifie 1906 scheint zu beweisen, dafs Gillebert noch die alte Endun«?
-ie des Perfektums der zweiton schwachen Konjugation kannte, doch
läfst sich keine sichere Entscheidung treffen, da B v. 1905 — 6 fehlen
und C pendi : soffri bindet. Doch durch A,B gesichert ist der Reim
vesquie : hailie 3255.
9) Für die Kontraktion der Endung -iee des Femininums des
Part. Perf. der Verba auf ier zu ie zeigt der Lucidaire keine beweisende
Beispiele.
10) ui wird mit i gebunden: achoisi : lui 496, fist : destruist
1226, : estruit 4252, trestuit : contredit 2625.
c) Konsonanten.
11) Ob die Auflösung des 1 dem Dichter angehört, läfst sich aus
dem Reim cevols : angoisous 2845 nicht mit Sicherheit feststellen, da
in B, C der entsprechende chevox : dieux (dolium) lautet.
12) s. Einfaches s und s als Produkt von t (d) -[- s hält der
Dichter streng auseinander. Doch reimen ans : grans 1217, : enfans
1733, : dolans 3244, : vaillans 4060. Er wird also anz gesprochen haben.
Ohne Beweiskraft ist der Reim paradis : esperis 121, denn B
Der Lucldaire Gilleberts. 145
reimt paradlz : viz und C faitis : mis, ebensowenig benis : paradis 246
und amis : fis (fidus) 3900, die in Übergängen befindlich als unecht
bezeichnet werden dürfen.
13) Die Bindungen von s mit d und t scheinen zu beweisen, dafs
diese Konsonanten zuweilen stumm waren: clost : conplot 1G26, David
: amis 2999, : garnis 3275, sosmist : contredit 3323, fist : estruit 4252.-
Der Reim venus : uns 2903 ist unecht, da diese Stelle, mit B, C
verglichen, als eine Verderbnis erscheint.
14) In dem Reime (montaignes) : plaignes 2878 steht mouil-
liertes n, wo es sonst nicht gewöhnlich ist.
B. Ergebnisse der Silbenzählung.
15) Verschiedene Verse des Lucidaire geben nur dann acht Silben,
wenn wir die Nichtelision eines auslautenden e annehmen, eine Er-
scheinung, die sich dadurch erklärt, dafs Gillebert das dumpfe e nach
schweren Konsonantengruppen in den Hiatus treten liefs. Beispiele
bieten folgende Verse: dont la terre est pupliee 54, discipline et ne
l'amerent 697, et au sepulcre iront liez 1390, et l'autre est esperitez
1643, por .X. mille est aconte 2682, et atemprance et justice 4285.
Unsicher sind folgende: Maistre, or me dites briefment 2109, Li
maistre en ore respont 2173, 2328, Dist li maistre: „Or i entent"
2448, Dist li maistre: „Amis enten" 3407. In dem Verse .vii. especiax
vertus aront 2471 weichen A,B,C bedeutend voneinander ab. B liest:
.VII. esperiteux gloires avront, C aber: .vii. grandes boneürtes ont,
L Kap. XVII, C : Septem speciales (V spirituales) glorias corporis
habebunt, et Septem animae. Man wird especiax dreisilbig lesen müssen,
obwohl es v. 4100, 4289 viersilbig gebraucht ist. celestiel v. 4205
ist viersilbig.
16) ie ist einsilbig in Filistiens v. 3058, zweisilbig in Domiciens
1146, chrestiens 1147, 1220, 1853, 2128,4004, anchien 1161, 1321,
1375, 3345, devriens 2007, 2009, ensipience 4167, terrien 4315,
Typriens 4329.
Saül 2985 ist zweisilbig.
17) Vom Substantivum.
a) Bezüglich des s, das die Maskulina der ersten und dritten
Deklination auf e später im Nom. Sing, annehmen konnten, zeigt die
Sprache des Dichters ein Schwanken. Das flexivische s ist noch nicht
vorhanden in: pere 502, ministre 1159, dire : sire 1770, sire 2543.
Arcliiv f. n. Sprachen. LXXIII. 10
146 I^er Lucidaire Gillebcrts.
Doch findet sich daneben auch leres 1012, hermites 1155, menres
3523, graindres 3527, mires 3844, Basires 4328. Von den Adjek-
tiven hat povres 520 das s des Nom. Sing, angenommen. Den einzigen
als Acc. fungierenden Nom. bietet v. 103:
Del juste est con del riebe ber,
quant il doit sa ferne espouser.
b) Die Frage, ob die Feminina nach der lateinischen dritten
Deklination im Nom. Sing, ein s annehmen, ist schwer zu entscheiden.
Nur in dem Reime fachon : raison 2859 stimmen die Handschriften
überein. Wie sie sonst auseinandergehen, zeigen folgende Reime, in
denen Feminina nach der lateinischen dritten Deklination als Nom. Sing,
fungieren :
A, B greignor : menor 310, : baldor 934, C hat anderen Text;
A,B carbon : avon 3549, C carbons : avons ; A tribulation ; trovon
1304, B tribulations : treuve on, C tribulations : creons ; A sante :
enfermete 3656, B santez : enfermetez, C fehlt; A maison : habitation
364, B weicht ab, C maisons : hnbitations ; A baudor : honor 2879,
B fehlt, C baudors : honors.
Hieraus ersehen wir, dafs Gillebert sicher die ältere Form kannte.
18) Vom Adjektivum. Die Adjektiva der lateinischen dritten
Deklination haben im Femininum im allgemeinen noch kein e angenom-
men. Beispiele: quel 329, 2141, tel 369, 433, 666, 727, 884 etc.,
ardant 542, itel 3167, grant 2488, 3932, 3940, 3954 etc., griefment
335, briefment 413, forment 638, 668, corporelment 2920, esperitel-
ment 2921.
Eine Ausnahme macht tele 2280, das aber durch itel ersetzt
werden könnte, ferner quelle 1337, presentement 1542.
19) Vom Pronomen. Für die Anlehnung der Pronomina le und les
an je, ne (non und nee), qui, se oder si bietet unser Text folgende Beispiele :
a) jel 349, 350, 1112, 1894, 1913, 1997, 2044, ges 3158, die
aber nichts für die Sprache des Dichters beweisen.
b) nel 1239, 1420, nes 279, 1408, 1453 dagegen sind durch
A,B, C gestützt, ebenso
c) ques 3659, doch nicht quil 3336, quis 2015, 3402, 4085,
ques 2913.
d) (si, wenn) ses 569, (si, sie) sei 2427, ses 2904, sis 3107,
4108. Da B, C in den letzten Beispielen abweichen, so können diese
auch Produkt des Schreibers von A sein.
Der Lucldalre Gilleberts. 147
Li der Dativ der unbetonten Form des Pron. Pers. verliert sein i
vor en : onqnes nul dangier ne Ten fist 72. Über die betonte Form
des Pron. Pars, in der ersten und zweiten Person Singr. g^eben die
Reime moi : croi 432, : foi 513, toi : voi 77, : croi 2900 Aufklärung.
Der Reim respondi : mi befindet sich in Übergängen 648, 1730.
20) Der Artikel. Der Artikel li als Nom. Sing, kann gekürzt
werden: l'autre 851, 1380, 1934, 42GG, l'nns 2008, 38G0, l'angles
1772, daneben aber auch li ewangiles 467, li un, li altre 950, 3550,
3875, li uns 3539.
21) Das Verbum.
a) Die erste Pers. Sing. Präs. Ind. der ersten schwachen Konjugation
zeigt noch kein e: pri 232, 413, 536, cri 502, espoir 981, comant 1081.
b) Vor vokalischem Anlaut verliert das e der dritten Pers. Sing.
Präs. seinen Silben wert: „Maistre," dist il, ,,dex regne en toi" 74,
qui maine o soi grant conpaignie 105, puis l'en amaine a grant leece
107, ains que d^ vigne al jugement 407, vcrgl. ferner sueffre 426,
apele 600, conbate 2639, amaine 3850.
c) Die Endung -ies der zweiten Pers. Plur. Imp. ist stets ein-
silbig: tenries 568, oisies 569, ve'isies 2590, gheroies 2861, faisies
2862, pories 3662.
Der Reim se vos le me volies dire 328, wo -ies zw^eisilbig ist,
geht auf Kosten des Schreibers von A, der, wie die Varianten zeigen,
seine Vorlage erweitert hat.
d) Neben der regelmäfsigen Bildung des Futurums der ersten
schwachen Konjugation kennt der Dichter auch die Unterdrückung des
unbetonten e zwischen Verschlufs- oder Reibelaut und folgendem r:
donra 1282, 1288, 2339, 3394, 3438,3638,3692,4006, dura 1306,
demorai 2496. Nicht sicher sind demandrai 2381 und comandrai 4251.
Ob Gillebert sich den Einschub des unbetonten e erlaubte, läfst
sich nicht mit Sicherheit feststellen, da folgende Stellen: istera 2215,
esteroit 4058, averoit 3417, esteront 3443, estcra 3958, renderont
4045 sämtlich mit B, C variieren und daber auch dem Bearbeiter von A
zugeschrieben werden können. Die Übereinstimmung von A, C in
esteroit 3264 beweist wegen der nahen Beziehungen von A, C zu-
einander nichts für die Sprache des Dichters.
22) neis 1182 und nient 279, 817 werden immer zweisilbig ge-
braucht.
Durch die Vermischung von abam und ebam (6) wird das Nor-
10*
148 Der Lucidaire Gilleberts.
niannische sofort ausgeschlossen. Die Einsilbigkeit der Endung -ies
der zweiten Pers. Plur. Imp. (21, c) versetzt unser Denkmal in die
Pikardle. Ohne Beweiskraft ist der Reim issir : veir 3159, der nach
H. Suchier, Aue. u. Nie. p. 68 auch in den Loherains im Reime steht.
Der schwankende Gebrauch des s im Nom. Sing, bei den Masku-
linis der ersten und dritten Deklination, die Anwendung der älteren
Form des Nom. Sing, der Feminina der lateinischen dritten Deklination,
das Fehlen des e femininum bei den Adjektiven der lateinischen dritten
Deklination und endlich das Verstummen des e in der dritten Pers.
Sing. Präs. der ersten Konjugation vor folgendem Vokal weisen auf
das Ende des 12. oder den Anfang des 13. Jahrhunderts hin. Die
zweite Hälfte des 13. JahrhundertSvkommt nicht in Betracht, da Hand-
schrift A im Jahre 1268 vollendet wurde.
Das Verhältnis des Lucidaire zum lateinischen
Texte.
Obwohl Teil III der Schladebachschen Dissertation diesen
Teil meiner Arbeit in einigen Punkten überfiüssig macht, so
gewährt doch die Art und Weise jener Untersuchung keinen
genügenden Einblick in das wahre Verhalten des Gillebert zu
seiner Vorlage und macht meine Untersuchung nicht überflüssig,
sondern in einigen Punkten sogar notwendig. Der Erleichterung
wegen habe ich am Rande meines französischen Textes die
lateinische Kapitelzählung in eckigen Klammern angegeben.
Der Hauptzweck des Gillebert bei der Abfassung seines
Lucidaire war, das Volk zum Guten zu führen und auf das
jenseitige Wohl hinzuweisen. Er schrieb daher ohne jede Spitz-
findigkeit, klar und einfach, wie es der damaligen Volksbildung
angemessen war. Die Tendenz seines Werkes und wie er
dasselbe verfafste, sagt er uns v. 4334 — 7:
„Por bien et por amendement
l'ai escrit si apertement
que li clers et la simple gent
i poent prendre amendement."
Ich werde mich daher nicht, wie Schladebach, mit einer
nackten Aufzählung einzelner Unterdrückungen und Erweite-
rungen begnügen, sondern zeigen, wie der Dichter, geleitet von
jenen Grundsätzen, sich zum Elucidarius verhält.
Der Lucidaire Gilleberts. 149
Betrachten wir zunächst Gilleberts UnterdrückunGfcn im
lateinischen Texte. Im ersten Kapitel übergeht er den Ver-
gleich des Schülers und seiner Fragen mit der Hydra und
deren Köpfen, da er jene Sage bei dem ungebildeten Volke
nicht als bekannt voraussetzen konnte und eine ßehandluno-
derselben seinem Zwecke nicht entsprochen haben würde. Als
zu gelehrt und spitzfindig läfst der Dichter die auf S. 17 bei
Schladebach behandelte Frage des Schülers aus, warum die
nicht Vollkommenen gerade bis zum siebenten, dreifsigsten Tage
oder bis an das Ende des Jahres dulden. Aus gleichen Grün-
den wohl auch das in Kap. X* durchaus dogmatisch be-
handelte Überheben des Antichrists, ferner in Kap. XVIII, D
den Beweis, dafs der Glanz der Guten ums Siebenfache den
der Sonne in der Sommerszeit übertreffe. Nämlich Gott als
Schöpfer der Sonne habe mehr Klarheit, die Menschen seien
der Tempel Gottes, in dem Gott wohnt, folglich müssen diese
in gröfserer Klarheit leuchten als die Sonne. Über die in
Kap. XV, E unterdrückten Fragen des Schülers: „Quid est
transiens ministrabit illis?" (Luc. 12, v. 27) etc., vergl. Schlade-
bach S. 18.
Mit Kecht unterdrückt Gillebert schon erwähnte Stellen.
In Kap. VI, A [v. 844—73] ** von der unteren Hölle sprechend,
übergeht er „unde et dives rogabat a Lazaro guttam super se
stillari," welchen Zusatz er ganz richtig schon in der Geschichte
vom reichen Manne durch v. 504—6 als erledigt betrachtet,
ebenso scheint in Kap. XIV, E [2050—203] die Frage des
Schülers: „Quomodo judicabuntur?" und Antwort des Lehrers:
„Coelesti palatio, qui haec fecerunt, digni censebuntur" durch
V. 2042 — 9 abgcthan, wo schon von dem Wie und dem Resultat
des Urteils die Rede war. In Anschlufs an Kap. XV erzählt
der Dichter bis v. 2251 die Reinigung der Elemente und thut den
glücklichen Griff, Kap. XV, A den Vergleich zwischen der Ver-
wandlung unseres Körpers und der Erde zu übergehen. Er sah
richtig voraus, dafs er sich bei der folorenden einorehenderen
* Obwohl Kap. X durch den Libellus de Antichristo des Adso ersetzt
ist, werde ich im folgenden doch die Bezeichnung „Kap. X« beibehalten.
** Die in der eckigen Klamnper stehenden Verszahlen geben die dem
Kapitel entsprechende Partie meines Textes an.
150 . Der Lucidairc Gilk-berts.
Schilderung der Verwandliino- der Erde v. 2278 — 307 wiederholen
mufstc. Ein anderes Beispiel für geschickte Vermeidung von
Wiederholung bietet Kap. XVI, D^ [v. 2308—82]. Hier läfst
der Dichter die zweite Frage des Schülers: „In qua aetate, vel
in qua mensura erunt?" aus, sich wohl erinnernd, dafs er derselben
schon Kap. XI, E bei der Auferstehung der Guten und ßösen
begegnet ist und sie in v. 1732 — 51 behandelt hat. Wohl als
selbstverständlich unterdrückt Gillebert Kap. VII den auf die
Guten bezüglichen Schlufssatz des Kapitels „Non tarnen aliquid
orant, nisi quod ipse deus disposuit facere : alioquin incassum
orarcnt", da es ihm ganz natürlich scheint, dafs die Guten Gott
um nichts Böses bitten werden. Ferner Kap. IX die Träume,
zu denen der Mensch selbst Anlafs giebt, da dieselben, im
Grunde genommen, doch wieder ihren Ursprung in Gott oder
dem Teufel haben (vergl. Schi. S. 17), und endlich in Kap. XX, C
die Erledicrunsf der Frao-e, warum die Seli2:cn Himmel und Erde
nicht neu gestalten, vergl. Schi. S. 18.
Den Fortschritt der Handlunu* nur hemmende Vero-leiche
und Citate aus der Bibel sind für unseren Dichter auch ent-
behrlich. So in Kap. VIII, D. Der Schüler fragt: ,, Habent
plenum gaudium sancti?" Den die Antwort des Lehrers aus-
machenden Vergleich der Heiligen mit Gästen, die über ihre
eigene Einladuno Freude, aber über das Nichterscheinen ihrer
Freunde Schmerz empfinden, unterdrückt der Dichter und geht
sofort ad rem, indem er an das „plenum*' in der Frage des
Schülers anknüpft und dieselbe durch v. 926 — 35 beantwortet.
Von anoeführten Hibelstellen seiner Vorlage entnimmt er nur
die kräftigste. So übergeht er in Kap. XI, C das auf das
Ertönen der Posaune bezügliche „Canet enim tuba, et mortui
resurgent" (1. Kor. 15, v. 52), ferner „Periit memoria eorum cum
sonitu" (Psal. 9, v. 7), schliefst sich sodann in den Versen
1618 — 21 wieder an die Worte „et altissima (V. altisona) voce
mortuis clamabunt, surgite*' an, erlaubt sich aber sofort folgende
zweite, sich unmittelbar an den vorhergehenden Anschlufs an-
reihende Unterdrückung: Media nocte clamor factus est (Matth.
25, V. 6). Gillebert nimmt also für seinen Lucidaire nur das
wichtige ..surgite" heraus und fühlt ganz richtig, dafs dies auf
das Gemüt des Volkes seine ^^'irkung nicht verfehlen konnte.
Der Lucidaire Gillebcrts. 151
Vollständig entbehrlich scheint dem Dichter in Kap. XIV, E
die auf die Worte „Kommt ihr Gesegneten meines Vaters etc."
bezügliche Frage: .. üicentur haec sonis vcrborum?*' (vergl. Schi.
S. 17), desgleichen die Kap. XXI, A enthaltenen Bibelstellen,
wie das sich auf den Wagen Christi beziehende „Ascendes super
equos tuos : et quadrigae tuae salvatio" (Abac. o, v. 8) und das
auf die vier Tugenden bezügliche ,, Hierusalem, quae aedificatur
ut civitas" (Psal. 122, v. 3).
AVie geschickt Gillebert vermeidet, seinen Leser zu er-
müden, zeigt Kap. XVIII, A. Nur über die sieben leiblichen
Güter und das erste oeistis^e läfst der Dichter den Schüler sein
Erstaunen durch Ausrufe ausdrücken, doch nicht über die
übrigen sechs geistigen. In L erwidert der Schüler auf die
Freundschaft des David und Jonathan v. 3303 — 10 „O beati-
tudo!", auf die Eintracht des Laelius und Scipio v. 3320 „0 in-
efFabilitas !" etc. Nachdem Gillebert die ersten acht Ausdrücke
der Verwunderung berücksichtigt hatte, mochte er den Eindruck
gewinnen, dafs die Anführung der übrigen sechs äufserst er-
müden mufste. Auch mochte er sich der Unmöglichkeit be-
wufst sein, jene Ausrufe wegen des Versmafses und der Fessel
des Reimes mit der Kürze und Bündigkeit des lateinischen
Textes wiederzuo-eben.
Als absurd und o-ecren die Tendenz seines Werkes unter-
drückt der Dichter in Kap. VIII, B das Erscheinen des Papstes
Benedikt halb als Esel und Bär (vergl. Schi. S. 17), ebenso in
Kap. XI, E die Frage, ob das Kind im Mutterleibe und wie
der Mensch auferstehe, der von Avilden Tieren gefressen wurde
oder mifso^eboren war, veröl. Schi. S. 19.
Geschickt w^eifs Gillebert auch auszulassen, um anderen
Stellen gröfseren Nachdruck zu geben. Um das Schicksal der
Verdammten noch härter darzustellen, dient der künstlerischen
Absicht des Dichters im Kap. VIII, E die Unterdrückung der
Angabe^ dafs einige Seelen der Bösen einige Kenntnis besitzen.
Kap. X entnimmt der Dichter nur die letzte der beiden Todes-
arten, übergeht dagegen, dafs der Antichrist vor dem Glänze
des göttlichen Lichtes und vor Furcht sterben werde. Diese
Todesart machte offenbar weniger Effekt als seine Vernichtung
durch den Erzengel Michael.
152 Der Lucidaire Gilleberts.
Und wenn Honorlus sich am Schlufs des Elucidarlus über die
Wirkung der Ausscheidung der Bösen als den rauhen Steinen
in Bezug auf die Festigkeit der Mauer ausläfst, indem er sagt:
„De quorum exitio justi vinculo charitatis quasi caemento murus
firmius compaginabuntur", so ist auch hier das Streben nach
kräftiger Schilderung unverkennbar, wenn er diese Stelle über-
geht und mit der Qual der Bösen im Feuer und mit der Freude
der Guten im Himmel abbricht.
Neben diesen meistens motivierten Unterdrückungen zeigt
Gillebert auch andere, für die sich kein rechter Grund angeben
läfst. So in Kap. X für die Auslassung der Schilderung, wie
die Menschen sich bei der Verfolgung durch den Antichrist
gebärden werden und in Kap. XIX, B der Ausspruch, dafs die
Befjlerde nach weltlichen Vero^nüsfen uns so intensiv durch-
dringe wie der Schmerz, den uns ein an den Kopf gelegtes
glühendes Eisen verursache (vergl. Schi. S. 18). Dies mufs
uns um so mehr wundern, als die Behandlung dieser Stelle
ganz im Sinne des Lucidaire gewesen wäre, indem dem Leser
der Grad seiner Sinnenlust veranschaulicht Avurde. Hierher
könnte man auch aus Kap. XIV, C die symbolisch-allegorische
Deutung rechnen von Apok. 20, v. 12: Libri aperti sunt; et liber
vitae, etc. Doch hat Schi, unrecht, wenn er S. 18 diese Stelle
als „gänzlich" unberücksichtigt hinstellt. Der Dichter berührt
sie, wenn auch nur äufserst flüchtig, in den v. 2202 — 3:
Iluec liront con en un livre,
s'il seront dampne ou delivre
und nimmt den Hauptgedanken dieses Passus richtig heraus.
Allerdinors würde eine einorehendere Behandluno- dieser Stelle
O O o
nicht gegen die Tendenz des Lucidaire gewesen sein. Dafs
der Dichter in Kap. XV, A die eingehende Schilderung der
Welt durch Feuer v. 2240 nur mit dem einfachen:
Par fu sera tot degaste
wiedergiebt, mufs uns wundern, da er doch sonst immer darauf
aus ist, durch kräftige Schilderung auf seine Leser zu wirken.
Wenn Gillebert einerseits Stellen übergeht, so führt er
andererseits in L nur kurz angedeutete Gedanken weiter aus
und versieht sie mit Produkten eigener Phantasie. Das ge-
Der Lucidaire Gilleberts. 153
ßchieht hauptsächlich bei Stoff, der die Gemüter mächtig ergriff
und wohl geeignet war, die Menschen zur Eeue und Bufse
zu bewegen, wie ihn Kap. IV „De malorum deductione ad in-
feros ; et de poenis et quas ibi sustinent" bietet. Hier bewaff'net
er beim Tode der Bösen den Teufel mit Spiefsen, Haken und
Stacheln, läfst sie hüpfen, tanzen und springen und erzählt
ausführlich die in L nur kurz erwähnte Geschichte vom reichen
Manne und armen Lazarus. Die Höllenqualen schildernd, be-
zeichnet er alles Aas der AVeit im Vergleich zu dem „foetor
intolerabilis" der vierten Qual als Weihrauch und Wohlgeruch,
läfst in die sechste ohne Unterschied Könige und Herzöge,
Geistliche und Laien eino-ehen und zeist endlich, dafs in der
achten das Feuer nicht leuchte, aber von schrecklicher Glut sei.
Ausführlich gegen L erzählt der Dichter in Kap. IX den Traum
des Joseph von Sonne, Mond und Sternen, den des Joseph,
des Gemahls der Maria, und ganz nach eigener Phantasie den
der Frau des Pilatus. Letzterer scheint eine Erweiterung des
zweiten Kapitels der Gesta Pilati zu sein (vergl. C. v. Tischen-
dorf, Evangelia Apocrypha S. 343). Die Angabe, dafs der
Antichrist dreifsig Jahre alt sein w^ird, fehlt dem zehnten Ka-
pitel, ebenso, dafs Enoch und Elias, die uns das Kommen des
Antichrists ankündigen, in grofser Pracht und Klarheit erschei-
nen werden v. 1454 — 9, auch die Freude des Antichrists und
der Seinigen auf dem Olberge über seinen vermeintlichen Sieg
V. 1512 — 28. Dafs der Antichrist durch einen Blitzstrahl vom
Erzengel Michael getötet, in Pulver verwandelt, vom Winde
verweht und seine Seele in die Hölle geschleppt wird, ist eine
phantasievolle Ausschmückung, und die Angabe, dafs die An-
hänger des Antichrists über den jähen Sturz ihres Herrn er-
staunt sein werden v. 1544 — 53, eine eigene Betrachtunor des
Dichters. Eingehender als Honorius erklärt Gillebert, der Un-
kenntnis des Volkes Eechnung tragend, in Kap. XIV, A die
Frage, was es heifse, dafs die Gottlosen beim Gericht sich
nicht erheben, sondern ohne Gericht untergehen werden. In L
lautet die entsprechende Stelle:
Discipulus: „Quare dicitur de eis ; Non resurgeiit impii in
judicio?'' (Psal. 1, v. 5, Psal. 20, v. 10).
Magister; ,,Non contirlget illis, ut ibi judicent; sicut hie
154 Der Luoiilaire Ciillobcrts.
fcccnint. De Ins dicitiir: Foues eos iit ciibainim ignis in tempore
cultns tiii^' Dagegen vergl. Lucidaire v. 2115 — 23:
Ce senefie lor vertu
ki fu plaine d'inniquilc
ol siecle et de jjraiit crualte.
Cil jugierent a lor talent
lor voisins et la povre geiit,
niais lores, quant il resordront,
iie bien ne mal ne jugeront,
perdn avront lor poeste
dont il jngoient contre de.
Aus gleichem Grunde erläutert er die in Kap. XVIIl zur
Erklärung der vierzehn Tugenden angegebenen Beispiele, wird
aber breit, indem er Dinge erzählt, die seinem Zwecke gar
nicht entsprechen, vergl. Schi. S. 20—21. Wie er seiner
Phantasie die Zügel schiefsen lafst, zeigt die Schilderung von
Joabs Auszug, wo so recht das ritterliche Element des Mittel-
alters durchbricht. Der Dichter ruft v. 2697 — 702 aus:
„La vei'ssies espiels brandir,
escus a fin or resplendir,
healmes luire et estinceler
et ces ensegnes venteler
et ces cskieles aprochior,
l'une vers lautre cevalchier!"
und als Joab kämpft v. 2725 — 8:
„One puis n'i ot resnc tenuc.
La ot tante lance esnioluc
brisie et tant escu perchie
et tant bon hauberc desmaillie!''
Davids Klage über seinen Sohn Absolom vergl. Schi. S. 59.
Eigentlich alles vom Dichter über Absolom Gesagte, aufser was
dessen Schönheit betrifft, gehört streng genommen nicht zur
Sache und läfst sich nur insofern rechtfertigen, als es die Strafe
für die Versündioun2: eines Sohnes an dem Vater veranschau-
licht und so dem Leser zur Warnung dient.
Der Tendenz des Lucidaire gemäfs streut Gillebert ge-
legentlich ernste Ermahnungen ein, die nicht durch den latei-
Der Lucidaire Gilleberts. 155
nischen Text gestützt sind, so in Kap. II, wo von den Qualen
der Nichtvollkommenen die Rede ist, dafs wir schleunigst unsere
Sünden bereuen möchten. In Kap. III im Anschlufs an die
Geschichte vom reichen Manne und armen Lazarus rät er uns,
den Armen reichlich zu 2;eben und uns des Schicksals des
Reichen zu erinnern. In Kap. XIII veranlafst ihn die Wahr-
nehmuno^, dafs wir hier in unserem Urteil manchem Irrtum
unterworfen sind, zu der Mahnung, uns jedes Urteils über
andere zu enthalten und dasselbe Gott zu überlassen. Im An-
schlufs an die Schrecknisse nach dem Gericht redet er in
Kap. XV in den Versen 2220—5 seinen Lesern eindringlich
ins Gewissen, ihr Leben so zu regeln, dafs sie einst der Hölle
entgehen könnten, und nach dem Tode Absoloms in Kap. XVIII,
unsere Eltern zu achten und zu lieben, damit wir geistig in
der Hölle nicht noch schrecklicher leiden als körperlich hier der
Sohn Davids. Eigentum des Dichters ist in Kap. XIX noch
die Betrachtung über die Vergänglichkeit alles irdischen Ver-
onüofens v. 3543 — 9.
Wenn Schi. S. 19 den Sturz der zehnten Engellegion
v. 382 — 409 (v. 365 — 92) als „ganz frisch hinzugefügt, durch
keine Andeutung; im Oricrinal motiviert" hinstellt, so ist er im
Irrtum, denn Honorius behandelt diese Stelle im siebenten Ka-
pitel „De casu diaboli et satellitum ejus" des ersten Buches
seines Elucidarius, das, wie Schi. S. 11 richtig angiebt, un-
serem Dichter bekannt war.
Da<reo[en bezeichnet Schi, ebenda die ..siOTification" des
Namens Antichrist richti"f als im Elucidarius nicht motiviert,
läfst jedoch die Frage offen, was dem Dichter bei dieser Partie
als Quelle gedient hat. Ich beantworte diese Frage dahin, dafs
mit dem zehnten Kapitel „De Antichristo et adventu Enochae
Eliae" [v. 110(3 — 1575] unser Dichter den Elucidarius verlassen
und für seinen Lucidaire den Libellus de Antichristo benutzt
hat, welchen Adso, Abt von Mendier-en-Der, im zehnten Jahr-
hundert verfafste (hrsgb. von Frohen in Beati Flacci Albini seu
Alcuini abbatis opera, Tom. II, vol. I, p. 527; vergl. H. Suchier,
Denkmäler proven^alischer Litteratur und Sprache S. 490).
Welche Quellen Gillebert sonst noch benutzt hat, sagt er uns
v. 4326 — 9, vergl. Schi. S. 22. In diesem Kapitel zeigt uns
156 Der Lucidaire Gillebcrts.
Gillebert ein neues Verfahren bei der Bearbeitung seines Stoffes.
Er stellt verschiedentlich um.
Von V. 1106 — 1303 hält sich der Dichter in der Anordnung
der Gedanken genau an den Libellus, nimmt jedoch in v. 1262 — 7
noch einmal seine Zuflucht zu Kap. X, E des Elucidarius; es
heiföt dort: Diabolus ejus maleficiis corpus alicujus (V ali-
cujus damnati) intrabit, et illud apportabit, et in illo loquetur,
welche Stelle im Adso nicht zu belegen ist. Erst von v. 1304
an erlaubt er sich grofse Freiheiten mit seiner Vorlage. Wir
finden abweichende Reihenfolge der Gedanken, die ganze Situa-
tionen ändern und Wiederholunsjen zur Folgte haben, ferner
Erweiteruno^en, Zusätze und umfanc^reiche Unterdrückuno;en.
Gleich nach v. 1307 übergeht der Verfasser unseres
Gedichtes das Verkürzen der Zeit ,.Tunc abbreviabuntur
dies propter electos (Matth. 24, 22) ; nisi enim dominus ab-
brevlasset dies, vix salva esset omnis caro (V non fuisset
salva omnis caro)," um es erst nach der grausamen Verfol-
frunc; des Enoch und Elias durch den Antichrist v. 1496 bis
1503 zu erwähnen. Entschieden gereicht es seinem Gedicht
zum Vorteil, dafs er allen Umschweif vermeidet, wenn er
die alliremeinen Bemerkunfren über die Herrschaft der Perser,
Griechen und Römer übergeht. Der Dichter hebt nur das
Wichtiffste vom Erscheinen des xA^ntichrists hervor. Derselbe
kommt, wenn die Oberherrschaft von den Römern gewichen ist.
Dieselbe dauert noch fort in den FranQois, Alemant und Englois.
Adso erwähnt nur die Franzosen, er sagt: „Tamen quamdiu
reges Francorum duraverint, qui Romanum Imperium teuere
debent, dignitas Romani imperii ex tote non peribit, quia stabit
in regibus suis." Aus ihnen geht ein König Namens Konstantin
hervor, der das jjanze römische Reich beherrschen und nach
langjähriger Regierung auf dem Ölberge seine Krone nieder-
legen wird. Das sich hier unmittelbar anschliefsende „Hie erit
finis et consummatio Romanorum et Christianorum imperii" läfst
der Dichter vorsichtig aus, da er noch eine eingehendere Be-
schreibung des Königs jenes Imperiums und eine Schilderung
seiner Thätigkeit bis zu seinem Ende folgen läfst, und bringt
obijzen Gedanken vom Ende des Römerreiches mit einer Wieder-
holung, nämlich der Rückkehr Konstantins nach Jerusalem und
Der Lucidaire Gllleberts. 157
einem zweiten Besteigen des Ölberges in v. 142(3 — 33 nach
der Besiegung der Völker von Got und Magot. Über das
Überheben des Antichrlsts vergl. S. 149. Den König Konstantin
schildert der Dichter als von schönem Wuchs und Ansehen,
am Ende seiner Regierung als im Alter von hundertundzwölf
Jahren, welche Angabe zufolge des lateinischen Textes erst nach
v. 1396 nach der Rettung der Juden hätte eingefügt werden
dürfen, und sein Land als fruchtbar, blühend und im Frieden.
Im Libellus wird dieses Glück gestört durch die Erhebun<T
der Völker auf den Inseln Goch und Magoch. Der Könio-
wirft den Aufstand nieder, angespornt durch den Zuruf der
Schrift: „Rex Komanorum omne sibi vindicet regnum terrarum."
Es folgt die Unterjochung aller Inseln und Staaten, der Ver-
such, die Heiden zu taufen und die Bekehrung der Juden. So
im Libellus. Hier heifst es :
Tunc exurgent ab aquilone spurcissimae gentes, quas
Alexander rex inclusit in Goch et Mao-och. Haec sunt viofinti
duo (V. duodecim) regna, quorum numerus est sicut arena
maris. Quod cum audierit Romanorum rex, convocato exercitu
debellavit eos, et prosternet eos usque ad internecionem. Hie
semper habebit prae oculis scripturam itadicentem: „Rex Roma-
norum omne sibi vindicet reojnum terrarum." Omnes erg^o in-
sulas et civitates devastabit, et universa idolorum templa destruet,
et omnes paganos ad baptismum convocabit, et per omnia
templa crux Christi erigetur. In diebus illis salvabltur Juda, et
Israel habitabit confidenter (Jerem. 33, 16).
Ganz unnatürlich ist die Anordnung der Gedanken im
Gedichte. Hier stört die heihge Schrift jenes Erdenglück. Sie
ruft dem König zu v. 1354:
„Rois des Romains,
venge le roi des crestiains!"
Daran schliefst sich der Passus von der Eroberung aller
Länder bis zur Bekehrung der Juden von v. 1356 — 95, und
dann erst folgt der Aufstand der Völker auf Goch und Magoch
und ihre Unterwerfung. Stellen wir v. 1396 — 1424 vor
V. 1353 — 95, so haben wir die logische Aufeinanderfolge der
Gedanken des lateinischen Textes. Warum weicht hier der
Dichter, der sonst bei der Bearbeitung des Stoffes immer grofse
158 Der Lueidalre Gllleberts.
Gewandtheit zeigt und die Gedanken logisch zu verknüpfen
versteht, von der khiren lateinischen Disposition ab? Ein trif-
tiger Grund läfst sich nach unserem Dafürhalten nicht geltend
machen.
Mit der Rückkehr des Königs nach Jerusalem und der
Niederlesfuno; seines Renjiments auf dem Ölberjje folgt der
OD O OD
Dichter wieder dem Libellus und bezeichnet hier mit dem vorher
unterdrückten Satze „Ilic erit finis et consuramatio Romanorum
imperii" die Aufgabe des Königs von Rom als gelöst. Dann
macht Gillebert einen Zusatz und sich damit einer Wiederholung
schuldifj. Er läfst nämlich fye2:en den lateinischen Text v. 1434 — 9
O DO
den Antichrist nochmals in Jerusalem einziehen, In den Tempel
gehen und seine Macht verkünden, alles Gedanken, die er schon
v. 1218 — 29 weiter ausgeführt hat. Über das Erscheinen des
Elias und Enoch vergl. S. 153. Sie predigen dreiundeinhalb Jahre,
bekehren alle Juden und werden dann unter den grausamsten
Martern getötet. Hier erst, wo die Trübsal am gröfsten ist,
fügt der Dichter in unverkennbar künstlerischer Absicht das
Verkürzen der Zeit ein v. 1496 — 9, das zufolge des lateinischen
Textes schon nach v. 1307 hätte erwähnt werden müssen,
vergl. S. 156.
Über die Freude des Antichrists und der Seinigen auf dem
Olberge, seinen Tod und das Erstaunen seiner Anhänger über
den jähen Sturz ihres Herrn vergl. S. 153.
In den Schlufsversen der Abhandlung über den Antlclirlst
hält sich der Dichter dem Sinne nach Gicnau an Adso und er-
zählt, dafs die aus Schwachheit dem Antichrist Anheimgefallenen
bis zum jüngsten Gericht noch vierzig Tage haben, während
welcher sie bereuen und zu Gott zurückkehren können.
VV^ir sehen also, wie Gillebert sichtet und sondert. Sehen
wir von der uno^lücklichen Umstellung: S. 157 ab, so dürfen wir
O D '
doch alle übrioen als n;e8chickt und \vohl2;elun<Ten bezeichnen.
OD DO
Neben diesen Umstellungen erlaubt sich der Dichter Unter-
drückungen von Stellen, die für das ungebildete Volk zu spitz
gehalten, selbstverständlich oder schon erwähnt waren. Dann
übergeht er alles, was den Charakter des Absurden trägt und
O ' D
gegen die Tendenz seines Werkes war. Endlich läfst er Partien
aus, um andere um so stärker hervortreten zu lassen. Anderer-
Der Lucidaire Gilleberts. 159
seits führt er im lateinischen Texte nur angedeutete Stellen, wenn
sie zur Belehrung des Volkes dienten, weiter aus, versieht sie
mit Produkten eigener Phantasie, ja streut kleine Episoden von
allgemeinem Interesse ein, wie Joabs und Abners Kampfe, Sim-
sons Streiche und Liebesabenteuer, und llifst es an eigenen Be-
trachtungen, Belehrungen und Ermahnungen nicht fehlen.
Aufser den im Laufe der Untersuchuno; ofemachten Bemer-
kunojen über die Dissertation Schladebachs füoje ich noch fol-
Spende hinzu:
S. 1 schreibt der Verfasser Prole2:ommena statt Proleo^omena ;
gleich sei hier auch erwähnt auf S. 52 DIphtong statt Diphthong
und auf S. 53 Triphtong statt Triphthong.
S. 5 rechnet Schi, den proven9alischen Elucldarius unter
die Klasse der Bestialres, während das Werk eine 'Encyklo-
pädie ist.
S. 7 löst der Verfasser in der Überschrift des Lucidaire,
ebenso auf S. 24 und 41 die Abkürzuns; ml't durch mult anstatt
durch mout auf, was jedoch nur für sehr alte Denkmäler statt-
haft ist.
S. 27 wirft Schi, betreffs der orthographischen Differenzen
in Eio;ennamen die überflüssige Frage auf, ob diese Differenzen
auf Kosten der Kopisten zu setzen seien. Auf wessen Kosten
sonst?
S. 28 wird scheinbar A, B (C) ein gemeinschaftlicher Fehler
nachgewiesen. Schi, sagt: „A, C irren v. 1870, wenn sie schrei-
ben; et les .III. ordres jugeront anstatt .IUI., wie B richtig
aufweist." Doch eine o^enauere Einsicht in den lateinischen
Text zeigt, dafs .IIIL eine falsche und .IIL die einzig richtige
Lesart bietet. In L. Kap. XIII, C helfst es : Tunc ab angells
boni a malls ut grana a palels secernentur, et in qiiatuor ordlnes
dividentur. Dem entsprechen v. 2014 — 2019:
Car li angle departlront
les bons des max quis conistront,
si con de la pailie est sevre
li grains, quant il est esniere.
.iiii. ordres apres en feront,
qnant il devise les aront.
160 Der Lucidaire Gilleberts.
Jetzt foli^t die Aufzählun2: der vier Ordnunircn und ihr
Schicksal. Von der ersten sagt lionorius : „Unus ordo est
perfectorum cum deo judicantium", und Gillebert v. 2020 — 3:
„Li uns crt des esperitals
ki hai'rent viecs et mals
ki o dieu es sieges seront
et les .iii. ordres jugeront."
Auf wen anders als die drei fol^jenden Ordnungen soll les .iii.
ordres bezogen werden? Würde man mit Schi. .iiii. lesen, so
müfste die erste Ordnung sich selbst richten. Und etwa das
voraufgehende angle in v. 2014 als Subjekt zu jugeront in
V. 2023 anzunehmen, verbietet sowohl die Satzkonstruktion, als
auch der Sinn. Denn auf die Frage des Schülers, wer die
Richter seien, antwortet der Lehrer: „Apostoli, martyres, mo-
nachi, virgines", die also mit dem „judicantium" der ersten Ord-
nunor identisch sind. Es folojen dann die drei übrioren Ordnun-
gen, die ganz im Anschlufs an L in v. 2024 — 9 aufgeführt
werden.
S. 29. Von gemeinschaftlichen Zusätzen von A, C (B)
gegenüber B (C) kann nicht die Rede sein, nur von Lücken in
B (C). A, C (B) haben nicht zugesetzt, sondern B (C) hat
ausgelassen. Was nun den Sachverhalt im einzelnen anlangt,
80 irrt Schi., wenn er v. 264—5 (269—70) B (C) abspricht.
Sie stehen auf Bl. ISO^', Spalte a, v. 16 — 17 und lauten:
Li autres par leur granz doulors
et par leur corporeuz langours.
Dasselbe gilt auf S. 31 von v. 3593—4 (3391—2), sie befinden
sich auf Bl. 203'-, Spalte a, 15-16:
Cele que li patriarche ont
et cele ou li prophete sont.
S. 33. Wenn Schi, bei dem Plus von A,B (C) über C (B)
3698 — 701 (3495 — 8), also nur vier Verse, als fehlend und die
V. 3702—3:
envers cele qn'il porseront
en deu qu'il devant eis verront
Der Lucidaire Gilloberts. 161
unerwähnt läfsf, so begeht er einen Fehler, denn in C (B) fehlen
auf Bl. 75i" jene sechs Verse zwischen folgenden:
Sans fin vivront saln et haitie
und piain ierent de tote science,
die in meinem Texte v. 3(59 7 und 3704 entsprechen.
S. 34. Die in B, C fehlende und sich eng an „diaboliis ejus
maleficiis corpus alicujus intrabit, et illud apportabit, et in illo
loquetur" des Kap. X, E im Elucidarius anlehnende Stelle ist
nicht vollständio; o^eo^eben. Es fehlen die Ein^ano-sverse 1262 — 3
(1199—1200):
Et la QU trovera les mors,
fera diable entrer el cors.
S. 38. Hinter v. 2081 (1924) fehlen in A noch folgende
Verse von B, C :
En paradiz le glorieuz
en serez mes toz jors joieus.
S. 39. Mit dem Verse „Ne en euer d'ome ne monter" ist
die A fehlende Stelle noch nicht zu Ende, es schliefsen sich
noch an v. 2442 — 3:
la grant joie que diex dorra
a toz ceuz que il amera.
S. 41. Dafs bei einer Ausgabe des französischen Werkes
auf Zusammenstellung eines ausreichenden kritischen Varianten-
apparates Bedacht genommen werden mufs, ist wohl nur für
Herrn Schi, nicht selbstverständlich.
S. 42 nennt der Verfasser die Handschriften von x^,B, C,
warum nicht einfach A,B, C?
S. 49, Anm. 1. Man wird, wenn gloire zu glore wird,
im Pikardischen nicht von einem Ubergano:e des oi zu o reden
dürfen, da glore nicht aus gloire, sondern aus glorie entstan-
den ist.
S. 55. Dafs aus lat. e oder i in «[edeckter Silbe ie ^e-
worden wäre, ist im Reime nirgends zu belegen.
Archiv f. n. Sprachen. LXXIII. 1 1
162 Öer Lucidaire Gilleberis.
Zum Schlufs sei mir noch vergönnt, den Verwaltungen
der Arsenal- und Nationalbibliothek zu Paris und des britischen
Museums, vor allem aber meinem hochverehrten Lehrer, Herrn
Prof. Dr. H. Suchier, der mir stets mit Rat zur Seite stand,
sowie Herrn C. Kohler für die mir erwiesene Freundlichkeit
in der Vergleichunff mir zweifelhafter Lesarten, meinen herz-
liebsten Dank auszusprechen.
Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben.
Von
Hermann Isaac.
I. Kritische Einführung.
Die Neuheit der in der folgenden Untersuchung anzuwen-
denden Methode mas: es entschuldigen, wenn ich in diesen ein-
leitenden Erörterungen weiter aushole, als es für die vorliegende
philologische Aufgabe unbedingt erforderlich ist. Zwar ist
diese Methode nicht so neu, dafs sie nicht bereits — das darf
ich objektiv behaupten — einen praktischen Erfolg aufzuweisen
hätte. Da aber die engere Shakspere-Gemeinde in Deutsch-
land verhältnismäfsig klein ist und keineswegs alle diejenigen
umfafst, welche ein mehr als ästhetisches Interesse an dem
gröfsesten Dramatiker nehmen, so darf ich meinen Aufsatz im
vorjährigen Shakspere-Jahrbuch — „die Sonett-Periode in Shak-
speres Leben" — wohl nicht als allen Fachgenossen bekannt
voraussetzen und die Berechtigung des darin eingeschlagenen
kritischen Verfahrens, mich zum Teil wiederholend, vor einem
gröfseren Leserkreise entwickeln.
Als ich im Jahre 1877 für die in den beiden fols^enden
Jahren veröffentlichte Arbeit über Shaksperes Liebes-Sonette*
seine lyrischen Gedichte einem eingehenden Studium unterzog,
fiel mir auf die Übereinstimmung zahlreicher Bilder und Ge-
danken, ja ganzer Sonette mit gewissen Stellen in den Dramen.
Ohne einen bestimmten praktischen Zweck vor Augen zu haben,
* „Zu den Sonetten Shaksperes": Herrigs Archiv Bd. LIX, S. 155—204,
241—272; LX, 33—64; LXI, 177—200, 393—426; LXII, 1—30, 129—172.
11*
164 Die Hamlet-I'eriorle in Shakspcres Leben.
schien es mir interessant, die Dramen nach solchen ParalleHsmen
zu durchforschen'. Die Ausbeute dieser Arbeit war eine un-
erwartet, staunensNvert reiche: es fand sich, dafs es in den So-
netten verhähnismäfsig' wenige Bilder, Gedanken, Empfindungen
gab, die nicht in den Dramen ihre mitunter mehrfache, ja viel-
fache Wiederholuns: fänden. Wäre wohl eine ähnliche Erschei-
nuno; bei unseren Klassikern nachzuweisen? — Sicher nicht.
Shakspere hatte nach dieser Richtung hin einen anderen Stand-
punkt seinen Produktionen gegenüber als heutige Dichter; was
heute den Vorwurf beschränkter Fruchtbarkeit begründen würde:
sich selbst zu lüiederholen — hielt Shakspere für erlaubt. Ein
Dichter von so unermefslicher Schöpferkraft durfte das freilich,
ohne seinen Ruhm zu schädigen, thun.
An diese Beobachtung knüpfte sich als selbstverständlich
die Frage nach dem synchronistischen Verhältnis dieser Wieder-
holungen: kehrten sie in den Stücken der verschiedensten
Perioden wieder? fand sich z. B. ein Sonett-Gedanke im Tit."^
und Temp., ein anderer in Gentl. und Lear^ oder auch nur in
R. III und H. VIII zusjleich? — Nein. Die überwiec]jende
Mehrzahl der spätesten Dramen stand mit den Sonetten in
keinem gedanklichen oder poetischen Zusammenhang. Dagegen
fanden sich die Parallelen zu sämtlichen Liebes- und dem
gröfseren Teile der Freundschafts-Sonette mit unerheblichen
Ausnahmen nur in den Jugenddramen. Zu dem anderen Teile
der Freundschafts-Sonette — offenbar der reiferen, klassischen
Produkte — fanden sich eine beträchtliche Reihe zum Teil auf-
fallendster Übereinstimmungen in den Dramen der letzten neun-
ziger Jahre des 16. und der ersten des 17. Jahrhunderts. Das war
eine erfreuliche Entdeckung. Ohne dafs ich die Parallelismen
im einzelnen gesichtet, nach Sonett-Gruppen zusammengestellt
hatte, war mir klar, dafs die Abfassungszeit der Sonette sich
von den letzten Achtzigern bis in den Anfang des neuen Jahr-
himderts erstrecke; dafs man zwei Sonett-Perioden, eine jugend-
liche und eine reifere, zu unterscheiden habe.
* Die Titel der einzelnen Dichtungen gebe ich — mit geringfügigen
Abweichungen — in den allen Shakspere-Kundigen geläufigen Abkürzungen
des Shakspere-Lexikons.
Die Ilamlet-Penüde in Shaksperes Lehen. 165
Weiter aufkläreod wirkten die massenhaften Parallelen, die
ich in den zeitgenössischen Sonettisten und schlierslicli auch in
den italienischen Muster-Lyrikern — Dante, Petrark und Tasso —
ja, sobald von Liebe die Rede war, selbst in den Epen jener
Zeit — im „Befreiten Jerusalem", im „Rasenden Roland", im
„Don Quixote" — entdeckte. Überall dieselben Gedanken —
d. h. die aus den betreffenden beiden Dialogen Piatos ent-
wickelten italienischen Liebestheorien — überall dieselbe Ein-
kleidung im Ausdruck, Bild, Konzept, in der Antithese, Hy-
perbel — d. h. die von Petrark kultivierten Formalien, die
wohl zum gröfsten Teile proven^alischen Ursprungs sind. Wes-
halb sollte also wohl der einzelne Dichter sich nicht selbst
wiederholen, wenn er ohne Bedenken alles^ luas er in anderen
Ulditern fand, zu seinem Eigentume machte'^ Die Unselbständig-
keit der damaligen Lyriker geht so weit, dafs sich eine Reihe
von Petrarkischen Sonetten mit unbedeutenden Abweichungen
bei verschiedenen anderen Dichtern wiederfinden; das traurig
berühmte Sonett:
Mich floh der Friede, floh die Kraft zum Kriege;
Ich lodre, bin ein Eis, frohlock und bange .....
hat jeder mir bekannte Sonettist nachgeahmt, d. h. zum Teil
nahezu übersetzt, Shakspere im 75. Sonett mit der ihm eigenen
selbstherrlichen Art.
In der genannten Arbeit des Shakspere-Jahrbuches, die
mir erst sechs Jahre später möglich wurde, machte ich den
Versuch, die Abfassungszeit der Sonette nach diesen Parallelis-
men zu bestimmen ; was mir durch die auffallende Beobachtung
erleichtert wurde, dafs gewisse Sonett-Gruppen sich an gewisse
andere Dichtungen hervorragend anlehnten. So liefs sich der Ge-
dankengehalt der ersten siebzehn sogenannten FrokreationsSonetie
fast vollständia; in Ven. nachweisen. Dafs also Ven. womöglich
schon in Stratford gedichtet, die Prokreations-Sonette etwa ums
Jahr 1599 entstanden und an Pembroke gerichtet sein sollten, war
unmöoflich: beide Dichtungen o-ehörten offenbar in eine sehr frühe
Zeit des Shakspereschen Schaffens. Wenn nach Ven. Rom. die
merkwürdigsten Übereinstimmungen mit diesen Sonetten und
noch auffallendere mit den Reiseliedern aufwies, so war damit
166 Di© Ilaiulet-Periode in Sliaksperes Leben.
angedeutet, dafs Freundschaft und Liebe nicht zu verschiedenen
Zeiten seines Lebens das Herz unseres Dichters erfüllt haben
können. Die Sonett-Reihe, der ich den Namen „Liebeslust und
-leid'^ beilegte, schlofs sich unzweifelhaft an LL.^ an — unter
anderem ist ein Sonett fast wortgetreu in dem Drama wieder-
holt. Wenn ich nun auch zugeben will, dafs einzelne Sonette
von mir für jugendliche angesehen sein mögen, die in eine spä-
tere Zeit gehören,** so halte ich doch die Entstehung von
ca. 120 Sonetten in den ersten neunziger Jahren (und früher)
80 lange für fest bewiesen, als mir nicht neben meinen ca. 350
Parallelismen mit den Jugeuddichtungen ebenso viele in spä-
teren Dramen nachgewiesen werden. Eine solche Widerlegung
meiner Theorie wird nie gelingen. Neben diesem litterarhisto-
rischen hat meine Untersuchung noch einen anderen Erfolg ge-
habt, der mir zu grofser Genugthuung gereicht: die abenteuer-
liche Masseysche Sonett-Interpretation, von der ich lebhaft be-
dauere, dafs sie jemals in Deutschland irgend welchen Anklang
gefunden hat, ist endgültig aus dem Felde geschlagen. Wenn
jetzt noch jemand für möglich halten sollte, dafs Shakspere bis
zum Ende des Jahrhunderts im Interesse des Earl of South-
ampton und seiner Miss Vernon Liebesgedichte geschrieben oder
gar dem eigens von Massey erfundenen unsittlichen Verhält-
nisse ZAvischen dem jungen W^ Herbert, späteren Earl of Pem-
broke, und der doppelt so alten Lady Penelope Rieh poetischen
Vorschub geleistet habe, so kann man nur annehmen, dafs er
die einschlägige Litteratur nicht kennt.
Aus dem Vorstehenden ergiebt sich die Möglichkeit als
solche, Parallelismen zwischen den einzelnen Dichtungen Shak-
speres für die Bestimmung ihrer Abfassungszeit zu verwerten.
Und obgleich ich mich nicht der überschwenglichen Hoffnung
hingebe, dafs auf diesem Wege die Chronologie aller Dramen
mit annähernder Gewifsheit festzustellen sein wird, so glaube
ich doch bestimmt, dafs eine eingehende Betrachtung der ge-
* Love's Labour's Lost.
** Auf jedes Sonett kommen durchschnittlich drei Parallelstellen in
den Dramen; aber nicht jedes Sonett hat Parallelstellen. Und aus sechzehn
Zeilen einen bestimmten poetischen Stil zu erkennen, ist mitunter un-
möglich.
Die Ilamlet-Puriode in Shüksperes Leben. 167
danklichen Übereinstimmungen für dieses Gebiet der Shakspere-
Forschung vielfach nützlich zu verwenden sein wird. Vor zu
weit gehenden Erwartungen mufs uns schon die eine Thatsache
bewahren, dafs die Parallelstellen in den späteren Dichtungen
(von der Mitte der Neunziger ab) bei weitem nicht so zahlreich
sind als in den Jugenddichtungen: der männliche Dichter mit
seiner unendlichen Gedankenfülle hat naturo-emäfs viel grerinorere
Veranlassung, sich zu wiederholen, als der jugendliche An-
fänger, der wenigstens auf dem Gebiete der Liebe in einer
konventionellen Form des Denkens und des poetischen Aus-
drucks befangen ist.
Was aber können einzelne oder in geringer Anzahl vertretene
Parallelismen beweisen'^ Weshalb sollte der Dichter nicht einen
im Jahre 1595 glücklich gefundenen prägnanten Ausdruck, ein
sprechendes Bild im Jahre 1605 wiederholen? Waren ihm doch
solche Reminiscenzen nur zu nahe o;eleo;t, da er seine früheren
und frühesten Erzeugnisse immer wieder auf der Bühne an
seinem Geiste vorüberziehen sah. Und konnte nicht zu noch
weiter auseinander liegenden Zeitpunkten — auch ohne diese
mnemonische Anregung — die gleiche Situation den gleichen
Gedanken in ihm erwecken?
Gewifs. Und so finden wir wirklich Übereinstimmungen
zwischen sehr frühen und sehr späten Dramen, die sich vor-
zuo^sweise freilich mehr auf äufserliche Darstelluno^smittel als
auf den geistigen Gehalt erstrecken. Darum können auch solche
formalen Wiederholungen niemals an sich beweisend sein, son-
dern höchstens anderweitig erbrachte Beweise stützen helfen. —
Diese Beobachtung trifft aber doch nur die eine Seite der Sache :
sie für die Bedeutung der Parallelstellen als allein mafserebend
zu halten und die letzteren als kritisches Material gänzlich zu
verwerfen, hiefse oberflächlich verfahren. Ich stelle ihr eine
andere Beobachtung gegenüber, die jeder ohne besonders tiefe
Kenntnis Shaksperes zu machen im stände ist. Man stelle die
Liebesverhältnisse in Rom. und in Wint. in Gedanken neben-
einander: es ist wahr, sie sind ihrem Wesen nach nicht iden-
tisch, in Juliet ist die heifs begehrende, in Perdita die keusch
beherrschte Liebe verkörpert; aber Florizel stürmt, wie Romeo,
über alle äufseren Hinderpisse, die vor der Erfüllung seiner
168 Die llamlet-Periocle in Slulk^;pelcs Leben.
Leidenschaft liegen, hinweg; er verzichtet lieber auf den
Königsthron als auf sein Sch'aferniädchen. Die Leidenschaft
der Liebe ist in Rom.^ wie bekannt, mit unerreichter Kraft
geschildert, und dennoch sind nur w^enige Töne aus den Er-
güssen Romeos in das „Wintermärchen" hinübergedrungen. —
Wenn nun doch einmal Shakspere so wenig Bedenken trägt,
altes Material noch einmal zu verwerten — weshalb denn hat
er es hier nicht gethan? — Als Shakspere Rom. dichtete, kam
es ihm darauf an, die Glut der Leidenschaft, die in ihm selbst
wogte, aus sich herauszugestalten, objektiv zu machen, um sich
innerlich zu befreien; er wollte alles sagen, was er litt, ohne
Verhalten, ohne Verhüllen, mit aller Entfaltung seiner poetischen
Mittel; daher die üppige, hinreifsende, und die fremdartige
Pracht der Einkleidung, die der damals italianisierende Dichter
wollte. Rom. ist eine höchst persönliche Dichtung. Als Shak-
spere das „Wintermärchen" schrieb, wufste er,_dafs die wahr-
haft tiefe Liebe zu voll von sich ist, um auch nur einen Ge-
danken an prunkvolles Erscheinen übrig zu haben; dafs sie
nicht „im Verkünden donnert", sondern mehr ahnen läfst als
ausspricht, mehr handelt als redet. Damals stand er über seinen
Stoffen. Die Darstellung der Liebe im „Wintermärchen" zeigt
eine ganz andere, eine viel höhere Kunstübung, für welche der
Dichter den glänzenden — Tand seiner Jugendwerke nicht mehr
verwenden konnte.
Diese Beobachtung kann man leicht dahin verallgemeinern,
dafs Shakspere überhaupt sehr wenig aus seiner ersten SchafFens-
Periode in seiner dritten wird haben gebrauchen können. Und
ebenso leicht wird man aus ihr das^eio'entliche, für diese ^e-
samten Wiederholungen mafsgebende Princip ableiten können:
der Dichter wird doch immer nur diejenigen Gedanken aus
früheren Schöpfungen wiederholt haben, die auch noch seinem
späteren geistigen Standpunkte nahe lagen, von ihm nicht über-
wunden waren. Und so werden in der dritten Periode die
Anklänore an die Dichtuno-en der ersten notwendis: weniffer
zahlreich sein müssen als an die der zweiten; und diese
werden wieder numerisch zurücktreten müssen vor den Pa-
rallelismen, welche die Dichtungen der dritten Periode unter-
einander haben.
Die Ilanik't-Pcriodc in Sliakspcres leben. IGO
Und SO ist es in der That. Die Parallelstellen der Dramen
der mittleren Periode, d. h. aus der zweiten Hälfte der Neunziger
und dem Beginn des neuen Jahrhunderts liegen mir geordnet vor.*
Ich nehme nur diejenigen Stücke, welche allgemein der zweiten
Periode zuerkannt werden; Ado, As, 1,211. IV, H. V, Merch.,
IlamL, Tic, Wiv., Cces.; andere, die meiner Ansicht nach hier-
her gehören, aber von anderen Forschern zum Teil sehr viel
später gesetzt werden, lasse ich fort. Für diese Stücke habe
ich in den folgenden Jugenddramen : 1 IL F/, Err., Mids., Gent!.,
2H. VI, Compl, Shreic, John, KU 15 Parallelstellen gefun-
den ; in den spätesten Dramen : Ant,, Tim., H. VIII, Wint.,
Temp. 22; untereinander haben sie 95 mehr oder weniger
auffallende Übereinstimmunoren. Und nun noch eine im Hin-
blick auf die Jugenddramen äufserst bezeichnende Thatsache;
in den folgenden vier Stücken : Rom., LL., AWs, R. III, habe
ich 40 Parallelen entdeckt, d. h. diese Dramen stehen hin-
sichtlich ihrer Übereinstimmungen in demselben Verhältnis zu
den zuerst genannten, in welchem diese zueinander stehen.
Und nun ist LL. mit 13 Parallelstellen nach dem Titel der
Quarto: von 1598 („newly corrected and augmented") sicher,
Rom. mit 18 Parallelstellen höchst wahrscheinlich in der zweiten
Hälfte der Neunzio-er vom Dichter überarbeitet worden ; dasselbe
hat man verschiedentlich von R. III (5 Parallelstellen) und .4//'^
(4 Parallelstellen) angenommen. Sollte es wirklich blofser Zu-
fall sein, dafs Rom. und LL., welche die zahlreichsten und
auffallendsten Anklänge an die Jugendsonette enthalten (39, 33),
also sicher zu einer frühen Zeit entstanden sind, sich gleich-
zeitig an die Dramen der mittleren Periode so nahe anschliefsen ?
AVer könnte das glauben I Hier haben vielmehr die Parallel-
stellen den untrüglichen Beweis einer zweiten Bearbeitung er-
bracht.**
So ist es wohl nicht als eine optimistische Einbildung zu
* Sie sind nach einmaliger Lektüre zusammengestellt; es ist also sehr
wahrscheinlich, dafs die folgenden Zahlen sich später einmal vergröfsern
werden; ihr gegenseitiges Verhältnis dagegen wird schwerhch erhebliche
Veränderung erleiden.
** Ich kann vorläufig, da ich auf die Vorführung meines umfangreichen
Materials verzichten mufs, nur ai> den Glauben der Leser appellieren; aber
170 l^iü Hamlet-Periode in Shakspcres Leben.
betrachten, dai's die Gedanken -Übereinstimiiuingen zwischen
den einzehien Dichtungen als Schlufsmaterial für Altersbestim-
mungen verwertet werden können; das Abfassungs-JaAr können
sie zwar nicht ergeben, aber in vielen Fällen , die ungefähre Ab-
fassungszeit. Das wird niemand bestreiten können, der die
looische V^orauseetzunof für diese oranze Art der Untersuchuno^
zugiebt, welche lautet : Das Bedenken moderner Dichter und
selbst moderner Schriftsteller, lieute nicht zu sagen, ivas man
(jestevji, vor einem oder mehreren Jahren schon einmal gesagt hatte,
dieses Bedenken kannte Shakspere nicht. Er iviederholte, 2cas ihm
nach seinem augenblicklichen geistigen Standpunkte der Wieder-
holung icert schien, vorzugsweise also Gedanken, deren Entstehimg
in eine nahe Vergangenheit fiel. Und dieses Fundament der vor-
liegenden Arbeit wird schwerlich jemand angreifen können, der
gesehen hat, wie sich ganze Sonette in den Dramen wieder-
finden : der erfahren w^ird, dafs nicht blofs einzelne Gedanken,
sondern ganze Gedankenm/i^?i in mehreren Dramen zugleich
auftreten. Eine plausible Erklärung für eine solche Erschei-
nung ist doch nur zu finden in dem hervorragenden Interesse,
welches diese Gedanken zu einer bestimmten Zeit seines Lebens
für den Dichter hatten.
Es giebt eine Anzahl von Stücken, bei denen uns die
sonst für Altersbestimmungen gebrauchten Indicien im Stiche
lassen; eines von ihnen ist Cymheline. An ihm wollen wir
ein Beispiel geben für die Bedeutung, welche Parallelstellen
unter Umständen für chronologische Bestimmungen haben
können.
Das Stück wird von den meisten Kritikern entweder in
das Jahr 1609 (Malone, Skottowe, Dowden) oder 1610 (Delius,
Fleay, Stokes) gesetzt ; nur Drake — wie auch ursprünglich
Malone — meint, dafs es 1605, Chalmers,* dafs es 1606 ver-
leb hoffe, dafs mir in einem der nächsten Jahre die detaillierte Entwicke-
lung dieser Theorie möglieh sein wird.
* Fleay verteilte anfangs die Abfassung des Stückes auf die Jahre
1606-1608.
Die Hamlet-Periode in Sliakspeic? Leben. 171
fafst sei. Welche Gründe werden für diese späte Abiiiesungs-
zeit angeführt?
1) Im Jahre 1610 oder 1611 führte ein Dr. Simon Forman
ein Tagebuch, in welchem er eine Aufführung von Cymb. be-
schrieb. Er fügte weder hinzu, wann er der Aufführung bei-
gewohnt, noch ob das Stück alt oder neu sei: dennoch aber
meint man, dafs er es wahrscheinlich kurz vorher gesehen
habe und dafs es ein ziemlich neues Stück gewesen sei.
Wenn andere nun anzunehmen ofeneigt sind, dafs es schon
ein altes Stück w^ar, das er schon lange kannte, so ist in der
Notiz nichts zu entdecken, welches dieser Annahme wider-
spräche. Sie beweist nur, dafs Cymb. nicht nach 1610 oder
1611 verfafst ist, sondern in irgend einem beliebigen früheren
Jahre.
2) In ßeaumonts und Fletschers „Philaster" soll nach Fleay
der Charakter der Euphrasia dem Imogens nachgebildet sein;
auch „andere Ähnlichkeiten" will man entdeckt haben, die mir
unbekannt sind, und schliefslich — hierauf wird von den ver-
schiedenen Kritikern ein grofses Gewicht gelegt — soll eine
Stelle im „Fhilaster" eine Reminiscenz an eine Stelle in Cymb.
enthalten ; die Stellen lauten :
and the air oft (this country)
Revengingly enfeebles rae; coulcl this carte,
A very drudge of nature's, have suhdued me
In my profession ? Cymb. IV, 2, 3.
The gods take part against me; coidd this boor
Have held me thus eise? Phil. IV, 1.
Offenbar hat hier eine ähnliche Situation eine ähnliche
Wendunor hervorojebracht; aber eine iro^end etwas beweisende
Parallelstelle ist das nicht. Ich wenigstens, wenn ich dem
Leser -weiter nichts als so schwache und scheinbar zufällige
Anklänge zu bieten hätte, würde die vorliegende Arbeit nicht
unternommen haben. — Nehmen wir nun, da wir den „Phi-
laster" nicht kennen, immerhin als richtig an, dafs ihm Cymb.
mehrfach als Muster gedient habe, so fragt sich: wann wurde
er verfafst? Nach Dyce 1'608, nach Malone 1608—1609, nach
172 Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben.
Fleav 1610 — 1611. Also seine Abfassunorszeit scheint ebenso
unsicher zu sein wie die Cymb.s. Nehmen wir an, dafs
das eine oder das andere Datum richtis: sei, so würde das
immer nur beweisen, dafs Cymb. entweder 1608 oder 1609
oder 1610 schon existiert habe; verfafst mochte es einige Jahre
früher sein.
3) Dowden findet in Cymb. dieselbe versöhnte Lebens-
anschauung wie in Wird, und Temji. ; und Furnivall will wahr-
scheinlich machen, dafs Cvmb. Wint. näher stehe als irgend
ein anderes Stück: „es handelt von einem Vater, der durch
eigene Ungerechtigkeit die Familienbande bricht und dann
wieder knüpft" — das sollte das Hauptinteresse in Cymb.
sein? — ..und weist auf Shaksperes erneutes Familienleben in
Stratford, nachdem er London verlassen hatte, und auf den
Gegensatz hin, den er zwischen Land- und Hofleben empfunden
haben mufs." — Vielleicht könnte die erstere Behauptung
einen bereits vorhandenen Beweis stützen. In der zweiten
giebt es keinerlei logische Nötigung; denn niemand kann
ihre Prämisse zugeben, dafs ein Dichter ähnliche Handlun-
gen auch in derselben Zeit seines Lebens bearbeitet haben
müsse.
4) Die sogenannte ..Metrical Test" führt zu keinem ein-
heitlichen Resultat für die Abfassungszeit von Cymb. Sie
steht, wie mir scheint, überhaupt auf schwachen Füfsen. Be-
hauptungen der Kritiker, wie: der Versbau dieses oder jenes
Stückes verweise es in eine späte oder frühe Zeit, beruhen in
der That häufig auf einem ganz allgemeinen, sehr subjektiven
und darum leicht fehlbaren Eindruck. Beweis dieses Stück,
dem Malone und Fleay — doch auch zum Teil auf Grund
solcher Kriterien — anfangs eine frühere, dann eine spätere
Entstehungszeit gegeben haben ; Beweis vor allem AlVs, das
Knight alle Anzeichen der unreifsten Periode (1590), Hertzberg
alle Anzeichen der reifsten Periode (1603) zu tragen scheint,
und beide gehören zu den tiefsten Shakspere-Kennern. Man
sollte meinen, dafs die Metrical Tests auf genauen Angaben
über den inneren Bau der Verse beruhten, sich auf den Ge-
brauch irregulärer Cäsuren, überzähliger Silben vor der Cäsur,
des Anapäst an Stelle des Jambus und vorzugsweise des
Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben. 173
Trochäus an anderen Stellen als im Besinn und nach der
Cäsiir der Verse, auf die Zahl der Versunseheuer "^ erstreck-
ten; denn darin besteht doch vor allem die mit den Jahren
wachsende Nachlässigkeit des Shakspereschen Versbaus. Das
ist nicht der Fall. Sie setzen sich aus äufserlicheren Wahr-
nehmungen zusammen: dem weiblichen Versschlufs (Double
Ending), dem tonlosen Versschlufs (Weak Ending, z. B. of,
if, and etc.), dem schwach betonten (Light Ending), abge-
brochenen und sechsfüfsigen Versen (Alexandrinern). Von diesen
sind die abgebrochenen (ein-, zwei-, drei-, vierfüfsigen) Verse
ein vollkommen unbrauchbares Kriterium, wie ein Blick auf
die Tafeln bei Fleay lehrt; eine zeitweise principielle Neigung
oder Abneigung des Dichters solchen Versen gegenüber läfst
sich schwerlich entdecken. Die Zahl der Alexandriner und der
Double Endings nimmt allerdings stetig zu; aber daran, dafs
man nach dem prozentualen Verhältnis derselben einfach die
Reihenfolge der Dramen bestimmen könnte, ist nicht zu denken.
Ein flagrantes Beispiel der Unzuverlässigkeit des letzteren Kri-
teriums für genauere Zeitbestimmungen bilden die beiden IL IV;
sie sind nach allgemeiner Annahme mit höchster Wahrschein-
lichkeit in wenigen aufeinander folgenden Jahren verfafst, und
doch haben von 1 H. IV nur 3 bis 4 Prozent der Verse, von
2 H. IV 12 bis 13 Prozent Double Endings. Wenn also Cyrab.
ebenso zahlreiche weibliche Ausgänge hat wie Co7\, Oth.^ Lear^
so ist damit mit nichten gesagt, dafs es mit diesen Stücken
gleichzeitig ist ; sondern nur, dafs es ziemlich sicher nicht mehr
im 16. Jahrhundert verfafst ist. Und dafs solche äufseren An-
zeichen niemals den Zeitpunkt, sondern höchstens die unge-
fähre Periode der Abfassung angeben können, ist ja im Grunde,
wenn man sich das poetische Schaffen vergegenwärtigt, das mit
einem Rechenexempel absolut nichts gemein hat, auch selbst-
verständlich. Noch unzuverlässiger erscheint die Weak Endins
Test ; wenn wir sehen, dafs hier die Zahlen nur bis 52 reichen,
und dafs z. B. Otli. 0, Lear 1, Mach. 2 und Ant. 28 Weak
* So möchte ich die schon in mittleren Dramen sich zeigenden Verse
nennen, deren bunt durcheinander gewürfelte Metren keinen rhythmischen
Eindruck im Gehör zurücklassen.
174 Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben.
Kndings hat, so werden wir nicht ohne weiteres glauben kön-
nen, dafs Cymh. und Cor. und Temp. alle in eine Zeit gehören,
weil sie den grleichen Prozentsatz von tonlosen Versschlüssen
haben. Die Tafel der Light Endings giebt ein ziemlich buntes
Bild: ^4//'.^ hat ca. 1 Prozent, John und 1 H. IV 1/3 Prozent,
Lear Y3, Oth. gar ^/jg Prozent und Mach, wieder l^/g Prozent.
Was will es da sagen, wenn Cymh. mit Wint. und Temp.
cirka 3 Prozent hat und Cor. und Ant. mit 2^/2 Prozent
ihnen am nächsten steht? Daher ist es denn auch durchaus
nicht widersinnig, dafs die Alexandriner-Test diesen Krite-
rien widerspricht und Cymb. mit Meas.^ Haml., Troil., Cor. zu-
eammenbrinst. Die Alexandriner-Test ist aber, wenn wir das
ziemlich beharrliche Fortschreiten der Zahlen von 0 {Err.^
Mids.) auf 78 (Oth.) verfolgen, von den vieren das beste Be-
weismittel.
5) Die Rhym.e-Test ist entschieden schlufsfähiger als die
bisher beliebten Metrical Tests; die Differenz der Anfangs- und
Endzahlen ist eine sehr grofse (1028 LL. — 2 Temp.) und die
Abnahme eine ziemlich regelmäfsige. Dafs sie ein untrügliches
Bild von der Reihenfolge der Dramen gäbe, daran ist freilich
auch bei ihr nicht zu denken. Cymbeline hat 44 Reime in
den dramatischen Reden, von denen zwei oder drei zw^eifelhaft
sein mögen, also 88 Reimverse.* Danach gehört Cymb. genau
mit Haml. zusammen (Verhältnis der Blankverse zu den Reim-
versen 30 : 1); sehr nahe kommen ihm Otlt. und Lear.
Resümieren wir das bisherige Resultat unserer Unter-
suchung, 80 werden wir — unter der zwar sehr verbreiteten, aber
noch unerwiesenen Voraussetzung, dafs Shaksperes dramatische
Thätigkeit sich etwa bis zum Jahre 1610 erstreckt habe —
sagen können : Cymb. wurde irgemlwann im ersten Jalirzehnt
* Fleay giebt 107 an. Ich habe schon vor Jahren zu meiner Arbeit
über Shaksperes Aussprache die Dramen nach Keimen genau durchsucht,
und jetzt Cymb. einer nochmaligen Durchsicht unterzogen; ich mufs daher
die Angabe Fleays als unrichtig bezeichnen. — Auch seine Angabe über
die (lesamtzeilenzahl von Mach. (1993) ist falsch; sie beträgt 2108. Ant.
hat bei Fleay den Umfang von 3964 Versen erhalten; es hat nur 2989.
HoHentlich sind das die einzigen Fehler, die den Gebrauch der sehr wert-
vollen Zusammenstellung erschweren.
Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben. 175
des 17. Jahrhunderts verfafst. Geben wir den Alexandriner-
und Reim-Tests den Vorzug, wie sie es allerdings verdienen,
so wurde Cymb. in der Zeit der HamL, Meas.^ Troil.^ Oth., Cor.,
Lear, also praeter propter in den ersten beiden Dritteln dieses
Jahrzehnts verfafst. Da es aber nach beiden Tests Tlaml. am
nächsten steht, so ist es am wahrscheinlichsten in das erste
Drittel des Jahrzehnts zu verlegen.
Wie kommen wir nun aus diesem Dilemma? — Durch
das Kriterium der Gedanken- Parallelismen. Cymb. hat mit
R. III, 1, 2 H. IV und Tic. 7 Parallelstellen; es neigt also be-
deutend ins 16. Jahrhundert. Mit den spätesten Stücken —
Ant., Tim., H. VIII, Wint., Temp. — hat es nur 11 Paral-
lelen; in den anderen Dramen des 17. Jahrhunderts — Ca's.,
Meas., Troil.f Mach., Lear, Oth., Cor. — finden sich deren 20.
Es steht also hinsichtlich seiner Parallelstellen fast genau auf
der Stufe von Troil., Mach, und Lear. Was nun für das
Alter von Cymb. entscheidend ist , sind die auffallend zahl-
reichen und bedeutsamen Parallelen , die es mit Haml. auf-
weist — ein Punkt, in welchem ihm die genannten Stücke
sehr nahe kommen. Cymb. hat 9 Parallelstellen mit Hamlet.
Es giebt in den späteren Perioden nicht wieder zwei Stücke,
die so merkwürdige, ausgeführte Wiederholungen aufweisen
wie Cymbeline und Hamlet, wie sich im Verlaufe dieser
Arbeit zeigen wird. Wie wäre es nun w^ohl denkbar, dafs
ein Stück aus dem Jahre 1610 so viele Anklänge an
Hamlet haben sollte, während Wint. und Temp. so gut wie
keine zeigen? Es ist eben undenkbar; Cymbeline ge-
hört nicht in die Periode dieser Dramen , es gehört in
die ersten Jahre des 11. Jahrhunderts und wurde entweder
kurz vor, oder gleichzeitig mit, oder bald nach dem Haml.
von 1604 verfafst. Ein noch genaueres Datum könnte
nur eine eingehende Betrachtung der etwa gleichzeitigen
Dramen ergeben, die wir an dieser Stelle nicht vornehmen
könnten.
Könnte nun nicht Fleays Ansicht die richtige sein, welcher
meint, dafs die auf Imogens Flucht und Bellario bezüglichen
Scenen des dritten und vierten Aktes, in denen die zahlreichsten
Keime vorkommen, früher gedichtet, der Rest des Stückes um
17G Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben.
li)10 vollendet sei? — Das ist eine kleinliche Verwendung der
llhynie Test. Die ersten Akte sind keineswegs von Reimen
so entblöfst, dafs sie mit Temp. und Wint. verglichen werden
könnten; im dritten und vierten Akte werden sie nur darum
zahlreicher, weil das lyrische Element bedeutender hervortritt.
Nichts aber kann die UnUhnlichkeit des dichterischen Schaffens
in Cymb. und Wint. deutlicher beweisen als ein Vergleich des
Wald-Idylls im ersteren mit dem Dorf-Idyll im letzteren Stücke:
dort bedarf der Dichter zu lyrischen Wirkungen der Reime,
hier ver-scliinäht er sie. — Und die Parallelstellen mit Haml.
leoen oresfen Fleavs Ansicht das entschiedenste Veto ein: gerade
im ersten Akt, dann im fünften, also in Teilen, die so viel
später entstanden sein sollen, sind sie am stärksten vertreten.
Als ich die Dramen der mittleren Periode nach Parallelen
mit den Sonetten durchsuchte, fand ich, dafs ^.Hamlet''^ zu denen
(gehörte, welche die zahlreichsten und bedeutsamsten Überein-
Stimmungen aufzuweisen hatten; u. a. ist das QQ. Sonett in
dem Monologe ,,To be or not to be" wiederholt. Aber nicht
blofs in den Sonetten, sondern in fast allen Dramen dieser Zeit
fanden sich Wiederholungen Hamletscher Gedanken so zahlreich,
dafs sie jeden aufmerksamen Leser in Erstaunen setzen müssen.
Wenn die Durchschnittszahl der Parallelstellen jedes einzelnen
Dramas mit den verschiedenen nahezu gleichalterigen Dramen
einio-e zwanziof nicht übersteiiijt, so wurde sie hier um das Vier-
fache übertroffen — ein sicheres Zeichen für die lebhafte, an-
haltende Beweguncr, in welche das Hamlet-Problem die Seele
des Dichtere versetzt, für das tiefe, persönliche Interesse, das
ihn bei der Schöpfung seines gröfsten Kunstwerkes beherrscht
hat. Es war noch immer die Zeit, in der der Mund des Dich-
ters überorinor von dem, dessen sein Herz voll war. — Aber ist
das die einzige Folgerunor, die aus dieser Erscheinung zu
ziehen ist? — Eine nähere Betrachtung der Parallelstellen legt
weitere Mutmafsungen nahe. Zunächst unterscheiden sie sich
durch die grofse Anzahl wortgetreuer oder längerer Wieder-
holuno-en, die eine Reihe von Stücken dieser Zeit aufweist, und
Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben. 177
die zwischen den übrigen Dramen sehr sporadisch auftreten ;
dann — eine Erscheinung, die kein anderes Drama zeigt —
dadurch, dafs diese auffallenden Wiederliolungen in Stücken
vorkommen, deren Abfassungszeit sicherlich ein Lustrum oder
noch weiter auseinander liegt, während in einigen Stücken, die
zwischen diesen äufsersten Endpunkten der Hamlet-iVnklänge
liegen, d. h. gewöhnlich an das Ende des 16. Jahrhunderts ge-
setzt werden, nur sehr geringe oder keine Beziehungen zu
Hamlet haben. Merkwürdisj zahlreiche Ubereinstimmuno:en finden
sich in den Stücken, die man in die Jahre 1596 — 1598 und
in den Beginn des 17. Jahrhunderts zu versetzen pflegt: in
Ado, As, 1, 2 H, IVj Merch. einerseits und Ccus.,^ Meas., 7roil.,
Cijmh., Mach., Lear, Oth. und selbst Cor. andererseits, die
bei weitem hervorragendsten jedoch in dem letzteren.** Da-
zwischen liefen drei Stücke, die sehr gerino-e Ankläno;e, wie
//. F, Wii\, oder gar keine, wie Tiv. aufweisen. Was in den
späteren Stücken auf Haml. hinweist, ist nicht der Erwäh-
nung wert.
Diese Erscheinung ist zu auffallend, zu einzig, als dafs
wir sie mit Gleichgültigkeit betrachten könnten; Der „Hamlet''-
Jommiert eine ganze Periode hindurch, die sich etwa von 1596
bis 1604 erstrecld; wir können sie mit Fug und Recht die
Hamlet- Periode nennen. Dieser Zeitraum wird unterbrochen und
in zwei Teile geteilt durch drei Stücke, d. h. etwa ein bis
zwei Jahre, in denen die Hamlet-Einflüsterungen nicht ver-
nehmbar sind. Nun wissen wir aus der Angabe Gabriel Har-
veys, die ich von fast allen Shakspere-Forschern in das Jahr
1598 verlegt finde, dafs um diese Zeit Shaksperes Hamlet ein
beliebtes Stück war; wir wissen, dafs Shakspere 1604 eine be-
deutend erweiterte authentische Quart-Ausgabe veranstaltete.
Scheint diese Erscheinung nun nicht die von einem grofsen
Teile der Kritiker vertretene Annahme einer doppelten Re-
daktion „Hamlets" zu unterstützen? Sollte eine eingehende
* In Bezug auf dieses Drama bin ich zweifelhaft, ob es nicht noch
in das 16. Jahrhundert gehört.
** Von den späteren Stücken zeigt Tim. die meisten Anklänge an
Haml. : vielleicht gehört er ebenfalls noch in den Beginn des Jahr-
hunderts.
Archiv f. n. Sprachen. LXXIII. 12
17S Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben.
Betrachtung der Parallelstellen unter vergleichender Berücksich-
tigung der beiden Quartos, deren erstere vielfach für eine Ver-
stümmelung der ersten Redaktion gehalten wird, nicht einiges
Licht auf die bisher dunkele, vielumstrittene Entstehungsart
und -zeit des Dramas werfen können?
Sehen wir einmal, wie weit wir auf diesem Wege kommen!
KyflFhäuser, Tannhäuser, Rattenfänger.*
Von
Adalbert Rudolf.
Ein seltsames Kleeblatt! — wird mancher ausrufen — wie
soll da eine Verbindungskette sich herstellen lassen? — Und
dennoch hoffe ich dies zuwege zu bringen, wenn man ruhig meinem
Gedankengang zu folgen sich bequemen wird. Ich knüpfe zu
diesem Zwecke an die letzten Todeszuckungeu des germanischen
Heidentums an.
Der Sieg der schwer verdaulichen christlich-paulinischen
Lehre gegen die zwar derbe, aber dabei schlichte, handgreif-
liche heidnische war besonders in dem unzuo^äno^lichen Inneren
Deutschlands kein leichter und schneller; ein Hauptgrund dafür
war auch der, dafs der aufgedrängte neue Glaube seine Wur-
zeln in völlig fremdem Boden hatte und daher mit der Ver-
änderung zugleich dem gesamten teuren Volkstum Gefahr drohte.
Jakob Grimm sagt: „Das Christentum war nicht volksmäfsig.
Es kam aus der Fremde und wollte althergebrachte, einheimische
Götter verdrängen, die das Land ehrte und liebte. Diese
Götter und ihr Dienst hino^en zusammen mit Überlieferunoren,
Verfassung und Gebräuchen des Volkes. Ihre Namen waren
in der Landessprache entsprungen und altertümlich geheiligt,
Könige und Fürsten führten Stamm und Abkunft auf einzelne
Götter zurück ; Wälder, Berge, Seen hatten durch ihre Nähe
lebendige Weihe empfangen. Allem dem sollte das Volk ent-
sagen, und was sonst als Treue und Anhänglichkeit gepriesen
Vergl. Archiv LXVIir, S. 43 ff'.: Tannhäuser.
12*
180 Kyfi'bäuser, Tannhäuser. Rattenfänger.
wird, wurde von Verkündigeru des neuen Glaubens als Sünde
und Verbrechen dars^estellt und verfolo^t", o;leIchwie Chlodowis:
dem Franken bei der Taufe gesagt ward: „Verbrenn, was du
angebetet, und bet an, was du verbrannt hast!" Durch solches
Auf-den-Kopf- stellen kam es denn, dafs das Christentum nur
ganz allmählich in die Stämme des inneren Deutschlund einzu-
drinscen vermochte. Bis zum Ende des sechsten Jahrhunderts
waren Alemannen, Bojoarier, Therwinger, Sachsen und Friesen
noch Heiden. Besonders in Friesland hatte das Christentum
einen schweren Stand ; Fürst und Volk hielten sogar noch zu
Beo:inn des achten Jahrhunderts beharrlich an dem mit ihrem Volks-
tum verknüpften Glauben fest. Der Herzog Ratbot verjagte den
heiligen Willibrod und enthauptete den heiligen Wipert, welcher
die Götterbilder zu zerschlao-en gewao^t hatte. Endlich aber
schien er zur Annahme des Christentums gewillt ; er hatte sich
durch den Eifer des heiligen Wolfram dazu bestimmen lassen
und bereits den Fufs in das Wasser der Taufkufe gesetzt, als
ihm während der Weihungsrede die Frage einfiel, ob denn seine
Vorfahren auch in dem Himmel seien; auf die Antwort des
Geistlichen, dafs sie in der Hölle büfsen müfsten, weil sie
Heiden grewesen, zoo^ der wilde Täuflinor hurtio^ den Fufs aus
dem Wasser zurück, indem er versicherte, lieber zu seinen
tapferen Ahnen, sei's auch in die Hölle, kommen, als mit dem
gemeinen Christenvolke selig werden zu wollen. Dazu erzählt
die Kirchensage, dafs dem Friesenfürsten, als er sich zur Taufe
anschickte, ein Mann in kriegerischer Rüstung erschienen sei,
welcher ihm Wiiotaiis, des Götterkonigs, goldhlinJcende Säle und
den für Ratbot geschmücJäen Sitz gezeigt und ihn gewarnt habe,
von dem alten Gotte abzulassen; der Diakonus aber habe, als
sein Auge gleichfalls auf die teuflische Erscheinung gefallen
sei, schnell das Zeichen des Kreuzes darüber gemacht, und
sogleich habe sich alles in öden Sumpf und Moor verwandelt.
Der starre Herzoor blieb unerschütterlich dem Glauben der
Väter getreu und verfolgte die Christen eifrig bis zu seinem
Tode (719).
Aus dieser kurzen Darlegunor erhellt so recht die Sinnesart
in der Übergangszeit des Glaubens; man fühlt mit, wie schmerz-
lich-schwer unseren Altvorderen werden mufste, sich von den
Volkstumoöttern loszureifsen. Endlich war in j^anz Deutsch-
Kyff'häuser, Taniihäiiser, Kattenfänger. 181
land der Sieg des Christentums entschieden, wenigstens äufser-
lich: unmöMich konnte die innere Wandlung sich schnell voll-
ziehen, indem die neue, fremde Lehre nicht durch milde Be-
kehruno; und Überzeu2:uno:, sondern meistens durch alle Schrecken
des Zwanges eingeführt ward. Da zogen im Volksglauben die
alten Götter sich in ihre irdischen Behausungen, in die Berge zu-
rüch^'^ während sie die schönen, gedankenüppigen Himmelsitzc
dem sieijreichen Christengrotte mit seinem iVnhange lassen
mufsten. Diese Berg entrückung ist deutlich in der herrlichen
Sage vom Odenherg bei dem Städtchen Gudensberg** (Nieder-
hessen) geschildert, zwar jetzt auf Karl den Fünften bezogen,
wie früher nachgewiesen auf Karl den Grofsen, aber offenbar
ursprünglich dem alten Gotte Charal (d. i. Herr) =^ Wuotan zu-
ojehörio;. Sie lautet also :
Karl war mit seinem Heer in die Gebirge der Gudens-
berger Landschaft gerückt, siegreich, wie einige erzählen, nach
anderen fliehend, von Morgen her (aus \Ye8tfalen). Die Krieger
schmachteten vor Durst, der König safs auf schneeweif sem
Schimmel] da trat das Pferd mit dem Huf auf den Boden und
schlug einen Stein vom Felsen, aus der Öffnung sprudelte die
Quelle mächtig. Das ganze Heer ward getränkt. Diese Quelle
heifst Glisborn, ihrer kühlen hellen Flut mifst das Landvolk
fjröfsere Reiniguno-skraft bei als orewöhnlichem Wasser etc. Der
Stein mit dem Huftritt, in die Gudensbero^er Kirchhofmauer
eino;esetzt, ist noch heute zu sehen. Nachher schlug Könio-
Karl eine grofse Schlacht am Fufse des Odenberges. Das strö-
mende Blut rifs tiefe Furchen in den Boden (oft sind sie zu-
gedämmt worden, der Regen spült sie immer wieder auf), die
Fluten „wulchen" zusammen und ergossen sich bis Bessa hinab;
Karl erfocht den Sieg: Abends that sich der Fels auf, nahm ihn
und das ermattete Kriegsvolk ein und schlofs seine Wände. In
diesem Odenbers; ruht der Könio; von seinen Heldenthaten aus.
* Dieser Gedanke liegt um so näher, wenn man bedenkt, dafs im
alten Glauben der Germanen, besonders in der älteren und reineren An-
schauung der Deutschen, die Göttt r anstatt der luftigen Himmelsitze Erden-
sitze, namentlich Berge, innehatten, wie das auch noch vereinzelt aus der
nordischen Götterlehre erhellt. Die sogenannten Säle oder Hallen der
Götter in der Edda sind eigentlich Bergräume.
** Odenberg und Gudensberg — seltsames Zusammentreffen verschie-
dener Gestaltungen des Namen Wuotan: alemannisch Otan. fränkisch Godan,
was auf eine Mischung oder Berührung dieser beiden Stämme hinweist.
182 Kyrt'häuser, Tannhäuser, Rattenfänger.
Er hat verheilsen, ;ille sieben oder alle hundert Jahre hervor-
zukommen; tritt eine solche Zeit ein, so vernimmt man Waffen
durch die Lüfte rasseln, Pferdegewieher und Hufschlag; der
Zuo- sreht an den Glisborn, wo die Rosse getränkt werden, und
verfolgt dann seinen Lauf, bis er nach vollbrachter Runde
endlich wieder in den Berg zurückkehrt. Einmal gingen Leute
am Odenberg und vernahmen Trommelschlag, ohne etwas zu
sehen. Da hiefs sie ein weiser Mann nacheinander durch den
Ring schauen, welchen er mit seinem in die Seite gebogenen
Arm bildete: alsbald erblickten sie eine Menge Kriegsvolk, in
WafFenübungen begriffen, den Odenberg aus- und eingehen.
Dafs in dem zweiten Teile der Odenbergsage von einem
Siege Karls die Rede ist, mufs mifsverstandlich sein, jedenfalls
durch die Mengung der Sage mit der Geschichte herbeigeführt;
anderenfalls leuchtete nicht ein, warum jener zu fliehen und
sich zu bergen genötigt ist. Karl ist seinem mächtigen Feinde
unterlegen und weifs keinen anderen Ausweg, als sich mit dem
Heere seiner Getreuen in den Berg zurückzuziehen. Es ist
zweifelsohne der grofse Heidengott, welcher, In dem Nieder-
schlage der alten Sage zu Kaiser Karl geworden, dem Christen-
gotte weichen mufs. — Das Sagengebilde spielt weiter, wie
schon eben das Beispiel mit dem Armringe beweist. An ge-
wissen Tagen soll der Odenberg den Menschen, besonders den
Sonntagskindern, offen stehen. Wer dann durch die Öffnung
In den Berg hineintritt, erblickt da die entrückten Männer^ her-
vorragend unter Ihnen einen alten langbärtigen Mann, welcher
einen blinkenden Becher in der Hand hält, und wird reich be-
schenkt. Alle sieben Jahre hält Karl seinen Umziig^ um nach
dem Stande der Dinge zu schauen; es heifst, dafs er dereinst für
immer wieder aus dem Odenberge hervorgehen werde zu neuem
Kriege und Siege. Das deutsche Volk konnte sich dem Ge-
danken nicht verschliefsen, dafs seinen geliebten, sonst so
mächtig gewesenen Göttern wieder einmal in Zukunft die Welt-
herrschaft zufallen müsse. — Bei Fränkisch- Gemünden wird
erzählt, dafs im Guckenherge (Berg des Altvaters Guogo?) vor
Zeiten ein Kaiser mit seinem ganzen Heere versunken sei; er
werde aber, wenn sein Bart dreimal um den Tisch, an welchem
er sitze, gewachsen sei, mit seinen Leuten wieder herauskommen.
Vortrefflich drückt hier das Wachsen des Barthaares die lange
KyfFhäuser, Tannhäuscr, Rattenfänger. 183
Spanne der Vergangenheit und das ganz alluülhliche, aber
sichere Rücken der sehnlich erwarteten Zukunft aus. — Wesent-
lich einklingend mit der Odenbergsage, zugleich den Gipfel des
ganzen, äufserst reichhaltigen Sagenkreises bildend, ist die Sage
vom Berge Kyffhäuser in der Goldenen Aue, und damit erst be-
treten wir den festen Boden beabsichtigter Abhandlung:
Kaiser Friedrich — halb der Erste, dessen Tod in Klein-
asien nicht vom Volke geglaubt ward, halb der Zweite — war
vom Papste in den Bann gethan, und die Fürsten waren der
Treue und der Eide gegen ihren Oberherrn ledig gemacht.
Deshalb wurden dem Kaiser alle Kirchen und Kapellen ver-
schlossen; kein Gottesdienst ward ihm mehr gehalten und keine
Messe mehr oresun^en. Da ritt nun der Kaiser einmal vor dem
Osterfeste — damit die Christenheit durch ihn nicht gehindert
würde, die heilige Zeit zu begehen — hinaus auf die Jagd.
Niemand von seiner Begleitung wufste des Kaisers Sinn und
Gedanken. Er hatte aber sein gutes Gewand angelegt, welches
ihm aus dem Laude Indien gesandt war, nahm ein Fläschlein
mit schmackhaftem Brunnen zu sich, bestieg sein edles Rofs
und ritt hinaus in den fernen Wald; nur wenige Herren folgten
ihm dahin. Im Walde steckte er ein immder kräftig es Ringlein
an den Finger und sogleich war er vor den Augen aller ver-
schivunden, dafs niemand ihn mehr gesehen hat, und man nicht
weifs, ob er noch lebendig sei. So ging der hochgeborene
Kaiser dort verloren. eTedoch sagen die Bauern, dafs er sich
oft als Waller habe sehen lassen, auch öffentlich ihnen gesagt
habe, dafs er bestimmt sei, auf römischer Erde noch gewaltig
zu werden und die Pfaffen zu stören, und dafs er nicht auf-
hören noch ablassen werde, bis er das heihge Grab wieder in
der Christen Hand gebracht habe.
Weiterhin wird dann der Kaiser nach seiner Verzauberung
in Beziehung zu dem Kyffhäuser gesetzt. Man glaubte: der
„Ketzer-Kaiser" Friedrich lebe noch und solle lebend bleiben
bis an den jüngsten Tag ; auf dem wüsten Schlosse Kyff hausen
in Thüringen (und auch auf anderen wüsten Burgen, welche
zum Reiche gehörten) wandere er um und lasse sich zu Zeiten
sehen und rede auch mit den Leuten, und der Glaube ver-
knüpfte sich damit: Vor dem jüngsten Tage werde ein mäch-
tiger Kaiser der Christenheit kommen, um Frieden unter den
181 KylVhäuser, Tannhäu^cr. Kattcnfänger.
Fürsten zu machen. Auch ward viellach erzählt, dix^ä dieser
Kaiser mit grofscm Hofgesinde im Berge von Kyffhausen ver-
zaubert wohne, und dafs dieser verzauberte Kaiser kein anderer
als Friedrich Rotbart sei. Er sitze auf einer Bank vor einem
runden Steintische — nach anderen auf einem goldenen Herr-
schersessel, die goldene Krone auf dem Haupte, in der vollen
Pracht und HerrHchkeit, welche ihn im Leben umgab. Er halte
den Kopf in die Hand gestützt und ruhe oder schlafe; dabei
nicke er aber stets mit dem Haupte und zwinkere mit den
Augen, indem er sie bald etwas öffne und dann seine grofsen
Brauen wieder senke und zusammenziehe, als ob er nicht recht
schlafe oder bald wieder erwachen wolle. Sein roter Bart sei
ihm durch den Tisch hindurch bis auf die Füfse gewachsen.
Er werde vor dem jüngsten Tage wieder aufwachen und sein
verlassenes Kaisertum aufs neue antreten; wenn er dann hervor-
komme, werde er „seines Schildes Last hängen an den dürren
Ast^^ — davon loerde der Baum grünen und eine bessere Zeit
werden. Von dem dürren Baume wird in der Sage vom Walser-
felde erweiternd gesagt: Er sei schon dreimal umgehauen worden,
seine Wurzel aber immer wieder ausgeschlagen, so dafs ein
neuer vollkommener Baum daraus erwachsen sei; wann er wieder
zu grünen beginne, dann nahe die grofse Schlacht, und wann
er Früchte trage, werde sie anheben, und dann werde ein solches
Blutbad sein, dafs den Kriegern das Blut in die Schuhe rinne.
Auch wird in der Sage berichtet: des Kaisers Bart sei um
den Tisch gewachsen, dergestalt, dafs er dreimal um die Run-
dung des Tisches reichen mufs bis zum Erwachen ; jetzt aber
gehe er erst zweimal darum. In den späteren Kyffhäusersagen
begegnet wiederholt der Zug, dafs Rahen um den Berg fliegen,
welche vor dem Erwachen des Kaisers verscheucht werden
müfsten. Auch wird gesagt, dafs der Kaiser wiederholt Be-
sucher des Berges gefragt habe, wie es auf der Oberwelt
aussehe.
Wir wollen hier eine kleine Pause machen zur Anstellung
einiger Betrachtungen. Der Name des Berges „Kyffhausen,
Kyffhäuser, Kifhäuser", nach welchem die Burg den Namen
erhielt, scheint sehr alt zu sein; aber die Deutung ist zweifel-
haft. Ganz unzulässig ist die geschehene Ableitung von Kopf,
Koppe, Kuppe. Vielleicht läfst sich an Kipicho, Gibich (d. i.
Kyfi'liäiiscr, Tanuliäuser, Kattenfiin<^cr. 185
Geber), Beiname Wiiotans denken — der Übergang des p, b
in f wäre sehr einfach. Hätte man nur eine ältere Namenform!
Die Gegend um den Kyffhäuser (Kipichhäuser?) hiefs vom
8. bis 12. Jahrhundert „Nabelgau" oder „Nebegau", was an
Nebelheirn (die Totenwelt) und Nibelunge gemahnen könnte. —
Wenn wir nun an eine Deutung der KyfFhäusersage gehen, so
mufs zunächst alles in das politische Gebiet Streifende ausge-
schieden werden, wenn man den echten, alten Urgrund erhalten
will. Sehr vorteilhaft läfst die Sage durch die engvervvandte
Odenbergsage sich ergänzen; in beiden haben wir deutlich und
bestimmt den alten Wuotan, Charal, Geermann vor uns, welcher
schon im unerschütterten Heidentum ,^der Alte vom Berge'''' hiefs;
nur der rote Bart könnte auf Donar hinweisen, ist aber wahr-
scheinlich als eine Entlehnung von dem geschichtlichen Herr-
scher zu nehmen. V"om christlichen Standpunkte aus ward das
Wiederkehren des Kaisers und das Schlaojen der ofrofsen
Schlacht, leicht erklärlich und im voraus richtend, mit dem
letzten Weltkampfe, dem jüngsten Tage, dem Weltuntergange
verknüpft, wie dies besonders in den Sagen vom Untersberg
(Undersberg = Schlummerberg?) bei Salzburg und vom Walser-
felde deutlich ausgesprochen ist. Die Raben, welche um den
Berg fliegen, sind Wuotans zwei Raben, seine steten Begleiter
Huginn und Muninn, welche ihm Kunde von allen Dingen zu-
tragen, die Allwissenheit Gottes versinnlichend. Wenn es heifst,
dafs sie verscheucht werden müfsten, bevor der Kaiser erlöst
sei, so ist dies späteres Mifsverständnis : Die Raben sind hier
in ihrer alten Bedeutung, indem sie ausgeflogen sind, um
auszuspähen und die Neige der Zeit der Verbannung zu er-
gattern; der Gott, welcher nach einer Fassung der Sage alle
hundert Jahre einmal erwacht, ersehnt, dafs sie wieder in den
Berg einfliegen und sich ihm auf den Schultern niederlassen,
um die Kunde der endlichen Erlösung in seine Ohren zu flüstern.
Noch manche Sagen spinnen sich um den Kyflfhäuser;
besondere Beachtuno^ verdienen die Hirtensagen: Ein Schäfer
trieb einmal seine Herde ziemlich weit hinauf an das alte Kyflf-
häuserschlofs und blies fröhlich auf seiner Schalmei, dafs es weit-
hin scholl und hallte. Plötzlich stand ein ganz kleines Männlein
neben ihm, grüfste ihn arti^ und züchtiglich und frug: „Möch-
test du wohl den alten Kaiser Friedrich sehen und ihm auch
1S6 Kyfl'liäiiser, Tunnhäa^er, Rattenfänger.
solcli ein iVölilichesü Stücklein auföpielen ?•' — ..Warum denn
nicht?" Der Schäfer folgte dem JMännlein oretrost in den Felsen-
gang-, welcher eich mit einemmal vor ihm aufgethan hatte. Nach
ziemlich langer Wanderung kamen sie in eine weite Halle, wo
der Rotbart mit geneigtem Haupte und geschlossenen Augen
schlummerte. Beherzt ergriff der Schäfer nun seine Schalmei
und blies. Da hub der alte Kaiser sein Haupt mit dem roten
Barte empor, welcher durch den Tisch gewachsen war, und
frug: „Fliegen die Raben noch um die Burg?" — „Sie fliegen
noch!-' erwiderte der Schäfer. Da seufzte der Kaiser tief und
schwer und sprach kummervoll: ..So mufs ich aufs neue hun-
dert Jahre schlafen!" neigte sein Haupt und schien zu ent-
schlummern. Der Zwerg führte hierauf den Schäfer an das
Tao-eslicht zurück und verschwand. Die Belohnunf]^ für den
dem Kaiser erwiesenen Dienst war grofser Herdenreichtum. —
Eine andere Hirten sage knüpft an die Wunderblume an, welche
nur alle hundert Jahre einmal blühen und die Kraft haben soll,
den ßero^ zu erschliefsen und zur Hebuno^ der Schätze und
Reichtümer, welche im Kyffhäuser ruhen, zu verhelfen: Ein
Hirte hatte die AVunderblume, ohne ihre Bedeutung zu kennen,
an den Hut sjesteckt und ffelanote durch die Berojtrümmer in
den Berg, fand viele kleine glänzende Steine auf der Erde,
steckte so viel er konnte in seine Tasche und wollte wieder das
Gewölbe verlassen. Da rief ihm eine dumpfe Stimme zu:
„Vergifs das Beste nicht!" Vor Furcht flüchtete er hastig aus
dem Gewölbe, dafs er selber nicht wufste, wie er wieder ans
Tageslicht kam. Kaum sah er wieder die Sonne und seine
Herde, so schlug die Thüre, welche er vorher gar nicht gesehen
hatte, mit grofsem Geräusch hinter ihn. zu. Er griff nach seinem
Hut, und die wunderschöne Blume war fort; sie war beim Stol-
pern entfallen. Plötzlich stand ein Zwerg vor ihm und frug :
„Wo hast du die Wunderblume, welche du fandest?" — „Ver-
loren!" sagte traurig der Hirte. „Dir war sie bestimmt," sprach
wieder der Zwerg, „und sie ist mehr wert als die ganze Roten-
burg." Traurig ging der Hirte; die Steine aber waren lauter
Goldstücke. — Der Zvverij kommt häufio; vor: Eine Schar mun-
terer Bauernbursche kam auf den Einfall, Kaiser Friedrich
einen Ehrentrunk zu bringen. Da stand plötzlich ein Zwerg
mitten unter ihnen, welcher einen goldenen Becher in der einen
Kyffhäuser, Tunnliaiiser, llattenlanger. 187
und zwei Jblaechen vorzüglichen VV^eines in der anderen Hand
hielt u. s. vv. Das kleine Männlein, der Zwerg, tritt in manchen
Sagen nicht nur als Thürhüter auf, sondern auch, wie eben,
als Kellermeister und aufserdem als Hausmeister, welcher Korn
einkauft, und als Schatzmeister. — Zuweilen begegnet der Zug,
dafs Leute, welche nur kurze Zeit im KyffhUuser gewesen zu
sein wähnen, thatsächlich nach 20 oder gar 200 Jahren zurück-
kehren ; den Göttern sind Jahre Augenblicke.
Der Sagen von Bererentrückunoren und Verwünschuno-en
sind so viele wie in keiner anderen Richtung;* wir können
hier nur flüchtig diejenigen zusammenstellen, w^elche Bezug auf
die Götter gewähren: Hakelberend, Hakolberand (althochdeutsch:
Hachulpirant), der ManteltrUger, was ein Beiname Wuotans ist,
weilt in seinem grofsen Grabberge auf iceifsem Rosse bei seinen
Schätzen. Karl der Grofse oder der Fünfte sitzt im Odenberge,
im Desenberge (Disenberg = Götterberg?) bei Warburg, im
Untersberge bei Salzburg, auf der Burg bei Nürnberg (ältere
Form: Nornberg?), in der Burg Herstall (Heristal), im Trifels
bei Anweiler, und zwischen Nürnberg und Fürth liegt ein
Kaiser-Karls-Berg — immer, wie wir gesehen haben, Wuotan.
Otto der Grofse, auch rotbärtig wie Kaiser Friedrich, weilt
nach älteren Sagen im Kyffhäuser; er ist schon dem Namen-
anklange nach Wuotan, Otan, wie auch sein Speerwurf im jüt-
ländischen Ottensunde auf den Gott sich bezieht. Friedrich
Kotbart oder der Zweite (auch Herzog Friedrich) haust im Kyff-
häuser, im Üntersberge, im Trifels und in einer Höhle bei
Kaiserslautern. Wir sehen, daf:? in den Sagen überall der alte
Wuotan uns entgegentritt; neben dem Hauptgotte verschwinden
die anderen Götter. Einigemal liefse sich vielleicht an den rot-
bärtigen Donar denken. An dem Südwestende des KyfFhäuser-
gebirges befindet sich die Falkenburg mit einer eigentümlichen,
auf Donar zu beziehenden Sage: Im 17. Jahrhundert (?) sei
ein Herzog aus Schlesien in der Heimat von einem gespenstigen
Bocke aufgenommen, in gar kurzer Zeit durch die Lüfte ge-
* Die Volkstümlichkeit der Bergentrückung erhellt aus der geläufigen
Redart „Ich möchte in die Erde versinken, schliefen (schlüpfen)" in dem
Sinne von „aus der Haut fahren". Nach dem Liede von der „Klage" weifs
man von König Etzel nicht, „ob er sich verslüffe in Löcher der Stein-
wände", was zu sagen scheint, dafs er vielleicht in den Berg, Felsen ge-
gangen sei.
188 Kyfl'häuser, Taiinhäuier, Rattenfänger.
iiihrt und in den Trümaiern der Falkenburg abgesetzt worden;
lialbtut und elendiglich zucrerichtet sei er dann bei Nacht in die
nahelieirende Falkenmühle orekommen und habe um Obdach ge-
beten. Bedauerlich ist, dafs diese Sage so lückenhaft erhalten.
Entweder führte Donar auf seinem Bocke den Herzog durch
die Lüfte, wie \yuotan seinen Schützling Härtung (Hadding),
etwa um ihn Verfolgern zu entziehen, oder der Herzog war
Donar selber, welcher die Gastlichkeit der Menschen versuchen
wollte. Der Schmied Boldermann, welcher bei Kaiser Friedrich
im Kjffhäuser sitzen soll, wird Gott Faltarj Balder sein, wie
in der Edda die Ansen (Äsen) als Schmiede (Glücksschmiede?)
hinorestellt werden. Unter den bekannten Siebenschläfern sind
eigentlich und ursprünglich sieben Hauptgottheiten (ungerade
Zahl heilig!) zu verstehen. Auch Helden, Niederschläge von
Gottheiten, werden vielfach in Berge entrückt gedacht, wie
Dietrich (Diotarich, d. i. Volkreich) = Donar, Rüdiger (Ruo-
diger, d. i. Ruhmgeer) = Wuotan, Sigfrid (Sigufrit, d. i, Sieg-
freier) = Wuotan, Teil (Tellingar) = Heimdall =: Wuotan*
u. a. — Mit der Bert^entrückuncj ist oft ein vericünschter. heb-
liehe?' Sehatz verknüpft; da wo der alte Gott oder Held in der
Berghöhle sitzt und schlummert, liegt ein unendlicher Hort (der
zu ..hütende" Schatz) geborgen, zuweilen, wie beim Nibelungen-
schatz, welcher in einer deutschen Sage aus einem hohlen Berge
setrairen ward, mit Gewinnuno; einer zauberhaften flacht, die
Herrschaft über das Totenreich gewährend, oder sonstiger ge-
heimnisvoller Einwirkung verbunden. — Der verschiedenen
hierher ""ehörio^en Volksmärchen — wie die Geschichte des
o o
„Königs vom goldenen Berge" (Grimm Nr. 92) und das Mär-
chen ..Der Rabe" mit dem goldenen Schlosse von Stromberg
(Nr. 93) — sei nur andeutungsweise Erwähnung gethan.
Überall in dem Sagenbereiche der Bergentrückung findet
sich mit fferino:en Unterschieden derselbe Gedanke: In höhlen-
artigen Bergwohnungen schlafen die Götter und Helden, nur
von Zeit zu Zeit erwachend. WafFengetöse und kriegerische
Weisen sind zuweilen vernehmbar, den vorübereilenden Menschen
ein Schrecken; dann rüstet das verschlossene Geisterheer sich
zum Aufbruche, und die E^ntrückten, Verwunschenen ziehen zur
Archiv LXIII, .S. 13 il.: Neues zur Tellsage.
Kyfi'liäuser, Tannhäuser, Rattenfänger. 1.89
Nachtzeit, besonders Mitternacht hinaus, wie Karl Langbart aus
dem Odenberge, als wütendes Heer und wilde Ja^^d — bald
sichtbar in dahinjagenden Wolkengebilden, wohl auch als Männer
auf feuri2:en Rossen, mit leuchtenden Waffen die Gescend durch-
stürmend — bald unsiclitig durch die Lüfte schwebend, nur
im Gebrause und Heulen des Windes vernehmbar. Der Zweck
solcher Auszüge ist, teils um den alten Lieblino'sbeschäftifjuno^en,
Jagd und Kampf, wenn auch nur zur Zeit der Gespenster, zu
huldigen, andernteils um zu splihen, ob die Stunde der Wieder-
kehr ihres Reiches noch nicht gekommen sei, teils auch um
durch List oder Gewalt neue Anhänger für den zu erwartenden
grofsen Kampf zu gewinnen^ allerdings hier nicht immer mit
günstigem Erfolg, wie einige Volksmärchen beweisen, und wie
vor allem aus folo;ender kerniojen mecklenburgischen Sao;e her-
OD DO
vorofeht:
Ein Bauer kam einst trunken in der Nacht von der Stadt,
o
sein Weg führt ihn durch einen Wald; da hört er die wilde
Jagd und das Getümmel der Hunde und den Zuruf des Jaspers
o o
in hoher Luft. „Mitten in den Weg! mitten in den Weg!"
ruft eine Stimme, allein er achtet ihrer nicht. Plötzlich stürzt
aus den Wolken nahe vor ihm hin ein langer Mann auf einem
Schimmel. „Hast Kräfte?" spricht er, „wir wollen uns beide
versuchen, hier die Kette, fafs sie an — wer kann am stärksten
ziehen?" Der Bauer fafste beherzt die schwere Kette, und
hoch auf schwanjT sich der wilde Jäger. Der Bauer hatte sie
D O
um eine nahe Eiche geschlungen, und vergeblich zerrte der
O O ' o
Jäger. „Hast gewifs das Ende um die Eiche geschlungen?"
frug der herabsteigende Wod. „Nein," versetzte der Bauer,
„sieh, so halte ich's in meinen Händen". — ^,Nun so bist du
mein in den Wolken," rief der Jäger und schwang sich empor.
Wieder schürzte schnell der Bauer die Kette um die Eiche, und
es gelang dem Wod nicht. „Hast doch die Kette um die Eiche
geschlagen!" sprach der niederstürzende Wod. „Nein," er-
widerte der Bauer, der sich eiligst losgewickelt hatte, „sieh, so
halte ich sie in meinen Händen." — „Und wärst du schwerer
als Blei, so mufst du hinauf zu mir in die Wolken!" Blitz-
schnell ritt er aufwärts, aber der Bauer half sich auf die alte
Weise. Die Hunde bollen, die Wagen rollten, die Rosse
wieherten dort oben, die Eiche krachte an den W^irzeln und
190 Kyffhäuser, Tannhäuser, Rattenfänger.
schien sich zu drehen. Dem Bauer bangte, aber die Eiche
stand. „Hast wacker gezogen," sprach der Jäger, ^^rnein lourden
schon viele Männei\ du bist der erste, der mir widerstand! Ich
werde dir's lohnen." Laut ging die Jagd an: hallo, holla! wol!
wol! Der Bauer schlich seines Weges, da stürzt aus unge-
sehenen Höhen ein Hirsch ächzend vor ihn hin, und Wod ist
da, springt vom weifsen Rosse und zerlegt das Wild. „Blut
sollst du haben und ein Hinterteil dazu!" — „Herr," sagt der
Bauer, „dein Knecht hat nicht Eimer noch Topf." — „Zieh
den Stiefel aus!" ruft Wod. Er that's. „Nun wandere mit
Blut und Fleisch zu Weib und Kind!" Die Angst erleichterte
anfangs die Last, aber allmählich ward sie schwerer und s.chwe-
rer, kaum vermochte er sie zu tragen. Mit krummem Rücken,
von Schweifs triefend erreichte er endlich seine Hütte und siehe
da — der Stiefel war voll Gold und das Hinterstück ein lederner
Beutel voll Silber.
Diese Menschenjagd, Seelenfängerei^ ist sehr bedeutsam und
bereits in den alten echt heidnischen Sagen enthalten, beson-
ders indem Wuotan durch seine Walküren die Seelen der
Helden nach Walahalla führen läfst; der Gedanke liegt da unter,
ein starkes Heer zu schaffen, um für den grofsen Kampf zur
Muspillizeit, am jüngsten Tage, gerüstet zu sein und dem dro-
henden Schicksale widerstehen zu können, wie es in der jüngeren
Edda heifst: „Es ist wahr, eine grofse Menge ist da (in Walahalla),
und noch viel mehr müssen ihrer werden ; aber dennoch wird
scheinen, ihrer seien viel zu wenig, wenn der Wolf (der Ver-
nichtung) kommt." So sucht denn Wuotan auch durch besondere
Schutzverhältnisse starke Helden an sich zu fesseln, und mehrfach
tritt der Gedanke hervor, sich Wuotan sesen Gewähruns; irdi-
scher Vorteile, Ruhm, Reichtum u. s. w. zu weihen, d. h. ur-
sprünglich, zu geloben, nach Ablauf einer bestimmten Frist
sich zu töten, wenn der Gott für die Dauer der Zwischenzeit
gnädig sei und beistehe. Auch Kinder, sogar ungeborene, läfst
er sich versprechen, wie bei der bierbrauenden Geierhild (Geer-
hild), welche dem Höttr (d. i. der Hut, Beiname Wuotans) für
seinen Beistand, indem dieser seinen Speichel zur Hefe giebt,
verheifsen mufste, was zwischen ihr und dem Fasse sei; sie
wufste nicht, dafs sie damit ihren Sohn Wikar dem Wuotan
gelobt hatte.
Kyflhäuscr, Tannhäuser, Rattenf^^nger. 191
Wenn in der späteren Volkssage der Tod Gevatterschaft
bei Menschen steht, so ist das wieder ganz Wuotan, wie
er unter der stillschweio-enden Bedinofunff der Weihe Schutz-
Verhältnisse eingeht. Nie vergifst der Gott sein Recht geltend
zu machen; sein todbringender Ger, welchen er dem Schütz-
ling leiht, wird schliefslich diesem selber verhängnisvoll. In
den Sagen und jNIärchen tritt für den Gott auch zuweilen ein
Riese ein, wie unter dem christlichen Einflüsse schliefslich, als
Gipfel der Sagenrichtung, der seelenhaschende Teufel sich ent-
wickelt. Hier hat die Bedeutung der Seelenfänorerei eine schär-
fere, auf dem Geo:en8atze der Relio-ionen fufsende Beo-ründuno;
gefunden. Die Bündnisse mit dem Teufel, welche in der Faust-
sage ihren grofsartigen Abschlufs gefunden haben, wurzeln in
heidnischen Gedanken.
Während in der obiojen mecklenburgischen Sage die Scheu
vor dem alten Gotte, welcher dort als riesenhaftes Gespenst
auftritt, schon ganz hinfällig geworden ist, so läfst uns eine
Erzähluno; der Ynglingasage von Könio; Svegdir noch mit
Leichtigkeit das alte ungetrübte Verhältnis erkennen: Svegdir
that das Gelübde, Godheim (die Götterwelt) und den alten
Odhinn (Wuotan) aufzusuchen ; mit zwölf Begleitern fuhr er
weit herum auf der Erde u. s. w. Im Osten von Svithjod
(Schweden) liegt ein grofser Hof, Stein genannt, da ist ein
Stein (Felsberg) hoch wie ein grofses Haus. Abends nach
Sonnenuntergang, als Svegdir vom Zechgelage in sein Schlaf-
zimmer ging, sah er hin nach dem Stein, und ein Zwerg safs
unten bei dem Stein ; Svegdir und seine Leute waren sehr
trunken von Met und liefen hin zu dem Stein. Der Zwerg
stund in der Thüre und redete Svegdir an und bat ihn, hin-
einzugehen, falls er Odhinn finden icolle. Svegdir lief hinein in
den Stein: aber der Stein schlofs sich alsbald zu, und Svegdir
kam nicht wieder. Thjodolf der W^eise von Hvin (norwegisches
Eiland), Skalte Haralds des Schönhaarigen, singt:
Doch der lichtfliehende Felsenhüter
Täuschte Svegdirn mit schlauem Truge,
Als des Erhabnen hoher Spröfsling
Tief in den Felsen folgte dem Zwerge
Und der helle Stein des Herrschers der Tiefe
In der Riesenkammer den Könis; umschlofs.
192 Kyffhäuser, Tannhäuser, Rattenfänger.
Der „lichtfliehende Feleenhüter" ist der Zwerg, „des Er-
habenen (des Gottes Njord) hoher Spröfsling" ist König Svegdir,
und der „Herrscher der Tiefe" ist Odhinn, AVuotan, welcher in
einem Liede der Edda (Sigurdhakvidha, Reginsmal) sich selber
den „Alten vom Berge" nennt. Wenn hier die Aufforderung
des Zwerges, Wuotan in dem Steine zu suchen, als Trug auf-
gefafst wird, so ist dies doch nur unverstandene, spätere Auf-
fassung oder sonstige Verstümmelung: In der echten Sage weist
der Zwers an dem Zugano^e des Berf^es die Anhänj2fer Wuotans
O OD O D
in erhaben-ernstem Sinne in die unterirdische Gütterbehausung.
In vielen Sagen lockt ein Zwerg als Bote der Unterweltgöttin
(Hella, Hölle) in den Berg; auch den Dietrich von Bern holt
nach einer Sage ein Zwero^ dahin ab — das ist überall der-
selbe Gedanke. Die Zwerge, ein unterweltliches Geschlecht,
nähern sich leicht dem Totenreiche, wie auch die Niblunge
(Niflinge) anfangs nur das Dunkle, Nächtige besagen, aber
dann zu Totengeistern werden, deren stilles Wirken die ]\Ien-
schen unabwendbar in ihr Reich führt. — Einige Ähnlich-
keit mit der Svegdirsage zeigt auch die Gylfisage, welche
in der jüngeren Edda überliefert worden ist:* König Gylfi (ein
finnischer König?) war ein weiser Mann und zauberkundig.
Er wunderte sich sehr, dafs der Äsen (Ansen) Volk (d. i. die
Germanen) so vielkundig sei, dafs alles nach ihrem Willen er-
ginge. Er dachte nach, ob dies von ihrer eigenen Kraft ge-
schehe oder ob da die Macht der Götter walte, welchen sie
'j
opferten. Er unternahm eine Reise nach Asgard (Ansgart, d. i.
Gütterburg), fuhr aber heimlich, indem er die Gestalt eines
alten ^Mannes annahm und so sich hehlte. Als er in die Burg
kam, sah er eine hohe Halle, dafs er kaum darüber wegsehen
konnte; das Dach war mit goldenen Schilden belegt wie mit
Schindeln. Am Thor der Halle sah Gjlfi einen Mann (Zwerg?) ;
dieser fru^j ihn nach dem Namen. Er nannte sich Gansjleri
(d. i. Wanderer) und sagte; er komme aus unwegsamer Ferne
* Diese ursprünglich alte Sage ist erst in christlicher Zeit nieder-
geschrieben worden und hat daher manche Willkürlichkeit an sich ergehen
la-^sen müssen. Dementsprechend lautet auch die Überschrift der Sage
Gylf'aiiinning, d. i. Gylfis Verblendung. Ich gebe hier nur die riiirch die
Abänderung nicht getrübten Hauptzüge.
Kyffhäuser, Tannhäuser, Rattenfänger. 193
und bitte um Nachtherberoje. Alsbald gin^r der Mann ihm
vorauf in die Halle und er folgte ihm nach, und diclit hinter
seinen Fersen schlug die Thäre zu. Da sah er viele Gemächer
und eine Menge Volkes: einige spielten, einige zechten, andere
übten sich in Waffen. Er sah drei Hochsitze, und auf jedem
safs ein Mann. Er ward nun auf seine Fragen weitschweifig
über die Erschaffung der Welt, über die Götter und Göttinnen,
über Göttero^eschichten und dereinstio:en Weltuntero-ano; unter-
richtet. Als er aber mit Frasren o-ar nicht ermüden zu wollen •
schien, ward ihm zuletzt der Bescheid; „Wenn du aber nun
weiter fragen willst, so weifs ich nicht, woher dir das kommt;
denn nie hörte ich jemand mehr von den Schicksalen der Welt
berichten. Nimm also hiermit fürlieb!" Darauf hörte Gangleri
ein grofses Getöse um sich her. Und als er sich wandte und
recht um sich blickte, fand er sich allein stehen auf einer weiten
Ebene und sah weder Halle noch Büro; mehr. Da gino; er
seines Weges fort und kam zurück in sein Reich und erzählte
die Zeitungen, welche er o-ehört und o:esehen hatte, und nach
ihm erzählte einer dem anderen diese Geschichten. — Man
sollte infolge von Vergleichung mit anderen Sagen annehmen,
dafs das Zuschlagen der Thüre dicht hinter den Fersen erst
beim Hinausgehen hätte geschehen müssen.
Auch iceihliche Wesen, Göttinnen, weilen mit den Göttern
in den Bergen. In der bekannten Kyffhäusersage vom „Braut-
])aare aus Tilleda" (Tjdeda, d. i. Hügelort, am Ostende unter-
halb des Kyffhäuser), welches in den Berg gegangen und, wie
sich schliefslich herausstellt, 200 Jahre darin gewesen ist, sowie
in der Sage von den Musikern, welche an dem Kyffhäuser vor-
überziehend dem alten Kaiser ein Ständchen bringen und dafür
belohnt werden, kommt die Prinzessin vor, welche als Schaff-
nerin, Ausgeberin beim Kaiser weilt, wohl als Tochter des-
selben gedacht — in Wirklichkeit unfehlbar die herrliche Göttin
Fria (Frea, Frikka, d. i. die Freie) mit ihren Beinamen Perachta
(Perchta, .Berta, d. i. die Leuchtende, Prächtige) und Holeda
(Holda, Hulda, Frau Holle, d. i. die Holde), also die Gemahlin
Wuotans. Am Kyffhäuser haften auch Sagen, ohne Verhüllung
des Namens, von der Frau Hidle, welche auf dem Berge zum
Trocknen Flachsknoten ausbreitet; diese verwandeln sich guten
Archiv f. n. Sprachen. LXXIII. . 13
194 Kyffhäuser, Tannhäuser, Rattenfänger.
Menschen, rechtschafFenen Armen in Gold. — In verschiedenen
Gegenden Deutschlands gab es Berge, welche besonders nach
Holda benannt waren. Späterhin — vermutlich etwa im 13. oder
14. Jahrhundert, vielleicht auch teilweise schon früher — sind
diese altheimischen Ilolda- oder Hollenherge latinisiert in Venus-
herge umgewandelt worden. Am berühmtesten ist der thürin-
Sfische Venusberof, für welchen man gewöhnt ist den Hörsei-
herg"^ an dem Flüfschen Hörsei bei Eisenach anzusehen. Dieser
gilt als Hexenberor: die nachtfahrenden Frauen sollen im Venus-
berge zusammengekommen sein, und gutes Leben, Tanzen und
Springen habe dort geherrscht. Viele bedeutsame Sagen sind
vom Hörselbero^e im Schwansfe. Eine daselbst, am Nordwest-
ende des Berges, an einer steilen und schwer zugängigen P'elsen-
w^and befindliche unheimliche Schlucht, Hörseiloch genannt, wird
im Volksglauben für den Eingang der Hölle gehalten, wie auch
die Götter von den ßekehrern zu Teufeln gemacht worden
waren. Aus diesem Loche ist oft der Schall sonderbarer Tone,
wie wenn unterirdische Gewässer von hohen Klippen herab-
stürzten, oder eine empörte Brandung an ein mächtiges Felsen-
gestade schlüo^e, Stimmengewirr und Getöse, wie wenn Eisen
gegeneinander geschlagen würde, vernommen worden; zu der
düsteren Stimmung des Gemütes mag beigetragen haben, dafd
in der Nähe des Hörseiberges eine Wetterscheide ist, wo sich
oft die furchtbarsten Gewitter mit schrecklichen Blitzen und
Donnern entladen.
In den unterirdischen Höhlen des Berges wohnt die „ Teufelin
Venus'^ die gestürzte Himmelskönigin, Wuotans schöne Ge-
mahlin, die heidnische „Unsere liebe Fraue", das Urbild der
christlichen Maria. Sie, welche in der guten alten Zeit unserem
Volke den Kindersegen verlieh, zieht nun die Seelen der Kinder
wieder zu sich; die lebenspendende Seite ist ihr genommen,
nur die unheimliche Todesgöttin ist geblieben. Zugleich waltet
hier in milderer Gestalt derselbe Gedanke der Seelen<T^ewinnunn^,
wie wir ihn scharf ausgesprochen bei Wuotan angetroffen haben.
* Horsel-, Hoselberg — vlelleiclit Oselberg, Osberg = A?en-, Ansen-
berg, Berg der Götter. Oder etwa entstanden aus Mons ilorrisonus, der
schaurig tönende Berg, wie lateinische Chronisten ihn nennen? oder um-
gekehrt?
Kyff'häuser, Tannhäuser, Rattenfänger. 195
Das besagt wöhl auch die im östlichen Thüringen begegnende
Sage, dafs Frau BercJtta mit der Schar der Heimchen (Heinchen?)
umherzieht. In dem benaclibarten Franken liifst Frau Hulli lieb-
liche Klänofe vernehmen, welche einem Menschen das Herz im
Leibe schmelzen möchten ; Kinder werden gewarnt, darauf zu
lauschen, sonst müfsten sie mit Frau Hulli bis zum jüngsten
Tage im Walde herumfahren. Auch die nordische Hiddra, die
Herrin des Huldrevolkes, der Huldumänner, der Holden, wie in
Deutschhind die Zwero;e auch f]^enannt werden, liebt Musik und
Gesang; ihr Lied, Huldreslat, hat traurige Weise. Von der-
selben wird gesagt, dafs sie den Menschen ungetaufte Kinder
forttrage. — Frau Holda zieht auch mitunter als Waldfrau,
„wilde Waldin"' der wilden Jagd voraus, welche dann im Venus-
berge verschwindet. Zu Eisleben und im ganzen Mansfelder
Lande fuhr das wütende Heer im Geleite der Frau Holla all-
jährlich auf Fastnacht-Donnerstag* vorüber. Das Volk ver-
sammelte sich und sah der Ankunft des Heeres entgegen, nicht
anders als sollte ein mächtifcer Köni<]: einziehen. Vor dem
Haufen trat ein alter Manu einher mit iceifsem Stabe, der treue
Eckhart, welcher die Leute aus dem Wege weichen, einige
auch heimorehen hiefs : sie würden sonst Schaden nehmen.
Hinter ihm kamen etliche geritten, etliche gegangen, man sah
darunter neulich verstorbene Menschen. Ein trunkener Bauer,
welcher dem Heere nicht ausweichen wollte, ward ergriffen und
auf einen hohen Felsen gesetzt, wo er tagelang harren mufste,
bis man ihm wieder herunterhelfen konnte. In dieser Darstel-
lung ist Frau Holda fast unverkürzt die altheidnische Göttin,
welcher bei ihrem Einzüge in das Land das Volk entgegen-
strömt; sie nimmt die Huldigungen der Getreuen entgegen und
belohnt und bestraft nach ihrem Urteil. Nur ist alles dies Er-
haben-Göttliche von dem Christentum in die Spukzeit der Nacht
verwiesen worden.
Der Frau Holda Hofhaltung in den grofsartigen Bergräumen
ist von der Phantasie auf das herrlichste ausoreschmückt worden.
* Von „vasen, fasen" = umherschweifen^ (daher auch „faseln, Fasel-
hans" für geistige Verwirrtheit). Die Umänderunsr in Fa.<f/nacht ist kirch-
hihe Neuerun<j;. Dafür sprechen die Ausdrücke in fast sämtlichen deutschen
Mnnd:irten, sowie das englische fashing.
13*
196 Kyffhäuser, Tannhäuser, Rattenfänger.
Die schönlieltstralilende Göttin oder „Teufelin" haust da statt-
lich und prächtig, von den Zicergen bedient, wie auch noch in
den allefrorischen Gedichten des 15. Jahrhunderts ein Zwerg zu
Frau Venus führt. Vereinzelte Menschen, welche sich bei ihr
einfinden, leben da in Freude und Wonne. Wer kennte nicht
die wunderliebliche Märe von Tannhäuser, eine der anziehendsten
Sagen des Mittelalters? wie den edlen fränkischen Eitter die
Begierde trieb, in den Venusberg zu gehen, um die Wunder
der dort hausenden herrlichen Göttin zu schauen? Als Tann-
häuser in der Abenddämmeruno; an dem Berge anlangte, er-
blickte er eine Höhle und an derselben ein weibliches Wesen
stehen, so schön, wie er noch nie eins gesehen hatte, und das
war Frau Venus selber, die schönste der Göttinnen. Sie rief
ihn mit einer bezaubernden Stimme an und forderte ihn auf,
mit in den Berg zu kommen. Tannhäuser folgte ihr entzückt
durch die Höhle, und der verhängnisvolle Zugang schlofs sich
' O DO
hinter ihm. Sieben Jahre brachte er da zu, schwelgend an
dem Freudentische der göttlichen Bergfürstin, den Becher der
Wonne bis auf die Neige leerend. Da endlich sehnte der ßltter
eich wieder hinaus in die blaue Luft und unter die Menschen,
und er wollte wieder ein Hofs besteigen und ritterlich kämpfen
und des edlen Weidwerkes pflegen. Zugleich auch regten sich
Gewissensbisse in ihm, und er trachte danach, sich mit seinem
Gotte zu versöhnen ; sogar in den AVollustarmen der Herrin
der Liebe fand er nicht Ruhe mehr. Aber seine flehentlichen
Bitten vermochten nicht, ihm Urlaub zu verschafi^en. Da gelang
ihm, durch ein Ritzlein des Berges schlüpfend, nach der Ober-
welt zu entfliehen, und nun wandte er sich von einem Geist-
lichen zum anderen, um Vergebung für sein unheiliges Leben
zu erlangen; aber keiner wollte ihm solche gewähren. So blieb
dem Unglücklichen nichts übrig als nach Rom zu wallen, um
von dem heiligen Vater Sühne und Ablafs zu empfangen. Mit
blutigen Füfsen kam er endlich in Rom an. Von Reue zer-
knirscht warf er sich dem Papst zu Füfsen. Als dieser aber
die Beichte des Sünders vernommen, wies er denselben ent-
setzt von sich, nachdem er ihm den Pilgerstab entrissen und
in die Frde gestofsen hatte, den gräf!«lichen Fluch sprechend:
,. Wie dieser dürre Stab nie icieder sprosse?! und grünen irird, so
u'irst rnirli du niemals Vergehung erhalten!''- Tannhäuser schied
Kyfi'häuser, Tannhauser, RattcnHinger. 197
in Verzweiflung, ohne zu wissen, wohin er die Schritte lenken
solle. Aber nach dreien Tagen sah der Papst mit Staunen,
dafs der dürre Stecken sprofs und Blätter und Blüten trieb.
Erschrocken sandte er Eilboten nach Tannhäuser, um ihm das
Wunder der göttlichen Gnade zu künden. Aber es wav zu
spät — wie sie auch nach allen Winden suchten, sie fanden
den Ritter nicht mehr : der Ritter war in den Bero: zurück-
sjekehrt und wird da weilen bis zum jüno-sten Tao-e.
Zwar bieten nur verhältnismäfsig jüngere Quellen uas diese
bedeutende, tiefsinnige Sage; aber trotzdem kann ihr ein Irohes
Alter nicht abgesprochen werden. Sie mufs sogar, wie wir
noch zur vollen Genüge erkennen werden, in die graue Vorzeit
zurückreichen. Auffallend ähnlich ist die Sage vom „Schneio-
bicrger'',* welcher in den Venusberg bei Uf hausen, unweit Frei-
burg, einkehrt; die Verwünschung lautet daselbst: „Eher soll
der Stab, welchen ich in der Hand halte, Rosen tragen, als du
bei dem Herrn Verzeihuno; finden wirst!" Die Tannhäusersao;e
mufs in ihrem Urkerne also verstanden werden: Den edlen
Ritter, welcher schon zum Christentum übergetreten war, ergriff
mächtige Sehnsucht nach dem Glauben der Altvorderen, nach
seinen Göttern, und trieb ihn — sagenhaft bildlich — in den
Berg, wo „der Frau Hollen Hofhaltung" ist, in den „Venus-
berg", und die Sage spinnt sich dann, wie geschildert, weiter
und zeigt uns in rührender Weise, wie ento-eoren der Unbe-
grenztheit der göttlichen Gnade die Geistlichen der Lehre der
Liebe durch Härte und Grausamkeit die halbgewonnenen Herzen
sich abwendio; zu machen verstanden. Einen wohlthuenderen
Schlufs giebt eine verwandte schwedische Sage: Wie der Papst
dem Tannhäuser und Schnewburo-er durch den dürren Stecken
die Hoffnung abschneidet, sagt auch da der Geistliche zu dem
harfespielenden Wassergeiste (Neck, Nix): „Eher wird dieser
Rohrstab, welchen ich in der Hand halte, grünen und blühen,
als du Erlösunor erlano^st!" Trauernd wirft der Neck die Harfe
hin und. weint. Der Priester reitet fort. Bald danach aber
beginnt der Stab in Laub und Blüten auszuschlagen. Schnell
kehrt der Reiter um, das Wunder dem Neck zu verkünden.
* Ob dieser Name an den ScJinecJchäuserberr/ bei Göttingen gemahnen
darf, wo die schöne Bei-ta (Fria, Holda) 300 Jahre wandelte, bis sie erlöst
ward?
198 KylThäuser, Tannhäuser, Rattenfänger,
welcher uun die ganze Nacht hindurch frohe Weisen erschallen
läfst. Auch an viele andere Sagen klingt die Erzählung von
Tannhäuser an. Das Kindermärchen berichtet dasselbe von
Frau Fortuna (welche der deutschen Salida, Saide entsprechen
würde), die schwedische Sage ebenso von der Eibkönigstochter ;
Oqier (Otger, Olger, ursprünglich dänisch und niederländisch)
bringt 200 Jahre bei der Fata Morgana (Fee Seeweib) zu,
welche ihn durch einen auf das Haupt gedrückten Kranz alles
versessen machte. Nicht allzu weit ab steht auch die Saoje
\oi\ .Odysseus (Odhinn, Wuotan), * welcher acht Jahre bei der
holden Nymphe Kalypso (Halja, Hellia, Hei — Krimhilde) und ein
Jahr lang bei der halbgöttlichen Zauberin Kirke (Herka, Zisa?**)
zubrinot, ähnlich wie etwa Wuotan bei der schönen Gunnlödh
11. s. w. Aus alledem erhellt, dafs die Sage nicht nur deutsch,
germanisch ist, sondern sie ist indogermanisch ; sie ist später
treffend auf den Kampf des Christentums mit dem Heidentum
angewandt worden. — Der Begriff von „in den Berg (Grab-
hügel) gehen" = „sterben" rührt nicht unmittelbar an das Bereich
der Tannhäusersage, wenn auch einige Verwandtschaft besteht.
Hinoeo-en bietet jenen Gedanken voll und ganz die anklingende
Sage vom Schwanenritter : Dieser, längst von der Oberwelt ge-
schieden, wird von dem bergentrückten König Artur (Arturus,
Artus) aus dem hohlen Berge gesandt, wo er bei Juno und
Felicia lebte ; der keltische Artus ist in allen auf ihn bezüg-
lichen Sagen leicht als völlig unserem Wuotan entsprechend
zu erkennen, Juno ist gleich der Venus unsere Fria =. Holda,
und Felicia wiederum Fortuna, Salida (Saide). Im Parcival
wird der Eitter von dem geheimnisvollen Graal**'^ ausgesandt,
und hier begegnet für den unheimlichen Kämpfer der Name
Lohengiin (Loherangrin; d. i. Flammenhelm oder Flammen-
* Der Name Odhinn, Otan, Wuotan bezeichnet den „ Wilddurclidrin-
ffenden, Wütenden^, und ganz ebenso Odysseus den „Zi/rnendoi*', letzteres
in der Odyssee insbesondere mit Bezug auf die heftige Gemütserregung
gegen die unverschämten Freier aufgefafst. Ulysses?
** Herka oder Zisa ist die Gattin des Schwertgottes Ziso (Zio) =
Heru = Saxnot. In ihrem Berge oder Steine (Harkenstein oder Hirken-
stein im Ilavellande) wohnen die Unterirdischen, d. i. Zwerge. Diese
Göttin scheint sowohl dem Namen als dem Wesen nach ganz obiger Kirke
zu entsprechen.
*** Darf dieses sachliche Wort an eine Person, den wisterhlicU lebenden
Grcdent, gemahnen V Welcher Ausdruck würde von dem anderen ent-
lehnt sein?
KyOhäuser, TaniiLäuser, Rattenfänger. 199
geeicht?). 80 spinnen sich Faden auf Faden unendlich fort in
Menschen-, Helden- und Göttergeschichte.
Aber alle diese angeführten Beispiele der Ähnlichkeit müssen
zurücktreten gegen die bedeutsame Berührung der Tcuüihäuser-
sage mit obiger Sveglirsage. König Svegdir hat so grofse Ähn-
lichkeit mit Tannhäuser, welcher der Venus Wunder zu schauen
trachtet, dafs man geneigt ist, ihn als Urbild für diesen zu
nehmen; denn seine Sage scheint wirklich nur eine plumpere
Darstellung des Ur-Tannhäuser zu sein. Die Ähnlichkeit ist
so grofs, dafs sogar der Zwerg der Svegdirsage sein P^benbild
in der Tannhäusersage hat: Es ist Eckhart (Eginhart) der Ge-
treue, welcher nicht nur dem wütenden Heere voranschreitet,
sondern auch als Hüter an dem Venusherge sitzt; er ist gleich-
falls als Zwero" aufzufassen. Wenn es allerdino^s in der Sao-e
von ihm heifst: er sitze vor dem Venusberge, um die Leute
zu warnen, hineinzugehen, so ist das lediglich christliche Ände-
runo: des alten Zuges.
Nun noch einige betrachtende Worte über den Namen
Tannhäuser, welcher in mannigfachen Abweichungen vorkommt,
als: Tanhuser, Tanhauser, Tanheuser, Tannhäuser, Danhuser,
Dannhuser, Dannhauser, Danhewser, Danhäuser; dänisch: Da-
nyser; im holländischen Liede wird der Name zu Danielken
verstümmelt (was wohl entlehnt ist von einem am Hofe des
Königs Artus vorkommenden Daniel). Die erste Silbe des
Wortes hat schwerlich etwas mit Tanne, Tann zu schaffen,
wenngleich einige Orts- und Familiennamen dahinweisen könnten.
Walter Scott bietet uns ein schottisches Volkslied von des Tam-
lane Aufenthalt bei den Elfen (Eiben) und seiner späteren Er-
lösunoj. Ob dieser keltisch klinojende Name selbständig: oder
dem deutschen nachgebildet isti^ An König Dan (Danr),
den Ahnherrn der Dänen, welcher bei seiner Bers^entrückun":
das Rofs gesattelt bei sich behalten wollte, darf wohl kaum ge-
dacht werden (?), noch weniger jedenfalls an die rätselhafte
deutsche Göttin Tanfana (Tamfana?), welche der germanisch-
skythischen Tahiti (Tambiti?) zu entsprechen scheint. Versuchen
wir eine andere Deutuno;:
Aus der Ähnlichkeit, besser Gleichheit der Svegdir- und
Tannhäusersage geht hervor, dafs der Zwerg Eginhart das Amt
eines Heroldes sowohl hei Wuotan versieht, indem er die Thüre
200 Kyffhäuser, Tannbäuser, Rattenfänger.
zum Steine vor Unberufenen hütet und die GUuibigen hinein
weist, als auch bei Frau Holda, indem er in gleicher Eigenschaft
vor ihrem Berge sitzt und aufserdem noch dem von der hohen
Göttin geführten Zuge mit weifsem Stabe vorausgeht. Aus dem
o-emeinsamen Herolde ist man auf einen gemeinsamen Aufenthalt
des göttlichen Ehepaares im sogenannten Venusherge zu schliefsen
berechtigt. Was ist auch natürlicher, als diese beiden waltenden
Urwesen der deutschen Göttersage vereint zu denken? Wie,
wenn der Berg, in welchem der „Alte vom Berge, Herrscher
der Tiefe" mit seiner schönen Gemahlin Fria haust, den Namen
Wuotanshäuser geführt hätte als Brudernamen des KyfFhäuser?
Nach dem Breviarium des Lullus hat es einen alten thürin-
o-lschen Ort Wiidaneshusun^ Woteneshusun* gegeben, und merk-
würdiorerweise heifst noch heutzutao;e ein Ort in der Nähe des
Hörselbergea Wutha, was an jenen erinnern mufs, wenngleich
mir keine ältere Namengestalt aus der Zwischenzeit vorliegt.
Aufser diesem thüringischen Wotaneshusun scheint es noch
andere süddeutsche Orte des Namens Wotanhusen, Otanhusen
oder sonstwie gegeben zu haben, wo dann unter Verschluckung
der ersten Silbe eine Umwandlung in Tanhausen^ oder mifs-
verstanden: Tannhausen, stattgefunden; so liegt ein Thannhausen
in Bayeriech-Schwaben.** Auf diese Weise würde auch der
* Ein Ort im Triererlande läfst sich vergleichen : OtzenJiausen, welchen
ich als Wuotan-Stätte nachgewiesen habe; er entspricht als Olaneshusun
genau dem thüringischen Wotaneshusun. Der sonst ungewöhnliche Wegfall
des W gleich dem Nordischen (Odhinu), wie er auch schon oben beim
Odenberg begegnete, mufs trotz vielfachen AViderspruches einem deutschen
Stamme, und zwar einem Teile der Alemannen, eigen gewesen sein. Ein
Otzherg (= Otanesperac) liegt im Darnistädtischen, ein Üttenhausen hei
Saarbrücken, Ottweiler bei JSt. Wendel, Odenbach in der Pfalz u. s. w.,
des Odenwaldes nur flüchtig zu gedenken.
* Die süddeutsch-österreichischen (fränkisch-schwäbischen) Adelsfamilien
von Tanliusen können sich nach solchen Orten benannt haben. Aber nicht
anzunehmen ist, dafs der sagenhafte Tannhäuser in irgend welcher Beziehung
zu diesen Familien steht. — Das Geschlecht des grofsen bayerischen Feld-
herru, die Freiherren von und zu der Tann gehören einem altadeligen Ge-
schlechte Frankens an; Stammsitz ist das Schlofs Tann an der Rhön, beim
Städtchen gleichen Namens gelegen.' Der Familienname, welcher bis etwa
zur Reformationszeit Than geschrieben ward, kommt schon viel früher in
der deutschen Geschichte und sogar in der Sagengeschichte vor. Ein Than
soll unter Karls des Grofsen berühmtem Paladin Roland (Rutland) gekämpft
haben, ein anderer Than hat in der Schlacht auf dem Lechfelde gegen die
Ungarn gestritten. Ilaben wir vielleicht auch hier eine Kürzung des
Namens Wuotan — aus heiliger Scheu, weil sich vollständig nach Götter-
nameu zu benennen für einen Frevel erachtet ward?
Kyffhäuser, Tannhauser, Rattenfänger. 201
Name Tanhäuser als Wotanhäiiser gefafst werden können, also
eigentlich Tanhäuser auszusprechen sein.
Der edle fränkische Ritter, dessen Name nicht erhalten zu
sein scheint, kehrte von dem unvolkstümlichen fremden Chrlsten-
gotte zum alten Götterreiche, zu seinem altgeliebten AVuotan
und dessen schöner Gemahlin zurück und erhielt im Volks-
munde, als die Thatsache zur Sage umgebildet war, den Bei-
namen „der Wuotanhäuser", d. i. der Abtrünnling, welcher im
Wuotanhäuser Berge orewesen ist.
Und wo bleibt der Rattenfäno;er von Hameln? wie wäre
dieser zu deuten und in Verbindung mit dem Bisherigen zu
bringen? Stellen wir die Hauptzüge dieser seltsamen Sage zu-
sammen: Im Jahre 1284 am Tage Johannes und Paulus,
26. Juni, war es nach urkundlicher und inschriftlicher Über-
lieferung, dafs ein buntgekleideter Sjyielmann 130 Hamelnsche
Kinder in den Calvarien- oder Coggenherg geführt hat. Das
kam aber so: Die Stadt war von Ratten und Mäusen schwer
heimgesucht. Da erschien ein fremder Pfeifer und erbot sich,
die immer ernster werdende Plage zu beseitigen. Er blies so
wunderbare Welsen auf seiner Pfeife, dafs alle Ratten und
Mäuse hinter ihm herliefen und ihm bis in die Weser nach-
folgten, wo sie ertranken. Als man nun aber dem Fremdling
den bedungenen Lohn nicht auszahlte, erschien er am nächsten
Sonntag, als gerade alle Erwachsenen in der Kirche waren,
wieder, in Jägertracht mit rotem Hute und schrecklichem An-
gesichte. Er blies so herzbewegend in den Gassen, dafs alle
Kinder ihn folgten. JEr führte sie zum Osterthor hinaus an den
Fufs eines Berges, icelcher sich aufthat, und In welchem er mit
ihnen verschwand. Nach anderer, etwas älterer Fassung der
Sage hatte der Rattenfänger auch die Ratten und Mäuse in
den Berg geführt. — Dies ist die Sage in abgerundeter Voll-
eudung, wie sie etwa gegen Ende des 16. Jahrhunderts ihre
Gestalt erlangt haben mag, während die älteste überlieferte
Nachricht, welche nur ganz kurz in lateinischer Sprache die
nackte Thatsache ohne jede Erwähnung des Unglücksfiilles be-
richtet, frühestens aus dem 14. Jahrhundert stammt. Was auf-
fällig erscheint und ein höheres Alter der Sage in Frage stellen
könnte, Ist der Umstand, dafs diese an eine bestimmte, im
Verhältnis jüngere Zeit, spgar an Jahr und Tag gebunden
202 Kvd'häuser, Tunnhüuser, Rattenfänger.
scheint.* Aber man bedenke, bei wie vielen uralten Sagen wir
dasselbe haben ; man erwäge nur die Tellsage, Winkelriedsage
und viele andere, man denke auch an die Übertragung nebel-
hafter Göttersagen auf Menschen, sogar neuerer Zeit, vor allem
an unsere besprochenen Wuotan-Karl-Friedrich- Sagen. Was
aber offenbar und unzweifelhaft der Rattenfänorersaiie den Be-
weis des Alters liefert, ist der Umstand, dafs dieselbe ganz
oder teilweise auch in anderen Gegenden vorkommt, ohne dafs
eine Entlehnung angenommen werden kann. So treffen wir den
Pfeifer, welcher die Kinder entführt, auch im Harze an unter
der Gestalt eines Dudelsackbläsers, welcher von Haus zu Haus
zieht ; in jedem Hause, vor welchem er pfeift, stirbt ein junges
Mädchen und folfj:t ihm, bis er fünfzio; Mädchenseelen im Ge-
foloje hat. Ahnliches erzählt man an vielen Orten Mittel- und
Süddeutschlands. In der Wormser Sage vom Lorscher See
werden nach manchen anderen Plao^en zuletzt die Seelen der
Kinder von dem Spielmanne, welcher als Bergmännchen, Zwerg,
auftritt, entführt. Auffallend gleich ist auch eine keltische Sage,
wenn gestattet ist, solche hier anzuwenden : Zu Belfast in Irland
erzählt man von einem Dudelsackpfeifer, welcher die Kinder in
einen sich von selber öffnenden Berg lockt. Man sieht, wie der
Hauptzug sich überall gleich bleibt, bedeutsam für die Behaup-
tung sprechend, dafs die Erzählung dem grauen Alter der
Saorenzeit angehört.
Wir wollen nunmehr die Sas^e zerfrliedern: Der der heu-
tigen Fassung derselben unentbehrliche erste Teil, die Ratten
und ihre Beseitio^uno* fehlt in den älteren Berichten voUständio;
und taucht erst später ganz plötzlich als eigenartiger Zusatz
auf. Noch ein Hamelner Stadtbuch, die jüngere „Brade" ge-
nannt, welche, für die Vergangenheit auf der „älteren Brade"
fufsend, gegen Ende des 16. Jahrhunderts niedergeschrieben
worden ist, erzählt in einfacher Weise also: „Anno 1284 am
dage Joannis et Pauli, ist der 26te dach des mantes jünii ge-
wesen, sint durch einen Piper, so mit allerleige varve bekledett,
einhundert und drittich kinder, in Hamelen geborn, uth der
stadtt gebracht unde up den koppen by Calvarie buthen dem
* Haben wir doch erst kürzlich gesehen, wie in Hameln das GOOjährige
Erinnerungsfest grofsartig begangen worden ist.
Kyffbäuser, Tannhäuser, Rattenfänger. 203
oisterdore verbracht unde verloren." Man sieht, dafs von Ratten
keine Spur ist. Nun begegnen in der Volkssage unter der
Gestalt der Mause, vielleicht auch der nahestehenden Ratten,*
vielfach die Seelen der IMenschen, wie u. a. die bekannte Hatto-
sage, sowie die zahlreichen Ilexensagen beweisen. In der
Hamelner Märe könnte uns also ein Zug unter zwei verschie-
denen Bildern vorliegen, welche späterhin deutelnd verknüpft
wurden ; die ältere Fassung der Sage würde dann dahin lauten,
dafs die Kinder unter der Gestalt der Mäuse oder auch Ratten
entführt wurden.
Der Name des Hamelner Berges Coggenhergy wofür auch
Kockenberg, dürfte an den vorerwähnten sagenhaften Gucken-
berg erinnern ; jedoch begegnet auch Koppenberg und sogar
Kopffelberg, Köpffenberg. Er ist zweifelsohne ein Götterberg
und geht daneben in den Begriff eines Totenberges, der Unter-
welt über, wie denn die Rattenfängersage, entgegen den meisten
bisherigen Sagen, nahe an die Totensagen rührt. Wer ist nun
der Spielmann, Pfeifer, Dudelsackbläser, Rattenfänger? Ent-
weder ein seelenhaschender Abgesandter eines Gottes, einer
Göttin, Wuotans, der Fria, wie das Bergmännchen, der Zwerg
in der Wormser Sage — oder vielleicht der o-rofse Wuotan
selber, welcher, wie wir gesehen, eifrig trachtet, sein Reich
durch immer neue Seelengewinnung zu stärken. Manches dieser
Anschauung ist auf den jüngeren Tod übergegangen, welcher
gleich Wuotan zu Rosse erscheint und die Seelen auf dasselbe setzt.
Wesentlich ist in der Rattenfängersage die zauberhafte,
wunderbar-mächtige Wirkung der Musik, durch welche die
Seelen in das geheimnisvolle Reich gelockt werden. Schon bei
Holda trafen wir denselben Zug. Von Wuotan heifst es in
o'
der „Heimskringla": „Odhinn wufste auch von allen in der
Erde verborgenen Schätzen, und er verstand die Lieder^ durch
icelche die Erde, die Berge und Steine und Grabhügel sich öffneten;'^
auch das wunderkräftige Hörn des Alps oder Zwerges Alberich
= Oberon, icelches alles tanzen macht, gehörte ursprünglich dem
obersten" Gotte an. Bekanntlich begegnet der Tod gleichfalls
als munterer Spiehnann und führt einen einnum wirbelnden
* Vielleicht sind die Ratten nur durch Mifsverständnis, vielleicht auch
durch die Verstümmelung des Eigennamens des Trägers der Sage zu „Ratten-
fänger" in die Sage gekommen?
204 KyÖ'häuser, Taunhäuser, Rattenfänger.
Reigen, den Totentanz^ auf, um sich durch Pfeifen und Geigen
Gefolgschaft zu werben. Die Redart „auf dem letzten Loche
pfeifen" für „sterben" ist entstanden aus dem Gedanken, dafs
der Tod, oder umschreibend der Sterbende selber, die Töne
auf der Flöte herunterspielt, bis mit dem letzten Loche der
letzte Klang verhallt, und der Mensch dem Tode anheim-
gefallen ist.
In dem Büchlein „Der historische Kern der Rattenfänger-
sage, von Dr. Otto Meinardus" sucht der Verfasser die Sage
herzuleiten aus der Tanzwut, dem Veitstanze (St. Vitus?),
welche zu grofsarti^en Wandertänzen ausartete und zahlreiche
Opfer kostete. Das hat eine grofse Wahrscheinlichkeit für sich
und kann leichtlich der Ursprung der Rattenfängersage sein.
Aber auch dies angenommen — als die Sage, an eine be-
stimmte geschichtliche Thatsache anknüpfend, ausgebildet ward,
verschmelzte man sie mit den älteren volkstümlichen An-
schauungen, welche im unverwüstlichen Heidentum wurzelten.
Der Grundzug der Sage ist uralt; dagegen ist nicht anzu-
kämpfen.
Und nun zum Schlüsse: Man sieht, dafs allen drei grofsen
Sagen, der mit der Odenbergsage zusammenfallenden Kyffliäuser-
sage^ sowie der Tannlülusersage imd der Rattenfänger sage ein
einziger grofsartiger Gedanke innewohnt: die Hoffnung auf
Wiederkehr des zurücJcgedrängten Heidenreiches! Wenn wir nun
dieses auch trotz aller christlichen Konfessionswirren jetzt nicht
mehr herbeisehnen wollen und können, so dürfen wir doch ge-
trost ausrufen : O käme die Zeit des alten, ungetrübten deut-
schen Volkstums wieder und machte der Kläglichkeit des zer-
setzenden politisch-religiösen Welschtums für immer ein Ende!
Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Internationale Zeitschrift für allgemeine Sprachwissenschaft.
Herausgegeben von Dr. F. Techmer, Dozent der allgem.
Sprachwissenschaft an der Universität Leipzig. I. Band.
Leipzig, Joh. Ambr. Barth.
Über die Entwickelung dieses höchst beachtenswerten Unternehmens
berichtet Herausgeber S. XII: Durch seinen eigenartigen Studiengang wurde
er von der Philosophie und Naturwissenschaft zu der Sprachwissenschaft
geführt. Zunächst widmete er sich den neueren Sprachen, namentlich wäh-
rend eines fünfjährigen Aufenthaltes in Frankreich, England und Italien ;
später der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft und der Sprachen-
kunde. So entwickelte sich das folgende Programm für seine sprach-
wissenschaftliche Thätigkeit:
Begriff (weiterer der Ausdrucksbewegungen, engerer der artikulierten
Sprache), Geschichte, Methode (induktive) der Sprachwissenschaft. Einteilung:
I. Naturwissenschaftliche Seite (Beziehungen zur Anthropologie).
1. Akustische Ausdrucksbewegungen {Phonetik). Physikalisches. Ana-
tomie, Physiologie, Pathologie des gesamten Sprachorgans und
Ohres. Artikulationsstörungen. Taubstummheit. Physiologische
Erklärung des Laut- oder vielmehr Artikulationswandels und der
Lautgesetze in ihrem steten Wirken.
2. Optische Ausdrucksbewegungen {Graphik). Physikalisches. Ana-
tomisches. Physiologie der Mimik, der Gesten (besonders der der
Taubstummen), der Schrift. Pathologie der Schrift. Tastbare Aus-
drucksbewegungen. Blindenschrift. Laura Bridgmans Fall u. ä.
3. Gegenseitiges Verhalten der akustischen und optischen Ausdrucks-
bewegungen. Methodik des Taubstummenunterrichts. Die Schrift
unabhängig vom Laut und im Dienste desselben. Orthoepie und
Orthographie. Principien der Transskription. Psychologisches.
II. Psychologische Seite {Psychik) . Beziehungen zur Psycholotjie.
AVechselwirkungen zwischen Sprache und Seele. Die psychologischen
Vorbedingungen und Gesetze der Entwickelung (Erzeugung und Ver-
änderung) von:
1. Artikulation (Artikulationssymbolik und -Verschiebung),
2. Laut (Lautpsychologie und -Verschiebung),
3. Wurzel (Definition derselben),
4. Wort (Semasiologie und Bedeutungswandel),
3. Satz (vergleichende Syntax inkl. der der Taubstummensprache).
206 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Dem entsprechend die Psychologie der optischen Ausdrucks-
bewegungen.
Analogie. Wichtigkeit der Psychik für die etymologische For-
schung. Ideologische Beiträge um so mehr wünschenswert, als diese
Seite gegenüber der naturwissenschafi liehen und historischen bisher
zu sehr vernachlässigt oder vorwiegend a priori behandelt worden,
und die Resultate letzterer Methode sich bei den aufsenstehenden
Kreisen einzubürgern anfangen.
IlL Historische Seite (Iflstorit).
1. Plii/lof/enetische Entwickelung der Sprache.
TJrsprung und vorhistorische Entwickelung. Sprachwissenschaft
und Darwinismus. Beziehungen zur Mythologie. Historische Ent-
wickelung. Historisch- vergleichende Methode. Beziehungen zur
Ethnographie. Begriff der Tochter- und Mischsprache, der Mund-
art und Schriftsprache, der Sprachfamilie und (\'olks-)Sprache.
Charakteristik der Sprachen in ihren verschiedenen Entwickelungs-
phasen. Grammatik und Wörterbuch. Merkmale der relativen
Vollkommenheit: Einheit und Gliederung (funktioneller Wert der
Glieder in Rede, Satz, Wort und Laut).
Sj)racJienl'unde.
Einteilung der Sprachen; naturwissenschaftliches (phonetisches),
psychologisches, historisches Princip. Ungebildete und gebildete,
lebende und tote Sprachen. Sprachwissenschaft und Philologie;
Paläontologie. Die ungebildeten und lebenden Sprachen hier be-
sonders zu berücksichtigen. Die Missionare und Sprachlehrer zu
überzeugen, dafs sie in vieler Beziehung gemeinsame Interessen
mit den Sprachforschern haben. Nach jeder Seite Erweiterung
der induktiven Grundlage zu erstreben.
•2. Ontologische Entwickelung der Sprache.
Kindersprachen. Erlernung der Muttersprache (\'ergleicliung
mit den verwandten Mundarten) und fremder Sprachen. Metho'lik
des Sprachunterrichts. Streben des Individuums zum Ganzen
(Genus). Sprache und Menschheit. Ideen einer Universalsprache
und -Schrift.
Zur Ausführung dieses Programms begann der geschätzte Herausgeber
mit dtr naturwissenschaftlichen Seite und veröffentlichte als I. Band einer
„Einleitung in die Sprachwissenschaft: Die akustischen Aus-
drucksbewegungen" (Phonetik) in zwei Teilen, 1880, ein treffliches Werk,
welches im Archiv LXVI, 107 besprochen und als vollständigstes Reper-
torium zur vergleichenden Physiologie der Stimme und Sprache anerkannt
worden ist. Bei weiterer Arbeit sah Herausgeber, dafs zur Ausführung des
obigen Programms die Kraft eines einzelnen ni(dit ausreichend sei, „dafs
es des Zusammenthuns vieler Forscher, womöglich aller Nationen bedürfe,
dafs Teilung; der Arbeit und doch wieder Einheit des Planes notwendig
seien". So entwickelte sich der Gedanke der Internationalen Zeit-
schrift für allgemeine Sprachwissenschaft und der folgende
Plan dazu :
„Die Internationale Zeitschrift für allgemeine Sprachwissenschaft er-
scheint in Heften von je ca. l.ö Bogen Roy.-S*^ zum Abonnementspreise von
12 Mark für den Band von zwei Heften, welche letztere, soweit als thun-
lich, je halbjährlich ausgegeben werden sollen. Aufser Originalarheiten in
deutscher, englischer, französischer, italienischer, lateinischer (fjanz aus-
nahmsweise auch in anderer) Sprache werden Abdrücke oder Übersetzungen
wichtiger, aber schwer zugänglicher Abhandlungen, Auszüge, Besprechungen,
Bibliographie, Mitteilungen und buchhändlerischo Anzeigen, aufserdem in
jedem Bande das Bild eines der Hauptvertreter der Sprachwissenschaft, zu-
nächst das von W. v. Humboldt, geboten werden."
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 207
„Die Zeitschrift soll rein der Wissenschaft dienen ohne Rücksicht auf
Nationalität, Partei oder Schule. Gegensätze in den Ansichten werden nie
ganz zu vermeiden sein ; sind sie ja doch ein Zeichen des Lebens in der
Wissenschaft und eine Bedingung ihres Fortschritts. Doch sollte in jeder
wissenschaftlichen Kritik Urbanität herrschen und im internationalen Verkehr
mehr als das; hier ist Humanität notwendig."
Auf Grund dieses Plans und des obigen Programms haben die berühm-
testen Sprachforscher ihre Mitarbeit zugesagt, die Uauptvertreter der aU-
gemeinen Sprachwissenschaft, der einzelnen Teile derselben und der nächst
verwandten Wissenschaften.
Des ersten Bandes erste Hälfte erschien mit Anfang 1884. Das neue
Unternehmen ist vielerseits besprochen worden und hat nach dem vom Ver-
leger versandten Auszug der Besprechungen reiche Anerkennung gefunden.
Die zweite Hälfte des ersten Bandes ist Ende 1884 herausgekommen.
So sind wir nunmehr im stände zu prüfen, wie weit der abgeschlossene
erste Band dem Programm entspricht. Wir halten uns dabei Schritt für
Schritt an die Disposition des Herausgebers.
Zur Geschichte der Sprachwissenschaft hat Pott Beiträge geliefert mit
seiner „F^inleitung in die allgemeine Sprachwissenschaft" S. 1 — 6S, 329 — 354.
I. Über die naturwissenschaftliche Seite, und zwar
1. Über die akustischen Ausdrucksbewegungen handelt Techmer:
„Naturwissenschaftliche Analyse und Svnthese der hörbaren
Sprachen" S. 69—170.
2. Über die optischen Ausdrucksbewegungen Mallery : Sign Langua<ye
S. 193 — 210.
3. Über das gegenseitige Verhalten beider, besonders über die Prin-
cipien der Transskription Techmer: „Transskription mittels der
lateinischen Kursivschrift. Vorschlag zum möglichst einheitlichen
Gebrauch in der internationalen Zeitschrift" S. 171 — 192.
n. Die psychologische Seite, namentlich des Wortes, erörtert
W^ V. Humboldt: „Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus. Wörter-
vorrat" S. 383—411. Die Analogie Kraszewski: „Principien der
Sprachentwickelung" S. 295 — 307.
ni. Historische Seite.
1. Phylogenetische Entwickelung der Sprachen.
\ orhistorische Entwickelung, Sayce : The Person-endings of
the Indo-european verb S. 222—225. Beziehungen zur Älytho-
logie: Max Müller, „Zephyros und Gahusha" S. 215—217. Mund-
art: Lundell, „Sur Tetude des patois" S. 308—328.
Sprachenkuncle: v. d. Gabelentz, „Zur grammatischen Beurtei-
lung des Chinesischen" S. 272 — 280. Himly, „Über die einsilbigen
Sprachen des südöstlichen Asiens" S. 281 — 294. RadlofF, „Zur
Sprache der Komanen" S. 377 — 382. Donner, „Über den Einflufs
des Litauischen auf die finnischen Spraclien" S. 257 — 271. Bruo--
mann, „Zur Frage nach den Verwandtschaftsverhältnissen der
indogermanischen Sprachen" S. 226 — 256.
Einteilung der Sprachen: Adam, „De la categorie du genre«
S. 218-221.
2. Ontologische Entwickelung der Sprache. Methodik der Sprach-,
specieller des Leseunterrichts: RadlofF, „Lesen und Lesen lernen"
S. 355 — 376.
W^ir erkennen somit, dafs der erste Band den einzelnen Teilen des
Programms in voller Weise gerecht wird; niemand könnte verlangen, dafs
er es erschöpfen sollte. Das ist ein Ideal, welchem sich die Zeitschrift
erst in weiterer Folge nähern kann, wozu wir ihr gedeihlichen Fortgang
wünschen.
Die Beiträge des ersten Bandes sind zumeist in deutscher, zum Teil in
208 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
englisclier und französisclier Sprache verfafst; von den A'erfassern sind bel-
gische Unterthänen 1, deutsche 6, englische 2, französische 1, österreichische 1,
russische 3, schwedische 1, amerikanische der Vereinigten Staaten 2. Die
Zeitschrift ist also in Wirklichkeit eine internationale. Wir zählen 15 Ori-
(/inalarbeiten., 1 Abdruck eines Huniboldtschen Manuskripts, 1 Uehersetznng
aus dem Schwedischen ins Französische und 3 Besprechungen. Hoffentlich
werden die Mitarbeiter der Bitte des Herausgebers um periodische Berichte
und gruppenweise Besprechungen (S. 416) Gehör geben. In seiner Biblio-
graphie des Jahres 1883 berichtet Herausgeber zuerst über Sammelwerke,
Zeitschriften u. dergl.; er bespricht dann 93 Einzelwerke nach der alpha-
betischen Reihenfolge der Verfasser. Aus dem Rückblick, in welchem
diese Werke nach dem Inhalt übersichtlich geordnet werden (S. 499 f.),
ersehen wir, dafs Herausgeber auch in der Bibliographie den verschiedenen
Seiten des Programms seine Aufmerksamkeit möglichst gleichraäfsig zu-
gewandt hat. Was die Art und Weise der Besprechung betrifft, so wird
man allerseits zugestehen müssen, dafs er den Grundsatz seines Prospekts
stets vor Augen gehabt hat: „Die Zeitschrift soll rein der AVissenschaft
dienen, ohne Rücksicht auf Nationalität, Partei oder Schule. Gegensätze in
den Ansichten werden nie ganz zu vermeiden sein . . . Doch sollte in jeder
wissenschaftlichen Kritik Urbanität herrschen und im internationalen Ver-
kehr mehr als das: hier ist Humanität notwendig."
Der Band schliefst mit Mitteilungen, einem Personen- und Sachregister.
Er ist dem Andenken W. v. Humboldts gewidmet. Ein wohlgelungeuer
Stahlstich von dem neuen Denkmal desselben vor der Berliner Universität
ist beigegeben.
Die Ausstattung verdient volle Anerkennung; dabei ist der Preis so
gering, dafs nicht blols alle Anstalten, an welchen die Sprachwissenschaft
und der Sprachunterricht gepflegt wird, sondern auch Sprachforscher und
Sprachlehrer für sich im allgemeinen im stände sein werden, auf die Zeit-
schrift zu abonnieren.
J. Stürzinger, Orthograpliia Gallica. Ältester Traktat über
französische Aussprache und Orthographie. Heilbronn,
Henninger, 1884. XLVl u. 52 S.
Der achte Band der von W. Förster herausgegebenen altfranzösischen
Bibliothek enthält den kritischen Text der Orthographia Gallica, des ältesten
Traktats über französische Aussprache und Orthographie. Die vier Hand-
schriften, in denen der Traktat vorhegt, sind in Parallelkolumnen neben-
einander abgedruckt p. 1 — 29; es folgen die Varianten p. 30 — 37, und An-
merkungen p 38-52. In der Einleitung bespricht der Verfasser aufs ein-
gehendste den Stand der französischen Grammatik in England vor dem
16. Jahrhundert, indem er alles nicht nur namhaft macht, sondern auch
genau beschreibt, was er von einschlägigen Abhandlungen in den Biblio-
theken von London, Oxford und Cambridge hat finden können. Wenn er
hierbei der besseren Übersichtlichkeit wegen eine Dreiteilung der vorhan-
denen Werke in solche, die von Aussprache und Orthographie, in solche,
die von Deklination und Konjugation, und in solche, die von Syntax und
Komposition handeln, vornimmt, so darf man nicht annehmen, dafs die alten
Grammatiker selbst eine solche Scheidung streng durchgeführt o<ier auch
nur angebahnt hätten. Sie stellen die verschiedenartigsten Dinge unver-
mittelt nebeneinander, indem sie es dem Leser überlassen, das Zusammen-
gehörige zusammenzutragen, was Stürzinf^er für die Orthographia Gallica
denn auch gethan hat. Die von Syntax und Komposition handelnden Werke
sind entweder Manieres de langage (Musterdialoge) oder Epistolaries und
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 209
Chartuaries, die Vorläufer der modernen Briefsteller. Aus allen in Rede
stehenden Werken, gleichviel welcher Art, teilt der Verfasser gröfsere oder
kleinere Stücke mit, was dem Leser gestattet, sich eine Vorstellung von
der Art ihrer Abfassung zu machen.
Der zweite Teil der Einleitung von p. 24—46 behandelt die Ortho-
graphia Gallica. Nach einer genauen Beschreibung der vier vorhandenen
Handschriften, des Towerdokuments (T), des Harleyandokuments (H), des
Cambridger (C) und des Oxforder (O) Dokuments, stellt der Verfasser ihr
Verhältnis untereinander fest. Es ergiebt sich, dafs auch die älteste Hand-
schrift, das Towerdokument, nicht das Originalmanuskript sein kann, weil
sie neben groben Fehlern auch deutliche Spuren von Auslassungen zeigt,
wie sie nur ein Abschreiber sieh konnte zu Schulden kommen lass^en.
T kann aber auch nicht das Original für H, C, O gewesen sein, weil es
neun Regeln enthält, die in H,C, O fehlen, während diese sechzig andere
Regeln bringen, die in T nicht stehen. H steht wiederum für sich allein
da, indem es alle Regeln aufser dreizehn in französischer Fassung bringt,
während sie in T, C und O durchweg lateinisch abgefafst sind; ferner ist
die Reihenfolge der Regeln in H eine ganz andere als in C und O, und
schliefslich hat H vierzehn nur ihm eigentümliche Regeln. — C und O
unterscheiden sich ihrerseits durch Umstellung und verschiedenartige Fassung
einzelner Regeln so sehr, dafs man auch bei ihnen annehmen mufs, dafs
sie nicht von demselben Original abgeschrieben worden sind. Wenn nun
auch die in C und O enthaltenen Regeln durchweg lateinisch abgefafst sind,
so zeigen doch gewisse bezeichnende Mifsverständnisse, die beiden gemein-
sam sind, dafs die ursprünglichere Redaktion, auf die beide, wenn auch auf
verschiedenen Stufen der Abhängigkeit, zurückgehen, ii-anzösisch geschrieben
gewesen sein mufs.
Inhaltlich lassen sich sämtliche in H,C, O enthaltene Regeln in den
ersten siebzehn und dem zwanzigsten Paragraphen von T unterbringen, zu
denen sie also nur einen etwas weitschweifigen Kommentar bilden. Da
nun T neun besondere Regeln enthält, die den drei anderen Hss. fehlen,
da die Hs., in der es steht, die älteste unter den vier vorhandenen ist, und
da es bezüglich einer vernünftigen Reihenfolge der einzelnen Regeln die
anderen Hss. bei weitem übertrifi't, so steht es dem Original am nächsten
und darf daher für die Feststellung des kritischen Textes das gröfste Ge-
wicht beanspruchen.
Mit nicht geringerem Scharfsinn, als das Verhältnis der Hss. unterein-
ander, stellt der Verfasser die Zeit der Abfassung fest. Da andere An-
haltspunkte fehlen, schöpft er seine Beweise aus dem Texte der Regeln
selbst, der ihm grammatische und lautliche Erscheinungen bietet, welche
er mit Hilfe von anglonormannischen Hss, und Urkunden zeitlich fixiert.
Das Ergebnis, welches sich auf das Auftreten des Feminins grande
neben grant, von aun 4- cons. für an -j- cons., von qui und que mit q statt
mit k, von y für i, und von rundem s in den einsilbigen Wörtern sum, set,
si, se statt langem f stützt, ist, dafs der Traktat von einem Engländer gegen
Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts verfafst worden sein mufs,
mit der Absicht, „die Orthographie des Anglonormannischen, die mehr und
mehr der volkstümlichen Aussprache nachfolgte, und daher in starkes
Schwanken geriet, nach französischem Vorbilde zu regeln."
Durch Umstellung der Regeln X und XX in T gelingt es dem Ver-
fasser, den Inhalt so zu gliedern, dafs der erste Abschnitt (von I — V^HI) nur
die Differenzen von anglonormannischer Aussprache und französischer Ortho-
graphie behandelt, im zweiten (von IX bis XVTI) nur Fälle von schwan-
kender Orthographie im Französischen aufgezählt werden, während der
dritte (von XVIII bis XXVI) nur Fälle der lateinischen Orthographie be-
rührt und allgemeinere Schreibregeln enthält. Die Regeln des in H,C, O
vorliegenden Kommentars werden ohne Rücksicht auf die Reihenfolge, welche
Archiv f. n. Sprachen. LXXIÜ. 14
210 Beurteilungen und kurze Anzeigen,
sie in den einzelnen Hss. haben, neben diejenigen Regeln von T gesetzt,
zu denen sie dem Inhalte nach gehören.
Was nun diesen Inhalt betrifft, so ist er ziemlich dürftig. Die Regeln
handeln in der bei T beobachteten Reihenfolge über ie und e, über ee und e,
über die Aussprache von oe, über z am Wortausgange, über die Aussprache
von s vor t, über die Apostrophierung einiger vokalisch auslautender ein-
silbiger Wörter vor vokalischem Anlaut, über die vokalische Aussprache
von 1 nach a, e, o und vor Konsonanten, über das Verstummen von End-
konsonanten vor konsonantischem Anlaut, über die Diphthonge oi und oe,
über die Schreibung mit q oder k, über die Schreibung mit grofsen An-
fangsbuchstaben, über gn statt ngn in busoigner, über y statt i vor oder
hinter m, n, u; über rundes s statt langes f im Anlaut einsilbiger Wörter,
über die Einschiebung von p zwischen ??? und t (Beispiel: dampnum). Dazu
kommen Schreibregeln: über den Zwischenraum zwischen den einzelnen
AVörtern in der Zeile, über den Längenunterschied zwischen den grofsen
und den kleinen Buchstaben; schliefslich über die Erhaltung des latei-
nischen l in französischen Wörtern.
Wie man sieht, handeln die Regeln fast ausschliefslich von bekannten
Eigentümlichkeiten der anglonormannischen Aussprache und Orthographie.
Bemerkenswert scheint, aufser der Regel über das runde s (Quando diccio
monosvllaba incipit per s, solet rotundari, exempli gracia: sum, si, se, set
et similia), besonders die über die aspirierte Aussprache von s vor ?, worüber
T sagt: Item quedam sillabe pronunciate quasi cum aspiracione possunt
scribi cum s et t, verbi gracia est, cest, plest. Ebenso lautet H '29. In
H 91, C,0 18 heifst es: Item quando aliqua sillaba pronunciatur quasi cum
aspiracione, illa sillaba debet scribi cum p et t in loco aspiracionis, verbi
gracia est, cest, plest, und H .35: Et quant s est joynt [a la ^], ele avera
le soun de h, come est, plest serront sonez eght, pleght. Über dieselbe
Lautverbindung bemerkt das vom Verfasser in der Einleitung p. III u. IV
besprochene Bruchstück der Orthographia aus dem 15. Jahrhundert: Et
nota quod, quando due consonantes eveniunt in una sillaba in Gallico vel
in diversis diccionibus, prima consonans non sonabitur communiter ut : est,
cest, prest et similia in una sillaba, in diversis sillabis et diccionibus ut: il
est prest pur aler ove nos, qu'est la? estez vous la? et similia. Hier ist
also das .<? als stumm bezeichnet, während es die bei Stürzinger abgedruckten
Hss. des Traktats, wenigstens in den Wörtern est, cest, plest weich tönen
lassen. Aus den anderen auf s vor Konsonanz bezüglichen Regeln geht
teils direkt, teils indirekt hervor, dafs es stumm war. So C, ü 67: Item
aliquando s scribitur et k sonabitur, come ascun sonabitur aucun; ebenso
H 35, 8,61. C,0 21: Item quandocunque hec littera 5 scribitur post voca-
lens si m immediate subsequitur, s non debet sonari ut mandasmes, fismes,
duresme. C, O 93 : Item quandocumque m sequitur e vel i in diversis sillabis
et in una diccione, s debet interponi ut duresme, fismes, feismes. Dasselbe
besagt C, O 94. H 34: Et a la foithe escriverez .<? pur bele escripture come
mesme pur meme, treschier pur trechier. Während in den angeführten
acht Regeln s direkt als tonlos bezeichnet wird, schreiben vier andere
Regeln vor, dafs es geschrieben werden solle, ohne von seiner Hörbarkeit
etwas zu erwähnen. Diese sind H 30: Et saches qu'en verbes de present
temps et pretert escriverez ft come batist. H 31 : Mes entendez quant escri-
verez s et quant ne mie. A deprimes sachetz qe par entra t et e, i, o et u
escriverez en verbes de present temps et pretert come batist etc., e come
est, i come fist, o come tost, ti come lust etc. C, O 73: Item in verbis
presentis et preteriti temporis scribetis st apres /, e, o, n come batist, fist,
est, tost, lust etc. C, O 96: Item in presenti et in preterito tempore inter
2, e, 0, w et / debet s scribi ut est, fist, tost, lust etc. et in preterito inter
a et t ut amast.
Daraus, dafs hier die Schreibung von s verlangt wird, ergiebt sich,
Beurteilungen und kurze Anzeicren. 211
.j^„„ .XV.. ,.^ .^W^^.j^
dafs man es nicht sprach, ebenso wie aus der Forderung in T 1, Hl, C,0 1,
es solle bien, dieu, mieuz etc. mit ie geschrieben werden, folgt, dafs man
ben, deu, meuz etc. sprach. Da nun das Wort est, von dem H 35 sagt, es
solle eght gesprochen werden, in den zuletzt genannten Regeln H 31,
C, O 73, C, O 96 dreimal mit Wörtern, in denen .9 nicht gesprochen wurde,
zusammen genannt wird, so läfst sich doch nichts anderes annehmen, als
dafs es ebenfalls stummes s hatte. Der Widerspruch zwischen H 31, C,0 73,
C, O 96, wonach est stummes s hatte, und H 35, wonach es aspiriert = eght
gesprochen werden soll, läfst sich vielleicht dadurch erklaren, dafs man an-
nimmt, s war zur Zeit der Abfassung des verloren gegangenen Originals
noch hörbar, allerdings nicht mehr als .s, aber doch so, dafs es der ur-
sprüngliche Verfasser als eine Art Aspiration bezeichnen konnte. Diese
Bezeichnung und die von ihm gewählten Beispiele übernahmen die späteren
Abschreiber. Dafs s wirklich einmal, aber lange vor der Abfassung der
Orthographia, den Klang einer .Aspirata hatte, beweist einerseits die von
Diez, Gr.^ I, 457 besprochene Behandlung französischer Wörter im Mhd.,
wo föreht (neben forest) mit sieht reimt, andererseits der Umstand, dafs
in mengl. Hss., wie Herr Prof. Zupitza mir mitteilte, umgekehrt mitunter s
für h = gh (nist für niht) geschrieben wird.
iSo deutlich wie die angeführten Regeln sind übrigens bei weitem nicht
alle in der Orthographia gegebenen abgefafst. Gewöhnlich lauten sie so
wie die folgenden, welche als Musterbeispiele hier Platz finden mögen.
C, O 79: Item del, al (vel au loco al) quando tue sequitur et consonanz sequitur,
nt predictum est, 1 de del non debet mutari in u, sed 1 de al bene potest;
sed du tantum signiücat sicut de le vel del, verbi gracia: du dit portour
pro de le dit portour. H 55 : Et altrefoithe escriveretz devant adjectifs de
et altrefoithe du, de come de ceste chose, du come du dit portour, et
similia. H 50: Auxint altrefoithe escriveretz del, de, des, al, au, a, as,
iS'un weifs der Schüler, denn für solche sind die Regeln doch bestimmt,
ganz genau, was er in jedem einzelnen Falle zu setzen hat.
Was den Regeln indessen inhaltlich abgeht, wird durch die gediegenen
Anmerkungen des gelehrten Herausgebers reichlich ersetzt, unter denen be-
sonders die über ie, über ee, über oe und eo, über z, über x als Plural-
zeichen, über die Vokalisierung des 1, durch die Masse des beigebrachten
Quellenmaterials fast erdrückend wirken. Fr. Bise hoff.
Dr. Hubert H. Wingerath, Direktor der Realschule bei St. Johann
in Strafsburg i. Eis.: 1) Choix de lectures frangaises I,
3. Aufl.; 2) Lectures enfantines d'apres la methode intui-
tive ; 3) Petit Vocabulaire fran9ais. Köln, DuMont-Schau-
berg, 1884.
Die Wingerathschen Choix de lectures francaises, erster und zweiter
Teil, sind in dieser Zeitschrift schon mehrmals besprochen und dabei die
leitenden Gedanken dieser Sammelwerke des näheren in empfehlender Weise
hervorgehoben worden. Die dritte Auflage des ersten Teiles (classes in-
ferieures) enthält indes eine Neuerung, welche eines besonderen Hinweises
wohl wert ist. Dem eigentlichen Lesebuche ist eine nach der Anschauungs-
methode bearbeitete, auf den ersten sprachlichen Unterricht berechnete
Introduktion vorausgeschickt. Durch diese Einleitung hat der Verfasser
versucht, das, was im nächsten Anschauungs- und Vorstellungskreise des
Schülers liegt, vollständig zu erfassen und in ausschliefslich einfachen
Sätzen anschaulich darzustellen, zugleich aber, da es sich um eine fremde
Sprache handelt, den formalen grammatischen Unterricht in derselben nach
14*
212 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Möglichkeit anzubahnen und vorzubereiten. Und dieser keineswegs leichte
Versuch ist "NVingerath ausgezeichnet gelungen und hat der Verfasser damit
ein pädagogisches Meisterstück geliefert, das seinesgleichen sucht.
Diese Introduktion ist nun auf mehrfachen Wunsch in verändertem,
recht handlichem Formate besonders abgedruckt worden (nach Fibelart
zeigen die ersten 20 Seiten verschiedene Typen) und unter dem Titel Lec-
tures enfantines neu erschienen. In diesem Sonderdruck sind mehrere irr-
tümliche oder doch nicht ganz passende Ausdrücke richtig gestellt, ein Um-
stand, der besonders hervorgehoben sein mag. Introd. pag. 8: Nous y re-
tournons avec joie apres la classe ou apres Veglise (Lect. enf. p. 25:
apres Vofßce)\ Intr. p. 8: Cette porte donne dans la cour (L. enf. p. 26:
sur la cour); Intr. p. 9: Le paratonnerre garantit contre la foudre (L. enf.
p. 27: de la foudre). Aufserdem sind folgende, in der Introduction des
Choix de 1. fr. I vorkommende, unter den Errata nicht angeführte Druck-
fehler in den Lectures enfantines verbessert: p. 6, Z. 13 v. u. ä (al; p. 7,
Z. 17 V. u. une orgue (un orgue); p. 9, Z. 2 v. u. arroches (accrocbes);
p. 19, Z. 6 V. u. on (ou).
Von der Einleitung; unterscheidet sich das Werkchen übrigens auch noch
dadurch, dafs zwischen den einzelnen Abschnitten eine Reihe von sehr hüb-
schen kleineren Gedichten eingeschoben ist, die sämtlich in kindlichem Tone
gehalten sind und deren Zusammenstellung gewifs kein Leichtes war. Den
Gedichtchen ist die erforderliche Fräparation unmittelbar nachgesetzt, wäh-
rend die in den Frosastücken vorkommenden Wörter in dem in demselben
Verlage von Wingerath herausgegebenen Fetit Vocabulaire fran(j:ais pour
servir aux Lectures enfantines nach der Reihenfolge ihres Vorkommens ge-
ordnet sind. Dieses treff'lich bearbeitete Wörterbüchlein veranlafst indes
den Ref. zu folgenden Bemerkungen. Zunächst wäre statt des 1' vor Sub-
stantiven zur deutlichen Bezeichnung des Genus der unbestimmte Artikel
un, une anzuwenden. Pag. 5, Spalte 2 un catechisme, ein K. ; p. 10, Sp. 2
le temple heifst an dieser Stelle nicht Tempel, sondern (protestantische)
Kirche; p. 12, Sp. 1 bei crucitix sollte die Aussprache — fi angegeben sein;
p. 14, Sp. 1 statt \e liqueur lies la liqueur; p. 20, Sp. 1 statt meche lies
meche; p. 31, Sp. 2 hennir, neben der Aussprache anir ist die vielleicht
gebräuchlichere enir zu verzeichnen oder allein zu empfehlen; p. 26, Sp. 1
aigu, aigue, Aussprache des feminin hinzuzufügen (cf. p. 40, Sp. 2 la eigne);
Alsace spricht man Alzace (cf. p. 46, Sp. 2 Strasbourg = Strazbourg, Metz
= Mass).
Trotz dieser geringfügigen Aussetzungen kann Ref. sein Urteil über
die früher erschienenen Werke Wingeraths auch auf diese vortrefflichen
Leistungen vollinhaltlich übertragen, und somit das neue Lehrbuch auf das
beste allen Lehrern empfehlen.
Altkirch i. Eis. Th. Krafft.
A Spanish Grammar of the modern Spanish language as now
written and spoken in the capital of Spain. By William
Knapp, Prof. in Yale-College. Boston 1882. — Modern
Spanish Readinga, embracing text, notes and an etymo-
logical 'vocabulary, by W. Knapp. Boston 1883.
Die Grammatik zerfällt in Fhonology, Form and inflection, Essentials of
Syntax mit einem Appendix über Diminutives and augmentatives, und Drill-
book. Der Verf. hat eine genaue Kenntnis der modernen wie der älteren
Sprache und zieht auch die Vulgärsprache mit in den Bereich seiner Dar-
stellung. Er hat auch umfassende Beobachtungen in der Litteratur ge-
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 213
macht; er ist wissenschaftlich gebildet und zeigt in Ausdruck und Wahl
der Beispiele und Lesestücke Geschmack und Umsicht. Demnach ist seine
Grammatik ein wohlbrauchbares Hilfsmittel, welches sich auch durch den
schönen Druck empfiehlt. Die peinliche Genauigkeit der Angabe, woher
das Beispiel genommen sei, würden wir ihm überall erlassen, wo es sich
nicht um ganz besondere Fälle handelt. Die wissenschaftliche Erklärung
der Formen ist in den meisten Fällen richtig, wenngleich einige Irrtümer
vorkommen. Bei der Erklärung paralleler Formen, z. B. hübe (huve), alt-
span. sove, estuve, anduve, tuve legt er zu wenig Gewicht auf das mäch-
tige Gesetz der Analogie. Die Kegeln könnten manchmal weniger um-
ständlich sein. Mit dem Worte „elliptisch" wird ein gewisser Mifsbrauch
getrieben, wie in einem Satze: „dijo que vendria" = franz. il dit qu'il
viendrait, wo ein Vordersatz nicht zu ergänzen ist. Für die Phonologie
ist von dem Englischen auszugehen gerade nicht besonders ratsam ; sonst
aber kann das Buch auch Deutseben empfohlen werden. Nicht genügend
behandelt ist die Diphthonglehre, der schwache Punkt aller Grammatiken.
Auch sonst fehlt dies und jenes, z. B. der Gebrauch von Substantiven im
Sinne der unbestimmten Pronomina; die Unterscheidung der Verbaladjektiva
und Participia; die Erklärung der Adverbia auf -s, wie äntes, altspan. aines
u. a. ; si = lat. si und si = lat. sie und se wird nicht unterschieden. Der
Gebrauch der Präpositionen wird nicht logisch entwickelt, es werden nur
die empirischen Thatsachen zusammengestellt. Es fehlt die Angabe über die
Betonung von porque und aunque; es fehlt die Angabe über die Bedeutung
des Konj. Präter. auf -ra, z. B. leyera, welches bekanntlich zugleich als
Konjunktiv wie als Konditional gebraucht wird, u. a. m. Das Fehlerhafte
betrifft vornehmlich das Gebiet der Etymologie, auf welchem sich Knapp
mit grofser Freiheit ergeht. Das ist die Schattenseite des Werkes. Man
vermifst hier alle Methode, alle Vorsicht und Disciplin; und so begegnet
man geradezu abenteuerlichen Angaben. Der Verfasser hält sich für durch-
aus kompetent, Diez und andere Gelehrte zu verbessern und zu ergänzen,
jedoch nicht auf Grund einer begründeten Beweisführung, sondern indem er
sein „car tel est mon plaisir" zum Gesetze macht. Um nur ein paar Bei-
spiele zu geben, so soll span. asgo (= lat. äpiscor) das lat. adscio mit ein-
geschobenem g sein; feligres (= filius gregis) wird als filius ecclesiae er-
klärt. Chico als plicus, cbarlar (ital. ciarlare) als parabolare; don ist ihm
nicht dominus, sondern phönicisch Adon = Gott. Chasco wird vom griech.
TTÄagcj, esquina von o-//t,co^ loco von yXavxog abgeleitet. Genug! Wir
machen auch hier die Erfahrung, dafs d9r Mensch gern mit seiner Achilles-
ferse am meisten Staat macht. Diese etymologische Willkür thut dem
sonst empfehlenswerten Buche leider erheblichen Eintrag.
J. Schillings spanische Grammatik habe ich in Band LXXI,
Heft 3 u. 4 des Archivs angezeigt ; leider war die Besprechung durch eine
Reihe erschwerender Druckfehler entstellt. Es ist seitdem im Jahre 1884
eine zweite Auflage erschienen. Dieselbe ist um 22 Seiten reicher als die
erste, ein erfreuliches Zeichen, dafs der Verf. an dem praktisch brauch-
baren Buche fleifsig weitergearbeitet hat. AVir wollen hoffen, dafs es ihm
vergönnt sei, bald eine dritte Ausgabe zu bearbeiten, damit das Buch auch
vom sprachwissenschaftlichen Standpunkte aus weniger Ausstellungen nötig
mache. Mehrere Fehler und bedenkliche Ausdrücke enthält auch die zweite
Ausgabe noch, und es fehlt auch in ihr noch dies und jenes, was nicht zu
entbehren ist. Ein Widerstreit zwischen Wissenschaft und Praxis existiert
nicht; praktischer Wert und wissenschaftliche Richtigkeit, Brauchbarkeit und
Geschmack sind sehr wohl vereinbar; dies letztere gilt auch von der Samm-
lung von Übungsbcispielen, welche weder in zu grofser Menge noch von
einem zusammenhängenden Lesestücke losgelöst zu geben rätlich ist. Die
214 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
wissenschaftliche Erklärung aber ist als Erleichterung des Verständnisses
überall heranzuziehen, wo sie sich wie von selbst darbietet; das meiste frei-
lich mag dem Lehrer je nach dem Stande des Schülers überlassen bleiben.
Dr. Paul Förster.
Booch-Arkossy, Praktisch-theoretischer Lehrgang der französi-
schen Schrift- und Umgangssprache. Leipzig, Violet. —
H. ßreitinger, Elementarbuch der französischen Sprache
für Mittelschulen. 1. und 2. Heft. Zürich. — W. Fr. Eisen-
mann, Schulgrammatik der französischen Sprache. 9. Aufl.
Stuttgart. — J. Hunziker, Französisches Elementarbuch.
1. Teil. Aarau. — F. W. Körbitz, Lehr- und Übungs-
buch der französischen Sprache für Real- und Bürger-
schulen. Eine vollständiore SchuWrammatik zur Beförde-
rung einer rationellen ünterrichtsweise. 1. Kursus, 7. Aufl.
2. Kursus, 4. Aufl. Dresden. — Dr. G. F. Pflüger,
Grammatik der französischen Sprache für höhere Schulen.
1. Teil, 2. Aufl. Dresden. — Dr. K. Brandt, Kurzgefafste
französische Grammatik für die Tertia und Sekunda eines
Gymnasiums. Salzwedel.
Die vorstehend genannten grammatischen Lehrbücher gedachten wir zu-
sammen und vergleichend zu besprechen, fanden aber, dafs zwei derselben
aus dieser vergleichenden Betrachtung von vornherein auszuscheiden seien.
Und zwar diese zwei aus verschiedenen Gründen. Das Lehrbuch von
Booch-Arkossy seines besonderen Zweckes und der dadurch bedingten
Einrichtung wegen, das Pflüg ersehe Buch aber, weil es so schlecht
ist, dafs die anderen Arbeiten es nicht verdienen, mit demselben in Ver-
gleich gestellt zu werden.
Die Grammatik von Booch-Arkossy ist für den Selbstunterricht be-
stimmt und enthält mehrere der Elemente, welche wir in den Toussaint-
Langenscheidtschen Unterrichtsbriefen wiederfinden. Es ist eine gründliche,
inhaltreiche Arbeit, methodisch so eingerichtet, dafs sie jedem zu empfehlen
ist, der — der Mann dazu ist. Denn Energie, Gedächtnis und wohl auch
specielles Spracherlernungstalent sind Bedin^ngen, ohne welche niemand
es mit Toussaint-Langenscheidt oder Booch-Arkossy versuchen möge.
Unser abfälliges Urteil über die Pflüg er sehe Grammatik wollen wir
pflichtgemäfs begründen. Über Aussprache lehrt das Buch z. B. Folgendes.
„Am, an, em, en haben denselben Nasenlaut etwa wie im Worte Jean."
(S. 7.) In hache wird h „als Konsonant gehört" (S. 11); ebendort wird
die Aussprache von oui durch „wui" bezeichnet. S. 13 wird longue mit
lenk figuriert, S. 14 paille mit pabje. S. 20 heifst es : „Re und le mit vor-
ausgehenden Konsonanten lautet wie er, el (e sehr kurz)." Fils soll „fies
oder fie" lauten (S. 22). Inhalt und Ausdruck der deutschen Übungssätze
sind oft monströs. „Wer hat gezählt zwei Mark in der Geldtasche?" (S. 23).
„März ist oft kalt" (S. 22). Ebenso in den Regeln. Z. B. in der Anmer-
kung S. 9 (Bindung): „Nasales m bleibt stumm . . ., stumm r hörbar ...,
stumm r bleibt stumm beim ..." Unter den unmittelbar folgenden Vokabeln
finden wir „amere, bitter, dure, hart"; in den Übungssätzen kommt nämlich
gerade das Femininum vor. Ich füge noch zwei Pröbchen von des Ver-
fassers Kenntnis in der historischen Grammatik an: „doit statt devoit, lat. :
debtt" und „seront statt etront." Damit genug! Leider hat das Buch
sogar eine zweite Autlage erlebt.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 215
Wenden wir uns nun den übrigen, wenn auch nicht absolut guten, so
doch immerhin im Vergleiche zu dem letzteren bedeutend besseren Lehr-
büchern zu.
Das Eisenmannsche Buch ist eine wesentlich systematische Gram-
matik. Wenn ich kürzlich in einer Recension in der Ztschr. f. nfrz. Spr.
u. Litt, las, dafs eine sj^stematische Grammatik des Französischen für das
Gymnasium zu wünschen sei, für die Oberrealschule dagegen die Plötzsehen
Biicher sich immer noch empföhlen, so bin ich stets der gerade umgekehr-
ten Meinung gewesen. Der Gymnasialschüler möge den französischen Lern-
stoff* selbst dem ihm aus dem Lateinunterricht bekannten System einordnen.
Woher soll aber dem Oberrealschüler der Einblick in Gang, Ende und Teile
der Grammatik kommen. Allein welches System soll nun den Weg be-
stimmen? Dafs dies kaum, wie beim Lateinischen, das System der Rede-
teile sein kann, zeigt z. B. die systematische Grammatik von Plötz. Das
Verbum ist hier an die Spitze gestellt, dagegen setzt das begleitende
Übungsbuch gleich zu Anfang die Substantivdeklination voraus. Wir be-
greifen gar nicht, wie Plötz sich den Gebrauch des Buches gedacht haben
mag, müssen aber zugestehen, dafs ein Ausweg sehr schwer zu finden ist.
Eisenmann hat den Versuch mit mehr Glück unternommen. Die übrigen
Bücher sind „methodische" und haben weiter den Zweck miteinander ge-
mein, dafs sie vorzugsweise dem Bedürfnisse der Mittelschule dienen wollen.
Die Aussprache wird von Eisenmann, ßreitinger, Körbitz nicht metho-
disch behandelt ; die beiden ersten stellen die hauptsächlichsten Aussprache-
regeln kurz systematisch zusammen, Körbitz giebt nur gelegentliche Andeu-
tungen. Eine durchgehende phonetische Aussprachebezeichnung, wie sie
Hunziker bietet (und es mufs anerkannt werden, dafs dieselbe durchaus
richtig und genau ist), gehört nach unserer Meinung nicht in das Lehrbuch
für die Unterstufe. Hier bleibt der Schüler ja doch in vollster Abhängig-
keit von der Berichtigung seiner Fehler durch den Lehrer. Sich selbst kon-
trollieren kann er noch nicht. Der bei dem Plötz sehen Elementarbuche
leicht zu beobachtende Übelstand, dafs der Schüler die übliche französische
Orthographie und die daneben stehende phonetische Notierung konfundiert
und infolge davon falsch schreibt, wird allerdings bei Hunziker wohl da-
durch mindestens gemildert sein, dafs seine Zeichen nicht alle den Schrift-
alphabeten angehören, der Schüler also in diesem Falle nicht zu ihrer Re-
produktion verleitet wird. Bei Eisenmann findet sich S. 2 (§ 3, 6) die
Angabe: „E ohne Accent, das nicht am Ende einer Silbe steht, ist geschlos-
sen und wird wie das deutsche e in ,wehe' ausgesprochen: aimer, lieben,
l'es-poir, die Hoffnung, le nez, die iSIase." Ende der Silbe ist hier die
Schriftsilbe; die Regel ist aber materiell falsch, ebenso das Beispiel espoir,
dessen e offen ist. Hunziker spricht S. 4 von einer stummen Silbe in vare;
es mufs Silbe mit stummem e heifsen. S. 13 ist Suetone durch ßue- statt
durch ßü-e- figuriert. S. 21: „ont^ete wird gesprochen ont'ete, nicht on-
tete" (!). Die phonetischen Bemerkqngen im Anfang verraten Studium^
enthalten aber einige Irrtümer, deren Erörterung hier zu weit führen würde.
Aus dem grammatischen Teil hebe ich folgendes hervor: 1. Breitinger.
Der zweite Teil ist nach dem ersten zu schwierig; ich bezweifle, dafs er
sich unmittelbar an denselben anreihen lassen wird. Im 1. Hefte, S. 25,
heifst es: „Substantive auf al und ail (statt: und einige auf ail) bilden den
Plural auf aux." Im 2. Hefte lautet ein deutscher Übungssatz auf S. 57:
„Meine arme Mutter ist ohne Schmerzen erloschen (sie)." 2. Eisenmann.
S. 28 ist die Regel über das Genus von les gens materiell nicht ganz rich-
tig, auch ist der Ausdruck falsch: „Das Feminin hat eine besondere, hör-
bare Form. S. 29 wird irrtümhch angegeben, dafs enfant weibliches Ge-
schlecht nur im Singular haben könne. Der Ausdruck ist schlecht in der
Regel S. 94: „Plusieurs wird, jedoch nur mit dem ausgelassenen subst.
hommes, auch substantivisch gebraucht." S. 144 wird coucher unter den
216 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Verben, welche ihr Perfekt mit avoir und etre bilden, aufgeführt; so auch
bei Plötz. Aber etre couche Rac, Plaideurs I, 1 ist ganz vereinzelt. S. 206
wird gesagt, de (en) sorte que, de facon que, de maniere que ständen mit
dem Indicatif oder Subjonetif; der Unterschied wäre anzugeben gewesen.
S. 292 ist die Angabe über den Unterschied zwischen dans und en wenig
klar. Ne iu je u'ai garde soll nach S. 298 die Negation sein; es ist aber
Scheideform von en (afrz. ene erzielt einmal ne, das andere mal en) und
hat mit der Negation ne gar nichts zu thun. Der Schüler braucht darüber
vielleicht nicht belehrt zu werden; jedenfalls aber darf ihm nichts Falsches
gesagt werden. 3. Hunziker. Der allzu kleine Druck bei C. (Fragen) ist zu
rügen. Nach S. 20- sollen sich an und annee so unterscheiden, dafs ersteres
das Jahr als Zeitpunkt, annee das Jahr als Zeitdauer bezeichnet. In den
Beispielen heifst es mon frere a trois ans, und hier soll an einen Zeitpunkt
bedeuten. S. 80 ist die Unterscheidung von faute und defaut („le defaut,
Fehler, der im Charakter, in der Sache liegt") schlecht; „im Charakter" ist
zu eng, „in der Sache" ist nicht deutHch. 4. Körbitz. 1. Kursus: S. 31
heifst es ungenau: „Wenn tous nach seinem Substantiv steht, so sprich
touce." Man nehme etwa die Sätze: Nous sommes tous venus und Tous
viennent. S. 72, Z. 10 v. o. embrassas Druckfehler für embrassa. 2. Kursus.
S. 28 wäre der geistreiche Satz: „Der Genetiv des Teilungsartikels müfste
zwar eigentlich de du pain heifsen, derselbe wird aber ..." besser fortgefal-
len. Auch ist der Ausdruck nicht korrekt, da gemeint ist „der Genetiv des
mit dem Teilungsartikel versehenen Substantivs". Die Behandlung der
Modus- und Tempuslehre kann auf strenge theoretische Richtigkeit keinen
Anspruch machen. Das gilt freilich im ganzen von dem Körbitzschen und
auch dem Breitingerschen Buche, dafs sie in Inhalt und Methode sich ledig-
lich das praktische Ziel stecken, die Aneignung eines bestimmten sprach-
lichen Stoffes in kürzerer Zeit zu bewältigen; wir halten das Elementarbuch
von Hunziker gleichwohl auch praktisch für wesentlich besser.
Das Br an d tsche Büchlein ist eine kurze Zusammenstellung der Regeln
der Formenlehre und Syntax auf dem Räume von* 51 Seiten. Es entspricht
seinem Zwecke durchaus, doch finden sich einige Ungenauigkeiten. S, 10:
„Bleu bildet (im Plur.) ausnahmsweise bleus," und die Regel ist? S. 11
poeme statt poeme. S. 29 Bretagne irrig mit Accent aigu. S. 35: „Die
Adjektiva nu, nackt, demi, halb und feu, verstorben, sind unveränderlich,
wenn sie vor dem Hauptworte stehen, veränderlich dagegen, wenn sie dem
Hauptworte nachgesetzt sind." Diese Regel ist für feu falsch. S. 50: „Im
allgemeinen kann man die Verse mit gerader Silbenzabl dem jambischen,
die mit ungerader Silbenzahl dem trochäischen Rhythmus zuerteilen, nur
darf derselbe beim Lesen nicht^ dominieren." Nur wenige lesen: Oui, je
viens däns son t^mple adörer l'Eternel. Auf derselben Seite wird von einer
„stummen Silbe" (statt: einer Silbe mit stummem e) geredet und gesagt,
das e in tuerai sei im Verse stumm. Nur im Verse? — t — .
Dr. J. W. Zimmermann, Schulgrammatik der englischen Sprache
für Realgymnasien und andere höhere Schulen. Erster
Lehrgang. Naumburg a. d. S., Alb. Schirmer.
Wer die Entwicklung der englischen Schulgramuiatik in den
letzten Jahrzehnten genauer verfolgt und Gelegenheit gehabt hat, einige
der am meisten verbreiteten unter den betreffenden Lehrbüchern selbst
beim praktischen Unterrichte zu prüfen, der v/ird bei unbefangenem Urteil
anerkennen müssen, dafs Dr. J. W. Zimmermann als Verfasser eines
„Lehrbuch der engl. Sprache" und einer gröfseren „Grammatik" mit zwei
Stufen von „Übungsstücken" in verdienstlicher Weise für eine Gestaltung
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 217
des Unterrichts gewirkt hat, welche für die untere Stufe ebensowohl ver-
nünftig didaktischen Anforderungen entspricht, wie bei der oberen Stufe
die Bedürfnisse strengerer Wissenschaftlichkeit anstrebt. In dem Lehr-
buch, das vor kurzem in 34. Auflage erschienen ist, war z. B. zuerst die
Einrichtung getroffen, den Schüler in ganz methodischer Weise in die
schwierige englische Aussprache einzuführen und diese zugleich mit den
Elementen der Formenlehre zu verarbeiten. Wenn man aus eigenen prak-
tischen Erfahrungen weifs, zu welcher Sicherheit in Lesen und Aussprache
die Schüler bei einem solchen Verfahren gelangen, wie traurige Resultate
dagegen mit Büchern erzielt werden, die nicht so angelegt sind, so wird
man am besten den Fortschritt zu schätzen wissen, welcher durch die ge-
nannte Einrichtung erzielt wurde; es ist deshalb auch begreiflich, dafs die-
selbe seither vielfach nachgeahmt worden ist.
Die englische „Grammatik*' hinwieder, für obere Klassen, Studierende
und Lehrer berechnet, enthält ein reiches Material an guten und schönen
Beispielsätzen ; die Regeln sind zwar nicht ganz in encyklopädischer Voll-
ständigkeit aufgeführt, dafür aber in fafsliche Form gebracht, wie auch die
ganze Anordnung des Stoffes als klar und übersichtlich zu bezeichnen ist.
Während nun die genannten Schulbücher vom Standpunkt der Schulpraxis
aus (ganz besonders z. B. in einer westfälischen Direktorenkonferenz) volle
Anerkennung gefunden haben, hat sich die theoretische Kritik nicht immer
in gleich günstiger Weise über sie ausgesprochen. Die verschiedenen Aus-
stellungen, die da und dort gemacht wurden, bezogen sich aber meistens
nur auf Einzelheiten, wie z. B. mehr oder weniger anfechtbare englische
Ausdrücke und Sätze; sehr oft auch waren dieselben ungerechtfertigt, so
dafs sie wiederholt in der Antikritik zurückgewiesen worden sind, während
begründete Ausstellungen in späteren Ausgaben gebührend berücksichtigt
wurden. Sicher ist, dafs keines der noch mehr verbreiteten Schulbücher
von Plate, Degenhardt u. a. einer gleich scharfen Kritik standhalten würde;
besonders in Behandlung der Aussprache können sich dieselben mit Zimmer-
mann nicht messen.
Der jetzt erschienene „Erste Lehrgang" des oben genannten Buches
enthält die Grundzüge der Aussprache mit phonetisch geordneten Lese-
Übungen, sowie die Wort- und Formenlehre mit den Elementen der Syntax
nebst Übungsstücken, während in dem zweiten Teile die Wortbildung und
Syntax in Verbindung mit Ergänzungen zur Formenlehre zur Behandlung
kommen wird. Die Schulgrammatik nimmt also eine mittlere Stelle zwi-
schen dem englischen „Lehrbuche" und der ausführlichen „Grammatik" ein;
sie ist in strengem Anschlufs an die Erläuterungen zu den neuen preufsischen
Lehrplänen bearbeitet und besonders für Realgymnasien und andere höhere
Schulen bestimmt. Die Behandlung der Aussprache geht von dem
Grundsatze aus, dafs sich auch hierüber einzelne durchgreifende Regeln
feststellen lassen, welche bei methodischer Anordnung selbst für den An-
fänger leicht lehrbar seien. Befreit von den Fesseln einer planlosen und
rein empirischen Behandlungsweise, sei der Schüler nicht mehr dem bunten
Wirrwarr des blinden Zufalls überliefert und es werde so die mit dem
ewigen Vor- und Nachsprechen verbundene Zeitvergeudung vermieden. Der
erste Abschnitt des Buches bietet demnach eine Reihe einfacher, aber fester
Regeln über die Aussprache, verbunden mit phonetisch geordneten
Leseübungen; er ist jedoch bedeutend kürzer als im Lehrbuch, weil die
deutschen Übungsstücke fehlen. Zudem ist es nicht nötig, alle diese Regeln
fortlaufend durchzunehmen ; es ist vielmehr dem Lehrer überlassen, auf
manche derselben je nach "\'eranlassung und Bedürfnis im Laufe der Formen-
lehre zurückzukommen. Der ganze Abschnitt ist äufserst lehrreich, und es
ist darin auch den neueren phonetischen Forschungen in mafsvoller Weise
Rechnung getragen; besonders beachtenswert sind die Regeln über die Aus-
sprache des r, des scharfen und sanften s und th, wie auch über die Wortbetonung.
218 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Wie in der Aussprache, ist auch in der Formenlehre durch Gliede-
rung Einfachheit und Klarheit, durch Konzentration Kürze, durch Zusammen-
ordnung Übersichtlichkeit angestrebt. Da zugleich mit der englischen For-
menlehre die Elemente der Syntax verbunden sind, so ist schon in diesem
ersten Lehrgang etwas relativ Vollständiges geboten. Die Regeln sind viel
weniger verteilt als im Lehrbuch, und so ist der Fortschritt ein sehr rascher,
wie denn z. B. im zweiten Kapitel gleich das ganze Hilfszeitwort to have
und so nachher to be zur Behandlung kommt. Die unregelmäfsigen Zeit-
wörter kommen leider erst ganz am Schlüsse des Buches, während sie,
wenn auch vielleicht zunächst in etwas einfacherer Form, recht passend
nach Kapitel 9 eingeschoben werden könnten und dann etwa nochmals in
einem „alphabetischen Verzeichnis" am Schlüsse. Die Übersetzungsübungen
sind nicht zusammenhängende Stücke, sondern einzelne, ziemlich gehalt-
volle Sätze; diese bilden ja für den Anfangsunterricht das einzig geeignete
Sprachmaterial, wie dies im Vorwort in trefi'ender AVeise begründet wird.
Das entgegengesetzte Verfahren ist psychologisch ebenso unrichtig, wie
wenn man im muttersprachlichen Unterricht den jungen Schüler mit kleinen
Erzählungen beginnen lassen wollte, bevor er auch nur die Buchstaben an
Silben und einzelnen Wörtern erlernt hätte. In dem Schlufsabschnitt da-
gegen, wo die Schüler bereits die Elemente der Grammatik kennen, findet
sich eine schöne Zahl zusammenhängender Stücke, teils in englischer, teils
in deutscher Sprache. Die Fassung der Regeln ist ebenso genau als klar
und deutlich; eine so starke Anhäufung derselben, wie wir sie z. B. in den
Lehrbüchern von Imm. Schmidt und Gesenius treffen, ist glücklicherweise
vermieden: nichts ist in der That für einen gedeihlichen, auf Selbstthätig-
eit des Schülers beruhenden Unterricht so hemmend als eine solche Ein-
richtung.
Wenn somit das Buch in didaktischer Beziehung unbestreitbar An-
erkennung verdient und dem bewährten pädagogischen Takt und Talent des
Verfassers nur Ehre macht, so ist es dagegen durch eine Recension (vom
Centralorgan für die Interessen des Realschulwesens 1884, Oktober) in
fachwissenschaftlicher Beziehung scharf angegriffen worden. „Wenn
auch überwiegend nach Regeln und Übungsmaterial empfehlenswert," so
lautet das Haupturteil, „sei diese Schulgrammatik jedenfalls nur mit Vor-
sicht und unter Kritik eines kundigen Lehrers zu benutzen.'- In einer
Antikritik (ib. 1885, Nr. 1) sind aber eine gröfsere Zahl der Ausstellungen
als unbegründet oder zweifelhafter Art abgewiesen, einige andere auf das
richtige Mafs blofser Druckfehler zurückgeführt worden, und der ursprüng-
liche Recensent gesteht dann in einer Schlufshemerkung zu, „dafs die
(weiter unten zu erwähnenden) guten Seiten des Buches eine ausdrückliche
Erwähnung verdient hätten, während die Einschränkung des empfehlenden
Urteils eine zu scharfe Form erhalten habe." Dazu fällt nun noch in Be-
tracht, dafs auf Veranlassung der genannten Besprechung mehrere Bogen
<les Buches vollständig um gedruckt worden sind, wodurch den meisten
begründeten Einwendungen Rechnung getragen ist. wie Schreiber dieser
Zeilen aus den ihm zugekommenen Abzügen sich selbst überzeugt hat. Aus
diesen Gründen wird man wohl sagen können, dafs bei der Sorgfalt und
Zuverlässigkeit, wie sie in den Zimmermannschen Lehrmitteln meistens sich
kundgiebt, auch diese Schulgrammatik ohne Bedenken im Unterricht ver-
wendet werden darf und dafs sicherlich Lehrer wie Schüler an dem überdies
sehr schön ausgestatteten Buche ihre Freude haben werden. „Zweckmäfsige
Behandlung^der Aussprache, Fafslichkeit und nicht zu grofser Umfang der
Regeln, angemessener Inhalt der Übungsstücke" (v. Centralorgan) sind
in der That Eigenschaften, welche ein englisches Schulbuch in hohem Grade
zieren .und welche allein es zu einem im wahren Sinne guten und brauch-
baren Lehrmittel machen, sollte sogar immer noch da und dort ein etwas
zweifelhafter Satz oder Ausdruck stehen geblieben sein.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 219
Es bleibt nun nur noch eine Frnge zu besprechen, die bei der Schul-
bücherkritik unseres Erachtens nicht immer mit der wünschenswerten
Schärfe und Sicherheit klar gestellt, oft sogar ganz übersehen wird, obgleich
sie für die Unterrichtspraxis von höchster Bedeutung ist. Die gröfsten
Mifserfolge des Lehrers rühren nämlich sehr häufig nur daher, dafs er es
nicht verstanden hat, ein für die betreffende Altersstufe passendes Lehr-
mittel auszuwählen. Auf die blofsen Titelangaben ist eben oft kein Ver-
lafs ; oder es kommt auch vor, dafs dieselben nicht recht beachtet werden.
Was Zimmermanns Schulgrammatik betriff't, so läfst sich mit Bestimmtheit
sagen, dafs dieselbe wegen des darin eingeschlagenen raschen Ganges durch-
aus nur für Schulen pafst, wo der englische Unterricht bei schon ziemlich
vorgeschrittenem Alter und verhältnismäfsiger geistiger Reife der Schüler
begonnen wird ; Realgymnasien und ganz besonders auch Gymnasien sind
also die Anstalten, wo das Buch mit grofsem Vorteil gebraucht werden
kann. Viele Lehrer werden es für vollkommen genügend erachten, diesen
ersten Lehrgang durchzunehmen, um nachher der Lektüre um so mehr
Zeit widmen zu können ; wer nicht dieser Ansicht ist, wird in dem bald
erscheinenden zweiten Lehrgange zweifellos eine entsprechende Fort-
setzung finden.
Noch eine andere Art der Verwendung dieses Buches dürfte sich aber
als sehr zweckmäfsig erweisen; wir meinen nämlich, dafs es auch treff'liche
Dienste leisten würde als Fortsetzung irgend eines ganz einfach gehaltenen
Vorkursus oder Elementarbuches, wie die von Berg-Herrig, Westly- Albrecht
u. a. Wer genügend praktische Erfahrung hat, wird zugeben müssen, dafs
es doch immer wieder die Elemente sind, gewisse Punkte der Formenlehre,
worüber auch bei vorgeschritteneren Schülern noch Verstöfse und Unsicher-
heiten bemerkbar werden. Mit einer Wiederholung der Hauptsachen aus
der Formenlehre, zugleich mit den Elementen der Syntax, in neuer, an-
sprechender Form und rascherem Gang (wie gerade an der Hand dieses
Buches möglich ist) könnte wohl in den meisten Schulen viel mehr erreicht
werden, als mit den jetzt gebräuchlichen, weitläufigen Mittel- und Ober-
stufen von Plate, Degenhardt etc. So ist denn nur zu wünschen, dafs mög-
lichst bald mit dieser Schulgrammatik zahlreiche praktische Versuche der
einen oder anderen Art gemacht werden; sicherlich wird es kein Lehrer
bereuen, der dies thut. Der gute P>folg wird nicht ausbleiben, weil auf
sicherer, längst durch die Erfahrung bewährter Bahn vorwärts geschritten wird.
Karlsruhe. Prof. J. Guter söhn.
J.-B. Bossuet, Ausgewählte oralsons funebres, für den Schul-
gebrauch erklärt von Dr. Völcker. Leipzig, B. G. Teubner.
115 8.
Man braucht hinsichtlich der Wertschätzung Bossuets nicht auf dem
Standpunkte der Franzosen zu stehen, in deren Colleges fast sämtliche
oraisons des Bischofs von Meaux den Memorierstoff bilden, und kann diesem
Schriftsteller doch eine mafsvolle Verwendung im Rahmen unserer Schul-
lektüre zuweisen, wäre es auch nur der klassischen Prosa halber, die er
bietet, und die der Schüler kennen lernen mufs. (Si des auteurs ont per-
fectionne notre langue avant l'Eveque de Meaux, celui-ci y a porte une
empreinte de grandeur inconnue. d'Alembert, Eloge de Bossuet.) Die
oben genannte Auswahl aus den sechs von Bossuet überhaupt veröffent-
lichten Reden bietet das für unsere höheren Lehranstalten etwa Wünschens-
werte, nämlich die drei nach Inhalt und Form bedeutendsten : de Henriette
de France, de Henriette d'Angleterre, de Louis de Bourbon. Einer jeden
220 Benrtoilungen und kurze Anzeigen.
geht ein Lebensabrifs der Person, die den Gegenstand derselben bildet,
und dem Ganzen eine treffliche Skizze über Bossuet und die oraison fu-
nebre überhaupt voran.
Die Anmerkungen halten sich frei von den Fehlern, die Münch in
seiner Schrift „Zur Förderung des französischen Unterrichts" so drastisch
rüo-t. Sie sind dem Standpunkte der Schüler oberer Klassen angepafst, und
der Interpretation des Lehrers bleibt voller Spielraum gewahrt. Die
musterhafte Sprache Bossuets bringt es mit sich, dafs sie meist sachlicher
Natur sind. Grammatische Anmerkungen finden sich nur da, wo auffällige
Abweichungen vom gewöhnlichen Sprachgebrauche vorliegen, oder wo ein
kurzer Hinweis auf einen besonders instruktiven Fall angezeigt erscheint
(z. B. S. 64, S. 25: „Ces royales mains; man beachte die Stellung des Ad-
jektivs." Das ist doch wohl noch nicht mit der berülimten Anmerkung zu
vergleichen: Man beachte die Wortstellung nach dont!).
Nur einige Bemerkungen dazu mögen hier Platz finden. Zu den Worten
S. 77, § 72: La Providence divine pouvait-elle nous mettre en vue, ni de
plus pres, ni plus fortement, la vanite des choses humaines? sagt Völcker:
„Ni de plus pres, ni plus fortement statt: ou de plus pres, oü pl. f., eine
nicht blofs bei B. vorkommende Ungenauigkeit." Da der Sinn des Satzes
negativ ist, so erscheint der Ausdruck „Ungenauigkeit" ein bischen riskiert.
Cf. über ni Schmitz S. 342, dessen Beispielen ich noch folgendes aus Mas-
caron, Or. de Turenne hinzufügen möchte : Je suis bien eloigne de croire
que j'aie ni la saintete ni la gravite du grand Ambroise. — Das jetzt nicht
mehr gebräuchliche plutot für plus tot (S. 92, § 18) hätte eine Anmerkung
verdient. — Die Fassung der S. 108 zu § 67 gegebenen Note ist keine
glückliche: „Puis-je ne m'arreter pas ; eine abweichende Stellung der Nega-
tion." Der Schüler kommt zunächst auf den Gedanken, das Abweichende
liege darin, dafs nicht puis, sondern arreter verneint worden sei, während
die dem Sinne nach zu arreter gehörige Negation diesem richtig hinzugefügt
Avorden ist (= je ne peux pas ne pas m'arreter). Es wäre daher deutlicher
zu sagen: „Abweichende Stellung der Negation pas" oder statt „abweichende"
lieber „seltenere"; denn dafs pas hinter einem einfachen Infinitiv steht, ist
nichts Vereinzeltes (Mätz. S. 628). Vergl. übrigens dagegen S. 58, § 8:
Nous ne pouvons un moment arreter les yeux sur la gloire de la princesse,
sans que ... — S. 72, § 51 hätte noch perseverance finale = „das Be-
harren im Glauben bis ans Ende" in einer Anmerkung angegeben werden
können.
Von Druckfehlern seien erwähnt: S. 41 etaient statt etait; S. 64 ces
statt ses ; S. 70 le statt la; S. 73 empressement statt compressement ;
S. 49 tous statt tout; S. 53 ihrer statt ihre; S. 60 lä statt la, epanchant
statt epenchant; S. 62 rappelleront statt rappeleront ; S. 85 reparer statt
reparer; S. 93 de statt des; S. 94 eclat statt eclat; S. 95 repetait statt
repetait; S. 97 est-ce lä statt est-ce-lä, S. 38 ist kurz hintereinander
dreimal ä statt a zu lesen. S. 91 (Anfang von § 17) ist der Satz arg
durcheinander geraten. S. 111, Anm. zu § 79 soll es doch wohl heifsen :
Wörter statt Worte, Beim Brechen der Wörter gn zu trennen, ist wohl
nicht zu billigen (S. 7, 77, 109). Ebenso mufs S. 43 abgeteilt werden:
des-tinee.
Die Paragrapheneinteilung innerhalb jeder Rede erscheint recht nach-
ahmenswert. Auch dieser äufsere \'orzug bestärkt in dem Gefühle, dafs
der Herausgeber sich unsere Ausgaben der alten Klassiker zum Vorbild
genommen habe.
Zittau. R. Scherffig.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 221
Lamprechts Alexander, herausgegeben von Karl Klnzel. —
Germanistische Handbibliothek, herausgegeben von Julius
Zacher. VI. Halle, Waisenhaus, 1885. LXXX und
543 S. 8.
Die älteren Ausgaben des Alexander entsprechen den heutigen An-
forderungen nicht mehr; eine neuere enthält nur eine, freilich interessante
Redaktion. So ist Kinzels Arbeit durchaus gerechtfertigt. Sie bietet hinter
einer umfangreichen Einleitung, die sich über die Handschriften, die Historia
de preliis, das Verhältnis der deutschen Dichtung zu ihren Quellen, ihre
Sprache und Metrik, über Abfassungszeit u. a. ausspricht, zunächst die dem
Baseler Texte eigentümliche Einleitung (S. 3 — 24), dann soweit der Vorauer
erhalten ist, diesen neben dem Strafsburger (S. 26—17 2), endlich diesen
allein (S. 173—385). Unter dem Text sind die entsprechenden Stellen der
Hist. de preliis angeführt, wie denn auch an geeignetem Orte das roma-
nische Alexanderfragment zwischen den beiden deutschen Redaktionen Platz
fand. So wird ein klares Bild der Überlieferung gegeben, um so klarer,
als der Herausgeber allen textkritischen Gelüsten widerstand und nur da
am handschriftlichen Texte änderte, wo grobe und offenbare Verstöfse vor-
lagen. Einen eigenen Weg geht er in den Anmerkungen, die, anerkennens-
wert kurz gefafst, dem Sprachgebrauch des Denkmals in der poetischen
Litteratur des 11. und 12. Jahrhunderts nachgehen und dadurch dem mhd.
Wörterbuche eine ansehnliche Bereicherung schaffen.
Dr. R. Sonnenburg, Grammatisches Übungsbuch der französi-
schen Sprache. Methodische Anleitung zur Einübung der
syntaktischen Regeln. Berlin, J. Springer, 1884.
Der Verfasser, als Autor mehrerer tüchtiger Schulbücher vorteilhaft be-
kannt, bezeichnet das vorliegende grammatische Übungsbuch als eine not-
wendige Ergänzung zu jeder systematischen Grammatik. Dasselbe giebt über
alle Teile der Grammatik eine Reihe von deutsch-französischen, und zwar
ausschliefslich deutsch-französischen Beispielen, was im Vorwort gerecht-
fertigt wird. Ein zutreff"endes Urteil über das Buch im ganzen wie im ein-
zelnen wird unseres Erachtens nur die Erfahrung abgeben können; und
dafs dasselbe an manchen Schulen eingeführt werden wird, ist ja bei der
pädagogischen Bedeutung des \erfassers nicht zweifelhaft. L.
i
M i s c e 1 1 e n.
Erörteruno; einer grammatischen Frao;e.
über die Frage, ob es richtiger heifse z. B. : Die Redaktion des „Klavier-
lehrer" oder: Die Redaktion des Klavierlehrers, und ferner: Lied aus „die
Meistersinger" oder: Lied aus den Meistersinge?'/i schreibt Prof. Dr. Sanders
in Altstrelitz an den Redacteur des „Klavier-Lehrer":
Ihrem Wunsche komme ich um so lieber nach, als eine fast gleichzeitig
an mich ergangene ähnliche Anfrage einer anderen Redaktion mir schlagend
beweist, wie gerade über die vorgelegte Frage in den gebildeten Kreisen
noch Schwanken und Zweifel herrscht und wie die Beantwortung eine Lücke
in meinem „Wörterbuch der Hauptschwierigkeiten in der deut-
schen Sprache" ausfüllt.
Sie erlauben mir, dafs ich für diejenigen Ihrer I^eser, denen das ge-
nannte Buch nicht zur Hand ist, eine Stelle aus dem Vorwort anführe.
„Es giebt," habe ich dort gesagt, „im Deutschen, wie in jeder noch in
lebendiger Fortentwickelung begriffenen Sprache, unberührt von den allge-
mein anerkannten Regeln, die allen Gebildeten geläufig und vertraut sind
und gegen die sie deshalb niemals verstofsen werden, eine nicht geringe
Anzahl von Fällen, in denen sich der Sprachgebrauch noch nicht — oder
doch mindestens noch nicht ganz entschieden und zweifellos — festgestellt
hat und in denen das Schwanken bei Gebildeten und selbst bei Schrift-
stellern eine Unsicherheit erzeugt, ob die in einem bestimmten iFalle neben-
einander vorkommenden verschiedenen Formen und Ausdrucksweisen gleich-
berechtigt sind oder welche die richtigere oder vielleicht allein richtige sein
dürfte.
Diese Zweifelfälle sind nicht blofs zahlreicher, sondern es ist auch die
Unsicherheit in denselben gröfser, als man im allgemeinen glaubt und an-
erkennt. Um sich von diesem letzteren zu überzeugen und die verschie-
denen Ansichten aufeinander platzen zu sehen, versuche man es nur einmal
und werfe in eine gröfsere Gesellschaft Gebildeter plötzlich Fragen über
derartige Zweifelfälle hinein, wie wir beispielsweise einige folgen lassen."
Die dort als Beispiel angeführten Fragen übergehe ich hier, indem ich
mich sofort zu der hier zu erörternden wende, nachdem ich nur noch die
darauf folgende kurze Stelle aus dem Vorwort hergesetzt:
„In derartigen Zweifelfällen und überall da, wo für gebildete Deutsche
in dem Gebrauch ihrer Muttersprache sich grammatische Schwierigkeiten
herausstellen dürften, soll das vorliegende Buch schnelle und sichere Aus-
kunft erteilen."
Man wird nach dem Vorstehenden — und zwar mit Recht — wohl ver-
muten, dafs die hier zu erörternde Frage auch in dem genannten Buche
Miscellen. 223
nicht ganz unbesprochen geblieben ist, und so werde ich mir denn erlauben,
daraus im folgenden die betrefFenden Stellen zu entlehnen und zu benutzen.
So findet sich dort auf S. 214a angegeben:
Ein Märchen — aus tausend und einer Nacht oder (als unflektierter
Buchtitel): — aus „Tausend und eine Nacht".
Ich füge dafür und für einige andere Formen noch mehrere (buchstäb-
lich genau mitgeteilte) Belege hinzu, vgl. mein „Wörterbuch der deutschen
Sprache« Bd. 1, S. 353b s. v. Ein und Bd. 11, S. 371b s. v. Nadit:
Nach einer Erzählung im ersten Teile von Tausend und Einer Nacht.
Wieland (Stereotyp. Ausg., Leipzig 1855) IV, 1.
Das Märchen von „Tausend und eine Nacht".
Heine, Romanzero 7.
Wie ein Märchen aus tausend und einer Nacht.
National-Zeitung, 27. Jahrg., Nr. 463 (H. Prutz).
Ein Garten aus tausend und eine Nacht.
(Maxim. V.Mexiko) Aus meinem Leben, 2. Aufl. (Lelpz. 1867), III, 48.
Was sicherhch nicht zu dem Original von Tausend und eine Nacht
gehört. Konvers. -Lexikon (v. ßrockhaus), 12. Aufl , XIV, 399.
Welch gut Geschick hat dich hierher gebracht?
Unmittelbar aus Tausend Einer Nacht?
Goethe (40 band. Ausg.) XII, 58 etc.;
ferner mit vortretendem Artikel:
Ein Märchen aus der tausend und einen Nacht.
Ein Märchen aus der „Tausend und eine Nacht".
Gallands Übersetzung der „Tausend und eine Nacht",
Konvers.-Lex. (Brockhaus), 12. Aufl., X, 120.
Auch :
All die Wunder der Mythologie, der Mönchslegenden, der Tausend
und einer Nacht. Wieland a. a. O. XXXI, 398 etc.;
ferner :
Aus (In) den tausend und eine?z Nacht.
Lichtenberg, Vermischte Schriften II, 383 u. IV, 366 etc.
Man sieht, dafs sich hier manche andere Fragen anreihen, wie z. B.
über die richtige Abwandlung des „eine", über die Verbindung des „tausend
und ein" mit der Einzahl oder mit der Mehrzahl etc. ; aber diese in meinem
„Wörterb. der Hauptschw." erörterten Fragen lasse ich hier, um mich nicht
zu weit von dem zu behandelnden Gegenstande zu entfernen, beiseite, und
bemerke nur noch in Bezug auf die Rechtschreibung, dafs man dem Titel
da, wo man ihn als unveränderlich anführt, auch füglich das Geleit der
Anführungszeichen nicht versagen darf, wie man richtig auch setzen wird
und mufs:
Aus der Märchensammlung — oder: Aus dem Werke etc. — „Tau-
send und eine Nacht" etc.
In diesem Falle handelt es sich um einen Titel, der als solcher den
bestimmten Artikel nicht vor sich hat; vergl. z. B. auch aus der National-
Zeitung, 37. Jahrg., Nr. 66:
Ein Marschhymnus aus „Bilder aus dem Norden" von H. Hofmann.
Hier wird schwerlich ein Deutscher in die Versuchung geraten, in dem
angeführten Titel statt des unveränderten „Bilder" nach der allerdings den
Dativ regierenden Präposition „aus" den flektierten Dativ „Bildern" zu
setzen (s.,u.); dagegen wird er, wenn er seinem natürlichen Sprachgefühl
folgt, diese Form bei Hinzufügung des bestimmten Artikels (allein oder
mit einem Begleitwort) nicht nur unbedenklich anwenden, sondern vor der
unverändert gelassenen Form des Hauptwortes zurückschrecken. Er wird
sprechen und schreiben:
Ein Marschhymnus aus den — oder: aus den bekannten etc. —
„Bildern (nicht Bilder) aus dem Norden" von H. Hofmann.
•224 Miscellen.
Lautete aber der Titel z. B. eines Ton- oder eines Dichtwerks nicht:
„Bilder aus dem Norden" (ein Hauptwort mit einem nachfolgenden adnomi-
nalen Zusatz), sondern wäre statt dessen ein einziges artikelloses Hauptwort
(in der Mehrheit) gewählt, etwa „Nordbilder", vergl. „Nordlandsbilder",
^Nordseebilder" oder auch ein solches Hauptwort mit davorstehendem attri-
butivem Eigenschaftswort, z. B. ^Nordische Bilder", so würde ein Deut-
scher, der unbefangen seinem Sprachgefühl folgt, doch mit Hinzufügung
des Artikels etwa sagen:
Eine Probe aus den „Nord- od. Nordlands-, Nordsee-Bilde?-n", wie
auch: aus den „Nordischen Bilder?!" von N. N.
Sollte der Titel unverändert (ohne das Dativ-n) bleiben so würde die
Einschaltung eines dem Titel vorangehenden, die Gattung bezeichnenden
Hauptwortes sich empfehlen, z. B.
Eine Probe aus der Dichtung od. aus der Tondichtung od. aus dem
Buche etc.: „Nordbilder" etc. od. „Nordische Bilder" von N. N.
AVollte man hier das die Gattung bezeichnende Hauptwort einfach weg-
lassen, also z. B.
Eine Probe aus „Nordbilder" oder: aus „Nordische Bilder" von N. N.,
so würde daran sicherlich jedes unbefangene deutsche Ohr als an einer
Härte und etwas Ungefügem Anstofs nehmen.
Es versteht sich jedoch wohl von selbst, dafs statt des dem flektierten
Titel vorzusetzenden Artikels z. B. auch ein besitzanzeigendes Fürwort oder
ein besitzanzeigender vorangestellter (sogenannter „sächsischer") Genitiv
eintreten kann, z. B.:
Herr N. N. hat in seinen „Nordlandsbildern" (oder: in seinen „Nor-
dischen Bildern") eine grofse Begabung an den Tag gelegt,
oder:
In Herrn N. N.s „Nordlandsbildern" (oder: „Nordischen Bildern")
zeigt sich eine bedeutende Begabung etc.
\'ergl. z. B. auch:
Lessing hat seinen Epigrammen den Titel „Sinngedichte" gegeben.
In Lessings (oder: In seinen) „Sinngedichten" — wie: In den „Sinn-
gedichten" Lessings — begegnen wir überall dem treffendsten Witze.
Von den angeführten \'ersen steht der eine in Uhlands „Gedichten",
der andere in Heines „Letzten Gedichten".
Die dabei den Titel einschliefsenden Anführungszeichen heben hervor,
dafs das Eingeschlossene eben als Titel eines Werkes, nicht als Gattungs-
name zu fassen ist. Es ist offenbar nicht gleichgeltend und gleichgültig,
ob gesetzt wird:
In Heines „Letzten Gedichten" — oder: In Heines letzten Gedichten
(wobei man auch auf den grofsen und den kleinen Anfangsbuchstaben in
dem attributiven ^Eigenschaftswort achte). Natürlich kann der Titel als
solcher auch auf andere Weise hervorgehoben werden, z. B. in der Schrift
durch Unterstreichen, im Druck durch Sperren oder durch eine abstechende
Schriftgattung etc.
Dagegen widerstrebt es, wie gesagt, dem unbefangenen deutschen
Sprachgefühl und Ohr, hier den Titel ohne Artikel oder besitzanzeigenden
Ersatz desselben flexionslos zu setzen, also etwa — ohne das in eckige
Klammern Eingeschlossene —
Der Vers steht in [dem Buch] „Letzte Gedichte" von Heine, oder:
in Heines [Buch] „Letzte Gedichte",
ganz abgesehen davon, dafs solche erkünstelte Unterscheidung in anderen
Fällen auch ihren vermeinten Wert verliert, wie in dem folgenden:
Der V^ers steht in [der Gedichtabteilung] „Balladen und Romanzen"
von Uhland,
vergl. (unter Hinzufügung des Artikels) :
in den „Balladen und Romanzen" von Uhland etc.
Miscellen. 225
Jü
Ist der Titel eines Werkes ein artikelloser Kigennanie, so kann oder
mufs innt^rhalb des Satzgefüges doch oft der Artikel hinzutreten. Um die
Grenzen dieses Aufsatzes nicht allzu weit auszudehnen, verweise i(h hier
auf das in meinem „Wörterb. der Hauptschw." (auf 8. 73 ff. unter dem
Abschnitt: „Bezeichnung von Abhängigkeitsverhältnissen durch Artikel und
Präpositionen statt Kasus" und auf S. 225 ff", unter dem Abschnitt „Per-
sonennamen") Gesagte, das im allgemeinen unter Berücksichtigung des im
vorstehenden Auseinandergesetzten genügen dürfte. Ich beschränke mich
absichtlich hier auf weniges, zum geringeren Teil von dort Entlehntes, zum
gröfseren es Erweiterndes.
Sehr bezeichnend ist es, dafs es z. B. bei Goethe a. a. O. XXVII, S. 6 heifst:
Die Anfänge des Wilhelm Meister wird man in dieser Epoche auch
schon gewahr
und gleich auf der folgenden Seite ohne Artikel, mit dem Genitiv-s:
Die Anfänge Wilhelm Meisters [od. Meister'' s^ hatten lange geruht.
In dem. Titel „Wilhelm Meister" ist Meister ein Eigenname; hiel'se
aber der Titel z. B. einer Erzähhmg in umgekehrter Reihenfolge: Mt-istrr
Wilhelm, so wäre hier Meister ein Gattungsname, der jedoch in solcher
Verschmelzung (s. a. a. O.) im Genitiv auch unverändert bleiben würde
(und zwar nicht blofs, wo es sich um einen Büchertitel etc. handelt), z.B.:
Meister Wilhelms Gesellen oder: Die Gesellen des Meister Wilhelm etc.,
also z. B. auch :
Der Schlufs des „Meister Martin und seine Gesellen'' von E. T. A.
Hoff mann.
Man beachte dabei, dafs hier natürlich auch der mit und hinzugefügte Teil
des Buchtitels unflektiert bleibt, weil er eben mit dem Vorangehenden zu-
sammen ein unverändert zu lassendes Ganze bildet (s. u.), vergl. dagegen,
wo es sich nicht um den Titel der Erzählung handelt:
Die Küferthätigkeit des Meister Martin [oder: Meister Martins] und
seiner Gesellen.
Wir führen hier zum Abschlufs nur noch an:
Vater Homers Gedichte oder: Die Gedichte Vater Homers, auch: Die
Gedichte des Vater Homer, aber nicht füglich: Die Gedichte des Vater
Homers etc., vergl. : In der Anfangsstrophe des „Ritter Toggenburg" von
Schiller.
Bisher haben wir Fälle betrachtet, in denen dem Titel eines Schrift-
werkes der Artikel hinzugefügt wurde; anders verhält es sich, wo der Ar-
tikel bereits im Titel als zugehöriger Bestandteil desselben sich findet.
Wir beginnen hier mit dem einfachsten Falle, wo der Titel eben nur
aus einem einzigen Hauptwort mit zugehörigem Artikel besteht, z. B. als
Titel von Zeitschriften :
„Der Hausfreund", „Der Westbote", „Der Freisinnige" etc.; „Die
Gegenwart" etc.; „Das Ausland" etc.; „Die Grenzboten" etc.
Ganz unverändert bleibt ein solcher Titel nur da, wo ihm der ent-
sprechende Gattungsname, hier also „Die Zeitschrift" etc. vorangestellt ist, z.B.:
In der Zeitschrift „Z)«s Inland"' etc.
Siebenpfeiffer als Herausgeber des Blattes: ^Der Westbote^^.
Rotteck und Welcker waren die Herausgeber der Zeitschrift: „Der
Freisinnige'' .
Schottländer ist der Verleger des Familienblattes: „Der HattS"
freund^^ etc.
Sonst" unterliegt im Satzgefüge wenigstens der Artikel regelmäfsig der
Flexion und die Folgerichtigkeit gebietet dann wohl unabweislich auch die
entsprechende Flexion des zugehörigen Hauptwortes. Wer — wie man das
allerdings nicht selten findet — z. B. setzt:
Der Verleger — Der Herausgeber — In den Spalten etc. des „In-
land'', — des „Hausfreund",
Archiv f. n. Sprachen. LXXIII. 15
226 ■ Miscellen.
weil er den Titel als unveränderlich betrachtet, übersieht zuerst, dafs
gerade er den Titel nicht unverändert lafst. Er mülste, wollte er seinen
Grundsatz durchführen, vielmehr setzen :
In den Spalten des „das Inland''^
Der Herausgeber des „der Hausfreund'*.
Die von ihm angewandte Ausdrucksweise würde selbst nach seinem
Grundsatz nur dann richtig sein, wenn der Titel des zu bezeichnenden
Blattes ohne Artikel lautete: Inland, Hausfreund.
Zweitens müfste er folgerecht seine Ausdrucksweise auch da durch-
führen, wo das Hauptwort schwache Abwandlung hat, d. h. im Genitiv
nicht auf -s, sondern auf -n ausgeht.
Welche deutsche Zunge und welches deutsche Ohr aber sträubt sich
nicht aufs entschiedenste gegen Ausdrucksweisen wie:
In dem „Freisinnige" — In den Spalten des „Freisinnige".
Die Herausgeber des „Freisinnige", des „Westbote".
Einzig richtig erscheint demnach, wie gesagt, die Flexion des Haupt-
wortes in Übereinstimmung mit dem zugehörigen Artikel, wobei man füg-
lich das Hauptwort, um es als Titel hervorzuheben und somit von dem
gleichlautenden Gattungsnamen zu unterscheiden, in Anführungszeichen ein-
zuschliefsen oder (s. o.) sonst irgendwie besonders bemerklich zu machen
hat, also z. ß. :
Jean Paul in den „Flegeljahren", in dem Roman „Die Flegeljahre".
Im „Inland". In den Spalten des „Inlands". Im „Freisinnigen". Die
Herausgeber des „Freisinnigen". Das Verbot des Siebenpfeillerschen
„Westboten". Der Absatz des bei Schottländer erscheinenden „Haus-
freundes" etc. etc.
Wollte man aber z. B. genau zwei Zeitschriften unterscheiden, von
denen die eine blofs (ohne Artikel) „Hausfreund", die andere „Der Haus-
freund" heifst, so würde man den entsprechenden Gattungsnamen (Zeit-
schrift, Familienblatt etc.) hinzufügen müssen:
Der Absatz der bei Schottländer erscheinenden Zeitschrift „Der
Hausfreund" u, s. w.
Danach heifst es auch, um auf die an die Spitze gestellte Frage zu-
rückzukommen, richtig:
Die Redaktion des „Klavierlehrers",
vergl. ferner z. B. :
Lortzing ist der Komponist des j, Wildschützen" und des „Waffen-
schmieds".
Die Ouvertüre des „Freischütze?!" von Weber etc.
Dafs die Fortlassung der Fiexionsenduno; hier nicht von allen als störend
empfunden wird, habe ich gesagt, aber es darf dies nicht befremden, da
— abgesehen von dem Titel — sich derartige Nachlässigkeiten auch sonst
finden, siehe in meinem „Wörterb. der Hauptschw." etc. S. 104 a, wo ich
z. ß. aus einem Werke der Gräfin Ida Hahn-Hahn angeführt habe:
Den kurzen anstofsenden Tritt meines Langohr [statt Langohrs] u. a. m.
und ebenda S. 10')b über die Formen des Dativs und des Accusativs der
Einzahl: dem und den Schütz statt Schützen, siehe z. ß.:
Sie wendete sich zum Schütz.
Auerbach, Neue Dorfgeschichten I, 45, 171 etc.
Eine neue Bestätigung und Verstärkung aber erhält die aufgestellte
Regel durch die Betrachtung des Falles, wo der Titel aufser dem Haupt-
wort und dem dazu gehörigen Artikel noch ein dazwischen stehendes Eigen-
schaftswort (oder mehrere) enthält. Hier fügen sich unbedingt Artikel und
Eigenschaftswort der durch das Verhältnis im Satzgefüge erheischten Flexion,
die somit auch für das verbundene Substantiv eintreten mufs. Wenige Bei-
spiele werden genügen :
Miscellen. 227
Die Redaktion — der Zeitschrift: „Das Neue Blatt" oder: — des
„Neue/i Blattes".
Hebel als Herausgeber — der Volksschrift „Der Rheinländische Haus-
freund" oder: als Herausgeber des „Rheinlandischen Hausfreund(e)s" etc.
In dem Roman: „Der Deutsche Krieg" oder: In dem „Deutschen
Krieg(e)" von H. Laube.
In den „Neuen Beiträgen".
Der Komponist des „Fliegenden Holländers".
Die Geschichte des „Ewigen Juden" etc.
Hierbei macht es keinen Unterschied, ob der Artikel wirklich zum Titel
gehört oder (s. o.) nur zur Bezeichnung des Kasusverhältnisses vorgesetzt
ist, so z. B. :
In dem Feuilleton des „Stuttgarter Neuen Tageblatt(e).s*' etc.
Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des ^West-östlichen
Divans". Goethe a. a. O. IV, 155,
wo ich nur die verdeutlichenden Anführungszeichen hinzugefügt habe etc.
Tritt in dem Titel zu dem Hauptwort noch ein nachfolgender adnomi-
naler Zusatz, so wird dadurch in dem Verhältnis nichts Wesentliches ge-
ändert und das Gesagte bleibt bei Bestand; es genügt daher hier die An-
führung einiger Beispiele:
Wir finden das bei Schiller in seinem „Ring des Polykrates", in den
„Kranichen des Ibykus", in dem „Kampf mit dem Drachen", dem „Gang
nach dem Eisenhammer", dem Grafen von Habsburg", dem „Verschleierte/i
Bild zu Sais", dem „Mädchen aus der Fremde", der „Antike an den
nordischen Wanderer" etc.
Vergl.: in seinen Gedichten: „Der Ring des Polykrates", „Die Kra-
niche des Ibykus" etc.
Heine in den „Bädern von Lucca", vergl.: in der Schrift: „Die Bäder
von Lucca" etc.
auch im Genitiv, z. ß. :
Schiller hat den Stoff des „Kampfes mit dem Drachen" — vergl.:
den Stoff der Ballade: „Der Kampf mit dem Drachen" — dem Abbe
Vertot entlehnt. Woher hat er den Stoff des „Verschleierten Bildes zu
Sais" — vergl.: des Gedichtes: „Das verschleierte Bild zu Sais" — ge-
nommen?
Das Textbuch — der „Meistersinger in Nürnberg" oder: zu den
„Meistersingern in Nürnberg", auch (s. u.) verkürzt: zu den „Meistersinorern",
siehe ferner, wo der Artikel nicht Bestandteil des Titels, sondern hinzu-
gefügt ist, z. B.:
Lessing in den „Zerstreuten Anmerkungen über die Epigramme und
einige der vornehmsten Epigrammatisten".
Die Mitarbeiter der „Neuen Beiträge zum Vergnügen des Verstandes
und Witzes" — oder: an den „Neuen Beiträgen zum \'ergnügen etc."
nannten sich auch „Bremer Beiträger".
In der letzten Nummer des „Magazins für die Litteratur des In- und
Auslandes".
In dem 50. Bande des „Archivs für das Studium der neueren Sprachen
und Litteraturen" etc.
Derartige langatmige Titel werden bekanntlich, wo man kein Mifsver-
ständnis zu befürchten hat, gern verkürzt, z. B. :
Die Mitarbeiter an den „Bremer Beiträgen". Die Nummer des „Maga-
zins". Im 50. Bande des „Archivs" etc.
Das erste Beispiel, in welchem niemand die Dativendung an dem Haupt-
wort unterdrücken wird, zeigt wohl, dafs man, wie schon oben bemerkt,
füglich nicht setzen sollte: des „Magazin", des „Archiv", wie man ja auch
im Genitiv nicht sagt: Die letzte Nummer des „Wendischen Bote", — des
„Reichsbote", sondern: des „..Boten" etc.
15*
228 Miscellen.
Eine besondere Beachtung verdient nun noch der Fall, wo der Titel
aus mehreren durch nebenordnende Rindewörter (wie und, oder) verknüpften
Hauptwörtern besteht; aber es scheint angemessen, vor der Erörterung
dieses Falles den zu betrachten, in welchem der Titel eine Flexion anzu-
nehmen unfähig oder weniirstens unireeignet ist.
Gehen wir dabei von folgenden Beispielen aus:
Goethe hat in dem achten Buche seines Werkes — vergl. : in seinem
Werke — -. „Aus meinem Leben. Wahrheit und Dichtung" die mächtige
Wirkung der Lessingscben Abhandlung: „Wie die Alten den Tod ge-
bildet" hervorgehoben.
In der akademischen Antrittsrede : „Was heifst und zu welchem Zweck
studiert man Universalgeschichte?" führt Schiller diesen Gedanken aus.
Tn dem Lustspiel: „Was ihr wollt" von Shakespeare. In dem zweiten
Akt des Lustspiels: „Was ihr wollt".
Dies geflügelte Wort stammt — aus dem Lied: „An die Freude"
von Schiller — aus der letzten Strophe des Liedes: „An die Freude" von
Schiller.
Der Arie — oder: Dem Vortrag der sogenannten Buchbinderarie:
„Ein Band der Freundschaft" folgte ein Da-capo-Ruf etc.
Hier sind überall die .in Anführungszeichen eingeschlossenen Titel ganz
unverändert geblieben, während das Kasusverhältnis durch Flexion an den
ihnen vorangeschickten Gattungsnamen bezeichnet ist. Versucht man nun,
diese Gattungsnamen mit ihren attributiven Begleitwörtern einfach weg-
zulassen, so überzeugt man sich sofort, dafs dies — mit mehr oder minder
Härte — ohne weitere Veränderung überhauot nur da anseht, wo das Ab-
hängigkeitsverhältnis durch eine Präposition bezeichnet ist. So kann das
Eingeklammerte z. B. fortgelassen werden, wo es heifst:
In (dem Lustspiel): „Was ihr wollt" von Shakespeare,
aber nicht, wo der Gattungsname im blofsen Genitiv steht:
In dem zweiten Akt (des Lustspiels) „Was ihr wollt" etc.
Hier müfste, um das Abhängigkeitsverhältnis erkennen zu lassen, wenig-
stens der Artikel beibehalten werden oder als Ersatz dafür die Präposition
von eintreten :
In dem zweiten Akt des (oder: von): „Was ihr wollt" von Sh.
Ahnlich mufs dem blofsen Titel im reinen (d. h. nicht von einer Prä-
position abhängigen) Dativverhältnis zur Bezeichnung dieses Verhältnisses
der Dativ des sächlichen Artikels vorgesetzt werden, vergl.:
Der Arie: „Ein Band der Freundschaft" — und: Dem „Ein Band
der Freundschaft" folgte der Da-capo-Ruf.
wie auch (s. o.):
Dem Vortrag des (oder: von): „Ein Band der Freundschaft" folgte
der Da-capo-Ruf etc.
Sorgfältige Stilisten vermeiden im allgemeinen hier die Fortlassung des
den Titel einleitenden Gattungsnamens, weil ihr eine bald minder, bald
mehr hervortretende Härte anhaftet, wie man klar erkennen wird, wenn man
die Fortlassung in den obigen Beispielen durchzuführen versucht. Die Härte
tritt nur da sehr zurück oder, man kann fast sagen: sie verschwindet da,
wo der Titel einer fremden Sprache angehört oder sonst in seiner all-
bekannten Fassung und Zusammenfassung sich doch gleichsam als ein ein-
ziger zusammengehöriger Ausdruck auffassen und behandeln läfst, wie z. ß.
(s. o.) in dem fast sprichwörtlichen „Was ihr wollt", vergl. ferner:
Die Aufführung von [= des Lustspiels] „Viel Lärm um nichts" von
Shakespeare.
Malkolmi spielte den „Vater Märten" in [dem Vorspiel]: „Was wir
bringen".
Der erste Akt von — eine Arie aus — [der Oper]: „Cosi fan tutte"
von Mozart.
Miscellen. 229
Die Feier schlofs mit dem [Lied]: — mit der Absingung des [Liedes]: —
„Gaudeamus ifjitur" etc.
Auf solche Beispiele indeklinabler Titel darf man sich aber natür-
lich nicht, wie dies von manchem geschieht, berufen, um auch für ab-
wandln ngs fähige Titel die Nichtabwandlung als Regel zu begründen.
Wer in vermeinter Korrektheit z. B. schreibt und geschrieben wissen will ( s. o.) :
Aus „Die Meistersinger"
müfste folgerichtig auch den Titel im Genitiv unverändert bewahren und
dürfte also nicht setzen:
Die Aufführung der „Meistersinger",
sondern etwa :
Die Aufführung des „Die Meistersinger"
oder wenigstens, wenn er den Artikel nicht vorsetzen will:
Die Aufführung von „Die Meistersinger" etc.
Ein Titel, der aus einem Plauptwort mit attributiven oder adnominalen
Bestimmungswörtern besteht, ist deklinabel und demgemäfs dem Satzgefüge
durch die gehörige Abwandlung einzuordnen; besteht dagegen der Titel
aus einem Satz, so ist er indeklinabel und es darf natürlich nicht etwa ein
an der Spitze stehendes Hauptwort darin der Abwandlung unterworfen
werden, z.B.: »
Die AVorte des [Liedes]: „Der Ritter mufs zu blut'gem Kampf hinaus"
sind von Theodor Körner.
Karl Schall hat zu dem [Liede]: „Der Ritter mufs zu blut'gem Kampf
hinaus" eine auf Körner bezügliche Schlufsstrophe hinzugedichtet, —
wobei — wenn auch, wie gesagt, nicht ganz ohne stilistische Härte — der
dem .Titel vorangehende eingeklammerte Gattungsname fortbleiben kann.
Ähnlich auch z. B., wo der Titel ein unvollständiger Satz ist, wie:
In Calderon, dem Dichter von „Das Leben ein Traum".
Konvers.-Lex. XIII, 912.
= dem Dichter des Dramas (oder: Schauspiels, Stücks etc.): „Das
Leben ein Traum".
Siehe ferner z. B. :
Die Aufführung des [Lustspiels]: „Der Neffe als Onkel". — Als
Champagne In [dem Lustspiel]: „Der Neffe als Onkel".
Nach dieser Vorbereitung komme ich nun auf den schon oben er-
wähnten, für den Schlufs aufbewahrten Fall zurück, dafs der Titel aus
mehreren durch nebenordnende Bindewörter verknüpften Substantiven be-
stellt. Stehen dabei diese Hauptwörter ohne Artikel oder andere attributive
Begleitwörter, so ist nur sehr wenig zu bemerken, ^'ergl. :
Die Aufführung des Ballets : „Flick und Flock" und dafür: Die Auf-
führung — des „Flick und Flock" oder häufiger: von „Flick und Flock",
und so auch z. B. :
Die Aufführung etc. — von „Robert und Bertram", von „Zar und
Zimmermann", von Lorbeerbaum und Bettelstab", von „Kabale und Liebe"
etc , auch :
Die zehnzeilige Strophe in Schillers [Ballade] : „Hero und Leander"
zerfällt in zwei Hälften von je sechs und vier Versen.
Ich glaube hier nur auf das eine besonders aufmerksam machen zu
müssen, dafs eine solche indeklinable Zusammenfassung, unabhängig von
dem Geschlecht der verbundenen Flauptwörter, richtig als Neutrum auf-
zufassen und zu behandeln ist.
Allerdings ist Wahrheit sowohl wie Dichtung ein weibliches Hauptwort ;
aber man nehme z. B. den Satz (s. o.):
Goethe hat In „Wahrheit und Dichtung" die mächtige Wirkung der
Lessingschen Abhandlung hervorgehoben etc. =
in seiner Lebensbeschreibung (oder: in seinem Buche, Werke): „Wahr-
heit und Dichtung".
•230 Miscelleii.
Will man hier dem Titel das besitzanzeigende Fürwort hinzutügeu, so
müfste es nicht heifsen:
In seine?" „Wahrheit und Dichtung",
sondern:
In seinem „Wahrheit und Dichtung",
und so beruht es auch nur auf einem — durch einen übereifrigen Druck-
berichtiger verursachten — Setzfehler, wenn es in meiner ,.Geschichte
der deutschen Litte ratur" (2. Aufi.) § 157, Nr. 16 von der in Lessings
„Emilia Galotti" wehenden Luft heifst:
Es war dieselbe wie . . . die Atmosphäre von Schillers späterer „Kabale
und Liebe" statt: späterem.
Die grammatische Schwierigkeit wäre (s. o.) vermieden durch die (im
allgemeinen in allen ähnlichen Fällen zu empfehlende) Hinzufügung des
dem Titel voranzustellenden Gattunssnamens:
Die Atmosphäre von Schillers späterem bürgerlichen Trauerspiel :
„Kabale und Liebe*' etc.
Aber auch, wo die in dem Titel verbundenen Substantiva (oder auch
nur eins davon) den bestimmten Artikel oder sonst ein deklinierbares attri-
butives Begleitwort vor sich haben, dürfen dieselben doch hier füglich nicht
flektiert werden. ^
Goethe schreibt (Bd. VI, S. 408) mit der, wie gesagt, zu empfehlenden
Voranstellung des Gattungsnamens:
Prolog zum Lustspiel: „Alte und neue Zeit" von Iff'land.
Aber, auch wenn man minder gut den Titel unmittelbar von der Prä-
position „zu" abhängen läfst, so dürfte es doch nur heifsen:
Prolog zu „Alte und neue Zeit", nicht: zu alter und neuer Zeit.
Vergl. : In Lortzings [Oper]: „Der Pole und sein Kind", mit dem ein-
geklammerten Worte und ohne dasselbe; ferner (s. o.):
Der Schlufs des [wie: der Erzählung]: „Meister Martin und seine
Gesellen" von E. T. A. Hoffmann.
Schiller hat in seinem [Gedicht]: ..Das Ideal und das Leben" später
einige Strophen getilgt.
Mit [den beiden Gedichten]: „Der Edelknabe und die Müllerin" und
„Der Junggesell und der Mühlbach" machen [die darauf folgenden]: „Der
Müllerin Verrat" und „Der Müllerin Reue" einen kleinen Roman aus.
Der in [der Ballade]: „Der Gott und die Bajadere" vorkommende
indische Name „Mahadö" oder eigentlich „Mahadewa" entspricht dem
lateinischen „Magnus dcus" (grofser Gott) etc.
auch z. B. :
Die erste Aufführung des [oder: der Oper]: „Don Juan oder der
steinerne Gast" etc.,
vergl. auch, wo der mit dem gleichsetzenden oder angeknüpfte Teil des
Titels eine indeklinable Wortverbindung ist:
Die erste Ausgabe des „Laokoon oder über die Grenzen der Malerei
und Poesie" erschien 1766.
Zu Goethes Faust.
Im zweiten Teil von Goethes Faust (Akt I, Vers 1695 ff.) finden wir
eine mit ^.Hell erleuchtete Säle" überschriebene Scene, welche uns den
Mephisto als W^underdoktor vorführt. Zuerst bittet ihn eine Blondine um
ein Mittel gegen Sommersprossen. Mephisto antwortet:
Nehmt Froschlaich, Krötenzungeu, kohobiert,
Im vollsten Mondlicht sorglich destilliert
Und, wenn er abnimmt, reinlich aufgestrichen.
Miscellen. 231
Dann kommt eine Braune, die au einem erfrorenen Fulse leidet:
Älephisto : Erlaubet einen Tritt von meinem Fufs.
Braune: Nun, das geschieht wohl unter Liebesleuten.
Mephisto: Mein Fulstritt, Kind, hat Grölsres zu bedeuten.
Zu Gleichem Gleiches, was auch einer litt' ;
Fufs heilet Fufs, so ists mit allen Gliedern.
Er tritt die Leidende auf den Fufs, sie geht — nach seiner Versicherung:
geheilt — von dannen, um einer Dame Platz zu maciien, die ein Mittel
gegen die Untreue ihres Mannes verlangt. Mephisto giebt ihr eine Kohle,
mit dieser soll sie dem Ungetreuen einen Strich auf das Gewand machen
und dann die Kohle trocken verscbhngen. Die Kohle „kommt von einem
Scheiterhaufen, den wir sonst emsiger angeschürt".
Während nun die letzte Kur als auf Aberglauben beruhend, als
„sympathetisch" gar nicht zu verkennen ist, haben Faust-Erklarer aus den
bei der zweiten Heilung vorkommenden Worten „Gleiches zu Gleichem"
auf eine Persiflage oder dergl. des Hahnemannschen Similia similibus curantur
geschlossen, auch wohl die erste Kur für allopathisch, die Allopathie ver-
spottend etc. ausgegeben. Dies ist jedoch ein Irrtum: alle drei Kuren
beruhen auf dem Grundsatz „Gleiches zu Gleichem", einem Grundsatz, der
im Volksaberglauben, namentlich bei Krankenheilungen eine grofse Rolle
spielt, und alle drei Kuren sind demnach in eine Kategorie zu stellen.
Bezüglich der erwähnten Gleichheit des Leidens oder des kranken GHedes
mit dem angewandten Gegenmittel weifs sich der Aberglaube wunderbar zu
helfen: bald ist es die Form, bald die Farbe, bald der Name oder sonstige
Eigenschaften, welche Gleichheit aufweisen. So wendet man gegen die
unter dem Namen Ziegenpeter bekannte Halskrankheit einen Ziegenstrick
an, den der Kranke um den Hals schlingt (man kann ihm doch nicht eine
Ziege selbst und daneben auch noch einen Peter aufhalsen !) ; „gegen Ohren-
klang (Ohrenläuteu) hilft Glockenstrang", den man ausriefelt und in die
Ohren stopft; gegen Wasserschneiden (Blasenschraerzen) kocht man Thee
aus einer Pflanze, die eine blasenförmige Blüte hat. Ja, dieses Similia
similibus curantur ist selbst bei dem rein abstrakten Wunderglauben zu
finden: siehe deshalb „die Wallfahrt nach Kevlaer" von H. Heine.
Die Gleichheit zwischen Leiden und Mittel auch für die erste und die
dritte Kur Mephistos nachzuweisen, ist leicht. Sommersprossen und Frosch-
laich haben ziemlich gleiche Form und Farbe; und die Zunge der für giftig
gehaltenen Kröten galt vielleicht als Urheberin von Sommersprossen; jeden-
falls hat man sie für fähig gehalten, Flecke auf der Haut zu erzeugen und
der letzteren ein gelbes, schuppiges Aussehen zu verleihen, wie solches
ähnlich die Kröten haben. — In der dritten Kur liegt die Gleichheit etwas
versteckter, immerhin ist sie nicht schwer herauszufinden: eine Hexe wird
durch die andere lahm gelegt. Die Dame sucht Abhilfe für die Untreue
ihres Mannes bei einem völlig Fremden, der auf den Mann nicht direkt ein-
Avirken kann, dem sie Wunderkraft, Zauberkraft zutraut; dafs sie die Ur-
sache ihres Leidens nicht bei sich selbst sucht, liegt auf der Hand, der
Mann ist nach den Begriffen seiner Frau nicht blofs verführt, wie wir sagen
würden, — nein, er ist behext. Der Scheiterhaufen, von welchem die Kohle
herrührt, ist (wie Löper richtig vermutet) der Scheiterhaufen einer Hexe,
die Kohle vielleicht ein Knochen von dieser (der Scheiterhaufen wäre „sonst
[wenn Mephisto nicht gerade einen solchen verkohlten Knochen hätte er-
langen wollen?] emsiger angeschürt"; zum wenigsten sind in der Kohle
Teile von der Hexe, weil diese darauf gebraten wurde. Die Dame soll zu-
nächst das Gewand des Ungetreuen mit der Kohle bestreichen und dann
diese selbst ti^ocken verschlucken, damit sich die Hexenteile dauernd mit
ihrem Körper verbinden und ihren Mann dauernd an sie fesseln. Die Künste
der verführerischen Hexe werden dadurch unwirksam gemacht..
232 Miscellen,
Läfst sich somit nachweisen, dafs alle drei Heilungen auf dem Grund-
satz „Gleiches zu Gleicheui'* beruhen und dafs die erste und dritte eine
Schilderung des Aberglaubens enthalten, so läfst sich kaum noch zweifeln,
d;ifs Goethe auch bei der zweiten Kur lediglich den Aberglauben vor Augen
gehabt hat. Es sei gestattet, deshalb folgende Vermutung auszusprechen.
Für Fuf>leiden wurden Mittel verwendet, welche mit „Fuls" dem Namen
oder der Form nach verwandt sind. Eine besondere Rolle spielten hierbei
Pflanzen mit Namen wie Teufels- oder Satans-Fufs, -Klaue, -Zehe u. dergl.
Bei Abfassung der betreifenden Faust-Scene kam Goethe, der sich für
Volksgebräuche etc. ungemein interessierte, auf den Gedanken, den Teufel
als Mittel gegen Fufsleiden nicht die Pflanze Teufelsfufs etc. anraten zu
lassen, sondern dieses Mittel zu personifizieren ; damit hat der Dichter zu-
nächst eine dramatisch lebhafte AVirkung erzielt, dann aber auch wieder
etwas in die Dichtung „hineingeheimnist". — Auch aus dem Umstand, dafs
Mephisto der Dame sagt, sie solle die Kohle trocken verschlingen, „nicht
AVein, nicht Wasser an die Lippen bringen", geht des Dichters tiefe
Kenntnis vom Aberglauben hervor. Wasser ist dem Fürsten der trockenen
Hölle und seinen Dienern und Werken zuwider. Der Glaube ist heute
noch nicht ausgestorben, dafs es Leute giebt, die mit dem Teufel im
Bunde stehen ; wenn man von solchen Teufelsbündnern Geld bekommt,
dann kehrt es wohl zu diesen zurück ; um nun aber zu wissen, ob man
einfach bestohlen wird oder ob man behextes Geld bekommt, mufs man
das Geld in ein Glas Wasser werfen: ist es behext, dann wogt es im
Glase auf nieder, es will heraus aus dem feindlichen Element, aber ver-
geblich. —
Bei dieser Gelegenheit sei zugleich erwähnt, dafs sich von dem bei
Shakespeare (Romeo und Julia) vorkommenden „to show the fig" und dem
damit in X'erbindung stehenden Aberglauben ein ziemlich kräftiges Über-
bleibsel bis auf den heutigen Tag erhalten hat. „To show the fig" be-
deutet, wie bekannt, ursprünglich eine unanständige Gebärde (sagen wir:
eine „entgegengesetzte \'erbeugung"), mittels welcher man einen Zauber
brechen zu können vermeinte ; die Verbeugung und die sie begleitende
Erscheinung des unter „fig" zu verstehenden Körperteiles wurden aber so
zu sagen imitiert mittels dreier Finger. Natürlich fühlte sich der durch
solche Gebärde Abgewiesene stark beleidigt, herausgefordert; darum ist die
betr. Shakespeare-Stelle etwa zu verdeutschen: „Soll ich ihn anrempeln?'"
— Ebenso ist bekannt, dafs abergläubische Mütter oder W^ärterinnen, wenn
mau das gesunde Aussehen ihrer Kinder oder Pfleglinge lobt, in diesem
Lobe eine „Beschreiung" des Kindes, ein „Berufen" von Unheil erblicken,
sobald mit dem Lobe nicht zugleich der Schutz Gottes erfleht wird („be-
hüte es Gott!"). Manche Mütter etc. brechen nun den gefürchteten Zauber,
indem sie selbst die Schutzformel schleunig aussprechen ; andere aber glauben
ihr Kind nur dadurch vor Unheil schützen zu können, dafs sie an den „Be-
schreier" eine nicht mifszuverstehende Aufforderung ergehen lassen, die
diesen und das Kind betrifft, und dals sie mit dieser Aufforderung auch
wohl eine Entblöfsung des Kindes verbinden. L. I.
Zur deutschen Orthographie.
Dafs gewisse Substantiva, wenn sie den Charakter von Adverbien,
Präpositionen oder Konjunktionen angenommen haben, auch in ortho-
graphischer Hinsicht als solche zu behandeln, d. h. klein zu schreiben sind
— darüber herrscht im allgemeinen wohl kaum noch eine Meinungsver-
schiedenheit : vergl. teils^ anfangs, seitens, meinerseits, abends, nachts, vor-
Miscellcn. ' 233
oder nachmiltags^ beizeiten, jedenfalls, keinesfalls, jederzeit, zeitlebens, heut-
zutage, lurderhand, hierzulande etc. Dagegen : von einem grofsen Teile, von
meiner Seite, iii der Nacht, an jenem Tage, zu allen Zeiten, in keinem Falle,
im Anfange des Krieges, zu seiner rechten Hand, in unserem Lande etc.
Von diesen Dingen soll also hier nicht weiter die Rede sein, obwohl auch
hierüber noch manches zu sagen wäre. Es handelt sich vielmehr jetzt um
ein Gebiet in der deutschen Orthographie, auf welchem gerade in unseren
Tapen eine fast schrankenlose Willkür um sich gegriffen hat und
auf dem eine A'erständigung über die richtige Schreibweise
ebenso wünschenswert wie schwierig ist. Übrigens wird man bald
erkennen, dafs das Folgende mit dem oben Erwähnten nahe zusammen-
hängt.
Indem wir zur Sache übergehen, schicken wir zunächst einen Satz
voran, der, wie er die Grundlage und den Kern aller folgenden Betrach-
tungen bildet, so auch der allgemeinen Zustimmung sicher sein darf. Wenn
ein Substantiv mit einem anderen Worte, namentlich einem
Verb um, zu einem Begriffe verschmolzen und gleichsam be-
grifflich mit ihm zusammengewachsen ist, so hat man diesem
Umstände auch in der Schreibweise (durch Anwendung der kleinen
Anfangsbuchstaben) Rechnung zu tragen. Demgemäfs schreibt man
jetzt allgemein teilnehmen, zuteil werden, zu gründe gehen, zu gründe richten,
stattfinden, statthaben, stattgeben, zu statten kommen, von statten gehen, im
Stande sein, zu stände kommen, zu stände bringen, standhalten, zu gute kom-
men, zu ivege bringen, zu nutze machen, bei seite setzen, bei seite bringen, zu
tage kommen, zu tage bringen, anstand nehmen (= Bedenken tragen), acht
geben, sich in acht nehmen, aufser acht lassen, zu geböte stehen, preisgeben,
schuld geben, schuld sein, willens sein, icunder nehmen u. a. d. A. Über die
Grenze aber, bis zu welcher man in der angegebenen Rich-
tung gehen dürfe oder gehen müsse, ist in der Praxis durch-
aus noch keine Verständigung oder Übereinstimmung zu be-
merken. Ganz abgesehen von geringen Abweichungen (vergl. zu gründe
gehen, zugrunde gehen, zugrundegehen: teil zu nehmen und teilzunehmen;
statt finden und stattfinden etc.) ist man auch in der Hauptsache, d. h. in
der Wahl der grofsen oder kleinen Anfangsbuchstaben noch keineswegs zu
einer gleichmäfsigen Schreibweise gelangt. Man findet oft das Verschie-
denste bunt durcheinander: zu Kate (Rathe) halten und zu rate halten oder
zurate halten (auch in ein Wort geschrieben,* ebenso bei zu Rate ziehen');
zu Liebe thun urfd zu liebe (resp zuliebe) thun ; zu Bette gehen und zu bette
(resp. zubette) gehen; zu Kreuze kriechen und zu kreuze (resp. zukreuze)
kriechen; zur Last legen und zur last legen; zu Fiifsen fallen und zu fiifsen
fallen; zu Kräften kommen und zu kräften kommen; zu Willen sein und zu
willen sein; Hecht oder Unrecht haben (thun) und recht oder tmrecht haben
(thun); zu Hilfe kommen (resp. nehmen, rufen) und zu hilfe kommen; zu
Wasser werden und zu wasser werden ; im Stiche lassen und im stiche lassen;
Folge leisten und folge leisten ; den Kürzeren ziehen und den kürzeren ziehen ;
zu Schanden werden und zu schänden werden ; Trotz bieten und trotz bieten etc.
Es würde nicht schwer sein, die Zahl solcher Beispiele zu verdoppeln oder
zu verdreifachen, die angeführten werden aber genügen, um ein Bild von
den betreffenden Schwankungen zu geben. Von einer definitiven Fest-
stellung der Schreibweise in jedem einzelnen Falle kann wohl zum teil des-
halb noch- nicht die Rede sein, weil die Sprache selbst noch in
einer fortschreitenden Entwickelung begri f f e n i s t — allerdings
(wie wir gleich hinzusetzen können) in einer Entwickelung nach der Seite
der oben besprochenen Verschmelzung der Begriffe. Wo nun diese Ver-
* So auch bei den folgenden Wortverbindungen.
234 Miscellen.
Schmelzung der Begriffe vollständig durchgeführt und zum
ßewufstsein des Schreibenden gekommen ist, da wird sich
dieselbe auch in der Schrift alsbald zur Geltung bringen;*
wo dagegen der substantivische Charakter eines Wortes noch
zu d e utlic h h er vortritt (z. B. durch Hinzufügung des Artikels oder eines
Adjektivs), wird er sich auch in der Schreibweise nicht so leicht
verwischen lassen: vergl. in den Grund bohren, auf den Grund gehen
neben zu gründe gehen, zu gründe richten; in das Grab legen neben zu
grabe tragen; in den Besitz einer Sache gelangen neben in besitz nehmen; zu
deinem Besten neben zum besten geben oder zum besten haben; in das Schiff,
in den Wagen, auf das Pferd steigen neben zu schiff'e gehen, eine Keise
zu wagen, zu pferde oder zu fufse machen; ein grofses Haus machen neben
sparsam haushalten*'* u. s. w. Je häufiger ein Substantiv auch sonst als
unabhänciges und selbständiges Wort vorkommt, desto schwerer ent-
schliefst sich im allgemeinen die Sprache, ihm seine sub-
stantivische Würde, resp, den grofsen Anfangsbuchstaben als
das äufsere Zeichen derselben zu rauben. Übrigens ist nicht zu
verkennen, dafs auch die Gewöhnung der Schreibenden hier eine srofse
Rolle spielt. \\'ährend die älteren Generationen, geleitet durch die Erinne-
rung an ihre Jugendzeit und die damals geltenden Regeln, vielfach an dem
(gebrauch der grofsen Anfangsbuchstaben festhalten, werden die Kinder
jetzt schon in der Schule gewöhnt, in allen Fällen, wo es sich nur irgend
rechtfertigen läfst, die kleinen Initialen anzuwenden.*** Dafs
dabei statt der bestimmten Regel oft das individuelle Gefühl des ein-
zelnen die letzte Entscheidung giebt, bedarf kaum einer besonderen Er-
wähnung.
Es würde vorläufig noch ein ziemlich undankbares und wahrscheinlich
auch ein vergebliches Unternehmen sein, wenn man in jeder ein-
zelnen derartigen "Wortverbindung vollständige und unbe-
dingte Gleich mäfsigkeit der Schreibweise fordern oder er-
zwingen wollte. Eine andere Frage ist die, ob man sich nicht über
gewisse allgemein zu befolgende Grundsätze verständigen könne, und
das ist unserer Meinung nach nicht blofs möglich, sondern auch
notwendig.
Den Hauptgrundsatz, von dem die Entscheidung vorzugsweise,
ja fast ausschliefslich abhängt, haben wir bereits oben ausgesprochen. Wo
dieser Hauptgrundsatz nicht ausreicht, wird man nach Analogieen suchen
und sich nach diesen richten müssen. Wenn ich z. B. schreibe zu tvasser
und zu lande, so werde ich auch schreiben müssen zu fusse, zu. icagen und
zu pferde; wenn anstatt, so auch anstelle (dagegen an meiner Stelle etc.);
wenn im stände sein, so auch zu stände bringen, wenn dieses, dann auch
zu wege bringen, zu ende bringen, wenn zu bette gehen^ dann auch zu tische,
zu gaste, zu hofe, zu leibe gehen etc. Sollte aber auch dieser Gesichtspunkt
zur Beseitigung des Zweifels nicht ausreichen, sollte man in einem be-
stimmten Falle über die Wahl des kleinen oder des grofsen Anfangsbuch-
stabens durchaus nicht mit sich einig werden können, so wird man mit
Rücksicht auf die jetzige Zeitströmung (wo man ja vielfach die grofsen
* Ein sicheres Merkmal der vollendeten Verschmelzung sind u. a. die aus der
Verbindung hervorgegangenen Ableitungen : vergl. Teilnahme, Teilnehmer, teilneh-
mend etc. (von teil nehmen).
j ** Dazu vergl. die Ableitungen Haushalter, Haushaltung, haushälterisch.
*** Man kann deshalb an der Behandlung dieser Dinge ziemlich deutlich er-
kennen, ob der Schreibende einer jüngeren oder älteren Generation angehört. Wenn
jemand schreibt zu u-osser und zu lande, zu fuß vnd zu rofs, so stammt seine
Weisheit sicherlich aus neuerer oder neuester Zeit.
Miscollen. 235
Anfangsbuchstaben — etwa mit Ausnahme der Eigennamen — ganz besei-
tigen möchte) am besten thun, wenn man sich für das sogenannte Kloin-
schreiben entscheidet.
Ldsb. a. W. A. W.
Die auch Band LXXII, Heft 2 des Archivs im Abrifs mitgeteilte Rede,
welche Herr Prof. du Bois-Reymond anläfslich des Centenariums Diderots
in Berlin gehalten hat, weist u. a. folgenden Passus auf:
„Efi ist kein Ziceifel^ da/s er (Diderot) aus der englischen Litteratur
starke Eindrücke erhielt^ icälirend weder seine geistige Eigenart etwas Deut-
sches bietet, noch^ avfser dem Umgang mit Grimm, deutsche Einwirkungen
hei ihm nachiceishar sind."'
Ist nun die Bemerkung du Bols-Reymonds, dafs die geistige Eigenart
Diderots etwas Deutsches nicht biete, nicht gut anfechtbar, so möchte ich
andererseits nicht ohne weiteres zugeben, dafs deutsche Einwirkungen bei
Diderot nicht nachweisbar seien. Einige, wenn auch nur kleine, so doch
ganz beachtenswerte Arbeiten des berühmten Encyklopädisten stellen viel-
mehr deutschen Einflufs aufser allen Zweifel. Dieser Einflufs ist zwar nicht
bedeutend, immerhin aber erwähnenswert.
Der Züricher Dichter Sal. Gefsner (1730 — 87) nämlich war es,
welcher in der Mitte des 18. Jahrh. durch seine Idyllen und Schäferspiele
grofses Aufsehen erregte und gerade in Frankreich, welches sich bis dahin
der deutschen Litteratur möglichst verschlossen hatte, grofsen Anklang
fand. Einem gewissen Hub er, Deutschen von Geburt, der sich in Paris
niedergelassen hatte und mit den Koryphäen jener Zeit, Rousseau, Diderot
u. a., in Verbindung stand, war es vorbehalten, Gefsner einzuführen. Er
übertrug zunächst den „Tod Abels" und hierauf die ersten „Idyllen" des
Züricher Dichters ins Französische. Der „Tod Abels" nun war es, der aus
Diderot einen „enthusiastischen Bewunderer und warmen Lobredner" Gefsners
machte. Konnte der französische Dichter die Werke Gefsners auch nicht
in der Ursprache lesen, so trug er doch zu einer exakten Übersetzung der-
selben das Seinige bei, denn „sein tiefer Blick und sein leises Gefühl, ver-
eint mit dem festen Glauben an Gefsners geläuterten Geschmack, liefs ihn
manche feinere, aber nicht minder wichtige Sinnesverfälschung ahnen und
veranlafste nicht selten den Übersetzer, in den Geist der Urschrift tiefer
einzudringen" (cf. J. J. Hottinger [Sal. Gefsner], Zürich 1796, pag. 98 iL).
H. Meister, ein Mitbürger Gefsners und der gemeinschaftliche Freund
Diderots und des Züricher Dichters, der auch des letzteren „Neuere Idyllen"
ins Französische übertrug, schreibt hierüber an (lefsner: „Je viens de passer
trois heures avec Diderot: et Dieu merci, nous n'avons presque cause que
de vous et de vos ouvrajzes. II m"a dit un raillion de choses pour vous.
Mais qu'est-ce qu'une lettre, pour rendre un seul eclair de sa conversation !
11 vous supplie, Monsieur, d'etre bien persuade qu'il n'y a peut etre pas
un seul homme en Europe qui vous admire aussi profondement que lui. 11
est tres vrai qu'il a plus de droit qu'un autre a cette preference. La
France lui doit en grande partle le bonheur de connaitre vos ouvrages.
C'est lui qui non seulement a encourage M. Huber a les traduire, mais qui
a encore contribue beaucoup au merite de ses traductions. Quand M. Huber
venait lui montrer ce qu'il avait fait, il lui disait souvent: Mon ami, le
Poete n'a. point dit comme ca . . . Et le traducteur regardant son original,
etait tout etonne de ce que Diderot devinait mieux votre genie que lui-
meme n'entendait sa langue."
Welch grofses Interesse Diderot an Gefsner genommen, beweist ferner-
hin der Umstand, dafs er den deutschen Dichter veranlafste, das Idyll
„Palemon" umzuändern. Diderot hatte Huber einen Entwurf gegeben —
erzählt Hottinger — nach welchem sich das Gedicht abändern liefse.
236 Miscellen.
Einen auffallenden Beweis seiner zärtlichen Freundschaft und Hoch-
schat zung für Gefsner — berichtet Hottinger (pag. 105) — hat Diderot
auch dadurch gegeben, dafs er ihm durch ihren gemeinschaftlichen Freund
Meister in den verbimllichsten Ausdrücken den Vorschlag machen liefs,
ein paar von ihm verfertigte Erzählungen zugleich mit seinen Idyllen her-
auszugeben. Hören wir Meistei s eigene Worte :
„Monsieur Diderot m'a charge de vous faire une proposition qui, s'il
vous convenait de l'accepter, ajouterait encore, sil est possible, a l'interet
(|u'il prend ä tout ce qui vient de vous. II a fait deux petits contes
moraux, qui me paraissent charmants, et qui, ce me semble, prouvent sin-
gulierement toute la magie d'une simplicite vraie. II voudrait les joindre
ä vos nouvelles Idylles. enchante, c'est son mot, de se trouver accolle avec
vous dans le meme volume."
Gefsner nahm diesen Vorschlag mit eben den Empfindungen auf, mit
welchen er gemacht war, und die Idyllen und Erzählungen begleiteten ein-
ander in beiden Sprachen und erschienen im Jahre 1772.
Den deutlichsten Beweis aber dafür, dafs bei Diderot recht wohl deutsche
Einwirkungen nachweisbar sind, liefert das Faktum, dafs Diderot ein Schäfer-
spiel Gefsners, „Eraste*' betitelt, französisch bearbeitet hat und zwar im
Jahre 1770 unter dem Titel: „Les Peres malheureux."
Herausgegeben hat er dieses Stück allerdings nicht, es findet sich aber
in der besten Ausgabe der Diderotschen Werke von Assezat tCEuvres
completes de Diderot, Paris 1875, tome 8e). Diderot äufsert sich im Pro-
loge zu den „Peres malheureux" wie folgt:
-Salomon Gefsner, si connu par son poeme d'Abel, et si justement
celebre par ses idylles pleines de sensibilite et de delicatesse, a compose
dans sa langue un petit drame en un acte et en prose, qu'il a intitule Eraste.
— J'ai laisse le sujet tel que Gefsner la con9u; ce c^ue j'ai change a la
conduite ne vaut pas la peine d'en parier, quoique le drame de Gefsner
n"ait que dix scenes et que le mien en ait vingt. Mais le ton de la poesie
dramatique et celui de la poesie pastorale ou elegiaque etant fort diff'erents,
jai recrit et dialogue le tout ä ma maniere. Cest Tamusement de quel-
ques matinees dont je ne pretends pas le moindre eloge. Si Ton jouait ce
drame en famille, je ne doute point que l'interet des auditeurs pour les
personnages qui seraient en scene ne füt tres vif. Peut-etre n'en serait-il
pas de meme sur un theätre public."
Endlich ist deutsche Einwirkung bei Diderot auch darin nicht zu ver-
kennen, dafs er, wie aus seinem Briefwechsel mit Mlle. Voland hervorgeht,
sich einige Zeit mit dem Gedanken trug, Lessings ..Miss Sara Sampson'*
— wahrscheinlich aber mit Hilfe Grimms — in das Französische zu über-
setzen (cf. Hettner: Gesch. d. französ. Litt, im 18. Jahrb., pag. 345).
Zittau. E. E. Schirlitz.
Zum Naaien „Canada*^.
Über die Fontaine-qui-bout, welche Longfellow in der Evangeline v. 1085
erwähnt, habe ich seiner Zeit im Centralorgan für Realschulwesen nach
E. V. Hesse- Wartegg (Nordamerika II, 202) berichtet. Bei der Bearbeitung
der dritten Auflage meiner Ausgabe des oben genannten Gedichtes, welche
demnächst im Verlage der Weidmannschen Buchh.andlung erscheint, habe
ich mir angelegen sein lassen, dem Ursprünge des Wortes „Canada" nach-
zugehen. Dafs Canada mit dem spanischen „cabo de nata" (ödes Land)
oder mit -aca nada*- (hier, d. h. im Norden, ist nichts) oder mit „canadoe'*
Kanal, oder mit dem tschippewäischen „canata", grofses Dorf, zusammen,
hängt — wie auch ich in der zweiten Auflage angegeben — , ist falsch.
Das obige \\'ort „canata- existiert in der Sprache der Tschippewäer nicht.
Miscellen. 237
Der Jesuit Charlerois schieibt (Ilist. Nouv. de France 1, 9): „Quelques uns
d^rivent ce nom du mot Iroquois ,kannata', qui se prononce ,canada', et
signifie un amas de cabannes." Heckewalder ist derselben Ansicht, denn
in einem Gebetbuch, das in der Mobawk-Sprache abgefafst ist. heifst es:
Ne Kanada-gough Konwayatsk Nazareth", was mit „in einer Stadt Namens
Nazareth" übersetzt wird. Die Mohawks bildeten früher den Hauptstamin
der Iroquesen. In dem Werke ,. Radical words, of the Mohawk Language"
von dem französischen Jesuiten Bruyas, p. 68, steht: „Gannata" mit der
Bedeutung „village". Dr. Otto Dickmann,
Auf S. 293 f. des 71. Bandes des Archivs für das Studium der neueren
Sprachen bespricht Herr Nolting in Wismar die Kernsche Erklärung einer
Stelle in Goethes Iphigenia (I, 3 fi.). So gern ich Herrn Nölting in dem
zustimme, was er über jene Erklärung sagt, so wenig kann ich seine eigene
Auffassung teilen. Ich vermisse bei dieser Auffassung den Zusammenhang
zwischen Iphigeniens Ansprache und der Antwort des Königs. Dazu kommt
noch die sprachliche Schwierigkeit, auf die Herr Nölting selbst hinweist
(S. 297). Iphigenie wünscht Thoas, dafs ihn die Göttin mit königlichen
(jütern segne, und sie erwähnt dabei erstens Sieg und Ruhm, zweitens
Reichtum und drittens Glück in seinem Hause. Auf diese drei besonderen
Wünsche erwidert der König, Ruhm im allgemeinen achte er gering, er sei
zufrieden, wenn sein Volk ihn rühme. Auch an einer Vermehrung des
Reichtums liegt ihm nichts, denn schon jetzt geniefsen andere seinen Reich-
tum mehr als er selbst. Das einzige, wonach er sich sehnt, ist häusliches
Glück.
Die hergebrachte Interpunktion steht dieser Auffassung nicht entgegen;
denn wie unsere Klassiker in der Zeichensetzung überhaupt nicht allzu
strenge waren, so setzten sie auch wohl das Kolon, wo wir jetzt ein Komma
setzen. Für wahrscheinlicher halte ich es allerdings, dafs das Kolon ein
von Ausgabe zu Ausgabe übernommener Druckfehler ist und statt eines
Punktes steht.
Breslau. Reinhard Jurisch.
Berichtigungen.
In Bd. LXX, S. 364 dieser Zeitschrift habe ich irrtümlich auch den
Flufsnamen Indus zu sskr. indu Tropfen gezogen. Der Indus heifst aber
im Sskr. Sindhu ; dies Wort bedeutet nach Ficks vergleichendem
Wörterbuche der idg. Sprachen (P, 448) Ocean, Flu/s.
Altena (Westf.). Lohmeyer.
Band LXXIII, Seite 8, Zeile 9 und 10 v. o. lies statt „der ersten Aus-
gabe des , Mönch vom Libanon', die irti Jahre 1782 in Dessau erschien" —
der zweiten Ausgabe des , Mönch vom Libanon', die im Jahre 1785 in Dessau
erschien.
Bibliographischer Anzeiger.
Allgemeines.
A. E. Schönbach, Die Brüder Grimm. Ein Gedenkblatt zum 4. Jan. 1885.
(Berlin, Dümmler.) 75 Pf.
H. Lösch hörn, Rede auf Jakob Grimm, zu seiner Säkularfeier 1885 in
der Gesellschaft für deutsche Philologie zu Berlin gehalten. (Berlin,
Weber.) 75 Pf.
G. Meyer, Essays und Studien zur Sprachgeschichte und Volkskunde.
(Berlin, Oppenheim.) 7 Mk.
Reform, Zeitschrift des allgemeinen Vereins für vereinfachte deutsche
Rechischreibung, hrsgb. von Dr. F. W. Fr icke. 9. Jahrg. (Norden,
Soltau.) 12 Nrn. 2 AJk. 40 Pf.
E. Walter, Französische Studien für die oberen Kurse höherer weib-
licher Bildungsanstalten. (Erlangen, Deichert.) 40 Pf.
E. Walter, Französische Studien für Lehrerinnenprüfung und die oberen
Kurse höherer weiblicher Bildungsanstalten. (Erlangen, Deichert.) 40 Pf.
Grammatik.
A. Bezzenberger, Lettische Dialektstudien. (Göttingen, Vandenhoeck
und Ruprecht.) 4 Mk.
K. Brekke, Etüde sur la flexion dans le voyage de S. Brandan, poeme
anglo-normand du XII« siecle. (Paris, Vieweg ) 3 fr.
Saint Bernart, Li sermon. Älteste französische Übersetzung der lateinischen
Predigten Bernhards von Clairvaux, nach der Feuillantiner Hdsehft. in
Paris, zum erstenmal vollständig herausgegeben von Wendelin Förster.
(Erlangen, Deichert.) 6_Mk.
A. Raumair, Über die Svntax des Robert v. Clarv. (Erlangen, Deichert.)
' " 1 Mk. 80 Pf.
F. Pfützner, Über die Aussprache des Proven9alischen. (Halle, Dissert.)
R. Pape, Die Wortstellung in der proven9alischen Prosa-Litteratur. (Jena,
Deistung.) 1 Mk. 40 Pf.
L. Cledat, Grammaire elementaire de la vieille langue fran9aise. (Paris,
Garnier.)
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vergleichender Darstellung. IL Band, 1. Lieferung. (Braunschwelg,
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sichtigung Shakespeares. (Wien, Holder.)
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gegeben von Jul. Hoffory. (Berlin, Reimer.) 1 Mk. 50 Pf.
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Progr. der Staatsrealschule zu AVien.
Aus Th. Körners Nachlafs, Liebesgrüfse an Antonie Adamberger. Heraus-
gegeben V. F. Latendorf. (Leipzig, Schlicke.) 3 Mk.
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La vie de Saint Alexis, poeme du Xle siecle. Texte critique public par
Gaston Paris. (Pfiris, Vieweg.) 1 Mk. 50 Pf.
Rustebeufs Gedichte, nach den Handschriften der Pariser Nationalbibliothek
herausgegeben von A. Krefsner. (Wolfenbüttel, Zwifsler.) 10 Mk.
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seine \Verke und seine Identität mit dem Verf. des Messire Gauvain.
(Leipzig, Fock.) 2 Mk. 40 Pf.
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seinem Vaterlande. (Oppeln, Franck.) 5 Mk.
W. Ricken, Untersuchungen über die metrische Technik Corneilles und
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Weidmann.) 2 Mk. 60 Pf.
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P. Langenscheidt, Die Jugenddramen von P. Corneille. Ein Beitrag
zur Würdigung des Dichters. (Berlin, Langenscheidt.) 1 Mk. 50 Pf.
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1 Mk. 50 Pf.
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Mermet.) 1 Mk. 50 Pf.
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Über naive und sentimentale Dichtung von Schiller. Mit Einleitung und
Anmerkungen von P. Egg er u. K. Rieger. (W'ien, Gräser.) 1 Mk.
240 Bibliographischer Anzeiger.
Lessing, Antiquarische und epigrammatische Abhandlungen. Schulausgabe
mit Anmerkungen von Wert her. (Stuttgart, Göschen.) 80 Pf.
Lessing, Litteransche und dramaturgische Abhandlungen, mit Anmerkungen
von Werther. (Stuttgart, Göschen.) 60 Pf.
Lessing, Fabeln. Drei Bücher. Nebst Abhdlgn, mit Anmerkungen von
K. Gödeke. (Stuttgart, Göschen.) 80 Pf.
H. Vietor, German pronunciation : practice and theory. (Heilbronn,
I-Ienninger.) 1 Mk. 50 Pf.
J. G. liosch, Beiträge zum Orthographie-Unterricht. (Nürnberg, Korn.)
1 Mk.
E. Fi leck, Französische Schulgrammatik, dem Normal-Lehrplane für Real-
schulen und der dazu gehörigen Instruktion angepafst. (Wien, Holder.)
2 Mk. 12 Pf.
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und Gesetze der Grammatik, nebst einer kurzgefafsten Syntax der fran-
zösischen Sprache. (München, Seitz.) 2 Mk.
A. Kemnitz, Französische Schulgrammatik. LTeil: Formenlehre mit dem
Notwendigsten aus der Syntax. (Leipzig, Neumann.) 3 Mk. 20 Pf.
G. Erzgräber, Enghsche Dichtungen zum Auswendiglernen in stufen-
mäfsiger Folge. (Güstrow, Opitz.) 50 Pf.
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Vortrag, gehalten in London im deutschen Athenäum. (Strafsburg, Trübner.)
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Schlüter.) 2 Mk.
Spanische Bibliothek, mit deutschen Anmerkungen für Anfänger von
J. Fesemair. 2 Bändchen. (München, Lindauer.)
über Karl Wilhelm Ramlers
Änderungen H a g e cl o r n s c h e r Fabeln.
Ramlers neuester Biograph, Hermann Petrich,* fällt über
das kritische Verfahren, dessen sich der „Sänger Friedrichs
des Grofsen" bei der Durchfeilung fremder Schriften bediente,
ein wenig günstiges Urteil. Er sagt darüber (a. a. 0. S. 220 ff.) :
„Sie — die Kritik unseres Ramler — war eine Zettelkritik,
die einzelne bedenkliche Worte und Wendungen, grammatische
und orthographische Unebenheiten, sechsfüfsige Verse in fünf-
füfsio'er Umgebunc^ und derorleichen Sächelchen mehr mit auf-
merksamem Blick entdecken, mit strengem Urteil notieren und
oft mit geschicktem Griff aus der Welt schaffen konnte. In
diesen Grenzen verdient sie volle Anerkennung, und jeder
Schriftsteller, der einen Ramler zur Seite hat, kann sich glück-
lich schätzen. — Es liegt freilich in aller Kritik, in Ramler
aber besonders, die Neigung zur Selbstüberschätzung. Es war
ihm nicht genug, nur die Lampen anderer zu putzen, er wollte
sein eigenes Licht an ihrer Statt leuchten lassen. Und das ist
die Achillesverse (sie!), an der Ernst und Spott der Gegner
ihn von jeher am tödlichsten getroffen haben." — Im Folgenden
spricht der Verfasser von Ramlers „Sucht, sich selbst in fremde
Gedichte hinein zu korrigieren", von „Massengräbern", die jener
den Dichtern in seinen zahlreichen Anthologien bereitet habe,
vom „gemeinschädlichen Treiben der Ramlerschen Kritik". Doch
* Hermann Petrich, Archidiakonus an St. Marien zu Treptow a. R.,
Pommersche Lebens- und Landesbilder. Erster Teil: Aus dem Jahrhundert
Friedrichs des Grofsen. Hamburg 1880. S. 195—236: Karl Wilhelm
Ramler.
Archiv f. n. >5pvaclieii. LXXÜf. * IC
242 Über K. W. Ramlers Änderungen Hagedornscher Fabeln.
nicht mit einem „einfachen Verdammungsurteil", sondern mit
einer „begründenden Erklärung" wird diese „sonderbare Er-
scheinung" von unserem Litterarhistoriker abgefunden. „Die
Gründe dieser Thatsachen lieo^en in einem der o:anzen Auf-
klärungsperiode eigenen, bei Ramler aber hervorragenden Mangel
an geschichtlichem Sinn und individuellem Zartgefühl. Wie
der untüchtige Lehrer jeden Schüler über denselben Leisten
schlägt, so wollte Ramler jedes Gedicht zu demselben Ideal
erträumter Fehlerlosigkeit hinaufnivellieren, unbekümmert auf
dem Grunde welcher geschichtlichen und persönlichen Vor-
bedingungen es erwachsen war. Dieselbe Gartenschere des
Rationalismus, die den vom göttlichen Geist beseelten Glauben
an das Übernatürliche zur bürgerlich ehrbaren Korrektheit
zustutzte, w^ollte das Standesvorrecht des dichterischen Genius
zur litterarisch ehrbaren Gleichheit beschneiden." Die Mifs-
billigung der Thätigkeit unseres preufsischen Aristarch, welcher
in den ano-eführten Stellen unverhohlen Ausdruck ofeojeben wird,
ist an und für sich nicht neu, w^ie auch die ßlumenlese von
Urteilen bei Petrich S. 221 — 222 beweist. Ja, dieselbe scheint
in der deutschen Litteraturgeschichte typisch geworden zu sein,
seitdem A. W. v. Schlegel in einem Aufsatze über „Bürger"
vom Jahre 1800, Athenäum 2, 57 — Werke, herausgegeben
von Ed. Böcking 8, 123 — bei einer Bekämpfung der „kor-
rekten Kritiker, die an lauter Einzelnheiten hängen bleiben", die
weojwerfende Aufserunor aethan hat: „Erbarmuno^swürdior ist
es, wenn Ramler immer noch als der Held der Korrektheit
aufgestellt wird, ... der den Gedichten anderer immerfort die un-
passendsten, mattesten und übellautendsten Veränderungen auf-
gedrungen hat, dem man endlich in seinen eigenen Sachen
wahre Schülerhaftigkeit in der Technik, wenn man damit nicht
bei dem nächsten Herkommen stehen bleibt, nachweisen könnte."
In etwas weniger herber Weise spricht sich K. L. von Knebel
in einem Aufsatze der „Adrastea" 5. Bd., 2. St., 1803, welchen
J. H. Vofs in seinen „Kritischen Briefen" über Götz und
Ramler, Mannheim 1809, S. 7 — 20 uns überliefert hat, tadelnd
über die Ramlerschen Änderungen aus, und zwar mit beson-
o
derem Hinblick auf die Ramlersche Ausgrabe der „Vermischten
5?
Gedichte" von J. N. Götz (3 Teile, Mannheim 1785): „Es ist
über K. W. Ramlers Änderungen Hagedornscher Fabeln. 243
'ö
nicht zu leugnen, dafs dieser sorgsame Kritiker zuweilen das
Mangelhafte einer Stelle, eines Ausdrucks oder Wortes sehr
richtig beurtheilt hat ; und eben dieses mag auch unseren Götz
veranlafst haben, ihm anfänglich die Aufsicht über seine Ge-
dichte anzuvertrauen. Aber die Änderungen selbst sind ihm
öfters mifj-lungen, und indem er der Poesie eine kalte gram-
matikalische Bestimmtheit aufdringen wollte, so hat er den Reiz
und den Nachdruck derselben vermindert und entstellt. Es ist
kaum zu glauben, wie ein Mann von seinem Geist und Ge-
schmack sich so, zumal in der letzten Zeit, hierin versündigen
konnte, und es scheint, dafs selbst seine eigenen Gedichte
durchaus Avieder aus den älteren Lesarten herzustellen sind.
Die Herausgeber von „K. L. von Knebels litterarischem Nach-
lafs und Briefwechsel« (Leipzig, 2 Bde., 1835—1836), K. A.
Varnhagen von Ense und Th. Mundt, springen mit unserem
kritischen Dichter auch nicht besser um. Bei ihnen heifst es
(S. XVIII fF. aus Knebels Leben): „Ramler, der sich schon
wie eine Art Jupiter auf dem litterarischen Olymp gebärdete,
und alles, was ihm von anderen Dichtern zu nahe kam, mit
der Gartenschere seiner regelrechten Rhetorik und Grammatik
zurecht stutzte" ... In dasselbe Hörn stöfst Wilhelm Körte,
der zweite Herausgeber von Chr. E. von Kleists Werken ; er
sagt in der Vorrede zum ersten Bande derselben (1803) S. VIII,
mit einem bösen Seitenblick auf die früher erschienene Ramler-
sche Ausgabe von Christian Ewald von Kleists sämtlichen
Werken (Berlin 1761, 2 Teile): „Sprachfehler zu berichtigen und
Schreibfehler, steht Jedermann frey, und nur was Jedermann
freystehen darf zu berichtigen, darf in der Poesie zu berichtigen
irgend Einem oder jedem erlaubt seyn. An das Heilige des Ge-
dichtes aber, an seine geistige individuelle Natur die irdische Hand
anlegen, und daran wetzen und schneiden, wie an irdischem Mach-
werke, das ist eine ewige Sünde und unverzeihliche Anmafsung."
Die ärgsten Keulenschläg^e mufste Ramler — wenn wir von
dem ihm durch Schlesrels Feder und durch Chodowieckis Stift
erteilten Epitheton eines „poetischen Bartputzers" absehen (Cha-
rakteristiken und Kritiken Bd. II, S. 357—359*) — von
* Cit. bei Jördens, Lexikon deutscher Dichter u. Pros. Bd. II, S. 652 ff.
16*
244 Über K. W. Raiulers Änderungen Hagedornsclier Fabeln.
M. G. Lichtwer hinnehmen, dessen „auserlesene, verbesserte
Fabeln und Erzählungen in zwei Büchern" jener ohne Vor-
wissen des Autors 1761 bei Weitbrecht zu Greifswalde heraus-
gegeben hatte. Der erzürnte Dichter nennt ihn in der Vorrede
zur dritten (Original-) Ausgabe seiner Fabeln (1762) einen „Ver-
fälscher" und „gelehrten Dieb", und fährt dann fort: „Es
würde also die Handlung des Herrn Verbesserers jederzeit
niederträchtig und strafbar bleiben, wenn auch dasjenige, was
er an meinen Fabeln o-eändert, noch so ffut oferaten wäre. Es
fehlt aber auch hieran so viel, dafs er vielmehr mir ganz
falsche Gedanken angedichtet, den Sinn meiner Fabeln gar
nicht eingesehen, sondern denselben eine ganz unrichtige Deu-
tung gegeben, verschiedene untadelhafte Ausdrücke ohne allen
Grund geändert, auch wohl mit schlechteren Ausdrücken und
bisweilen Flickwörtern ersetzt hat. Er hat bisweilen Fehler
gesehen, solche verbessern wollen und neue be2;anoen, einige
Stellen auf eine läppische Art verändert, anderer Vergehungen
zu geschweio-en."
Wir glauben das Echo dieser Worte zu vernehmen, wenn
wir Karl Gödekes Grundrifs zur Geschichte der deutschen
Dichtung Bd. 11, § 217, Nr. 255, S. 601—602 aufschlagen und
über die eben erwähnte Ramlersche Bearbeituno; von Lichtwers
Fabeln das kurze Urteil ausgesprochen finden: von Ramler ver-
stümmelter und elend verunstalteter Nachdruck. Mit derselben
Unversöhnlichkeit bricht Gödeke über die anderen Sammluno^en
Ramlers den Stab: „Von den Sammlunoren, die Ramler ver-
anstaltete (Sinngedichte, Riga 1766, 8; Lieder der Deutschen,
Berlin 1766, 8; Lyrische Blumenlese, Leipzig 1774, 8; Fabel-
lese, Berlin 1783 — 90, 111, 8) hat keine persönlichen oder ge-
schichtlichen Wert, da sie, ein Mischmasch von fremden Ge-
danken und ramlerlschen Flickerelen, weder ihm noch anderen
gehören."
Diese weniojen Stimmen der Verurteilung: Ramlers möo^en
genügen. Rechtfertigen konnte ein so willkürliches \^er-
fahren selbst nicht der wärmste Verehrer des „preufsischen
Horaz", aber die beredtesten Männer seiner Zeit haben nicht
ohne Erfols: alles das hervorsrehoben, was sich zu ijunsten der
Ramlerschcn Interpolationen anführen lä/st.
über K. W. Rnmlcis Anderungrn Hagedornschcr Fiibcln. 245
Schon Mendelssohn hat in einer an Licht wer oerichteten
Erwiderung, der, wie wir sahen, an dem eigenmächtigen Be-
arbeiter und Herausgeber seiner Fabeln kein Fleckchen heil
gelassen hatte, diesem gekränkten Poeten ein warnendes Haiti
zugerufen. In den „Briefen, die deutsche Litteratur betreffend''
Bd. XIV, S. 268 ff. (233. Brief vom 13. Mai 1762) erklärt er
den Schritt des ungenannten Herausgebers allerdings für ebenso
unbillig als unerhört, und gesteht frei und offen dem Original-
dichter das Recht zu, sich durch den ihm mit Gewalt auf<>-e-
drungenen Dienst für beleidigt zu halten. Aber auf der an-
deren Seite fordert Mendelssohn jenen auf, grofsmütig einzu-
gestehen, dafs er bei der Veranstaltung seiner neuen Original-
ausgabe der Fabeln sich die meisten Stellen gemerkt habe, wo
dem feinfühlio;en Kritiker Ramler eine Verbesseruns: nötio* sfc-
schienen. — Ja, er schaltet soo-ar zur Entschuldio^uno: des Un-
genannten einige Bemerkungen seines Freundes G. ein, unter
welcher Bezeichnung Lessing gemeint ist. (Vergl. Lessings
Werke. Hempelsche Ausg. Bd. IX, hrsgb. v. C. Chr. Redlich,
8. 343 — 344.) In ähnlicher Weise wägt Friedrich Nicolai das
Für und Wider hinsichtlich der Ramlerschen Textveränderunoen
gelegentlich einer dem Manne der Feile wohlwollenden Recen-
sion in der ,, Allgemeinen deutschen Bibliothek" ab (Bd. IX,
St. 1, Berlin und Stettin 1769, S. 205 ff.).
Es handelt sich dort um eine Besprechung der von Ramler
veranstalteten Lieder der Deutschen (Berlin 1766; Ausg. mit
Melodien 1767 — 68), einer Anthologie, in der der Herausgeber
mit gewohnter Freiheit bei Wiedergabe der Lieder verfahren
war, ohne doch die Namen ihrer Dichter zu nennen. Auch N.
sagt: „Wir können uns nicht überreden, dafs es erlaubt sey,
dergleichen Veränderungen ohne' Vorwissen der Verfasser vor-
zunehmen. Wir glauben, der Verfasser habe Recht, sich zu
beschweren, wenn man seine Werke verändert heraussfiebt, ohne
ihn zu fragen, zu einer Zeit, da er vielleicht beschäftigt seyn
kann, selbst seine Werke verbessert herauszugeben Hätte
Herr Ramler die Absicht gehabt, den Lesern die Werke
unserer besten Dichter aus den Händen zu winden, so könnte
man mit ihm unzufrieden seyn; da aber dies seine Absicht gar
nicht seyn kann, sondern er vielmehr nur die höhere Vollkom-
216 Über K. W. Ranilers Änderungen Hageflornscher Fabeln.
raenheit der "Werke des Genies zur offenbaren Absicht hat, so
glauben wir, dafs das, was sich Kunstrichter hin und wieder
von Tyranney u. dergl. verlauten lassen, ganz am unrechten
Orte angebracht ist. Es fehlte nur an einer Kleinigkeit, dafs
man Herrn R. bey diesen Veränderungen auch nicht mit einem
Schein des Rechts etwas vorwerfen könnte. Hätte er sie als
Vorschläge, als Kritiken bekannt gemacht, so hätte er
sich blofö des Rechts bedient, das jeder Leser und jeder Kunst-
richter hat. Man betrachte diese Veränderungen oder
Verbesserungen, wie man sie nun nennen will, auch nur
als Vorschläge zur Verbesserung, als Kritiken eines
feinen Kunstrichters, und man wird finden, dafs diese Arbeit
einen grofsen Nutzen haben kann."
In versöhnlicher \Yeise alle Entschuldigungsgründe, die
man für Ramlers Manier anführen kann, zusammenfassend und
zugleich das Entstehen dieser Neigung beleuchtend, spricht sich i
derselbe Nicolai im „Ehrengedächtniss Ramlers" aus, das in
der Könio-lichen Akademie der Wissenschaften den 8. August
1799 von Herrn Kirchenrat Meierotto in Abwesenheit des Ver-
fassers vorgelesen wurde. (Sammlung der deutschen Abhand-
lungen, welche in der Kgl. Akad. d. Wissensch. zu Berlin vor-
o-elesen wurden in den Jahren 1798—1800. Berlin 1803. 4.)
Dort heifst es bei Erwähnung der Verdienste, die sich Ramler
durch die 1757 vollständig herausgekommene Übersetzung von
Batteux cours de belies lettres („Einleitung in die schönen
Wissenschaften." Leipzig 1756 ff., 5. Aufl., 1802) für die
damalige Zeit erworben, dafs dieses Werk auch viel gelesen
wurde „wegen der so gut gewählten Beispiele aus deutschen
Dichtern und Prosaikern". N. fährt fort: „Um diese Beispiele
aufzusuchen, las Ramler alle deutschen Dichter mit beurteilen-
dem Nachdenken durch und kam dadurch auf ein Unternehmen,
das einzig in seiner Art ist. Er wollte, dafs die anzuführenden
Beispiele in einem Lehrbuche, welches zur richtigen Bildung
des Geschmacks besonders bestimmt war, ganz vollkommen seyn
sollten. Wenn er also, selbst bey den besten Dichtern, zu-
weilen Nachlässigkeiten im Ausdruck oder in den Gedanken
fand, verbesserte er sie mit derselben Sorgfalt, die er bey seinen
eichenen Arbeiten anwendete, und rückte ihn so in seinen
über K, W. Ramlers Änderungen Hfigedornscher Fabeln. 247
Batteux ein.* Er o^ab im Jahre 1759 mit Lessing Lofifaus
Sinngedichte auf diese Art heraus, mit trefflichen, die
Sprache erläuternden Anmerkungen ; in der Folge gab er allein
Licht wers Fabeln heraus (im Jahre 1761), und hernach
besondere Sammlungen der besten Lieder, Fabeln
und Sinngedichte, worin er nicht wenige Stellen geändert
hatte Ramler kam auf diese Umänderunoren orewifs nur
aus Liebe zu gröfserer Vollkommenheit der Poesie und zur Er-
höhung ihres Genusses ; aber die Urtheile über dieses Unter-
nehmen, wovon man in keiner Sprache ein Beispiel hat, fielen
freylich sehr verschieden aus. . . . Einige meinten, er wolle sich
dadurch über alle anderen Dichter erheben, wovon der beschei-
dene Mann doch sehr entfernt war. Andere tadelten mit meh-
rerem Rechte, dafs er alle anderen Dichter auf seine Art ver-
änderte, wodurch jedem seine Eigenthümlichkeit geraubt, und
viele geänderte Stellen, wenn auch korrekter, zugleich schwächer
würden.
Zu Ramlers Entschuldigung ist zu sagen, dafs Lessing,
Kleist, Götz, Weifse, v. Nicolay und andere ihn zur
Verbesserung ihrer Gedichte freundschaftlich aufforderten, dafs
Götz, Weifse und v. Nicolay den gröfsten Theil dieser Ver-
besserungen mit Dank in die Ausgabe ihrer Gedichte aufnah-
men, welches Uz that, welcher ihn eigentlich nicht um Ver-
besseruno^en ersucht hatte. . . . Die Vergleichung mit den Origi-
nalen wird immer lehrreich sein, selbst da, wo durch die er-
langte Korrektheit der feine Dichtergeist verflog."
Betrachten wir die mannigfachen Widersprüche in den
einander gegenüberstehenden Urteilen über Ramlers Korrekturen,
80 können wir einstweilen nur den Schlufs daraus ziehen, dafs
der Geschmack der verschiedenen Beurteiler, sowie ihr persön-
licher Standpunkt Ramler gegenüber ein verschiedener war;
* Gegen die Heranziehung von Ramlers Bearbeitung des Batteux als
einer Entschuldigung für die gerügten Textänderungen wendet sich VV. Körte
a. a. O. mit folgenden scharfen Worten: „Man hat die Ramlersche Ver-
besserungssucht auch mit seiner Batteuxschen Notdurft beschönigen wollen!
— Immer besser! — ^Vir müssen also noch Gott danken, dafs Ramler
nicht Gottscheds oder ein noch schlechteres Mafs und Gewicht in Deutsch-
land bat verbreiten wollen, weil es sonst den armen deutschen Klassikern
noch ärger ergangen wäre."
248 Über K. W. Kamlers Änderungen Hagedornscher Fabeln.
sodann liegt es aber auch nahe, anzunehmen, dafs die Ramler-
fechen Veränderungen von Originalgedichten nicht alle gleich-
artig seien, dafs vieles ihm gut gelungen, einiges auch mifs-
lung-en sei. Dieser Schlufs wird durch J. H. Vofs' Urteil be-
stätigt, der in seinen „Kritischen Briefen über Götz und Ramler''
(Mannheim 1801)) an K. L. von Knebel schreibt (S. 98 fF.):
„Verstehen Sie mich, lieber Freund. Nicht Ramlers Ände-
rungen überall und durchaus übernehme ich zu rechtfertio;en.
Wer darf leugnen, dafs er in einigen Tonarten, vornehmlich in
den zarten Abstufungen des Launigen und Naiven, nicht immer
das Zustimmende traf? . . . Worin Götz aber am glücklichsten
war, die sanften Töne der Rührung, der gemütlichen Behag-
lichkeit, der einfach geschmückten Anmut, des leichten, oft
schalkhaften \V^itzes, der bald mit griechischer Feinheit, bald
mit französischer Artio-keit sich hineinschmeichelte: diese o-erade
stimmten zu Ramlers eigensten Naturlauten; hier war Ramler
einheimisch, hier empfand er ganz wie sein Geistesgenofs, hier
wufste er das Mishällige der Empfindung, das Verfehlte des
Ausdrucks in Wort und Melodie mit leisem Gefühl anzuoeben."
Gestützt auf diese Überzeuojunor hat Vofs in seinem Buche
nachgewiesen, dafs die von Ramler besorgte posthume Ausgabe
der ..Vermischten Gedichte*' von J. N. Götz (Mannheim 1785,
3 Teile), gegenüber den Vofs zugänglichen, handschriftlich vor-
handenen Originalgedichten, zumeist wesentliche V^erbesserungen
und Verschönerungen bietet. Nicht ohne Nutzen ist für Vofs
die Beschäftio^uno* mit Ramlers kritischer Thätiorkeit o-ewesen:
was Ramler ihm und durch ihn der deutschen Metrik ge-
worden, das deutet R. E. Prutz an in seinem „Göttinger
Dichterbund*' S. 140 fF. : „Über diese Feile, welche vorher von
Prutz „Ramlers verrufene Feile" genannt war, zu spotten, ist
freilich leicht, es ist auch leicht, ihn jetzt der Gewaltthätigkeit,
der Pedanterie und des Eigensinns zu beschuldigen: aber dafs
wir gegenwärtig über dergleichen Bemühungen spotten können,
dafs unsere Sprache diese Gewandtheit, das Gefühl für die
richtige und strenge Form diese Verbreitung hat, die sie haben
und hoffentlich trotz mancher Reaktionen auch behalten wird,
daran hat eben Ramler keinen geringen Anteil, und es wird
gut sein, dies einmal wieder auszusprechen. Er war an den
über K. W. Kamlers Änderungen lJagedorn?cher Fabeln. 249
Alten grofs geworden, hatte ein feines Ohr und eine unermüd-
liche Geduld, ja eine wahre Begier und Leidenschaft zu bessern
und zu feilen; unsere Poeten haben Aufserordentllches durch
ihn gelernt."*
Nach den vorstehenden Urteilen dürfte es kein aussichts-
loses Unternehmen sein, einen Besuch zu wagen in des kri-
tischen Dichters Werkstatt und unter Gejjenüberstellunir von
Originalgedichten und Ramlerschen Überarbeitungen, soweit uns
erstere noch zugänglich sind, nach etwaigen Grundsätzen zu
forschen, welche für die von Ramler Seemächten Umorestaltunoren
mafsgebend gewesen sind. Vielleicht gewinnen wir dadurch
einige Resultate, welche der „Ramlerschen Felle" freundlichere
Beurteiler in dem Sinne von Prutz und anderen Litterarhisto-
rikern (z. B. Vilmar, Gesch. d. deutschen Nat.-Litt., 16. Aufl.,
S. 524) zu erwecken geeignet sind. Greifen wir einmal aus
der Zahl der Dichter, deren Produkten Ramler eine gröfsere
Aufmerksamkeit gewidmet hat, Friedrich von Hagedorn heraus.
Es knüpft sich nämlich an diesen Hamburger Dichter eine Be-
merkung Lessings, welche beweist, wie sehr dieser grofse
Kritiker mit den Veränderuno;en, welche Ramler an Hagedorn-
sehen Gedichten vornahm, einverstanden war. In einem Briefe
aus Wolfenbüttel vom 18. Dezbr. 1778 schreibt Lessing an
Ramler: „Für den zweyten Teil der Blumenlese recht vielen
Dank! Dafs ich Ihre Verbesserungen meiner Dingerchen blind-
lings unterschreibe, das wissen Sie schon, und icli habe mich
weidlich vor einigen Wochen über das dumme Altonaer Post^jferd
geärgert^ icelclies noch immer den Hagedornischen Lesarten die
Stange halten loill.^^ Zu diesen Worten, die wohl nicht ein
blofses Kompliment für den Freund enthalten sollten — dafür
war Lessing zu aufrichtig — , -macht C. Chr. Redlich (in der
Hempelschen Ausgabe von Lessings Werken Teil XX, Abt. 1,
Briefe Nr. 484, S. 769) die Anmerkung:' „Vgl. Wittenbergs
Recension im ,Beytrag zum Reichs-Postreuter', 92. Stück vom
26. Novbr. 1778." . . . Leider war es dem Schreiber dieser
Zeilen nicht möglich, die erwähnte Recension einzusehen; um
so mehr erfreut es ihn, über die andere hierher gehörende Schrift,
* V. Prutz: Knebels Briefe, Vofs' Briefe.
250 Über K. W. Ranilers Änderungen Hagedornsclier Fabeln.
welche Redlich a. a. O. erwähnt, berichten zu können. Der-
selbe fährt nämlich fort: „Über Ramlers Verbesserungen des
Hagedornischen Textes hatte schon Gerstenberg gespottet: , Briefe
über ^lerkwürdigkeiten der Litteratur, 3. Samml., Schleswig
1767, S. 351 ff.'"
Es ist eine feine Art der Satire, welche der schleswig-
holsteinische Dichter und Kritiker im zwanzigsten der genannten
Briefe (dritte Samml. S. 351 — 364) zur Anwendung bringt. Die
Situation ist die, dafs ein „Bibliothekar von Belvedere" sich
auf dem Gute eines Herrn von S** d**len aufhält und dort
von dem Herausgeber der Briefe nach seinem Urteil über litte-
rarische Erscheinungen befragt wird. „Ich bin zweifelhaft,"
sagte der Bibliothekar, „was ich mit diesen Liedern der
Deutschen anfangen soll. Es sind mir deren einige so rei-
zende in die Augen gefallen , andere sind in einzelnen
Stellen mit so vielem Geschmack verbessert . . ., dafs ich nicht
satt werden konnte, dieses feine ,Gebund* der Kritik ... zu
lesen und zu bewundern Doch stille! ... Lassen Sie
uns einige Kleinigkeiten untersuchen, die selbst der Aufmerk-
samkeit des Herausgebers entwischt zu sein scheinen."
Der Bibliothekar.
Lassen Sie uns gleich bey dem ersten Liede stehen bleiben.
Freude, Göttin muntrer Jugend.
Höre mich !
Lafs — — — —
Ihr Freund.
Eine Minute, wenn ich bitten darf. Dafs die Freude die
Göttin muntrer Jugend seyn soll, ist, wo nicht in der Sache,
doch in den Worten eine Tautologie. Überdem ist. der Begriff
zu eingeschränkt, denn die Freude ist auch die Göttin muntrer
Alten.
Der Bibliothekar.
^^'ie wäre es, wenn wir statt muntrer Jugend: edler Herzen
setzten?
Ihr Freund.
Vortrefflich! Nur ein edles, lasterfreyes Herz ist im Stande,
über K. W. Ramlers Änderungen Hagedornscher Fabeln. 251
sich zu freuen, und befugt, die Freude als eine wohlthätige
Göttin anzurufen. Geschwind, streichen Sie muntrer Jugend aus.
Der Bibliothekar.
Überdem werden Sie aus der Folge sehen, dafs der Be-
srifF, den ich eingeschoben habe, unentbehrlich ist.
Lafs die Lieder, die hier schallen,
Deinen Kindern Wohlgefallen.
Ihr Freund.
Wie? Sie scherzen! Steht das da? — Von welchen
Kindern ist hier die Rede? Von ihren mythologischen und
alleirorischen Kindern? von der Juorend? von ihren Anbetern?
Und Kinder^ Warum nicht gar Säuglinge^ — — — — —
Der Bibliothekar.
Ich mache also einen Strich über
Deinen Kindern Wohlgefallen
und setze auf Ihre Veranlassung
Dich vergröfsern, dir gefallen.
Aber weiter!
Holde Schwester süfser Liebe,
Glück der Welt!
Ich weifs gegen diese Zeilen nichts weiter einzuwenden, als
dafs das Wort Hold hier den Charakter der Freude nicht recht
bezeichne, und möchte daher Muntre oder sonst ein ähnliches
Wort setzen. Tochter des Himmels^ oder im Hagedornischen
Geschmack, UimmelsJcind würde mir gleichfalls lieber sein als
Glück der Welt^ wenn nicht dies letztere ausdrücklich dastünde. —
In diesem Plaudertone wird die Besprechung bezw. Emen-
dation des ersten Liedes der „lyrischen Blumenlese" zu Ende
geführt, woran sich eine kurze Kritik von Versen aus anderen
Hagedornschen Liedern der genannten Sammlung, wieder unter
Beifügung positiver Vorschläge, ergänzend anschliefst. Wir
merken schon, dafs — doch lassen wir den Herausgeber der
„Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur" wieder selbst
reden: — „Alle diese Stellen, und noch viel mehrere von ge-
ringerer Erheblichkeit, sind aus dem einzigen Hagedorn,
.)nO
Über K. AV. Kamlers Anderuntren Hapedornsther Fabtln.
^v »^ ULT l\. >> . I\inimci5 ^viivici uiij;cii *Joj^
Icli wunderte mich, und Sie haben Ursache über mich zu lachen,
duls der wegen seiner Korrektion so gepriesene Hagedorn
so schwache Verse hatte können stehen lassen, die wir doch
auf der Stelle und mit der grölsten Leichtigkeit zu verbessern
oewulst, — als unser Bibliothekar seinen Muthwillen nicht länger
aufhalten konnte und laut zu eklatieren anfing: , Merken Sie
denn noch nicht,' sagte er, .dafs alle Ihre vermeynten Verbesse-
lunoen blofs wiederheroe^tellte Lesarten aus dem Hagedorn
sind, die wir den unbefugten der Berlinischen Ausgabe
untergeschoben haben?'"
Ein Blick in die Originalausgabe von Hagedorns poetischen
Werken belehrte den „Freund", belehrt auch uns, dafs es dem
Bibliothekar wirklich gelungen ist, uns auf. die angegebene
Weise ..anzuführen". Wie aber? Werden wir der Gerstenberg-
schen Kritik beistimmen? — Es ist dies dem unbefangenen
Beurteiler, der nicht gewaltsam Gründe für oder gegen eine
Lesart heraussucht, nur in sehr beschränktem Umfange mög-
lich: sind ja selbst von den wenigen oben angeführten „Rück-
Verbesserungen" manche von recht zweifelhaftem Werte. Auch
kommt uns der „Bibliothekar" selbst auf halbem Wege ent-
oreoren. „Ich will Sie nicht überreden," fuhr er fort, „dafs die
neuen Änderungen und Zusätze alle so bequem aus ihren Ori-
frinalen verbessert werden können. Selbst in den Hao;edorni-
sehen Liedern, die sonst so fleifsig gefeilt und mit der äufser-
sten Feinheit des Geschmacks ausgearbeitet sind, finden sich
Stellen, wo die lima des Berlini:?chen Herausgebers nicht ohne
Erfolo; thätio^ o-ewesen ist." — — —
Vielleicht ist Leasings oben angeführtes Urteil doch nicht
blofs aus persönlichem Wohlwollen für Ramler abzuleiten. —
Friedrich von Hao-edorn orehört nicht zu den deutschen Klassikern
ersten Ranges. Wer liest heute noch die Lehrgedichte, die
Epigramme oder die Gesellschaftslieder dieses „deutschen
Horaz"?* Nur seine Fabeln haben sich in gröfserer Anzahl
* Schon Bodmer sagt von ihm (in dem Gedichte: Untergang der be-
rühmten Namen, vergl. v. Hagedorns Foet. Werke, hrsgb. von Eschenburg,
Hamburg 1800, I, S. VH — VHI): ^.Oottl wer h'est den v. Hagedorn noch?
wer ist's, der von ihm sf)ri(dity — — Vir war, da er auftrat, Deutschlands
Bewundrung: jetzt macht man freilich aus ihm nicht gar wenig, und man
erkennt ihn für einen der Bessern, nicht einen der Besten!''
über K. W. Ramlers Änderungen Ilagedornscher Fabeln. 'lö'd
in Anthologien und Schul-Lesebüchern erhalten, und sie bilden
auch den wertvollen Kern seiner Dichtungen. Gleichwohl pal'ät
auch auf diese nicht durchgehend s das Loh, welches Wilhelm
Scherer (Gesch. d. deutschen Litt., Berlin 1883, S. 374 — 375)
dem Autor spendet: „Er war der erste neuere deutsche Dichter,
welcher den Geschmack und die Korrektheit der Minnesänger
wieder erreichte und dadurch für unsere Litteratur zurück-
gewann. Aber er wufste seinen Vortrag nicht blofs elegant,
sondern auch 2:emeinverstündlich einzurichten"
\\ enn diese hohe Korrektheit, Eleiianz und Gemeinverständ-
lichkeit, welche allerdings den meisten Gedichten Hagedorns
innewohnt, sich auf alle seine Schöpfungen erstreckte, so w^are
es ein frevles und ganz überflüssiges Beginnen Ramlers ge-
wesen, in seinen Anthologien, besonders in der Fabellese, so
vieles an den Produkten dieses Hamburger Poeten zu ändern.
Betrachten wir deshalb eine Anzahl hervorragender Abände-
rungen des kritischen Sammlers im Hinblick auf die Theorien,
die in ihnen etwa verkörpert sind, und mit Rücksicht auf ihre
ästhetische Berechti^uno;.
Eine der bekanntesten Fabeln ist die von Johann dem
Seifensieder. (Sämtl. Poet. Werke von Friedr. v. Hagedorn.
Leipzig bei Ph. Reclam jun., S. 142 — 145. Die Citate sollen
nach dieser Ausgabe gemacht werden. Dieselbe ist nach der „Vor-
erinnerung" ein bis auf orthographische Kleinigkeiten genauer Abdruck
der Hamburger Ausgabe von 1757 und stimmt auch, mit der ge-
nannten Einschränkung und mit Ausnahme der Interpunktion, soweit
wir verglichen haben, mit der Ausgabe von 1764 überein.) '^ Die Fabel
ist abgedruckt in Karl Wilhelm Ramlers Fabellese, Leipzig 1783,
Buch I, Nr. XLIX (S. 105 — 111). Dieselbe lautet im Original
(V. 5 ff.): ^ •
Sein Tagwerk konnt^ ihm Nahrung bringen:
Und wann er afs, so mufaf er singen^
Und wann er sansr, so wai's mit Lust
Aus vollem Hals und freier Brubt.
Beim Moj'genbrot, beim Abendessen
Blieb Ton und Triller unvergessen;
* Die Eschenburgsche Ausgabe von 1800 bietet moderne Wortformen,
z. Vi. zwey statt zween, beschliefst st. beschleufst. (Vergl. das Gedicht:
Der Sultan und sein Vezier Azeni.)
254 Über K. W. Ramlers Änderungen Ilagedornscher Fabeln.
Das schallte recht; und seine Kraft
Durchdrang die halbe Nachbarschaft.
Man horcht, man fragt: Wer singt schon wieder?
Wer ist's? Der muntre Seifensieder.
Für diese Zeilen bietet die Fabellese folgenden Text :
Früh, mit den Lerchen um die Wette,
Spät, schon mit einem Fufs im Bette;
Und wenn er sang, so war's mit Lust,
Aus vollem Hals, aus freyer Brust.
Man horcht, man fragt etc.
Im Vorstehenden sind Zeile 5 u. 6 („Sein Tagwerk . . .
singen") geändert und Zeile 9 — 12 (Beim Morgenbrot . . . Nach-
barschaft") gestrichen worden, beides mit Fug und Recht. Denn
wem erscheint es nicht auffällig, dafs der muntere Seifensieder
stets gerade während des Essens gesungen haben soll? — Dürfte
einem san^eslusti^en Handwerker nicht jede beliebige Zeit des
Tajjes zu einem Liede, dem Ausdrucke eines zufriedenen Sinnes,
Veranlassung bieten? Und nicht jede Stunde eher als die zur
körperlichen Sättigung bestimmte? — Wenn ferner Zeile 8 uns
den Gesang als „aus vollem Hals und freier Brust" kommend
schildert, so ist die in Z. 11 u. 12 gegebene Versicherung „Das
schallte recht" u. s. w. vollständig überflüssig. Z. 15 flf. lauten bei
V. Hagedorn. Ramler.
Im Lesen war er anfangs schwach, Im Lesen war er etwas schwach,
Er las nichts als den Almanach, Er las nichts als den Almanach,
Doch lernt'' er auch nach Jahren Und Hausgebetlein und Postillen ^
beten ^ Die Winterstunden auszufüllen^
Die Ordnung nicht zu übertreten, Und schlief, die Schuld war oft
Und schlief, dem Nachbar gleich nicht sein,
zu sein, Beim Lesen seiner Bücher ein.
Oft singend, öfter lesend ein.
Er schien fast glücklicher zu prei-
sen
Als die berufnen sieben Weisen,
Als manches Haupt gelehrter Welt,
Das sich schon für den achten hält.
Was bedeutet wohl bei v. Hagedorn Z. 18: „Die Ordnung
nicht zu übertreten"? Ist dies der Inhalt seines Gebets, oder
ist es das zweite, was er nächst dem Beten lernt? Der Sinn
über K. W. Ramlers Änderuujien Iluaedornscher Fabeln. 255
o^
dieser Worte ist auch dem aufmerksamsten Leser nicht klar!
In Z. 21—24 wird den sieben Weisen Griechenlands und son-
stio^en orelehrten Männern eine besondere GlückseH2:keit zuo^e-
schrieben, gewifs nicht nach dem Geschmack des weisen Solon.
In einem naiven Gedichte erscheint vielmehr eine Anspielung
auf die „berufnen sieben Weisen" als störend. Ungeschickt
ist endlich die Erwähnuno; des Nachbars, obg-leich von einem
solchen noch nicht die Rede gewesen ist. Wie frei und leicht
und ohne Anstofs lesen sich doch die Verse, zu welchen Ramler
nach StreichuntT der vier letzten Zeilen die übrio-en sechs oben
ano^eführten umo^eschmiedet hat.
Z. 91 — 96 haben nachstehenden Wortlaut bei
V. Hagedorn. Ramler.
Er lernt zuletzt, je mehr er spart, Er lernt zuletzt, dafs Gut und Geld
Wie oft sich Sorg' und Relchthum Nicht für die Freuden schadlos
paart, hält.
Und manches Zärtlings dunkle Freu- Die der Zufriedene geniefst,
den Dem Arbeit Kost und Schlaf ver-
Lhn ewig von der Freiheit scheiden^ süfst,
Die nur in reinen Seelen strahlt. Der braucht, was ihm sein Fleii's
Und deren Glück kein Gold be- beschert,
zahlt. • Und nie vermifst, was er entbehrt.
Im Original sind die beiden mittelsten Zeilen Proben einer
öfter bei v. Hagedorn vorkommenden Schwerfällio^keit des Aus-
drucks:
Und manches Zärtlings dunkle Freuden
Ihn ewig von der Freiheit scheiden, . . .
Ein reicher Mann, der sein Geld ängstlich behütet, ist noch
kein Zärtling. Die „dunklen Freuden" desselben sind auch
uns, wie wir frei gestehen, dunkel. Die Beziehung von „ihn"
auf den Zärtling ist dem Sprachgefühl zuwider ; man erwartete
wenigstens „diesen". Somit können wir der durch Ramler
vorgenommenen Umarbeitung dieses Gedichtes, vom formalen
Standpunkte aus, unbedingt den Vorzug vor dem Originale ein-
räumen.
Sehr wesentliche Umgestaltungen hat Hagedorns Fabel :
„Jupiter, die Tiere und der Mensch" (Recl. Ausg. S. 186 — 188;
Fabellese Buch I, Nr. XIX, S. 32 — 35) erfahren. Gleich der
Anfang setzte die feilende Hand in Thätigkeit:
256
Über K. \V. Ramlers Anderuno-en Hasredornscher Fabeln.
V. Hagedorn.
Als Jupiter der unbewohnten Erde
Die Menschen und die Thiere schuj\
Bestimmt' er jeglichem den künf-
tigen Beruf,
Des Lehens Art und Ziel und Arbeit
und Beschwerde.
Ramler.
Als Jupiter der unbewohnten Erde
Zu Bürgern l^hicr und Menschen
schuf,
Bestimmt' er jeglichem den künf-
tigen Beruf,
Sein Lebensziel, sein Theil Vergnügen
und Beschwerde.
Die Konstruktion: „Jupiter schuf der Erde Menschen und
Thiere" erscheint hart: fiefällityer ist der durch Ano^abe des
Zwecks („schuf zu Bürgern") vervollständigte Ausdruck. In
der vierten Zeile ist der Pleonasmus „Arbeit und Beschwerde"
durch die beiden Gegensätze „Vergnügen und Beschwerde"
— Dichter und Verbesserer fahren fort :
v. Hagedorn. Ramler.
Zum Esel spricht der Gott:
beseitigt.
Zum Esel sagte Zeus: —
Dies ist dein Loos: Wohlan! so Dies ist dein Los; erfüU's ! und
dien'' und lebe
lebe vierzig Jahre !
So viele Jahr\ als ich dem Monat Der Esel Erstling schreit : Zu viel
Tage gebe.
verleihest du !
Der Esel Erstling schreit: Zu viel Wie? vierzig Jahre, Zeus? Ach!
legst du mir bei. ' nimm mir zwanzig Jahre,
Wie? dreifsig Jahre! Zeus, ach — — — — — — —
nimm mir zwanzig Jahre. — — — ■ — — — - — — —
Der grofse Zeus erhört sein flehen-
des Geschrei.
Weiter läfst der Dichter den Hund sprechen, der 35 »Jahre
als Lebensdauer erhalten soll:
Zeus winket ihm Erhöruno: zu.
V. Hagedorn.
Ramler ;
Das Wächteramt ist schwer, ich Das Wächteramt ist schwer: ich
bitte. Herr, von dir.
Die Dauer meiner Pflicht aus Mit-
leid einzuschränken,
bitte, Herr, von dir,
Die Dauer meiner Pflicht aus Mit-
leid einzuschränken.
Und fünfundzwanzig mir zu sehen- Und fünfundzwanzig mir daran zu
len.
schenken.
Zum AflPen sagt er drauf:
Zum Affen sagt er drauf: — —
„Sei nackt, gefesselt, arm, der Sey nackt, gefesselt, 5e^ i^^r Ä'wecÄ?'
Kinder Lust und Spott, tind Kinder Spott
über K. W. Ramlers Änderungen Hagedornscher Fabeln. 257
Und der Bedienten Spiel auf sechs So viele Jahr, als ich dem Monat
Olympiaden. Tage gebe.
Sechs ! spricht der Aff\ o gieb mir So viele ? ruft der Affen Ahnherr,
doch aus Gnaden überhebe
Nur vier; die sind genug. — — Mich doch der Hälfte! — • — —
Zu eini2:en der vorstehenden Anderuno^en o;aben sachliche
Irrtümer des Autors Veranlassung. Hagedorn hat nämlich dem
P^sel eine zu kurze Lebensdauer (statt dreifsig ursprünglich an-
gesetzter Jahre nur zehn) eingeräumt. So sagt Brehm (Tier-
leben, Gr. Ausg., 2. Aufl., I, Abt. Säugetiere, 3. ßd , S. 44)
vom Esel: „Er kann, auch wenn er tüchtig arbeiten mufs, ein
ziemlich hohes Alter erreichen : man kennt Beispiele, dafs P^sel
vierzio: bis fünfzis; Jahre alt wurden." Dieser Beobachtunsj
kommt ßamler mit den auf zwanzig herabgeminderten ursprüng-
lichen vierzifj Jahren näher. Hierher o;ehören auch die Worte:
,^ Und fünfundzwanzig Jahre mir zu schenken.^'' Da nämlich der
Hund nicht viel älter wird als zehn Jahre (vergl. Brehm a. a. O.
1. Bd., S. 588: „Der Hund tritt schon im zwölften Jahre ins
(jreisenalter ein"), so liefs Ramler den Hund die Bitte um den
Erlafs von 25 Jahren an den ursprünglich bestimmten 35 Jahren
aussprechen: „Und fünfundzwanzig mir 6?ara?i zu schenken."* —
Die Zeile: „Zeus winket ihm Erhörung zu" ist aus dem etwas
längeren Originalverse („Der grofse Zeus erhört sein flehendes
Geschrei") aus Gründen des Wohlklangs verkürzt worden.
Über eine Ramlersche Strophe, deren „ganze Zusammensetzung
zum Wohllaut ein2:erlchtet ist und deren Zeilen schmal zusammen-
laufen" vergl. „Kritische Nachrichten aus dem Reiche der Ge-
lehrsamkeit auf das Jahr 1750", hrsgb. von Ramler und Sulzer,
St. VI. — Die breite Ausdrucksweise Hagedorns: „Der Kinder
Lust und Spott und der Bedienten Spiel" ist unter Beschränkung
der drei Synonyma auf eins (sey der Knecht' und Kinder Spott)
verbessert worden; dadurch wurde freilich eine Änderung der
nächsten Worte nötig. Ramlers Text Veränderung: „der Affen
Ahnherr" statt des ursprünglichen „der AfF' " bringt etwas
Possierliches in die Erzählung, wohl gemäfs dem über die
„äsopische Fabel" in der Batteux-Ramlerschen „Einleitung in
* Ramler, der sich sehr viel auf dem Lande aufhielt, konnte über die
wirkliche Lebensdauer der Haustiere wohl unterrichtet sein.
Archiv f. n. Spraclien. LXXIII. 17
258
Über K. W. Ramlcrs Änderungen Hagedornscher Fabeln.
die schönen Wissenschaften" (2. Teil, I. Abschn., S. 249 — 252)
ausgesprochenen Grundsatze: — „Zierrathe der Erzählung" —
„Oft mahlt ein eintziges Wort: Der Schmetterling heifst der
kleine Harlekin^ der Frosch orgelt mit der Kehle, die Ente
wackelt u. s. w."
Fahren wir in der Fabel fort. „Es nähert sich der Mensch."
Derselbe erhält zum Leben dreifsig Sommer zugesichert. Diese
Zeit ist ihm aber zu kurz:
V. Hagedorn.
— — Dafern ich wählen mag,
So währ ich mir zu meinem läng er n
Lehen ^
Was Esel, Hund und Aff^ an ihrem
aufgegeben.
Es sei, spricht Jupiter, doch dies
bleibt festgestellt:
Dein längres Alter soll, nach jenen
dreifsig Jahren,
Auch jedes Tieres Stand erfahren,
Dem ich die Zeit erliefs, die jetzt
der Mensch erhält.
Ramler.
0 ! Wenn ich wünschen mag,
Wünsch ich, du wollest mir zu mei-
nem längern Leben,
Was du dem Esel, Hund und Affen
abnahmst, geben.
Es sey! spricht Jupiter etc. etc.
Uns w^ollte Jupiter nur dieses
Alter geben.
Ach hätte doch die/s Flehen nichts
erreicht.
Uns wollte Jupiter nur dieses
Alter geben.
Ach ! hätte doch der Mensch nie sei-
nen Wunsch erreicht !
Im Vorstehenden ist an zwei Stellen, der Entsprechung
wegen, aus je einem jambischen Fünffüfsler ein Alexandriner
hergestellt worden. — Indem nun der Dichter „der Menschen
Lenz, die Zeit der Lust" für die dem Menschen ursprünglich
allein bestimmte Lebenszeit erklärt, sagt er, dafs die Bürden
des ehelichen, amtlichen und geschäftlichen Lebens ihn so sehr
niederdrücken, dafs er schliefslich dem trägen Lasttiere gleiche.
Ferner wird dem Fünfzigjährigen, der sich ein Vermögen er-
worben hat, eine aus Geiz und Mifstrauen entspringende Wach-
samkeit zugeschrieben, die als tertium comparationis zum Zwecke
seiner Vergleichung mit dem Hunde dient. — In den Versen,
welche diese Gedanken enthalten, ist — im Gegensatz zu den
zwei vorhin angeführten Zeilen — einmal die Entsprechung
über K. W. Ramlers Änderungen Hacredornschor Fabeln. 259
vom Verbesserer zerstört und ein Alexandriner zu einem jam-
bischen Fünffüfsler umgeschaflPen worden;
V. Hagedorn. Ramler.
DerHaus- und Ehestand, Geschäfte, Der Ehstand, Hausstand, Ämter,
Pflichten, Würden. Pflichten, Würden.
Wie es scheint, soll durch diese Beseitigung der Diärese
das Atemlose der in dem Verse genannten, auf den Menschen
einstürmenden neuen Lasten ausgedrückt werden. Vielleicht ist
für dieses Verfahren das Vorbild Virgils mafsgebend gewesen,
der so oft den Gang des Verses dem Inhalte entsprechend ein-
gerichtet hat, und dessen Hexameter die „Kritischen Nach-
richten" vom Jahre 1750, Ramlers Organ, den deutschen Dich-
tern als Musterverse empfehlen (Stück IV und V). — Endlich
hat Ramler eine in den letzten Zeilen des Gedichtes enthaltene
Pietätlosiojkeit sehr abojeschwächt. Has^edorn saort nämlich, dafs
„der ganz verlähmte Greis" von „Kind und Knecht und Magd"
verspottet zu w^erden pflege. Ramler hat diesem Spotte eine
Begründung gegeben, und zwar dadurch, dafs er sagt: Der
ganz verlähmte, den sein Alter kindisch macht, — dieser wird
von allen verlacht. So erscheint der Spott über den alten
Mann, wenn auch nicht als gerechtfertigt, so doch als eine viel
ö'erinojere Roheit. — In ähnlicher oder noch strenoferer Weise
verfährt Ramler jeder Taktlosigkeit gegenüber; so sagt schon
Nicolai (Allgem. deutsche Bibliothek Bd. IX, St. 1, S.^ 205 flP.,
Berlin und Stettin 1769) in einer Besprechung der von Ramler
herausgegebenen „Lieder der Deutschen": „Herr Ramler ist
überhaupt in allen nur etw^as freyen Stellen ein sehr strenger
Verbesserer. Wir können ihn nicht tadeln." — So ist es denn
auch erklärlich, dafs er in dem Hagedornschen Gedichte „Adel-
heid und Heinrich oder die neue Eva und der neue Adam",
Erste Erzählung (Fabellese Buch I, Nr. XLVI, S. 87—95;
Recl. Ausg. S. 220 — 224) den nachstehenden, auf das w^eibliche
Geschlecht gemünzten Spottvers gestrichen hat:
Z. 78 — 81: Des Menschen Herz wird stets ein Räthsel sein;
Grofs ist sein Mut, noch gröfser seine »Schwäche.
Ich schlie/se hier mit Recht die Weiber ein,
Zum mindsten halb, wenn ich von Menschen spreche,
17*
260 Ü(»er K. W. Kamlers Änderungen Ilagedornschcr Fabeln.
Wir gehen zu der Fabel über, welche bei Hagedorn „Der
Sultan und sein Vezier Azem" (Recl. Ausg. S. 97 — 99), bei
Ramler „Der Sultan Suliman und sein Vezier Ibrahim" betitelt
ist. (Fabellese Buch I, Nr. XXIV, S. 48—50.) \Yoher, fragen
wir, stammt diese Verschiedenheit im Namen des Veziers ? —
Einfach aus einer Nachlässigkeit Hagedorns ! Denn bei ihm
heifst jener bald Azem, bald Ibrahim. In der Überschrift steht,
wie wir sahen, „Azem"; dieser Name findet sich auch in V. 58;
aber in V. 42 und 51 heifst ebenderselbe: Ibrahim. Ramler
dao:eo:en, welcher in der Überschrift: Der Sultan Suliman und
sein Vezier Ibrahim gesagt hatte, braucht für den Vezier folge-
richtig nur den zuletzt genannten Namen. — Z. 4 giebt uns zu
einer metrischen Bemerkung Anlafs :
V. Hagedorn. Ramler.
O lernten Helden doch die leichte 0 ! lernten Helden doch das leichte
Wohlfahrt lieben 1 Wohlthun liehen 1
Dazu nehmen wir Z. 15 — 16:
Es hatte Suliman die Beyen, Agas, Es hatte Suliman die Beyen, Aga,
Bässen, Bässen,
Des ganzen Hofstaat^ Zug^ in schnei- Des Hofes ganzen Zug, in schnellem
lern Ritt verlassen. Ritt verlassen.
Weshalb hat Ramler die Wortverbindungen Wohlfahrt lieben
und des oder de7' ganzen Hofstaat Zug zu ändern sich veranlafst
gefunden? Warum sind nach seinem Urteil die dafür einge-
setzten Wendungen WoMthnn lieben und des Hofes ganzen Zug
jenen vorzuziehen? — Den Schlüssel hierzu geben uns die
schon einmal erwähnten „Kritischen Nachrichten aus dem Reiche
der Gelehrsamkeit auf das Jahr 1750", in einem entweder aus
Ramlers Feder selbst stammenden oder unter seinem Einflufs
geschriebenen Aufsatze: „Gedanken über die neuen (d. h. reim-
losen) Versarten" (St. IV u. V, S. 29 fF.). Dort ist folgende
Vorschrift für den Dichter gegeben: „Er mufs die Worte gern
gebrauchen, wo der Vokalen und der Konsonanten ohngefehr
gleich viel sind: er mufs, wenn ein Wort mit zwey oder drey
* Die Ausg. von 1^00: „Der ganzen Hofstaat Zug."
über K. W. Rainlers Änderungen llagedornscher Fabeln. 261
Konsonanten schliefst, nicht gleich das folgende mit einem oder
zwey Konsonanten anfangen. Es ist schwer bey unserer harten
nordischen Sprache, aber es ist einem arbeitsamen Dichter, oder
einem Schüler des Virojil oder Horaz nicht unmöo'lich." —
Hiermit ist eine Stelle in J. H. Vofs, Zeitmessung der deutschen
Sprache, Königsberg 1802, S. 37 — 38 zu vergleichen: „Weniger
als der Begriffe Gehalt und Nachdruck, aber doch etwas, wirket
auf die Länge (seil, der Silben) auch die Beschaffenheit der
Buchstaben ... je runder zwischen sondernden Mitlautern, und
je anhaltender der Klang, desto schöner. Ein stummer Nachtrah
fügt der Dauer nur eine Pause hinzu, die, zumal mit lautlosem
Hauch oder Gezisch^ nicht Freude an Kraft, sondern Mifsfallen
erregt,''''
Hat man demnach nicht das Recht, Ramler in gewisser
Beziehung als Vorläufer von Vofs zu bezeichnen? — Aus dem
obigen Gesichtspunkte erklären sich nun auch folgende Ver-
änderungen, oder sagen wir dreist Verbesserungen Ramlers:
Der Hase und viele Freunde.
V. Hagedorns Poet. W., Recl. A. Fabellese Buch H, Nr. XXI
S. 115—117. (S. 177—181).
Str. 7, V. 1 u. 2: Wie oft vergällt Doch ach! des heitern Tages
erwünschte Stunden Stunden
Verhafster Stunden Ungemach. Trübt eines Stündleins Ungemach.
Aurelius und Beelzebub.
V. Hagedorns Poet. Werke Fabellese Buch IV, Nr. XLII
S. 145—148. (S. 513— 519).
Z. 17: Ein viel zu mildes Jahr, Ein viel zu mildes Jahr, der all-
der zu fürwitz'ge Zoll. zuschlaue Zoll.
Doch kehren wir zur Fabel vom „Sultan und seinem Vezier
Azem" zurück. Dort heifst es Z. 17 ff*.:
(v. Hagedorn.)
Ihm folgte der Vezier, weil es sein Herr befahl.
Und beide kamen bald in ein geweihtes Thal,
Wo noch zu Ofsmanns (1764 : Othmanns) Zeit ein alter Santon wohnte,
Abdallah^ der Prophet, in dem die Weisheit thronte,
Des Omars grofser Sohn, ein Haubt der frommen Schaar, |
Der Todesengel Freund, Azraels Liebling war, | Fehlen bei
Der fast, wie Mahomet, die sieben Himmel kannte, i Ramler,
Und den ganz Asien vor vielen heilig nannte. j
262 Über K. W. Ranilers Änderungen llage lornschcr Fabeln.
Die vier von Ramler weggelassenen Zeilen bringen zum
Namen Abdallah so viele Bestimmungen von dunkler Gelehr-
samkeit, dafs wir die Streichung derselben als eines unpassenden
Elementes der Fabel vollkommen billigen müssen. Auch sonst
zeicrt sich das Streben unseres Kritikers nach Verständlichkeit
des Ausdrucks, zuweilen sogar in unnötigen Änderungen; z.B.
in 'Z. 49 desselben Gedichtes, wo er „Dianens Schein" in „des
Mondes Schein" verbesserte. Hingegen müssen wir ihm in
den folgenden ümdichtungen recht geben :
Der Bär und der Liebhaber seines Gartens.
V. Hagedorns Poet. W., Recl. A. Fabellese Buch II, Nr. LVIII
S. 118—120. (S. 275—279).
Str. 8: Nicht wahr? die Einsamkeit Nicht wahr? kein Paradies bleibt
ist nicht auf ewig schön. einsam immer schön,
Ünmitgeteilte Lnst wird Überdriifs Unmitgeteilte Lust nnifs Überdrufs
erwecken ; erwecken.
Der bringt den Greis ins Feld, um Auch unser Greis geht aus, um
Menschen zu entdecken. Menschen zu entdecken,
Mein Tirnon ivird zum Diogen. Und sieht — den Bären vor sich
stehn.
Str. 9 : Er wandert nach dem Forst; hier irrt er hin und herl
Und mifst und sucht die Bahn auf unhehanntem Stege. \ Fehlen bei
Zuletzt begegnet ihm in einem hohlen Wege [ Ramler.
Ein andrer Eremit, der Bär. I
Strophe 8 und 9 sind von Ramler zu einer verschmolzen
worden, und wiederum hat er unseren Beifall. Denn die ge-
lehrten Anspielungen an den die Menschen fliehenden Timon
und den sie suchenden Diogenes gehören nicht in diese Fabel;
auch war eine Kürzung in der neunten Strophe, von der be-
sonders Zeile 2 mifslungen ist, recht wünschenswert. Dieses
Aufgeben einer unnötigen Gelehrsamkeit begegnet uns auch in
der Fabel: „Der \Yolf und der Hund", Recl. Ausg. S. 108-109,
Fabellese B. V, Nr. XLIII, Z. 13, wo der von Hagedorn einem
Hunde beigelegte Name „Melamp" vom Sammler der Fabellese
verschmäht wird :
v. Hagedorn.
Melamp erwidert drauf: Freund, wir beklagen dich ;
Ramler.
Der Hund erwidert ihm etc.
über K. W. Ramltirs Änderungen Hagedornscher Fabeln. 263
Doch auch in anderer Hinsicht zeigt die Fabel; „Der Bär
und der Liebhaber seines Gartens" manches Unfertige, und
Raniler fand in den folgenden Strophen des Hagedornschen
Gedichtes verschiedene sprachliche Ungeschicklichkeiten und
auch eine rhythmische Sünde (Str. 16, 3), die er nach Kräften
verbessert hat:
V. Hagedorn.
Str. 10: Er stutzt. Was soll er thun ? Zur Flucht ist lcei7ie Spur.
Besuche mich, und eile nur.
Ramler.
— — Zur Flucht ist nicht mehr Zeit.
Der Weg zu mir ist ffar nicht weit.
V. Hagedorn.
Sir. 16: Petz kehret einmal heim; da schlummert sein Orest
Zur schwülen Mittagszeit. Fr gehet bei ihm liegen^
Bewacht den Schlafenden , zerstreut den Schwärm der Fliegen,
Ramler.
Einst kehrt Petz heim und sieht den zärtlichen Orest
Zur schwülen Mittagszeit in sanftem Schlummer liegen.
Er legt sich neben ihn, zerstreut den Schwärm der Fliegen,
V. Hagedorn. Str. 17, 4: Ramler.
Geschmeifse, wifst ihr., wer ich bin? Geschmeifs, erfahre, wer ich bin.
Wir wenden uns zur Fabel: „Der Löwe und die Mücke"
(Recl. Ausgabe S. 106—108; Fabellese Buch U, Nr. XXIH,
S. 185 — 188). Dieselbe beginnt bei Hagedorn folgender-
mafsen:
Ein kluger Heiliger, selbst Augustinus, spricht :
„Dem Sonnenkörper ist die Fliege vorzuziehen;
Denn ihr, nicht jenem, ward ein Lebensgeist verliehen."
-Vielleicht ist dieses wahr, ich aber glaub es nicht.
Doch denk ich keinen Ruhm den Fliegen abzusprechen;
Die Fliegen wissen sich zu rächen :
Auch Mücken fehlt es nicht an Keckheit noch an Macht.
Wer ist der Heldin zu vergleichen,
2G4 Über K. W. Ramlers Änderungen Ilagedornsclier Fabtln.
Die jenes starke Tier aufs äufserste gebracht,
Dem alle Tiere zitternd weichen?
Der Tiere Regiment in Monomotapa u. s. w.
Vom heiligen Augustinus auf die Fliegen, von den Fliegen
auf die Mücken im allgemeinen, und von diesen auf jene helden-
hafte Mücke zu kommen, welche einst den Löwen herausgefor-
dert hat, — das heifst doch wahrlich bellum Troianum gemino
ab ovo ordiri! Diese wimderliche Einleitung konnte nicht nach
dem Geschmack eines Ramler sein, der in seiner mit Erläute-
runof-en versehenen Übersetzun«: der ..Dichtkunst des Horaz"
(Basel 1777) S. 59—60 folgendes lehrt: „Man kann bis zur
ersten Quelle der Begebenheit hinaufsteigen, bis zu den beyden
Eyern, die Leda von dem Jupiter gebar, als er sich in einen
Schwan verwandelt hatte: weil aus einem derselben die schone
Helena hervorgekommen ist, deren Entführung den trojanischen
Krie"- verursacht hat. Die Historie kann so weit s^ehn. Allein
die Poesie hat einen andern Gang. Sie wirft sich plötzlich
mitten unter die Begebenheit hinein" So ist es erklär-
lich, dafs in der Fabellese die Fabel vom ..Löwen und der
Mücke" gleich mit den AYorten beginnt:
Der Tiere Regiment in Monomotapa u. s. w.
Bei Hagedorn lautet Str. 4 folo;endermafsen :
Das Lob nährt seinen Stolz, so wie sein Grimm die Not.
Mit beiden durfte nur die kühne Mücke scherzen,
Die ihm aus edlem Ha/s, mit freiheitvollem Herzen,
Des scharfen Stachels Spitze bot.
Ramler ändert dieselbe in eigentümlicher Art:
Das Lob nährt seinen Stolz und mindert nicht die Not:
Ein jeder zitterte; nur nicht die kühne Mücke,
Die ihm aus Böm'schem Ha/s mit unerschrock'nem Blicke
Des scharfen Stachels Spitze bot. •
Abgesehen von anderen Änderungen ist wohl die E^rage
erlaubt: Wie kommt Ramler dazu, für „edlem Hafs" „Röm-
echem Hafs" zu sagen? — Darüber belehrt uns sein Batteux
(Einleitung in die Schönen Wissensch., Leipzig 1756, Bd. I,
Teil n, 1. Abschn., 1. Art. „von der äsopischen Fabel":
Schreibart der Fabel, S. 255 — 256): „Die Quellen des Mun-
teren in der Fabel sind: wenn man den Tieren Namen und
über K. W. Ramlers Änderungen Hsigedornsclier Fabeln. 2G5
Eigenschaften beylegt, die sich nur für die Menschen schicken.
Der Bär heifst alsdann ein Scythe, der Löwe eine rauche
Majestät, die Mücke sticht aus römischem Hafs.'"''
Zu einer anderen Bemerkung giebt uns die Fabel: „Die
Fledermaus und die zwo Wiesel" (Fabellese VI, 25; v. Hage-
dorns Poet. Werke, Recl. Ausg. S. 103 — 104) Veranlassung.
Anspielungen nämlich auf Personen, die wieder typisch noch
allgemein bekannt sind, dürften wohl den Wert einer Fabel
vermindern. Da nun aber die Gegnerschaft, welche zwischen
den Hallischen Professoren Christian AVolfF und Lans^e — dem
Vater des bekannten Sam. Gotth. Lange — herrschte,* selbst
den gebildeteren Laien seiner Zeit, aufserhalb der Saale-Stadt,
schwerlich bekannt war, so hat R. die den Schlufs der er-
wähnten Fabel bildende Moral, welche durch eine Anspielung
auf jenes Verhältnis ungeniefsbar gemacht war, weggeschnitten
und eine allgemeine Nutzanwendung dafür an die Spitze des
Gedichtes gesetzt:
V. Hagedorn. Ramler.
Ein Kluger sieht auf Art und Zeit, Zur eignen Sicherheit den Gegner
Aus Vorsicht, dafs man ihn nicht zu berücken,
fange. Ist nicht gefrevelt, heifst nur in
Er ruft mit gleicher Fertigkeit : die Zeit sich schicken.
Es lebe WolfF! Es lebe Lange!
Die schwindende Bedeutung eines alten deutschen Wortes
sucht Ramler — fast nach der Art philologischer Konjektural-
Krltiker — In der Fabel; „Die Nachbarschaft der Buhlerei"
zu Ehren zu bringen. (Fabellese V, Nr. 11 ; v. Hagedorn,
Poet. Werke, Recl. Ausg. S. 207.)
Dort spricht die personifizierte Buhlerei:
Z. 17 u. 18: Zwar leb' ich weit von der verlassenen Treue:
Matronen nur ist, wo sie seufzt, bekannt;
hierfür schreibt Ramler:
Zwar leb' ich weit von der langweil'gen Treue
Und ihrem alten Ehgemahl Bestand.
Dazu macht er folgende Bemerkung: „Der Bestand statt die
Beständigkeit fängt an zu veralten, sein Gegensatz, der Un-
• Vergl. Wilh. Scherer, Gesch. der deutschen Litteratur S. 419.
266 Über K. W. Ramlers Änderungen Hageclornscher Fabeln.
hestand^ ist noch im Gebrauch geblieben. Hagedorn bedient
sich des ersten Wortes mehr als einmal."*
Dieser altertümelnde Zug läfst sich , nebenbei bemerkt,
auch in seiner Übersetzung horazischer Oden erkennen, in der
die altväterlichen Worte „Afterwelt" (Od. II, 19, 1) und „Bieder-
lob" (ebenda IV, 8, 14) vorkommen. — Des Korrektors Ge-
lehrsamkeit verrät auch folgende Änderung in der Fabel: „Der
Kanarienvogel und der Häher" (Recl. Ausg. S. 206, Z. 5 u. 6):
Ein Flacciis^ ein Virgil
Zieht nicht den Bav zu Rat.
Ramler sah ein, dafs „Flaccus" als cognomen nicht dem
nomen gentilicium „Virgil" parallel gesetzt werden darf, und
deshalb schrieb er (Fabellese B. HI, Nr. LVH, S. 416):
— — — Horaz und sein Virgil
Ziehn nicht den Bav zu Rat.
Dennoch bekämpft der gelehrte Verfasser einer Mythologie,
welche heute noch wessen eio^entümlicher Vorzüge geschätzt
wird, V. Hagedorns mythologische Anspielungen, sobald die-
selben schwer verständlich und geschmacklos sind, wie in der
eben erwähnten Fabel („Der Kanarienvogel und der Häher").
Dort heifst es weiter Z. 6 ft'. :
— — Sie fragen den Quintil,
Den ganz gelehrten Freund. Warum ? Ein halber Kenner
Verdient^ zum höchsten, nur das Mitleid Huger Männer,
Wenn er voll Meisterschaft, voll Eochmut, Neid und Zwist,
\ An Witz ein Polyphem, an Wahn ein Argus ist.
Dafür schrieb Ramler mit einer kühnen Verkürzung, die wir
beim Original-Dichter sehr gern gesehen hätten:
— sie fragen den Quintil,
Den ganz gelehrten Freund,
Der Wissenschaft, Geschmack und Redlichkeit vereint.
Dasselbe Streben nach Einfachheit und Natürlichkeit des
Ausdrucks, welches uns hier so angenehm berührt, tritt am
Schlufs der Fabel „Der Wolf und der Hund" hervor (Recl.
Ausg. S. 109). Dort läfst v. Hagedorn den Wolf in ein rhe-
* Ramler führt an: „Die alte und die neue Liebe" Str. 4, Z. 1 u. 2
(Recl. Ausg. S. '256):
Durch mehr als jährigen Bestand
Verehren, was man artig fand.
über K, W. Ramlers Än'lernngen Hagedorn.'clier Fabeln. 267
torisches Pathos verfallen, welches das einfache Raubtier, das
seine Freiheit liebt, einem Seneka gleichstellt (V. 31 ff.):
Der Wolf, der weiter nicht den Hund begleiten will,
Sucht seinen Rückweg bald und dankt ihm für die Reise,
Nein! ruft er, auf der Welt ist nichts der Freiheit gleich.
Sollt ich mir einen Stand, den sie nicht schmückt, erwählen?
Dem Weisen gilt sie mehr als Thron und Königreich :
Wenn ihm die Freiheit fehlt, so wird ihm alles fehlen.
Hierojeojen läfst Ramler den Wolf in der ungezwunorensten
~ O DO
Weise reden und handeln (Fabellese V, XLIII):
„Ey", ruft der Wolf, „Glück auf die Reise!
Wenn ich nicht thun kann, was ich will.
So bleib' ich bei der Väter Weise:
Bald wenig, bald vollauf; und danke für den Koch."
Er sagt's, läuft fort und läuft wohl noch.
In derselben Fabel ist auch, nebenbei bemerkt, eine sprach-
liche Nachlässigkeit des Dichters vom Verbesserer beseitigt
worden. Dort spricht Z. 13 und 14 der Hund zum Wolfe:
— Freund, wir beklagen dich;
Wir ghmbens^ dort im Wald ist oft nicht viel zu fressen.
Der pluralis maiestaticus ist bei einem Gönner, als welcher
der Hund erscheint, recht wohl angewandt, durfte aber in der
Folge nicht aufgegeben werden, während doch v. Hagedorn in
V. 15 fortfährt: „Doch willst du mit mii' gehn." Daher ist
Ramler, welcher nur den Singularis anwendet, konsequenter:
„Der Hund erwidert ihm: Freund, icli beklage dich." Von
sprachlichem Interesse dürfte auch folgende Änderung sein: In
der schon oben erwähnten Fabel „Adelheid und Heinrich" oder
„die neue Eva und der neue Adam" (Erste Erzählung, V. 13 — 16,
Recl. Ausg. S. 220) schrieb v. Hagedorn :
So sprach ein Mann, als, aus vermeinter Pflicht ,
Sein junges Weib in strengem Zorn entbrannte,
Und Evens Fall und blinde Zuversicht,
Voll Spötterei^ ich weifs nicht wie, benannte.
Diesen Versen gehen andere voraus, in welchen ein Gatte
seiner Frau gegenüber behauptet, dafs die Lust, sich gerade
an verbotenen Dingen zu erfreuen, von Eva, der viel geschmähten,
auf deren Kinder übergegangen sei. Der Ausdruck in den
268 Über K. W. Ramlers Änderungen Hagedornscher Fabeln.
vorstehenden Versen ist durch Ramler viel kräftiger geworden
(Fabellese I, XLVI, S. 87-88):
So sprach ein kluger Mann nicht ohne Glimj^f,
Als einst sein junges Weib in Zoin entbrannte,
Und Evens Fall, mit vielem Spott und Schimpfe
Bald Blödsinn hie/s, bald tolle Gaumsucht nannte.
Bedenklich bleibt hierbei nur das Wort „Gaumsucht", wel-
ches anderwärts kaum vorkommen dürfte. Zur Erklärung^ des-
selben reicht die Bedeutung von „Sucht" = „krankhafte Be-
gierde" (Sanders Handwörterbuch) nicht aus; wir müssen das
Wort als synonym dem stammverwandten Nomen „Seuche" an-
sehen (vergl. „Maul- und Klauenseuche").
Weitschweifis^keiten und Längen im Ausdruck finden sich
in den Hagedornschen Fabeln nicht selten. Hier war wieder
eine Geleo-enheit für den litterarischen Ziersärtner, Gleichmäfsio;-
keit der Form, sowie Luft und Licht dem poetischen Wildling
zu schaffen. So z. B. findet sich folo^ende Schilderunoj einer
Öden Gegend in der Fabel „Aurelius und Beelzebub" (Recl.
Ausg. S. 147) V. 57 ff.:
Sein Führer bringet ihn in einen öden Wald
Von heiligen, bemoosten alten Eichen,
Der Sitz des Czernebocks, der Gnomen Aufenthalt,
Die Schlachtbank vieler Opferleichen.
Hier herrscht, fast tausend Jahr, ein schwarzer, wilder Schrecken
In grauser Finsternis. Den wiwirthharen Sitz
Verklärt, doch selten nur, ein roter, schneller Blitz.
Hier sollte sich der Trost Aureis entdecken.
Hier blieb der Fliegenfürst und sein Gefährte stehn.
Dagegen schllefsen sich an die Worte „Die Schlachtbank
vieler Opferleichen" in der Fabellese B. IV, Nr. XLH, S. 517,
mit Hinweglassung der in den nächsten vier Zeilen gegebenen,
ganz überflüssigen Beschreibung, die Worte: „Hier bleibt der
Fliegenfürst und sein Gefährte stehn."
In dem wiederholt angeführten Gedichte „Adelheid und
Heinrich" oder „die neue Eva und der neue Adam" (ßecl.
Ausg. S. 220—224) findet sich folgende Stelle (V. 41 ff.):
Beschäme denn die Even unsrer Zeit,
Die Probe soll nichts Schweres in sich fassen.
Was heute dir dein Heinrich hart verbeut,
Das hast du stets freiwillig unterlassen.
über K. W. Ramlers Änderungen Hagedornsclier Fabeln. 269
Wem ist nicht hier der Entenpfuhl bekannt,
Die dir wie mir so sehr verhafste Lache,
Wovon du sonst die Äugen abgewandt ?
Ich glaube nicht, da/s ich dich lüstern mache.
Nur diesen Pfulil verwehrt dir mein Gebot:
Gehst du ins Bad, wie sonst, dich abzukühlen,
So hüte dich, in seinem Schlamm und Kot,
Von morgen an, mit blofsem Fufs zu wühlen.
Dafür brinort die „Fabellese" folgende Fassunor:
Beschäme denn die Even unsrer Zeit!
Die Piobe soll nichts Schweres in sich fassen.
"Was heute dir dein Heinrich hart verbeut,
Das hast du stets freiwillig unterlassen.
Wenn du, wie sonst, den Weg durchs Nufsgesträuch
In unser Bad nimmst, dich dort abzukühlen,
So hüte dich, im nahen Ententeich
Von morgen an mit blofsem Fufs zu wühlen.
Vier Hagedornsche Zeilen sind wiederum bei Ramler aue-
gefallen: „Wem ist nicht hier der Entenpfuhl bekannt
lüstern mache." Die letzte derselben: „Ich glaube nicht, dafd
ich dich lüstern mache", ist offenbar nur aus Versnot hinein-
gesetzt worden, hat aber vor der Mitteilung des Verbotes nur
den Wert einer höchst überflüssioren Parenthese. Hierher o^ehört
auch die kleine Fabel: „Der Hirsch und der Eber" (Recl.
Ausg. S. 204), von der die sieben ersten Zeilen lauten :
■ Ein Eber fragt den Hirsch: was macht dich hundescheu?
Eür mich gesteh ich gern, dafs ich es nicht hegreife.
Du hörst so scharf als sie. Wie schnell sind deine Läufe ?
Wie fürchterlich ist dein Geweih ?
Und da du gröfser bist, so solltest du dich schämen,
Vor Kleinern stets die Flucht zu nehmen.
Was ist es immermehr, das dich so schrecken kann?
Vergleichen wir damit die Fabellese B. II, Nr. IX, S. 155 :
Ein Eber fragt den Hirsch: was macht dich hundescheu?
Du bist so grofs! und dein Geweih
So furchtbar ! Solltest du dich nicht im Herzen schämen.
Vor Kleinern stets die Flucht zu nehmen?
Ich weifs wahrhaftig nicht, was dich so schrecken kann.
Von Ramler sind zwei Zeilen ausgelassen, um die behagliche
Breite der Rede einzudämmen und um einen schlechten Reim (be-
greife : Läufe) zu tilgen. Das altertümliche „immermehr" in der
270 Über K. W. Ramlers Änderungen Hagedornscher Fabeln.
Frage: „Was ist es immermehr, das dich so schrecken kann?"
(mhd. iemer mere = stets von neuem) ist ersetzt durch die ver-
ständlichere Phrase : „Ich vveifs wahrhaftig nicht, was" u. s. vv.
Wie durch solche Streichungen, besonders wenn sie sich
anf überflüssige Strophen erstrecken, ein Gedicht nur gewinnen
kann, zeigt v. Hagedorns Fabel: „Der Hase und viele Freunde"
(Recl. Ausg. S. 115 — 117). Vor dem Beginne der Erzählung
steht eine zwei Strophen umfassende Moral, die Ramler, einem
richtigen Grundsätze huldio-end, weggelassen hat. Für uns ist
aber die Ausmerzung der vierten Strophe wichtiger, die wir
wohl nicht vermissen, wenn wir in der Fabellese folgendes
hintereinander lesen (B. H, Nr. XXT, S. 177—178):
(Str. 4 bei v. Hagedorn = Str. 2 bei Ramler.)
Einst wandt' er sich zu seinen Freunden,
Um Rath und Beistand sie zu flehn,
Den Hunden, seinen ärgsten Feinden,
Zu steuern oder zu entgehn.
Man sprach : Dein Leben zu erhalten,
Soll unser Eifer nie erkalten ;
Wer deinem Balg ein Härchen krümmt,
Dem ist von uns der Tod bestimmt.
(Str. 6 bei v. Hagedorn = Str. 3 bei Ramler.)
Nun lebet Hansel ohne Sorgen,
Stets unverzagt und ungestört.
Er sieht, wie sich an jedem Morgen
Bey jedem Thau sein Frühstück mehrt.
Sein rascher Fufs verläfst die Wälder,
Schweift durch die Gärten, durch die Felder,
Wo ihn in stolzer Sicherheit
Laub, Kraut und junge Saat erfreut.
Bedarf es wohl noch einer anderen Strophe als der zuletzt
angeführten — die übrigens einige geringe Abweichungen vom
Original aufweist — , um das Stillleben des vertrauensseligen
Hasen zu schildern? Bei v. Hagedorn findet sich freilich zwi-
sehen jene beiden die folgende (fünfte) Strophe eingefügt:
Der muntre Hansel ist zufrieden,
Und schätzt sich o-rofsen Hansen gleich.
Die Sicherheit, die ihm beschieden.
Vertauscht er um kein Königreich.
Ihn will 60 mancher Beistand schützen;
Was darf er nun in Ängsten sitzen ?
über K. W. Ramlers An(lerun<T;en Hao-edornsclier Fabeln. 271
Nein, unter vieler Starken Hut
Fehlt es auch Hasen nicht an Muth.
Der Kritiker hatte vom ästhetischen Standpunkte aus voll-
ständig recht, als er diese Strophe entfernte. Betrachten wir
schliefslich noch den Anfang der schon einmal erwähnten Fabel:
„Der Bär und die Liebhaber seines Gartens" (Recl. Ausg. S. 118) :
1. Ein unerfalirner Bär voll wilder Traurigkeit,
Den in den dicksten Wald sein Eigensinn verstecket,
Vertrieb, unausgeforscht, durch Klipp' und Berg gedecket,
Wie ein Bellerophon die Zeit.
2. Hier sträubet sich der Petz; er liebt nur diese Kluft,
Und meidet stets die Spur der Bären, seiner Brüder.
Mit Brummen wälzt er sich im Felsen auf und nieder;
Sein schwaches Hauht scheut freie Luft.
3. Dies macht ihn ganz verwirrt. Ihm gleicht vielleicht die Zunft
Der Weisen dunkler Art., der schweren Sonderlinge ;
Die fliehen Licht und Welt und haschen Wunderdinge ;
Nur nicht die Gabe der Vernunft.
Zunächst hat Ramler in Str. 1 eine mythologische Anspie-
lung auf das hilflose Umherirren des geblendeten ßellerophon,
welche erst durch eine gelehrte Anmerkung verständlich vynrd,
aufgegeben (Fabellese B. II, Nr. LVIII, S. 275):
Ein ungeschlachter Bär voll finstrer Traurigkeit,
Im ödesten Gebirg' aus Eigensinn verstecket,
Vertrieb, unausgeforscht, durch Klipp' und Wald gedecket,
Einsiedlermäfsig sich die Zeit.
Warum, wird man beim Lesen der zweiten Strophe fragen,
ist das Haupt des Bären schwach? Und ist es nicht vielmehr
die Geselligkeit als die freie Luft, welcher der Einsiedler sich
entzieht? Es scheint also Str. 2, Z. 4 von Haf^edorn lediglich
aus Not hineingesetzt zu sein, damit das Endwort von Z. 1
(Kluft) eine Entsprechung (Luft) habe. Was ßamler dafür setzt,
läfst sich wenigstens verstehen :
Er wählt sich eine Gruft, die fast sein Körper füllt.
Schläft hier und dehnet sich und wälzt sich auf und nieder.
Und meidet stets die Spur der Bären, seiner Brüder,
Li eigne Dummheit eingehüllt.
Endlich liefs das Lehrhafte der in Str. 3 enthaltenen s^e-
danklichen Abschweifuno^, durch welche die Erzählung: unter-
brochen wird, dem Kritiker die ganze Strophe störend erschei-
272 Über K. W. Ramlers Änderungen Hagedorns eher Fabeln
h"
nen, so dafs er sie wegstrich, — und wer möchte ihn für diesen
Censorstrich tadeln?
Hiermit schliefsen wir unsere Wanderung durch die von
Ramler zuo^estutzten Hao:edornschen Fabeln, obgleich wir noch
manche beachtenswerte Abänderungen und V^erbesserungen des
Original-Textes anführen könnten. Das Resultat unserer Be-
trachtung dürfte wohl darin bestehen, dafs wir im Verfahren
Ramlers vielfach bestimmte Grundsätze aufgefunden haben, die
wir zwar nicht alle billigen können, deren Befolgung aber im
grofsen und ganzen den erzählenden Dichtungen Friedrich von
Hagedorns zum Vorteil gereicht. So urteilend finden wir uns
sogar mit einem Gegner der Ramlerschen Verbesserungskunst
in Übereinstimmung. Eschenburg nämlich, der im Jahre 1800
die schöne Oktav-Ausgabe von Hagedorns Werken besorgt hat
(Hamburg, bei Karl Ernst Bohn), sagt im vierten Bande der-
selben, nach einer mifsbilligenden Kritik derjenigen Ramler-
schen Änderungen, welche an den in den „Liedern der Deut-
schen" und der „Lyrischen Blumenlese" stehenden Hagedorn-
öchen Liedern vorgenommen sind, folgendes (S. 102 — 104):
„Übrigens ist es bekannt, dafs die von Ramler in seine
Fabellese aufgenommenen Hagedornschen Fabeln auf gleiche
Weise behandelt sind. Meistens aber doch mit rnehrerem Glück,
weil sie minder eigentümliclien Tons und der Korrektioji empfäng-
licher icaren.'-'' Jedenfalls aber, mochte auch so mancher Ande-
rungsversuch Ramlers als mifsglückt zu bezeichnen sein, gab
das eifrige Durcharbeiten, welches jener fleifsige Mann fremden
Dichtungen zu teil werden liefs, unseren Dichtern eine ernste
Lehre, wie sie es mit ihren eigenen Schöpfungen anzufangen
hätten, um dieselben zur Reife zu bringen, und bot eine treflP-
liche Illustration zu dem Horazischen „nonum prematur in
annum". Andererseits liegt darin ein Zurückweisen der An-
schauung, welche eine gekrönte Dichterin unserer Zeit (Carmen
Sylva) an den Tag legt in den Worten :
Sag nie zur trägen Stunde: Eile doch!
Der fröhlichen Sekunde: Weile doch!
Dem frischen Dichtermunde : Feile doch !
Schwerin a. d. Warthe. Dr. Albert Pick.
Xavier de Maistre.
Von
Adolf Ey.
Es herrscht die Ansicht, dafs jedes Erzeugnis der Poesie,
welches in Frankreich gedeihen will, mit dem Kot der Lutetia
gedüngt sein müsse. Die Früchte entsprechen ja nur zu häufig
einem solchen Untergrund. Die Poesie, die Xavier de Maistre
gepflegt hat, ist nicht in Paris erwachsen, hat nie Pariser Stick-
luft geatmet, sondern die Alpen sind ihre Pflanzstätte, und rein
lind duftig wie die Alpenluft sind auch die Blüten, die sie uns
bietet.
In der ojanzen französischen Litteratur ojiebt es kaum eine
zweite Erscheinung, die so einfach, so rein, so kindlich, so
rührend ist wie die des Piemontesen.
Zwei Brüder haben den Namen Maistre berühmt gemacht:
Joseph und Xavier. Es sind zwei gewaltige Gegensätze.
.Joseph erschien den Zeitgenossen als ein mächtiges Gestirn
erster Gröfse, welches das Licht Xaviers weit überstrahlte, und
doch hat es nicht lange gedauert, und das grofse Gestirn erlischt
allmählich im Weltenraume, während sich an dem geringeren
immer und immer wieder gefühlvolle und einfache Seelen aus
allen Nationen gern erfreuen. Xaviers Opuscules gehören der
Weltlitteratur an. ^
Joseph war ein leidenschaftlicher Philosoph. Nach den
Greueln der Revolution verzweifelte er an der Kraft der Ver-
nunft und des Gedankens und warf sich rückhaltlos der Auto-
rität in die Arme. Der Scharfrichter ist für ihn die Grund-
lage, auf der die gesellschaftliche und staatliche Ordnung sich
Archiv f. n. Sprachen. LXX III. * 18
274 Xavier de Maistre.
auferbaut. ,.Alle Gröfse, alle Macht, alle vSiibordination," ruft
er aus, „beruht auf dem Henker. Er ist der Schrecken und
das Band der menschlichen Gesellschaft. Nehmt diese unbegreif-
liche Kraft aus der Welt und sofort macht die Ordnung den
Naturkräften Platz. Die Throne stürzen und die Gesellschaft
geht unter. Gott, der die Souveränetät einsetzte, hat auch die
Züchtiofun2 verordnet. Er hat die Erde auf die beiden Pole
geworfen, denn Gott ist der Herr der Pole, und auf ihnen läfst
er die Welt sich bewegen."
Das ist Joseph, und daneben Xavier? Er entwirft keine
Weltordnungen, er trägt sich nicht mit grofsen philosophischen
Problemen , obgleich er seine kleinen Spekulationen wohl zu
ordnen versteht ; er macht sich klein und steht bescheiden neben
dem frewaltio'en Bruder. Er unterwirft sich demselben "fanz,
DO O '
giebt ihm sein Manuskript und erwartet geduldig seine Ent-
scheidung.
Sonst haben die jüngeren Brüder etwas durch den Zufall
der Geburt gelitten. Oft verdunkelt sie der ältere mehr als
billio". Wären sie die einzig-en o-ewesen, man würde sie hoher
schätzen als jetzt, wo sie immer mit dem Gleichnamigen in
Vergleich gesetzt werden. Quintus Cicero, Thomas Corneille,
Seofur sans ceremonies — so nannte er sich scherzweise zum
Unterschiede von seinem Bruder, der Maitre des Ceremonies
unter Napoleon war — auch Paul de Musset, alle diese sind
mehr oder weniger Opfer ihrer älteren Brüder geworden.
Xavier ist vielleicht deshalb eine Ausnahme, weil er aufser
dem Namen nichts mit dem Bruder auf dem Schriftstellergebiete
gemein hat. Das Naive, das Anmutige, das Empfindsame, der
sanfte Humor sind sein Feld; wie sehr verschieden von dem,
welches Joseph bebaut hat!
Einfach wie seine Werke ist auch sein Leben. An dem
Südabhange der savojischen Alpen an einem Nebenflusse der
Rhone liegt die kleine Hauptstadt des früheren Herzogtums
Savoyen, das aus Rousseaus Confession so bekannte Cham-
bery; dort ist unser Dichter im Jahre 1760, 02, 63 oder 64
— die Frage ist noch immer nicht entschieden — geboren, und
dort hat er auch seine Jugendjahre verbracht. Er stammte aus
einer edlen Familie. V^on seinem Vater, einem Senatspräsi-
Xavlor de Malst re. 275
dcnten, der noch vor der Einnahme Savoyens durch die Fran-
zosen starb, spricht er in seiner Reise um mein Zimmer mit
der innio^sten Liebe und Verehruno-; von seiner Mutter saj^t
Joseph, sie sei ein Engel gewesen, dem Gott einen Körper ge-
liehen habe. Aufser Joseph hatte Xavier drei Brüder und vier
Schwestern. Während jener eine parlamentarische und sena-
torische Laufbahn einschlug, trat Xavier ins Heer. Er ver-
brachte seine Juo-end in den verschiedenen Garnisonen von
Piemont und wahrscheinlich in der Art wie alle Offiziere: die
Liebe zu Madame de Hautcastel, ein Duell, das sind die be-
zeichnenden Momente.
Als Ste. Beuve ihn über seine Ori":ine3 ausfrao^en wollte,
antwortete er lächelnd: „Ich mufs der Wahrheit gemäfs ge-
stehen, dafs ich in diesem Zeiträume gewissenhaft das Garnison-
leben geführt habe, ohne ans Schreiben und auch nur selten
ans Lesen zu denken; wahrscheinlich würden Sie nie von mir
haben sprechen hören ohne den in meiner Reise um mein Zimmer
angedeuteten Umstand, um dessenwillen ich eine Zeit lang Stuben-
arrest erhielt."
Ehe Xavier diese geistreiche Reise unternahm, hatte er
eine noch kühnere unternommen, eine Reise im Luftballon ;
nahe bei Chambery stieg er auf, und etwa zwei bis drei Stunden
davon liefs er sich wieder zur Erde nieder. Das ist sein
Jugendleben, das sind seine Abenteuer.
Er war 26 oder 27 Jahre alt und stand als Offizier des
Marineregiments zu Alexandria in Garnison, als er „die Reise
um niein Zimmer"* schrieb; einige Anspielungen beziehen sich
jedoch auf eine spätere Zeit, so das 32. Kapitel, wo er seinen
Athalie-Traum von den Greuelthaten der Schreckenszeit erzählt.
Er behielt das Stück mehrere Jahre in seiner Schublade und
fügte von Zeit zu Zeit ein Kapitel hinzu. Bei einem Besuch,
den er um 1793 oder 1794 seinem auf der Flucht befindlichen
Bruder Joseph in Lausanne abstattete, brachte er ihm das
Manuskript, „Mein Bruder," sagte er, „war mein Pate und
mein Beschützer; er lobte mich wegen der Beschäftigung, der
ich mich hingegeben hatte, und behielt das Konzept, das er
Deutsch von A. Ey bei Reclam.
18*
276 Xavier de Maistre.
nach meiner Abreise ordnete. Bald erhielt ich ein gedrucktes
Exemplar, und ich empfand die Überraschung, die ein Vater
wohl empfinden mag, wenn er einen Sohn, den er noch an der
Mutterbrust verlassen hat, als Jüngling wiedersieht. Ich freute
mich sehr darüber, und ich fing sogleich ,die nächtliche Ent-
deckungsreise' an ; aber mein Bruder, dem ich meine Absicht
mitteilte, brachte mich davon ab. Er schrieb mir, den Wert,-
den das Werkchen habe, würde ich nur vernichten, wenn ich
eine Fortsetzung dazu verfasse. Er sagte mir ein spanisches
Sprichwort, welches behauptet, dafe alle zweiten Teile schlecht
wären, und riet mir, einen anderen Gegenstand zu suchen ; ich
dachte nicht mehr daran." ,
Das ist nun nicht richtig, denn „die nächtliche Entdeckungs-
reise um mein Zimmer" ist vorhanden. Sie hat aber nicht zum
Ruhme des Autors beigetragen, ohne deshalb den Wert der
Reise um mein Zimmer zu vernichten. Wenn man diese Reise
liest, lernt man den Verfasser besser kennen, als wenn er uns
seine Beichte direkt abstattete; auch hier beichtet er, aber nicht
ernst und lanoweilior sondern halb scherzend und immer unter-
haltend.
Matrer sag-t in seiner Geschichte der französischen National-
litteratur: „Man mufs den Titel recht verstehen; er sollte
heifsen : Reisen ins Blaue, in Gedanken auf dem Zimmer ge-
macht. Es ist schwer, eine Vorstellung von diesem hübschen
Buche zu geben ; ich möchte ihm den Namen , philosophische
Memoiren* geben. Der Verfasser hatte als junger Mann wahr-
scheinlich das Bedürfnis, oft allein zu sein und sich in allerlei
wünschenswerte, möi^liche und unmögrliche Lebenslag^en hinein-
zuträumen. Wer hat nicht als junger Mann tagelang wachend
geträumt? Die Seele ist in solchem Zustande wie ein Nachen
auf einem grofsen See, ohne Steuer und Ruder, bald hierhin,
bald dorthin getrieben. Rein passiv giebt sie sich allen Ein-
drücken hin in den Erwartungen und HoflPnungen. Dieser Um-
stand hat in der That Ähnlichkeit mit einer zweck- und ziel-
losen Reise, und de Maistre hat ihn so aufgefafst. Da ist!
kein Plan und keine Ordnung. Der Zufall ist Herr. Ist es
ein schönes und frommes Gemüt, das uns so seine Träume-
reien, die Memoiren seines Herzens giebt, so haben wir aller-
Xavier de Maistre. 277
dings dankbar zu sein, und de Maistre hat uns ein wertvolles
Geschenk gemacht."
Einige Andeutungen zur Charakterisierung des Büchleins
will ich trotz alledem versuchen.
\A'eshalb unternimmt er die Reise? Er hat sich duelliert
und erhält dafür Stubenarrest, man zwingt ihn also dazu, in
seinem Zimmer zu reisen. Bei dieser Gelegenheit giebt er die
Logik des Duells.
„Nichts ist doch natürlicher und richtiger," sagt er, „als
dafs ich mich mit einem auf Leben und Tod schlage, der mich
aus Versehen auf den Fufs tritt, oder der sich im Arger, den
ich ihm vielleicht aus Unvorsichtigkeit verursacht habe, ein
beifsendes Wort gegen mich entschlüpfen läfst, oder der auch
wohl das Unglück hat, der Dame meines Herzens zu gefallen."
Dann spricht er über die Konsequenz, die darin liegt, dafs
dieselben Leute, die das Duell im Gericht bestrafen, noch viel
härter gegen den Offizier verfahren, der das Duell verweigert.
Er schlägt deshalb auch vor, dafs die Richter ja durch Würfel
entscheiden könnten, ob einer bestraft werden solle oder nicht.
Nach der Veranlassuno; o-iebt er eine Beschreibuno; des zu
DO O
durchwandernden Gebietes, der Lage und Gröfse seines Zim-
mers, das er aber nicht allein an den Wänden hin und in der
Diagonale durchziehen will, sondern auch im Zickzack, wie es
gerade seinem abspringenden Geiste gemäfs sei.
Auf seiner Reise macht er Stationen bei dem Bilde der
Frau von Hautcastel, bei seinem Bett, bei seinem Schreibtisch
und dessen mit Briefen und einer verwelkten Rose angefüllten
Schublade, bei mehreren Genrebildern, beim Kamin, beim Spie-
gel, bei seiner Bibliothek, bei der Büste seines Vater?. Er
führt uns damit auf die liebenswürdigste Weise in sein intimstes
Leben und Denken ein.
Frau von Hautcastel ist die Geliebte seines Herzens; ein
Bild aus Werthers Leiden, eins von Ugolino, eins von Raphael
und dessen Geliebten bezeichnen seinen Geschmack in der
Malerei, Clarissa und Werthers Leiden, Homer, Virgil, Milton,
Ossian, dann noch besonders die Elektra bezeichnen seinen Ge-
schmack in der Dichtkunst. Dafs er in der Musik etwas ge-
leistet, wehrt er eifrig von sich ab, aber die Malerei hat er
278
Xavier de Maistre.
betrieben, über die Malerei bat er viel nacbgeclacbt, über sie
auch Geschrieben.
Dante hat gemalt, Goethe, Andre Chenier, Washington
Irvinof, Thackerav. Mehrere unter ihnen haben eine Zeit lanor
oeschwankt, ob Poesie oder Malerei ihr Beruf sei; auch Xavier
de Maistre hat über diese Kunst offenbar mehr nachgedacht
als über die, durch welche er seinen Kuhm erlangen sollte. Im
Schreiben hat er sich ah keinen Meister angelehnt, sondern,,
ein echtes Kind der Neuzeit, auf eigene Füfse sich stellend,'
nur den Stimmen gelauscht, die ihn in seinem Innern zum
Schaffen antrieben.
Wir werden aber auch mit denen bekannt, die ihn um-:
nreben, mit seinem Hund und mit seinem Diener Joannetti. Ein
sanfter Humor schwebt über den Zeilen, wo er eine Thräne;
vergiefst, weil er den treuen Joannetti ungerecht ausgescholten |
hat. Joannetti hat sich schelten lassen und hat nichts gesagt, >
obo^leich er wohl wufste, wie sehr sein Herr unrecht hatte. Und]
noch eine Thräne vers^iefst er, als er den armen Jakob aus;
Chambery hart angefahren hat und sehen mufs, w^ie sein Diener
und Rosine, seine Hündin, sich des Armen annehmen und ihmj
eine Lektion in der ^Menschlichkeit geben.
Doch weit öfter als diese Gefühlsseligkeit zeigt er einj
schalkhaft lächelndes Antlitz. Wenn Josephs und Xaviers Seelenj
sich hätten vermählen können, so wäre die des Jüngeren das]
weibliche Element bei dieser Ehe gewesen.
Das Oriorinellste auf seiner Reise sind die Entdeckungen]
über sein Doppehvesen. Mit erstaunter Miene wie ein Kindl
bemerkt er, dafs er aus l'äme und la bete oder l'autre bestehe.!
„La bete," sagt er, „ist ein vollständig von der Seele unter-j
schiedenes Wesen, ein wirkliches Individuum, das sein beson-
deres Leben, seine Neigungen, seinen W^illen hat, und das
über anderen Tieren nur deshalb steht, weil es besser erzogen]
und mit vollkommneren Organen versehen ist."
„kleine Herren und Damen," ruft Xavier schalkhaft au;
„seien Sie stolz auf Ihren Geist, so viel Sie wollen, aber mifs-
trauen Sie dem anderen, besonders wenn Sie zusammen sind!'
Nach ihm besteht die grofse Kunst eines geistreichen Mannes
darin, sa bete so zu erziehen, dafs sie ganz allein gehen kann.
Xavier de Maistre. 279
während die Seele, von diesem peinlichen Anhängsel befreit,
sich zum Himmel aufschwingt. Um die Sache versländlich zu
machen, erinnert er daran, dafs „der andere" oft eine ganze
Seite herunterliest, ohne dafs die Seele sich dabei beteiliot: der
andere hat einmal von der Seele den Auftras; bekommen und
thut auch seine Schuldigkeit, während jene abwesend ist.
Einmal giebt seine Seele „dem anderen" die Weisung, nach
dem königlichen Hof zu gehen; sie selbst aber erhebt sich als-
bald ins Reich der Gedanken. Der andere «jeht seinen Weof,
und als die Seele ihn wieder einholt, steht er, eine halbe Meile
vom Königsschlofs entfernt, vor der Thür der Frau von Haut-
castel.
„Der Leser möge sich denken," fügt Xavier hinzu, „was
wohl geschehen sei, wenn der andere ganz allein bei einer
so schönen Dame eingetreten wäre."
, Welches Vergnügen empfindet der andere bei dem An-
blick des Bildes dieser schönen Dame, in welcher Verzückung
trifft ihn die Seele, als sie aus ihrem Phantasiereich zurück-
kommt, und wie warm teilt sie den Genufs des anderen !
Und dieses Bild — es ist wie alle solche Porträts, es
lächelt alle auf einmal an, die es betrachten, und es scheint
doch nur einem einzigen zuzulächeln. Armer Geliebter, der du
glaubst, dafs sie dich allein ansehe!"
Doch fjanz ohne Gefahr ist das ßeiscn Im Zimmer auch
Cr
nicht; fast wäre Xavier durch die Unbesonnenheit des anderen
dabei ums Leben gekommen. Der arme Jakob steckte den
Kopf zur Thür herein, und la bete drehte, ohne daran zu
denken, dafs ein Backstein hinter ihr im Fufsboden fehle, den
Lehnstuhl so rasch herum, dafs de Maistre um- und aus seiner
Kalesche herausgeschleudert wurde.
Den anderen darf aber niemand einfältig nennen. Bei
einem Wortstrelt mit der Seele — ein Wortstreit, eine Tren-
nung Ist bei ihnen gar nicht selten — mufs die erstere bald
zum Rückzug blasen , den sie denn auch glücklich dadurch
bewerkstelligt, dafs sie dem anderen mit Kaffee unter die
Nase geht.
Die Gedanken sind Immer fein und humoristisch, oft auch
enthalten sie in ihrer leichten naiven Form tiefsinnig philo-
280 Xavier de Maistre.
sophische Wahrheiten. Nur dann verläfst Xavier auf einen
Ausrenblick der Humor, wenn er an die Revolution, die er so
ZU saoren geschwänzt hatte, an die Knechtschaft seines Vater-
OD '
landes, an das Elend der Armut und an den Tod seines Freundes
denkt. Da beherrschen ihn Zorn und Rührung. Über alles
tröstet ihn sein Glaube an die Unsterblichkeit, dem das schönste
Kapitel gewidmet ist.
Im Grunde seines Herzens ruht eine milde Traurigkeit, die
sein freundlicher Geist hinwegscherzen will. Im lächelnden
Auge steht die Thräne sanfter Rührung. Dabei ist nichts ge-
macht, nichts anspruchsvoll, alles einfach, bescheiden und natur-
wahr, wie Xaviers eigener Charakter.
Als Savoyen im Jahre 1796 durch den Separatfrieden von
Turin mit Frankreich vereinigt wurde, glaubte der Graf Xavier,
der in Piemont diente, dafs er seinem Vaterland entsagen müsse,
dessen eine Hälfte, wie er sagte, ihn selbst verlassen habe.
Die Kriege der Franzosen trieben ihn aus Italien hinweg. Er
wanderte aus nach Rufsland, nur mit leichtem litterarischen
Gepäck, vielleicht mit den ersten Kapiteln der „nächtlichen
Entdeckungsreise", aber sicherlich nicht mit „der Gefangenen
von Piornerol", von der er in seiner Reise um mein Zimmer
spricht, noch auch mit dem Gedichte in 24 Gesängen, das er
im 11. Kapitel der Entdeckungsreise erwähnt, denn er hatte
diese Sachen gar nicht geschrieben und sprach nur aus Scherz
davon. Im Norden angekommen, hatte er zuerst die Absicht,
sich mit seinem Pinsel zu ernähren, aber das Glück war ihm
günstig: er konnte den Degen behalten; er stand als Hauptmann
unter Suworow, dem er in Petersburg 1801 die Augen schlofs,
und stieg allmählich bis zu dem Rang eines Generals empor.
Dafs er bei gefährlichen Kämpfen gewesen, beweist die schwere
Wunde am rechten Arm, die er bei der Belagerung der Festung
Achalzi«: in Georo^ien im Dezember 1810 erhielt.
Sein Glück vollendete sich, als er im Jahre 1812 Fräulein
Zagriatzky, eine Ehrendame der kaiserlichen Majestäten, hei-
ratete. Ste. Beuve rühmt ihre edle Seele und ihre hohe slavische
Schönheit und erzählt, wie Xavier de Maistre selbst, als er im
Jahre 1839 bei seinem Aufenthalt in Paris seine Frau einmal
ins Zimmer treten sah, über ihre Schönheit entzückt gewesen sei.
Xavier de Maistre. 281
Zwanzig Jahre waren vergangen, seit er die Keise um
mein Zimmer geschrieben hatte, da befand er sich eines Tages
— es war im Jahre 1810 — in Petersburg in einer Gesell-
Schaft, in der sein Bruder auch war. Die Unterhaltung kam
auf den Aussatz der Hebräer, und einer sagte, diese Krankheit
gäbe es nicht mehr; dem konnte nun Xavier widersprechen,
denn er hatte den Aussätzigen von Aosta gekannt. Er sprach
davon mit solchem Eifer, dafs es alle Anwesenden mächtis:
interessierte, und er selbst fafste den Gedanken, die Geschichte
jenes Unglücklichen zu schreiben ; sein Bruder ermutigte ihn
und lobte auch den ersten Entwurf, der auf seinen Rat nachher
etwas verkürzt wurde. Joseph übernahm auch zum zweitenmal
Patenstelle und liefs die Schrift in St. Petersburg um 1811
drucken, indem er „die Eeise" dazufügte; in Frankreich aber
sind „die Reise" und „der Aussätzige" erst etwa um 1817 be-
kannt geworden.
Die Geschichte des Aussätzigen ist wahr, ebenso wie die
der jungen Sibirierin, die der Schriftsteller teilweise von ihr selbst
gehört hatte. Alles ist wahr bei ihm, nichts Romanhaftes; er
schreibt die Wirklichkeit ab, aber er ist deshalb kein Zola.
Das Ideale bei ihm liest in der Wahl, die er in Bezuo- auf
seinen Gegenstand trifft, und vorzüglich in einem gewissen
menschlich warmen und religiösen Ton, den er über denselben
ausbreitet. Die Natur sitzt bei ihm Modell, aber er nimmt die
Erscheinungen der Natur, die erheben, und nicht die, welche
herabziehen. Er sucht nicht das Häfsliche und Schreckliche,
sondern besonders das Naive und das Menschliche.
Der arme Aussätzige wohnte, ehe er nach Aosta kam, in
Oneille. Als die Franzosen nach der Besetzung Savoyens und
Nizzas bis Oneille kamen, wo di,eser Unglückliche lebte, da er-
schrak derselbe, er hielt sich auch für bedroht und wollte nun
auswandern wie die anderen. Eines Tao;es kam er zu Fufs
nach Turin. Die Schildw'ache hielt ihn am Thore an, und als
man sein Gesicht gesehen hatte, liefs man ihn zwischen zwei
Soldaten' zum Gouverneur führen, der ihn ins Krankenhaus
schickte. \''on da brachte man ihn nach Aosta, wo er auf Be-
fehl wohnen mufste. Dort hat ihn de Maistre oft gesehen. Wie
man sich denken kann, hatte der Aussätzioje einen ziemlich be-
282 Xavior de Maistre.
schränkten Ideenkreis; der Autor hat denselben etwas erweitert,
indem er ihm alle die Gedanken beilegte, welche aus seiner
La^re sich von selbst erspähen. Die Wohnunoj des Armen war
vollständig einsam; ein junger Offizier, vielleicht der der Frau
von Hautcastel, hatte dort gern mit der Dame, die er liebte,
Zusammenkünfte hinter den Eosenbüschcn dieses Gartens; dort
waren sie jranz sicher. Das höchste Glück lebte unter dem
Schutz der höchsten Verzweiflung.
Noch schwieriger als die Reise läfst sich der Aussätzige
analysieren. Nach einer Beschreibung des Turmes, in welchem
der Arme lebt, erzählt de Maistre, wie im Jahre 1797 ein
junger Offizier in den Garten desselben eintritt und so plötzlich
dem Aussätziiren fregenübersteht. Das Schicksal des Mannes
ergreift ihn ; er hört, wie derselbe sich beschäftigt, welche grau-
san:sen Qualen er empfindet, wie er seinen Hund und dann wie
er, was für ihn das Schrecklichste gewesen ist, seine Schwester
verloren hat. Es ist ein Abgrund des Elends, der sich vor uns
eröffnet, aber immer gemildert durch den freundlichen Schein
einer echt religiösen Lebensanschauung. Man höre nur folgende
Stelle:
„Das öde Leben, zu dem ich verurteilt bin, fliefst viel
rascher dahin, als man sich denken sollte; und das will viel
sagen," fuhr der Aussätzige mit einem leichten Seufzer fort,
„denn ich gehöre zu denen, die nur reisen, um anzukommen.
Mein Leben ist ohne Abwechselung, meine Tage ohne Unter-
schiede, und durch diese Eintönigkeit erscheint die Zeit kürzer,
ähnlich wie ein Land durch seine Nacktheit weniger ausgedehnt
erscheint."
Die Wirkung, welche „der Aussätzige" auf einfache Gemüter
hervorbringt, hat vielleicht niemand besser ausgedrückt als
Töpflfer in seiner reizenden Novelle „der grofse St. Bernhard".
Ein junges Mädchen, das er auf dem St. Bernhard getroffen
hat, führt er unter die Bäume des Turmes, unter denen viel-
leicht der Aussätzige gesehen hatte, wie die junge Frau
ihr Köpfchen an die Brust des Gatten drückte, ein
Anblick, der dem Unglücklichen fast das Herz abprefste und
ihn der Verzweiflung nahe brachte. Dort liest er ihr die Ge-
schichte vor: zuerst ist sie zerstreut, dann überrascht, ihre
i
Xavler de Maistre. 283
Seele, die vorher nichts von Poesie kannte, öffnet sich derselben,
ihr Antlitz glänzt vor Freude, aber die Seiten werden düsterer
und düsterer, ThrUnen treten ihr in die Augen, und als dem
Unglücklichen die Schwester sterben will, da bricht sie in lautes
Weinen aus. Sie bittet aufzuhören. In ihr aber ist ein neues
Gefühlsleben aufgegangen, das Töpffer jedoch, der Redliche,
nicht zu seinem Vorteile benutzt.
Der Aussätzige ist eine schöne Lektüre, sie hat etwas Be-
ruhigendes in sich wie ein Gebet.
In der Litteratur hat das Büchlein ordentlich Schule ge-
macht, es giebt eine ganze Anzahl von kleinen Romanen, in
denen das Interesse erweckt wird durch den Gegensatz, in den
ein physisches Leiden zu den Empfindungen der Seele tritt;
aber „der Aussätzio-e" ist kein Roman und will auch keiner sein.
Zu den Vorfahren des Aussätzigen können wir „den armen
Heinrich" rechnen.
Während „die Reise" ein Monolog, „der Aussätzige" ein
Dialog ist, sind „die junge Sibirierin" und „die Gefangenen
des Kaukasus" Erzählungen. Er schrieb sie um das Jahr 1820
auf die Bitte einiger Freunde und einer nahen Verwandten zulieb,
der er sie als Eigentum übermachte; er gab sie ihnen, damit
sie in Paris veröffentlicht würden. Auch diese beiden Ge-
schichten zeigten, dafs seine feine Art zu schreiben nicht zu-
fällig, sondern eine Gabe war, die ihn auch wohl noch zu
anderen Werken hätte befähigen können.
Die junge Sibirierin ist vielleicht am besten charakterisiert
durch die wenigen Worte, die Xavier de Maistre als Einleitung
giebt. „Der Mut eines jungen Mädchens, das gegen Ende der
Reffieruno; Pauls I. aus Sibirien zu Fufs los wanderte, um in
St. Petersburg Gnade für ihren Vater zu erflehen, hat seiner
Zeit ein so grofses Aufsehen erregt, dafs eine berühmte Schrift-
stellerin — es ist Madame Göttin — aus dieser interessanten
Reisenden eine Romanheldin gemacht hat. Die aber, welche sie
gekannt haben, bedauern, dafs Liebesabenteuer und romanhafte
Ideen einer edlen Jungfrau angedichtet sind, die niemals eine
andere Leidenschaft kannte als die reinste Kindesliebe, und die
ohne Stütze, ohne Rat, in ihrem eigenen Herzen den Gedanken
zu der edelsten That und die Kraft zur Ausführung derselben
284 r^avier de Maistre.
fand. Wenn der Bericht von ihren Erlebnissen nicht jenes
Überraschende bietet, das ein Romanschreiber für erfundene
Personen zu erwecken versteht, so wird man doch vielleicht mit
einio-eni Versnüiren die einfache Geschichte ihres Lebens lesen,
die an sich schon interessant genug ist, ohne anderen Schmuck
als die Wahrheit."
Es ist die Wahrheit, aber die anmutige Wahrheit, wie
Xavier de Maistre die Wanderung des iNIädchens erzählt von
den Grenzen des Regierungsbezirks Tobolsk bis zu den Stufen
des Kaiserthrons in Petersburg, wie er die Fährlichkeiten be-
schreibt, die sie zu besiegen hatte, die Personen, die freundlich
oder feindlich mit ihr zusammentrafen, und besonders wie er
ihren einfachen und rührenden Charakter voll alles überwindender
Kindesliebe und felsenferten Vertrauens zu Gott schildert.
Als Prascovia — so heifst die Sibirierin — einmal ein
frrofses Bild sieht, auf dem Silen orestützt von Bacchantinnen
dargestellt ist, ruft sie erstaunt aus : Das ist also alles nicht
wahr? Diese Menschen da mit Ziegenbeinen? Welche Thorheit
Dinge zu malen, die nie dagewesen sind, als ob es an wirk-
lichen Dingen fehlte!" — Derselben Meinung ist de Maistre,
und seine wirklichen Dinge sind nicht einseitig. Er weifs die
verschiedenen Seiten des menschlichen Lebens zu einem schönen
Ganzen zu vereinen. Er stellt nicht allein den glühenden
Glauben und den Heldenmut des Mädchens dar, sondern er
weifs auch heitere Züge, er weifs auch die kleinen Schwächen
des Plerzens mit hineinzubringen, und unter einer Thräne der
Rühruno^ schaut bisweilen der schalkhafte Beobachter, den wir
aus der Reise um mein Zimmer kennen, wieder hervor. Den
Frauen ist das Buch geweiht, besonders Frauen werden Pras-
covia immer o-ern auf ihrer Wanderung^ begrleiten.
AVie die junge Sibirierin, so spielen auch „die Gefangenen
des Kaukasus" in russische Verhältnisse hinein, und hier zeigt
sich, dafs der sonst so sanfte und liebensw^ürdige Schriftsteller,
wenn es die Wahrheit verlangt, auch nicht vor den furchtbarsten
Scenen zurückschreckt.
Der russische Major Kaskambo hat sich, um seine Kosacken
vor Vernichtung zu retten , dem wilden Stamme der Tscha-
tschenzen als Gefangener ausf{eliefert. Sein Bursche, der das
Xavier de Maistre. 285
Geschick seines Herrn erfährt, folgt ihm und teilt sein Los.
Der Major erliegt beinahe der schlechten Behandlung, während
Iwan, sein Bursche, täglich auf Rettung sinnt. Anfangs spielt
dieser den Possenreifser, dann wird er Mohammedaner, und end-
lich ist der Tag der Befreiung gekommen. Die Männer des
Stammes sind auf einen Raubzug ausgeritten, nur der alte
Wächter mit seiner Tochter und deren kleinem Sohn sind in
der Hütte. Dieser Kleine ist der einzige gewesen, der sich
gegen den Major freundlich erwiesen hat, er hat ihm heimlich
Kartoffeln aus der Asche geholt, wenn der Arme nahe am Ver-
hungern war, er hat mit ihm gespielt, er hat ihn seinen Koniak,
seinen Freund, genannt.
Um sich, ohne Verdacht zu erregen, verständigen zu können,
haben die beiden Gefangenen oft in russischer Sprache Lieder
zur Laute gesungen, deren Text ihre vertraulichen Mitteilungen
waren. Iwan fordert Kaskambo auf, die Laute zu schlagen,
und nach den Weisen eines Liebesliedes mit dem Refrain von
hai luli, hai luli teilt er ihm den furchtbaren Plan mit, dafs er
ihren Wächter mit einer Axt erschlagen will.
Der Major mufs spielen, damit sich der Bursche unbemerkt
im Tanze der Axt nähern kann ; endlich ergreift er sie auch,
aber der Major verliert in dem Augenblicke die Besinnung und
hört auf zu spielen. Kaltblütig lehnt Iwan das Werkzeug des
Todes hinter sein Opfer an den Holz block und tanzt weiter,
bis er wieder an die Stelle kommt und unter hai luli, hai luli
den Alten über den Kopf schlägt, dafs er tot in das Herdfeuer
stürz,t, welches er eben schüren will. Ebenso erschlägt er die
Tochter, die ins Zimmer hereinschaut, ebenso trotz aller Bitten,
trotz aller Drohungen des Majors den kleinen Knaben.
„Bis wir frei sind," sagt der Schreckliche, „ist jeder Mensch,
den ich treflfe, ein Kind des Todes oder ich falle von seiner
Hand."
Nach ungeheuren Mühseligkeiten, die bis zuletzt die Span-
nuns: wie in einem wohlangeleo^ten Roman erhalten, erreichen
beide ihr Vaterland.
In einem fein scherzenden Tone nach Xavier de Maistres
Art verklingt zuletzt das Ganze. De Maistre selbst hat eine
unbesonnene Frage an Iwan, ohne ihn zu kennen, gerichtet;
286 Xavier de Maistre.
Iwan sieht ihn schief an und brummt hai luli, hai luli zwischen
den Zähnen.
Der Schriftsteller schliefst: „Der Neugierige stieg wieder
in seinen Schlitten, ganz glücklich darüber, dafs er keinen Axt-
hieb über den Kopf bekommen habe."
Als diese beiden Werke in Paris im ^Manuskript ankamen,
erregten sie bei einigen Kennern zuerst Anstofs. Man fand
an Prascovias Ungeschicklichkeit im Betreiben ihrer Angelegen-
heit in Petersburg und an diesem entsetzlichen Menschen,
diesem Iwan, der eine Frau und ein unschuldiges Kind er-
schlägt, viel auszusetzen. Herr Valery aber, dem die Hand-
schrift anvertraut war, hatte eine entgegengesetzte Meinung; er
fühlte das Wahre, das realistisch Berechtigte in diesen Dar-
stellungen, und ihm verdanken wir es, dafs die beiden Werk-
chen in der ihnen von Xavier de Maistre gegebenen Gestalt
erschienen.
Bald darauf kam der Schriftsteller selbst nach Paris zu-
rück. Lamartine, der mit ihm verwandt war, hat diese Rück-
kehr in einer seiner „Harmonien" auf rührende Weise gefeiert.
De Maistre hat selbst manche Verse geschrieben, aber
wenn man in ihn drang, dieselben zu veröffentlichen, lehnte er
mit den Worten ab: die Mode hat sich geändert. Einige
Fabeln des russischen Dichters Kriloff hat er übersetzt und
nachgeahmt, auch einige geistreiche Epigramme verfafst. Seine
Grabschrift erinnert etwas an die Lafontaines. Die ersten Verse
davon lauten:
Ci-git sous cette pierre grise
Xavier qui de tout s'etonnait,
Demandant d'oü venait la bise
Et pourquoi Jupiter tonnait.
Ein längeres Gedicht, der Schmetterling, ist von Ste. Beuve
mitgeteilt. Ein Gefangener hatte dem Dichter erzählt, dafs in
Sibirien eines Tages ein Schmetterling in sein Gefängnis hin-
eingeflogen sei. Byron hat ähnliches in seinem Prisoner of
Chillon gesungen. Beide Gefangene sind erstaunt darüber, wie
der geflügelte Gast in die Kerkergruft gekommen sei, beide
glauben, es sei aus Freundschaft zu ihnen, beide wollen nicht,
dafs die zutraulichen Tierchen die trostlose Gefangenschaft mit
Xavier de Maistre. 287
ihnen teilen. Während bei de Maistre die Gedanken sich
so anmutig und rührend bis ans Ende fortspinnen, erheben sie
sich bei Byron mit Macht aufwärts. Bonivard hält den Vogel
für seines Bruders Seele, der aus dem Paradies zu ihm herab-
gekommen sei, und als derselbe ihn endlich verläfst, da fühlt
er sich doppelt allein, allein wie der Leichnam im Leichentuch,
allein wie eine einsame Wolke, eine einzio;e Wolke an einem
sonnigen Tage, wenn der ganze Himmel sonst rein ist. — Bei
de Maistre erwacht der Gefangene auch aus seinem Traume,
der ihm unter der Leitung des Schmetterlings seine Gattin,
seine beiden Kinder, ja die Freiheit zeigte ; er hört die Ketten
klirren, und der Schmetterlino[ entflieo:t.
' CO
Xavier ist einmal kein Vulkan wie Byron, er streut nur
Blumen aus, während jener Blitze schleudert.
Sein Gedicht ist ins Russische übersetzt und von einem
Sekretär der französischen Gesandtschaft in Petersburg, der das
Original nicht kannte, wieder zurück ins Französische.
Xavier scherzt in seiner feinen, etwas malltiösen Weise
über seine geringe Begabung zum lyrischen Dichter; er macht
sich dabei unbedeutender als er ist. Er schreibt: „Da ich die
Gabe des Dichters nicht begreifen kann, und da ich diese her-
vorragende Eio;enschaft an anderen nicht ofern zugestehen möchte,
so denke ich, dafs die Dichter etwas im Handgelenk haben,
w-as die Prosa auf ihrem Wege vom Kopf zum Papier in Verse
verwandelt, so dafs ein Dichter nur eine mehr oder weniger
vollkommene Drechselmaschine wäre. Ich war von diesem für
Prosaschreiber so tröstlichen System dermafsen überzeugt, dafa
ich eines Tages versuchte, mit der Linken zu schreiben, in der
Hoffnung, dafs ich diesen günstigen Mechanismus vielleicht
herausfände, aber meine linke Hand war nicht glücklicher als
meine rechte, und ich bin seitdem überzeugt, dafs ich keine
Versedrechselmaschine bin. Ich mufs sogar gestehen, dafs
dieser Mifserfols: mir einige Zweifel über mein Svstem einge-
geben hat."
An wichti oberen Schriften ist noch ein Brief vorhanden, der
für die Geschichte des Rückzugs aus Rufsland im Jahre 1812
gewisse Bedeutung hat.
1813 machte er den Krieg in Deutschland mit als Quartier-
288 Xavier de Maistre.
raeister bei dem Corps des Feldmarschall-Lieutenant Walmoden
und wurde, zum Generalmajor befördert, im August nach Danzig
ixeschickt. Bald darauf nahm er seinen Abschied.
Er lebte dann in Moskau und Petersburg; als ihm aber
hier zwei seiner Kinder durch den Tod entrissen und die beiden
anderen von einer hartnäckioren Krankheit befallen wurden, da
reiste er um 1825 in die Heimat und hielt sich nun abwechselnd
in Pisa, Lucca, Livorno, Rom, Neapel und Castellamare auf.
Aber seine Hoffnung, die er auf die Einwirkung des milden
Klimas Italiens gesetzt hatte, ging nicht in Erfüllung; seine
Tochter verlor er in Livorno, seinen Sohn in Neapel, und fast
gebrochenen Herzens verliefs er auf Nimmerwiedersehen den
vaterländischen Boden. Er wollte seiner Gattin den Wunsch
erfüllen, in ihrer Heimat den Kest ihrer Tage beschliefsen zu
können.
Auf der Rückreise nach Petersburg im Jahre 1839 hielt
er sich mehrere Monate in Paris auf, und diesem Aufenthalt
verdanken wir die schöne Skizze, die Sainte Beuve von Xavier
de Maistre entworfen hat, und die auch dieser Arbeit zu
Grunde liegt.
Wenn der Graf sein eigenstes Wesen schon in seiner Reise
um mein Zimmer offen dargelegt hat, so wird diese Schilderung
noch in voller Übereinstimmung damit durch den Pariser Litterar-
historiker ergänzt.
Die neueren Schriftsteller hatte Xavier kaum gelesen, und
als er die Werke, die gerade in der Mode waren, durchblätterte,
erschrak er zuerst darüber, weil er glaubte, dafs sich in seiner
langen Abwesenheit die Sprache ganz geändert hätte.
„Doch das tröstet mich etwas," fügte er hinzu, „dafs,
wenn man auch anders schreibt, die Leute, mit denen ich
zusammenkomme, doch noch dieselbe Sprache sprechen
wie ich."
Als er in die Kammer der Abgeordneten geführt wurde,
wufste er zuerst gar nicht, was er zu den langen und vielen
Reden sagen sollte. Er war an das Schweigen der unum-
schränkten Monarchie gewöhnt, er begriff nicht recht, wozu der
viele Wortlärm nützen solle. Jedesmal wenn er an dem Hause
der Abgeordneten vorüberging, erinnerte er sich unwillkürlich
Xavier de Maistre. 289
an den Vesuv. Ebensowenig Hebte er den Quai Voltaire.
Wenn er ihn überschreiten mufste, senkte er das Haupt und
wandte' seine Blicke nach der Seine.
Das läfst sich alles leicht begreifen nach dem, was wir
aus seiner Reise wissen und wenn wir die srofse Bewunderuno;
in Betracht ziehen, die er den Werken seines Bruders entgegen-
brachte. Die Ideen Josephs erschienen ihm als die einfachsten,
als die von selbst oreo^ebenen.
Charakteristisch ist noch, wie stark er in Töpffer seinen
Wahlverwandten fühlte. Wenn ihn jemand nach seinem letzten
Werke fragte, pflegte er wohl zu antworten; es sei „das Pres-
byterium" oder „die Bibliothek meines Onkels'' oder „der Col
von Anterne" oder „der See von Gers", lauter Werke von
Töpffer. Er wünschte, dafs dieser Genfer Dichter in Frank-
reich bekannt würde. Nachdem Töpffer im Stil und im Ton
einige Veränderungen vorgenommen, wurde er in Frankreich,
besonders mit auf de Maistres Bemühungen hin, naturalisiert.
Xavier de Maistre war eine Erscheinung, die mit der
menschlichen Natur versöhnen raufs. Als er in Petersburg kurz
nach dem Tode seiner treuen Sophie am 12. Juni 1852 die
Augen schlofs, hatte die Welt einen der liebenswürdigsten
Menschen und Schriftsteller nicht allein französischer, sondern
aller Sprachen zu beklagen.
Moore bei dem Tao^esgebrause der naturalistischen Wort-
führer in Paris nie ganz die sanfte Stimme echter und edler
Sentimentalität übertönt werden!
Aicliiv f. n. Sprachen. LXXltl. « 19
Das Leben des heiligen Alexis.
Mit Beifügung des altfranzösischen Originals (aus dem 11. Jahrhundert),
nach der Ausgabe von Graston Paris,
übersetzt von
Theodor Vatke.
1 Gut war die Welt dereinst in alter Zeit,
Da Lieb und Treu es gab, Gerechtigkeit,
Da war auch Glaube da, der heut nichts gilt;
Verwandelt alles ist, entfärbet ist das Bild,
Nie wieder kehret die Vergangenheit.
2 Zu Noahs Zeit, zur Zeit des Abraham,
Davids, die Gott in seine Liebe nahm,
War gut die Welt: nie wird so brav sie sein.
Alt ist sie, gehet zur Verderbnis ein,
Weil alles stets zu schlimmrem Ende kam.
3 Nach jener Zeit, da uns erlöst der Herr,
Und unsre Väter nahmen Christi Lehr,
Da war ein hoher Herr zu Rom, der Stadt,
Mächtig, der manchen Ahn zu rühmen hatt' :
Von seinem Sohne nun vernehmt die Mär.
4 Eufemius — dies des Vaters Name war —
War Graf zu Rom und von den Besten gar :
Der Kaiser liebte keinen so wie ihn.
Ein edles Weib auch wählete sein Sinn,
Der besten eins, die jenes Land gebar.
ö So lebten sie beisammen manchen Tag,
Doch ohne Kind, das war stets ihre Klag'.
Und Gott anrufen sie von Herzensgrund:
„0 Himmelskönig, segne unsern Bund,
Gieb uns ein Kind, das dir gefallen mag."
La Vie Saint Alexis.
1 Bons fut li siecles al tens ancienor,
Quer feit i ert e justice et amor,
Si ert credance, dont or n'i at nnl prot:*
Tot est mudez, perdude at sa color;
Ja mais n'iert tels com fut as anceisors.
2 AI tens Noe et al tens Abraham,
Et al David que Dens par amat tant,
Bons fut li siecles: ja mais n'iert si vailanz.
Vielz est e frailes, tot s'en vait declinant,
Si'st empeiriez tot bien vait remanant.
3 Pois icel tens que Deus nos vint salver,
Nostre anceisor ovrent cristientet,
Si fut uns sire de Rome la citet;
Riches hom fut de grant nobilitet:
Por 90 l'vos di, d'un son fil voil parier.
4 Eufemiens — ensi out nom li pedre —
Cons fut de Rome del mielz qui donc i eret ;
Sor toz ses pers l'amat li, emperedre.
Donc prist muilier vailant et honorede,
Des mielz gentils de tote la contrede.
5 Pois converserent ensemble longement;
Que enfant n'ovrent peiset lor en forment.
- Den en apelent andoi parfitement:
„E reis Celestes, par ton comandement
Enfant nos done qui seit a ton talent."
* Cfr. Chans de Roland (ed, Gautier) v. 2905 nen i ad nul si prud.
V. 3-459 mult graut prud i avreiz.
19*
292 Das Leben des heiligen Alexis.
6 So baten sie in grofser Demut ihn,
Es sei doch Friichtbarkoit dem Weib verliehn.
Es kommt ein Sohn, man weifs viel Dank dem Herrn,
Bringt in der heil'gen Taufe dar ihn gern,
Dafs er mit frommem Namen Christo dien.
7 Er ward getauft, ward Alexis genannt;
Die ihn getragen gern ihm Nahrung fand; ^
Der gute Vater drauf zur Schul ihn schickt.
Wo er gar bald des Wissens Licht erblickt ;
Zu Dienst wird er zum Kaiser drauf gesandt.
8 Der Vater sieht, es bleibt sein einzig Kind,
Das seine Liebe immer mehr gewinnt;
Und er erwägt die Zukunft drauf bei sich,
Dafs er ein Weib nehm, wünscht er inniglich :
Kauft ihm ein edles Frankenkind geschwind.
9 Das Mädchen nun gar hohe Abkunft hat,
Ist Grafentochter traun in Rom der Stadt,
Das einz'ge Kind, das er in Ehren hält.
Die Väter nun, sie haben's beid' erwählt.
Die Lieben zu vermählen hält man Rat.
10 Den Zeitpunkt der Verein'gung man bespricht,
Wie sich's geziemt wird alles zugericht'.
Herr Alexis hat lieblich sie gefreit;
Doch seinem Sinn liegt Ehebund sehr weit;
Denn immerdar läfst er von Gotte nicht.
11 Als nun der Tag vorbei, als kam die Nacht,
Der Vater spricht: „Nun sei zur Ruh gebracht
Mit deinem Weib, wie Gott vom Himmelsthron
Befiehlt." Nicht will des Vaters Zorn der Sohn,
Er geht zur Kammer, wo sein Weibchen wacht.
12 Er sieht das Bett, das Mädchen sieht er drin.
Doch kommt des Himmels Herr ihm in den Sinn,
Der teurer ihm als alles ird'sche Gut ;
,,0 Gott,*' sagt er, „wie Sünde fafst mein Blut!
Entflieh ich nicht, ich los von Gotte bin."
13 Wie in der Kammer sie so ganz allein,
Läfst sich Alexis nun in Rede ein ;
Des Menschen Leben er zu schmähn beginnt,
Auf das zu weisen, das niemals verrinnt.
Doch möchte er gar bald gegangen sein.
Das Leben des hoilioren Alexis. 293
o
6 Tant li preierent par grant hiimilitct
Qne la muilier donat feconditet :
ün fil lor donet, si Ten sovrent bon gret ;
De Saint batesme l'ont fait regenerer:
Bei nom li metent snlonc cristientet.
7 Fut batiziez, si out nom Alexis.
Qui l'out poltet volentiers le nodrit ;
Pois li bons pedre ad escole le mist:
Tant aprist letres que bien en fut guarniz;
Pois vait li enfes l'emperedor servir.
8 Quant veit li pedre que mais n'avrat enfant
Mais que eel sol que il par amat tant,
Donc se porpenset del siecle a en avant :
Or voll que prenget muilier a son vivant,
Donc li achatet filie d'un noble franc.
9 Fut la pulcele de molt halt parentet,
Filie ad un comte de Rome la citet:
N'at plus enfant, lei volt molt honorer.
Ensemble en vont li dui pedre parier,
Lor dous enfanz volent fair asembler.
10 Noraent le terme de lor asemblement ;
Quant vint al faire, donc le fönt gentement,
Danz Alexis l'esposct belement;
Mais de cel plait ne volsist il nient:
De tot en tot ad a Deu son talent,
11 Quant li jorz passet et il fut anoitiet,
Co dist li pedre: ..Filz, quer t'en vai colchier
Avoc ta 'spose, al comand Deu del ciel."
Ne volst-li enfes son pedre corocier,
Vint en la chambre od sa gentil muilier.
12 Com veit le lit, esguardat la pulcele,
Donc li remembret de son seinor Celeste
Que plus at chier que tot aveir terrestre :
„E Deus," dist il, „com forz pechiez m'apresset!
S'or ne m'en fui, molt criem que ne t'en perde."
13 Quant en la chambre furent tot sol remes,
Danz Alexis la prist ad apeler;
La mortel vide li prist molt a blasmer,
De la Celeste li mostret veritet,
Mais lui ert tart qued il s'en fust alez.
294 Das Leben iles heiligen Alexis.
14 „Älein Mädchen," sagt er, „den nimm zum Gemahl,
Des kostbar Blut erlöst' uns allzumal ;
In dieser Welt giebt's wahre Liebe nicht ;
Sie ist gar hohl und ihre Ehre bricht,
In Trauer löst sich ihre Freude all.
lö Als er nun seinen Sinn ihr ganz gezeigt,
Das Schwert sie ihm und das Gehänge reicht.
Und einen Ring, der sie mit ihm vermählt.
Drauf eilt er aus des Vaters Haus, das Freie wählt
Er und bei Nacht er schnell dem Land entweicht.
16 Drauf w^andert er gradwegs zum jNIeeresstrand,
Wo er ein Schiff bereit zur Reise fand;
Er zahlt sein Geld, betritt des Schiffes Bord,
Man reflft die Segel und bald geht es fort;
Dort, wo es Gott gefällt, steigt man ans Land.
17 Vor Lalic, einem schönen Orte, nun
Sieht wohlbehalten man das SchifJ'chen ruhn.
Und Herr Alexis drauf zu Lande eilt,
Doch weifs ich nicht, wie lang er dort verweilt:
Wo er auch ist, Gott dienet all sein Thun.
'1
18 Drauf geht nach Alsis er, dem schönen Ort,
Ein Bild zu schaun, von dem er hörte dort,
Das Engel schufen, wie's befohlen Gott,
Im Namen der Jungfrau, die Heil uns bot,
Die Ihn getragen nach des Herren Wort.
19 All den Besitz, den er noch bei sich trug,
Verteilet er, er hat mit nichts genug;
Almosen giebt er reichlich in der Stadt,
Wo immer Arme er gefunden hat:
Denn nach Besitz Alexis nimmer frug.
20 All sein Besitz hat er verteilet jetzt,
Alexis nun sich zu den Armen setzt,
Nimmt den Almosen, den ihm Gott beschert.
So viel, dafs er des Leibes Notdurft wehrt ;
Mit dem, was mehr, die Armut er ergötzt.
21 Vom Vater und der Mutter hört nun dies,
Und von dem Weib, das er zurücke liefs:
Als man, dafs er entflohen sei, vernahm.
Da waren grofs die Schmerzen und der Gram,
Und grofs im ganzen Land die Kümmernis.
Das Leben des heiligen Alexis. 295
o
14 ,,0z mei, piilcele : celui tien ad espos
Qui nos redenst de son sanc precios.
En icest sieele nen at parfite amor ;
La vide est fraile, n'iat durable honor,
Ceste ledice revert a grant tristor."
15 Quant sa raison li at tote mostrede,
Pois li comandet les renges de s'espede
Et nn anel dont il l'ont esposede.
Donc en eist fors de la chambre son pedre,
En niie nuit s'en fuit de la contrede.
16 Donc vint edrant dreitement a la mer;
La nef est preste ou il deveit entrer:
Donet son pris et enz est aloez.
Drecent lor sigle, laisent corre par mer,
La pristrent terre ou Deus lor volst doner.
17 Dreit a Laiice, iine citet molt bele,
Hoc arivet sainement la nacele.
Donc en eisit danz Alexis a terra;
Mais jo ne sai com longes i converset;
Ou que il seit de Deu servir ne cesset.
18 D'iloc alat en Alsis la citet,
Por une imagene dont il odit parier,
Qued angele firent par comandement Deu,
El nom la virgene qui portal salvetet,
Sainte Marie qui portat damne Deu.
19 Tot son aveir qu'od sei en out portet,
Tot le depart que giens ne l'en remest:
Larges almosnes par Alsis la citet
Donet as povres ou qu'il les pot irover:
Par nul aveir ne volt estre encombrez.
20 Quant son aveir lor at tot departit,
Entre les povres s'asist danz Alexis,
Receut l'almosne quant Deus la li tramist;
Tant en retint dont son cors pot guarir,
Se lui 'n remaint, si l'rent as poverins.
21 Or reviendrai al pedre et a la medre,
Et a la 'spose qui sole fut remese :
Quant il 90 sovrent qued il fuiz s'en eret,
(po fut granz dols qued il en demenerent,
Et granz deplainz par tote la contrede.
296 Das Leben des heiligen Alexis
o'
22 Der Vater sprach: „0 Sohn, den ich verlor."
Die Mutter drauf: „0 wehe, was ging vor?"
Es sprach das Weib: ..Das Unglück wirkte das!
Freund, edler Herr, wie kurz ich Euch besafs!
Kein giölser Leid als das, das mich erkor."
23 Der Vater dann, von Dienern treugesinnt
In vielen Ländern suchen läfst sein Kind :
Bis hin nach Alsis kommen ihrer zween,
Wo sie den Herrn Alexis sitzen sehn.
Doch sie erkennen nicht, bei wem sie sind.
24 So hat verwandelt er sein zart Gebein,
Nicht konnte er den Dienern kenntlich sein:
Ihm selber gaben sie Almosen hin,
Die er annahm mit demutvollem Sinn.
Die Diener schifften nun alsbald sich ein.
25 So also hatten sie ihn nicht erkannt;
Alexis dankt dafür, zu Gott gewandt,
Dafs er den Dienern sein ein Bettler ward,
Und, als ihr Herr, verkehrt nach Bettlers Art.
Wie's ihn erfreute hätt ich schwer bekannt.
26 Die Diener kehren drauf nach Rom der Stadt,
Und melden, dafs sich nichts gefunden hat:
Ob er betrübt war, danach fragt mich nicht,
Der guten Mutter schier das Herze bricht,
Sie jammert um den Sohn nun früh und spat.
27 „Alexis, Sohn, weshalb gebar ich dich?
Du bist entflohn und läfst im Kummer mich;
Ich w^eifs den Ort nicht, ich weifs nicht das Land,
Wo du zu suchen und wo du bekannt.
Nie freut dein Vater, nie die Mutter sich."
28 Zur Kammer geht sie ganz voll Kümmernis,
Wo in Verzw^eifhing sie nichts übrig liefs ;
Nicht Seide bleibet da, nicht Schmuck und Zier,
So voller Schmerzen ist das Herze ihr,
Und alle Freude sie von dannen wies.
29 „Dich, Kammer," sagt sie, „schmück ich nimmerdar,
Auf immer seist du aller Freude bar."
Das Leben des heiligen Alexis. 297
22 (^0 dist li pedre: „Chiers filz, com t'ai perdut!"
Respont la medre: „Lasse, qu'est devenuz?"
^o dist la 'spose: „Pechiez le m'at tolut.
Amis, bels sire, si poi vos ai out!
Or sui si graime que ne pois estre plus."
23 Donc prent li pedre de ses raeilors serjanz ;
Par moltes lerres fait querre son enfant.
Jusqu'en Alsis en vindrent dui edrant;
Hoc troverent dan Alexis sedant,
Mais n'en conurent son vis ne son semblant.
24 Si at li enfes sa tendre charn mudede,
Ne Treconurent li dui serjant son pedre.
A lui medisme ont l'almosne donede;
II la receut come li altre fredre.
Ne l'reconurent, senipres s'en retornerent.
25 Ne l'reconurent ne ne l'ont enterciet.
Danz Alexis en lodet Deu del ciel
D'icez son sers cui il est almosniers.
II fut lor sire, or est lor provendiers;
Ne vos sai dire com il s'en firet liez.
26 Cil s'en repairent a Rome la citet,
Noncent al pedre que ne l'povrent trover;
S'il fut dolenz ne l'estot demander;
La bone medre s'en prist a dementer,
E son chier fil sovent a refjjreter:
27 „Filz Alexis, por quei t'portat ta medre?
Tu m'ies fuiz, dolente en sui remese.
Ne sai le leu ne nen sai la contrede
Ou t'alge querre; tote en sui esguarde.
Ja mais n'ierc liede, chiers filz, ne n'iert tes pedre."
28 Vint en la chambre, pleine de marrement.
Si la despeiret que n'i remest nient;
N'i laissat palie* ne neul ornement.
A tel tristor atornat son talent,
One pois cel di nes contint liedement.
29 „Chambre," dist ele, ,.ja mais n'estras parede,
Ne ja ledice n'iert en tei demenede."
* Cfr. Koland v. 408 Un faldestoel . . . Envolupet d'un palie alexandrin
(soie d'Alexandrie). 2973 palie galazin (soie de Galaza),
298 Das Leben des heiliircn Alexis
ö'
Zerstört, als hätten Räuber es gethan;
Und Säcke hängt, zerriTsnes Zeug sie an,
Nach grofser Freude grofs der Schmerz nun war.
30 Voll Schmerz setzt sich zur Erd' die Mutter hin,
Alexis' Weib zu ihr mit gleichem Sinn.
Sie sprach: „Grofser Verlust uns, Dame, ward:
Nun lebe ich nach Turteltauben-Art,
Gewähre mir, dafs ich bei dir nun bin."
31 Die Mutter sagt darauf: „bleibst du bei mir,
Geb um Alexis ich gern alles dir:
Nie hast du Leid, des ich dich heilen kann,
Beklagen lasse uns den teuren Mann ;
Um den Gemahl und Sohn so klaoren wir."
32 So schickt man sich in dieses Unglück nun,
Doch läfst der Schmerz die beiden nimmer ruhn;
Alexis dann zu Alsis in der IStadt
Stets treuen Sinns dem Herrn gedienet hat,
Und nie berückt die Seele solches Thun.
33 Zehn Jahre lang und sieben, nichts fehlt dran,
Hat er in Not des Herren Dienst gethan,
Aus Freundschaft, nicht für Freundin oder Freund,
Noch weil ihm Ehre zu erstreben scheint ;
Sein Lebtag wendet ganz für Gott er an.
34 Als er sein Herz so ganz dem Herrn geweiht,
Dafs von der Stadt er weicht zu keiner Zeit,
Dem Bilde Gott in Liebe Sprache schenkt,
Zum Diener, der es am Altar bedenkt:
„Den Gottesmann rufe!" es ihm gebeut.
35 „Hole," so spricht das Bild, „den Gottesmann
' Hier in das Kloster, wo er Dienst gethan.
Wert ist er einzugehn ins Paradies."
Er geht, doch jener nicht sich finden liefs,
Der heil'ge Mann, von dem das Bild hub an.
36 Zurück zum Klosterbild der Küster kehrt;
Den Mann zu finden war ihm nicht beschert;
Das Bild darauf: „Er sitzet an der Thür,
Nah ist er Gott und seinem Himmel schier;
Von dort vertreibt ihn nichts und nichts ihm wehrt."
37 Er geht, man holt ins Kloster ihn sofort,
Man hört das Wunder bald an jedem Ort,
Das Leben des heiligen Alexis. '299
Si Tat destruite com s'hom l'oust predede :
Sas i fait prendre e cinces deiamedes,
Sa grant honor a grant dol at tornede.
30 Del dol s'asist la medre jus a terre,
Si fist la 'spose dan Alexis acertes :
..Dame," dist ele, ,,jo ai fait si grant parte!
Ore vivrai en gnise de tortrele:
Quant n'ai ton fil, ensembl' od tei voil estre."
31 Respont la medre: „S'od mei te vols tenir,
Si t'^uarderai por amor Alexis,
Ja n'avras mal dont te poisse guarir.
Plainons ensemble le dol de nostre ami,
Tu del seinor, jo l'ferai por mon fil."
32 Ne pot estre altre, metent Tel consirrer;
Mais la dolor ne podent oblider.
Danz Alexis en Alsis la citet
Sert son seinor par bone volentet:
Ses enemis ne l'pot onc enganer.
33 Dis e set anz, n'en fut nient a dire,
Penat son cors el damne Deu servise.
Por amistet ne d'ami ne d'amie,
Ne por honors qui lui fussent tramises,
N'en volt torner tant com il ad a vivre.
34 Quant tot son cor en at ßi atornet
Que ja son voil n'istrat de la citet,
Dens fist l'imagene por soe amor parier
AI servitor qui serveit al alter;
(^o li comandet: „Apele l'home Deu."
35 Qo dist l'imagene: „Fai l'home Deu venir
En cest monstier, quer il Tat deservit,
Et il est dignes d'entreren paradis."
Cil vait, si l'quiert, mais il ne l'set choisir,
Icel Saint home de cui l'imagene dist.
36 Revint li costre a l'imagene el mostier:
..Certes," dist il, „ne sai cui entercier."
Respont l'imagene : „(^o'st eil qui lez l'us siet ;
Pres est de Deu e del regne del ciel ;
Par nule guise ne s'en volt esloinier."
37 Cil vait, si l'quiert, fait l'el mostier venir.
Es vos l'esemple par trestot le pais
300 Das Leben des heiligen Alexis
Dafs jenes Bildnis für Alexis sprach ;
Nun ehrt ihn grofs und klein den ganzen Tag,
Und bitten, dafs er ihnen helfe hier und dort.
38 Und als er sieht, wie sie ihn ehren schier,
Sagt er: „Fürwahr, nicht will ich bleiben hier,
Dafs nicht erdrücket mich die Ehre hat."
In einer Nacht entflieht er aus der Stadt,
Nach Lalis wandert er aus dem Revier.
39 Alexis drauf sich in ein Schiff begab :
Der Wind war kräftig und man segelt ab.
Gradwegs nach Tarsus er zu kommen denkt,
Doch kanns nicht sein, der Herr es anders lenkt.
So segelt er denn orrad nach Rom hinab.
40 In einen Hafen, der von Rom nicht fern,
Bringet das Schiff den Mann des Herrn;
Als er daheim, ist er des Wunsches voll,
Dafs ihn der Seinen keiner kennen soll,
Die ihn mit Ehren überhäuften gern.
41 .,0 Gott," sagt er, „du hoher Himmelsherr,
Wenn's dir gefällt, bleib ich hier nimmermehr.
Wenn mich erkennten meine Eltern bald,
Nähmen sie mich mit Bitten und Gewalt;
Ich fürchte, dafs es mein Verderben war.
42 Und doch, mein Vater sehnet mich herbei,
Die Mutter wünschet, dafs ich bei ihr sei ;
Die Gattin auch, die ich verlassen thät.
Nicht lafs ich's zu, dafs man mich hier errät.
Die Zeit, dafs man mich kannt', ist wohl vorbei."
43 Vom Schiffe hat er sich nach Rom gewandt,
Geht durch die Strafsen, wo er wohlbekannt;
Gar bald wird seines Vaters er gewahr.
Umgeben von der Diener grofser Schar;
Er hat beim Namen ihn sogleich genannt.
44 ,,Eufemius, edler Herre, mächt'ger Mann ;
Nimm mich in deinem Haus aus Mitleid an.
unter der Treppe mach ein Bette mir,
Um deinen Sohn, der so viel Kummer dir;
Dort schliefs mich ein, doch nähre mich auch dann."
Das Leben des heilio-cn Alexis. 301
o
Que cele imagene parlat por Alexis.
Trestoit l'honorent, IJ grant e li petit,
E toit le preient que d'els aiet mercit.
38 Quant il 90 veit que l'volent honorer:
„Certes," dist il, „n'i ai mais ad ester;
D'iceste honor ne m'revoil encombrer."
En mie nuit s'en fuit de la citet,
Dreit a Laiice rejoint li sons edrers.
39 Danz Alexis entrat en une nef:
Ovrent lor vent, laisent corre par mer.
Dreit a Tarson espeiret ariver,
Mais ne pot estre : ailors l'estot aler.
Tot dreit a Rome les portet li orez.
40 Ad un des porz qui plus est pres de Rome,
Hoc arivet la nef a cel saint home.
Quant veit son regne, dnrement se redotet
De ses parenz, qued il ne l'reconoissent
E de l'honor del siecle ne l'encombrent.
41 „E Deus," dist il, „bels reis qui tot governes,
8e tei ploust ici ne volsisse estre.
S'or me conoissent mi parent d'este terre,
II me prendront par pri ou par podeste ;
Se jo 'sen creid il me trairont a perte.
42 Mais ne por hoc mes pedre me desirret,
Si fait ma medre plus que femme qui vivet,
Avoc ma 'spose que jo lor ai guerpide.
Or ne lairai ne m'mete en lor bailie.
Ne m'conoistront, tanz jors at que ne mVirent."
43 Eist de la nef e vait edrant a Rome.
Vait par les rues dont il ja bien fut cointes,
Altre pois altre, mais son pedre i encontret,
Ensembl' od lui grant masse de ses homes ;
Si l'reconut, par son dreit nom le nomet:
44 „Eufemiens, bels sire, riches hom,
Quer me herberge por Deu en ta maison ;
Soz ton degret me fai un grabaton:*
" Empor ton fil dont tu as tel dolor.
Tot soi enferms, si m'pais por soe amor."
* Grabaton. Cfr. Passow, Gr. Lex. y.oäßaxooov^ xoaßß^ o, grabatus,
Makedon. Wort. — Auch im Neuen Testament bezeichnet x^dßaros das
(ärmliche) Ruhebett.
302 Das Leben des heiligen Alexis.
45 Als seines Sohnes Ruf der Vater hört,
Weinet sein Aug, dem hat er nicht gewehrt:
„Um Gottes Lieb und um mein teures Kind
Gewähr ich gern, dir wohlgesinnt,
Ein Bett, und dafs Wein, Fleisch und Brot dich nährt.
46 „O," spricht er, „hätt nur einen Diener ich
Für ihn; den machte frei* ich sicherlich."
Der Sklaven einer tritt sogleich herbei:
„Erlaube," sagt er, „Herr, dafs ich es sei;
Um deine Liebe quäle gern ich mich."
47 Unter die Treppe führet er ihn nun,
Macht ihm das Bett bereit, darauf zu ruhn;
Besorget ihm, wes er benötigt ist;
Damit der Herr nicht zürnt, zu keiner Frist;
Nicht ist zu tadeln jenes Dieners Thun.
48 Oft sahen ihn die guten Eltern beid'.
Und jenes Mädchen auch, das er gefreit;
In keiner Weise spricht er jene an.
Noch haben sie die Frage je gethan.
Wer er doch sei, ob seine Heimat weit.
49 Oft sieht er sie gar grofses Leid bestehn,
Aus ihren Augen viele Thränen gehn,
Alles für ihn, für sich nicht, nimmermehr.
Er blickt sie an, verfällt in Trauer sehr.
Er hofft auf Gott, so bleibt es ungesehn.
50 Unter der Treppe ist er jeder Frist,
Bekommt, was von der Tafel übrig ist ;
Zu grofser Armut kam sein hoher Stand,
Er will nicht, dafs der Mutter es bekannt;
Mehr ist als Menschen Gott ihm, wie ihr wifst.
51 Vom Fleische und des Hauses Überflufs
Behält er, was sein Körper haben mufs;
Was übrig, hat der Arme, Mann und Weib ;
Nicht häuft er's auf, noch mästet er den Leib,
Den Ärmsten immer giebt er's zum Genufs.
52 Die heil'ge Kirche er besuchet gern,
Von keinem ihrer Feste bleibt er fern;
* Die Freilassung des hörigen Mannes ist im Mittelalter die stehende
höchste Belohnung: die christliche Kirche suchte dieselbe zu fördern (cfr,
Macaulay, Hist. of Engl. I, auch Mactatio Abel, Townely Myster. XIV saBc).
Das Leben des heiligen Alexis. 303
45 Quant ot li pedre la clamor de son fil,
Plorent si oil, ne s'en pot astenir:
„Por amor Deu e por mon chier ami,
Tot de dovrai, bons hom, quantque m'as quis,
Lit et hostel e pain e charn e vin.
46 j^E Deus," dist il, „quer ousse un serjant
Qiii l'me guardast: jo Ten fereie franc."
Un en i out qui senipres vint avant:
„Es me,"4dist il, „qui l'guard par ton comand ;
Por toe amor en soferrai l'ahan."
47 Cil le menat endreit soz le degret ;
Fait li son lit ou il pot reposer;
Tot li araanvet quantque besoinz li ert.
Vers son seinor ne s'en volt mesaler;
Par nule guise ne Ten pot hom blasmer.
48 Sovent le virent e li pedre e la medre,
E la pulcele qued il out esposede :
Par nule guise onques ne l'aviserent;
N'il ne lor dist, n'il ne li demanderent
Quels hom esteit ne de quel terre il eret.
49 Soventes feiz lor veit grant dol mener,
E de lor oilz molt tendrement plorer,
E tot por lui, onques nient por el.
II les esguardet, si l'met el consirrer;
N'at soin que l'veiet, si est a Deu tornez.
50 Soz le degret ou gist sor une nate
La le paist l'hom del relief de la table ;
A grant poverte deduit son grant barnage,
(po ne volt il que sa medre le Sachet :
Plus airaet Deu que trestot son lignage.
51 De la viande qui del herbere li vient
Tant en retient dont soncors en sostient;
Se lui 'n remaint si l'rent as almosniers ;
N'en fait musgode por son cors engraissier,
Mais as plus povres le donet a mangier.
52 En sainte eglise converset volentiers;
Chascune feste se fait acomungier.
304 Das Leben des heiligen Alexis.
Die heil'ge Schrift ist Führer seinem Sinn,
Im Gottesdienst, wünscht er, sie stärke ihn ;
In keiner Art läfst er vom Wort des Herrn.
53 Unter der Treppe ist er allezeit,
Trägt seine Armut er mit Freudigkeit ;
Des Vaters Sklaven haben sich erlaubt,
Schmutz Wasser ihm zu giefsen übers Haupt;
Nicht spricht er drum, er bleibt vom Zorne weit.
•
54 Man peinigt ihn, gehöhnet man ihn hat,
Man oriefst ihm Wasser auf die Laojerstatt.
Nicht zürnt der heil'ge Mann, wie es auch sei,
Er bittet Gott, dafs jenen er verzeih,
Da keiner weifs, was er begangen hat.
55 Also verweilt er dort bei siebzehn Jahr,
Und nicht erkannt er von den Seinen war;
Noch vvufst' ein Mensch die Schmerzen, die er trug,
Als nur sein Bett, wo er ja lag genug:
Er ändert's nicht, dafs es nicht völlig klar.
56 Schier vierunddreifsig Jahr er sich kasteit.
Vergelten will ihm Gott des Dienens Zeit ;
Und seine Krankheit drücket ihn gar sehr,
Er weifs, er hat viel nicht zu leben mehr;
Und jenen Diener ruft er sich beiseit.
57 „Hol' Pergament und Tinte, Bruder, mir,
Und eine Feder, dies bitt ich von dir."
ICr giebt's sogleich Alexis in die Hand ;
Der schreibt sein Leben drauf bis an den Rand,
Wie er gewandert, wie er ging von hier.
58 Behält's für sich, kein Mensch es jemals sah,
Man soll's erst wissen, wenn er nicht mehr da.
Er hat sich Gott befohlen ganz und gar :
Sein Ende naht, und siech sein Körper war;
Kaum seinen Laut vernimmt mehr fern und nah.
59 In jener Woche, da er sterben soll,
'ne Stimme dreimal in der Stadt erscholl,
Draufsen beim Heiligtum nach Gottes Wort,
Der seine Gläub'gen alle rief nach dort;
Nah ist die Glorie und das Leid ist voll.
60 Die zweite Stimme laut man hören kann ;
Zu Rom soll suchen man den Gottesmann;
Das Leben des heiligen Alexis. 305
o
Sainte escriture 90 ert ses conseiliers ;
Del Deu servise le rovet esforcier;
Par nnle guise ne s'en volt esloinier.
ö3 Soz le degret ou il gist e converset,
Hoc deduit liedement sa poverte.
Li seif son pedre qui la maisniede servent
Lor lavediires li getent sor la teste:
Ne s'en corocet ned il ne's en apelet.
54 Toit l'escharnissent, si l'tienent por bricon,
L'egue li getent, si moilent son lin^ol.
Ne s'en corocet giens eil saintisme hom,
Ainz preiet Deu qued il le lor pardoinst
Par sa mercit, quer ne sevent que fönt.
55 Hoc converset eisi dis e set ans.
Ne l'reconut nuls sons apartenanz,
Ne neuls hom ne sout les sons ahanz,
Fors sol li liz ou il at get tant :
Ne pot müder ne seit aparissant.
56 Trente quatre anz at si son cors penet.
Deus son servise li volt gueredoner :
Molt li engrieget la soe enfermetet.
Or set il bien qued il s'en deit aler;
Gel son serjant ad a sei apelet.
57 „Quier mei, bels fredre, et enque e parchamin
Et une penne, 90 pri toe mercit."
Cil li aportet ; receit les Alexis :
De sei raedisme tote la chartre escrist,
Com s'en alat e com il s'en revint,
58 Tres sei la tent, ne la volt demostrer,
Ne l'reconoissent usqu'il s'en seit alez.
Parfitement s'ad a Deu comandet:
Sa fin aproismet, ses cörs est agravez;
De tot en recesset del parier.
59 En la samaine qued il s'en dut aler,
1 Vint une voiz treis feiz en la citet
Hors del sacrarie par comandement Deu,
Qui ses fideilz li at toz envidez.
Prest est la glorie qued il li volt doner.
CO A l'altre voiz lor vint altre somonse
Que l'home Deu quiergent qui gist en Rome,
Archiv f. n. Sprachen. LXXIII. 20
506 Das Leben des heiligen Alexis.
Sie bitten ihn um Gnade für die Stadt,
Dafs nicht umkomme, wer drin Leben hat.
Wer es gehöret, den hält Furcht in Bann.
61 Sankt Innocenz war Papst, ein heil'ger Mann,
Zu ihm kommt arm und reich und fragt sodann
Um seinen Rat in jener Sache ihn,
Die sie gehört und die verwirrt den Sinn ;
Sie warten nicht bis ihn die Erd' gewann.
62 Der Kaiser und der Papst noch überdies,
Honorius er, der andr' Arcadius hiefs.
Und alles Volk, sie beten insgemein,
Es gäbe ihrem Rate Gott Gedeihn
Mit diesem Heil'gen, der sie löst gewifs.
63 Dies bitten sie von seinem Herzen weich,
Dafs er, wo man ihn finde, ihnen zeig ;
Und eine Stimme kommt, die ihnen sagt.
Im Hause des Eufemius nach ihm fragt;
Dort werdet ihr ihn finden alsogleich.
64 Zu Herrn Eufemius kehren sie sodann,
Und heben sehr ihn drum zu schelten an:
„Dies konntest du uns wohl zu wissen thun.
Das ganze Volk ist trost- und ratlos nun;
Du hast's verhehlt, hast grofse Sund gethan."
65 Er flüchtet, thut als hätt er nichts gewufst.
Zur Täuschung haben jene wenig Lust.
Das Haus zu schmücken dieser vorwärts eilt,
Und er erforscht die Diener unverweilt,
Doch unbelehrt er allzeit bleiben mufst'.
66 Der Kaiser und der Papst ebensowohl
Auf Bänken sitzen schmerz- und trauervoll;
Und sie erblicken diesen hohen Herrn,
Und sie vernähmen Gottes Ratschlufs gern
Von jenem Heiligen, der helfen soll.
67 Indes sie sitzen, nur Gebet im Sinn,
Schwebt körperlos Alexis' Seele hin;
Gradweges geht zum Paradies sie ein.
Zu Gott, dem er gedient so treu und rein,
0 Himmelsherr, empfang auch uns darin I
68 Der Diener, der ihn stets so gern bedacht,
Hat Nachricht gleich Eufemius gebracht;
Das Leben des heiligen Alexis. 307
'o
Si li depreient quo la citet ne fondet,
Ne ne perissent la gent qui enz fregondent.
Qui Tont odit remainent en grant dote.
61 Sainz Innocenz ert idonc apostolies :
A Uli en vindrent e li riebe e li povre,
Si li requierent conseil d'icele chose
Qu'il ont odide, qui molt les desconfortet:
Ne guardent l'hore qua terre les enclodet.
62 Li apostolies e li emperedor
— Li uns Arcadie, li altre Honorie out nom -
E toz li poples par commune oraison
Depreient Deu que conseil lor en doinst
D'icel Saint home par qui il guariront.
63 Qo li depreient, la soe pietet,
Que lor enseint ou l'poissent recovrer.
Vint une voiz qui lor ad enditet:
„En la maison Eufemien quereiz,
Quer iloc est, e la le trovereiz."
64 Toit s'en retornent sor dan Eufemien ;
Alquant le prenent fortment a blastengier:
„Iceste chose nos douses noncier
A tot le pople qui est desconseiliez :
Tant l'as celet molt i as grant pechiet."
65 II s'escondit com li hom qui nel set;
Mais ne l'en creient, al herbere sont alet.
II vait avant la maison aprester;
Fortment l'enquiert a toz ses menestrels :
Icil respondent que neuls d'els ne l'set.
66 Li apostolies e li emperedor
Siedent es bans e pensif e ploros;
Iloc esguardent toit eil altre seinor,
Depreient Deu que conseil lor en doinst
D'icel Saint home par qui il guariront.
67 En tant dementres com il iloc ont sis
Deseivret l'aneme del cors saint Alexis;
. Tot dreitement en vait en paradis
A son seinor qu'il aveit tant servit.
E reis Celestes, tu nos i fai venir!
68 Li bons serjanz qui l'serveit volentiers
II le non^at son pedre Eufemien:
20 =
308 Dns Leben des heiligf^n Alexis
Sanft hebt er an und milde redet er :
„Tot ist der ]\[ann, den du gepflegt, o Herr!
Ein guter Christi Das sag ich unverzagt.
69 Lang war ich bei ihm, stets und immerdar,
Wufst nicht zu tadeln an ihm nur ein Haar,
Dafs er ein Gottesmann, hab ich erkannt."
Eufemius hat sich gleich von ihm gewandt
Zum Sohn, der unter jener Treppe war.
'^'0 Die Decken über ihm hinweg er zieht,
Des heil'gen Mannes klar Gesicht er sieht;
In Händen hält der Gottesknecht das Blatt,
Darauf sein Leben er beschrieben hat ;
Was es bedeut', Eufemius gern erriet.
71 Er will es nehmen, jener läfst es nicht,
Und zu dem Papste ganz verwirrt er spricht:
„Ich fand, was wir gesucht mit so viel Not,
Unter der Treppe liegt ein Pilger tot.
Hält fest ein Blatt, obwohl er leblos liegt."
72 Der Kaiser und der Papst auch gleicherweis
Erscheinen, bringen dar Gebete heifs,
Kastein den Leib und laut sie heben an:
„Erbarmen, ach Erbarmen, heil'ger Mann!
Wer bist du? Nicht man dich zu nennen Aveifs.
73 Zwei Sünder, siehe, stehen da vor dir,
Durch Gottes Gnade heifsen Kaiser wir;
Durch sein Verdienst die Ehre auf uns fällt,
Wir sind die Richter über alle Welt,
Doch deines Rats bedürftisr stehn wir hier.
o
74 Die Seelen wahrt der Priester allbereit,
Es ist sein Amt, das hegt er allezeit;
Gieb ihm nach deiner Müdigkeit das Blatt,
Er sag uns, was er drauf gefunden hat,
O gäbe Gott uns draus die Seligkeit."
75 Der Priester nun nach jenem Blatte reicht,
Alexis drauf der seinen fügsam weicht, *
Er reicht es dem, der Papst zu Rome war,
Doch liest er's nicht sobald er des gewahr;
Zuvor er's einem Hochgelahrten zeigt.
* Die Hand des Toten hält das Blatt fest, bis derjenige kommt, in
dessen Hand es zu kommen bestimmt ist. Ganz dasselbe haben wir im
Rolandsliede.
Das Leben des heiligen Alexis. 309
Soef l'apelet, si li at conseiliet:
„vSire," dist il, „morz est tes provendiers,
E 90 sai dire qu'il fut bons cristiens.
69 Molt longement ai od lui converset:
De nule chose certes ne l'sai blasrner,
E 90 ni'est vis que co est li hom Den."
Toz sols s'en est Eufemiens tornez,
Vint a son fil on gist soz son degret.
70 Les dras sozlievet dont il esteit coverz,
Vit del Saint home le vis e der e bei;
En son poing tient sa chartre li Den sers
Ou ad escrit trestot le son conversj
Eufemiens volt saveir qued espelt,
71 II la volt prendre, eil ne li volt guerpir;
A l'apostolie revint toz esmariz:
„Ore ai trovet 90 que tant avons quis:
Soz mon degret gist uns morz pelerins;
Tient une chartre, mais ne li pois tolir."
72 Li apostolies e li emperedor
Vienent devant, getent s'en oraisons,
Metent lor cors en granz aflictions ;
„Mereit, mercit, mercit, saintismes hom !
Ne t'conouraes n'uncor ne t'conoissons.
73 Ci devant tei estont dui pechedor:
Par la Deu grace vochiet emperedor:
(^o'st sa mercit qu'il nos consent l'honor;
De tot est mond somes nos jugedor,
Del ton conseil somes tot bosoinos.
74 Cist apostolies deit les anemes baillir,
^o'st ses mestiers dont il ad a servir:
Rent li la chartre par la toe mercit;
(^o nos dirat qu'enz troverat escrit,
E 90 doinst Deus qu'or en poissons guarir."
75 Li apostolies tent sa main a la chartre,
Sainz Alexis la soe li alaschet :
Lui la consent qui de Rome esteit pape,
II ne la list ned il dedenz n'esguardet ;
Avant la tent ad un bon clerc e savie.
310 Das Leben des heiligen Alexis.
o*
76 Des Kaisers Kanzler, der sein Amt wohl kennt,
Liest nun den andern vor das Pergament:
Wie man gefunden dort den heil'gen ^lann,
Er sagt der Eltern Namen ihnen an.
Und Herkunft und Geschlecht er ihnen nennt.
7" Wie er zur See sich dann entfernet hat,
Und wie er dann zu Alsis war, der Stadt,
Wie Gott für ihn das Bildnis sprechen hiefs,
Doch er mit Ruhm sich nicht bedecken liei's.
Wie er nach Kom sodann entfliehen that.
78 Der Vater höret, was das Blatt bewahrt,
Und rauft mit beiden Händen seinen Bart:
„O Sohn," sagt er, „wie trauervolle Mär!
Ich hoffte lebend deine Wiederkehr,
Dafs mir ein Trost durch Gottes Gnade ward."
79 Und laut der Vater hebt zu rufen an:
„O Sohn, welch Kummer ist mir angethan!
Ein schlechtes Obdach bot mein Haus dir dar,
O, wie ich Sünder doch verblendet war!
Ich sah dich, doch nicht Einsicht ich gewann.
80 Alexis, Sohn, o deiner Mutter Schmerz!
So vielen Kummer trug um dich ihr Herz.
Und so viel Hunger litt sie, Durst so viel,
Und heifs die Thräne ihrem Aug entfiel;
Der neue Kummer beugt sie grabeswärts.
81 O Sohn, wem bringe ich mein Erbe dar,
Die weiten Ländereien ganz und g-ar.
Den grofsen Palast auch in Rom der Stadt?
Um dich, o Sohn, mein Herz gesorget hat:
Nach meinem Tode all das dein'ge war.
82 Weifs ist mein Haupt und gänzlich grau mein Bart;
All mein Besitz hatt ich um dich gespart,
Mein Sohn, doch trugst du darum Sorge nicht.
Welch grofser Schmerz auf mich herniederbricht!
Sei deine Seel im Himmel aufbew^ahrt!
Djis Leben des heiligen Alexis. 311
'b
i
76 Li chancelicrs cui 11 niestiers en eret
Cil list la chartre, li altre l'escolterent.
D'Icele gemme qued iloc ont Irovede
Lor dist le nom del pedre e de la medre.
E 90 lor dist de quels parenz il eret.
77 E 90 lor dist com s'en fuit par mer,
E com il fut en Alsis la citet,
E com l'imagene Dens fist por lui parier,
E por l'honor dont ne s'volt encombrer
b'en refuit en Rome la citet.
78 Quant ot li pedre 90 que dit at la chartre,
Ad ambes* mains derompt sa blanche barbe.
„E filz," dist il, „com dolores message !
Vifs atendeie qued a mei repairasses,
Par Deu mercit que tu m'reconfortasses."
79 A halte vois prist li pedre a crider :
„Filz Alexis, quels dols m'est presentez!
Malvaise guarde t'ai fait soz mon degret.
A las pechables, com par fui avoglez !
Tant Tai vedut, si ne l'poi aviser.
80 Filz Alexis, de ta dolente medre!
Tantes dolors at por tei enduredes,
E tantes fains e tantes seiz passedes,
E tantes lairraes por le ton cors ploredes!
Cist dols l'avrat enquoi par acorede.
81 0 filz, cui ierent mes granz hereditez,
Mes larges terres dont jo aveie asez,
Mi granz palais en Rome la citet?
Empor tei, filz, m'en esteie penez:
Pois mon deces en fusses honorez.
82 Blanc ai le chief e la barbe chanude;
Ma grant honor aveie retenude
Empor tei, filz, raais n en aveies eure.
Si grant dolor oi m'est apareude!
Filz, la tue aneme seit el ciel absolude.**
* Ebenso rauft Charlemagne beim Anblick von Rolands Leiche (Ch.
de R. 2906) ses Crignels pleines ses mains ambsdous. — Überhaupt haben
die dortigen Klageergüsse Karls d. Gr. mit den unserigen im Alexisliede
überraschende Ähnlichkeit.
** Rol. 2934: L'anme de tei en pareis soit mise!
312 Das Leben des heiligen Alexis.
83 Den Helm, den Harnisch tragen kam dir zu,
Das Schwert der Edlen führen mufstest du,
Ein grofses Haus dir zu verwalten war,
Des Kaisers Banner auch zu tragen gar.
Wie deinen Vätern, sonder Rast und Ruh.
84 Zu solchem Schmerz, zu grofser Armut schier,
Begabst du dich, mein Sohn, in fremd Revier.
Das Gut, das ganz das deine sollte sein,
Das biifstest du auf armem Lager ein ;
Wenn's Gott gefiel, ward es zu eigen dir."
85 Der Vater rast, laut ist sein Schmerzensschrei,
Es kommt die Mutter auf den Lärm herbei,
Sie stürzt voll Schreck herzu, wie sinnberaubt,
Schlägt ihre Brüste und zerrauft das Haupt;
Und sie sinkt um, als ob sie leblos sei.
86 Wer sie so grofse Trübsal leiden sah,
Die Brüste schlagen, wie ihr Weh geschah,
Das Haar zerzaust, das Angesicht entstellt,
Wie um den Hals dem toten Sohn sie fällt,
Blieb nimmer hart und stand voll Thränen da.
87 Sie ranft das Haar und macht sich grofse Pein,
Erfüllt mit grofsen Schmerzen ihr Gebein:
„0 Sohn, du hast von uns gewendet dich,
Und ich voll Schmerz, wie war verblendet ich !
Nicht kannt' ich dich, als warst du niemals mein."
88 Ihr Auge weint, in lautes Weh bricht sie;
Sie ruft: „0 hätt ich dich geboren nie!
Mit deiner Mutter hattst du kein Mitleid?
Zu sterben war ich gern für dich bereit ;
Du aber sprachest zum Erbarmen: Flieh!
89 Ich Unglücksmutter, welcher Schmerz war mir!
Tot seh ich den, den ich getragen hier:
Mein grofses Harrn zu grofsem Kummer kam;
Was thu ich, da das Unglück nahm ?
Ein W^under ist's, dafs ich's noch trage schier."
90 Alexis, vSohn, wie war dein Sinn so hart,
Als du verlassen unsre Gegenwart!
Das Leben des heilicien Alexis. 313
83 Tei covenist helme e bronie a porter,
Espede ceindre come tui altre per,
E orrant maisniede doiises governer,
Le gonfanon* l'emperedor porter,
Com fist tes pedre e li tons parentez.
84 A tel dolor et a si grant poverte,
Filz, t'ies deduiz par alienes terres,
E d'icel bien qui toz doust tons estre
Poi en perneies en ta povre Herberge:
8e Deu ploust sire en dousses estre."
85 De la dolor que demenat li pedre
Grant fut la noise, si l'entendit la medrc.
La vint corant com femme forsenede,
Batant ses palmes, cridant, eschevelede :
Veit mort son fil, a terre chiet pasmede.
86 Qtii donc li vit son grant dol demener,
Son piz debatre e son cors degeter,
Ses crins derompre, son vis demaiseler,
E son mort fil detraire et acoler,
N'i ont si dur cui n'estoust plorer.
87 Trait ses chevels e debat sa peitrine;
A grant dol met la soe charn medisme:
„E filz," dist ele, „com m'ous enhadide!
E jo dolente, com par fui avoglide!
Ne l'conoisseie plus qu'onques ne l'redisse."
88 Plorent si oil e si getet granz criz ;
Sempres regretet: „Mar te portai, bels fils!
E de ta medre que n'aveies mercit?
Por tei m'redeies desirrer a morir:
^o'st grant merveile que pitet ne t'en prist.
89 A lasse mesre, com oi fort aventure !
Ci veo jo morte tote ma portedure.
Ma longe atente a grant dol est venude.
Que porrai faire, dolente, malfedude?
(^o'st grant merveile que li miens cors tant duret.
90 Filz Alexis, molt ous dur corage.
Com adosas'tot ton gentil linage?
* Cfr. Gautier, Ch. de Roland p. 404: „Au haut de la lance est
attache, est ,fernie' le gonfanon ou l'enseigne."
314 Das Leben des heiligen Alexis
o
Hältst du zu mir gesprochen nur einmal,
Du hättst mir Trost gebracht in meiner Qual;
Der Mutter, teurer Sohn, war viel erspart.
91 Alexis, Sohn, ach um dein zart Gebein!
Zu welchem Schmerz ging deine Jugend ein!
Du flohst vor mir, ach, deren Leib dich trug;
Wie ich voll Schmerz! Gott weifs es, ach genug.
Bei Mann und Weib, nie werd ich fröhlich sein.
92 0 Sohn, was habe ich nach dir verlangt!
Als ich dich trug, wie habe ich gebangt!
Als ich dich sah, da war ich voller Freud';
Nun bist du tot, des hab ich Herzeleid ;
O kam der Tod, wie hätt ich Gott gedankt!
93 Ihr Herren Roms, stimmt an den Klageton,
Helft mir beklagen ihn, der uns entflohn.
Viel Kummer hat betroffen mich und Schmerz,
Nicht sättigt sich an Klagen je mein Herz.
Zuviel! Nicht Tochter habe ich noch Sohn."
94 Während der Eltern grofser Traurigkeit
Erscheint das Mädchen, das er einst gefreit.
„Herr, grofse Schmerzen," spricht sie, „hielt ich aus,
Erwartend dich in deines Vaters Haus,
Wo du mich liefsest voller Herzeleid.
95 Alexis, lange sehnt ich mich nach dir,
Und viele Thränen hat's gekostet mir;
Nach dir geschauet habe ich so oft ;
Und dafs du wieder kämst, hab ich gehofft;
Nicht that aus Trägheit ich's noch Ungebühr.
96 0 teurer Freund, um deine Jugend schön,
Die bald nun soll die Erde decken gehn;
O edler Mensch, du hast uns Schmerz gebracht;
Gutes zu hören hatte ich gedacht;
Nun mufs ich, ach, so Schlimm' und Hartes sehn.
97 O schöner Mund, o schönes Angesicht,
Wiedererkenn ich deine Schönheit nicht!
Mehr liebt ich euch als jede Kreatur,
Nun aber hab ich nichts als Schmerzen nur,
Wie gern entbehrte ich des Lebens Licht.
98 Hätt ich gekannt dich unter unserm Dach,
Wo du so lang gelegen krank und schwach,
I
Das Leben des heiligen Alexis. 315
'ö
Sed a mei sole vels une feiz parlasses,
Ta lasse medre si la reconfortasses
Qiii si'st dolente, chiers filz, bor i alasses.
91 Filz Alexis, de la toe charn tendre !
A quel dolor deduit as ta jovente!
Por quei m'fiiiz ? ja t'portai en mon ventre;
E Deus le set qiie tote sni dolente:
Ja mais n'ierc liede por home ne por femme.
92 Ainz qne t'ousse si'n fui molt desirrose;
Ainz que nez fusses si'n fui molt anguissose ;
Quant jo t'vid net si'n fui, liede e goiose;
Or te vei mort, tote en sui coro^ose :
Qo peiset mei que ma fin tant demoret.
93 Seinors de Rome, por amor Deu, mercit :
Aidiez m'a plaindre le dol de mon ami.
Granz est li dols qui sor mei est vertiz;
Ne pois tant faire que mes cors s'en sazit;
II n'est merveile: n'ai mais filie ne fil."
94 Entre le dol del pedre e de la medre
Vint la pulcele qued il out esposede:
„Sire," dist ele, „com long demorede
Ai atendude en la maison ton pedre,
Ou tu m'laisas dolente et esguarede !
95 Sire Alexis, tanz jorz t'ai desirret,
E tantes lairmes por le ton cors ploret,
E tantes feiz por tei en loinz guardet,
Se revenisses ta 'spose conforter,
Por felonie nient ne por lastet.
96 0 chiers amis, de ta jovente bele ! *
^o peiset mei qne tei podrirat terre !
E gentils hom, com dolente pois estre!
Jo atendeie de tei bones noveles,
Mais or les vei si dures et si pesmesi
97 Obele boche, bels vis, bele faiture,
Com est mudede vostre bele figure!
Plus vos amai qne nule creature.
Si grant dolor oi m'est aparende,
Mielz me venist, amis, que morte fusse.
98 ,,Se jo t'sousse la jus soz le degret,
Ou as geut de longe enfermetet,
• Cfr. Rol. 2916.
316 Das Leben des heiligen Alexis.
Das ganze Volk nicht hätte mir gewehrt,
Dafs ich mit dir zusammen dort verkehrt,
Ich hätte dich gepfleget alle Tag'."
99 „Nun," sprach das junge Weib, „bin Witwe ich,
Und nimmer hab ich Freude sicherlich;
Ein andrer Man"n zu teil mir nimmer wird,
Gott werd ich dienen, der die Welt regiert;
Wenn ich ihm diene, trifft kein Mangel mich."
100 So jammerte das arme Elternpaar,
Das Weib, bis alles fortgegangen war;
Indes den heil'gen Leib sie schmücken gern,
Und köstlich rüsten ihn die hohen Herrn.
Beslückt, wem man bringt Glaubens Ehre dar!
101 „Ihr Herrn," der Priester spricht, „was treibet ihr?
Welch Schreien ? Endet dieses Lärmen hier.
In unsei-m Aug ist's Freud, was es auch sei;
Sein Fürsprach machet uns der Sünde frei ;
Dafs er die Übel löse, bitten wir."
102 Alles ergreift ihn, was herzu nur kann,
Und singend tragen sie den heil'gen Mann ;
Und alles bittet um Erbarmen ihn.
Nicht Mahnung braucht's, andre herbeizuziehn,
Denn Klein' und Grofse drängen sich heran.
o
103 So ist das ganze Volk von Rom erregt,
Ein jeder kommt so schnell der Fufs ihn trägt;
In allen Strafsen eilen sie zuhauf,
Nicht Graf und König stören ihren Lauf;
Nichts hat sie über ihn hinaus bewegt.
104 So haben unter sich die hohen Herrn geredt:
„Grofs ist das Drängen, keiner vorwärts geht,
Um diesen Heil'gen, den gesandt der Herr,
Ist froh das Volk, das ihn ersehnte sehr;
Und unbeweglich alles bei ihm steht."
105 Es sprechen die, die übers Reich Gewalt:
„Geduld, ihr Herrn, das bessern wir wohl bald;
Wir teilen reichlich Geld und Geldeswert,
Was ja die Hand des Armen stets begehrt:
Leicht findet Platz, wer nur recht reichlich zahlt."
106 So holt man Silber denn hervor und Gold,
Das bald auch vor der Armen Füfsen rollt;
Das Leben des heiligen Alexis. 317
Ja tote gent ne m'soussent torner
Qu'ensembl' od tei n'ousse converset;
Se me leust si t'onsse guardet."
99 „Or par sui vedve, sire," dist la pulcele,
„Ja mais ledice n'avrai, quer ne pot estre,
Ne ja mais home n'avrai charnel en terra.
Deu servirai, li rei qui tot governet:
II ne m'faldrat s'il veit que jo lui serve."
100 Tant i plorerent e 11 pedre e la medre
E la pulcele, que toit s'en alasserent.
En tant dementres le saint cors conreerent
Toit eil seinor e bei l'acostumerent.
. Com felix cel qui par feit l'honorerent !
101 „Seinors, que faites?" 90 dist li apostolies,
„Que valt eist criz, eist dols ne cesta noise?
Cui que seit dols, a nostre os est il goie;
Quer par cestui avrons bone adjutorie.
Si li preions que de toz mais nos tolget."
102 Trestoit le prenent qui povrent avenir;
Chantant en portent le cors saint Alexis,
E toit li preient que d'els aiet mercit.
N'estot somondre icels qui l'ont odit :
Toit i acorent li grant e li petit.
103 Si s'en commovrent tote la gent de Roma
Plus tost i vint qui plus tost i pout corre :
Parmi les rues en vienent si granz torbes
Ne reis ne cons n'i pot faire entrerote,
Ne le saint cors ne povrent passer oltre.
104 Entr' eis en prenent eil seinor a parier:
„Grant est la presse, nos n'i podrons passer;
Por cest saint cors que Deus nos at donet
Liaz est li poples, qui tant l'at desirret:
Joit i acorentj nuls ne s'en volt torner."
105 Cil en respondent qui l'empirie bailissent:
„Mercit, seinors, nos enquerrons mecine:
De noz aveirs ferons granz departides
La main menude qui l'almosne desirret:
S'il nos fönt presse donc en ierraes delivre."
106 De lor tresor prenent l'or e l'argent,
Si rfont geter devant la povre gent;
318 Das Leben des heiH<^en Alexis.
So, glauben jene, ist es leicht gethan ;
Doch diese rühren nichts vom Gelde an,
Denn keiner hat vom Heil'gen losgewollt.
107 Die armen Leute rufen insgemein:
„Von dieser Habe soll nichts unser sein ;
vSo grofse Freude ist uns jetzt beschert
In diesem Heil'gen, andres hat nicht Wert,
Und seine Fürsprach ist dereinst nicht klein."
108 Niemals war Rom, die Stadt, so freudevoll
Wie jenen Tag bei Reich und Armen wohl
um diesen heil'gen Leib, der jetzt der ihre war;
Es schien, als hätten sie Gott selber gar;
Von allem Volke Gottes Lob erscholl.
109 Alexis jedes Böse immer mied,
Darum ist ihm so hohe Ehr erblüht.
Der Körper sein ruhet zu Rom der Stadt,
Die Seele Gott im Paradiese hat.
Wohl kann voll Freude sein, wer also schied.
110 Wer Sünde that, sich dessen wohl entsinnt,
Durch Bufse er Verofebung stets gewinnt.
Ein befsres Leben kommt, wenn dies vergeht;
Dies bitten wir die heil'ge Trinität,
Dafs Herrscher wir mit ihr im Himmel sind.
Hl Kein Blinder geht hinweg, keiner der lahm.
Aussätzig, krank, umsonst zur Heilung kam:
Ja, wer bedruckt von Krankheit irgendwie,
Er ist hinwefjgeo^angen ohne sie :
Und keiner mit sein Leiden nahm.
112 Und jeder, der von Krankheit war bedrückt.
Wird von Gesundheit alsogleich beglückt:
Der eine geht, den andern trägt man schwer,
Ein Wunder bietet ihnen Gott der Herr:
Der weinend kam, geht singend und entzückt.
113 Die beiden Herren, die das Reich versehn,
Erstaunet sehr ob solcher Wirkung stehn ;
Sie tragen, hegen, pflegen ihn mit Fleifs,
Durch Bitten bald man vorzudringen weifs.
Und manchmal ist es durch Gewalt geschehn.
114 Sankt Bonifaz, der Märtyrer genannt,
Zu Rom hatt eine Kirche, wie bekannt:
Das Leben des heiligen Alexis. 319
ö
Par 190 cuident aveir descombrement.
Mais ne pot estre, eil n'en rovent nient:
A cel Saint home tornet ont lor talent.
107 Ad une voiz crident la gent menude :
„De cest aveir certes nos n'avons eure;
Si grant ledice nos est apareude
D'ieest saint eors ; n'avons soin d'altre mune,
Quer par cestui avrons nos bona ajude. "
108 Onques en Roma nen out si grant ledice
Com out le jorn as povres et as riches
Por cel Saint cors qu'il ont en lor balide:
Qo lor est vis que tiengent Deu medisme ;
Trestoz 11 poples lodet Deu e graciet.
109 Sainz Alexis out bone volentet:
Por hoc en est oi cest jorn honorez.
Li cors en gist en Rome la citet,
E l'aneme en est enz el paradis Deu.
Bien pot liez estre qui si est aloez.
110 Qui at pechiet bien s'en pot recorder:
Par penitence s'en pot tres bien salver.
Bries est eist siecles, plus durable atendeiz.
Qo preions Deu, la sainte trinitet,
Qu'od lui ensemble poissons el ciel regner.
111 Sorz ne avogles ne contraiz ne le pros
Ne muz ne orbs ne nuls palazinos,
Ensorquetot ne neuls langoros,
Nul n'en i at qu'in alget malendos,
Cel n'en i at qui'n report sa dolor.
112 N'i vint enferms de nule enfermetet,
Quant 11 l'apelet sempres n'aiet santet.
Alquant i vont, alquant se fönt porter;
Si veirs miracles lor i at Dens mostrez,
Qui vint plorant chantant Ten fait raler.
113 Cil dui seinor qui Tempirie governent,
Quant il en veient les vertuz si apertes,
, II le receivent, si l'portent e si Tservent.
Alqnes par pri e le plus par podeste
Vont en avant, si derorapent la presse.
114 Sainz Boneface, que l'hom martir apelet,
Aveit en Rome une eglise molt bele:
320 Das Leben des heiligen Alexis.
o
Dorthin trug man Alexis säuberlich,
Und bettet ihn zur Erde sicherlich.
Glücklich der Ort, wohin man ihn gesandt.
115 Das Volk von Rom, das ihn ersehnt so lang,
Hält mit Gewalt ihn sieben Tage lan«:.
Nun fraget nicht, ob grofs das Drängen sei,
Von allen Seiten strömte man herbei,
Dal's dort zu wohnen kaum jemand gelang.
116 Am siebten Ta^-e geht zur Ruhe ein
Der lieil'ge Leib, zum himmlischen Verein:
Man hebet ihn empor, die Menge weicht,
Wohl oder übel er zur Erde steigt;
Es drückt sie sehr, doch kann's nicht anders sein.*
117 Bei goldnen Kandelabern — welch ein Bild —
Die Geistlichen in weifs Gewand gehüllt
Legen den Leib in einen Marmorsarg,
Und singen teils, teils fliefsen Thränen arg:
Nicht waren ihn zu lassen sie gewillt.
118 Von Gold und Edelstein der Sarg war voll.
In dem der heil'ge Leichnam ruhen soll;
Zur Erde läfst man ihn fast mit Gewalt,
Des Volkes Jammer durch ganz Rom erschallt ;
Und keinen giebt's, der sie getröstet wohl.
119 Nicht von den Eltern sei hier nun erzählt.
Noch von der Gattin, welches Leid sie quält ;
Denn ihre Stimme klaget ohne Mafs,
Um ihn nur jammernd ohne Unterlafs:
Den Tag flössen die Thränen ungezählt.
120 Über der Erd' bleibt er nicht länger mehr,
Man läfst ihn sinken, wird's auch noch so schwer;
Sie nehmen Abschied von dem heil'gen Leib,
Und bitten, dafs er ihnen gnädig bleib',
Bei seinem Herren spreche günstig er.
121 Es geht das Volk. Indes das Elternpaar,
Das junge Weib ihn lassen nimmerdar;
Bis Gott sie rief, sie blieben ungetrennt,
Und ihren Namen man mit Ehren nennt:
Der Heil'ge ihrer Seele Rettung war.
* Ebenso trennen sich die Leidtragenden nur schwer von der Leiche
Rolands; cfr. Ch. de R. 2961.
I
Das Leben des heilio;en Alexis. 321
'O
Hoc en portent dan Alexis acertes,
Et attement le posent a la terre.
Felix li lius ou ses sainz cors herberget!
115 La gent de Rome, qui tant l'ont desirret
Set jors le tienent sor terre a podestet.
Grant est la presse, ne l'estot demander.
De totes parz l'ont si avironet
Que a vis onques i pot hom habiter.
116 AI sedme jorn fut faite la herberge
A cel Saint cors, a la gemme Celeste.
En sus s'en traient, si alaschet la presse:
Voillent ou non, si l'laissent metre en terre;
Co peiset eis, mais altre ne pot estre.
ll«^ Ad encensiers, ad ories chandelabres
Clerc revestut en albes et en chapes
Metent le cors enz el sarcou de marbre, *
Alquant i chantent, li pluisor getent lairmes :
Ja le lor voil de lui ne desevrassent.
118 D'or e de gemmes fut li sarcous parez
Por al Saint cors qu'il i deivent poser ;
En terre l'metent par vive podestet;
Ploret li poples de Roma la citet,
!Soz ciel n'at honie qui's poisset conforter.
119 Or n'estot dire del pedre e de la medre
E de la 'spose com il le regreterent,
Quer toit en ont lor voiz si atempredes
Que toit le piain streut et toit le doloserent:
Cel jorn i out cent mil lairmes ploredes.
120 Desor la terre ne l'povrent mais tenir:
Voillent ou non si l'laissent enfodir,
Prenent congiet al cors saint Alexis :
E si li preient que d'elsaiet mercit;
AI son seinor il lor seit bons plaidiz.
121 Vait s'en li poples. E li pedre e la medre
E la pulcele onques ne desevrerent ;
Ensemble furent jusqu'a Deu s'en ralerent.
Lor compainie fut bone et honorede:
Par cel saint home sont lor anemes salvedes.
* Ch. de R. 2966: En blancs sarcous de marbre; v. 392G: En blancs
sarcous.
Archiv f. n. Sprachen. LXXIII. 21
322 Das Lt'ben des helligen Alexis.
1"22 Alexis ist im Himmel zweifellos
Mit Gott zusammen und den Engeln blofs ;
Und mit dem Weib, dem er entfremdet war,
Vereinet ist die Seele immerdar:
Nicht kann ich sagen, Avie die Freude grofs.
1"23 Wie guten Dienst hat doch dem Herrn geweiht
Der heil'ge Mann in kurzer Lebenszeit !
Und nun ist seine Seele ruhmesvoll;
Das hätt' ohn Zweifel mancher gerne wohl;
Er schaut fiirwahr nun Gottes Herrlichkeit.
124 Von Unglück, Elend sind bedränget wir.
Seht es nur ein, wir sind verloren schier:
Die Sünde uns gar sehr verblendet macht,
Des rechten Weges hat man nimmer acht;
Doch dieser Heil'ge wird zur Leuchte hier.
155 Denkt, Herren, dieses Heil'gen allezeit,
Bittet, dafs er vom Übel uns befreit,
In diesem Leben Freude uns beschert
Und Glorie in dem, das länger währt,
Hilf, Pater noster, uns in Ewigkeit.
Amen !
Anmerkungen.
Über die Sprache unseres Gedichtes bemerkt Gaston Paris, der
dasselbe in die Mitte des 11. Jahrhunderts setzt, p. 42: ce n'est qu'a
une epoque qui n'est pas anterieure au Xll^ siele que se sont manifestees
entre le langage des Francais et celui des Nornian<ls certaines differences,
et elles se sont produiles de teile fa^on que c'est tantot le dialecte fran-
9ais, tantot le dialecte normand quia conserve l'usage ancien. Ainsi, pour
n'en donner que deux exemples, ai s'est confondu avec ei en normand
tandis qu'en francals 11 est reste distlnct beaucoup plus longtemps; — au
rebours ei et oi se sont confondus en francals, tandis qu'en normand il
sont restes separes jusqu'a nos jours. Ür on ne trouve trace dans le texte
«•'Alexis, restitue par le crltique, d'aucune de ces partioulariles dialectales,
soit normandes, soit fran9aises, et par consequent il est anterieur a la Sepa-
ration des dialectes normand et francals." — Die decasyllabcs assonants des
Originals sind durch Reime — und zwar weil dies dem Charakter des
Gedichtes entsprechender schien — durchgängig durch männliche Reime
ersetzt worden.
Str. 1. Die Klagen über die Verderbtheit des Zeitalters kehren auch in den
anderen Redaktionen (saec, XII, XIll und XIV) des Alexis-Liedes wieder,
und zwar, dem Charakter jener späteren Bearbeitungen entsprechend, in
erweiterter Gestalt. Dergleichen Klapen dürften zu den konventionellen
und gemeinsamen Zügen der mittelalterlichen Dichtung (cfr. Matzner, Alt-
franz. Lieder p. 104) zu rechnen sein. Cfr. Gautier de Dargies (ib. p. 1):
Das Leben des heiligen Alexis. 323
't>
122 Sainz Alexis est el ciel senz dotance,
Ensemble od Deu en la compaigne as angeles,
Od la pulcele dont se fist si estranges ;
Or l'ad od sei, ensemble sont lor anemes:
Ne vos sai dire com lor ledice est grande,
123 Com bone peine, Dens, e si bon servise
Fist cel Saint hom en ceste mortel vide !
Quer or est s'aneme de glorie replenide :
^o at que s'volt, n'en est nient a dire:
Ensorquetot e si veit Deu medisme.
124 Las, malfedut, com esmes encombret!
Quer 90 redons que toit somes desvet:
De nos pechiez somes si avoglet
La dreite vide nos fönt tresoblider:
Par cest saint home doussons raluraer.
125 Aions, seinors, cel saint home en memorie,
Si li preions que de toz mals nos tolget :
En icest siecle nos achat pais e goie,
Et en cel altre la plus durable glorie
En ipse verbe. ISi'n dimes Pater noster.
Amen !
Humilites et franchise, •
Doncors, cleboneretes
Est bien alee et remise,
Et orgues et cruetes
Est repris et rancines
Et amours ni ont emprise.
Ferner Chanson de Geste Fierebras v. 17:
Mult par est puis (nach den Zeiten des Cliailemagne)
le siecles empiries et mues :
Se li peres est maus, li fix vaut pis asses,
Et du tout en tout est li siecles redonles,
Ke il n'i a un seul, tant soit espoentes,
Ki tiegne vraiement ne foi ne loiautes.
N'en dirai ore plus, s'arai avant ale.
Str. 7: Der junge Alexis lernt in der Schule die Wissenschaften, um
dann, etwa als Page, dem Kaiser zu dienen. Die Redaktion des 12. Jahrh.
läfat diese Worte unverändert; in derjenigen des 13. Jahrh. aber heifst es v. 56 :
Puis si le fisent a l'escole mener,
Et Tescrlture enseignier et mostrer.
En poi de tens sot bien lire et c anter.
Et en latin mout sagement parier,
Et une loi gentement visiter.
21
324 Das Leben des heiligen Alexis.
Im 14. Jahrh. endlich, Str. 7:
Et quant l'enfez fu tel qu'il savoit bien parier,
Pour apprendre le lirent a l'escole niener.
8. L'enfaut que Jhesu Crist ania parfaitement
A hire et a chanter aprist asez breinent,
E si sceut en latin dire tout son talent;
En lois est en decrez s'entendoit fermement.
9. Adonc le fist son pe're de l'escole partir;
En guize d'escuier le convint lors vestir;
A la Court l'empereur de Romme ala servir :
L'enfant servi le roy du tout a son plezir.
Str. 8: Eufemlus kauft seinem Sohne ein Weib. Es ist hiermit, wie
Ciaston Paris bemerkt, die Sitte der merowingischen Zeit vom Dichter in
die altchristliche des Alexis übertragen worden.
Str. 30: Ore vivrai en guise de tortrele. Liebende, verlassene Liebende
und Verlassene überhaupt vergleichen sich in der altfranzösischen Dichtung
gern mit der Turteltaube. Vergl. Mätzner, Altfrz. Liederp. 96, Chanson
du Chätelain de Coucy (?) :
S'onques nus hom por dure departie
Ot euer dolant, je l'aurai par raison:
Onques tuertre qui pert son compaignon
Ne fiit un jour de nioi plus esbabie.
Ferner bei Bartsch, Altfrz. Chrestom. : Fragment d"un poeme devot
f XII« siecle) En nostre terre no set eusel canter sainz la torterelet chi amet
casteed por mon ami.
Vergl. auch die alte englische Redaktion des Alexis-Liedes in
Herrigs Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen
Bd. L\T (1876), S. 391 folgende „Zwei Alexislieder, herausgegeben von
Dr. C. Horstmann", v. 121:
Nou is alix dwelled thore :
bis fader atom siketh wel sore
and seitb alias alias,
bis Moder wepetb nibt and day
and seitb alias and weilawey
that evere heo iboren was.
bis wyf wepetb and maketb hir mone,
and seitb tbat beo scbal liuon al one
as turtul on the treo,
Euermore wt outen Make,
doye and blisse beo wole forsake,
lil heo bire spouse iseo.
(Nach Dr. Horstmann sind die beiden englischen Mss. des Alexisliedes
Im Anfange des 15. Jahrh. geschrieben.)
»
Dickens und seine Hauptwerke.
Eine kritische Studie.
I.
Man pflegt die Seelenthätigkeit eines Menschen in ein Er-
kenntnis-, Gefühls- und AVillenevermögen zu zerlegen. Auch
dem Kritiker kann es nicht orleichorültior sein, ob der Verstand
oder das Gemüt oder aber die Willenskraft bei einem Schrift-
steller vorherrschend ist. Hat ein Autor viel Kopf und wenig
Herz, so wird die pessimistische Ironie in seinen Schriften vor-
wiegen; spricht sein Herz zu laut, so wird sich Pathos und
Humor in seinen Werken abspiegeln. Allerdings w^ird sein
pathetischer Humor auch die Satire wachrufen, die, wie Taine
ganz richtig bemerkt, die Kehrseite der Elegie ist, da diese für
den Unterdrückten plaidiert, während jene dessen Bedränger
lächerlich macht. Während jedoch in der Satire des Verstandes-
menschen der Ernst über den Scherz vorwiegt, wird bei dem
gemütvollen Satiriker der Scherz über den Ernst triumphieren,
als derb-grotesker Humor leicht zur Karikatur ausarten und
sich nur selten zur Höhe der reinen Ironie erheben.
Wenn wir die humoristische Beanlao-ung" verschiedener
Nationen vergleichen, so fällt uns bald auf, dafs die französische
Litteratur schon seit mehreren Jahrhunderten, man könnte sagen,
seit Rabelais, keinen bedeutenden Humoristen hervorgebracht
hat; wir müfsten denn Marivaux und den allerdinors germanisch
beanlagten Genfer Novellisten Töpfer ausnehmen. Die meisten
von ihnen zeigen nur Spuren von Humor, der jedoch nur zu
bald zum komischen Humor, ja zur reinen Komik wird, indem
326 Dickens und seine Hauptwerke.
die vom Gemüt ausgehende humoristische Grimdstimmung zu
schnell an das bei den Franzosen so vorherrschende ernste Ge-
biet des Verstandes und des Willens streift. Das über die
Beanlaf^unfr eines Schriftstellers Gesagte dürfte aus neben-
stehender Tabelle noch übersichtlicher werden, und werde ich
auf dieselbe in den folgenden Kapiteln noch öfter zurück-
kommen.
Ehe wir uns mit unserem Schriftsteller speciell beschäf-
tio-en, drängt sich uns noch die allgemeine Frasje auf, welche Art
Menschen wohl am meisten dem Humor zugänglich sind, und
wir finden bald heraus, dafs weder ein zu oberflächlicher (Holtey),
noch ein zu tiefgehender Schriftsteller (Macchiavelli) humoristisch
M-irken könne, und dafs in der Mitte der beiden Extreme die
humoristische Ader zu suchen ist. Der Humorist darf also
nicht mit seinem Gegenstand tändeln, noch darf er sich in den-
selben einzubohren suchen; wohl soll er in denselben eindringen,
die Mühe mufs seine Kräfte jedoch nicht dergestalt absorbieren,
dafs von ihm, dem Schriftsteller, nichts mehr zu sehen ist.
Was die Satire betrifl^t, so drängt sich uns eine ähnliche
Wahrnehmung auf, und dumm gemütliche, oberflächliche Men-
schen werden ebenso wenig satirisch wirken als doktrinäre
Autoren.
«
In Übereinstimmung mit Taine und Forster läfst sich
Humor als die unserem Schriftsteller eigentümliche Beanlagung
bezeichnen; Lewes dagegen hat unrecht, wenn er ihm nur
Scherz (fun) zuspricht. (In unserer Tabelle haben wir diese
Beanlao-uno- als unechten Humor bezeichnet und Holtey als
Beispiel angeführt.) Im Gegenteil, Dickens' Humor ist so viel-
seitig, dafs derselbe bald als pathetischer, bald, und zwar in
der Hauptsache als derb-realistischer und phantastisch-grotesker,
wohl auch als komischer, selten als sentimentaler Humor auf-
tritt, und dies ist ein Reichtum von Nüancierungen, in dem
Boz nur von Shakespeare, dem König des echten Humors,
übertroflTen wird. — Was die Satire anbetriflPt, so steht unser
Autor, seiner Beanlagung gemäfs, tief unter Cervantes und
Swift, die mit der gröfsten Gleichgültigkeit, ja mit der Miene
der Bewunderung die Thorheiten ihrer ^Mitmenschen erzählen,
ja preisen konnten; noch kann es Dickens zu dem naiven Ton
Dickens und seine Hauptwerke.
327
C/3
o
Sentimentaler Pathos.
(Komperts Romane.)
Phantastisch - sentimentaler
Humor.
(Sterne, Goldsmith, J. P.
Richter und die Deutschen.) ,
n: c
- Pathos auf der IJühne : 2^
2.
b^
CO
N
I
Pathetischer Humor.
(Dickens.)
Komi-Tragik/
Tragi-Komik(
(Shakespeare.)
Ol
c
Ol
Cß
o
Derb -realistischer Humor.
Die Englander (Dickens),
die Amerikaner und Fritz
Reuter.
>^ = -^ i-
^> SB O
O CO ~
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ff-
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2 S = "^
-— —• ^ (T> ~
(T)
2 S.'^
cn "3 r^
c
I
o
Phantastisch-grotesker
Humor.
Rabelais, Dickens, Shake-
speare, die Karikaturisten
(Punoh).
Karikatur auf der Bühne :
Posse.
Milde Ironie.
(Cervantes, Ariost.)
Milde Ironie auf
der Bühne.
o Po:
. Wi"
Pessimistischer Humor
(Thackeray.)
Pathetische Sa-
tire mit pessi-
mistischem An-
fluge.
CT) §- SL 3 :3 3
^ =S "^ S ^
ft) ~. o: c o:
-C^^ CC 3 OD
Ö' ►—< <^ CC >-!
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CO
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3
Cl.
S-i
O
o
J <
Pessimistische Ironie.
(Heine, Byron, Swift.)
Scherzhafte Sa-
tire mit pessi-
mistischer Bei-
mischung.
3* ^
3 fD
3 p
si
CT? 2c
SO '^
o
~> N
o:
Ol
Epigrammatische Satire
oder Witz.
(Heine, Shakespeare als
Schöpfer Percys in Hein-
rich IV., Teil ], Akt 1, a.)
Unechter Humor, Scherz
(fun).
(Holtey.)
328 Dickens und seine Hauptwerke.
des „Paul Louis Courrier, Vigneron" bringen. Dazu gehört
ein kühler Verstand und ein kaltes Herz, auch viel Studium
des Stils der Alten und der Neueren. Denkt man an jene
Meister der Ironie, so kann man Taine wohl zustimmen, wenn
er von unserem Novellisten sagt, er werde zu ärgerlich über
die Thorheiten der Menschheit. Ohne weiteres kann man jedoch
dem berühmten Litterarhistoriker nicht beipflichten, wenn er bei
Geleo-enheit Carljles den Humor als eine specifisch germanische
Eif^enschaft ansieht. Schon die Römer sagten; Res severa est
verum o-audium ; Don Quixote und Molieres Dorine im Tar-
tuße zei'^en uns, dafs das humoristische Element auch dem
Spanier und dem Franzosen nicht fremd war; und die Rabelais-
sche Satire ist vor allem mit derb-groteskem Humor unter-
mischt. — Es ist allerdings wahr, dafs nur Deutschland, Eng-
land und Amerika eine humoristische Litteratur aufweisen kön-
nen. Eine Vcrglelchung des Humors in diesen drei Ländern
dürfte zum Verständnis der Dickensschen Romane beitragen.
Der deutsche Humor hat in Jean Paul seinen besten Ver-
treter, nimmt oft eine sentimentale Färbung an, verbindet sich
leicht mit lyrischen Stimmungen, und, ähnlich den launenhaften
Licht wölken der bengalischen Flamme, giebt er nicht nur den
Personen der Dichtung, sondern auch der sie umgebenden
Scenerie ein ziemlich gleichmäfsiges Gepräge, so dafs der Mensch,
wie in der Idylle, mehr der Natur koordiniert erscheint. Cha-
rakteristisch dürfte für den deutschen Humor der Umstand sein,
dafs die deutschen Pickwickier (ein Sportelschreiber u. s. w.)
in Neukirchen an der Werla, einem ganz unbedeutenden Orte,
spielen. Der deutsche Humorist ist sehr leicht der Gefahr aus-
gesetzt, dafs sich infolge der gleichmäfsigen Beleuchtung die
Peripherien der Figuren, sowie die charakteristischen Merkmale
derselben verwischen, oder dafs sein Humor wie ein friedloser,
launenhafter Zauberer ihn zweck- und ruhelos von einem epi-
sodischen Gegenstande zum anderen treibt.
Der en^'-liöche Humor unseres Jahrhunderts wird am besten
durch Dickens repräsentiert. Er begleitet den Menschen aus
der Familie zu Stätten regen Lebens, nimmt teil an den
ernstesten, wildesten Lebenskämj)fen und überträgt sich nicht
auf das Landschaftsbild, da der Engländer, im Gegensatz zum
Dickens uiul seine Hauptwerke. 329
Deutschen, den Menschen nicht als einen Teil der Natur an-
sieht, sondern ihn zu sehr zum Herrn der Schöpfung erhebt.
Die Energie seiner Hasse treibt den englischen Humoristen
leicht zur Karikatur und setzt ihn der Gefahr aus, die cha-
rakteristischen Merkmale seiner Figuren ins Groteske oder
Bizarre spielen zu lassen. Dickens' Pickvvickier sind Kaufleute,
die Weltstadt London und Umo-ebuno: bildet die Scenerie.
Der amerikanische Humorist, Irving als Beispiel, ist, wie
der Engländer, Kealist, und sein Humor ist wie bei diesem an
die Scholle gebunden. Während jedoch die brandende Meeres-
woge des englischen Humors die Peripherie des soeben Ge-
schaffenen auftreibt, zerreifst oder willkürlich verändert, dient
der transatlantische Humor nur zum Schmucke der Figur, wie
die Glasur an irdenen Gefäfsen. Wie der amerikanische sub-
tile und dekorative Humor dem Europäer oft unverständlich
erscheint, so unterscheidet sich auch der amerikanische Humo-
rist wesentlich von seinen Brüdern jenseits des Oceans. Er
bekleidet eine hohe Stellung, ist oft Staatsmann, Diplomat u. s. w.;
sein feines Benehmen, seine aristokratischen Manieren und be-
sonders seine heitere behasrliche Ruhe kontrastieren auffallend mit
den Vertretern des friedlosen Humors Deutschlands und Englands.
Wir bezeichneten Schiller als den besten Repräsentanten
der pathetischen Beanlagung. Nach seinen Werken zu urteilen,
ruft die Bezeichnung Pathetiker in uns das Bild eines jungen,
edlen, ernsten Mannes und einer ideal angelegten Natur hervor,
die das wirkliche Leben wenig kennt, da sie das Haupt be-
ständio- in den Wolken tru«:. Diese Klasse von Schriftstellern
zählt viele Bewunderer, wozu besonders das weibliche Geschlecht
gehört.
Der Mann des unechten Humors und des Scherzes wird
uns in seinen Werken den Eindruck hinterlassen, als ob er
auch in Wirklichkeit hüpfend und tändelnd über die Oberfläche
des Lebens hingleitet, mit einem beständigen Lächeln auf seinen
Lippen, vielen Freunden und wenigen Feinden (Holtey, Zschocke).
Der Satirist scheint seinen Werken nach viel älter zu sein,
viel erfahren und viel gelitten zu haben. Wir denken ihn uns
ohne Enthusiasmus und erkennen ihn an der Glatze oder der
330 Dickens uml seine Hanptwerke.
huhen Stirn, an dem Auije ohne Wärme und dem mitleidiijen
Lächeln des Weisen (Cervantes^
Den Mann des Witzes und der kahen Ironie stellen wir
uns crem als einen übersätticjten, bhisierten. von seinen Freunden
verlassenen Egoisten vor, der sich für nichts melir erwärmen kann.
Als Taine seinen oft erwiihnten Essay schrieb, lebte unser
Schriftsteller noch, und von seinem Lebensoantre war so sfut
als gar nichts bekannt: doch meint Taine. dafs man die näheren
Details über das Leben eines Schriftstellers zur Not entbehren
könne, da die Werke sich zu dem geistisfen Leben des Mannes
verhalten ^ie der Zeif^er der Uhr zu dem Räderwerk. Diese
Cr
Wahrheit ist unbestreitbar : der Schriftsteller als Mensch steht
wirklich in Wechselbeziehuu'T zu seiner Beanlasunor. die sich
in seinen ^A'erken kundgiebt : doch ist bei dem pathetischen,
scherzhaften, satirischen und wirzisen Schriftsteller diese Wechsel-
beziehuno- weit sfröiser. aus^enscheiulicher und untrüglicher als
bei dem Humoristen. — Wir nannten- den Humor ..friedlos".
In der That weist der Humorist die grofsten Inkonsequenzen
in seinen Handlungen auf, bewegt sich in Extremen, und wäh-
rend der Humor seiner Schriften Götter und Menschen fröhlich
macht, ist der vSchriftsteller, die Quelle desselben, in Freundes-
kreisen, bei Weib und Kind oft launisch, mifstrauisch und —
unberechenbar: jenem sicilianischen \'u]kan nicht unähnlich, der
hier lachende Fluren und herrliche ^^'einberore, und dort taubes
Gestein und gähnende Abgründe aufweist.
Dickens' Leben könnte man in zwei Abschnitte teilen. In
die erste Lebenshälfte fällt seine traurige Jugend im Eltern-
hause, seine Lehrzeit, seine journalistischen N'ersuche als Be-
richterstatter, seine ersten litterarischen Erfolcje und seine Ver-
heiratung. Xach mehreren Jugendporträts hatte sein Aussehen
etwas Kühnes und Geniales, das Haupthaar ist üppig und das
Gesicht zeugt von innerer Befriediguncr.
In der zweiten Lebenshälfte veröffentlicht er weitere Haupt-
werke, wird wohlhabend, berühmt — und rastlos, macht häufige
Reisen in Grofsbritannien und nach dem Kontinent, hält sich
abwechselnd in Frankreich, Italien und der Schweiz auf und
erscheint zweimal in Amerika. Nach seiner zweiten Rückkehr
trennt er eich von seiner Gattin, die ihm mehrere Kinder
Dickens und seiue Hauptwerke. 331
f/eboren, hält zahlreiche VurlesuDf^en in den verschiedensten
Städten, teils zum Besten eines Vereins zur Unterstützung
armer Schriftsteller, teils zu seinem eigenen Nutzen. In seiner
Biographie finden Geldsorten häufige Erwähnung und lassen
Dickens als praktischen Engländer erkennen. Schon lange, ehe
Lähmung seines linken Beines einen Nervenschlag vorbereitete,
war sein Haupthaar grau und dürftig geworden. Auf einem
späteren Bilde hat er etwas Plebejisches an sich (er erscheint
mit den Händen in den Hosentaschen), und sein Gesicht weist
vulcräre Züse auf, die inneres Unbehasjen verraten. Wie Forster
berichtet und wie auch seine späteren Werke zur Genüge be-
weisen, spricht er in dieser Periode seines Lebens häufig und
sehr absprechend über Parlament, Politik und Staatsökonomie,
über Titel und Würden.
Vieles, was hier nur kurz angedeutet worden ist, dürfte in
des Novellisten Beanlagung begründet sein. Der europäische
Humorist hafst konventionelle Formen; sein Benehmen ist un-
f^ekünstelt, und er folsct in Nebendincren — und leider oft in
Hauptsachen — der Laune des Augenblickes, daher das Ple-
bejische in Erscheinung und Manieren, das Unberechenbare und
Plötzliche in seinen Handlungen. Obwohl er oft einheimische
Einrichtungen tadelt, ist er doch weit entfernt, das Fremd-
ländische vorzuziehen, und wenn wir die amerikanische Epi-
sode in Martin Chuzzlewit lesen, glauben wir fast, dafs
Dickens ..Fremde und Elend" für identisch hielt. Wie würde
vSealsfield jene amerikanische AVihlnis geschildert haben ! Der
Humorist dagegen ist zu sehr Patriot und kann nie ein
Kosmopolit werden. Diesem Gemütsmenschen fehlt der Sinn
für das Praktische und das Gerechtigkeitsgefühl, das Für und
Wider in fremdländischen Einrichtungen abzuwägen. — Die-
selbe ruhige Besonnenheit mangelt seiner Handlungsweise im
Privatleben. In Henry Esmond, einem der Hauptwerke Thacke-
rays, verliert des Helden AA'ohlthäter plötzlich die Liebe zu
seiner .durch die Pocken ihrer Schönheit beraubten Gattin, und
der V^erfasser sagt, dafs in diesem Falle Reflexion allein einen
Ehemann vor einer ähnlichen Thorheit bewahren könne. Gerade
diese Reflexion fehlt unserem Schriftsteller, wie so vielen Ge-
mütsmenschen, und man könnte sich fast versucht fühlen, die
332 Dickens und seine Hauptwerke.
geistreiche Bemerkung Taines, dnCs Dickens und Thnckeray ein-
ander ergänzen," in einem anderen Sinne zu gebrauchen und auf
den Mensclien (Boz) selbst anzuwenden; denn bei unserem Humo-
risten vermissen wir leider die aus Reflexionen hervorsebende
Älafsigung und das satirische Lächeln des wahren Welt weisen.
Homer und die Alten, Goethe und Lessing, George Sand
und Balzac, Jane Austen und Walter Scott, alles Dichter von
Gottes Gnaden, lassen in ihren Werken eine iJflelchmäfsiffe
' So
Ruhe herrschen, die uns eine vollkommene Befriedigung se-
währt, wie die Betrachtuntr der ruhigen Schönheit des Regen-
bogens am Himmelsgewölbe.
Bei feurigen Naturen, inspirierten Dichtern und Enthusiasten
werden wir diese ruhio^e Schönheit und Re^elmäfsio^keit ver-
missen. Das Schöne und namentlich das schwache Schöne ist
nicht nach ihrem Sinne ; sie wählen das Erhabene, das starke
Schöne, zu ihrem Ausgangspunkt. Nun ist es aber mit dem
Erhabenen und mit dem Pathos wie mit dem Blitz: der mit
Vehemenz geschleuderte Strahl stöfst im Reflexionswinkel auf
das Komische. So hat der erschütternde Pathos in Schillers
Kabale und Liebe oft derbe Komik im Gefolge. Byrons Aus-
gangspunkt war pessimistische Satire, welche sich jedoch in
das herrlichste Pathos verwandelt, sobald ein duldendes Wesen
an des Dichters Herz appelliert. Dickens' Ausgangspunkt ist
das Lächerliche und der phantastisch-groteske Humor. Wie
aber durch „die Anziehuno; einer Elektricität die entgeojen-
gesetzte frei wird*', so tritt in seinen Schriften der pathetische
Humor nur zu bald als Gegenstück auf. Pickwick, dieser alte
Knabe, wirkt zuerst auf unsere Lachmuskeln, zuletzt ist er die
personifizierte Nächstenliebe. Diese stofsweise Art des Schaffens
ist dem (lemütsmenschen und besonders dem Humoristen eigen,
„der, einer hysterischen Frau nicht unähnlich, rasch aus dem
Lachen in das Weinen verfällt".
Es ist jedoch nicht nur die Beanlafjune: des Dichters, welche
diese Art des Schaffens bedingt, auch die Zeit, in welcher
ein Dichter schafl^t, trägt das Ihre dazu bei. Gewaltige Zeiten,
die Reformation und die französische Revolution, erzeuizten
die Karikaturen-Litteratur, Ein Jahrhundert, das einen Byron
\
Dickens und seine Hauptwerke. 333
sieht, wird ebenfalls die gröfsten Gegensätze und mtinche Schlacht
auf geistio-em Gebiete zu verzeichnen haben. Kann es uns
wunder nehmen, dafs Byrons Pessimismus, der an der A\'elt-
ordnung verzweifelt, den Optimismus Dickens' „als entgegen-
gesetzten Pol frei macht"? In diesem bewegten Jahrhundert,
welches eine wahre Karikaturen-Litteratur im Punch, Kladde-
radatsch, ja selbst in den Fliegenden Blättern, aufweist, wird
dieser Optimist die bisher dem Zufall überlassene Form zur
Blüte bringen und in derselben das Höchste und das Möo-lichste
leisten. — Wie die Melodie von der Musik, so war die Karika-
turen-Litteratur stets vom Bilde begleitet ; jetzt kommt ein Schrift-
steller, welcher allerdings auf das begleitende Bild noch nicht
verzichtet, jedoch innerhalb dieses Genres eine Handlung frei
erfindet und an einem epischen Faden Begebenheiten, heitere
wie traurige, sich abwickeln läfst, wie sie unser Jahrhundert,
^vie sie jeder Tag mit sich bringt. Dieses Genre der Litteratur,
welches Dickens einführte, entwickelte und mit Glück aus-
beutete, hat entschieden eine Zukunft, da es mehr unserem Jahr-
hundert und dem wirklichen Leben entspricht, welches so arm
an grofsen Katastrophen und so reich an kleinen Übeln ist, die
sich die Menschen selbst aus Thorheit und durch beständiire
Reibungen bereiten.
Wenn also Taine George Sand und Balzac mit Dickens
vergleiclit, mufs er natürlich auf eine grofse Verscliiedenheit
stofsen, die sich jedoch aus dem Unterschiede ihrer Dichtun^j-s-
gebiete erklärt. Dickens gehört zu der Klasse von Schrift-
stellern, die sich ihrem dichterischen Instinkt, und zwar dem
ersten Impulse überlassen; es ist jedoch nicht nötig, mit Taine
und Lewes anzunehmen, dafs seine Schöpfungen die dichte-
rischen Eingebungen von Hallucinationen seien : es sind nur die
Ergüsse eines warmen, nach Ausdruck ringenden Herzens. Der
Humorist Dickens steht somit Fieldino- dem humoristischen
Komiker, dem Manne des Verstandes, entgegen, welcher den
Leser die Nachtlampe und die Feile erkennen läfst, und der
uns in einem der 28 höchst geistreichen Eingangskapitel zu
Tom Jones u. a. auseinandersetzt, warum er den Charakter
von Black George mit einem schwarzen Tüpfelchen versehen
habe. — Jene Art des raschen, ungestümen und unbewufsten
334 Dickens und seine H<auptwerke.
Schaffens it^t dem Humoristen eigen und für seine Werke wün-
schenswert; denn was wäre Humor, wenn er aus Reflexion her-
voro'inse? — Solche Schriftsteller werden allerdiniijs nicht, wie
Balzac und George Sand, das allgemein Menschliche zum Aus-
druck bringen ; denn das erfordert Reflexion, Abstraktion und
trrofsen Kunstsinn ; aber als Entschädigung werden sie Scenen
und Personen aus ihrer Umgebung getreu abzeichnen ; sie
pflegen zu lokalisieren, und ihre Figuren bedürfen nicht des
Heimatsscheines, wie so viele der beiden genannten französischen
Autoren: man wird sie sofort als Engländer, Londoner und als
Kinder des 19. Jahrhunderts erkennen.
Dafs einige untergeordnete Figuren, wie Mrs. Gamp, Mercy
Pecksniff u. s. w. so oft dasselbe sagen oder thun, dürfte Taine
nicht wunder nehmen ; denn die Wiederholung gewisser Satze,
Gesten oder Handlungen ist eines der wichtigsten Wirkungs-
mittel der Karikaturisten, welches durch die Plötzlichkeit des
Auftretens noch verstärkt wird.
Karikaturen Zeichner wie Dickens pflegen den Menschen
im Affekt zu beobachten und zu fixieren. Shakespeare, G. Sand
und Balzac werden ihn in der Ruhe darstellen, wie sein Gesicht
und seine Körperhaltung nur Gefühle, nicht Gefühlserhebungen
ausdrücken. Die letzteren fertigen Porträts, die ersteren sind
Historienmaler.
Als weitere Unterscheidung erwähnen wir noch, dafs es
der Londoner Feuilletonist mehr auf rasche lukrative Erfolge
abgesehen hatte, und deshalb, dem Geschmack des Publikums
cremäfs, trotz aller Wahrheit der Charakterzeichnung, sein Haupt-
augenmerk auf eine interessante Handlung richten mufste, wäh-
rend G. Sand und Balzac diese als unbedingte Folge der Be-
nnlaorunir der Handelnden hinstellen. Die Methode der letzteren
ist entschieden künstlerisch zu nennen, jedoch auch das Dickens-
sche Verfahren hat etwas für sich, und besonders den Balzacschen
pathologischen Studien gegenüber, mufs es als naturgemäfs und
gesund bezeichnet werden. Dafs jede der beiden Methoden ihre
Berechtisuns: hat, dürfte schon Aristoteles erkannt haben, der
die die Handlun": betonenden Dramen sorf^fältis; von den-
ienioren unterschied, welche uno^ewöhnliche Charaktere entwickeln
sollten. — —
Dickens und seine Hauptwerke. 335
Man hat den Satz aufgestellt, ilafö die PoCfie älter sei als
die Prosa, indem die erstere nur einen Naturzustand bedinge,
die letztere dai^esfen eine höhere Kulturstufe erheische. Diese
Behauptung hat entschieden etwas Richtiges; denn die ältesten
Spuren der Litteratur sind nur in einer Art Poesie denkbar,
wofern man unter derselben reimlose, wilde lyrische Ergicfsungen
verstellt, welche grofse Naturereignisse, Liebe, Schmerz und
Tod dem halbwilden Nomaden entlockten und mit den Empfin-
dunofslauten eines Kindes beim Zahnen oder bei freudif2;er Über-
raschunsf veroHchen werden können.
Im reiferen Kindheits- und ersten Jugendalter der Völker
riefen gemeinschaftliche Wanderungen oder Kriege die epische
Gattunof hervor, in deren reinsten Produkten ein uno:evvöhnlicher
Mensch geschildert wird, welcher, die Aufgabe des grof^en
Ganzen verfechtend, alle Schwierigkeiten und Hemmnisse über-
windet.
Der Sieg der Subjektivität über die Objektivität, welchen
das Epos verherrlicht, konnte die aus der Bewegung wieder zur
Ruhe und zu einem o-ewissen Komfort zurücko-ekehrten Völker
im reiferen Jünglings- und Mannesalter nicht mehr interessieren;
da sie das Falsche der Gattung erkannten, erhoben sie ihren
durch Erfahrunof orereiften Blick zu dem Helden, welcher im
Konflikte mit dem Bestehenden trao-isch oder komisch vernichtet
wird. Das dramatische Dichtungsgebiet, in welchem die Ob-
jektivität über die Subjektivität triumphiert, ist somit die höchste
Kunstgattung, und trotz gleicher Genialität steht Shakespeare
über Cervantes.
Es ist merkwürdig, dafs fast bei allen Völkern, welche
sich überhaupt zu dieser letzten und höchsten Entwickelungs-
stufe erhoben, die Pflege der .dramatischen Kunst von einem
frewaltiffen Aufschwuno; der Prosa begleitet war. Bacon war
Shakespeares Zeitgenosse, Pascal schrieb zu Corneilles Zeit,
Macchiavellis 11 Principe erstand in den Tagen Ariosts und
Tdssos, und Cervantes' Don Quixote verdunkelte Lope di Vegas
Ruhm.
Der Protestantismus und sein Einflufs selbst auf katho-
lische Länder, die Buchdruckerkunst, Schulen auf dem Lande,
Fabrikwesen, selbst die Beschränkung des patriarchalischen Ein-
336 Dickens und seine rinuptwerke.
flusses des Adels auf das Volk — mit einem Worte reale
Momente, trugen direkt oder indirekt zur Hebung der Prosa
bei. — Nun aber verspürt jedes Zeitalter ein Bedürfnis nach
einer gewissen Dichtungsart. Für die Lyrik und das Epos
war unsere Zeit zu materiell, und das Drama konnte nicht allen
gebildeten t^lementen zuo^äniilich f!:emacht werden. So erwuchs
den Trümmern der poetischen Dichtüngsarten eine neue pro-
saische Form, der Roman. Sein Erscheinen in unserer Zeit
zeusrt durchaus nicht von einem Zurücko;ehen der Litteratur
und einer Nation, vorausgesetzt, dafs Epos und Drama die
Vorgänger des Romanes waren. Das Beispiel der Griechen
wird von den Geo;nern dieser Dichtung-sart mit Unrecht heran-
gezogen; denn dort können nur vereinzelte Produkte Ansprüche
auf diesen Namen erheben, während sich bei uns der Roman
als eine neue Dichtungsform schon seit Jahrhunderten behauptet
und bereits so herrliche Blüten getrieben hat, dafs er sich zwar
noch nicht mit dem Trauerspiel, w^ohl aber mit der Komödie
messen kann.
In der Zeit des Feudalismus wurden die Thaten der Ritter
in epischer Form besungen. Den Ritterepen folgten die Ritter-
romane. Die Naivität jedoch, welche die Odyssee und die
IHade so sehr auszeichnete, und ohne welche ein Epos nicht
denkbar ist, Sfin": mit dem Verschwinden des Rittertums all-
mählich in die Ironie eines Cervantes und eines Ariost über.
Cervantes' Don Quixote in Prosa trug das Ritterepos und den
Ritterroman zu Grabe und schuf den modernen Roman. Ge-
schichtlich ist es daher ^erechtfertioft, den Roman als das Kind
des Epos zu bezeichnen; viele und zwar die Hauptmomente
sind entschieden episch, andere dagegen sind lyrisch oder dra-
matisch. Welch ein herrliches Feld der Thätigkeit erwartet
hier den talentvollen, ja genialen Schriftsteller? Seine Aufgabe
wird namentlich die sein, diese drei Dichtungsarten so glücklich
zu verschmelzen, dafs auch in diesem geschmähten Genre ein
Kunstprodukt entsteht.
Und Dickens ist in der Verschmelzung dieser drei Elemente
unübertroffen; G. Sand und Balzac stehen unter ihm. — Wie
das Epos, wenigstens in seiner Reinheit, einen glücklichen Aus-
gang anstrebte, so läfst Dickens seinen Romanhelden über alle
i
Dickens und seine Hauptwerke. 337
Schwieri«;keiten siegen und sich einen Weg zum Glücke bahnen.
Seine Werke gehören mithin nicht jener Zwittergattung an, wo
des Romanhelden ein tragisches Ende wartet. Es liegt dann
allerdings dem Romane die Gefahr nahe, ins Gesuchte, Unge-
sunde und Falsche zu verfallen, da in der realen Welt die
Objektivität und nicht die Subjektivität triumphiert. Diese ver-
hängnisvolle Klippe des Romanschriftstellers vermeidet Dickens
höchst geschickt. Er steckt seinem Helden ein nur mäfsiges
Ziel ; läfst beispielsweise den jungen brotlosen Verlassenen seine
Verwandten (Oliver Twist) oder sein Auskommen finden (Nicholas
Nickleby); ein pockennarbiges Kind gewinnt die Liebe eines
Armenarztes (Bleak House), und die Tochter eines patrizischen
stolzen Kaufmannes (Dombey) erreicht nach den traurigsten
Familienereignissen das von ihr ersehnte Ziel, die Frau eines
armen, aber ehrlichen Jünglings zu werden. Frühere Schrift-
steller rüsteten ihre Kinder der Liebe mit Klugheit und Schön-
heit aus, und eine reiche Heirat entschädigte für die Unbill der
früheren abenteuerlichen Fahrten ; oder ein armer ehrenwerter
Commis warb um die Tochter seines reichen Prinzipals; jetzt
kommt Dickens, welcher für seine Familienromane die alten ab-
gedroschenen Motive zwar benutzt und, wegen des Mangels an
Auswahl, benutzen raufs, aber durch die Umkehrung wird das
Alte neu in seinen Händen, und die Überraschung des Lesers
wird vollständig durch die geistreiche Ausführung dieser ein-
fachen Motive. Wenn ein Schriftsteller mit den einfachsten
Kunstmitteln viel erreicht, müssen wir ihn um so hoher stellen.
In Mauprat (von G. Sand), welches von Taine Dickens' Werken
als Muster entgegengehalten wird, hat sich die geistreiche Ver-
fasserin nicht mit so einfiichen Mitteln begnügt: ein junger,
aber noch nicht ganz verdorbener Räuber gewinnt die Liebe
seiner schönen und reichen Cousine Edmee, die ihn allmählich
von seiner inneren Verworfenheit befreit hat. Balzacs Kunst-
mittel können erst recht nicht einfach genannt werden.
Wir erwähnten Dickens' stark besuchte Lesevorträge. Mag
nun die Neugierde, den Schriftsteller zu sehen, bei vielen der
Hauptgrund gewesen sein, jene Meetings zu besuchen, so viel
steht fest, dafs die dem Autor in denselben gebrachten Ovationen
zum Teil auf die in seinen Schriften enthaltenen dramatischen
Aicliiv f. n. Spracliea. LXXUI. 22
338 Dickens und seine Hauptwerke.
Elemente zuriickzul'iiliren sind. Obwohl er als Londoner Feuille-
tonist auf die Handlung das Hauptaugenmerk richtete, so ver-
stand es doch niemand besser als Dickens, die Handlungen der
Personen durch deren Charakter zu motivieren und denselben
durcli den Dialog so auszudrücken, dafs die Bruchrechnung
vollständig^ aufsieht und das Fehlende nicht erst durch ErkUi-
runfren vervollständiot werden mufs. Die ersten trefflichen Bei-
spiele dieser Conversatlon of character, welche ein wichtiges
dramatisches Moment bildet, finden sich in Nicholas Nickleby. —
Da Dickens nach iVrt der meisten Humoristen ungewöhnliche
und originelle Menschen während des AflPekts beobachtete,
mufste das Mienenspiel derselben dem I^eser mitgeteilt werden ;
Einschaltungen wie „brummte Kalph", ..flüsterte der Nachbar",
„stammelte Käthchen", „indem Mrs. Nickleby ihre Freier an
den Fingern aufzählte", machen die Illusion vollständig, und
man glaubt nicht selten sich vor der Bühne zu befinden. Die
Anfangssätze der Kapitel, welche den Schauplatz der Handlung
schildern, könnte man als die im Hlntersfrunde befindliche
Bühnendekoration ansehen. Doch sind es nicht allein diese
dramatischen Aufserlichkeiten ; der Kern der Dlckensschen Ro-
mane ist selbst stark dramatisch o^efärbt und brinoft die dem
Drama eigene stofsweise Wirkung auf den Leser hervor. Wäh-
rend der Held, in epischer Reinheit mit dem Strome der Ge-
sellschaft schwimmend, sein Ziel erreicht, finden wir zu seiner
Rechten und Linken andere, die, gegen den Strom ankämpfend,
im Konflikte mit der Sitte, der Moral und den Menschenrechten
tragisch oder komisch vernichtet werden. Das lebhafte Kolorit
dieser dramatischen Personen verleiht somit dem schalen Roman-
helden im Vordergrunde einen gewissen Glanz durch Kontrast
und Reflex. Auf die Ausführuno; dieser dramatischen Fio;uren
hat der Verfasser grofse Sorgfalt verwendet und in ihrem Thun
und Treiben wichtige psychologische Probleme gelöst.
Dasselbe gilt leider nicht von der Gruppe von Personen,
die sich auf dem dritten Grunde befinden, einer Anzahl von
Karikaturen, welche zum Teil }2rut getroflfen sind, von denen
aber einige recht störend in den Gang des Stückes eingreifen. I
Es sind meist nach dem Leben gezeichnete Originale, welche |
Dickens' Bekanntenkreise angehörten und zu wirkHch sind, um
Dickens und seine Hauptwerke. 339
einen angenehmen Eindruck hervorzubrinsfen. Fräulein Mowcher
(Copperfield) und die Sniallweed-Familie (Bleak Housc) sind
ganz besonders hier zu erwähnen. — Doch führen wir der-
gleichen Figuren des lebhaften Mienenspiels wegen bei den
dramatischen Elementen seiner Komane auf. Während Dickens
in der vorigen Gruppe mehr den Menschen schildert, pflegt er
hier den Engländer und namentlich den Londoner zu zeichnen.
"Wie aber in der Waldkultur die kräfti^isten Stämme durch
zu viel Unterholz leiden, so wird auch dieser Reichtum an
Nebenpersonen dem Kunstprodukt zuweilen verderblich (siehe
Copperfield und Bleak House). Doch gewinnen die meisten der
DIckensschen Romane infülo;e der vielen Figuren nur an Um-
fang, ohne an innerem Gehalt zu verlieren; einige Werke
(Chuzzlewitt und Dombey) sind von diesem Fehler ganz frei.
Die Werke von G. Sand und Balzac sind dieser Gefahr
o-ar nicht auss^esetzt. Beide Autoren beschäftl2;en sich vorzusfs-
weise mit den Hauptpersonen, oft nur mit zwei Figuren
(Mauprat — Elle et Lui — Jullenne), was zuweilen eine ge-
wisse Monotonie hervorruft; d^nn trotz ihres künstlerischen
Talents können sie es nicht immer vermelden, dafs das Schöne,
und namentlich das schwache Schöne, zuweilen in das Fade
übergeht. Ihre Romane sind jenen klassischen Violinduetten
nicht unähnlich, in w-elchen das Orchester nur sekundieren darf,
während Dickens' Romane einige Züge mit unserer deutschen
Zukunftsmusik oremein haben, die das Fade der Melodie durch
den herrlichsten Unterorund des vollen Orchesters zu verdecken
und zu heben versteht.
Eine bewunderuno'swürdlge Harmonie wird den Dickens-
sehen Romanen noch durch die bedeutenden lyrischen Momente
verliehen, welche durch Kontraste und Todesfälle, seltener durch
die Natur, hervorgerufen werden. Diese lyrischen Elemente
sind um so rührender, als wir in ihnen nicht die geringste
Effekthascherei erblicken, und sie unterscheiden sich nur da-
durch von den am Eingänge erwähnten reimlosen, wilden lyri-
schen Erglefsungen der Naturvölker, dafs die ursprüngliche
Naivität durch pathetischen Humor ersetzt wird, der sich oft
glücklich zum reinen Pathos herausarbeitet.
überhaupt fehlt Dickens, so oft er das Naive zum Gegen-
22*
340 t)ickens und seine Hauptwerke.
stunde seines Schaffens macht. (Siehe Estlier Sununerson und
besonders David Copperfield, das Kind.) Durch des Schrift-
stellers epische Naivität klingt dann Dickens' Humor hindurch,
wie das Schnarchen eines in seiner Höhle schlafenden Lövven.
Unter den naiven Gestalten dürfte Mercy PecksnifF noch am
besten gelungen sein. Die milde Ironie, mit welcher der epische
und der Romandichter über ihrem Helden zu schweben pflegen,
ist da^esfen Dickens wohl bekannt und zeii>;t sich recht bei
Pickwick, Nickleby und Dombey. — Im Humor leistet jedoch
Dickens noch mehr als in der Ironie, und darin können wir
durchaus keinen Fehler erblicken; denn da der handelnde
epische Held zu dem in der Schule der Erfahrung für das
Wirken erzo^^enen Romanhelden (geworden ist, steht der letztere
dem Herzen des Schriftstellers näher als der epische Held, und
die mildeste Ironie kann in dem Familienromane sehr wohl dem
Humor Platz machen. Der Roman dürfte somit das geeignetste
Dichtungsgebiet des humoristisch beanlagten Schriftstellers sein.
Einer alten Einteilung gemäfs zerlegten wir oben das
Seelenleben des Menschen in Intellekt, Gemüt und Charakter,
und fanden heraus, dafs das Gemütsleben Dickens' ganz beson-
ders entwickelt sei. Nun steht aber fest, dafs zwischen jedem
Schriftsteller und seinen Lieblingsfiguren und Idealen — geistig
wie körperlich — eine grofse Ähnlichkeit obwaltet. Wenn wir
uns Dickens' Schöpfungen näher ansehen, finden wir bald, dafs
Pickwick, Nlcholas Nickleby und viele andere seiner Lieblinge
ein feuricres, unofestümes, aber edles Gemüt besitzen, einem feu-
rigen Rosse gleich, welchem das Intellekt, jener Rosselenker,
oft verireblich Zü^el anzuleg;en versucht. Das Herz der Dickens-
sehen Ideale pflegt bei fremdem Unglück zu zerschmelzen, und
der bekannte, echt englische Grundsatz „Always mind your
own business" scheint ihnen unbekannt zu sein. Indem sie nun
anderen helfen wollen, werden sie selbst in allerlei Schwierig-
keiten und Händel verwickelt, in welchen jedoch der von der
Vorsehung zum Führer des Gemüts bestimmte Verstand sich
nur wenig Rat welfs. Indem sie sich so an die Allgemeinheit
aufopfern, vernachlässigen sie ihre eigenen Interessen. Wenn
es sich darum handelt, fremdem Elend zu steuern, kennen sie
Dickens und seine Hauptwerke. 341
kein Besinnen ; wenn es jedoch gilt, die eigenen Interessen zu
verteidioren, wird ihr erfahruns^sloses Herz in ein unselisfes
Schwanken versetzt, da der Sittlichkeitsfaktor, jenes Verbin-
duno^pglied zwischen Gemüt und Charakter, s;anz bedeutend aus-
gebildet ist, während ein anderer wichtiger Faktor des Cha-
rakters, die Konsequenz im Handeln, ihnen gänzlich abgeht.
Der Dickenssche Liebling ist daher nicht harmonisch ent-
wickelt; denn in den häufigen Konflikten des Gemüts fehlt ihm
ein männlicher und entschlossener Charakter, oder, um zu un-
serem Bilde zurückzukehren, das andere, dem ersten beigesellte
liofs, welches dessen ungleichen Schritt regelt und mehr auf
den Zügel des Intellekts zu achten versteht.
Doch vergessen wir nicht, dafs diese Dickensschen Lieb-
linge ganz herrliche ßomanhelden abgeben. Kein Mensch ist
mehr geeignet, in Konflikte des Gemüts und des Gewissens
versetzt zu werden und in der Schule der Erfahrung zu reifen,
als dieser unharmonische Liebling der Dickensschen Muse.
Und diese inneren Kämpfe des Gefühlslebens mit der Härte der
äufseren Welt in Verbindung zu bringen, ist ja so recht Auf-
gabe des Romanschriftstellers.
Nachdem wir aber jene Lieblinge Dickens' als für den
Roman recht geeignet bezeichnet haben, können wir nicht umhin,
ihnen im praktischen Leben Glück, Wohlstand und Gelingen
ihrer Pläne abzusprechen. In Wirklichkeit erreicht jener Mensch
viel besser und schneller sein Ziel, welcher, mit Intellekt und
Charakter begabt, das ihn ins Schwanken versetzende Gemüt
gar nicht in Frage zieht. Auch diesem Menschen mangelt es
an innerer Harmonie; aus Princip entspringender Egoismus ist
sein Kern, und so mancher von des Schriftstellers Landsleuten
und Zeitgenossen, ja die ganze grofse englische Nation in Poli-
tik, Kolonisation und Handelssystem repräsentiert ein solches
unharmonisches Gespann.
Der Umstand, dafs Dickens den Gemütsmenschen zu sei-
nem Ideale erhebt, den harten, energischen und mechanisch vor-
gehenden matter of fact Menschen dagegen lächerlich macht,
oder denselben gar eines gew^altsamen Todes sterben läfst, nach-
dem er ihn schon in der Anschauung des Lesers komisch ver-
nichtet hat, mag Taine zu dem Schlüsse veranlafst haben, dafs
342 Dickens und seine Hauptwerke.
Dickens mehr der angelsächsischen und gemütvollen Richtung
des englischen Volkes angehöre, die sich noch von Zeit zu Zeit
an der Seite der strengen, energischen normannischen Richtung
bemerkbar macht. Die Behauptung, dafs auf die normannische
Invasion allein dieser, bis auf unsere Tage reichende Einflufs
auf Eno'lands Wohlergehen und den enohschen Volkscharakter
zurückzuführen sei, ist bereits ad nauseam wiederholt worden,
aber trotzdem mit einer o-ewissen Vorsicht aufzunehmen. Schon
in dem Ano;elsachsen auf deutschem Boden sind die Keime des
enorlischen Nationalcharakters zu finden. Wie unterschieden
sich schon in der Sprache ihre nledersächsischen Vorfahren von
den mehr im Süden wohnenden deutschen Stämmen! Der Unter-
schied springt in die Augen, wenn wir die kernige, energische,
auf gegenständliche Erzählung losgehende Sprache des nieder-
sächsischen Heiland der sentimentalen Auffassungsvvelse des
süddeutschen Otfried ent2[eo:enhalten. Die auf Englands Boden
schon vor 1066 entsprossene angelsächsische LItteratur ist ein
weiterer Beleg für die oben aufgestellte Behauptung. Man ver-
gleiche nur das angelsächsische Lied des Beowulf mit dem auf
deutschem Boden gesungenen Karlsliede. Das angelsächsische
Gedicht kennzeichnet eine kernige Gegenständlichkeit und eine
w^ilde Energie, während das innigere Gefühlsleben des deut-
schen Sängers mehr der Befriedigung der Ruhe nach dem
Kampfe Ausdruck giebt und in Danksagungen gegen Gott zer-
fliefst. Dafs die normannische Invasion ohne Einflufs auf Eng-
lands Geschick und Volkscharakter gewesen Ist, wird wohl nie-
mand leugnen; doch 60000 Mann konnten diesen Einflufs nicht
ausüben, wenn nicht schon die Keime zur Entwickelung der
neuen Elemente im Volke selbst vorhanden waren. Wenn nun
Dickens' Empfindungsweise nicht rein englisch ist, mufs sie
deshalb noch nicht angelsächsisch sein. Man vergesse nicht,
dafs vor dem Erscheinen der Angelsachsen in England sich
eine Nation träumerischer Gemütsmenschen auf britischem
Boden befand. Und wenn Taine in Dickens etwas von einem
Angelsachsen wittert, dürften andere geneigt sein, in seiner
Gemütsverfassung und in der seiner Lieblingsfiguren (sogar In
einigen Hauptzügen Copperfields) wesentliche Anklänge an
den keltischen und namentlich an den irischen gemütvollen
Dickens und seine Hauptwerke. 343
Charakter zu finden, der in ßurke seine herrlichste Blüte
trieb.* Der Iren Enthusiasmus beim Handeln, ihr Mitleid mit
dem Duldenden, ihre Interesselosigkeit an eigenen Angelegen-
heiten, verbunden mit der Sucht des unzeitigen Einschreitens
zu gunsten Fremder, bilden einen schneidenden Gegensatz zu
der kühlen Besonnenheit des Engländers, seiner Indifferenz für
fremdes Leid und Handeln und der starken Betonung des eio'enen
„Ich" in allem Thun und Lassen.
Dickens' Lieblingsfiguren sowohl wie dem ihm so verhafsten
matter of fact Menschen sprachen wir bereits eine harmonische
Entwickclung der Seelenkräfte ab; denn bei jedem von beiden
vermissen wir etwas Wesentliches. Nun müssen wir aber wissen,
dafs alle grofsen Volksprediger, Luther nicht ausgenommen, im
gewissen Sinne das Beispiel unseres Heilandes nachahmen, der
den in seiner Zeit so starren Buchstabenglauben vernichtete,
was er in unserer Zeit des Indiflferentismus für unnötig, ja für
verderblich gehalten haben würde. Der Reformator wird nur
dann fruchtbar wirken, weun er dem Volke im grellen Lichte
das zeigt, was ihm fehlt. Mögen also des Dichters Ideale in
Wirklichkeit unharmonisch sein, er strebt trotzdem die Har-
monie des inneren Menschen an : es ist eine auf Gemütsbildung
beruhende Charakterbildung, welche hier dem englischen Volke
in allen Schriften unseres reformatorischen Schriftstellers ge-
predigt wird.
Die Forderung der gemütvollen Auffassung ihrer Pflichten
stellt Dickens namentlich an alle Diener derjenigen Institute,
welche die Weltordnung zu Hütern und Vormündern ihrer Mit-
brüder eingesetzt hat. — Trotz der heftigen Angriffe auf Ge-
richts- und PoHzeiwesen, auf Schule, ja selbst auf Fakultät und
Kirche, ist Dickens ein guter Christ, ein eifriger Protestant,
ein guter Staatsbürger und durchaus frei von utopistischen
Ideen. Dickens' Angriffe gegen diese Institute erklären sich
nur aus dem oben näher erörterten Princip, den mechanisch
vorgehenden und selbst in Amt und Würden geschäftsmäfsig
* Die Verschiedenheit zwischen dem irischen Enthusiasten Burke und
Fox, dem englischen Advokaten und kühlen matter of fact Menschen, hat
Macaulay so schön im Warren Hastingsschen Prozefs dargethan. Der Cha-
rakter Sheridans hält die glückliche Mitte.
344 Dickens und seine Hauptwerke.
handelnden matter of fact Menschen an der Spitze seiner
Mitbrüder zu beobachten und der Lächerlichkeit zu über-
leben.
Da der Romanschriftsteller nicht wie der Dramatiker Pro-
bleme zu stellen, sondern sich auf realem Boden zu halten hat,
mufs seine Weltanschauung wie sein Werk prosaisch sein.
AVährend Shakespeare und Goethe wie Adler ihren Seherblick
von idealen Höhen auf die Zweckmäfsigkeit der Weltordnung
lenken, kann des Romanschriftstellers Auge, der Henne gleich,
nur das ihm nahe Liegende erkennen. Wie Dickens selbst an
die Heilslehren der Offenbarung glaubt, thut er auch in seinen
Werken dar, dafs Gott den Bösen bestraft und den Guten be-
lohnt, wäre es auch erst in jener Welt ; dafs bei Boz der Zufall
eine viel gröfsere Rolle in der Weltordnung spielt als bei den
Dramatikern, erklärt sich aus den verschiedenen Dichtungs-
o-ebieten. Und wenn der Zufall sosfar in Hard Times so weit
in die Geschicke des Stephen Blackpool, einer Dickensschen
Lieblinofsfi^ur, eingreift, dafs er den besten Mann dem Tode
in die Arme liefert, geschieht dies nur, um dem vielgeplagten
sterbenden Fabrikarbeiter aus dem finsteren Schachte, in wel-
chen er durch Zufall geraten, den Stern einer besseren Welt
zu zeigen, der ihm als Entschädigung für die erfahrene Unbill
in dieser Welt Freude und Seli^^keit brinnjen wird. Diesen so
alten und noch immer hellglänzenden Stern der materiellen Welt
gezeigt und von dem dunklen Jammerthale aus herrliche Pro-
spekte in die Unendlichkeit geschaffen zu haben, ist eines der
Hauptverdienste Dickens', aber ganz besonders erkennbar in
Oliver Twist und Hard Times, zwei socialen Romanen von
einer ernsteren Gattung, einem umfassenden Horizonte und einer
grofsartigen Perspektive, von denen das erstgenannte Werk das
versöhnende, das letztere dagegen mehr das befreiende und er-
lösende Moment zum Ausdruck bringt.
Jean Paul hat Homers Odyssee als den Urroman be-
zeichnet. In der That hat dieses E])Os viele Momente mit dem
modernen Roman gemein. Da nun die Figuren der Odyssee
weni^/er wirkliche Personen, sondern meist nur moralische Ab-
strakte sind, Odysseus z. B. nur eine Verkörperung der grie-
chischen Nationaltugenden, Penelope ein Muster von einer tugend-
¥
Dickens und seine Hauptwerke. 345
haften Gattin, Telemach das eines pflichtgelreueji Sohnes u. s. \v.
ist, sind sogar geistreiche Ästhetiker zu dem wunderlichen
Schhisse gehingt, dafs die epischen und Romanfiguren samt
und sonders nicht wirkHche Personen, sondern nur Repräsen-
tanten gewisser Eigenschaften sein müfsten, und dafs die Dar-
stelluno: wirklicher Personen nur die unerläfsliche Aufi^abe des
dramatisclien Schriftstellers sei. Allein der Umstand, dafs in
dem griechischen Drama sich auch nur Symbole von Personen
vorfinden, nicht aber diese selbst, vernichtet auch das dem
epischen Dichter gemachte Zugeständnis. Die Griechen, dieses
naturwüchsige Naturvolk, konnten infolge ihres ausgeprägten
Sinnes für plastische Gegenständlichkeit sehr wohl des vollen
Bildes entraten, und die Symbole von Figuren in ihren Dich-
tungen riefen in ihrer Anschauuno; das runde, volle Bild der
Person hervor, das dem Dichter allerdings vor Augen geschwebt,
er aber für unnötig erachtet hatte, vollständig abzubilden. Doch
da in unseren Tagen das Auge viel von seiner ursprünglichen
Schärfe und die Einbildungskraft viel von ihrer natürlichen
Frische verloren hat, würden moderne Künstler und Autoren,
Dramatiker wie Romanschriftsteller in den gröfsten Fehler ver-
fallen, wenn sie das Beispiel der Griechen bewufst oder unbe-
wufst nachahmten.
Das englische Volk sah bis zu Elisabeths Zeit nur Ab-
straktionen von Tugenden und Lastern in seinen Theatern.
Das konnte nicht anders sein. Wenn das noch ungeübte Auge
zum erstenmal beobachtet, werden sich ihm nur allgemeine
Merkmale aufdrängen, das Detail entschlüpft ihm ; es sieht nur
die Umrisse und versteht noch nicht, diese durch die Wellen-
linie zu verbinden. In den englischen Theatern jener Periode
wurden die Laster (Vices) durch Personen repräsentiert, bis
man sie durch die individuelleren Clowns der Elisabethschen
Ära ersetzte; die „Rache", durch eine unheimliche Gestalt ver-
körpert, wohnte beispielsweise stillschweigend der Ausübung
des Verbrechens bei. Doch während die „dira" trotz aller
Abstraktion in den Augen des Atheners eine wirkliche Person
repräsentierte, war jene Rachegestalt dem Londoner nur der
Ausdruck einer innerlich gefühlten ethischen Idee. Der Puri-
tanismus entwickelte diese Neigung, moralische Ideen zu ver-
346 Dickens und seine Hauptwerke.
körpern, mehr uiul mehr.* Überhaupt waren Verkörperungen
von Tugenden und Lastern dem moralischen und praktischen
Engländer zu jeder Zeit willkommen, und ist auch die Ab-
straktion der Tugenden und Laster nur noch vereinzelt zu
finden, so haben diese seit Fielding nur typischen Vertretern
gewisser Gesellschaftsklassen Platz gemacht.
Li der Glanzperiode der französischen Litteratur dürften
Molieres Figuren der ^^'irklichkeit am nächsten stehen. Wäh-
rend jedoch die Franzosen wie die Engländer jener Periode
nur unbewufst in den Fufsstapfen der Griechen wandeln, erhebt
Schiller den Fehler des klassischen Volkes zum System, und
die Braut von Messina wird die Frucht dieses Irrtums. —
Goethes gottgewaltige Jdee dagegen sprengt nur zu oft die
dünne Hülle der Figur, und der Titelheld des Faust ist. nicht
der einzige Beleg dafür, dafa der titanenhafte Gedanke „seiner
Fessel sich entraffend'' auf der „eigenen Spur" einherschreitet.
Lieferten nun ein Moliere und ein Schiller mehr oder
weniger moralische Abstrakta, so mufs uns Lewes in Erstaunen
setzen, wenn er von Dickens' Figuren sagt, sie seien samt und
sonders nur Masken, d. h. moralische x^bstrakta. Da die
Schöpfungen der gröfsten Heroen der antiken und modernen
Kulturvölker nur mehr oder weniger Masken sind, wie können
wir von unseren Novellisten mehr erwarten? Dessenung^eachtet
ist Lewes' Bemerkung richtig; die unschöne Härte seiner Be-
schuldigung kann er jedoch nur dadurch rechtfertigen, dafs er
Dickens' Fio-uren mit dem höchsten Mafsstabe oremessen hat.
Unter Hinweis auf die Clowns ward oben angedeutet, dafs
während der Re^ieruno-szeit der Königin Elisabeth sich ein
wesentlicher Fortschritt in der dramatischen Personenzeichnuns:
erkennen läfst. Die Zeit kam jenen dramatischen Reformatoren
entsjeoren. In diesen Tagen der Urwüchsig-keit fiel der Charakter
noch nicht mit dem Temperament zusammen, wie in unserer
Zeit, wo nivellierende Schulsysteme, Gesetze und Verordnungen
und besonders der bittere Kampf um das Dasein in einer künst-
lichen ^^'elt das Temperament in Schranken halten oder von
* Selbst die Beinamen lebender Personen jener Zeit legen Zeugnis von
dieser Geistesrichtuni^ ab. Fand sich doch ein Major „vSmite them Hip and
Thigh" und ein Kapitän „Fight the good Faith" unter Cromwells Kriegern.
Dickens und teine Hauptwerke. 347
Geschlecht zu Geschlecht zu so dürftigen Spuren reduziert
haben, dafs Psychologen nur noch mit Bedenken von Cholerikern
und Sanguinikern sprechen oder gar behaupten, dafs ein und
derselbe Mensch in den verschiedenen Lebensstadien die Skala
aller Temperamente durchlaufe.
In jener grofsen Zeit lebte eine Schar von Künstlern, die
nichts mit der akademisch gebildeten Kunstkaste unserer Tage
gemein haben, sondern klarsehende Kinder der Natur waren,
welche an der Seite jener Heroen das Leben genossen und in
dem Taumel ihrer Orgien den Menschen zeichneten , dessen
Charakter vor ihnen lag.
Die charakterzeichnende englische Litteratur hat sich frei
von jeder sklavischen Nachahmung aus sich selbst heraus ent-
wickelt, und man kann drei Perioden in dieser Entwickelung
unterscheiden. In dem ersten Abschnitte, bis zur Ke^xierunor
Elisabeths, fallen dem ungeübten Personenzeichner nur allge-
meine Merkmale auf, und die Wahrnehmung, dafs ein Mensch
geizig, heuchlerisch oder rachsüchtig ist, drängt ihn zu Ab-
straktionen von Tugenden und Lastern. Er ist dem Kinde
ähnlich, welchem zum erstenmal die Helle des Feuers oder die
Gestalt der Kinderklapper Erstaunen entlockt.
Die zweite Periode, Elisabeths Reglerungszeit, bringt in-
mitten einer Gruppe von Schriftstellern Shakespeare als den
besten Charakterzeichner hervor. Das Individuelle mit Natur-
farbe darzustellen, scheint er sich besonders zur Aufgabe ge-
macht zu haben, und er ist der herrlichste Repräsentant des
englischen Volkes in der ersten Mannesblüte, das den Menschen
mit noch o;esundem Au^e beobachtet.
Nach einem Stillstande, in w^elchem England puritanisch
geworden, zeigen Fieldings 28 Eingangskapitel zu Tom Jones,
dafs die charakterzeichnende Litteratur die dritte Periode,
das reifere, reflektierende und Erfahruno^en zusammenfassende
Mannesalter, erreicht hat. Während die erste Periode den
groben Umrifs der Person ins Auge fafst, wird der Schrift-
steller der letzten Periode mehr dem Detail seine Aufmerksam-
keit zuwenden und sich mehr in typischen Vertretern versuchen.
Diese Periode der ßerechnuno; kann in der Charakterzeichnunfj
kein Genie zeitigen, und Fielding wie Dickens erreichen Shake-
348 Dickens und stinc Hauptwerke.
?peare nicht. Selbst die plastische Fülle der Scottschen Figuren
kommt ihm nicht gleich, da wir in der vollständig ausgemalten
Ficur nur viel Wissenschaft, aber weniji; Kunst sehen.
Der Schriftsteller ist ein Kind seiner Zeit, so mancher
Fehler mufs auf Kosten seines Jahrhunderts, das ihn erzeugt
liat, und des Publikums, welches ihn verstehen soll, geschrieben
werden. Das Detailwerk seiner F^igurcnzeichnung, den Mangel
an genialen Züo;en in der Charakteristik seiner Personen, und
DO '
vor allen Dingen die nervös krankhafte Phantasie des Humo-
risten, finden wir in Dickenb' Zeit nicht nur in England, son-
dern auch auf dem Kontinent; und Boz' Wahnsinnige, Elfen
und Gespenster stehen noch hoch über den humoristischen Er-
zeugnissen, welche das krankhafte Hirn eines Novalis, Brentano
und Hoffraann verliefsen. — Wenn unser Novellist von Ab-
straktionen Gebrauch macht, geschieht es mit dem gröfsten Ge-
schick. Die Vertreter der Heuchelei (Pecksniff) und des Stolzes
(Dombej) haben keineswegs ihre Rolle auswendig gelernt. Die
Illusion ist so täuschend als möglich, und jene Symbole über-
raschen den Leser durch ihre Handlungen.
A\'ährend jene Abstraktionen von Tugenden und Lastern
unseren Novellisten sofort als praktisch moralischen Engländer
erkennen lassen, dürfte eine zweite Klasse von Figuren, die
typischen Vertreter für Stände und Gesellschaftsklassen, unseren
Schriftsteller unschwer als einen Nachfolger Fieldings und als
einen Eno-länder unseres Jahrhunderts kennzeichnen. Dtr dich-
terische Vagant Skimpole und Bücket, der Detektive (Bleak
House), sind besonders hier zu erwähnen.
Doch eine dritte Klasse, Figuren mit individuellen Zügen,
vermissen wdr keineswegs in Boz' Werken. Sam ^Veller (in
den Pickwickiern) und Joe (Bleak House) dürften nicht die
einzigen Beispiele sein.
Was des Dichters Ideale betrifft, so sind sie meistens aus
einer Gesellschaftsschicht entnommen, die noch unter dem Mittel-
stande steht. Stephen Blackpool, der F'abrikarbeiter, spricht die
Sprache eines Gentleman und hat die Gefühle eines Nobleman;
George Tapley, der Hausknecht, übt die Selbstverleugnung
eines VVeltweisen ; beide Schöpfungen reichen jedoch nicht an
die lebensgetreue Zeichnung des Fischers Peggotty (Copperfield).
Dickens und seine Hauptwerke. 349
Nach dem vorher Gesandten möije man nicht annehmen,
dafs Dickens' Phantasie stets eine krankhafte Richtunor o-e-
nommen oder bei dem Schöpfunfjsvoi^anjje seiner Figruren gar
nicht thätif]j gewesen sei. Eine e:rofse Anzahl seiner Fi<i;uren
nmssen wir sogar, trotz aller Kealität, als gelungene Produkte
des Schmelzungsprozesses seiner Phantasie bezeichnen. Dieses
gilt namentlich von den Romanen, bei deren Abfassung Dickens
sich in fremden Ländern aufhielt, wo der Londoner Feuilletonist
nicht beständig die Eindrücke der realen Welt und der realsten
City vor Augen hatte.
Nach dem bisher Gesagten könnte vielleicht ein besonderes
Kapitel über das Temperament der Dickensschen Figuren un-
nötig erscheinen. Obwohl die Schöpfungen unseres Novellisten
nun zwar selten ein volles, rundes Bild des Temperamentes
entfalten, so ist dasselbe, wenn auch durch wenige, so doch
durch markierte Züge angedeutet, und der zeichnende Rotstift
ist mit so kräftiger Hand und so weiser Berechnung geführt
worden, dafs man bei der Mannigfaltigkeit der Dickensschen
Leute und der Verschiedenheit der Altersstufe derselben sehr
bald die scharfe Beobachtungsgabe des Schriftstellers • heraus-
fühlt. — Das von deutschen Psychologen aufgestellte System,
welches ein phlegmatisches, sanguinisches, cholerisches und
melancholisches Temperament unterscheidet, ist neuerdings von
ihnen wieder aufgegeben worden, da nach der Meinung der
Neuerer in reiferen eJahren das Temperament mit dem Charakter
zusammenfalle und auch schon in der Jugend des Menschen
60 bestimmte Temperamentsrichtungen nicht existieren sollen.
Diese nunmehr veraltete Temperamentslehre ist von dem schärfer
beobachtenden Engländer niemals adoptiert worden. Und w^enn
er auch von melancholischen und phlegmatischen Menschen
spricht, so ist ihm doch keine Übersetzung des Wortes „San-
guiniker" geläufig, und die Bezeichnung „choleric" hat im Eng-
lischen einen ganz anderen Sinn und dürfte durch das Beispiel
Cedric-s (in Ivanhoe) am besten illustriert werden, dem Walter
Scott ein „hasty choleric temper" (ein hitziges Wesen) zu-
erteilt. — Da nun der Engländer in seiner charakterzeichnenden
Litteratur unter allen Nationen die höchste Stufe einnimmt,
350 Dickens und seine Hauptwerke.
müssen wir ihm nach dieser Richtung hin ein Urteil zutrauen,
welches, unbeirrt durch Systeme und Schablonen, auf Beob-
achtuno; und Erfahruno; beruht, und könnte uns die eno^lische
Nation keinen besseren Sachverständigen stellen als Dickens,
der uns in seinen AVerken den Menschen in den verschiedensten
Lebensstadien zeio-t, als Kind in der \Vieo;e, als J\Iann auf der
Höhe des Lebens im Kampfe um die Existenz, und als Greis.
Die Erotik nahm in den Ritterepen nur einen unbedeu-
tenden Raum ein ; in dem Roman breitete sie sich allmählich
weiter aus und wurde endlich der Mittelpunkt der Fabel und
der Angelpunkt der Intrigue. Da sich die weiblichen Autoren
besonders auf diesem Gebiete heimisch fühlen mufsten, wen-
deten sie ihm ihre ganze Aufmerksamkeit zu, und von Jane
Austens Elisabeth (in Pride and Prejudice) und der George
Sandschen Valentine und Indiana an war die Liebe ein nach
allen Seiten hin viel besprochenes Thema. — Wenn nun
Dickens* Erotik nur als das schwache Schöne dazu bestimmt
ist, dem Erhabenen und Lächerlichen — oder starken Schönen —
als Ruhepunkt zu dienen, so wird des Kritikers Auge in dieser
Komposition dieselbe Harmonie entdecken, die der verbindende
Bogen zwischen zwei gotischen Strebepfeilern bewirkt.
Die Romanschriftstellerinnen scheinen meist von dem Grund-
satze auszuo;ehen, dafs die Frau der interessantere Teil der Mensch-
heit ist. Wenn daher George Sands Edmee oder Jane Austens
Elisabeth geistig über ihre Liebhaber oder spätere Gatten empor-
rafTen, so zeist sich darin schon ein bedenklicher Zug; der Ver-
fasserin, für ihr Geschlecht und für die Frauenfrage Propa-
ganda zu machen. Nun ist aber die Tendenz, das Hinarbeiten
für bestimmte Zwecke, an und für sich dem Kunstwerk noch
nicht nachteilig; das Vordrängen derselben jedoch mufs unter
allen Umstanden auf diesem Gebiete vermieden werden, da der
Roman nicht, wie das Drama, Probleme aufstellen, sondern die
prosaische Wirkliclikeit abbilden soll. In einem Punkte jedoch
übertreffen die Romane jener geistreichen Verfasserinnen Dickens'
ffleichgeartete Partner wie Frank Cheerible und Käthchen
Nickleby, des fadesten Liebespärchens Henry und Rosa Maylie
(in Oliver Twist) gar nicht zu gedenken. Das dem Manne
Dickens und seine Hauptwerke. 351
überlenrene Weib bildet näiiilich mit iliin den herrlichsten Kon-
trast, und dieser Gegensatz ist höchst geeignet, das rechte Mafs
der Dinge, die Verschiedenheit der Charaktere und der Tempera-
mente, der Geisteskräfte und der im Kampfe angewendeten
Waffen zu veranschaulichen. In dem Kampfe der beiden un-
Meichen Partner haben nicht nur diese, sondern auch die Schrift-
steller die beste Gelegenheit, ihre Kraft zu entfalten. Da dann
die Frau, dieser interessantere, stärkere und kämpfende Teil
der Menschheit, den Mann zum leidenden Teil herabdrückt, und
der letztere wiederum diese durch den geleisteten Widerstand
zur Dulderin macht, oder gar im Bewufstsein der Überlegen-
heit der Gegnerin zu unschönen Waffen greift, wird durch die
Erotik der Romane das Interesse der Lesewelt auf den höch-
sten Punkt gespannt. — Doch dürften Schriftstellerinnen nicht
allein diesen Gegensatz o:eschaffen haben, und wenn Taine von
den Walter Scottschen Liebhabern bemerkt, dafs sie alle, der
neuen Mode gemafs, einen sentimentalen Anstrich hätten, deutet
er dadurch ganz richti«: an, dafs Ivanhoe neben Rowena milder
erscheine. Dafs dieses eine neue Mode ist, dürfte jedoch be-
stritten werden; denn bei Brunhilde und Günther, Chriemhllde
und Siegfried, bei Julie und Romeo, ja bei Dorothea und Her-
mann drängt sich uns dieselbe Wahrnehmung auf, und Dickens
selbst hat in Walter Gay und Flora Dombey dem Weibe eine
ähnliche Uberlesenheit eingeräumt. — Nur dürfte die Schilde-
rung dieser Überlegenheit der Frau objektiver ausfallen, wenn
der Mann, der leidende Teil, die Feder ergreift, und Goethe,
welcher Frauencharaktere gründlich studiert hatte, scheint in
Dorothea und Hermann das Richtige getroffen zu haben, wenn
er die Jungfrau mit Entschlossenheit, Konsequenz im Handeln,
einer derben Aufrichtigkeit und einer gewissen Berechnung in
der Wahl der Mittel ausrüstet, während er dem Jünglinge ein
schwankendes Gemüt, Grofsmut, aber Weichheit, ja etwas
^^'eichlichkeit zuerteilt.
Da aber das Weib nur diese Überlegenheit auf dem Ge-
biete der Liebe entfaltet, der Mann dagegen in der Sturmflut
des Lebens viel sicherer das Steuerruder führt, begehen die
weiblichen Autoren, dem männlichen Geschlechte gegenüber, eine
grofse Ungerechtigkeit, wenn sie sieh nur auf die Liebe, auf
352 Dickens und seine llauptweike.
ein Gebiet beschränken, wo die Frau als Herzenskönigin, der
Mann neben ihr als Stümper erscheinen mufs. Dickens' Werke
dagegen zeigen uns Mann und Weib auf verschiedenen Ge-
bieten und in den verschiedensten Lagen des Lebens. Auch
darin liegt ein Vorzug, den Taine leider zu gering anschlägt,
wenn er bei Gelegenheit von Emilys Entführung durch Steer-
forth (in Copperfield) bemerkt, Dickens zeige uns nur das Elend
und die Qual der Liebe; er verstehe es aber nicht, wie G. Sand
das Entstehen, das Wachsen und den Höhepunkt der Leiden-
schaft zu zeichnen.
Somit verlangt Taine vom Romanschriftsteller, die Liebe
als Leidenschaft aufzufassen, und diese Anforderung wird von
dem deutschen Kunstjünger, der wie keine andere Nation in
seiner Kritik auf dem Standpunkte der Ästhetik steht, nur für
gerecht befunden werden.
Die Frage, ob die Liebe als Eigenschaft oder als Tugend
aufgefafst werden müsse, ist schon oft in der Litteratur auf-
getaucht, und Bernardo Tasso hat aufser seinem unsterblichen
Sohne der litterarischen Welt noch eine tiefsinnige xlbhandlung
geschenkt, welche diese Frage erörterte. Peter Daniel Huet,
ein geistreicher französischer Romankritiker, hat schon vor
Jahrhunderten diesen Punkt nach den verschiedensten Seiten
hin beleuchtet, * und obgleich er die deutsche Litteratur nur in
der Wiege sah, sprach er die Überzeugung aus. dafs der
Deutsche, sein ernsterer Nachbar, die Liebe einst nur als
Tugend auffassen werde. Grofs dürfte sein Erstaunen sein,
hörte er Gretchens an Faust gerichtete Worte, welche seinem
Besuch in der Jungfrau Kämmerlein vorausgehen.
Taine hat nun allerdings recht, wenn er meint, die mo-
derne, vom Puritanismus getränkte englische Litteratur befasse
eich lieber mit der Liebe als Tugend ; aber Huet täuschte sich
im Deutschen, wenn er glaubte, die Liebe als Leidenschaft
werde ihm zuwider sein. Die ästhetischen Rücksichten neben
den ethischen zu beachten und das Schöne neben dem Guten
zu i)flegen, ist ein charakteristischer Zug unserer Nation. Es
ist daher das Ergebnis einer ernsteren Untersuchung und nicht
De l'origine des Romans.
Dickens und seine Hauptwerke. 353
Parteilichkeit für die uns so verwandte englische Nation, wenn
wir der einsieht sind, der Engländer Dickens habe in seiner
Erotik das Richtige getroffen. Dafs er in seinen Romanen die
Liebe nur als Tugend und nicht als Leidenschaft auffassen
konnte, ero-iebt sich aus folo-enden Punkten.
Ein lokalisierender Dichter (Dickens) wird sich besonders
in seiner Erotik von dem Kunstdichter (Balzac oder G. Sand)
dadurch unterscheiden, dafs er die Liebesscenen so darstellt,
wie sie sich seinem beobachtenden Au^-e und Ohre im eiire-
nen Lande darbieten. Mao- Schillers Wort, dafs in einer <re-
wissen Lebensperiode „der Knabe sich stolz vom Mädchen
trenne", um später auf Umwegen wieder mit ihr zusammenzu-
treffen, für Deutschland und Frankreich seine Berechtio'un";
haben, so ist diese Erfahruno; entschieden auf enorlische Ver-
hältnisse nicht anwendbar, wo das Mädchen am Rande des
Spielplatzes die gefährlichen Leibesübungen des knabenhaften
Freundes bewundert, und ihm des Sonnta":s dadurch eine Geo^en-
freude erweist, indem es seine Begleitung zur Kirche annimmt.
Der Übermut des Knaben und die Schüchternheit des Mädchens
müssen bei dieser steten Kameradschaft allmählich verschwin-
den: die aufkeimende Zuneio;uno; der von lästio-em Zwanoe be-
freiten Kinderpaare entwickelt sich auf dem geweihten Boden
eines puritanischen Familienlebens und unter dem Schutze der
sorgsamen Hausgötter allmählich zur Liebe, und nun treten
zärtliche Blicke, herzlichere Beo^rüfsunoen bei oreo-enseitioen
' OD O O D
Familienbesuchen, auch ein hier und da eino;estreuter tändelnder
')
Liebesausdruck an Stelle der bei anderen Völkern so üblichen,
so orrofsartio-en und so o-ewaltio; erschütternden Konflikte, in
O O D D J
welche die beiden Geschlechter nach langer gewaltsamer Tren-
nung notwendio-erweise verfallen müssen. Als Arabella Allen
D O
mit ihrem Geliebten Winkle (Pickwick) beim Tanze erscheint,
erwähnt der Novellist nur die Rosette am kokett vorwärts-
gerichteten Damenschuh und das liebliche Rot am Wangen-
grübcheuj und Dickens möge trotzdem nicht ein oberflächlicher
Beobachter gescholten werden: denn der Geliebte sogar könnte
D O
bei der lieblichen Tochter des puritanischen Volkes ein Mehr
durch Wort und Gebärde kaum entdecken. Wenn nun Taine
sagt, dafs Dickens' Auffassungs weise der Liebe als Tugend ein
O ' D O
Ardiiv f. 11. Suradioii. LXXIII. 23
354 Dickens und st-lne Hauptwerke.
Zugeständnis an die mit Puritanisinus oetränlcten Bewohner
eeines Landes sei, so ist dies entschieden daliin abzuändern,
dafs die Liebesscenen unseres lokaHsierenden Dichters nur die
kleinen Sittenbiidchen entfalten, die ihm seine Landsleute selbst
liefern niufsten, während G. Sands Erotik die Konflikte der
Liebe zum Gegenstande hat, wie sie bei ungewöhnlichen, un-
2:leich gearteten Paaren bei aufserordentlicher Beo^abuno^ in Ge-
sinnunji, Rede und Thatkraft in der cfanzen civilisierten Welt
möglich sind.
Da unser Schriftsteller im Gegensatz zu G. Sand wenisrer
den tendenziösen, socialen Roman, sondern mehr den tendenz-
losen Familien- und Sittenroman anbaut, ist es stofFlicherseits
crerechtfertiijt, die Liebe entweder in der Ehe zu schildern
(Edith Dombey und Mrs. Strong), oder wenigstens der Liebe
den Zielpunkt der Ehe zu setzen (Frank Gay und Flora Dombey).
Die Juncrfrauen der Dickensschen Muse sind durch die
äufsere Lebensstelluno^ und durch enoje Verhältnisse angewiesen,
in dem ihnen von der Vorsehung ausersehenen Geliebten ihren
Mitarbeiter und Beschützer — einen anderen Lohengrin — zu
erblicken (Mary Graham etc.).
Aufser diesen äufseren Verhältnissen ist es auch die innere
Gemütsbeschaffenheit seiner Jungfrauen- und Frauenorestalten,
die es erlaubt, ernsteren Konflikten in der Liebe aus dem Wege
zu ofehen, da fast alle die germanische Eigenschaft der herz-
innigen weiblichen Ergebenheit besitzen, die in Goethes Marga-
rethe so herrlich verkörpert wird. Eine Zusammenstellung-
einiger der männlichen Phantasie entsprossenen weiblichen Ge-
stalten zeigt uns so recht, dafs des Mannes Ideal von einer
Frau wesentlich von den räsonnierenden, spitzfindig disputie-
renden und körperlich abgezehrten Romanheldinnen der weib-
lichen Autoren verschieden ist, und während Jane Austen (in
Pride and Prejudice) unter allen Jungfrauen in der klugen, vor-
sichtigen und schlau berechnenden Elisabeth eine Type weib-
lichen Wesens erblickt, und auf dem mageren und knochigen
Körper ihres Lieblings den Blick mit W^ohlgefallen ruhen la fst,
wird der männliche Leser der älteren, liebenswürdigeren Schwester
Jane den Liebesapfel zuerkennen.
Wenn also die Liebe in den Dickensschen Romanen sich
I
Dickens und seine Hauptwerke. 355
nur in Gefühl, Gesinnung und Blick kundgiebt, also mehr einen
lyrischen Charakter trägt, mufs man den Grund darin suchen,
dafs die Liebenden dem mittleren Bürgerstande Englands an-
gehören. Dem deutschen Novellisten ist es allein gegeben, die
Situationen einer bürgerlichen Liebschaft episch zu gestalten,
indem er die ihm so eio-ene Sentimentalität zu Hilfe ruft, und
wenn Boz in der zweiten Brautwerbung Copperfields um Agnes
Wickfield aus dem naiven Tone in den sentimentalen umschlägt,
merkt der Leser zu seinem Bedauern, dafs dem realistischen
Engländer in diesem ihm fremden Element der Boden unter
seinen Füfsen wankte. — Es o-ehört in der That viel Geschick
und eine grofse Kenntnis des Volkes dazu, die so hausbackenen
Liebesscenen des mittleren Bürgerstandes anders als lyrisch zu
gestalten, und wenn in Sedaines „Philosoph ohne es zu wissen"
Victorine, die Tochter eines Hausverwalters und Geliebte des
Sohnes des Hauses, ihre Herzensunschuld und Naivität in rei-
zenden dramatischen Situationen zum Ausdruck bringt, so ist
der Erfolg nur dem Umstände zuzuschreiben, dafs der Ver-
fasser ein Mann des Volkes und ein sehr geistreicher Mann
war. Schiller und Goethe verstanden es ebenfalls, die Liebes-
scenen einer büro-erlichen Junofrau dramatisch zu orestalten,
indem sie ihr einen hocho^estellten oder aber oreistreichen Ge-
liebten zuführen, wodurch sie das schlichte Mädchen in eine
Art Schwärmerei versetzen und dem bis zum reinsten Pathos
gesteigerten Selbstgefühle Worte entlocken, die das Gefühls-
leben des weiblichen Herzens aufs rührendste blofslegen. Weniger
geistreiche Schriftsteller würden sich hier dadurch geholfen haben,
dafs sie dem hocho^estellten und oreistreichen Manne ein weib-
liches Wesen zugeführt hätten, die lieber (zu)hört, „wenn kluge
Männer sprechen". — Noch schwieriger gestaltet sich die Sache,
wenn der Novellist von dem gewöhnlichen Verfahren abweicht,
der bürgerlichen Liebe die Ehe als Zielpunkt zu stecken, wie
das bei Emilys Entführung durch Steerforth der Fall ist
(Copperfield). Taines Urteil, dafs Dickens hier weniger das
Wachsen und die Krisis der Leidenschaft gemalt habe, mufs
jedoch als einseitig zurückgewiesen werden; denn des jugend-
lichen schönen und reichen Verführers Kommen, Sehen und
Sieo;en ist einer einfachen Fischerstochter oreo^enüber nur zu
O OD
23*
3b6 Dickens und seine Hauptwerke.
walirsclieinlich. Aufserdem ist des Mädchens plötzliches Unter-
liegen sehr gut durch ihr Temperament und durch die Verhält-
nisse motiviert: sie kennt den schönen Jüngling durch Copper-
fields Schilderungen schon hinge vor seinem persönlichen Er-
scheinen in der Fischerhütte, und die Wirklichkeit übertrifft
noch das Spielbild ihrer Phantasie. Eine so gründlich moti-
vierte Entführung bedarf nicht noch der Erwähnung, dafs die
ixetäuschte Jungfrau einer Ehe euto-ejrensieht. In dieser letz-
teren ^Motivierung müssen wir allerdings ein dem englischen
Puritanismus unnÖtio-erweise o-emachtes Zuo-eständnis erblicken,
und Emilys umfangreiche Briefe an ihre Pflegeeltern lassen
eine wahre Befriedigunor nicht aufkommen.
Möo^e also die Schilderuno^ der Liebe als Leidenschaft für
den Kunstroman einer G. Sand g-anz cjeeio-net sein, eine Helena
des büro^erllchen Familienromanes dürfte die Kluft vom Er-
habenen zum Lächerlichen nur zu sehr verringern : die Liebe
kann im Sittenbilde nur Sehnsucht und Verlangen nach dem
heimatlichen Herde sein, und dies ist eine Auffassungsvveise,
welche nach dem Vorbilde der Odyssee, des antiken Urromanes,
ebenfalls als klassisch bezeichnet werden mufs. Möge nun- die
den Beschützer des Herdes erwartende Penelope an der Seite
der üppigen Helena blafs erscheinen, eine die Liebe als Tugend
betrachtende Flora (Dombey) wird neben der leidenschaftlich
liebenden Edmee (in ^lauprat) auch ihre Bewunderer finden;
ja selbst der klassische Kunstjünger dürfte zuweilen mit Ver-
o-nüoen dem sengenden Sonnenstrahl der Leidenschaft aus-
weichen, um sich an dem milderen Mondesglanze einer büro;er-
liehen Liebe zu erfrischen.
Schon Taine findet E>ickens' Naturschilderuno; un2:ewöhn-
lieh, wenn er beispielsweise sagt, dafs Blätter, Blumen und
Wolken an der Rolle der Figuren teilnehmen. Dazu bemerkt
Forster, dafs bei der Vortreflflichkeit eines Romans der Hinter-
grund und die Naturscenerie gar nicht so sehr in Betracht
komme, sondern etwas Nebensächliches sei. Wenig^e Kritiker
dürften Förster in diesem Punkte beistimmen; denn wie der
epische Held der Ritterromane mit Rüstung, Schwert und Rofs
sich eng verbunden fühlte, und noch sterbend mit Wehmut von
Dii-kens und seine Hauptwerke. 357
diesen Kampfesgenossen Abschied nahm, ehe er dieselben zer-
trümmerte, 60 mufs der Roman, das Kind des Epos, dem
Hintergrunde, der Wohnstätte nebst Zubehör, der Ethnographie
und ganz besonders der Naturscenerie, einen breiten Raum ge-
statten. Dieselbe Gegenständlichkeit würde der Lyrik schaden,
und das Drama ersetzt die Beschreibunor des Hintero-rundes
durch die Dekoration. Da aber die o-röfste Illusion dem Theater-
publikum oft nicht das peinliche Bewufstsein erspart, der von
bengalischer Flamme erleuchtete Garten, Wald und Park be-
stehe aus geschnitztem Pappwerk, so mufs der epische oder
Romandichter hier als unumschränkter Herrscher im Vorteil
erscheinen ; denn nur ihm aliein ist es gegeben, den Hinter-
grund durch das beschreibende Wort in des Lesers Phantasie
hineinzuzaubern , und der geschickte Novellist kann hier der
inneren Anschauung ein schöneres Bild nahe bringen, als es die
Bühnendekoration der äufseren Anschauung gegenüber vermag.
Der Londoner Feuilletonist zeigt uns die Metropole Eng-
lands von den verschiedensten und nicht immer von den
interessantesten Seiten. Wenn nun der realistische Engländer
in den Schilderungen ihrer Schattenseiten oft wenig genug
unsere ästhetischen Gefühle berücksichtigt, sondern als wahrer
Detailzeichner Rufs , Schutt und Müllhaufen in den Kreis
seiner Betrachtungen hineinzieht, geschieht es nur aus Liebe
zu jenen armen Geschöpfen, deren sociales Elend dem Ge-
mütsmenschen zu Herzen ging, und Dickens hat in dieser
Hinsicht nichts mit Eugen Sue und Victor Hugo gemein,
die mit wahrer Schadenfreude die Kloaken und den Schmutz
ihrer Hauptstadt aufdecken. Die Schilderung von Golden
xScjuare (in Nicholas Nickleby) dürfte als höchst gelungen be-
zeichnet werden. — Da Dickens in späteren Jahren reich genug
war, den Hintergrund seiner Romane aus eigener Anschauung
kennen zu lernen, und häufige Reisen nach den fremden Län-
dern unternahm, die den Schauplatz von Episoden seiner Werke
bilden, so lassen seine Schriften an ethnographischer Treue
wenig zu wünschen übrig, und Nicklebys und Smikes Fufs-
reise von London nach Portsmouth, Carkers Flucht von Dijon
über Paris nach England (Dombey), sowie die Scenerie vom
Krähenhorst und die Meeresküste bei den Yarmoutlischen Fischer-
358 Dickens und seine Hauptwerke.
hütten (Copperfield) müsseu als Meisterwerke der Naturschilde-
ruiic; angesehen werden. Peggottys Reisen in fremde Länder
da«J-eo'en, sowie seiner entführten Pflegetochter Aufenthalt in
Italien sind so flüclitig gezeichnet, dafs man aufhört, an die
Erzählung zu glauben, und der Umstand, dafs wir hier die
Schilderung aus dem Munde des unbeholfenen Fischers (Pe-
«TOtty) vernehmen, ändert nur wenig an der Sache.
Die fratzenhafte Belebung der Natur, das Belebtwerden
von Thürklopfern, und das Anfüllen der Luft mit allerhand
abenteuerlichen Gestalten mufs entschieden als krankhafter Aus-
wuchs einer humoristischen Phantasie angesehen werden, und
wir finden Taines Verwunderung darüber sehr am Orte; ja
mit Bedauern müssen wir hier unseren Novellisten einer ge-
wissen Effekthascherei beschuldigen. Es möge jedoch einiger-
mafsen zu Dickens' Entschuldigung dienen, dafs er diese krank-
hafte Richtung nicht geschaflfen, sondern nur nachgeahmt hat.
Der Vorwurf, den ersten Anstofs zu dieser Unnatur gegeben
zu haben, trifft Hoffmann, dessen Erfolgen bei den nervösen
Zeito-enossen eines nervösen Jahrhunderts es zuzuschreiben ist,
dafs zahlreiche Schriftsteller in Frankreich und Amerika und
besonders Dickens bald in dieselbe Unnatur verfielen.
Taine weist ganz besonders auf die Schilderung der Ab-
reise des Tom Pinch (Chuzzlewit) hin, und Forster meint, dafs
hier der französische Litterarhistoriker kaum die glücklichste
Wahl o-etrofFen haben dürfte. Indem wir uns Forsters Meinunor
anschliefsen, bemerken wir noch, dafs die Naturschilderung, so
schön in den „drei Schwestern von York", einer Episode in
Nicholas Nickleby, begonnen, gerade in Chuzzlewit wieder fällt,
um in Copperfield und ganz besonders in Dombey ihren Höhe-
punkt zu erreichen. Das Naturbild, welches Carkers Fhicht
von Dijon nach Paris begleitet, ist episch, und wird oft dra-
matisch belebt; die Personifikation der Natur, das Schwirren
von unheimlichen Tönen in der Luft, sowie die Auffassungs-
weise der Lokomotive als Rächerin sind grofsartig. Während
wir jedoch sonst das Belebtwerden der toten Natur bei gering-
fücr'icren Situationen in HoflTmann, Novalis, Brentano als Unnatur
bezeichnen müssen, finden wir dieselben hier und in manchen
anderen Dickensschen Scenen bei gehobenem Seelenleben ganz
Dickens und seine Hauptwerke. 359
geeignet, und Carkers Kämpfe des Gewissens und die tolle Un-
ruhe eines aufgeregten Nervensystems finden einen herrlichen
Hintergrund.
Ganz im Widerspruch mit Forster, der die Naturscenerie
als etwas Nebensächliches ansieht, möchte man fast die Be-
hauptung wagen, dafs die Naturauffassung des Schriftstellers
hervorstechende Eigenschaften seines Volkes und seines Jahr-
hunderts erkennen lasse, Shakespeares „Wie es euch gefällt^'
ist noch echt germanisch. Es zeiat den Menschen im Mittel-
punkte der Natur; die Energie der Rasse hat noch nicht die
Idylle zerstört, und Fürsten und Prinzessinnen erscheinen im
Schlafrocke neben LÖwen und Schlangen.
Die Naturschilderung im Vicar von Wakefield ist der deut-
schen Naturauffassung noch sehr verwandt; der in irischer
Idylle erzogene Angelsachse scheint viel von einem poetischen
Naturvolke oelernt zu haben, und doch ist die Energie der
englischen ßasse schon eine gröfsere geworden und hat die
Naturauffassung verändert. Ich erwähne nur folgendes Natur-
bildchen in Kapitel III, wo zwei Amseln einander von zwei
entgegengesetzten Hecken antworten. Das Naturbild scheint
den lyrischen Charakter zu entfalten, den der Deutsche mit
Vorliebe in die Naturscenerie des Romans und selbst des Dramas
hineinlegt; doch schon im nächsten Kapitel hören wir, dafs die
eine der Amseln tot zu den Füfsen der erschreckten Familie
fällt, getroffen von dem Blei des bald erscheinenden Thornhill.
Somit hat die Natur dem Dichter nur als Staffage gedient, und
das anfangs lyrisch scheinende Bild war also episch; ja, da es
sogar den spannenden Moment vor der Handlung ausdrückt,
wirkt es nun fast dramatisch : das singende Vöglein soll nur
Ollvias späteren Verführer im Weidmannsanzuge als den Zer-
störer einer friedlichen Schöpfung ankündigen. — Der Deutsche
ist zu sehr Liebhaber der Natur, um die ganze leblose Schöpfung
in dieser Weise auf sein Kunstwerk zu beziehen ; die Wolfs-
schluchtscene (Im Freischütz) erfafst Ihn schon lange in Ton
und Bild, ehe er die unheimlichen Gestalten erblickt. Der zweite
Teil des Faust, obwohl ein Lesedrama, gestattet epischen Natur-
bildern einen breiten Raum, welche dem AVerke einen ruhigen,
gielchmäfsig epischen Charakter geben. Dickens' dramatisch
360 Dickens un'l seine Hauptwerke.
spannende Naturbilder verwandeln nur zu oft den epischen
Strom seiner Romane in einen wilden, von Stein zu Stein stür-
zenden Giefsbach und tragen somit auch dazu bei, eine dra-
matisch-stofsweise Wiikuni];: hervorzubrin2:en. Zuweilen zerstört
der gewaltige epische Strom der Erzählung das niedliche Gärt-
chen der Idylle, wie wir recht deutlich bei Gelegenheit der
Schilderung von Squeers Etablissement in Yorkshire ersehen,
wo die oranze Landschaft durch den Gifthauch der verbreche-
rischen Familie verpestet erscheint.
Das Ivrische Naturbildchen des deutschen Schriftstellers
teilt aber nicht nur der Erzählung eine gewisse Ruhe mit; es
erfüllt noch eine andere orrofsartioe Auff^abe: es wird der herr-
lichste Kontrast zwischen der friedlichen Schöpfung und dem
unsinnigen Gebaren des Erdbewohners geschaffen, und indem
die englische Litteratur seit Shakespeare die Naturschilderung
zu sehr von dem Thun und Treiben des Menschen abhängig
machte, verlor der englische Schriftsteller die günstige Gelegen-
heit allmählich aus den Händen, seinen Lesern darzuthun, dafs,
obwohl er an dem Menschen verzweifle, er sich noch mit der
Natur versöhnen könne, die ihn geschaffen. Dieses versöhnende
Moment in der Natur, welches uns in Shakespeares Macbeth
so wohlthätig berührt, ist somit in Englands Litteratur nach
und nach dürftioer geworden. Bei unserem Schriftsteller finden
wir noch (verhältnismäfsig wenige) Beispiele dieses Gegensatzes
in Nicholas NIckleby, in Bleak House und in Dombev und Sohn.
In einer Episode des letztgenannten Romanes, zu welcher der
epische Strom der Erzählung nur wenig Zugang hat , findet
sich jedoch ein hübsches lyrisches Bildchen. Es ist dies die
Schilderung des Besuches der heblicheri Kaufmannstochter bei
der Skettle Familie. Da dieses Naturbildchen jedoch nur der
Ausdruck der ruhlccen Auffassungsweise der Heldin ist, bildet
es immer noch keinen starken Gesjensatz.
Wir erwähnten schon Taines Mifsbilligung, dafs Dickens
nicht die ewior frültloren Gesetze der Menschheit zum Ausdruck
brintre, wie es G. Sand o;ethan habe. Somit verurteilt er die
Tendenz, das Hinarbeiten für gewisse Zwecke. Nun aber ver-
dient G. Sand gerade am allerwenigsten, Dickens in dieser Be-
Dickens und seine Hauptwerke. 361
ziebnno: als Muster cnt<2jeo;ei)»i;eliaIten zu werden; denn ihre
Romane zeigen eine bedeutendere tendenziöse Färbung als die
Schriften unseres Novellisten. Dafs Boz als lokalisierender
Karikaturen Zeichner zuweilen in das Tendenziöse verfallen
niufste, ist nicht auffallend. Dafs das Hinarbeiten für einen
bestimmten Zweck jedoch ein Geistesprodukt noch nicht ver-
dirbt, sobald die Tendenz nicht zu sehr im Vorderorunde er-
scheint, sehen wir am deutlichsten an Don Quixote, dem zw^eiten
Urroman. Als Cervantes dieses Werk schrieb, beabsichtigte
er zunächst eine Satire "eo^en den tollcrewordenen Idealismus ;
die Ausführung dieser zeitlichen und örtlichen Aufgabe jedoch
ist so künstlerisch, dafs dieser Roman ein ewio' orültioes Kunst-
produkt bleiben wird. Es ist also weniger die Tendenz, als
die Kunst oder die Unbeholfenheit des Verfassers, die hier in
Frage kommen. Und in der Kunst, in einem. Geistesprodukte
für gewisse Zwecke hin zu arbeiten, müssen wir allerdings
G. Sand den Preis zuerkennen. Dickens kann mit ihr in dieser
Beziehuno: ijar keinen Veroleich aushalten. Das Hirn des
rasch denkenden und schnell arbeitenden Humoristen ist nicht
kühl genug, den Arger über Squeers Schule (Nicholas Nickleby)
oder den Zorn über den heuchlerisch schleichenden Advokaten
Heep (Copperfield) zurückzudrängen. Auf die Romane wie
Nicholas Nickleby und Copperfield kann man in der That Taines
Ausspruch anwenden, dafs Boz zuweilen zu ärgerlich w^erde,
wenn er die Laster oder die Dummheiten seiner Landsleute
geifselt, oder, wie wir lieber sagen würden, wenn er tendenziöse
Fragen berührt. — Schule und Advokatenstand hat Dickens
derb mitgenommen ; nur ist der Gegenstand seiner Satire weniger
die Schulanstalt — er scheint allerdings Natur und Presse die-
selbe volksbildende Kraft zuzuerteilen — , sondern der un-
wissende, rohe und mechanisch arbeitende matter of fact Mensch,
den er in der Schulanstalt aufsucht und in einem Lande in
Massen finden mufste , welches zu seiner Zeit weder Semi-
narien (training Colleges), noch Schulinspektoren kannte, und
wo noch heute trotz namhafter Verbesserungen das Privat-
Schulwesen wuchert. Wie abschreckend nun die Institutsinhaber
Squeer und Principal Creakle (Copperfield) sein mögen, so
haben doch diese Karikaturen mehr Gutes geschafi^en als die
362 Dickens und seine Hauptwerke.
weito-eheiidöten ministeriellen Ermahnunofen und VerfüfJ^uno-en.
Das tendenziöse Werk, welches das Volk mit starken Hebeln
erfafst, sollte also weniger vom Standpunkte der Ästhetik als
von dem der Ethik in das Auge gefafst werden; das künst-
lerische Genie der G. Sand versteht es allerdings besser wie
Dickens, trotz aller Tendenz den Gesetzen der Schönheitslehre
gerecht zu bleiben.
Angriffe gegen den Advokatenstand finden sich besonders
in Copperfield und Bleak House. In dem ersteren hat dieser
Stand nicht wenio;er als sieben Vertreter, und in der ganzen
Intrigue des letzten Werkes handelt es sich (fortwährend) um
einen Prozefs und um ein verloren oeoano-enes Testament.
Trotzdem müssen wir das künstlerische Geschick des tenden-
ziösen Verfassers in Bleak House bewundernd anerkennen, und
der schon älter gewordene und kühler denkende Schriftsteller
entfaltet hier im Angriffe eine raffinierte Geistesschärfe, die wir
in Copperfield vergeblich suchen. Die Übertreibung im Urias
Heep springt dagegen in dem von Forster als Hauptwerk be-
zeichneten Roman in die Augen, und dem unreifen und naiv
fragenden Jüngling Copperfield werden so oft Ausfälle gegen
den Richterstand in den Mund gelegt, dafs die Figur oft nur
der Sache wegen da zu sein scheint.
Taine bemerkt, dafs Dickens in Hard Times alle seine An-
sichten über des Volkes Wohl und Wehe kurz zusammengefafst
habe ; Forster jedoch bestreitet Taines Behauptung und will in
diesem letzteren Romane nicht ein Resume der in früheren
Werken niedero^elegten socialen Anschauuno^en anerkennen.
Indem wir jedoch Taine hier im grofsen Ganzen zustimmen
müssen, erlauben wir uns nur eine kleine Berichtioruncr seiner
Ansicht, dafs Dickens Fabriken und rauchende Schornsteine
als eine Gefahr für die friedliche und natürliche Entwickelung
des Volkes und als eine Quelle aller socialen Übel betrachte,
indem wir auf den Kontrast hinweisen, welchen in Bleak House
der Fabrikbesitzer Rouncewell und sein Fabrikort in Yorkshire
mit dem patriarchalischen Grofsgrundbesitzer Sir Leicester
Dedlock und seinem idyllischen Dorfe bildet. Dickens stellt
sich hier entschieden auf die Seite des vorwärts strebenden
Fabrikanten, ,,dcs Mannes von Eisen", dem in Zukunft die
Welt "gehören soll. Den eno;en Anschauunf>;skreis des feudalen
D DO
Dickens und seine Hauptwerke. 363
Junkers schildert er dagegen in humoristischer Weise, und hier
verwandelt sich oft der Humor sehr glückhch zur milden Ironie.
Der Roman ist das Kind einer prosaischen, arbeitsreichen
und nüchternen Zeit. Kein Wunder daher, dafs er sich meist
auf die Seite der vorwärts strebenden realistischen Gesellschafts-
klasse stellt; ja einige und namentlich deutsche Romanschrift-
steller schleudern die heftigsten Blitze nach der ihnen so ver-
hafsteu Junkerwelt. Die gegnerische Seite kann nur eine dürf-
tio;e Romanlitteratur aufweisen, und als der aristokratische Roman
seine Niederlage voraussah, nahm er zum Künstlerroman seine
Zuflucht. — Wenn wir nun vom Roman oesa^t haben, er zeige
sich nur da, wo wirklich gearbeitet wird, können wir fast das-
selbe vom Humor behaupten; denn sein Erscheinen drückt ße-
friedio'uno; an dem vollbrachten Werke aus. Beim Anblick der
gegnerischen Junkerschaft wird dieser Humor allerdings erst
recht zur Geltung gelangen; als. versöhnendes Element wird er
jedoch die Angriffe mäfsigen , und bei mehreren deutschen
Romanschriftstellern vermissen wir mit Bedauern, dem Gegner
gegenüber, den milden versöhnenden Humor unseres Novellisten,
der uns namentlich in Bleak House so wohlthätig berührt.
Dieser Humor, mit welchem der Schriftsteller die Fort-
schritte des vorwärts strebenden Neuerers (Rouncewell) behan-
delt, und die Ironie, mit der er das Zurückgehen der gegne-
rischen Verhältnisse (Sir Leicester Dedlock) beleuchtet, ist noch
in anderer Weise für den Roman, für England sowie für unser
Jahrhundert charakteristisch ; denn Humor wie Ironie zeigen
an, bei welcher Stufe die Streitfrage der beiden Gegner ange-
kommen ist. In des Cervantes Werk wird Aristokratie und
Idealismus durch den edlen Junker Don Quixote repräsentiert ;
der nüchterne Alltagsverstand jenes Jahrhunderts konnte nur
in den ungeschlachten Zügen eines Sancho Panza verkörpert
werden. Da der letztere jedoch trotz aller Klarheit von dem
aristokratischen Idealismus seiner Zeit ins Schlepptau genommen
wird, von dem er sich trotz gemachter Anstrengungen nicht
losmachen kann , mufs diese geistige Beschränktheit seinem
Schöpfer Cervantes nur Gelegenheit zur Satire geben, und der
ungeschlachte Repräsentant des Alltagsverstandes konnte den
geistreichen Spanier nur mit derselben Ironie erfüllen, mit wel-
cher er über seinem Idealen Helden schwebt. Der Humor
3(34 Dickens un;l seine Hauptwerke.
unseres Novellisten ist also nicht blofs der beste Beletj für
unsere Fortschritte, soiiciern auch ein Beweis dafür, dafs die
kämpfende, vorwärts ringende Welt in unserer Zeit des Sieges
bereits o^ewlfs ist und dem anderen Laiier (:reo-enüber eine
wenlirer herausfordernde Stelluno; einnimmt.
Der Hinweis auf Cervantes als den Schöpfer des modernen
Romans hat uns zugleich erkennen lassen, dafs es Tendenz
war, die sein unsterbliches Werk ins Leben rief. Der Tendenz
ist es besonders zu danken, dafs die seit Jahrhunderten ange-
wendeten Motive wieder neu erscheinen. Man denke beispiels-
weise an Emilys Verführung durch Steerforth. Seit der Iliade
und den Ritterromanen sind Entführungen fast ein Gemeinplatz
von Dichtungen jeder Art gewesen; „die alte Geschichte" wurde
aber nur dadurch „neu", Indem in . den Prosadichtungen und
selbst im Drama unserer Zeit der Mann den besseren Ständen,
die eTuno-frau einer anderen Gesellschaft5?klasse ano^ehört. Es
w^ar leider die Tendenz, welche den Schriftsteller so oft antrieb,
den Mädchenräuber in dem Junkerstande zu suchen ; und die
von Dickens geplante Entführung mufs auch hier wieder als
mild tendenziös erscheinen, da er den Verführer der Fischer-
tochter einer Gesellschaftsklasse entnimmt, die zwar über dem
getäuschten Mädchen steht, jedoch Immer noch dem besitzenden
mittleren Büro^erstande anofehört.
Da unser Humorist im Gegensatz zur klassischen künst-
lerischen Schule sich instinktiv den ersten Einorebuno-en seiner
Phantasie hinoriebt, mufs sich in seinem Stile eine o;ewisse
Fülle bemerkbar machen. Dieselbe wird uns aber bei Dickens'
gewandter Feder stets wohlthätig berühren und uns den pein-
lichen Eindruck ersparen, den der umständlich genaue und
schleppende Stil Walter Scotts so oft in uns hervorruft. —
Dickens' Perioden sind meist sehr zusammengesetzt. Der
Lapidarstil, welcher nur mit nackten oder einfach erweiterten
Sätzen baut, die, den Quadersteinen der Pyramide ähnlich, dem
Satzbau und der Periode Majestät verleihen, ist in unserer
künstlichen Zeit überhaupt seltener geworden, und der schnell
arbeitenden Feder unseres Novellisten würde sowohl diese Stil-
art als auch Fleldnifrs Raffinement widerstreben, durch die An-
wendunsr des homerisch- vircrilianischen Stiles auf komische
Dickens unJ seine Hauptwerke. 3G5
Situationen einen Gegner zu persiflieren (siehe die Kirchhofs-
scene in Tom Jones), da dergleichen Finessen ein genaues
Studium des Stiles der Alten und beständiges Nachdenken be-
dingen. Die Fülle, welche in Dickens' Stile sich kundgiebt,
wird durch die vielen voneinander abhUnoifien und rasch auf-
einander folo:enden Nebensätze, aber «jjanz besonders durch die
in Gruppen aufgehäuften xVdjektive bewirkt. Dafs sich dies
alles nicht auf den Dialog; und nur auf die Beschreibunor be-
zieht, wo er in Person zu seinem Leser spricht, ist selbstver-
ständlich: denn wer könnte den Dialos wohl natürlicher oe_
stalten als unser Volksfreund und Menschenkenner? Bei dieser
Gelegenheit müssen wir Lewes' Urteil, die Conversation of character
seiner Figuren wäre unnatürlich, als ungerecht zurückweisen.
Andere Eigentümlichkeiten des Dickensschen Stiles müssen
sich aus seiner humoristischen Beanlagung ergeben, welche ihn
den Menschen im Affekt zei^t. Der dem Geo;enstande näher-
stehende Humorist kann nicht in den kalten ironischen Stil
eines Cervantes verfallen, — der Eino-ano- zu Bleak IIou»e
dürfte jedoch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem kühlen, wohl-
überlegten Stile in Don Quixote haben — die fieberhafte Hitze
des Affektzeichners, der sich selbst in der Gefühlsbeweguno;
zu befinden scheint, wenn er die Kämpfe des Gemüts oder Bill
Sikes und J. Chuzzlewits Unruhe nach verübten Verbrechen
schildert, treibt ihn zu mystischer Personifikation lebloser Wesen
und des unpersönlichen Fürwortes „es" (Bleak House : wenn
er von dem sich schnell verbreiteten Gerücht spricht), oder gar
zu ungewöhnlichen Metaphern. Und gerade durch die An-
wendung dieser letzteren liedefigur unterscheidet sich der echte
von dem unechten Humor oder Scherz. Man lese einige Seiten
aus Holteys „Vagabunden" und nach ihm Dickens, und man
wird finden, wie der erstere selbst mit der Sprache tändelt,
während der den Affekt darstellende Novellist das ohnmächtig
gewordene Wort zuweilen verwerfen mufs, um zum plastischer
darstellenden Bilde zu greifen.
Die auf verschiedene Lao-en des Lebens an2;ew^endete Vv^ieder-
holung gewisser Stichvvorte, komischer oder pathetischer Rede-
v/enduno;en seiner Personen ist eine weitere Eio^entümlichkeit
des Dickensschen Stiles, erklärt sieh aus dem Dichtungsgebiet
des lokalisierenden Karikaturzeichners und findet veru'andte
;66
Dickens und seine Hauptwerke.
Züge in der Posse und in dem Refrain der Couplets. Da der
Karikaturenzeichner uns seine Figuren nur in Umrissen dar-
stellt, die wenigen Züge aber mit kräftigen Linien markiert,
wirken diese Wiederholunoen charakteristischer Wendungen so
ausdrücklich auf den Leser, dafs er im stände ist, das Fehlende
aus der Phantasie selbst zu ergänzen. Ahnlich dem Schla«:-
werk der Repetieruhr, die uns in plötzlichen und unerwarteten
Schlägen überrascht, wirken beispielsweise folgende Ausdrücke:
„Barkis hat Lust" (Copperfield) und „Sein einziger Sohn"
(Chuzzlewit). — Diese Wiederholung gewisser Redewendungen
tadelt Taine mit Unrecht als einseitig ; Forster jedoch unter-
läfst es unbeo;reiflicherweise, bei Zurückweisuno; des Taineschen
Angriffes auf Dickens' Dichtungsgebiet hinzuweisen, welches
diese Schlagwörter erheischt. Der Biograph unseres Novellisten
zieht es dao;eo;en vor, zwei von Taine mit Recht o-etadelte
DO" O
Repetieruhren dieser Art als ausgezeichnete Erzeugnisse von
Dickens' komischer Muse hinzustellen, nämlich Micawber (in
Copperfield) und Frau Gamp (Chuzzlewit), und Lewes hat nur
zu recht, wenn er vom ersteren sagt, er mache ihm den Ein-
druck eines Frosches, dem das Gehirn ausgenommen sei.
Noch ein Wort über den Dialekt und das Kauderwelsch
einiger dem Bauernstande oder der Hefe des Volkes ange-
hörenden Figuren. Der Yorkshire - Dialekt des Kornhändlers
John ßrowdie (Nicholas Nickleby) dürfte am besten nachgeahmt
sein. — In diesem Punkte jedoch erreicht unser Novellist kaum
Fielding, dessen Squire Western sich nicht nur in bäuerischen
Redensarten ergeht, sondern auch seine beschränkte Denk- und
Anschauungsweise, seine politischen Ansichten und sein Tempe-
rament erkennen läfst. Im Detail zeichnet sich Dickens jedoch
wieder als guter Volkskenner aus. Leider verfallen die bäue-
rischen Typen unseres Novellisten zu oft in ihrer Sprache in
eine gewisse Monotonie, die übrigens Fielding aufs glücklichste
dadurch vermied, dafs er von Zeit zu Zeit eine plötzliche
Abwechselung in der Stimmung des Sprechenden eintreten liefs.
Das höchst komisch wirkende Kauderwelsch der verworfenen
Volksklassen in Oliver Twist ist jedoch Boz wohlgelungen und
beweist, dafs er die Metropole besser kannte als die ländliche
Bevölkerunof,
Wir haben schon Dombey und Sohn oft in anerkennender
Dickens und seine Hauptwerke. 367
Weise erwähnt; auch was die Spraclie betrifft, verdient es als
Meisterwerk hinoestellt zu werden. Hier weist nämlich der
Stil des Dialoges die herrlichsten Gegensätze auf, und Toodle,
der Lokomotivführer, Cuttle, ein früherer Seemann, Bagstock,
der pensionierte indische Major, verraten nur zu oft durch ihre
Ausdrucksweise das Element, in dem sie sich beweoen oder
beweo:t haben. Vor allen Dino-en aber brinjrt die Redeweise
dreier Hauptpersonen eine herrliche Nüancierung hervor, und
ein grofsartiger Kontrast wird schon bezüglich der Sprache ge-
schaffen durch das eleo-ante Eno:lisch des stolzen Kaufmannes
(Dombey), durch die sophistischen Redewendungen Carkers,
seines Prokuristen, welcher geläufig spricht, ohne jedoch ins
Geschwätzige zu verfallen, und durch die ungeschickte, unbe-
holfene Ausdrucksweise der wenig sprechenden stolzen Edith,
deren Seelenleben sich jedoch bei der schon erwähnten Ver-
führuno-sscene in Diion Carker o^eo^enüber zum Pathos steisiert,
und die hier eine Beredsamkeit entwickelt, welche uns an Percys
Eloquenz vor Heinrich IV". erinnert. (Heinr. IV. Teil I, Akt I, 3.)
Ein Schriftsteller drückt dadurch seinem Genie das Sies^el
auf, dafs er „Schule macht". Zwar kann unser nur den Familien-
roman anbauende Novellist sich nicht eines Einflusses auf die
schreibende Welt erfreuen, wie Scott, der Begründer des histo-
rischen Romanes ; trotzdem zählt Boz in seinem Vaterlande, in
Amerika, ja in Deutschland Anhänger, die getreu den von ihm
einoreschlaorenen Weo; verfolo^en.
Schon Sokrates in einer uns überlieferten Unterredung mit
Plato fand es für wünschenswert, das Erhabene und das Lächer-
liche zu verbinden. Shakespeare hat diese Verschmelzung auf
dem dramatischen Gebiete am olücklichsten ofetroffen, und der
in der Westminster Abtei Shakespeares Büste gegenüber ruhende
Dickens scheint auch im Leben und Schaffen in dieser Ver-
schmelzung der beiden Elemente auf epischem Gebiete das
Vorbild, des sfröfsten Komi-Trao-ikers vor Au2:en o-ehabt zu
haben. In dieser Komi-Tragik auf dem Gebiete der Roman-
litteratur, in welcher Boz bahnbrechend wirkte, dürfte unser
Schriftsteller am meisten Einflufs ausüben.
Der Bau von Boz' Perioden, deren mannigfache Neben-
sätze die aus zahlreichen Röhren sprudelnden Fontänen nach-
368 Dickens und seine Hauptwerke.
ahmen, und vor allen Dingen die Masse der Beiwörter, welche
sich um das Hauptwort in geordneter Dreiteilung lagern: alle
diese Eigentümlichkeiten werden von den Jüngern der Dickens-
sehen Schule aufd sorgfältigste beachtet.
Aufser diesen Kleinio-keiten ist es aber ijanz besonders die
Personenzeichnung, welche Boz zum Haupte seiner Schule er-
hebt, und welche noch zahlreichere Anhänger gefunden haben
dürfte als die Scottsciie Methode. Während uns Shakespeare
die Peripherie und alle anderen Teile seiner im Selbstgefühl
sprechenden Figuren dadurch anschaulich macht, dafs er sein
Wurfgeschofs gleichsam auf den von allen Teilen der Peripherie
gleichweit entfernten Mittelpunkt richtete; während Walter Scott
ein körperlich und seelisch genau beschriebenes und ruhiges
Porträt in plastischer Fülle uns vor die Seele führt, rückt
Dickens seine im Affekt aufo;enommenen Fisfuren durch den
Hinweis auf ihre Umrisse und ihre hervorragenden Körper-
winkel uns vor Augen. Wollten wir Scotts und Dickens' Me-
thode durch zwei nebeneinanderstehende, aus dünnen ßleistift-
linien gebildete dreieckige Figuren veranschaulichen, würden
wir jenes — Scotts Verfahren repräsentierende — Dreieck gänz-
lich durch eine einheitliche Farbe ausfüllen, während wir für
die drei Winkel des Dreiecks, welches Dickens' Figurenzeich-
nung veranschaulichen soll, drei verschiedene grelle Farben
wählen würden, die mit den dünnen Staffagelinien der Bleifeder
aufs grellste kontrastieren, die jedoch, selbst wenn die dünnen
Staftagelinlen durch die Länge der Zeit verwischt sind, immer
noch die Figur als ein Dreieck erkennen lassen, da sich das
Fehlende leicht aus der Phantasie ergänzen läfst.
In der grofsen Zahl von FeuIUetonlsten, welche namentlich
Dickens' Skizzen (Sketches) zum Muster gleichartiger Aufsätze
gemacht haben, steht Sala obenan. — Dafs Ferdinand Stolle
Dickens nachzuahmen sucht, beweist der Titel seines Werkes :
„Die deutschen Pickwickier", und dafs Freytag unseren Novel-
listen genau studiert hat, werden die Leser beider Novellisten
schon oft herausgefunden haben. Kein Schriftsteller hat jedoch
Boz so viel zu verdanken als der Amerikaner Mark Twain
und der deutsche Novellist Hackländer. Da der letztere jedoch
Dickens weder im phantastisch-grotesken, noch im pathetischen
Dickens und seine Hauptwerke. 369
Humor erreicht, dürfte der Beiname „der deutsche Boz" nach
einer sorgfältio^en Verojleichuno; der beiden Schriftsteller etwas
orewaojt erscheinen.
Der Gedankeno;anf][ der Dickensschen Romane und ver-
wandter Schöpfungen könnte leicht durch eine Reise veranschau-
licht werden, deren Ausgangs- und Zielpunkt durch einen breiten,
unwirtlichen und bewaldeten Berg getrennt sind. In der Mitte
des Buches, welches die gröfsten Verwickelungen enthält, hat
man gleichsam die eine Hälfte des Weges zurückgelegt und
befindet sich so zu sagen auf der Plattform des Berges, der
hier die gröfste Wildnis aufweist. Doch wie sich von jetzt ab
die Öde der Natur verwandelt, so läfst sich auch in unserem
Kunstwerk ein Wendepunkt erkennen, und wie der durch die
Wildnis erschreckte Blick allmählich sich beruhigt, so wird
auch die Verwickelunor des Kunstwerkes in verschiedenen Stadien
beseitigt, welche die Kritik als beruhigendes, befreiendes, ver-
söhnendes oder erlösendes Moment bezeichnet hat.
Das erste dieser genannten Momente gilt mehr den epischen
Personen und tritt zuweilen schon vor dem Wendepunkte ein,
um sich dann oft wieder in ein beunruhigendes Moment zu
verwandeln und die Verwickelung des Knotens zu vergröfsern
(Fieldings Tom Jones: Besuch seiner Geliebten und Zurück-
lassung ihres Muffes); das zweite der Momente erweitert des
Lesers Blick, und auf den letzten Stadien, wo wir in dem Ge-
schicke der epischen Personen den Willen der Vorsehung er-
kennen, wendet sich der Schriftsteller an die Welt und die
Weltordnung. Der Künstler wird Priester; der Dichter wird
ein Seher, ein Prophet.
Doch da Dickens' humoristische Romane das Erhabene
und Lächerliche schildern und somit auch dramatische Elemente
enthalten, beobachten wir aufser dem Wendepunkte des Ge-
schickes für die epischen Personen, der Peripetie, auch eine
oder mehrere Katastrophen der dramatischen Figuren, je nach-
dem das Pathetische oder das Komische vorherrscht. So wird
in Oliver Twist, in Nicholas Nickleby, Martin Chuzzlewit, in
Copperfield und Bleak House die schwül gewordene Atmosphäre
durch je eine Katastrophe gereinigt, während der stolze Kauf-
Archiv f. n. Sprachen. LXXIII. 24
3/0 Dickens und seine Hauptwerke.
mann Dombey durch drei Katastrophen in unseren Augen
komisch veinichtet wird. Da sich nun die Katastrophe der
komischen Vernichtuns; wenicjer durch die Wucht als durch
die Wiederhohmix der Schläo:e auszeichnen soll, so erfüllt Dombev
und Sohn auch in dieser Beziehung: die Anforderuno- welche
die Kritik an ein Kunst\yerk der ernsteren Komik stellt. Wäh-
rend also die einheitliche und Avuchtige Katastrophe der Tra-
gödie und jener Romane dem die Luft reinigenden Blitzstrahl
gleicht, wirkt die komische Vernichtung eines Dombey oder
eines Pecksniff wie der sich wiederholende Lichteffekt des
Wetterleuchtens.
Da nun aber Dickens' humoristische Romane der rein
epischen Gattung angehören, so können diese natürlich nicht
mit einer Katastrophe abschliefsen, wie dies bei der Tragödie,
bei Zwitterepen (Nibelungenlied) und Zwitterromanen (Nanon von
Dumas) der Fall ist. AVer verstünde es niin besser als unser
Novellist, in seinen Werken das Geschick der dramatischen und
epischen Figuren zu verflechten? Während der epische Held die
erste Hälfte seines Weo-es mit Mühe zurückle2:t, um sich dann
nach der Peripetie (und ganz selten vor derselben) beruhigender
^lomente zu erfreuen, tritt an demselben Wendepunkte die Be-
unruhigung der dramatischen Figur ein, und vom Geschick be-
zeichnet, treibt die letztere, von der Peripetie ab, der Katastrophe
zu, die nun gänzlich die Hemmnisse des epischen Helden be-
seitigt, so dafs dieser am Zielpunkte seiner W'anderung des
Lesers Glückwünsche für seine Erfolge empfängt.
Nachdem nämlich fast alle Recensenten Dickens' in dem
einen Punkte übereinstimmten, dafs seine Werke ^egren das
Ende abfallen, hielten wir es für angezeigt, auf den Grund
dieser Erscheinung, nämlich die Technik und Architektonik
seiner Schöpfungen hinzuweisen, und wen könnte es nach dem
Gesagten noch wunder nehmen, dafs Dickens' Romane zwischen
der Peripetie und der Katastrophe am interessantesten sind,
und dafs nach dem Verschwinden der tragisch oder komisch
vernichteten Figuren das Schale und Fade der Gattung mehr
und mehr zum Vorschein kommen mufs?
Chemnitz. A. Ball.
i
Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben.
Von
Hermann Isaac.
II. Abfassungszeit einiger Dramen der Hamlet-
Periode.
Wenn wir auf die Entstehungszeit des Hamlet Schlüsse
ziehen wollen aus den Parallelismen, welche dieses Drama mit
anderen aufweist, so mufs die Abfassungszeit der letzteren we-
nigstens annähernd feststehen. Wenn zwei verschiedene Re-
daktionen des Hanil. nachgewiesen werden sollen, die eine am
Ende des 16., die andere im Beginn des 17. Jahrhunderts ent-
standen, so kann der Nachweis sich nur auf Dramen stützen,
die mit einiger Gewifsheit entweder in jenem oder in diesem
Zeiträume gedichtet sind.
Merch.y 1. 2 H. /F., H. V-, und auch wohl Wiv. gehören
ins 16. eJahrhundert. Ebenso übereinstimmend sind die Stücke
Meas., Ci/mb., Mach.^ Lear, Oth., Cor. von allen Forschern dem
17. Jahrhundert zugewiesen worden. Dao-eoen herrschen ver-
schiedene Ansichten über das Datum von Troil.., As, Ado, Cces.^
die bald in die letzten Neunziger, bald in den Beginn des neuen
Jahrhunderts verleojt werden. Da sie für die Entscheidungr der
Hamlet-Frage wichtiges Material liefern, müssen wir zunächst
ihr Alter zu bestimmen versuchen.
1. Troilus and Cressida.
Dieses Drama ist nach den verschiedensten Seiten hin eine
Crux der Shakspere- Kritiker gewesen, nicht zum wenigsten
24*
372 nie Ilamlet-Peiiode In Shaksperes Leben.
nach der chronolooischen, wie die fül<i;ende Zusanimeiistelluni]^
der in dieser Beziehuno; abweichenden Ansichten ersiebt.
Nach Fleay ist es verfafst stückweise 1594 — 1595/(j— 1607
„ Stokes ........ c. 1599-c. 1602*
Chalmers 1600
„ Drake lüOl
„ Malone, Skottowe .... 1602
„ Ulrici 1602, überarbeitet 1008/9
„ Hertzberg 1603
„ Dowden 1603? vielleicht überarbeitet 1607
„ V'erplanck, Grant White . 1603, überarbeitet kurz vor 1609
„ Dehus c. 1608
„ Gervinus 1608/9.
Die verschiedenen Angaben differieren um nicht weniger als
fünfzehn Jahre.
a) Das späte Datiuu 1607 — 1609 ist angenommen worden
auf Grund des Umstandes, dafs das Drama zuerst im Jahre
1609 veröif entlicht worden ist, und zwar in zwei nur hin-
sichtlich des Titels und der Vorrede verschiedenen Quartos, in
deren erster es als neues, bisher nicht aufgeführtes Stück be-
zeichnet wird. Die zweite giebt an, dafs es auf dem Globe-
Theater von His Majesty'd Servants, Shaksperes Gesellschaft,
aufgeführt worden ist. Die Vorrede der ersten Quart-Raubaus-
gabe ist durchaus nicht beweisend dafür, dafs es wirklich ein
neues Stück war; die Angabe ist vielmehr, wie weitere Indizien
zeigen werden, sicher zu Reklamezwecken gemacht worden. Sie
konnte aber wohl nur dann gemacht werden, w'enn das Stück
Jahre hindurch nicht aufgeführt, also bei dem Publikum in Ver-
sessenheit geraten war.
Ob aber im Jahre oder für das Jahr 1609 nicht blofs eine
Neuausstattung von seiten der Gesellschaft, sondern auch eine
Neubearbeitung des Dichters stattfand, ist eine Frage, die sich
nicht entscheiden läfst.
b) Am 3. Februar 1603 wurde ein Stück „Troilus and
Cressida" in die Buchhändlerregister eingetragen, als
aufgeführt von den Lord Chamberlain'e men (damaliger Namen
der Truppe Shaksperes). Das Stück sollte also gedruckt wer-
den, erschien aber nicht. Wir haben nun zwei Fakta : Shak-
* Auch Furmval zweifelt nicht, dals das Stück aus einem älteren und
einem jüngeren Teile bestehe.
Die Hamlet-Periode in Skakspcres Leben. 37 3
spere hat ein Stück „Troilus and Cressida" geschi'Ieben —
Shaksperes Truppe hat ein Stück „Troilus and Cressida" auf-
o-eführt. Die Möglichkeit ist allerdino-s vorhanden, dafs das
von Shaksperes Truppe aufgeführte Stück nicht von Shakspere
war, sondern vielleicht von Dekker und Chettle, welche nach
Henslowes Tagebuch ein anfangs so, später „Agamemnon" be-
titeltes Drama 1599 verfafst hatten. Aber die allergröfste
Wahrscheinlichkeit liegt doch vor, dafs Shaksperes „Troilus
and Cressida" von seiner Truppe vor 1603 aufgeführt, d. h.
spätestens 1602 verfafst worden ist.
c) Diese Annahme wird bekräftigt durch eine unzweideutige
Alispielling' auf einen Vorgang des Shakspereschen Dramas
im „Histriomastix, or the Player VVhipt", welches Stück vor
dem Tode der Königin Elisabeth geschrieben wurde, da sie
darin als lebend angeredet wird:
Troil. Come, Cressida, my cresset light,
Thy face doth shine both day and night.
Behold, behold thy garter blue.
Thy hiight his valiant elbow ivears,
That when he Shakes his furious Speare,
The foe in shivering fearful sort
May lay him down in death to snort.
Cress. 0 knight, with valour in thy face,
Here take my skreene^ wear it for grace ;
Within thy helmet put the same^
Therewith to make thy enemies lame.
Also Shaksperes Troil. w^ar vor dem Tode der Königin
Elisabeth (März 1603) vorhanden.
d) Fleay erkennt in Troil. drei verschiedene Stilarten und
führt zum Beweise, dafs Shakspere zu verschiedenen Zeiten daran
gearbeitet habe, zwei allerdings recht auffallende Erscheinungen
an: die letzten Worte des Stückes vor dem Epilog, von Pan-
darus und Troilus gesprochen (V, 10, 32 — 34), kommen in der
Fol. noch einmal vor am Schlüsse der dritten Scene des fünf-
ten Aktes, mit der die Troilus-Cressida-Geschichte beendigt
wird. Fleays Annahme, dafs hier der ursprüngliche Schlufs
war, und dafs die folgenden Scenen später gearbeitet sind, hat
viel für sich. — Ferner: in der zweiten Scene des ersten Aktes
zieht Hector zum Kampfe aus und in der folgenden ist er
374 Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben,
,,oTown rusty in the long-continued truce^^. Sachliche Wider-
sprüche, besonders Anachronismen sind bei Shakspere zwar
nicht selten. Dieser in zwei aufeinander folgenden Scenen auf-
tretende ist aber um so seltsamer, als zwischen dem Schlufs
der zweiten Scene des ersten und der zweiten Scene des drit-
ten Aktes, welche die Troilus - Cressida - Handlung fortsetzt,
allerhöchstens ein paar Tage liegen können. — Fleay geht in-
dessen entschieden zu weit, wenn er aus inneren, stilistischen
Gründen eine Arbeit von 1594 und eine andere von 1595 oder
1596 herausfinden will; auch das verschiedene Reimverhähnis
(Shakespeare Manual pag. 244) kann nicht für einen Zwischen-
raum von ein oder zwei Jahren beweisend sein, wie ein Blick
in seine eigene Reim-Tabelle lehrt. Er hat sich die Möglich-
keit einer so subtilen Unterscheidung nur eingebildet, in Wirk-
lichkeit aber rein äufserlich die Handlung nach ihren drei
Quellengebieten {Chaucers „Troilus and Creseide", Caxtons „Troy
Book" und Chapmans Homer-Übersetzung) auseinandergelegt in
die Troilus- Cressida-, Hektor- und x4chilles- Thersites - Fabel.
Ohne Zweifel hat Shakspere Chaucer und Caxton gleichzeitig
benutzt, später aber möglicherweise aus Chapman (1598) den
Zwiespalt der griechischen Helden hinzugefügt. Zicei verschie-
dene Stile sind in der That leicht erkennbar: die tiefe Welt-
weisheit der Reden des Ulysses und Nestor findet ihr Pendant
nur in Dramen des 17. Jahrhunderts, während die Reden der
Liebenden durchaus der italienischen Richtung der Jugend-
Dramen und der Sonette angehören. So hat Stokes recht, eine
„Liebes- und eine Lager-Geschiclite/' zu unterscheiden.
Fleay geht auch darin zu weit, dafs er einzelne Scenen in
zwei, drei und mehr Teile je nach ihrer Abfassungszeit zerlegt,
und mitunter Stellen von zehn Zeilen als spätere Zuthat aus
ihrem Kontexte löst. Die Sicherheit, die er auf einem so un-
sicheren Gebiete zur Schau trägt, ist eine komische, da sie
auf der stillschweigenden Voraussetzung beruht, dafs man
eine Dichtung mosaikartig zusammensetzen könnte. Sobald
der Dichter sich zu der Erweiterung einer Komposition ent-
schliefst, kann es sich eben nicht blofs um Zusätze und Ein-
fügungen handeln, sondern um Verschmelzung des alten und
des neuen Stofi^es, d. h. um eine vollständige Überarbeitung,
Die Hainlet-Pcrlude in Shukspcrcs Leben. 375
die freilich das Zurückbleiben einzelner Ungereimtheiten und
Widersprüche wie die eben angeführten nicht ausschliefst. Die
Scenen , welche stofflich der ersten Fassunjj ansfehürt haben
müssen, werden im einzelnen vielfache Nachbesserungen er-
fahren haben, und manche Stücke aus jenen werden in neu-
entstandene Scenen eingefügt worden sein: so dafs eine
eventuelle kritische Scheidung der älteren und der jüngeren
Arbeit immer nur unvollkommen ausgeführt werden kann, weil
sie eben mehr eine stoffliche als eine stilistische ist. Wenn
ich daher im Folgenden eine Scheidung der beiden Redaktionen
vornehme, so möchte ich sie nur als eine unirefähre bezeichnen
und von vornherein zuo'eben, dafs in den als ältere Dichtunir
bezeichneten Scenen (z. B. II, 2 ; IV, 5 ; V, 2) mannigfache
spätere Zuthaten enthalten sind:
Altere Arbeit. Jüngere Arbeit.
1, 1.
IV, 1.
V ^
I, 3.
V, 1.
I, 2.
IV, 2.
V, 3.
II, 1.
V, 4.
II, 2.
IV, 3.
V, 5.
II, 3.
V, 7.
III, 1.
IV, 4.
V, 6.
III, 3.
V, 8.
III, 2.
IV, 5.
V, 10.
V,
9.
e) Der Monolog der Cressida am Schlufs der zweiten
Scene des ersten Aktes, welcher welter nichts als eine lyrische
Einlage, ein Sonett in Reimpaaren ist, ist ein entschiedenes
Kennzeichen jugendlicher Arbeit.
f) Die Reiniprobe ergiebt einen ziemlich bedeutenden
Unterschied in den beiden Teilen : in dem früheren kommen
126 Reim- auf 1318 Blank-Verse, im späteren 56 auf 801; also
unterscheidet sich der Reimo-ebrauch wie 1:10 und 1:14.
Aber ich gebe zu, dafa dieser Unterschied für den Zwischen-
raum zwischen den beiden Redaktionen wenig beweisend ist :
//. F. ist sicher später geschrieben als H. IV., hat aber dennoch
mehr Reime.
g) Ein hübsches Beweismittel ist das von Stokes ge-
brauchte-, der die Alispieluugen auf Troil. in den übrigen
Dramen zusammengestellt hat.
1. Lafeu. I ara Cressid's uncle
That dare leave two together.
All's II, 1, 100.
376 Die Hamlet-Pcriodc in Shak^percs Leben.
2. Clown. I would play Lord Pandarus of Piirygia, sir, lo bring
a Cressida to bis Troihis. Tiü. III, 1, 58.
(Anspielungen auf TroiL III, 2.)
3. Troilus bad bis brains dasbed out Avitb a Grecian club, and
yet be did wbat be could to die before, and he is one of tbe
patterns of love. As IV, 1, 97.
(In dem uns vorliegenden Drama hat Troil. ein solches Ende
nicht; die Anspielung mufs vor der endgültigen Vollendung des
Dramas gemacht sein.)
4. Als Cressida das Liebespfand des Troilus, den Ärmel,
an Diomed fortgegeben hat, spricht sie:
O, all you gods ! O pretty, pretty pledge !
Tbv master now bis tbinkins: in bis bed
Of tbee and me, and sigbs, and lakes my glove.
And gives memorial dainty kisses to it,
As I kiss tbis. Troil. V, 2, 78.
In der Liebes- und Mondschein-Scene auf Belmont sagt
Lorenzo:
in such a nigbt
Troilus metbinks mounted tbe Trojan walls,
And sigbed bis soul toward tbe Grecian tents,
Wbere Cressid lay tbat night. Merch. V, 1,3.
5. Pistol. And from tbe powdering tube of infamy
Fetch forth tbe larger kite of Cressid's kind.
H. Y. II, 1, 79.
6. Bourh. And tbat will not follow Bourbon now,
Let bim go bence, and with bis cap in band,
Like a base Pander^ hold the Chamber door,
Whilst by a slave, no gentler than my dog,
His fairest daughter is contamincded.
H. V. IV, 5, 14.
7. Ale Pistol den Postillon d'amour zwischen FalstafF und
Mrs. Page machen soll, verwahrt er sich dagegen in folgenden
Worten :
Shall I Sir Pandarus of Troy become
And by my aide wear steel ? Then Lueifer take all !
Wiv. I, 3, 83.
8. Falstaff sbonld have been a Pander to one Mr. Brook.
Wiv. V, 5, 176.
Die Ilanilet-Pcriodc in Sluiks(iercs Leben. 377
9. Leander the good swimmer, Tidüus llie first eniployer of pan-
ders, and a whole bookful of tiiese quondam carpet-mongers,
ivhose names yet run smoothly in the even road of a blank verse.
Ado V, 2, 30.
10. Thersites' hody is as good as Ajax
When neither are alive. Cymb. IV, 2, 252.
11. Kent sagt von Oswald:
None of these rogues and cowards
But Ajax is tbeir fooL Lear II, 2, 132.
Diesen Stellen fü<j:e ich die folgende hinzu:
11 a. Volumnia antwortet ihrer um den Gatten besorgten
Schwiegertochter Virgilia :
it (blood) more becomes a man
Than gilt bis trophy i the breasts of Hecuha,
When she did suckle Hector, looked not lovelier
Than Hector's forehead when it spit forth blood
At Grecian stvord, contemning. Cor. I, 3, 43.
(Vergl. auch Cor. I, 8, 11.)
Es ist sicherlich nicht als Zufall zu betrachten, dafs die
Anspielungen in Stücken des 16. Jahrhunderts sich nur auf die
Liebesgeschichte, die drei Stellen aus Lear, Cymh. und Cor. sich
auf die Lagergeschichte beziehen. — Besonders aufmerksam
möchte ich auf 4. machen, wo zwei nicht blofs inhaltlich, son-
dern der Stimmung nach identische Stellen angeführt sind. Es
ist zwar nur eine Sache des Gefühls und kann nicht als strik-
ter Beweis gelten, aber hohe Wahrscheinlichkeit hat doch die
Annahme, dafs der Dichter die Situation im Troil. zuerst durch-
empfunden haben mufste, ehe der gefühlvolle Nachklang dersel-
ben in die hochpoetische Schlufsscene von Merch. übergehen
konnte. — In Bezug auf 9. ist zu bemerken, dafs Shakspere
zu der Zeit, als Ado geschrieben wurde (s. weiter unten),
schwerlich auf das Drama von Dekker und Chettle (1599),
sondern nur auf die eigene Leistung anspielen konnte. — 11.
dagegen spielt nicht auf die homerische Darstellung an, sondern
genau auf das, was Shakspere in seiner Lagergeschichte aus
ihr gemacht hatte. — Der Eindruck, welchen diese Anspielun-
gen machen, ist offenbar der, dafs' die Liebesgeschichte im 16.,
o
die Lagergeschichte im Beginn des 17. Jahrhunderts geschrie-
ben wurde.
378
Die Heimlet Periode in Shaksperes Leben.
h) Das schwerst wiegende Bewelsmatcrial für eine zwei-
maliore Arbeit an Troil. bieten die Parallelstellen mit ande-
ren Dichtuna'en. Zunächst fiilh Troil. unter den Dramen einer
späteren Periode auf durch die zahh*elchen Anklänge an die
eJuirend- Sonette, besonders die Eifersuchts- Sonette, welche nach
meiner Kombination (Shakspere-Jahrb. XIX, pg. 235) etwa ins
Jahr 1592 gehören (17—22).
12. Die Stimme der Geliebten wird als „Ji^^s/Ä;" bezeichnet
Troil. III, 2, 142; desgleichen Soim. 8 und 128; Rom. II, 6,
27; Ven. 1077; Err. II, 2, 116; Gentl. IV, 3, 36; freilich auch
B. V. V, 2, 263.
13. Die Bezeichnung des geliebten Gegenstandes als Götze
uml der Liebe als Götzendienerei ist vorwiegend jugendlich:
Troil. II, 2, 56; Sonn. 105; Ven. 212; Mich. I, 1, 109; Rom.
II, 2, 114; LL. IV, 3, 75; Gentl. II, 4, 144; IV, 2, 129; 4,
205; AWs I, 1, 108; aber auch Ilaml. II, 2, 109; Tic. III, 4,
399.
14. Der kurze Monolog des Troilus vor seinem ersten Zu-
sammensein mit Cressida findet seinen Widerhall in zwei Reise-
Uedern und Rom.:
The hnaginary relish is so sweet
That it enchants my sense : ivhat will it he,
When that the laatery pcdate tastes indeed
Love's tlirice repured nectar? Troil. III, 2, 20.
Ah nie ! hoio sweet is love itself possessed,
When but love's shadows are so rieh in joy !
Bom.'V, 1, 10.
Then thou, whose shadow shadows doth make bright,
How shoidd thy shadoius form form happy show ....
When to wnseeing eyes thy shade shines so. Sonn. 43.
Ein ähnliches Bild mit Bezug auf die Liebe erscheint in der
Stelle:
Mine eye well knows what witli his gust is 'greeing,
And to his palate doth prepare the cup. Sonn. 114.
15. No, she'll none of him, they two are twain.
Troil. III, 1, 110.
Let mc confess that tue two must he twain.
Sonn. 36.
Die Hamlet-Periode in Shak.'-pcres Leben. 37 9
Tliou and my bosom henceforth i<hall he twain.
Born. III, 5, 240.
16. But we in silence hold this virtve ivell,
We'll hut commend ivhat ive intend to seil.
Troil. IV, 1, 78.
Let them say more that like of hearsay well;
1 will not praise that purpose not to seil. Sonn. 21.
17. Nach den gegenseitigen Liebesversicherungen des Troi-
lus und der Cressida leitet Pandnrus sie auf dem We2:e der
Liebe weiter mit den Worten :
o
Go to, a bargain made ; seal it, seal it;
ril be the witness. Troil. III, 2, 200.
Die Küsse als Siegel für Liehes-Kontrahte zu betrachten, ist
ein in den jugendlichen Dichtungen sehr beliebtes Bild:
(Thy Ups) have sealed false bonds of love as oft as mine.
Sonn. 142.
Pure Ups, sweet seals in my soft lips imprinted,
What bargain may 1 make, still to be sealing?
To seil niyself, I can be well contented,
So thou wilt biiy, and pay, and use good dealing;
Which purchase if thou make, for fear of lips
Set thy seal-manual on my wax-red Ups. Ven. 511.
and lips, O you,
The doors of breath, seal with a righteous kiss
A dateless bargain to engrossing death.
And seal the bargain with a holy kiss.
Rom. V, 3, 113.
Gentl. II, 2, 7.
Upon thy cheek lay I tliis zealous kiss
As seal to this indenture of my love.
John 11, 1, 20.
Küsse werden aufserdem „Siegel" genannt: Per. II, 5, 85
2 H. VI. III, 2, 343; 3 H. VI. V, 7, 28; Shrew III, 2, 123.
18. Die Stelle
- Minds swaj^ed by eyes are füll of turpitude
Troil. V, 2, 107
giebt den Grundgedanken des 137. Sonettes wieder.
19. Cressida. I have a kind of seif, resides with you.
Troil. III, 2, 155.
380 Die Ilanilct-Periocle in JSliaki^iteres Lcl)cn.
Me from imjself thy cniel eye liatli taken.
Sonyi. 133.
20. Die Liebe wird der Vernunft als sich oreorenseltior aus-
schlieft-end in iu<xendlichen Dichtun2;en öfters iresenüberirestellt :
to he lüise and love
Exceeds maii^s might. Troll. III, 2, 163.
My reason, the physician to my love^
Angry that his prescriptions are not kept,
Hath left me. Sonn. 147.
0 appetite ^ from judgement stand aloof!
The one a palate hath that needs will taste,
Though Reason weep, and cry „It is thy last."
Compl. 166.
Reason and love Jceep little Company together now-a-days.
Mids. III, 1,*^ 147.
Ask me no reason why I love yoii ; for though Love nse
Reason for his physician, he adniits him not for Ins coimsellor.
Wiv. II, 1, 4.
{Falstaffs Worte in seinem Liebesbrief an Mr?. Page, der nach
allen Regeln der von Sliakspere früher selbst geübten Kunst
verfafst ist.)
Auch bei Spenser, einem grofsen Verehrer Piatos, kommt
dieser platonische Gedanke vor:
To be wise and eke to love,
Is granted scarce to gods above.
Sheplierd's Calendar.
21. Das Bild von einer getrübten Quelle ist in Jugend-
dichtungen beliebt :
Ti'oil. What too eurious dreg espies my sweet lady in the
fountain of our love? Troil. III, 2, 70.
(Von hier hinübergenommen in eine wahrscheinlich später ge-
arbeitete Scene :
My mind is troubled like a fountain stirred.
[Achilles.] Troil IIL 3, 311.)
Mud not the fountain that gave drink to thee.
Lucr. hll .
(Lucrece zu Tarquin in Bezug auf die ihm gewährte Gast-
freundschaft.)
Die Hanilet-Perlude in Shaksperes Leben. 381
Why should the worm intjude the maiden biid ?
Or hateful ouckoos hatch in sparrows' nests?
Or toads infect fair founts icith venom mud? Lucr. 850.
(Lucreces Klage nach der Entfernung Tarquins.)
No more be grieved at that which thou hast done:
Roses have thorns, and süver fountains mud. Sonn. 35.
(Shakspere an den Freund, den er im Verdacht hat, ihn mit
der Geliebten verraten zu haben.)
The pnrest spring is not so free from mud
As I am clear froni treason to mv sovereign.
(Gloucester.) ' 2 H. VI. III, 1, 101.
Pool! Sir Pool! lord!
Ay, kennel, piiddle, sink ; whose ülth and dirt
Trouhles the silver spring where England drinks.
(Kapitän zu Suffoik.) IV, 1, 72.
A woman moved is like a fountain troubled,
Mudly, ill-seeming, tliick, bereft of beauty.
(Katharina.) jShrew V, 2, 142.
21 a. In jugendlichen Dichtungen werden die Seufzer gern
mit dem Winden die Thränen mit dem Regen verglichen:
Pandarus (bei der Trennung von Cressida). Where are my
tears? rain, to lay this wind, or my heart will be blown up
by the root. Troil. IV, 4, 55.
O earth, I will befriend thee more with rain,
That shall distil from these two ancient urns,
Than youthful April shall with all bis showers.
Tit. III, 1, 16.
But through the flood-gates breaks the silver rain.
Yen. 959.
Biit like a stormy day, now wind, now rain,
Sighs dry her cheeks, tears make them wet again.
Yen. 975.
At last it rains, and busy winds give o'er:
The son and father weep .... Lii. 1 790.
' " (a maid)
Storming her world with sorrow's wind and rain.
Compl. 7.
Lysander. How now, my love ! why is your cheek so pale ?
How Chance the roses there do fade so fast?
382 Die Hamlet-Ptriode in Shak?peres Leben.
Hermia. Belike for want of rain, -which I could well
Beteem them frora the tempest of my eyes.
Mids. I, 1, 30.
the winds thy sighs. Rom, III, 5, 135.
You foolish shepherd, wherefore do you foUow her,
Like foggy south puffing with wind and rain ?
As III, 5, 49.
York (zu Queen Margaret).
ATouldst have nie weep? why, now thou hast thy will:
For raging wind blows up incessant showers,
And when the rage allays the rain begins.
3 H. VI. 1, 4, 145.
Prince (zu dem weinenden Clarence).
How now I rain within doors, and none abroad.
2 IL IV. IV, 5, 9.
We cannot call her winds and waters sighs and tears.
Ant. I, 2, 153.
22. Der Monoloof Cressidas am Ende der zweiten Scene
des ersten Aktes erinnert lebhaft an das 129. Sonett.
Women are angels, wooing:
Things ivon are done ; joy^s soul lies in the doing.
That she beloved knows nought that knows not this:
Men prize the thing ungaitied more than it is :
That she was neuer yet that ever knew
Love got so siveet as when desire did sue. Troll. I, 2, 312.
Qust is)
Enjoyed no sooner but despised straight ...
Mad in pursuit and in possession so ;
Had^ having, and in quest to have, extreme;
A Miss in proof, and proved, a very woe ;
Be/ore, a joy proposed; behind, a dream. Sonn. 129.
23. Slie is as far high-soariag d'er thy praises
As thou unworthy to be called her servant.
Troil. IV, 4, 126.
Finding thy luorth a limit past my praise. Sonn, 82.
Far hehind his worth
Come all the praises that I now bestow.
Genil. II, 4, 71.
24. Als Ausdruck des höchsten Preises finden sich die
Worte :
1
Die Hi.mlet-Periode In Sh;iksperes Leben. 383
Troüus is Troilus. Troil. I, 2, 70.
Ebenso:
You alone are you. Sonn. 84.
Thou art thyself. Born. 11, 2, 39.
Would you praise Coesar, say^ Ccesar, go no farther.
Ant. III, 2, 13.
25. My rest and negligence hefriends tliee noiv
Troil. Y, G, 17
sagt Achilles zu Hector.
Derselbe Ausdruck findet sich im 120. Sonett:
That you were once unkind, hefriends me noiv.
Aufser den bereits anoeführten finden sich noch andere
Ankliino-e in Born.
26. Troilus sagt, dafs nach ihm Liebende seinen Namen
zur Bekräftigung ihrer Treue brauchen werden: „As true as
Troilus", wie sie jetzt sagen:
As true as steel ...
As iron to adamant, as earth to centre. Tioil. III, 2, 186.
So sagt Romeo :
Can I go torward, when my heart is here ?
Turn back, didl earth {Körper^, and find thy centre out.
Rom. ir, 1, 2.
26 a. Wortspiel zwischen ^^note auf Noten setzen^'' und „Jcenn-
:eichnciv^ :
Any man may sing her, if he can take her cliff; slies noted.
Troil. V, 2, 11.
An you re us and fa us, you note us. Born. IV, 5, 122.
27. Teil me Apollo,
What Cressid is, what Pandar, and what w e ?
Her bed is India; there she lies, a pearl:
Between our Bium and where she resides,
Lei it be called the icitd and wandering flood,
Ourself the merchant, and this sailing Pandar
Our doubtful hope, our convoy, and our bark.
Troil. I, 1, 103.
Ein ähnliches Bild braucht Romeo zu Juliet ;
I am no pilo ; yet wert thou as far
As that vast shore washed luith the farthest sea,
I would adventure for such a merchandise.
Born. II, 2, 82.
384 Oie Hamlet-Periode in Shaksperes Leben.
27a. Der Wind Avird als Symbol der Falschheit gebraucht:
Troil. lir, 2, 199; Rom. 1, 4, 100; Wi7iL I, 2, 132.
27 b. Das Wortspiel mit follow^ followev in den Bedeutun-
gen „folgen^'' und ^^dienen'"'' erscheint dreimal;
Pandarus. Friend ! . . . Do not you follow the young lord
Paris?
Servant. Ay, Sir, when he goes before me.
Troil. III, 1, 2.
Tyhalt. Well, peace be with yon, sir, here comes iny man
(der eintretende Romeo).
Mercutio. But VW be hanged, sir, if he wear your livery:
Marry, go before to field, he'll be your foUoiver ;
Your worship in that sense may call liim „man".
Born. II, 1, Gl.
Äfrs. Page (zu Robin). Nay, keep your way, little gallant;
you were wont to be a folloiver, but now you are a leader.
Wiv. III, 2, 2.
27 c. Das gleiche Wortspiel findet sich in Troil. I, 1, 55:
(Thou) Handlest in thy discourse, 0, that her ha7id
und Tit. III, 2, 29:
O, handle not the therae, to talk of hands^
Lest we remember still that vve have none.
27 d. Mit date in den Bedeutungen ^^Dattel''^ und „Dauer^^
wird gespielt:
Pandarus. Is not birth, beauty, good shape, . . . and so
forth, the spiee and salt that season a man?
Cressida. Ay, a minced man : and then to be baked with
no dats in the jrie^ — for then the man's date is out.
Troil. I, 2, 281.
Parolles (zu Helena). Your date is better in your pie and
your porridge than in your cheek. AlFs I, 1, 172.
27 e. ,,Dianas icaiting-women^^ heifsen die Sterne Troil. V,
2, 91, so wird auch in Lu. (787) von der j,silver-shim?ig queen^'-
und ^Jier tirinJding handmaids'"'' gesprochen.
Auch die der zu-eiten Hälfte der Neunziger zugewiesenen
Sonette bieten naturö-emäfs Parallelen.
o
28. Cassandra. let us pay betimes
A raoiety of that rnass of moan to come.
Troil. II, 2, 106.
Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben, 385
(1) heavily from Tvoe to woe teil o'er
The sad account of fore-bemoaned moan,
Which I new pay as if not paid before. Sonn. 30.
29. Helena wird die „mortal Venus'' genannt.
Troil. III, 1, 34.
So heifst die Königin Elisabeth
, the mortal moon So7in. 107
und Cleopatra:
terrene moon Ant. III, 13, 153.
Die Parallelstellen zwischen der LiehesgescJiiclite von Troil.
und den Dramen der zweiten Hälfte der Neunziger sind nicht
so zahlreich wie die in den Jugendstücken gefundenen ; es sind
aufser den unter 13, 20, 27b und 76 angeführten die folgenden:
30. Come, draw this curtain, and Ißt's see your picture.
Troil. III, 2, 48
sagt Pandarus zu seiner verschleierten Nichte, als Troilus sich
ihr naht ; dieselben Worte gebraucht die anfangs verschleierte
Olivia zu der in Männerkleidern auftretenden Viola:
We will draiü the curtain and show you the picture.
Tiu. I, 5, 251.
(Eine sehr auffallende Wiederholung.)
31. Das Flügelpferd des Perseus wird an drei Stellen zum
Vergleiche benutzt:
I have Seen thee,
As hot as Perseus, spur thy Phrygian steed.
Troil. IV, 5, 186.
Der Dauphin nennt sein Pferd
a heast for. Perseus: he is pure alr and ßre.
II. V. III, 7, 22.
Und in der Lagergeschichte vergleicht Nestor ein Schiff im
Sturme damit :
The strong-ribbed baik through liquid mountains cut,
Bounding between the two moist elements
Lil:e Perseus^ horse. Troil. I, 3, 42.
32. Der Vergleich des Kampfes zwischen zwei Personen
mit der {Löiüen-)Jagd findet sich zweimal in Troil.:
Diomedes. By Jove, I'U play the hunter for thy life
With all niy force, pursuit and policy.
AicLiv f. n. Spiaclien. LXXIIL 25
386 Die Hamlet-Perlode In Shaksperes Leben.
yEneas. And thou shalt liunt a Hon, tliat will fly
With his face backward. Troil. IV, 1,17.
Hektor ruft einem Griechen zu:
wilt thou not, beast, abide?
Wy, then fly on, I'U hunt thee for thy lüde.
Troil. V, 6, 31.
Heinrich V. läfst den Franzosen vor der Schlacht bei
Aijincourt durch ihren Absesandten zurücksanken:
Bid them achieve nie, and then seil my bones.
Good God I why should they mock poor fellows thus?
The man that once did seil the lions slin
While the beast lived, was killed tcith himting him.
H, V. IV, 3, 94.
Coriolan sagt von Aufidius:
he is a lion
That I am proud to hunt. Cor. I, 1, 239.
(Ob die Parallelstellen von Tio. und H. V. aus der ersten Re-
daktion in diese Stücke oder aus diesen Stücken in die zweite
Redaktion übergegangen sind, ist nicht zu entscheiden.)
33. Das Bild vom Kolofs von Rhodus kehrt in sehr ähn-
licher Verwendung an vier Stellen wieder:
[Margarelon] Stands colossits-wise, waving his beam^
lipon the pashed corses of the kings. Troil. V, 5, 9.
Fal. Hai, if thou see nie down in the battle and lestride
me^ so; 'tis a point of friendship.
Prince. Nothing but a colossus can do thee that friendship.
IL IV. V, 1, 122.
Cces. Why, man, he (Caesar) doth bestride the narrow ivorld
Like a Colossus, and we petty men
Walk under his huge legs and peep about
To find oiirselves dishonourable graves. Cces. I, 2, 135.
His legs (Antonius') bestrid the ocean. Ant.Y^ 2, 82.
33 a. With a bridegrooni's fresh alacrity,
Let US address to tend on Hector's heels.
Troil. IV, 4, 147.
fresh as a bridegroom. 1 H. IV. I, 3, 34.
34. Orlando sagt von seinem Bruder:
report speahs goldenly of his profit. As I, 1, G.
Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben. 387
In demselben Sinne — „lobend" — spricht Cressida von
Helen's golden tongue. Troil. I, 2, 114.
So sagt auch Macbeth von sich:
I have bought
Golden opinions from all sorts of people.
Mach. I, 7, 33.
Wie Bilder, die ursprünglich offenbar der ersten Redaktion
(Liebesgeschichte) angehörten (24, 27 a, 29, 32, 34), von der
zweiten aus ihren Weg auch in spätere Stücke nehmen konnten,
so ist es leicht erklärlich, dafs einzelne Parallelen zu der Lie-
besgeschichte eich in späteren Dichtungen allein finden: ent-
weder waren sie schon in der ersten Redaktion vorhanden,
pflanzten sich aber erst durch die zweite fort; oder sie w^aren
Zuthaten, welche der Dichter der Liebesgeschichte in der zwei-
ten Redaktion hinzufügte:
33. Troil US spricht von
the strong base and huilding of Iris love.
Troil. IV, 2, 109.
So sagt auch Shakspere von seiner Liebe:
it was hiiüded far from accident.* Sonn. 124.
36. Wenn Shakspere auf den von Cressida ausgesprochenen
jugendlich-**platonischen*** Gedanken: „to be wise and love
exceeds man's might" als Antwort die gewichtigen Worte des
Troilus folgen läfst:
O that I thought it could be in a woman —
As, if it can, I will presurae in you —
To feed for aye her lamp and flames of love ;
To keep her constancy in plight and yoiith,
Outliving beauty^s outward^ with a mind,
That doth renew swifter than blood decays.
Troil. in, 2, 165,
so haben wir die Empfindung, als ob Troilus aus der Rolle
eines unbesonnenen Liebhabers herausfiele; auch Shakspere
* Die Sonette 124 und 116 gehören sicherlich zu den spätesten, die
Shakspere geschrieben hat, d. h. ins 17. Jahrhundert (s. Shakspere- Jahr-
buch XIX, pag. 255 f.).
** S. 20.
*** Herrigs Arthiv Bd. LXI, pag. 191, 193.
25*
388 Die Hamlet- Perlode In Shaksperes Leben.
scheint sie gehabt zu haben, da er zur Milderung des Wider-
spruches die Worte einschiebt:
As, if it can, 1 will presume in you.
Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn wir des Dichters
Ansicht über wahre Liebe in sehr ähnhcher Fassung in einem
späteren Sonett wiederfinden:
Luve's not Times fool, thoiigh rosy Ups and cheeks
Within liis bejidmg sickle^s compass come ;
Love alters not with his brief hours and weeks,
But hears it out even to the end of dooni. So)in. 116.
37. „Forked gabelförmig auseinandergehend wie Hörner'^ wird
vom Hornschmuck betrogener Ehemänner gebraucht, wie in
TroiL I, 2, 178, in Olli. III, 3, 276 und Wint. I, 2, 186.
38. Wasser wird als Symbol der Falschheit gebraucht.
Troil. III, 2, 199; Oth. V, 2, 134; Tim. III, 6, 99; //. VIIL
II, 1, 30; Wild. I, 2, 132. (S. 27 a.)
3D. Eine Eigentümlichkeit des spätestens Stiles bei Shak-
spere ist die Vorliebe für Fremdwörter oder Neubildungen aus
Fremdwörtern (besonders lateinischen), die etymologisch mitunter
recht seltsam sind: Esperance ist niemals ein englisches Wort
gewesen; Shakspere gebraucht es zw^eimal im englischen Kon-
text, also als englisches Wort: Troil. V, 2, 121; Lear IV, 1, 4.
Das sind alle Anklänge, die ich zwischen der Liebes-
geschichte und späteren Dichtungen habe entdecken können ;
im Vergleich mit den unter 22 — 34 angeführten Parallelismen
mufs man sie als g-erinjjfüofiec bezeichnen.
Die Lagergeschichte hat dementsprechend die meisten Pa-
rallelismen mit den späteren Dramen.
40. Den Gedanken, dafs es ebenso viel wert wäre als nicht
tugendhaft sein, wenn unsere Tugenden nicht in Handlungen
aus uns herausträten, finden wir an zwei Stellen in sehr ähn-
licher Form ausgesprochen :
That man, how dearly ever parted,
How much in having, er wifhout or in,
Cannot make boast to have that luhich he hathy
Nor feels not what he owes, but by reflection;
As lühen his virtues shining upon others
Heat them, and they retort that heat again
To the first giver. Troil. III, 3, 90.
Die Hamlet-Periode in Shakspcrcs Leben. 389
Heaven doth with us as \ve with torches do,
Not liglit them for themselves ; for if our virtues
Diel not go forth of ics, ^twere all alike
As if we had them not. Meas. I, 1, 34.
41. Die Stelle:
'Tis certain, greatness, once falCn out loith fortune.
Mit st fall out with men too: what the declined is
He shall as soon read in the eyes of others,
As feel in his own fall ; for men, like butterflies,
Show not their mealy wings but to the sumrner,
And not a man, for being simply man,
Hath any honour, but honour for those honours
That are without him, as place, riches^ favour,
Prizes of accident as oft as merit ;
Which when they fall, as being slippery Standers,
The love that leaned on them, as slippery too,
Do one pluek down another and together
Die in the fall. Troil. III, 3, 75
enthält nur eine breitere Ausführung dessen, was im 124. ^o-
nett knapper und poetisch wirksamer ausgesprochen ist:
(If my dear) love (were but) the child of state,
It might, for Fortune's bastard be unfathered,
As suhject to Time's ( Welt^ love or to Times hate,
Weeds among weeds, as flowers with flowers gathered.
No, it was builded far from accident;
It suffers not in smiling pomp, nor falls
Under the blow of thralled discontent . . .
Auch das 25. Sonett führt fast denselben Gedanken aus.
42. Der Wagen der Nachtgöttin wird von geflügelten Dra-
chen gezogen:
The dragon wing of night overspreads the earth.
Troil. V, 8, 17.
Swift, swift, you dragons of the night ^ that dawning
May bare (öffnen) the raven's eye. Cymb. II, 2, 48.
Aber auch Mids. III, 2, 379:
For nighfs swift dragons cut the clouds füll fast.
43. -Yond towers, whose wanton tops do buss the clouds,
Must kiss their own feet. Troil. IV, 5, 221.
Though palaces and pyramids do slope
Their heads to their foundations.
Mach. IV, 1, 57,
390
Die Hamlet-Periode in. Shaksperes Leben,
44. Die Welt (Time) ist
A great-sized monster of ingrat'dudes.
Troil. HI, 3, 147.
Monster ingratitude. Lear I, 5, 43.
Ingratitude is mo7isirous, and for the multitude to be rmgrateful,
were to make a monster of the multitude. Cor. II, 3, 10.
0, see the monstrousness of man
When he looks out in an ungrateful shape!
Tim. III, 2, 79.
Poet. I am rapt and cannot cover
The monstrous bulk of this ingratitude
With any size of words. Tim. V, 1, 68.
45. But let the riifßan Boreas once enrage
The gentle Thetis, and anon behold
The strong-ribbed hark through liquid mountains cid,
Bounding between the two moist elements,
Like Perseus' horse. Troil. I, 3, 38.
A fuller blast ne'er shook our battlements :
If it hath ruffianed so vpon the sea,
What ribs of oak, when mountains melt on ihem,
Can hold the mortisef Oth. II, 1, 7.
46. Auf Neapel als den Ort, von dem aus die Lustseuche
sich in Europa verbreitet haben soll, wird angespielt von
Thersites :
The vengeance on the Avhole camp! or rather the Neapoliian
bone-ache. Troil. II, 3, 20
(aber nur in den Quartos, in den Folios fehlt „Neapolitan"). Des-
gleichen in der folgenden Stelle:
Clown. Why, masters, have your instruments been in
Naples, that they speak i the nose thus? Oth. III, 1, 4.
47. Derselbe Gedanke, mit dem gleichen Bilde verdeutlicht,
findet sich an folgenden zwei Stellen:
Nestor. In the reproof of chance
Lies the true proof of men : the sea being smooth,
How many shallow bauhle boats dare sail
Vpon her patient breast, making their way
With those of nobler bulk. Troil. I, 3, 33.
Coriolanus (zur Mutter). you were used
To say extremity was the trier of spirits ;
That common chances common men could bear:
Die Hanilet-Pcriode in Sliaksperes Leben. 391
That when the sea was cahn, all hoats alike
Showed mastership in floating. Cor. IV, 1, 4.
Die letzten Verse der Stelle im Troil. scheinen eine Re-
miniscenz an ein an den Freund gerichtetes Jugend-Sonett zu
enthalten:
Biit since yonr worth wide as the ocean is,
The humble as the proudest sail doth bear,
My saucy hark inferior far to liis
On your broad main doth ivilfidly appear. Sonn. 80.
48. Thersites nennt Achilles
valiant ignorance.
Troil. III, 3, 315.
who resist
Are mocked for valiant ignorance.
sagt Cominius von denen, welche dem heranziehenden Coriolan
widerstehen. Cor. IV, 6, 104.
49. ^.Fragment'''' als Schimpfwort gebraucht Achilles zu
Thersites (V, 1, 9) und Coriolan zu den Plebejern (I, 1, 226).
49 a. ^^Major^'' in der Bedeutung ^.gröfser^' hat Shakspere
nur zweimal: Troil. V, 1, 49 und Cor. II, 1, 64.
50. Thersites nennt die Kämpfenden Menelaus und Paris
the ciickold and the cuckold-maker.
Troil. V, 7, 9.
Dieselbe Wortverbindung findet sich in H. VIII. V, 4, 25:
He or she, cuckold or cuckold-maker.
51. Plötzlich aufsteigende Wünsche werden mit den mit-
unter seltsamen Gelüsten Kranker oder schwangerer Frauen
verglichen :
Achilles. 1 have a woman's lo?iging,
An appetite that I am sick withal,
To see great Hector in his weeds of peace.
Troil. III, 3, 237.
Camiilo. I shall review Sicilia, for whose sight
I have a womans longing,
Wint. IV, 4, 681.
52. Ahnliche Ausdrücke: Achilles spricht von seinem
half'Supped sword, Troil. V, 8, 19,
392 Die Hiimlet-Periode in Shaksperes Leben.
Clown. The men are not yet cold iinder water, nor tlie
bear lialf-dined on the gentleman: he's at it now.
Wint. III, 3, 10"8.
- Nach den principiellen Erörterungen der Einleitung und auf
])ag. 374 f. darf es nicht wunder nehmen, wenn wir in diesem
später gearbeiteten Teile auch einige Anklänge an frühere Dich-
tunsfen finden.
52 a. Wie Thersites den Menelaus (V, 1, 68), so vergleicht
Mercutio den Romeo mit einem „herring without his roe" (II,
4. 39).
53. Die Verse
the hoiinded luaters
Should lift iheir hosoms higher than the shores
And make a sop of all this solid globe. Troil. I, 3, 111
erinnern unzweifelhaft an das 64, Sonett:
When I have seeii the hungry ocean gain
Ädvantage on the kingdom of the shore . . .
Derselbe Gedanke kehrt wieder in den Worten des Königs
Heinrich IV.:
O God! that one might read the book of fate,
And see the revolution of the times
Make mountains level, and the confment,
Weary of solid firmness, melt itself
Into the seal 2 IL IV. III, 1, 47.
54. Thersites zu Ajax :
The plague of Greece upon thee, thou mongrel beef-witted
lord. Troil. II, l', 14.
Sir Andrew. ... I am a great eater of heef and I believe
that does härm to my ivit. Tic. I, 3, 90.
Bei diesen beiden Parallelstellen darf nicht unbeachtet blei-
ben, dafs 2 H. /F., Sonn. 64, Tio. jedenfalls in die letzten Neun-
ziger gehören, dafs mithin der Übergang dieser Gedanken in
das 17. Jahrhundert nichts Befremdendes hat.
Halten wir diese Stellen (zu denen noch 78 zu vergleichen
ist), von denen nur die eine (53) eine wirkliche Bedeutung hat,
zusammen mit den vorher angeführten, besonders mit 40, 41,
43, 45, 47, 48, die in der That merkwürdige Gedankenüberein-
stimmungen aufweisen : erinnern wir uns an die zahlreichen
Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben. 393
Parallelen, welche die Liehesgeschichte mit den jugeiidlichen
Dichtungen hatte,* während diese für den Dichter der Lager-
gescltichte offenbar in Vergessenheit geraten sind; erwägen wir,
dafs die Anspielunge?!. auf Troil. in den Stücken des 16. und
denen des 17. Jahrhunderts irenau der Beschaffenheit der Pa-
rallelstellen entsprechen (s. pag. 375 — 377): so können wir nicht
zweifeln,
dafs die Liebesgescliiclite in den Beginn der zwei-
ten Dichtungsperiode (1594 bis 1596), die Lager-
geschichte in den Beginn des 17. Jahrhunderts
gehört.**
i) Nicht zum Beweise, sondern zur ferneren Stütze des er-
brachten Beweises möo;en noch folgende Punkte ano;eführt
werden :
Wenn Shakspere selbst traurige Erfahrungen in Bezug auf
die Beständigkeit des weiblichen Geschlechtes oremacht hat;
wenn er ein Drama schreibt, und nur eines, das die Darstel-
lung weiblichen Wankelmutes zum Gegenstande hat; so ist es,
auch wenn die zahlreichen Anklänge des Troil. an die Liebes-
Sonette nicht vorhanden wären, selbstverständlich, dafs seine
persönliclien Erfahrungen für die Wahl dieses Stoffes
mitbestimmend gewesen sind. Seine Erfahrungen fallen aber,
wie bemerkt, ins Jahr 1592, vielleicht etwas später. W^enn er
sie objektivierte und dramatisch gestaltete, so konnte er das
nicht thun zu der Zeit, wo er unter ihrem Drucke lebte, und
wird es schwerlich gethan haben ein Jahrzehnt später, als sie
längst verschmerzt und vergessen waren. — Der Bruch mit
dem Freunde erfolgte, nicht weil Shakspere wufste, sondern
weil er argicöhnte, dafs jener ihn mit seiner Geliebten verraten
habe {Sonn. 144). Die an den Freund gerichteten Versöhnimgs-
Sonette (109—112, 117—120) zeigen deutlich, dafs sein Arg-
* In dieser Hinsicht steht Troil. unter den späteren Dichtungen geradezu
einzig da. Kein Drama aus der zweiten Hälfte der Neunziger hat eine ähn-
liche Menge von Anklängen an die Jugenddichtungen erhalten. Dafs Hie
Liebesgeschichte also erst, im 17. Jahrhundert verfafst sein sollte, daran ist
nicht zu denken. Sie gehört in die Mitte zwischen die erste und zweite
Periode.
** Später anzuführende Parallelen mit Dichtungen, deren Datum noch
zu bestimmen ist, werden diese Behauptung erhärten.
;94
Die Hamlet- Periode in Sbak^peres Leben.
wohn unberechtiot o-ewesen ist. Kb Ist nicht unwahrscheinlich,
dafs die AbAissung des Troil. vor diese Erkenntnis fallt, die
er etwa im Jahre 1595 (s. Sh. -Jahrb. XIX, pag. 260) gemacht
haben mufs.
k) Die Gestaltung gleiclier oder äluiliclier Charaktere
bietet immerhin einen, wenn auch nicht sicheren Anhaltepunkt
für die annähernde Gleichzeitigkeit zweier Dichtungen. Fleay
macht daher mit Recht auf die grofse Ähnlichkeit der Fissuren
des Pandarus im Troil. und der Amme im Rom. aufmerksam,
dessen zweite Bearbeitung etwa um die ^Nlitte der Neunzio;er
erfolgt sein mufs. Diese Ähnlichkeit ist um so beachtenswerter,
als Rom. gerade dasjenige Drama ist, mit dem die Liebes-
gescliichte von Troil. hinsichtlich der Parallelstellen am meisten
zusammenh'änot.
1) Nicht für das Abfassungsjahr, aber für eine frühere Ab-
fassungszeit beweisend ist die Art der Darstellung der Liebe
im Troll. Das Charakteristische der Liebesverhältnisse der
frühesten und der mittleren Dramen, selbst des glühend leiden-
schaftlichen im Rom., ist die bis zur Unwahrheit glänzende, bis
zur Spitzfindigkeit feine Art der im Dialog zur Geltung ge-
brachten Liebesdialektik. Um Liebe zu erringen, dazu orehört
in diesen Dramen mehr als in den spätesten, mehr als tiefe,
wahre Neiguno;: nämlich Kenntnis der italienischen Liebes-
theorien, Gewandtheit im Gebrauch des euphuistischen Mode-
tones (Antithese, Konzept, Wortspiel), Witz besonders nach der
obscönen Seite hin. Shakspere scheint sich in dieser Zeit sei-
nes Lebens einen witzlosen Liebhaber nicht vorstellen zu kön-
nen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Liebespaare des
16. wesentlich von denen des 17. Jahrhunderts: die Valentine-
Silvia, Biron-Rosallne, Benedick - Beatrice, Orlando- Rosalind,
Olivia-Viola, Petruchio-Katharina, Portla-Bassanio (I, 2; V, 1),
Romeo-Juliet, Hamlet-Ophelia (s. Schauspielscene), Henry V.-
Katharine von den Posthumus - Imogen, Othello- Desdemona,
Antony-Cleopatra, Florizel-Perdita, Ferdinand-Miranda. Und
es ist keine Frage, dafs das Verhältnis von Troilus und Cres-
sida auf der ersteren Seite und dem von Romeo und Juliet
am nächsten steht.
Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben. 395
2. As you like if.
Nach Capell wurde es verf'al'st 1(^05
„ Chalmers 1602
„ Delius c. 1000
„ Drake, Fleay 1600
„ Skottowe, Malone, Stokes, Dowden . 1599
„ Gervinus 1598—1600
„ Ulrici nach 1598
„ Neils Hypothese* vor 1592
(Differenz 13 Jahre.)
a) Zuerst erwähnt wird das Drama in einem Eintrage in
die Register der Buchhändler- Gilde, 4. August 1600.
Es eolhe gedruckt werden, erschien aber nicht (wie Troil.); es
wurde zum erstenmal in der Fol. 1623 o-edruckt. Im Jahre
1600 existierte also das Drama. Dafs es auch kurz vorher ver-
fafst sei, ist ein vielfach gezogener, aber vager Schlufs, der
vor der Thatsache, dafs die Dramen Shaksperes für gewöhnlich
erst gedruckt wurden, wenn sie eine o-ewisse Beliebtheit erlangt
hatten, also schon eine Zeit lang aufgeführt worden waren, ganz
hinfällig wird.
b) Das Drama ist von Meres nicht erwähnt; deshalb
soll es erst nach seiner „Palladis Tamia" 1598 entstanden sein
— eine ebenfalls haltlose Folgeruno:, die auf der unberechtigten
Voraussetzung beruht, dafs Meres, als er die bekannte Lobprei-
sung Shaksperes niederschrieb, eine — seiner Zeit sonst ganz
fremde und für seinen speciellen Zweck irrelevante — Verpflich-
tung zu wissenschaftlicher Genauigkeit, zu litterarhistorischer
Vollständigkeit empfunden habe. Er nannte natürlich nur die-
jenigen Dramen, welche ihm besonders gefielen und — die er
kannte. 1, 2, 3 H. VI., Shrew scheint er entweder nicht ge-
kannt oder nicht hochgestellt zu haben; denn er nennt auch sie
nicht.
c) Das Stück enthält ein Citat aus 3IarloweS Hero and
Leander in den Versen:
Dead shepherd, now I find thy saw of raight,
„ TFAo ever loved, that loved not at first sight?'^
(III, 5, 82.)
* Der auch von Elze eine gewisse Berechtigung zugestanden wird.
39(5
Dil' Hamlet-Periode in Sbakspires Leben.
Da nun das Gedicht erst 1598, fünf Jahre nach dem Tode
des Verfassers, veröffentlicht wurde, so soll das Drama auch
erst nach 1598 entstanden sein. — Das jianze Drama? — doch
wohl nur diese Stelle I Wer kann denn auch nur ahnen, wie-
viel Zusätze, wieviel Verbesserungen Shakspere im Laufe der
Zeit in seinen Bühnen-]\Ianuskripten angebracht haben wird! —
Aber selbst die Abfassungszeit dieser Stelle (nach 1598) ist
nicht verbürgt. Der Vers steht in der ersten „Sestiad", also
in demjenigen Teile des Gedichtes, der von Marioice (f 16. Juni
1593) selbst und nicht von seinem Fortsetzer Chapman gedich-
tet ist. Shakspere konnte aber Marlowes Manuskript ebenso
wohl gekannt haben, wie Marlowe Shaksperes Prokreations-
Sonette und Ven. vor ihrer VeröfFentlichunfj 2;ekannt und für
seine ,.Hero'-'' ausgiebig benutzt hat (Sh.-Jahrb,XIX, pag. 248 ff.).
Das ist soiT^ar sehr wahrscheinlich; denn im 78. Sonette beklagt
er sich, dafs seine Gedichte an den Freund von anderen nach-
geahmt werden; und es ist doch niemand aufser Marlowe be-
kannt, der sich an diesem Eigentume Shaksperes vergriffen
hätte.* — Die Einführung des Citates aber — ..Dead shep-
herd" etc. — scheint den skandaUisen Tod des berühmten Dich-
ters als noch frisch in aller Gedächtnis vorauszusetzen. Die
Stelle kann daher sehr wohl aus den Jahren 1594 5 herrühren.
d) Die Stelle (IV, 1, 154):
I will weep for nothing like Diana in tlie fountain
soll auf ein Londoner Brunnenbild anspielen, das Stowe in sei-
nem ..Survey of London" 1598 erwähnt und das in demselben
Jahre (Delius giebt 1596) in Cheapside errichtet worden sein
soll. Indessen ist die Anspielung nicht ganz sicher: Stowe
spricht zwar von einem „alabaster image of Diana", setzt aber
hinzu ,.and water conveyed from the Thames, prilling from her
naked breast.^'' Sei dem wie ihm wolle; jedenfalls beweist die
Anspielung nur das Entstehen dieser Stelle nach 1598 (1596?).
Überhaupt ist es keineswegs unwahrscheinlich, dafs Shakspere,
* Die häufigen Anspielungen in Jugenddramen auf die Geschichte und
auf ein Gedicht von Hero und Leander {M'uls. V, i, WS; Gentl. /, /, 22 \
TU, 1, 119; Hom. II, 4. 44; As IV. 1. 101, 106; Ado V, 2, 30) machen
eine frühe Bekanntschaft Shakesperes mit dem (Gedichte Marlowes fast zur
Gewifaheit.
Die Hamlet-Periode In Sliaksperes Leben. 397
als das Stück gedruckt werden sollte, mancherlei Veränderun-
gen daran vorgenommen haben wird, falls er es schon früher
verfafst hatte.
e) Die Anspielung auf Gargantua und Pantagruel
(II, 2, 238), von dem 1594 eine Übersetzung in die Buchhändler-
Register eingetrao-en wurde, ist für das Aher von As nicht be-
weisend, da schon 1575 eine Übersetzung erschienen war und
nicht die geringste Veranlassung vorliegt, an Shaksperes fran-
zösischer Sprachkenntnis zu zweifeln.*
f) Es scheint kein zufälliges Zusammentreffen zu sein, dafs
Ehrenhändel und Stofsfechten gerade in den Stücken der letz-
ten neunziger Jahre eine Kolle spielen. Im Jahre 1595
erschien ein Buch mit folgendem Titel: „Vincentio Saviolo
hia Practice. In two Booke?. The first intreating of the use
of the Rapier and Dagger. The second of Houor and lion-
orable Quarrels."
Aus dem vierten Kapitel des zweiten Buches hat Shak-
spere in As eine ziemlich umfangreiche Entlehnung gemacht;
es handelt von der Duell-Ursache der „conditional lies", welche
folgendermafsen erklärt werden: „Conditional lies be such as
are given conditionally : as if a man should say or write these
words : If thou hast said that I have offered my Lord abuse,
thou liest; or if thou sayest so hereafter, thou shalt lie. Of
these kind of lies given in this manner often arise much con-
tention in words whereof no sure conclusion can arise."
Der Narr Touchstonc in As sagt (55):
I have had four quarreis, and like to have fought one . . . We
met, and found the qnarrel of the seventh cause . . . npon a lie seven
times removed. I did dislike the cut of a certain courtier's beard : he
sent me word, if I said his beard was not cut well, he was in the
niind it was: this is called the Retort Courteous. It I sent him word
Mgain „it was not well cut", he would send me word, he cut it to
please himself: this is called the Quip Modest. If again „it was not
well cut", he disabled my judgement: this is called the Reply Chur-
lish. If again „it was not well cut", he would answer, I spake not
true: this is called the Reproof Valiant. If again „it was not well cut",
* Vergl. H. V. llf, 4; und Dr. Cajus in Wiv. S. dazu Drale (Paris
1843) pag. 26 f., Elze pag. 433 11".
398 Die Haiulet-Perlode in Shaksperes Leben.
he would say, I lied: this is called the CoLinterclieck Quarrelsome : and
so to the Lie Circumstantial and the Lie Direct, etc.
As V, 4, 48.
Aus dem ersten Buche hat Shakspere wahrscheinlich die
in mehreren Stücken wiederkehrenden Fechterausdrücke ent-
nommen :
Ai'mado (in Bezug auf Amor). The first and second cause will not
serve mv turn; the passado he respects not, the duello he regards not;
his disgrace is to be called boy ; but his glory is to subdue men.
LL. I, 2, 183.
He fights as you sing prick-song, keeps time, distance, and pro-
portion ; rests me his minim rest, one, two, and the third in your
bosom . . . a gentlenian of the very first house, of the first and second
cause: ah, the immortal passado ! the punto reverso ! the hau
Rom. II, 4, 21.
To see thee fight, to see thee foin, to see thee traverse; to see
thee here, to see thee there; to see thee pass thy punto, thy stock,
thy reveise, thy distance, thy montant. Wiv. II, 3, 24.
Das Beispiel einer solchen albernen Herausforderung haben
wir im dritten Akte von Tw. (Sir Andrew und Viola). Und
die Herausforderung Benedicks an Claudio {Ado)^ sowie die
Feohterscene im Haml. verdanken ihr Vorhandensein wahrschein-
lich auch der Anreo^uncr dieses Buches.
Die Beziehung von As auf das Saviolosche Buch ist von
gröfserem Gewichte: die Verspottung desselben konnte nur dann
einen Sinn haben, wenn es kürzlich erschienen und lebhaft be-
nutzt und nicht schon altbekannt war.
g) Ebenso interessant und wichtig sind andere Beziehun-
gen auf im Jahre 1594 erschienene Bücher.
5(). Die Stelle, welche das siebente Lebensalter schildert
als
Sans teeth, saus eves, sans taste, sans everything.
As II, 7, 166
ist wahrscheinlich einer Stelle aus Garniers „Henriade" (1594)
nachgebildet:
Sans pieds, sans mains, sans nez, sans oreilles, sans yeux,
Meurtri de toutes parts.
Der Namen „CgZia", der in Shaksperes Quelle, der Novelle
von Lodge „Rosalynde, Euphues* Golden Legacie", nicht vor-
Die Hamlet-Periode In Shaksperes Leben. 399
kommt, Ist wohl veranlafst durcli den 1594 veröffentlichten
Sonett-Cyklus „Celia" von W. Ferci/*
h) Die Alexandriner -Probe bringt As mit Stücken der
ersten Periode zusammen ; wenn wir die mit den Jahren stei-
gende Zahl der Alexandriner verfolgen, so erhält es folgende
Stellung:
In 2 H. IV. kommt 1 Alexandriner auf 236 Blankverse
„ 2 H. VI.
»
n
55
213
55
„ R. III.
n
55
55
210
55
„ As
J?
55
55
183
55
„ Ado
M
55
55
160
55
„ Caßsar
55
55
55
140
55
„ Mereh.
55
55
55
135
55
„ 1 H. IV.
55
55
55
125
55
„ Tw.
55
55
n
76
55
„ H.V.
55
55
55
72
55
„ Cymb.
55
55
55
60
55
„ Haml.
55
15
55
53
»5
„ Meas.
55
55
55
33
55
i) Die Reim-Probe erglebt dasselbe Resultat. (Die Reime
nehmen bekanntlich mit den Jahren ab.)
* Dals Shakspere, wie Stukes will, für die Stelle
Ami tbou, thrice-croioned queen of night, survey
With thy chaste eye, from thy pale sphere above,
Thy buntress' uame that my füll Ute doth swav.
As III, 2, 2
Verse aus Cliapmans „Hymns in Cynthiam" (1591) zum Muster genommen
habe:
Nature's briglit eye-sight, and the Nigbt's fair soul,
Tbat with thy trlple forehead dost control
Earth, seas, and hell.
ist unwahrscheinlich. Die dreifache Königin Shaksperes ist die Mon'lgöttln,
die am Himmel als Selene, auf der Erde als Artemis, in der Unterwelt als
Persephone herrscht. Das „triple forehead" Chapmans bezieht sich aber
auf die dreigestaltige Darstellung der Hekate, deren drei Köpfe den Neu-
mond, den Halbmond und den Vollmond als Symbole tragen, die einerseits
als Mondgöttin die Erde und das Meer überblickt, andererseits ünterwelts-
göttin ist.
Wenn bei derartigen allgemein bekannten mythologischen Anspielungen
überhaupt, an Nachahmung gedacht werden kann, so ist es viel wahrschein-
licher, dafs Chapman eine Stelle aus dem Mids. in Gedanken gehabt bat:
And we fairies, that do run
By the ti^iple Hecate's team,
From the presence of the sun,
Following darkness like a dream. (V, 1, 391.)
400 f^ie Hamlet-Periode in Shaksperes Leben.
In Troil. (Lit^besgeschichte) kommt 1 Reimvers auf 10, 5 Blankverse
n
Gentl.
«
As
?9
John
?J
Ado
n
H.V.
?5
2 H. IV.
5?
1 H. IV.
?5
R. III.
»'
Merch.
«
Meas.
n
Haml.
n
Cymb.
n
Cses.
»?
«
55
13
55
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«
13
5?
«
«
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16
55
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19
16
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n
«
55
30
55
n
5?
»1
66
««
k) Die Double Ellding -Probe giebt dem Drama eine
spätere Abfassungszeit. Ich lasse eine umfangreichere Zusam-
menstelhmg der Verhähniszahlen folgen, um zugleich eine An-
schauunsT von der Unzuverlässio-keit dieses Beweismittels zu
geben (s. den einleitenden Artikel): 1 weiblicher Versausgang
kommt
in LL. auf 188 Verse
55
1 H. IV.
55
28
55
5?
Rom.
55
22
55
55
R. II.
55
18
55
55
Err.
55
11
55
55
2 H. VI.
55
10,5
55
5?
3 H. VI.
55
^,5
>5
55
Shrew
55
^13
55
55
Gentl.
55
8
55
55
H. V.
55
8
«•
55
2 H. IV.
55
7,5
55
55
Merch.
55
7
55
in AU's
auf
7 Verse
„ R. iir.
55
6,,
55
„ Ca^s.
55
6,0
59
,5 Tw.
55
6
55
55 As
55
^58
5,
„ Ado
55
^,6
55
„ Haml.
55
0,4
55
„ Troil.
55
5
55
„ Meas.
55
5
55
„ Oth.
55
4,3
55
„ Lear
55
4,2
55
1) Auch die Light Elldillg-Probe* gewährt nur geringe
Sicherheit ; 1 schwachbetontes P^ndwort kommt
in R. II r. auf 843 Blankverse in John auf 343 Blankverse
„ Ado „ 643 „ „ Troil. „ 337 „
„ R. IL „ 527 „ „ IH.IV. „ 324
„ As „ 462 „ „ Merch. „316 „
„ Rom. „ 352 „ „ Tw. „ 254 „
* Von der Weak Ending-Probe kann für diese Zeit nicht die Rede
sein; in allen Dramen des 16. Jahrhunderts kommen nur neun tonlose Vers-
»
ausoanjre vor.
in Haml.
auf 253 Blankverse
^ y^SQS,
„ Meas.
917
Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben. 401
in LL. auf 193 Blankverse
„ AH's „112
Nach dieser Tabelle würde As in die erste Hälfte der
Neunziger orehören.
Um die bisherigen Erörterungen zusammenzufassen, so ist
die Abfassung von As zu einer so späten Zeit wie 1599/1600
durch nichts erwiesen (s. a, b, c, d); dagegen lassen die mehr
oder weniger gewichtigen Argumente von f, g, h, i ein früheres
Datum vermuten, welches als erwiesen zu erachten ist, wenn
m) die Parallelstellen sich ebenfalls dafür aussprechen.
Zunächst durchsuchen wir die Jusjenddichtuno-en.
57. Die Verse
Therefore Heaven Nature charo^ed
That one body should he filled
With all graces wide-enlarged :
Nature presently dislilled
Helen' s cheek, but not her heart,
Cleopatra's majesty etc.
J'hus Rosalind of many parts
By heavenly synod was devised^
Of many faces, eyes, and hearts^
To Jiave the touches dearest prized.
As Iir, 2, 149
müssen geschrieben worden sein, als dem Dichter die Gedanken
eines Jugend-Sonettes* noch der Wiederholung wert erschienen:
What is your substance^ whereof are you made,
That inülions of stränge shadows on you tend ?
Since every one hath, every one, one shade,
Änd you^ but one, can every shadoiv Und,
Describe Adonis, and the counterfeit
Is poorly imitated after you;
On Helenes cheek all art of beauty set,
And you in Grecian tires are painted new . . .
And you in every blessed shape we know.
In all external grace you have some pari,
But you like none, none you, for constant heart.
Sonn. 53.
* Die Altersangaben hinsichtlich der Sonette gründen sich alle auf die
öfters angezogene Arbeit im Sh.-Jahrb. XIX, auf welche ich in Zukunft
nicht mehr verweisen werde.
Archiv f. n. Siirachen. LXXUI. 26
402 Die Hamlet-Perioile In Shakf^peres Leben.
58. thou might join her hand with his
"Whose heart within his bosom is.
As V, 4, 120.
(ilfy heart) in thy breast doth live^ as thine in me.
Sonn, 22.
(Jier heart)
He carries thence incaged in his breast.
Ven. 582.
Hence ever then mf/ heart is in thy breast.
LL. V, 2, >^'2Q.
Look, how this ring encompasseth thy finger,
Even so thy breast incloseth my poor heart.
R. III. I, 2, 205.
59. Die Zeit „travels" As III, 2, 326 und Sonn. 63.
(50. Als Orlando Kosalind zum erstenmal gesehen hat,
spricht er:
What passion hangs these weights upon my tongue?
I cannot speak to her, yet she urged Conference.
As I, 2, 269.
Ganz dieselbe Erfahriinfr macht an sich der Liebhaber des 23.
Sonetts:
So I, for fear of trust, forget to say
The perfect cereniony of luve's rite,
And in mine own love's strength seem to decay
Cercharged with bürden of mine own love's might.
und Suflblk Maro^aret oreorenüber:
Ay, beaiity^s princely majesty is such,
Confounds the tongue, and makes the senses rough.
1 H. VI. V, 3, 70.
61. Der Vera
Beauty provokes thieves sooner than gold.
As I, 3, 112
enthält den Grundo^edanken des 48. Sonetts.
62. Die Worte des Schäfers Silvius zu der ihm abgeneig-
ten Phebe
So holy and so perfect is my love,
And I in such a poverty of grace,
That I shall think it a niost plenteous crop
To glean the broken ears after the man
That the main harvest reaps : lose now and then
As scattered smile, and that I'il live upon.
As m, 5, 99
Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben. 403
erinnern an eine schwache Stunde in des Dichters eigenem
Leben, in der er das 143. Liebes- /Sone^i schrieb:
So runst ihou after that which flies from thee^
Whilst I, thy habe, chase thee afar behind;
But if thou catch thy hope^ tum hack to me,
And play the mother's part, kiss me, be kind.
63. Die flehenden Beschwörungen desselben Silviüs:
/Siceet Phebe, do not scorn me\ do not, Phebe;
Say that you love me not, but say not so
In bitterness. The common executioner,
Whose heart the accustomed sight of death makes hard,
Falls not the axe upon the humbled neck
But first begs pardon: will you sterner he
Than he that dies and lives by bloody drops ?
As III, 5, 1
hatte der jugendliche, verblendete Dichter einmal an die eigene
Geliebte gerichtet:
Wound me not with thine eye but ivith thy tongue ;
üse power with power and slay me not by art, •
Teil me thou lovest elsewhere^ but in my sight,
Dear heart, forbear to glance thine eye aside.
Be wise as thou art cruel; do not press
My tongue-tied patience with too much disdain.
Sonn. 139.
Sonn. 140.
64. Celia. the duke
Hath banished me, his dauo^hter.
Rosalind. That he hath not.
Celia. No, hath not? Rosalind lacks then the love
Which teacheth thee that thou and 1 am one.
As I, 3, 99.
Rosalind (zu Celia). . . . love him becaused do.
As I, 3, 40.
Shakspere zum Freunde:
Thou dost love her, hecause thou hiow'st I love her . . .
But here's the joy; my friend and I am one;
Sweet flattery! then she loves but me alone.
Sonn. 42.
65. -Wie Rosalinde sich über den Liebesgott beklagt:
That blind rascally boy thcd abuses every one's eyes.
As IV, 1, 218,
Genau das Verhältnis von Phebe zu Ganyined-Rosalind.
26*
4Ö4 Öie Hamlet- Perloile In Shakspcres Leben.
SO auch Shakspere selbst:
Thou blind fool, Love, what dost tliou to ndne eyes,
That they behold, and see not ichat tliey see?
Sonn. 137.
66. Für die \Vorte Rosalinds zu Celia:
be not proud: thongh all the world could see
None coidd be so abused in sight as he.
As III, 5, 79
kann man das 150. Sonett als Erläuterung benutzen:
O, from what power hast ihou this powerful niight
With insnfficiency my heart to sway ?
To make me give the lie to my triie sight,
And swear that brightness doth not grace the day?
As nimmt also dieselbe nahe Stellung zu den Eifersuchts-So-
netten ein, wie sie Iroil. zum Unterschiede von allen späteren
Dichtungen hat.
67. Den eigentümlichen Ausdruck „hack-frieiid'^ (ein Freund,
der von hinten kommt, sei es um etwas zu erlauschen, was
nicht für ihn bestimmt ist, oder als Konstabier um einen zu
verhaften, ein hinterlistiger Freund, der keiner ist) gebraucht
Shakspere zweimal: As III, 2, 167 und Err. IV, 2, 37.
68. Bosalind (zu Or\-dnäo). Pray you, no niore of this, it is like
the hoiuling of Irish wolves against the moon. As V, 2, 119.
Puck. Now tbe hungry lion roars,
And the luolf behowls the moon.
Mids. V, 1, 379.
61). Jaques sieht einen verwundeten Hirsch an den Bach
kommen, in dessen Nähe er liegt :
thus the hairy fool,
Much marked of the melancholy Jaques,
Stool on the extremest verge of the swift brook\
Augmenting it -with tears.
Duke. But what said Jaques?
r3id he not moralize this spectacle?
Lord. O, yes, into a thousand similes.
First for his weeping into the needless stream ;
„Poor deer", quooth he, „thou makest a testaraent
As worldlings do, giving thy sum of more
To that which had too mueh.''^ As II, 1, 41.
Die Situation und ihre poetische Darstelhmg ist dieselbe wie
Die Hamlet-Periode in Shakspercs Leben. 405
in Comp!., wo ein von ihrem Geliebten verlassenes Mädchen
am Flusse sitzt:
. . . a river
Upoii luhose weeping margent she was set;
Like usury, applying wet to wet,
Or monarchs hands that let not hounty fall
Where want cries out, but where excess begs all.
Compl. 39.
Für die letzten Verse bietet o FL VI. eine Parallele :
Is't meet that he (the pilot)
Should leave the hehn and like a fearful lad
With tearful eyes add luater to the sea,
And give more strength to that which hath too much ?
3 H. VI. V, 4, 8.
70. Der Ausdruck „m p^int, wie gedruckt, wie es im
Buche steht, wie es sein mufs, gehörig", findet sich an drei
Stellen :
Touchstone. We quarrel inprint^ by the book. (Vergl. 5o.)
As V, 2, 34.
Speed. All this I speak in print, for in print I found its.
GentL II, 1, 175.
Costard. I will do it, sir, m jirint. LL. III, 1, 173.
71. Dasselbe Wortspiel mit bear begegnet uns an folgenden
Stell
en
Celia. I pray you, bear with me\ I cannot go no further.
Touchstone. For my part, I had rat her bear luith you than
bear you. As II, 4, 11.
Prince. üncle, your grace knows how to bear with him.
York. You mean, to bear me, not to bear with me.
E. III. III, 1, 128.
72. Das, Avie es scheint, bisher unerklärte Wort ,,thrasom-
cal-' im Sinne von „grofssprecherisch" gebraucht Shakspere
zweimal: As V, 2, 34; LL. V, 1, 14.
78. ,,Point-device'' im Sinne von „überfein, geziert" erscheint
As III, -2, 401 ; LL. V, 1, 21; Tw. II, 5, 176.
74. Die Bezeichnung der Frau als .,^tlie weaker vessel'^ findet
sich As II, 4, 6; LL. I, 1, 276; Rom. I, 1, 20; 2 H. IV. II,
4, 66.
406 Die Hamlet-Periode in Shakspcres Leben.
75. Rosalind. I pray you, what is't o'clock?
Orlando. You sliould ask me what time o'day : there's no
clock in the forest.
Rosalind. Then there is no true lover in the forest; eise
sighing every minute and groaning every hour would detect the
lazy foot of Time as well as a clock. As III, 2, 321.
Zu dieser Stelle existiert eine auffallende Parallele:
King Richard,
now hath time made me his numbering clock:
My thoiights are minutes ; and with sighs they jar
Their watches on unto roine eyes, the outward watch,
Whereto my finger, like a dial's point,
Is pointing still, in cleansing them from tears.
Now, sir, the sound that teils luhat hour it is
Are clamorous groans^ which striJce lipon my heart^
Which is the bell: so sighs and tears and groans
Shoiv minutes, times, and hours. R. IL V, 5, 51.
76. how brief the life of man
Runs his erring pilgrimage,
That the stretching of a span
Buckles in his sum of age.
As III, 2, 139.
Dasselbe Bild mit anderer Beziehung:
Troilus. . will you (Hector) with counters sum
The past proportion of his (Priam's) infinite?
And buckle in a waist most fathomless
With spans and inches so diminutive
As fears and reasons?
Troil. II, 2, 30 (Liebesgeschichte).
S. 21a. 34.
Die Zahl und die Bedeutung der Parallelismen (57, 60,
62, 63, 64, 69, 75) bringt As in so nahen geistigen Konnex
mit den Jugend-Dichtungen, wie ihn aufser Troil. keines der
später angesetzten Dramen aufzuweisen hat. As unterscheidet
sich aber von der Liebesgeschichte in Troil. dadurch, dafs die
Anzahl der Übereinstimmungen mit den Dichtungen der zweiten
Hälfte der Neunzio^er eine weit bedeutendere ist. Die zahl-
reichsten Anklänge hat es (nächst ITaml) an Ado :
77. This is the very false gallop of verses
sagt Touchstone, nachdem er zwölf Verse mit dem Reim auf
Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben. -407
„Rosalind" zusammeiigestümpert hat (As 111, 2, 119). Dasselbe
Bild wird mit Bezu«: auf die Art der Rede gebraucht:
Beatrice. What pace is this that thy tongue keeps?
Margaret. Not a false gallop. Ado III, 4, 94.
Aber vor Shakspere hatte schon Nash in seiner „Apologie for
Pierce Pennilesse" (1593) das Bild in der ersteren Beziehung
gebraucht:
I would trot a false gallop through the rast of bis ragged verses.
78. Rosalind. . . . these burs (die plötzlich erwachte Liebe zu
Orlando) are in my heart.
Celia. Hern them away!
Rosalind. T would try, if I would cri/ „//e??^" and have
him (wenn ich mit einem „hem" mein Herz erleichtern und
ihn gleichzeitig bekommen könnte). As I, 3, 19.
Leonato. If such a one (ein so schwer gekränkter Vater
wie er) will smile and stroke his beard^
Bid sorrow wag, cry ,,he7n!'^ when he should groan,
Patch grief with proverbs . . .
. . . bring hira yet to me,
And I of him will gather patience.
Ado V, 1, 16.
Achilles ruft dem Patroklus, der die griechischen Heerführer
parodiert, zu:
Now play me Nestor; hem, and stroke thy beard,
As he being drest to sorae oration.
Troil. I, 3, 165.
79. The courtier's hands are perfuraed with civet.
As III, 2, 66.
So wird unter den äufseren Anzeichen, die dafür sprechen, dafs
Benedick auf Freiersfüfsen geht, angeführt:
a*rubs himself with civet.
Ado III, 2, 50.
80. 0 knowledge ill-inhabited, worse than Jove in a thatched house !
As IIT, 3, 11
sagt Jaques mit Bezug auf eine klassische Reminiscenz Touch-
stones. Dieselbe Anspielung auf Jupiters Aufenthalt unter
Philemons Strohdach in gleicher bildlicher Verwendung enthält
die folgende Stelle:
i08 Die Hamlet-Periode in Shakspercs Leben.
Don Pedro. My visor is (meine Maske gleicht) Phüemons
voof\ lüithin the house is Jov e.
Hero. Why, then, your visor should be thatched. (Der
Fürst ist kahlköpfig.) Ado II, 1, 99.
81. Der verliebte Orlando wird ,,Signior Love^'' genannt
(As III, 2, 310), Claudio ..Monsieur Love'' {Ado II, 3, 38).
(Vergl. „Monsieur Eemorse" 1 H. IV. I, 2, 125.)
82. Die Stelle, an der Rosalind den Entschlufs fafst, den
Mann zu spielen, hat eine grofse Ähnlichkeit mit einer Stelle
in Merch.:
Were it not better . . .
That I did suit me all points like a man ?
A gallant curtle-axe upon my thigh,
A boar-spear in my band; and — in my heart
Lie there what hidden woman's fear there will —
Well have a swasliing and a martial outside^
As many other mannish cowards have
That do outface it ivith their semblanees. As II, 3, 118.
In den folgenden Versen ist die Schilderunor ausoreführter:
Portia. When lue are hoth accoutred like yoiing 7ne?i^
I'Il prove the prettier fellow of the two,
And ivear my dagger ivith a braver grace,
... and speak of frays
Like a fine hragging youth . . .
/ have within my mind
A thousand raw tricks of these hragginq Jacks^
l]liich 1 will practise. Merch. III, 4, 63.
83. Jaques. All the ivorkVs a stage,
And all the men and luomen merely player.
As ir, 7, 139.
Antonio. I hold the world but as the ivorld, Gratiano,
A stage where every man must play a part.
Merch. I, 1, 78.
(Diese Parallelstelle ergiebt die Berechtigungslosigkeit der Hy-
pothese, dafs die Stelle in As hervorgerufen sein soll durch die
Aufschrift des gegen Ende 1599 eröffneten Globe-Theaters :
„Totue inundus agit histrionem" (Stokes pag. 78) — die zu-
gleich für die späte Abfassungszeit des Dramas ein Gewicht in
die Wagschale werfen soll.)
Die Hanilet-Perioile in Shaksperes Leben. 409
8]. Die meist satirischen Auslassungen über die Lehre des
Pythagoras von der Seelenwanderung erscheinen nur in Stücken
aus dem Ende des 16. Jahrhunderts:
Rosalind. I was never so berhymed since Pythagoras' time,
that / luas an Irish rat, whicb I can bardly remember.
As III, 2, 187.
Gratiano (zu Shyloek):
Thou almost makest me waver in my faith
To hoid opinion witli Pythagoras,
That souls of animals infuse theniselves
Into the trunks of men : thy currish spirit
Governed a wolf. Merch. IV, 1, 131.
Cloiun. What is the opinion of Pythagoras concerning
Avild fowl?
Malvolio. That the soul of our grandam miglit haply inhahit
a bird.
Clown. What thinkest thou of this opinion?
Malvolio. I think nobly of the soul, and no way approve
his opinion.
Cloiim. Fare thee well. Remain thou still in darkness :
thou sbalt hold the opinion of Pythagoras ere I will allow of
thy wits, and fear to kill a woodcock, lest thou dispossess the
soul of thy grandam. Tw. IV, 2, 54.
85. Jaques (mit Bezug auf Touchstone). This is the motley-
niinded gentleman that I have so often met in the forest.
As V, 4, 41.
Clown. I wear not motley in my hrain. Tw. I, 5, 63.
86. Wortspiel mit ^Jieart, hart'"''.
Celia. He (Orlando) was furnishpd like a hunter.
Rosalind. O, ominous ! he comes to kill my heart.
As III, 2, 260.
(Olivia zu Sebastian, den Sir Toby in einen Zweikampf ver-
wickelt hat:)
He Started (aufjagen) one poor heart of mine in thee.
Tiv. IV, 1, 63.
(Antonius an der Leiche Cäsars :)
O World, thou wast the forest for this haj't;
• And this indeed, O world, the heart of thee.
Ca^s. in, 1, 208.
87. Dem ,,neiv-fallen dignity'"'' in As V, 4, 182 entspricht
ein ,^new-fallen right'^ in 1 H. IV. V, 1, 44.
410 Die Hamlet-Periode iii Shakt^peres Leben.
88. Wortspiel zwischen „cross, Münze" und „ctoss,
Kreuz":
I should bear 720 cross, if I shoukl bear you ; for I think you
have no money in your purse. As II, 4, 12.
FaJstaf. Will your lordship lend nie a thousand pound to
furnish me forth ?
Chief Justice. Not a penny, not a penny; you are too im-
patient to bear crosses. 2 //. IV. I, 2, 253,
Ähnlich:
Ärmado. 1 love not to be crossed.
Moth. He speaks the mere contrary; crosses love not him.
LL. I, 2, 36.
89. Jaques. I must have liberty
Withal, as large a charter as the wind^
To blow on whom I please. As II, 7, 48.
when he speaks,
The air, a chartered libertine, is still,
And the mute wonder lurketh in men's ears.
H. V. I, 1, 48.
90. Sweet are the uses of adversity,
Which, like the toad, ugly and venomous,
Wears yet a precious jewel in his heart. As II, 1, 12.
There is some soid of goodness in things evil.
H. V. IV, 1, 4.
O benefit of ill ! now I find true
That better is by evil still made better. Sonn. 119.
91. From the east to western Ind,
No jewel is like Rosalind. As III, 2, 93.
In materialistischer Weise verwendet Falstaff das Bild:
They (Mrs. Page und Mrs. Ford) shall be my East and West
Indies, and I will trade to them both. Wiv. I, 3, 78.
92. Gleicher Ausdruck:
It is meat and drink to me to see a clown. As V, 1, 11.
Slender. That's meat and drink to me (to see the bear loose).
Wiv. I, 1, 306.
Von den Sonetten aus dieser Zeit weisen die Versöhnungs-
Sonette (109 — 112; 117 — -120) eine Reihe von Anklängen auf.
93. ,^Motley'' wird in der Bedeutung ,,Narr" gebraucht
As III, 3, 79 und Sonn. 110.
94. I will physic your rankness
Die liamlet-Periode in Shakspcies Leben. ' 411
ruft Oliver seineai Bruder Orlando nach (As I, 1, 91); ähnlich
ist die Wendung des 118. Sonettes:
a healthful State
Which, rank of goodness^ would by ill be cured,
95. Rosalind (von Orlando). He seeras to have the quotidian of
love on him. As III, 2, 383.
Bald darauf:
Love is merely a madness. 420.
Skakspere selbst nennt seine Liebe
this madding fever. Sonn. 119.
96. Thou bitter sky . . .
Thy sting is not so sharp
As friend remembered not. As II, 7, 189.
Dieser Gedanke ist ausgeführt im 120. Sonett. (Vergl. auch 90.)
Diesen zum Teil auffallenden Übereinstimmungen gegen-
über sind die Parallelisraen mit den Dramen des 17. Jahrhun-
derts verschwindender Art.
97. Das Wortspiel mit „rank" in den Bedeutungen „Rang"
und „rankness" findet sich an zwei Stellen:
Touchstone. Nay, if I keep not my rank —
Rosalind. Thou losest thy old smelL
As I, 2, 113.
Cloten. Would he had been of my rank!
Lord (Aside). To have smelt like a fool.
Cymb. II, 1, 17.
98. Phebe schreibt an Ganymed-Rosalind : (wenn meine
Liebe keine Erhörung findet)
then ril study how to die. As IV, 3, 63.
Ähnliche Wendung:
he died,
As one that had been studied in his death.
Mach. I, 4, 9.
(Vergl. auch 34.)
99. Wortspiel zwischen „medlar, Mispel" und „meddler,
Kuppler, Zwischenträger" :
Touchstone. Truly, the tree yields bad fruit.
Rosalind. I'll graff it with you, and then I shall graff it
with a medlar : then it will be the earliest fruit i' the country ;
412 • Die Ilamlct-Perlodc in Sliakspcres Leben.
for vou'll be rotton ere you be half ripe, and tbat's tho right
virtue of the medlar. As III, 2, 125.
Apemantus. Tliere's a medlar for thee, eat it.
llmon. On Avhat I hate I feed not.
Apemantus. Dost hate a medlar?
Timon. Ay, though it look like thee.
Apemantus. An thou hadst hated meddlers sooner, thou
shouldst have loved thyself better now. Tim. IV, 3, 305.
100. Let US sit and merk the good housewife Fortune from her
wheel, that her gifts may be henceforth bestowed equally.
As I, 2, 34.
Cleopatra. let me rail so high,
That the false housewife Fortune break her wheel,
Provoked by niy offenee. Ant. IV, 15, 44.
Ein Drama, das um 1600 geschrieben worden wäre, müfste
bedeutend zahlreichere Übereinstimmungen mit den späteren
Dramen aufweisen, wie ein Vergleich mit H. V., Wiv., Tw.,
Cces., Meas. lehrt.
Xeils Hypothese, dafs sich Greene in seinem Vorwurf
des Plairiats (Ende 1592) u. a. auf den ensen Anschlufs dieses
Dramas an seine Quelle (Lodge) beziehe, dafs As vor 1592
verfafst und später überarbeitet sei, hat nichts Ungereimtes.
Die Hinneisuno; zu den Juoend-DichtunjTen ist aufserordentlich
stark; und in den Scenen, in welchen der Herzog und Jaques
die Hauptrolle spielen (z. B. II, 1; 7: IV, 3 ; V, 4), macht
manches den Eindruck einer späteren Zuthat. Das Drama sieht
in stilistischer Hinsicht dem LL. auffallend ähnlich; einerseits
tritt die iuo-endliche Denk- und Darstelluns^sart noch entschieden
hervor, andererseits sind die Spuren einer reiferen Kraft un-
verkennbar vorhanden. Wie die Hand des Überarbeiters von
LL. keineswegs bestrebt war, die Kennzeichen der jugendlichen
Schöpfung zu verwischen, so hat auch der Verfasser von As
die Vorliebe für die jugendlichen Gedankenbahnen und Dar-
stellungsformen noch nicht von sich abgestreift. Die oben an-
geführten Uufseren und auch die inneren Indizien, vorzugsweise
aber die Parallelstellen
verweisen das Drama hinter das Jahr 1594, in die
3Iitte zwischen die erste und zweite Dichtungs-
JDie Ilamlet-Peiiüde iii Sbaksperes Leben. 4l3
Periode, resp. in den Beginn der zweiten, d. h. in
die Jahre 1595 oder 159G.
n) Mit dieseiu Datum^ in Übereinstimmung sind auch ge-
wisse Ähnlichkeiten der Charakterzeichhunu, die »ich zwischen
As und anderen etwa (jleichzeitisen Dramen finden.
Kosalind hat in der ausgiebigen Entfahung ihres Witzes,
besonders auf dem Gebiete verliebter Neckerei, offenbare Ver-
wandtschaft mit Rosaline — ob die Ähnlichkeit des Namens
nicht auch eine symbolische Bedeutung hat? — und Beatrice.
In ihrem eigentlichen Wesen aber, in dem tiefen Gemüt, das
sich unter ihrer heiteren Aufsenseite verbirgt, in der Unmittel-
barkeit und Stärke ihres Gefühls, in der Besonnenheit, mit der
sie ihre Leidenschaft dennoch zu beherrschen versteht, in der
Energie und dem praktischen Sinn, die sie in bedenklichen
Lebenslagen bewährt, steht sie dem höchsten Bilde des Weibes,
das Shakspere und die Poesie überhaupt zu schaffen ver-
mocht hat, näher. Ich möchte Rosalind die Knospe zu der
Blüte Portia nennen. (Vergl. 82.)
o) Wie die Übereinstimmungen mit den Eifersuchts-Sonet-
ten (62 — 60) zeigen, hat Shakspere in dem Liebesverhältnis
zwischen Sihins und Phebe ein schattenhaftes Abbild seines
eio-enen o;ezeichnet. Nicht blofs die Gesinnun«: Phebes ihrem
Liebhaber gegenüber, sondern selbst ihr Aufj>eres ist dasselbe
wie das in den Sonetten 127 und 132 geschilderte der ,.dark
lady': sie hat „inky brows", „black silk hair", „bügle eye-
balls" (III, 5, 46). Was indessen in der Liebesgeechichte von
Troil. Hauptgegenstand der Darstellung ist, tritt hier als Episode
auf. Und dafs jede pathologische Nachwirkung der eigenen
Erfahrungen auf den Dichter verschwunden ist, dafs er ihnen
so oleichmütio- wie einer historischen Thatsache iJ^esrenübersteht,
scheinen die Worte uns zu sagen, mit denen Rosalind Silvius
die Thorheit seiner Liebe begreiflich macht :
You foolish shepherd, wherefore de vou follow her,
Like foggy south puffing with wind and rain ?
You are a thousand times a properer man
Than she a woman :
'Tis not her glass, but you, thal flauer her.
III, 5, 49.
414 Die Hamlet-Periode in Shaksperes Leben.
p) Auf die Ähnlichkeit der Figur des „melancholischen"
Jaques mit Hamlet ist wiederholt hingewiesen worden: mit
seiner düsteren Lebensanschauung, seiner Neigung zu philo-
sophischer Betrachtung der Dinge scheint er eine Vorstudie zu
Hamlet zu sein.
Diese Erwägungen sprechen ebenfalls für eine Stellung des
Stückes zwischen Troil. (Liebesgeschichte) einerseits und Merch.
und Hand, andererseits.
Sitzungen der Berliner Gesellschaft
für das Studium der neueren Sprachen.
Sitzung vom 9. September 1884.
Der Vorsitzende gedenkt in warmen Worten des verstorbenen Pro-
fessors Dr. Püschel, zu dessen Ehren sich die Versammlung von den
Sitzen erhebt.
Herr Schmidt bespricht seinen Plan einer englischen Synonymik.
Er beabsichtigt in dem Buche, das etwa den doppelten Umfang des Dreser-
schen haben soll, die Synonyma in gröfseren Gruppen zu besprechen,
als dies gewöhnlich geschieht, und zwar in alphabetischer Reihenfolge
der deutschen Ausdrücke. Nicht sollen die sogenannten Stümper-
synonyma, wohl aber die bei Dreser fehlenden Concreta berücksichtigt
werden. Die Etymologie der Wörter wird nur da gegeben werden,
wo sie den jetzigen Sprachgebrauch zu präcisieren dienlich ist.
Herr Z u p i t z a bespricht die Etymologie von loose, dessen me.
Formen mit ou und au, sowie das stimmlose s des Ne. nur durch
die Annahme, dafs es dem Skandinavischen (laus) entlehnt ist, sich
erklären.
Derselbe spricht über einen Gebrauch des Konditionalis im Eng-
lischen, den man als den eines Futurum Praäteriti bezeichnen kann und
der sich auch im Französischen findet.
Sitzung vom 14. Oktober 188 4.
Herr Vatke hält einen Vortrag über Geld und Geldverhältnisse
in Shakespeares England.
Herr Biltz spricht über das Wort und den Begriff „Posse".
Er leitet das Wort her von den an den Brunnen angebrachten komischen
Figuren. In der Bedeutung „Komödie" braucht es Gottsched zuerst,
dem die Posse schon als eine gemeine Art des Dramas gilt. Wir
pflegen als ihre Kennzeichen anzusehen, dafs sie in Übertreibungen
verfällt und an das Gemeine rührt. Sie führt uns Personen vor, die
41 G Sitzun<i('n iler Berliner Gesellschaft
o
sich in übler Lage befinden, die jedoch nicht so schlimm ist, dafs wir
sie bemitleideten. AVenn Goethe meint, der Hnmor sei das Zeichen
sinkender Epochen, so giebt uns das für unsere Zeit zu denken.
Herr Bourgeois redet eingehend über Charles Nodier, indem er
besonders die Jugendjahre desselben bis zu seinem ersten öffentlichen
Auftreten behandelt.
Sitzuns^ vom 2 8. Oktober 188 4.
Herr Ziipitza redet über die Etymologie von ne. merry. Der
Umstand, dafs nach dem Ae. *murgja oder * murgi als Stamm an-
zusetzen ist, liifst die ziemlich allgemein an":enommene Entlehnung- aus
celtischem mear falsch erscheinen. Die Verschiedenheit der Bedeutung
hindert nicht, es mit got. gamaurgjan, ovrt^uveiv, y.oloßovv und ahd.
murg, kurz, zusammenzustellen. Es ist 1) kurz, 2) kurzweilig, 3) er-
iVeulich, lustig. Ein ähnlicher Übergang der Bedeutung findet sich, in
tin. skemtan von skammr; auch braucht Shakespeare abridgment in der
Bedeutung „Kurzweil".
Herr Michaelis bespricht die auf die Aussprache bezüglichen
Stellen in Otfrid ad Lintbertum, indem er sie vom lautphysiologischen
Standpunkte aus betrachtet.
Herr Hausknecht zeigt die neueste von John Koch besorgte
Auflage der englischen Grammatik von Fölsing an, die besonders in
der jetzt auf die Lautphysiologie basierten Aussprache geändert ist,
oline dafs jedoch das System genau durchdacht und für den Schul-
gebrauch geschickt dargestellt wäre. Die Aussprachebezeichnung ist
in vielen Fällen irreleitend und in einzelnen sogar geradezu unrichtig
oder wenigstens nicht mustergültig. Im Anschlui's daran erklärt Herr
Zupitza, dafs er, wie Herr Dr. Koch in der Vorrede erwähnt, aller-
dings das Manuskript gesehen, aber einmal nicht die erforderliche Zeit
gehabt hatte, um jede Einzelheit zu erwägen, und andererseits es natür-
lich Herrn Koch überlassen mufste, wie weit dieser Ausstellungen als
berechtigt anerkennen wollte, so dafs er nicht in der Lage sei, irgend
welche Verantwortung für irgend etwas in dem Buche zu übernehmen.
Sitzung vom 11. Ncvember 188 4.
Herr Bisch off berichtet über den neuesten Band der altfranzö-
sischen Bibliothek von W. Förster, der die Orthographia Gallica, den
ältesten Traktat über französische Aussprache und Orthographie, ent-
hält. Die Ausgabe ist nach jeder Richtung hin lobenswert.
Herr Vatke kündigt sein demnächst erscheinendes Buch über
Realien der Zeit Shakespeares an und geht des näheren auf die von
ihm benutzten Quellen ein.
Herr Wetzel bespricht die französischen Elementarbücher von
für das Studium der neueren Sprachen. 417
Brevmann. In dem bisher erschienenen ersten Teile der Giammatik
sind mit wenigen Ausnahmen nur die Hauptregeln gegeben. Das
ÜbunGfsbnch brinoft nach dem Grundsatze, dafs die Lektüre in den
Mittelpunkt des Unterrichts zu stellen ist, sehr früh zusammenhängende
französische Stücke, die jedoch nur zu häufig erkennen lassen, dafs sie
lediglich für die Einübung einer grammatischen Regel bestimmt sind
(z. B. les metaux). Unter den Vokabeln finden sich sehr viele seltene
und schwierige, die aus dem ersten Jahreskursus fernzuhalten sind.
Neu war dem Ref. die Ableitung des Imperatif aus der 1. Pers. Sing,
des Present.
Herr Tob 1er spricht über eine Attraktion im Altfranzösischen,
für die Mätzner nur Beispiele giebt, die als Anakoluth anzusehen sind.
Das Substantiv wird dabei durch das Relativum nicht nur so beeinflufst,
dafs statt des Nominativs der Accusativ steht, sondern auch umgekehrt.
Dieselbe Art der Attraktion findet sich auch im Italienischen und Spa-
nischen, ohne indes von den Grammatikern erwähnt zu werden.
Herr Werner bespricht En AUemagne von Narjoun, ein ober-
flächliches Werk, das nur zu dem Zwecke, Deutschland zu tadeln, ge-
schrieben zu sein scheint.
Sitzung vom 2 5. November 188 5.
Herr Hoffory berichtet über den fünften Band von Müllenhoffs
Altertumskunde. Der erste Teil beschäftigt sich zunächst mit der
Voluspa, die nach einer kritischen Übersicht über Inhalt, Alter und
Entstehuno- derselben als das wohlgegliederte Werk eines Dichters dar-
gestellt und dem Ende des achten Jahrhunderts zuerteilt wird. Mit
vernichtender, zuweilen fast zu schroffer, im ganzen aber wohlverdienter
Kritik weiat der Verfasser die Ansichten Bangs und Bugges zurück.
Es folgt eine kritische Ausgabe der Voluspa mit eingehendem kritischem
Apparat und Kommentar, die durch Entfernung der späteren Inter-
polationen die planvolle Einheit des Gedichtes herstellt. Daran schliefst
sich eine kritische Untersuchung über die jüngere Edda, in der nach-
gewiesen wird, dafs sich das Original des Codex Upsaliensis in der
zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Besitz eines Neffen des Snorri
Sturluson befunden haben mufs, also Snorris Handexemplar gewesen
sein wird, in dem jedoch die ursprüngliche Reihenfolge zerstört ist.
Der zweite Teil handelt zuerst von der älteren Edda, die der Verfasser
als eine üra 1250 abgeschlossene Vereinigung verschiedener Lieder-
bücher ansieht. Den Schlufs bildet eine Analyse der Havamäl mit
Unterscheidung der einzelnen Teile dieses Liederbuches, das dem Ende
des neunten Jahrhunderts zugewiesen wird. Als Probe giebt der Redner
aus dem Werke, das einen Wendepunkt für die Geschichte der nor-
dischen Philologie bezeichnet, einen Überblick über die Voluspa.
Herr Zupitza giebt Proben aus einer von ihm in Oxford ein-
Aichiv f. n. Ppvadien. LXXlIf. 27
418 Sitzungen der Berliner Gesellschaft
(Tesehenen englischen Liederhandschrift, die bei der Düiftigkeif der uns
aus dem Mittelenglischen erhaltenen Lyrik, speciell der Liebeslyrik,
höchst wichtig erscheint. Der Redner wird die Handschrift, die dem
Anfange des 16. Jahrhunderts angehört, später vollständig herausgeben.
Herr Förster spricht über den zweiten Teil der englisch-spa-
nischen Grammatik von Knapp, die sprachlich lehrreiche und mit Ge-
schmack ausgewählte Stücke bietet. Dagegen ist die im Vokabularium,
in Vorrede und Anhang behandelte Etymologie ein wunder Punkt des
Buches.
Derselbe bespricht die zweite Auflage der spanischen Grammatik
von Schilling, deren Verfasser gegen die von dem Referenten an der
ersten Auflage geübte Kritik brieflich opponiert, aber seine Ausstel-
lunofen unberücksichtigt orelassen hat.
Der Vorsitzende bringt unter allgemeiner Zustimmung der Ver-
sammlung eine würdige Begehung des hundertjährigen Geburtstages
Jakob Grimms von selten des Vereins in Anregung.
Sitzung vom 9. Dezember 188 4.
Herr Risop redet über die Bedeutung des Namens Florimont,
der nicht ursprünglich, sondern eine Übersetzung von Helenios ist.
Die Pflanze tltviov (Inula) w^ird mit Helena in Verbindung gebracht,
für die dann durch Verwechselung Helenus eingetreten ist. Den ganzen
Namen versteht der Dichter als flos mundi, doch hat man den letzten
Teil auch auf mons oder das Adjektivum mundus be/.ogen. Die ur-
sprüngliche Form des Namens der Geliebten Florimonts wird aus ihrer
eigenen Deutung desselben als Romadanaple erkannt.
Herr Tanger spricht im Anschlufs an einen von ihm im vorigen
Jahre gehaltenen Vortrag über Weihnachtsbräuche in England, indem
er auf die an den drei Plaupttagen der festlichen Zeit, dem Christmas
Day, dem New Year's Day und dem Twelfth Day, stattfindenden Be-
lustijjunsfen des näheren einofeht.
Herr Bourgeois giebt eine causerie nach Charles Nodier über
Jean Franf;ois les Basbleus.
Die Grimm-Feier wird auf den 13. Januar 1885 festgesetzt und
die Anordnuno-en dazu einem Komitee übertrao^en.
Sitzung vom 13. Januar 188 5.
Die erste Sitzunor im neuen Jahre war einer sehr zahlreich be-
suchten nachträglichen Feier zum Andenken an den hundertjährigen
Geburtstag Jakob Grimms gewidmet, welche in den Sälen des Hotel
Imperial Unter den Linden festlich begangen ward.
Nachdem die Festgenossen vor der mit Lorbeer bekränzten Büste
des Gefeierten Platz genommen, begrüfste der Vorsitzende die Gäste
für das Studium der neueren Sprachen. 419
und deutete die hohe Bedeutung an, welche die Säkularfeier ganz be-
sonders für die Freunde der neueren Sprachwissenschaft habe.
Hierauf hielt Prof. Dr. Rödiger die eigentliche Festrede, in
welcher er Jakob Grimm als echt deutschen Philologen, als Freund der
gesamten Nation feierte und seine Verdiensie um deutsche Sprach-
forschung darleo;te.
Der Vortragende sieht in Jakob Grimms Liebe zum Volkstüm-
lichen und in dem Streben, das Wesen des deutschen Volksgeistes zu
ergründen, Quell und Ziel aller seiner Arbeiten. Goethe und die
Romantiker, namentlich Tieck, nährten seine Phantasie und führten
ihn zur vergleichenden Methode, Savigny lehrte ihn die historische Be-
trachtung. In der Poesie unterschätzt er anfänglich den ,,Kunst-
dichter" gegenüber dem volkstümlichen Epos, wirft Minne- und Meister-
sang zusammen und findet beide ermüdend und gezwungen. Er wendet
sich daher der Märchen- und Sagenforschung zu, wobei er fälschlich
für erstere deutschen und mythischen Ursprung annimmt. Dann suchte
er das Volkstümliche im Recht auf und ging endlich zur Grammatik
über, um die Sprache, als unmittelbarsten Ausdruck des Seelenlebens
eines Volkes, zu durchforschen. Daneben beschäftigte ihn die Tiersage,
welche er gleich den Märchen für urdeutsch hielt. Auch in der Mytho-
loo^ie täuschte ihn sein Vertrauen in Wert und Zähigkeit volkstümlicher
Überlieferung. Die Bearbeitung des deutschen Wörterbuches war eine
ihm von aufsen her gestellte Aufgabe, wiewohl sie nicht aufser Zu-
sammenhano; mit seinen vorangesjans-enen Studien steht. Doch drückte
ihn diese Arbeit, und er hat daneben nur noch kleinere Aufsätze und
die zur „Geschichte der deutschen Sprache" verbundenen Einzelunter-
suchuno-en zu stände bringen können. Seiner methodischen Fehler war
er sich nicht unbewufst, aber er konnte sie nicht überwinden um der
Liebe zu seinem Volke, zu dem Volke willen. Und als Freund
unserer Nation ist er auch von ihr am 4. Januar gefeiert worden.
Der Vortrag ist erschienen im Aprilheft der Westermannschen
Monatshefte.
Nach einem Schlufsworte des Vorsitzenden wurde ein sehr schätz-
barer Aufsatz über Jakob Grimm von Dr. Löschhorn unter die An-
wesenden verteilt, welcher in der Gesellschaft für deutsche Philologie
zum Vortrage gekommen war.
Nach Schlufs der Sitzung schritt man zu der im grofsen Saale
aufo-estellten Festtafel. Hier brachte Prof. Herr ig den ersten Trink-
Spruch aus auf Se. Majestät den Kaiser; Prof. Wilhelm Sehe rar
sab seiner unbegrenzten Verehrung für Jakob und Wilhelm Grimm
Ausdruck in einer zündenden Rede; Prof. Zupitza begrüfste die an-
wesenden Gäste, und weitere Reden thaten das Ihrige, die festliche
Stimmung zu erhöhen, so ein Trinkspruch auf den anwesenden Her-
mann Grimm, auf den altehrwürdigen Meister englischer und franzö-
sischer Studien, Prof. Mätzner, sowie eine launige Ansprache dieses
27*
420 Sitzungen der Berliner Gesellschaft
letzteren in klassischem Plattdeutsch, welches selbst einem Fritz Reuter
alle Ehre gemacht haben würde.
Sitzung vom 27. Januar 1885.
Herr Feller spiicht über den Realismus, den jüngeren Bruder
der Romantik, der die berechtigte Darstellun^sweise der zweiten Hälfte
unseres Jahrhunderts sei. Da das Publikum die Schriftsteller durch
seine Kritik zwinge, genau zu sein und auf der Höhe wissenschaft-
licher Forschung zu stehen, da es selber den Geschmack der Schrift-
steller mache, so dürfe es sich über zu eingehende Schilderungen nicht
beklagen. Ein richtiges Bild des Bösen wirke durch Abschreckung
stärker, als die Darstellunfj des Guten zur Nacheiferung; anreize. So
sei der Realist, der die Welt schildere, wie sie sei, ohne sich um den
Erfolg zu kümmern, wohl im stände moralisch zu wirken. (An den
Vortrag schlofs sich eine kurze Diskussion darüber, welche Bücher
französischer Realisten Damen in die Hand gegeben werden könnten.)
Herr Geiger hält einen Vortrag über den Dialog Julius II. Die
in der ersten bekannten Auscrabe von 1513 vorgedruckten Initialen
des Verfassers habe man wohl fälschlich mit Fausti Andreiini Foro-
iuliensis aufgelöst, da die Schrift keinen Zusammenhang mit seinen
anderen Weiken habe und besonders auch in viel besserem Latein ge-
schrieben sei. Dagegen könne Desiderius Erasmus, in dessen Briefen
sich zwei einander widersprechende Stellen über diesen Punkt finden,
in deren einer er den von keinem Zeitgenossen aufgeworfenen Ver-
dacht der Autorschaft ableugnet, nach Schicksalen und Anschauungen,
nach der eleganten Sprache und der Menge der eingestreuten S{)rich-
wörter sehr wohl der Verfasser gewesen sein und dieselbe etwa im
Auftrage des französischen Hofes geschrieben haben, ohne dafs man
jedoch ein bestimmtes Urteil in dieser Sache zu fällen schon berech-
tigt sei.
Herr Michaelis bespricht eine von Gomperz zuerst gelesene
Inschrift über griechische Tachygra[)hie, in der die nach der Klanghöhe
geordneten Vokale so zu Trägern der Konsonanten gemacht worden,
dafs an die Vokale kleine Zeichen angesetzt werden, um vierzehn Kon-
sonanten, Aspiration etc. auszudrücken. Versuche in näher liegender
Weise die Konsonanten zu Trägern der Vokale zu machen, waren
wahrscheinlich der kühnen Neuerung vorausgegangen, die wohl keinen
Erfolg gehabt hat. (Die Fortsetzung, die ähnliche Bestrebungen in
späterer Zeit behandeln soll, verspricht der Vortragende für eine der
nächsten Sitzungen.)
Sitzung vom 10. Februar 188 5.
Herr Michaelis weist in Fortsetzung seines in der letzten
Sitzung gehaltenen Vortrages zunächst darauf hin, dai's die tironischen
für das Studium der neueren Sprachen. 421
Nuten walir.scheinlicli auf griechische Vorbikkr zuriickgchcn. Von
erstei-en ausgehend und sie zu vereinfachen trachtend, erfand Joliann
von Tilbnry (1114 — 1100) ein Schriftsystem, zu dessen Zeichen ihn
wohl die tironischen Noten und die Runen führten, das aber unpraktisch
und für Schnellschrift unbrauchbar ist. An Tilbury knü[)fte Bri»ht
(1588) an, der nur die Anfangsbuchstaben der Wörter phonetisch be-
zeichnet. Das erste rein alphabetische System der englischen Kurz-
schrift stammt von Willis (1602), zu dessen Zeit der Ausdruck vSteno-
graphy wohl zuerst vorkommt. Von ihm an rechnet auch der Bischof
Jokn Wilkins, der selber ein System der Tachygraphie aufstellte. Das
von Gomperz hochgepriesene Buch der pseudonymen Lady Sophie Scott
(Wien 1831) ist völlig wertlos. So wird in England der Faden des
Altertums von ältester Zeit an bis zu Bell und Pitraan ununterbrochen
fortgesponnen.
Herr Förster spricht über Morel-Fatio, La comedia espagnole
au dix-septieme siecle, eine Vorlesung, die er bei Antritt seiner Stel-
lung als Professor der südromanischen Sprachen und Litteraturen an
Stelle P. Meyers gehalten hat. Den Inhalt bildet eine klare litteratur-
geschichtliche Skizze des Lopeschen Theaters, der comedia, d. h. des
nationalen Dramas der Spanier, mit besonderer Be2^ründun<T durch
Lopes Dramaturgie in seinem „Arte nuevo". Aber entschiedene Ein-
wendungen sind zu machen gegen den Standpunkt des Verfassers, der
mit Verkennung des echt nationalen Schauspiels der Spanier o-eo-enüber
dem konventionellen der Franzosen dem einseitigen Formalismus des
französischen Dramas den Preis zuerkennt, eine Mode, die noch viel
mehr abgethan ist als das spanische Schauspiel. Der Verfasser, der
zum Teil sich selbst Widersprechendes giebt, hat im Einzelnen recht,
nicht aber in seiner Gesamtbeurteilung.
Herr Schwan bespricht die verschiedenen in betreff der Kantilenen
und der Entstehung des französischen Epos aufgestellten Theorien. Die
Eulalia sei ebensowenig ein Volkslied wie das Ludwigslied, wohl aber
das in der Vita Pharaonis lateinisch überlieferte Lied. Der Vortrao^ende
hat eine wortgetreue Rückübersetzung ins Altfranzösische versucht, die
ihm zu ergeben scheint, dals das Lied in zehnsilbigen Versen mit einer
Cäsur nach der vierten Silbe abgefafst gewesen sei. Das Gedicht
kann nur wenige Strophen enthalten haben. Das Volkslied schwoll
dann zum Epos an, indem es aus dem Munde des Volkes zu den
Jongleurs überging.
Sitzung vom 2 4. Februar 188 5.
Herr Biltz giebt lexikalische Notizen über einige wen io- creb rauch-
liehe oder etymologisch unklare Wörter, zunächst aus Luthers Schrift
,.an den christlichen Adel deutscher Nation". Öleötz führt der Vor-
tragende mit Zurückweisung der anderen aufgestellten Etvmoloaien auf
422
Sitzunsen der Berliner Gesellschaft
die häufige Darstellung der am Ölberge schlafenden Jünger zurück,
eine Annahme, die durch die bei Stieler vorkommende Form Olberger
(homo stupidus) gestützt wird. Muderei ist nicht auf müde zurückzu-
führen, sondern in dem nhd. Meuterei erhalten und bedeutet Zänkerei.
In der ersten Auflage von Schillers Räubern steht „in aller Jast'',
ein Wort, das bei Moscherosch nur als Mask. erscheint und auf mhd.
jesen, gären, zurückgeht. Schiller hat in den späteren Auflagen dafür
o-esetzt „in aller Furie", Körner aber aus Mifsverständnis nach der
ersten Auflage „in aller Hast" gedruckt. Auch die Ausdrücke Ab-
streich und Aufstreich bei Auktionen werden erörtert.
Herr Vatke giebt eine Zusammenstellung von Zeugnissen der
Zeitgenossen Shakespeares über Schule und Unterricht.
Herr I. Schmidt teilt Proben aus seiner demnächst erschei-
nenden kürzeren Synonymik mit. Die Gi'undsätze, nach welcher die-
selbe bearbeitet ist, hat der Vortragende in einer früheren Sitzung des
Vereins besprochen.
Sitzung vom 10. März 188 5.
Herr Risop spricht über die zweite inchoative Konjugation im
Französischen. Die Anwendung des Inchoativsuffixes hat im Laufe
der Zeit allerdings immermehr um sich gegriffen, doch ist andererseits
zu beachten, dafs sich der Gebrauch desselben bei einigen Verben,
z. B. couvrir und cueillir wieder verloren hat.
Herr Rödiger bespricht G. Curtius, Zur Kritik der neuesten
Sprachforschung. Im ersten Teil wendet sich Curtius gegen den Satz,
dafs die Lautgesetze ausnahmslos seien, und hält an der Unterscheidung
von konstantem und sporadischem Lautwandel fest. Einzelne, denen
man dann nachahmte, brächten ihn hervor. So mache Curtius zur
Modesache, was innere historische Berechtigung habe und aus der
Individualität des ganzen Volkes zu erklären sei. Im zweiten Teile sagt
Curtius, Analosfiebilduno^en seien überall mög-lich, aber nirgends notwen-
dig, womit er, wie der Vortragende ausführt, selber zugestehe, dafs der
Lautwandel nach Gesetzen geschehe. Es könne ja in jedem Falle noch
ein Gesetz gefunden werden, das die Erklärung aus der Analogie un-
nötig mache. An dritter Stelle behauptet Curtius, dafs die Vielheit des
griechischen Vokalismus das Ursprüngliche sei, während andere meinen,
dafs e und o schon in der Grundsprache vorhanden gewesen seien.
Auch hält er an kurzvokaligen Stämmen und Steigerung fest, während
Neuere starke Stufe im Wurzelvokal und Kürzung annehmen. Letzteres
empfiehlt sich nach Ansicht des Vortragenden, weil unbetonte Silben
überall leicht gekürzt werden könnten und man so nie zu vokallosen
Wurzeln komme. Im vierten Kapitel stellt Curtius morphoganische
Untersuch un Ofen an. Der Redner geht hier nur auf die lateinischen
Imperative des Futurs ein, die nach Curtius augenblickliche Ausführung
\
für das Studium der neueren Sprachen. 423
heischende Komniandovvorte seien und nicht futurische Bedeutung haben
könnten, während doch gerade das Heischen auf die Zukunft weise.
In der sich anschh'efsenden Debatte führt Herr Hoffory ein Bei-
spiel aus dem Dänischen an, wo man in neuerer Zeit mit Willkür
einen Lautwandel vollzogen habe. Herr Rödiger weist dies als seine
Behauptung nicht entkräftigend zuiück, da es nicht auf einer Mode,
sondern auf Patriotismus beruhe. Herr Zupitza macht darauf auf-
merksam, dafs man die Zeit des Lautwandels sorgfältig in Betracht zu
ziehen habe, da in neuerer Zeit die Schule Willkürlichkeiten der Aus-
sprache verbreite.
Herr Zupitza spricht über die Etymologie von bad. Leo hat
es mit aengl. b;i3dling zusammengebracht, doch von dem gleichbedeu-
tenden beeddel, hermaphroditus sei es herzuleiten. Man habe die Bedeu-
tung allmählich vergessen und das Wort als Schimpfwort angewendet.
Solange es seine eigentliche Bedeutung gehabt habe, sei wenig Ge-
legenheit zu seiner Verwendung gewesen, und so erkläre es sich, dafs
es erst um 1300 gebräuchlich werde.
o
Sitzung vom 24. März 1885.
o
Herr Rossi hält einen Vorfrag über Marc Monnier, Un aventurier
Italien du siecle dernier. Das interessante Buch behandelt das Leben
des vielgewanderten, 1819 in Genf gestorbenen Grafen Gorani, der
zu fast allen hervorragenden Persönlichkeiten seiner Zeit in freundlichen
Beziehungen gestanden hat und sich in seinen meist noch ungedruckten
Schriften durch Kenntnisse, Geist und Urteil über das gewöhnliche
Niveau erhebt. Sein Bild aber hätte in dem Buche mit mehr Treue
dargestellt w^erden sollen.
Herr Förster bespricht die zweite Auf läge von Wiggers, Gram-
matik der spanischen Sprache, die im Vergleich zur ersten Auflage
nur w^enig Verbesserungen bringt, aber doch wohl die beste von den
Schulgrammatiken des Spanischen ist. Derselbe empfiehlt für Anfänger
Beckmann, Kurzgefafstes Lehrbuch der spanischen Sprache, und Fese-
mair, Spanische Bibliothek, und macht dann auf den bibliographischen
Anzeiger für romanische Sprachen und Litteraturen von Ehering auf-
merksam, den er in Bezug auf das Spanische geprüft und sehr voll-
ständig gefunden hat. Schliefslich weist er in kurzen Worten auf das
anspruchslose Werk des verstorbenen Mitgliedes der Gesellschaft Strack,
Reiseberichte aus drei Weltteilen, hin.
Herr Michaelis wendet sich gegen Gomperz, der die Vokale
in einer Kreislinie anordnet. I und u seien die Grenzpunkte, aber
auch das mittlere a nehme eine feste Stelle ein. Unter den besonderen
Kennzeichen dieses Lautes hebt der Vortragende heryor, dafs in der
Fräntzelschen Station der hiesigen Charite auf seine Veranlassung hin
von Dr. Tronseg angestellte umfassende Untersuchungen seine schon
424 Sitzungen der Berliner Gescllsohaft.
&
lange gehegte Ansicht bestätigt hätten, dafs die von den unteren Stimni-
händern gebildete Stimmritze bei a weniger eng geschlossen ist als bei
den übrigen Vokalen. Das Hallway-Chladnische Dreieck hat auch vor
den Anordnungen in einer geradlinigen Reihe grofse Vorzüge.
Sitzung vom 14. April 188 5.
Herr I. Schmidt bespricht Brinkmann, Die Syntax des Fran-
zösischen und Englischen, ein sehr urnftingreiches, zu pädagogischen
Zwecken geschriebenes Buch, welches nachzuweisen versucht, dafs die
Syntax des Englischen keinen specifisch germanischen Charakter trage,
sondern der der romanischen Sfirachen sehr nahe stehe. Es ist dabei
aufser acht gelassen, dal's die Formenlehre auf die sich von selbst ent-
wickelnde Syntax einen Einflufs ausüben mufs. Unhistorisch ist insofern
verfahren, als beim Französischen bis auf das 1 6. Jahrhundert zurück-
gegangen, während beim Englischen nur die moderne Sprache berück-
sichtigt wird. Aus dem ersten Kapitel über den Artikel werden eine
Reihe von Einzelheiten von dem Vortragenden hervoro-ehoben, nach
dessen Meinung eine solche Parallel isierung dieser beiden Sprachen
nicht statthaft sei.
Herr Zupitza spricht über die mittelenglische Vorstufe von
Shakespeares As you like it, die in mehreren Handschriften der Canter-
bury Tales überlieferte Tale of Gamelyn, welche von Skeat 1884 zu-
letzt veröffentlicht ist. Die Entstehung des Gedichtes ist um 1350 zu
setzen. Im Gegensatze zu Skeat meint der Vortragende Gamelyn
nicht als aus Gameling entstanden erklären zu sollen, sondern sieht in
der Endung das Deniinutivsuffix in. Die oft nur in der Wahl eines
Ausdruckes bestehenden Ähnlichkeiten zwischen Shakespeare und un-
serem Gedichte sind nach der Ansicht des Vortragenden zu klein und
zufällig, als dafs man meinen könnte, Shakespeare habe eine Hand-
schrift des Gedichtes gesehen; derselbe habe seine Kenntnis der Er-
zählung vielmehr lediglich aus Lodge geschöpft.
Sitzung vom 5. Mai 188 5.
Herr Friedrichs sprach über neuproven9alische Dichtung. Die
altproven^alische Poesie ging mit der Mitte des 13. Jahrhunderts zu
Grunde. Von da an finden sich wohl noch manche lyrische Produkte,
diese können aber nicht mehr wirkliche Poesie genannt werden. Diese
Ode in der proven^alischen Poesie dauerte bis in unser Jahrhundert
hinein. Neue Bahnen wurden ihr erst durch Jansemin (1825), Rou-
manille, Aubanel und vor allen durch Frederi Mistral eröffnet. Diesem
letzteren fiel der Hauptteil des Vortrages zu. Nach einem kurzen
Überblick über Mistrals Leben (geb. 1830 in Maillane an den Bouches-
du-RhöneJ wurden seine Werke eingehender besprochen. An der INIireio
für (las Studium der neuer* n Spraclsen. 425
(1859), dem Galendau (1866), an der Nerfo (1884) wurde besonders
die ästhetische Seite hervorgehoben, während bei den Isclo d'or (1876)
mehr die politische in den Vordergrund trat. Mistrals Hals gegen den
Norden Frankreichs, der sich überall in diesen Gedichten selir deutlich
ausspricht, ist eng verwachsen mit den Gefühlen der ganzen Südbevöl-
keiung Frankreichs. Die Geschichte zeigt, dafs der Süden seit seiner
Vereinigung mit dem Norden (Ende des 15. Jahrhunderts) eine feind-
liche Rolle gegen denselben gespielt hat. Diese Zornesausbrüche finden
sich in noch stärkerem Mal'se bei Mistrals dichtenden Kollegen, den
Felibres, die sogar so weit gegangen sind, zu einer Vereinigung mit
den stammesverwandten Catalanen und zu einer Trennung von Frank-
reich aufzufordern. Jedoch sind derlei Aufforderungen nicht immer
wörtlich zu nehmen, wie sich 1870 ijezeiij^t, wo der Süden dem
sonst so gehafsten Norden treu beigestanden hat. Seit 1870 ist über-
haupt diese ganze Bewegung eine ruhigere; einmal sind die Führer
älter und damit bedächtiger geworden; sie haben eingesehen, dafs
weniijstens für den Ausrenblick die Sache noch nicht reif ist ; dann
haben sie sich aber auch anderen Bestrebungen zugewendet, den wessen-
schaftlichen. In dieser Hinsicht sind Werke zu nennen wie Mistrals
Tresor dou Felibrige, Übersetzungen, historische Arbeiten u. s. w.
Herr Stadler redete über die Behandlung des Zeitwortes in der
neueren französischen Schulgrammatik, indem er die seit 1870 erschie-
nenen Abhandlungen und Grammatiken in den Kreis seiner Betrach-
tung zog und zunächst zeigte, wie verschiedene Auffassungen über den
Begriff der regelraäfsigen Verba und der Einteilung derselben in Klassen
herrschen.
Herr Zermelo teilte aus G. Brandes, Berlin som Tvsk Riks-
hovestad, das Kapitel mit, in welchem der Verfasser das Berliner Ge-
sellschaftsleben bespricht.
Beurteilungen und kurze Anzeigen.
1) Internationale Zeitschrift für allgemeine Sprachwissenschaft,
herausgegeben von F. Techmer. Band I, Heft 1. (Mit
über 80 Holzschnittfiguren und 7 lithographierten Tafeln.)
Leipzig 1884. Verlag von Joh. Arnbr. Barth.
2) Die Sprachlaute im allgemeinen und die Laute des Englischen,
Französischen und Deutschen im besonderen. Von Dr.
Moritz Trautmann, Professor an der Universität Bonn.
Erste Hälfte. Leipzig, Verlag von Gustav Fock, 1884.
Der jungen, frisch aufstrebenden Phonetik ist in Techniers Zeitschrift
ein internationales Centralorgan geschaffen worden. Hervorragende Gelehrte
des In- und Auslandes, wie Pott und Max Müller, Leskien und Whit-
ney, \\ . Scher er und H. Steinthal, zieren dasselbe durch ihre Mit-
arbeiterschaf't. Ein glänzendes Verdienst erwirbt sich die Verlagsbuchhand-
lung: wer zum erstenmale ein Heft der Internationalen Zeitschrift in die
Hand bekommt, wird freudig überrascht sein über die ganz aufserordentlich
prächtige Ausstattung des Werkes, welche die Behauptung rechtfertigt, dafs
wir auf diesem Gebiete nunmehr die Engländer überflügelt haben. Möge
der äufsere Erfolg dem N'erdienste entsprechen.
Die beiden nach Umfang und Inhalt bedeutendsten Arbeiten, welche im
ersten Hefte der Internationalen Zeitschrift veröffentlicht werden, sind die
„Einleitung in die allgemeine Sprachwissenschaff^ aus der Feder A. F.
Potts (68 Seiten umfassend) und des Herausgebers „Naturwissenschaftliche
Analyse und Synthese der hörbaren Sprache" (auf 102 Seiten). An kleinen
Irrtümern im einzelnen, wie deren die Abhandlung Potts nach des Refe-
renten Meinunof allerdlncrs etliche enthält, herumzunörgreln. würde wenig
taktvoll sein. Eine objektive Reproduktion kann aber unmöglich Zweck
dieser Anzeige sein; wer die dargebotene reiche Belehrung sich zu eigen
machen will, abonniere auf die Zeitschrift. Ich begnüge mich also damit,
die übrigen in dem Hefte enthaltenen Abhandlungen anzuführen und ge-
statte mir nur jiesren eine derselben eine Polemik, welche ich unterdrücken
würde, wenn sie nur F^inzellieiten der betreffenden Arbeit anginge, während
sie sich so gegen die Grundthese derselben richtet.
Ein zweiter Aufsatz des Herausgebers beschäftigt sich mit der Trans-
skription (mittels der lateinischen Kursivschrift) und enthält einen Vorschlag
zum möglichst einheitlichen Gebrauch in der Internationalen Zeitschrift. —
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 427
Garrick Mallery bespricht Sign language. — Die Frage: „Sind die Laut-
gesetze Naturgesetze?" beantwortet Friedrich Müller (S. 211—214) in
verneinendem Sinne, und zwar sucht er zu beweisen, dafs (Jie Lautgesetze
nicht, wie die Naturgesetze, ewig sind, sondern entstehen und vergehen.
Den Ausführungen F. Müllers liegt nach meinem Dafürhalten ein Mifs-
verständnis in betreff" des Begriffes „Gesetz" selbst zu Grunde. Gesetz nen-
nen wir den Ausdruck der Bedingungen, unter welchen eine bestimmte
Erscheinung jederzeit eintritt ; es darf, wenn es richtig sein soll, diese Be-
dingungen weder zu eng noch zu weit fassen. Je zahlreicher und genauer
die Bedingungen sind, um so mehr verliert der Satz den Charakter eines
allgemeinen Gesetzes, und zuletzt würde er zum Ausdruck des individuellen
P' alles, des Phänomens herabsinken, '\^'enn nun Müller das altslovenische
Gesetz erwähnt, dafs vor den e- und i-Lauten vorangehende Gutturale zu
Palatalen (ts u. s. w.) resp. Lingualen (ts u. s. w.) umgewandelt werden,
und dieses Gesetz in den neueren slavischen Dialekten, welche oft genug
e- und i-laute hinter Gutturalen zeigen, erloschen glaubt, so hat er über-
sehen, d«fs in dem auftiestellten Gesetze der Ausdruck „im Altslovenischen"
einen notwendigen Teil der gesetzlichen Bedingungen enthält, an welche
das Phänomen geknüpft wird. Die Lautgesetze der einzelsprachlichen Gram-
matik setzen ja jederzeit den gesamten Charakter der bestimmten Sprache,
und zwar zu einer bestimmten Zeit als gegeben voraus, und sind daher ver-
hältnismäfsig schon recht specielle Gesetze. Der Zusatz „im Altslovenischen"
giebt dem angeführten Gesetze eine Specialisierung, analog den näheren
(Zahlen- u. s, w.) Bestimmungen, welche an den Schüler gestellte Aufgaben
aus der Physik oder Mechanik zu enthalten pflegen. Hier würde, wenn man
den Lösungssatz als allgemeingültig, nicht an die bestimmten Bedingungen
geknüpft hinstellen wollte, der Lösungssatz falsch, weil zu weit, sein. Es
ist mit dem von Müller angezogenen slavischen Lautgesetz gerade so.
Dasselbe gilt eben nur im Altslavischcn, und dafür, dafs es nur hier gilt
und nicht auch in anderen Sprachen bei anscheinend gleichen phonetischen
Bedingungen, mufs die beson<lere Konstitution des Altslavischen natürlich
den Grund enthalten. Und so ist der Vergleich überall durchzuführen.
Einem ganz allgemeinen physikalischen Gesetze wie dem der Schwere liefse
sich etwa das allgemeine Lautgesetz gegenüberstellen: Jeder Sprachlaut ist
in seiner Artikulation an ein körperliches Organ geknüpft; mit den Angaben
der Chemie über die Verbindungsgewichte der Elemente lassen sich Sätze
wie folgender vergleichen: „a und u verschmelzen, wenn in einer Silbe als
äu artikuliert, dem akustischen Effekte nach zu einem neuen Laute, während
bei uä beide Komponenten getrennt hörbar bleiben." Aus dem Gesagten
ergiebt sich auch die Antwort auf folgende Frage Müllers: „Können wir
den Lautgesetzen der Sprache das Prädikat der Ewigkeit zugestehen, kön-
nen wir annehmen, dafs dieses oder jenes Lautgesetz z. B. zur Zeit Homers
ebenso gewirkt habe, wie es heutzutage wirkt? Müssen wir nicht, wenn
wir die Lautgesetze für Naturgesetze erklären, dann konsequent auch inner-
halb der Sprache jede Entwickelung leugnen? Nach dem strengen Natur-
gesetze ist z. B. k immer k und kann nie zu ts werden; letzteres wäre
eine völlige Aufhebung des Naturgesetzes." Allerdings kann k niemals zu
ts werden ohne einen bestimmten, aufserhalb der allgemeinen und notwendi-
gen Natur des k liegenden Einflufs, ganz so wie blufser Wasserstoff" nicht
Wasser ergiebt oder eine Oxydation ohne Sauerstoff" unmöglich ist. Worin
aber sollte die Nötigung liegen, jede Entwickelung zu leugnen? Ist denn
in der Natur Stillstand? herrscht in ihr nicht auch Werden und Vergehen?
Und auch in der Sprache erfafst dieses Werden und \'ergehen keineswegs
die Gesetze selbst ; dies scheint nur, wenn man den Fehler begangen hat,
ein Gesetz zu weit zu stecken. — Ein Aufsatz Max Müllers aus dem
Gebiete der vergleichenden Mythologie ist „Zephyros und Gähusha" über-
428 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
schrieben. — Lucien Adam spricht über die „oategorie du genre". —
A. H. Sayce erörtert: „The person-endings of ihe Indo-European verb." —
K. Brugniann endlich behandelt die „Frage nach den Verwandtschafts-
verhaltnissen der indogermanischen Sprachen".
So vieles bietet die Zeitschrift gleich in ihrem ersten Hefte. Fürwahr,
hier lobt das Werk den Meister. Die anderen brauchen nicht zu loben; ihr
Teil ist zu lesen, zu lernen und sich zu freuen.
Von Trautmanns Werk ist bis jetzt nur die erste Hälfte (Bogen
1 — 10) erschienen, jedoch soll die zweite bahi nachfolgen. Diese erste Hälfte
enthalt den ersten Teil: Die Sprachlaute im allgemeinen, von S. 1 — 134,
und den Anfang des zweiten: Die Laute des Englischen, Französischen und
Deutschen im besonderen (S. 135 — 160). Ich bespreche vorläuög den ersten
Teil.^
Von Trautmanns schon vor längerer Zeit angekündigten ,.Sprach-
lauten" versprach man sich recht viel nach der bedeutenden Förderung,
welche die junge Phonetik schon durch seine früheren Arbeiten empfangen
hatte. So viel aber, wie das Buch bietet, hat gewifs keiner erwartet. Nach
drei Richtungen hin verdient das Werk vor allem Lob. Zuerst: es hebt
im Gegensatze zu der englischen Phonetik das Wesen des Sprachlautes als
Klanges hervor, der erst in zweiter Linie durch eine Artikulation her-
vorgebracht wird. Sodann giebt es bei einer ganzen Reihe wichtiger laut-
physiologischer Fragen eine genaue geschichtliche Darstellung der früheren
einschlägigen Theorien und Ansichten, wobei die ausgezeichnet gerechte
sachliche Würdigung der Vorgänger anerkannt werden mufs. Drittens end-
lich belehrt uns der Verfasser durch Neues, Eigenes auf jeder Seite: in
allem hat er selbständig geforscht, die Untersuchungen der Vorgänger kon-
trolliert. Stets aber ist seine Polemik gegen diese urban.
Die Einleitung behandelt in zwei Abschnitten (S. 1 — 23) die (physika-
lische) Lehre vom Schall und den (physiologischen) Bau des Sprechorgans,
sowie das letztere in seiner Thätigkeit. In diesen Abschnitten werden statt
der bisher üblichen einige neue Termini gebraucht. So „(der) Giel" für
die Mundhöhle nebst Rachenhöhle und oberem Kehlkopfraum; mhd. hatte
giel freilich eine etwas allgemeinere Bedeutung (=i Maul, Rachen, Schlund),
allein: „es wird niemanden stören, dafs das mittelhochdeutsche Wort die
besondere ihm hier zugewiesene Bedeutung nicht hatte", bemerkt Traut-
mann sehr gut; in sohhen Verschiebungen, \ erengungen und Verallgemei-
nerungen der Bedeutung der \\ örter zeigte sich ja zu allen Zeiten das
Leben der Sprache.*) „Klapper" für „Explosiva" und „Schleifer" für „Fri-
kativa" gebrauchte Trautmann schon früher. Das mifsverständlicbe „Ac-
cent" (HaupttonJ wird durch „Treff" ersetzt. Für „Zäpfchen" heifst es auch
„Heuch". „(Der) Galm" — zu „gellen" gehörig, vergleiche auch „Nachti-
gall" — für ..Vokal" und „(der) Diefs" — mhd. diez = Schall, Geräusch —
fiir „Konsonant" werden wenigstens vorgeschlagen und in den folgenden
Überschriften in Klammern hinter die herkömmlichen Benennungen gesetzt.
Die Einbürgerung neuer, klarerer und bequemerer Ausdrücke, oder deut-
.scher für fremder, ist ja auf bestimmten wissenschaftlichen, technischen oder
Verwaltungsgebieten, wo die Zahl der Gebrauchenden eine verhältnismäfsig
kleine ist, recht wohl möglich ; das wissen wir aus der Erfahrung z. B. I>ei
der Post. Es kommt also nur noch darauf an, ob die gewählten Ausdrücke
* Kühne Sprachneuerungen finden wir auch sonst bei Trau t mann , z. B. Öfter
Konstruktionen wie:' „Die sechs letzten Systeme, und vielleicht auch Rapp seins,
sind als Versuche anzusehen" u. s. w. Warum sollten auch -solche in der besten
gesprochenen Sprache ganz üblichen Konstruktionen von der Schriftsprache ängstlich
ferngehalten werden, auch abgesehen davon, dafs gerade diese besondere Änderung
den Wohlklang erhöht?
Beurteilungen und kurze Anzelj^en. 429
sachlich zutreflen. Tn dieser Hinsicht wlifste ich gegen Trautmanns Vor-
schlage nichts einzuwenden.
Bei den Vokalen (Galmen) erklärt Trautmann kurz und präcis Wesen
und Entstehung und bespricht dann eingehend die früheren Auffassungen
über die lauten und geilüsterten Vokale. Der Verfasser widerspricht der
Lehre Helmholtzens, dafs die lauten Vokale Klänge seien, in denen einer
der harmonischen übertöne vorwöge; seiner eigenen Meinung kam von
den Vorgängern Willis trotz mehrerer Irrtümer noch am nächsten. — Das
nun folgende Trautm ann sehe „System der V.©kale" ist das in dieser
Zeitschrift schon besprochene, Band' LXX, 8. 73 ff", von Michaelis und
Band LXXI, S. 97 11". vom Referenten. (,Dafs Trautmann dem englischen
u in but trotz seiner richtigen Bestimmung dieses Lautes irrig die letzte
Stelle in der Reihe statt der zweiten — von a aus gerechnet — angewiesen
habe, hatte Referent, welchem damals Anglia Bd. IV nicht zugängli« h war,
UHch dem undeutlichen Referate von Michaelis angenommen. Traut-
mann hatte gedachte Fehler nicht begangen.) Der Rechtfertigung des
Systems reicht sich eine, wieder durch genaueste Kenntnis und unparteiische
Kiitik der betreibenden Litteratur ausgezeichnete Darstellung der „Systeme
anderer" an (S. 57 — 72). Recht schlecht kommen hierbei die Engländer
weg, und Referent freut sich, dafs seine Stellungnahme, Archiv, Bd. LXXI,
S. 69 — 70, g«^'gen das englische System von einem viel kompetenteren Ge-
lehrten geteilt wird. Die Behauptung, dafs von den deutschen Forschern
keine Rücksicht auf die Mundstellung genommen werde, wird abgewiesen;
in erster Linie aber müfsten Vokale wie Konsonanten allerdings nach ihrem
Klange bestimmt werden; die Abschätzung nach der Mundstellung sei viel
subjektiver als die Abschätzung nach der akustischen Ähnlichkeit. Um eine
willkürliche Abschätzung, nicht um eine objektive Bestimmung handelt es
sich ja bei den mehr als 70 \ okalen Beils. Mit der blofsen Angabe der
Mundstellungen ist nicht viel zu machen. So sagt Kräuter: „Wem z. B.
unser ü-Laut nicht geläufig ist, wird es nichts nutzen, wenn er die Zunge wie
bei i, die Lippen wie bei u stellen soll; er wird eben ein i hervorbringen. ~ So
kann ich mir auch nach der Beschreibuno;: u-Stellunfr der Zunge und i-Stel-
lung der Lippen keinen Begriff" von dem polnischen y machen." Für ganz
unannehmbar erkläit Trautmann die Unterscheidung von „engen" und
„weiten" Vokalen, deren Schwierigkeit, deren subjektiven und zweifelhaften
Charakter die Vertreter des Systems selbst einräumen.
Die Einteilung des über die Konsonanten (Diefse) handelnden Abschnit-
tes ist der bei den Galmen analog: Wesen und Entstehung, System, Recht-
fertigung des Systems, Systeme anderer. Die Gruppen „Klapper" und
„Schleifer" decken sich nicht mit der gewöhnliehen „Explosive" und „Fri-
kative"; denn die Traut mann sehe Unterscheidung gründet sich auf den
Klangunterschied zwischen Schlag- und Reibegeräuschen, und danach sind
1 r m n ng Klapper. Man erkennt, dafs die Scheidung nach akustischem
Princip so eine ganz durchgreifende und saubere wird. Haben sich doch
diejenigen Phonetiker, welche ausschlief>lich die Artikulation zum Eintei-
lungsprincip machten, über die Stellung, welche den genannten Lauten an-
zuweisen ist, ganz und gar nicht zu verständigen gewufst. Sievers z. B.
rechnete Licjuidä und Nasalen zu den Stimmlauten. Dagegen zählt Lep-
sius m n ng sogar zu den Explosivlauten und Traut mann sagt über diese
Anordnung: „Die m-, n- und ng-Laute sind (von Lepsius) richtig als Klap-
per erkannt." Deuten aber Lepsius' Termini „explosivae or dividu^e" und
„fricativge or Continus" etwa darauf hin, dafs er den Klang der Laute hätte
charakterisieren wollen? Wir werden doch „Klapper" und „Explosiva",
„Schleifer" und „Frikativa" nicht völlig identifizieren dürfen. An Stelle des
blofsen Gradunterschiedes von scharfen und sanften Konsonanten will Traut-
m ann den Artunterschied von stimmlosen und stimmhaften gesetzt wissen.
Gewifs ist der Artuntei schied der bedeutendere und wichtigere; allein der
4o0 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
o^
andere ist auch nicht zu ignorieren, weder lautwissenschaftlich — wo will
man sonst die süddeutschen stimmlosen Lenes unterbringen? — noch sprach-
geschichtlich. Mit einigen Ausführungen im letzten Abschnitte des ersten
Teiles („Kiniges über die Sprachlaute im "Wort und im Satze") bin ich nicht
einverstanden. So wird der französische Satz ]1 avait en effet un esprit
sceptique et un coeur afTectueux nicht in Sprechsilben abgeteilt: I la vai te
ne tJ'et u nes prit scep ti quet un coeu ra ffec tueux, sondern : I la vai te
ne ffet u ne sprit sce p ti quet un coeu ra ffe k tu eux. Und was S. 133
von Dauerunterschieden gesagt ist, beruht, meine ich, auf dem Unterschiede
zwischen energischem und mattem Silbenaccent, wenn auch freilich zwischen
diesem und der vokalischen Dauer Beziehungen bestehen. Im Rheinlande
— Traut mann führt die recht bezeichnenden jelaach jemaach in Bonner
Aussprache an — ist der Unterschied zwischen mattem und energischem
Silbenaccent besonders scharf ausgeprägt, während er in Norddeutschland
vielfach verschwunden ist. In einer rheinischen Volksschule würde ein Schü-
ler, welcher „Zahn" mit energischem, oder umgekehrt „Thran" mit mattem
Silbenaccent spräche, sicher auffällig werden. — Indessen gestehe ich gerne,
auch aus diesem Abschtiitte recht vieles gelernt zu haben; derselbe enthält
ül>er die noch am wenigsten angebauten Gebiete der Lautwissenschaft eine
reiche Fülle des Belehrenden, trotz der bescheidenen Überschrift: „Einiges
über ..."
Möge aus meiner Anzeige zur Genüge hervorgegangen sein, dafs Traut-
manns „Sprachlaute" nicht nur für die Entwickelung der Phonetik sehr
beiieutsam sein müssen — dafs das Werk vielmehr das beste ist, was wir
in unserer Wissenschaft besitzen.
Spanische Grammatik mit Berücksichtigung des gesellschaftlichen
und geschäftlichen Verkehrs. Von J. Schilling, Lehrer der
:^panischen Sprache am Kaufmännischen Verein Zürich.
2. Aufl. Leipzig, G. A. Glöckner, 1884. (350 S.)
Portugiesische Grammatik mit Berücksichtisuno- des gresellschaft-
liehen und geschäftlichen Verkehrs. Von F. J. Schmitz,
konigl. Reallehrer für neuere Sprachen an der Realschule
AschafFenburg. Leipzig, G. A. Glöckner, 1885. (250 S.)
Beide Bücher sind recht anerkennenswerte und tüchtige Leistungen,
praktisch brauchbare Schulbücher vor allem. Und zwar eignen sie sich
keineswegs nur für kaufmännische Lehranstalten, denn die Rücksicht auf
den geschäftlichen V^erkehr herrscht nicht vor, sondern tritt hinter der Ten-
denz, dem allgemein gesellschafdichen Verkehr zu dienen, mit anderem
Worte die gesprochene Sprache zur Anschauung zu bringen, zurück, wie
sie denn auch auf dem Titel beider Bücher richtig hinter dieser angegeben
wird. Dafs aber in der Grammatik, bezw. im Übungsbuch (obige Bücher
sind beides zugleich) die gesprochene Sprache mindestens gleichmäfsig mit
der Schrift- und Litteratursprache berücksichtigt ist, entspricht dem gegen-
wärtig in allgemeineren Kreisen eingenommenen pädagogischen Standpunkt,
welchem auch neuere Lehrbücher des Französischen und Englischen (z. B.
Deutschbein) Rechnung tragen. Wem es freilich nur darauf ankommt,
Cervantes und Camoens lesen zu können, oder wer nur, zum Nutzen seines
allgemeinen romanischen Sprachstudiums, sich einen Einblick in den Laut-
und Formenbestand der südwesthchen Sprachen verschallen will, mag auf
ein Buch dieser Art verzichten, dafür bleibt aber seine Kenntnis der Sprache
auch eine mangelhafte. Stellte ich nun den vorliegenden Lehrbüchern im
ganzen obiges lobende Zeugnis aus, so ward dabei immerhin mit erwogen,
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 431
(lafs die grammatische Boliandlung einer Sprache nur alhnählich fortschreitet
und dal's manche niethodiscl)e und selbst inhaltliche JMän<^el oder auch po-
sitive Irrtümer in einem gegenwärtig erscheinenden Lehrbuche des Spani-
schen und noch mehr des Portugiesischen eigentlich unausbleiblich sind.
Wenn dem aber so ist, so hat der Kritiker nicht nur die subjektive Ffliclit,
das von ihm abgegebene Urteil zu begründen, sondern auch die objektive,
an seinem Teile zu solchem Fortschritte grammatischer Erkenntnis und Dar-
stellung beizutragen. Gehen wir daher zu einer Betraciitung im einzelnen
über.
Über die Aussprache giebt Schilling nur einige allfremeine Bemer-
kungen, und in diesen ist noch einiges unrichtig. So soll c vor a, o, u
und den Konsonanten dem deutschen gg in „Egge" entsj)rechen, während
es k ist. Von j, sowie g vor e und i wird gesagt, es habe den Laut des
süddeutschen ch in „machen, Bach". Das ist nun allerdings vollkommen
richtig, aber nur für die Wenigen verständlich, welche das „hintere guttu-
rale" ch süddeutscher Mundarten von dem gewöhnlichen, dem vorderen
gutluralen ch zu unterscheiden (nicht etwa: fähig sind, sondern) schon vor-
her gelernt haben. 1^1, il werden sehr ungenau als „Ij, nj" bestimmt; es
ist schwach mouilliertes 1, n mit nachlolgendem. in Bezug auf das Silben-
ganze hier als Konsonant fungierendem i. „P lautet etwas weicher als im
Deutschen, ungefähr wie bb in „Ebbe", z. B. padre." Die Behauptung,
dafs spanisches p weicher als deutsches p sei, ist willkürlich oder mindestens
subjektiv, wie der Gradunterschied zwischen harten und weichen (oder schar-
fen und sanften) Lauten überhaupt besser dem Artunterschiede von stimm-
losen und stimmhaften Lauten Platz machte (d. h. da, wo beide parallel
gehen und sich ni(ht etwa kreuzen); und sicher ist deutsches (schrift-
geminiertes) bb in „Ebbe" gleich einfachem b. Bei der dritten Fortis unter
den Verschlufslauten, dem t, kehrt die Behauptung gröfserer Weichheit (als
im Deutschen) nochmals wieder. Bei dem Worte reloj liemerkt Schilling:
„j am Ende des Wortes ist kaum hörbar." Ich weifs nicht, ob und wo
eiwa eine derartige Aussprache des Wortes üblich ist, weifs aber, dafs die
gewöhnliche die mit tiefem ach-Laut ist (daneben erwähnt die GrHmmatik
von Keil die Aussprache relös). Die dürftige Behandlung der Aussprache
ist um so mehr zu bedauern, als der Verfasser, wie ich aus dem Vorworte
der ersten Auflage ersehe, sich fünfzehn Jahre in Spanien aufgehalten hat
und daher wohl befähigt sein dürfte, uns über spanische Aussprache gründ-
lich zu belehren. (AA'enigstens widerspricht dem das \'orhandensein der
obigen Irrtümer noch nicht; es lug diesen nicht sowohl mangelhafte Beob-
achtung, als vielmehr eine unrichtige theoretische Auffassung zu Grunde,
die der Kundige schon zu korrigieren wissen wird.) Einer solchen Beleh-
rung bedürfen wir sehr. Hat doch auch Paul Förster manches, so be-
sonders die spanistihen Diphthongen so gut wie ausschliefslich auf Grund
der metrischen Messung behandelt ; was aber z. B. metrisch als einsilbig
gilt, braucht es darum nicht der physiologischen Artikulation nach zu sein.
(Referent gedenkt den kommenden Sommer in Spanien zuzubringen und
verspricht für diesen Fall Mitteilung seiner phonetischen Beobachtungen.
Mit der Veröffentlichung einer im wesentlichen bereits ausgearbeiteten Ab-
handlung über spanischen V'ersbau will er gleichfalls bis dahin warten, weil
er sowohl seine Ansichten über die physiologischen Grundlagen der Metrik
erst prüfen, als auch Lesung und Vortrag spanischer Verse von den Natio-
nalen selbst hören will.) Bei Schmitz ist die Behandlung der Aussprache
zwar etv^'as umfänglicher, dafür aber auch um so fehlerjiafter. Von den
nasalen einfachen Vokalen ist nur a erwähnt (aufserdem die nasalen Diph-
thongen). Ein o mit dem accento agudo soll gleich offenem o, wie in dem
deutschen Worte „Pol", lauten, z. B. nd Knoten; statt des deutschen „Pol",
dessen o geschlossen ist, hätte franz. „mort" als Beispiel »gewählt werden
sollen: jedoch ist der port. Laut, wenn er betont ist, noch ein wenig offener.
432 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
(S. darüber R Goncalves Vianna, Etüde de phonologie porlugaise. in Rom.
XII, S. 33.) c vor e, i soll wie s lauten. Es hat aber natürlich den
stimmlosen Laut (und zwar ist es, wie Vianna, 1. c. 6. 53, bemerkt, nicht
völlig gleich frz. c vor e, i, y, sondern „produit plus en arriere par le dos
de l;i lauiiue, non pas avec son extremlte"). Man soll ac9ao sowohl aks —
(soll heifsen akfs— ) als auch afs — lauten können, die erstere Aussprache
ist indessen falsch, g in geral mit ..sch" zu bezeichnen, ist unrichtig.
Digno wird nach Schmitz wie dingnu gesprochen, aber unser deutscher
ng-Laut existiert im Portugiesischen gar nicht. Dafs Ih, nh = Ij, nj lauten,
ist ungenau. Die Aussprache-Notierung cujo für das Wort cujo (S. 6) be-
ruht wohl blofs auf einem Druckfehler. — Etwas mehr Belehrung über
portugiesische Aus.-äprache giebt uns nun allerdings ein *weit hinten, am
Sclduls der Formenlehre angefügtes Kapitel (Lekt. 31), welches „Allgemeine
Bemerkungen" überschrieben ist und zunächst eine Anzahl Homonymen, so-
dann einige in der Betonung verschiedene und endlich solche Wörter auf-
führt, von welchen je zwei gleichlautend sind bis auf die das eine Mal offene,
das andere Mal geschlossene Aussprache des betonten Vokals. (Es folgen
dann noch Bemerkungen über einige durch den Wohllaut bedingte Flexions-
erscheinungen und Angaben über spanische Titel und Anreden.) Als Ho-
monymen werden richtig bezeichnet z. B. acto (der Akt) und aro (ich ver-
binde), welche beide = atu lauten; fato (Kleidungsstücke) und facto (That-
sache), beide = fatu. Wenn dagegen pello (Haar) und pelo (durch den)
als Homonyme angeführt werden, so ist dazu doch zu bemerken, dafs e in
pelo meist reduziert ist; sonst hat es allerdings den geschlossenen Laut.
Nös (wir) und noz (Nufs), sowie vös (ihr) und voz (Stimme) sind nur in
Tras-os-Montes homonym (auch wohl nur in einem Teile von Träs-os-Mon-
tes), sonst aber geschieden. In Träs-os-Montes wird allerdings die Sonora
im Wortauslaute zur Surda. (Vianna, a. a. O. S. 53.) Im ganzen um-
gangen sind in der S chmitz sehen Liste die Wörter, welche in der Flexion
einen Wechsel zwischen offenem und gesclilossenera Laute zeigen; so devo
(mit e), di've; formoso, formosa; como comes come. Der Aufzählung schickt
der Verfasser die Erklärung voran: „Unter homonymen \\örtern versteht
man im Gegensatz zu den synonymen solche, die bei gleicher Aussprache
verschiedene Bedeutung haben." Synonyme und Homonyme bilden doch
keinen Gegensatz! Der Ausdruck „gleiches ürthograph" für „gleiche Or-
thographie, Schreibweise" ist undeutsch. ^^'as weiterhin die Zusammen-
sitllung von Wörtern betrifl't, welche, im übrigen gleichlautend, sich durch
die Lautnüance des Tonvokals voneinander unterscheiden, so würde die-
selbe recht verdienstlich sein, wenn die Lautqualität auch dabei angegeben
wäre. Es handelt sich ausschliefslich um Wörter mit den Tonvokalen e
und o, und wir erfahren, dafs der accentuierte Vokal immer in dem einen
Worte geschlossen und in dem auiieren offen ist. Aber es wird uns nicht
mitgeteilt, in welchem er offen, in welchem er geschlossen ist. Auch ist
die Anordnung nicht einmal so, dafs alle Wörter mit offenem Tonvokal in
der einen, alle mit geschlossenem in der anderen Spalte ständen. So stehen
rechts zwar meist Wörter mit offenem Vokal, aber auch pör (setzen) und
se (sei) mit geschlossenem o bezw. e. Und was die daneben gestellten .por
(durch ; und se (wenn) angeht, so dürfte letzteres doch wohl mit se homo-
nym sein, p^T aber hat u. Richtig ist, dafs olho (ich sehe) o, ölho (Auge)
dagegen (.) hat, dagegen erscheint in dem Plural des letztgenannten Wortes
wieder o. Medo (Medien) und medo Furcht werden unterschieden, in der
That hat letzteres e, trotz lat. e (span. regelrecht ie), wie umgekehrt lat.
metam ein moda ergeben hat. Es liätten auch noch gegenübergestellt wer-
den können forma (mit o) als volkstümliches und f(|rma als gelehrtes Wort
(\'iaima, a. a. 0., S. 97). Neben do, dem Genetiv des Artikels, und do
(Kummer) wäre noch dou (gebe) zu setzen gewesen, das = do ist. Der
Diphthong ou ist nämlich, bis auf den Norden, zu geschlossenem o verein-
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 433
facht. So belehrt uns Vianna (a. a. O., S. 61), welcher hinzufügt: „II
est generalement indifferent, surtout devant r, de prononcer et d'ecrire ou
ou oi (6 ou Ol)." In dem sich an die Ausspracheregeln anschliefsenden Kapitel
über den prosodischen Accent ist die Kegel 1. f: „Auf der drittletzten
Silbe haben den Accent die meisten aus dem Lateinischen, Griechischen
oder Arabischen herkommenden Wörter, z. B. carnivoro, syndnimo, alfän-
dega" in dieser Allgemeinheit natürlich unrichtig.
Was nun den eigentlichen grammatischen Teil anlangt, so ist dessen
Behandlung in den beiden Büchern insofern gleichartig, als zuerst die Wort-
arten (ungenau heifst es dafür in der Vorrede Schillings „Redeteile")
der Reihe nach erörtert werden und hieran sich eine kurzgefafste Darstel-
lung der Syntax schliefst. Nur sind bei Schmitz die Klassen: Adjektiva
(OS adjectivos), Numeralia (os numeraes) und Pronoraina (os pronomes) von
vornherein durchaus getrennt, während Schilling dieselben — jedoch von
den Pronominen natürlich nur die adjektivischen — als adjetivos zusammen-
fafst und diese sodann in adjetivos determinativos und adjetivos calificativos
scheidet, eine Einleitung und Terminologie, welche ja der spanischen, wie
auch der französischen Grammatik geläufig ist; zu den ersteren (den adje
tivos determinativos) gehöien nun auch die Zahlwörter, adjetivos numerales.
Dieser Abschnitt, sowie auch der über das Substantiv, ist bei Schilling
recht gut; der Inhalt ist richtig und ziemlich vollständig, die Darstellung
klar, so dafs wenig Ausstellungen zu machen sind. Die Bedeutung von todo,
a in 'todo un raes, todos los dias' ist doch nicht „adverbial", wie S. 42
(Lekt. 10, § 2) gesagt wird. Von mismo — das Schmitz zu den Demon-
strativen rechnet, während andere es (jedenfalls weniger richtig) als ein
Indefinitum ansehen, Wiggers ihm als „präcisierendem Fürwort" eine be-
sondere Stelle anweist — heifst es S. 32 (Lekt. 8, § 4): „Steht jedoch
mismo etc. nach einem Haupt- oder Fürwort, so bedeutet es selbst,
sogar." Bekanntlich steht aber mismo in der Bedeutung „sogar" zwischen
Artikel und Substantiv (Las mismas mujeres fueron raatadas). Nach den
Beispielen zu schliefsen (Yo mistno he visto al jardinero ich selbst oder
sogar habe den Gärtner gesehen), begeht Schilling den Fehler nicht in
der Anwendung des spanischen Wortes, sondern in der des deutschen
„sogar", das er für „selbst", als Gegensatz zu dem Begriffe des „anderen",
gebraucht. „Uhrchen" (S. 29 im Tema) ist wohl nicht deutsch. — Bei
Schmitz sind einige der Genusregeln so allgemein gefafst, dafs die Zahl
der Ausnahmen unübersehbar ist und also die Regeln ziemlich wertlos wer-
den. Die Ablativtheorie spukt auch in diesem Buche: a caridade, a virtude,
heifat es S. 12 (Lekt. 4), sind von den lateinischen Ablativen auf täte und
Ute abgeleitet. Vermutlich ist dies allerdings nicht im Sinne derd'Ovidio-
schen Theorie gesagt, sondern lediglich auf die äufserliche Gleichheit der
lateinischen Ablativ^ und der portugiesischen Endung gestützt. S. 33 (Lekt.
1 1): „Will man genau den Accusativ vom Nominativ unterscheiden, so setzt
man dem Fürwort noch den bestimmten Artikel vor; z. B. o meu filho,
meinen Sohn. Dasselbe geschieht auch häufig im Nominativ." Und doch
sollen durch den Gebrauch oder Nichtgebrauch des Artikels die Kasus
unterschieden werden? Die Regel; „Folgt ein Zahlwort auf einen Kompara-
tiv, so wird analog dem Französischen „als" nicht mit que, sondern mit de
übersetzt", bedarf derselben genaueren Fassung wie im Französischen. O
que in dem Satze: „Recebeu algumas feridas, o que (e isto) foi causa da
sua morte" ist (S. 38, Lekt. 13, a) richtig erklärt, aber die Übersetzung
(„er empfing einige Wunden, welche die Ursache seines Todes waren") ist
unrichtig, wenn auch bei dem vorliegenden Beispiel inhaltlich kein Unter-
schied ist. — Auch die Behandlung des Verbums ist bei beiden Verfassern
im ganzen durchaus zu loben. Schmitz hat sich in solchen Fällen bei den
unregelmäfsigen Verben, wo die Formen noch miteinander ringen, meist,
wie es scheint, an den (Trammatiker de Oliveira gehalten; eine Belehrung
Archiv f. n. Sprachen. LXXIII. 28
434 Beurteilunoren und kurze Anzeigen.
jgV,.. V...V. ..VA.^V. ....... .jg.
darüber, dafs u und o in den Infinitiven acudir, bnllr (bolir) tiissir ftossir"»,
cobrir lautlich identisch i?ind und die Verschiedenheit der herkömmlichen
^Schreibung nur in der Etymologie ihren Grund hat, werden wir natürlich
bei der geringen Aufmerksamkeit, mit welcher die Aussprache gleich in dem
ihr besonders gewidmeten Kapitel behandelt ist, gar nicht erwarten. Eine
genaue Aussprache- Angabe (acudir. acudo, acodes, acode) wäre aber doch
recht wünschenswert gewesen. — Verhalt nismäfsig am meisten giebt bei
Schilling zu Ausstellungen Anlafs das Kapitel über die substantivi-
schen Pronomina (Lekt. 23 und 24), welches — wie mir scheint, etwas un-
zweckmäfsig — zwischen die regelmäfsigen und unregelmäfsigen Verba ein-
geschoben ist. Wenn es S. 138 heifj.t, die Kelativ-Pronomen (sie) „dekli-
nieren alle mit de und li", so ist diese intransitive Anwendung des Verbums
„deklinieren" im Deutschen doch wohl zu verwerfen. Auf der nändichen
Seite (Lekt. 23, § 2) wird von quien, quienes gesagt: „Bezieht es sich auf
ein vorangehendes, hinweisendes Fürwort, so wird letzteres stets weggelas-
sen; el quien, la quien etc. sind im Spanischen nicht gebräuchlich." Das
Demonstrativpronomen wird weggelassen; und doch geht es voran? § 4
wird die Kegel aufgestellt: „Unser deutsches Relativum „was", wenn es
sich auf einen vorangehenden Satz bezieht, wird im Spanischen mit lo que
oder mit cuanto gegeben." Was soll hier cuanto? Und von den drei Bei-
spielen, welche Schilling giebt, pafst kein einziges hierher. Dieselben
lauten nämlich : Juan no sabe lo que quiere. — Deseamos ä veces lo que
menos falta nos hace. — No creo nada de todo (lo que oder) cuanto Pedro
nos ha dicho. In § 7 ist der spanische Satz: Achi estä el pobre de quien
te quejaste tanto — übersetzt: „Dort ist der Arme, dessen (über den) du
dich so sehr beklagtest." Der falsche Genetiv „dessen" steht hier deswegen,
weil die Regel, zu der der Satz ein Beleg sein soll, lautet: „Dessen ohne
darauffolgendes Hauptwort heifst de que oder bei Personen de quien."
Die erste Hegel in Lekt. 24 enthält einen leider immer mehr einreifsenden
deutschen .Sprachfehler (der aber eben deswegen um so mehr getadelt wer-
den mufs), nämlich eine Inversion nach „und". Eine sehr schlechte Aus-
drucksweise fallt mir auch S. 178 (in der ersten Anmerkung) auf: „Das
französische forcer zwingen, heifst obligar." Etwas komisch wird S. 187
(Lekt. 30, erste Anmerkung) gesagt: „So oft in der Kortjugation der V'er-
ben desleir, engreir, freir, reir etc. zwei i zusammentreffen, wird, laut Be-
schlufs der spanischen Akademie, eines derselben elidiert und zwar
des Wohlklanges wegen." S. 184: „Durch Weglassen des persönlichen
.^ccusativs (in dem Satze: Yo aborrezsco tanto un hombre . . .) wird noch
mehr Mifsachtung ausge<lrückt." (Ebenso schon S. 138: „Der persönliche
Accusativ fällt bei dem Relativpronomen que auch aus.") Es fallt doch
nicht der persönliche Accusativ aus, sondern nur die zu seiner Bildung die-
nende Präposition ä Und ähnliche Unrichtigkeiten und Ungenauigkeiten
im deutschen Ausdruck wären noch manche zu rügen. ^^ Auf die unregel-
mäfsigen und mangelhaften Verba folgt ein Kapitel: „Übersetzung einiger
dt-utschen Hilfsverben." Dort heifst es auf S. 234 (Lekt. 37, § 4): „Sollen
kann auch mit querer übersetzt werden; z. B. ^Que quiere decir esto? —
f,Quiere Vd. que se lo diga otra vez? — ^;Quieres que me vaya?" In dem
zweiten und dritten Satze ist der Gebrauch von querer offenbar ein ganz
anderer als in dem ersten, urld nur in diesem (dem ersten) ist sollen „mit
querer übersetzt". Unmittelbar nachher: „Sollen, müssen wird jedoch
gewöhnlich mit deber gegeben, oder durch das Futuro, besonders im
Dekalog (I) und überhaupt, wo es eine moralische Pflicht ausdjrückt." Dafs
„lassen" durch „ser" gegeben werden könne, wie in § 7 b der nämlichen
Lektion gelehrt wird, versteht man nicht recht; gemeint ist: es de (z. B.
prever) es läfst sich (voraussehen). — Lekt. 38 behandelt die Adverbien.
Zu dem Satze: Juan es mas hombre que su hermano, wird (S. 241) bemerkt:
„Das Wort hombre ist im letzten Beispiel adjektivisch gebraucht", was un-
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 435
richtig ist. Das Wort deribado (abgeleitet) ist S. 241 — 2-1:3 eigentümlicher-
weise dreimal mit doppeltem r gedruckt. S. 242: „Folgen sich nun meh-
rere solcher Adverbien [nämlich auf mente], so wird nur dem letzten der-
selben die Silbe mente [mente sind übrigens zwei Silben] angehängt; die
auf a endigenden Formen werden meist vorangestellt, und dadurch der Üt'er-
gang ins Adverb ausgedrückt, was auch den Wohlklang bedeutend erhöht."
VV^elch ungeschickte AusiJrucksweise! Die grammatische Beziehung des
„was" ist eine ganz verkehrte. S. 244 (§ 10): „Die deutschen Adverbien
„sogar, selbst" werden auch mit hasta gegeben." In den beiden angeführ-
ten Belegsätzen steht aber nicht einfaches hasta, sondern hasta el mismo.
Es bleibt noch der syntaktische Teil zu besprechen. Bei Schilling
wird die Syntax ziemlich kurz behandelt. Die Lehre von den Temporibus und
Modis umfafst zwar 23 von den 51 im ganzen der Syntax gewidmeten Seiten,
ist jedoch lange nicht so reichhaltig und umständlich wie z. B. bei Wig-
gers. Denn während sie bei diesem volle 46 Seiten füllt, kommen von
den 23 bei Schilling noch stark 10 in Abzug, welche Vokabeln, Über-
setzungs- und Konversationsstoflf" enthalten, — eine Partie des Buches, von
welcher wir weiter unten noch besonders reden müssen. Natürlich hängt
dies mit der Verschiedenheit der Zwecke beider Bücher zusammen: Wig-
gers will eine Spracherkenntnis vermitteln, zwar keine geschichtliche, son-
dern blofs eine rationelle; unserem Verfasser ist es hauptsächlich um ein
praktis(;hes Ziel zu thun. Diesem Zwecke entspricht die Behandlung durch-
aus. Allerdings hätte beim Gerundium mit en (S. 280, Lekt. 42, § 9) hin-
zugefügt werden sollen, dafs dasselbe im Unterschiede vom reinen Gerun-
dium nur zeitliche, nicht kausale Bedeutung hat. Auch ist das absolute
Particip ungenügend erklärt, wenn es (ebendort § 11) heifst : „Das Particip
steht oft vereinzelt, jedoch nur scheinbar, da man sich die Gerundien siendo,
estando oder habiendo sido dabei denken mufs; z. B. Sembrados los trigos
podemos hacer un viaje. (Siendo sembrados.)" Die richtige Erklärung
würde schwerlich mehr Kaum in Anspruch genommen haben. Das Plusquam-
perfekt soll die „Längstvergangenheit" ausdrücken (S. 291, Lekt. 43, § 11),
wofür es natürlich „Vorvergangenheit" heifsen mufs. — Ziemlich vollständig
ist die Lehre vom Gebrauch des Artikels. — An den Abrifs der Syntax
schliefsen sich ein recht praktisches Kapitel über die Phraseologie einiger
Zeitwörter, und ein recht überflüssiges über spanischen Satzbau.
Ausführlicher und im ganzen recht hübsch ist die Darstellung der Syn-
tax bei Schmitz. Wenn das Buch auch vorwiegend dem gesellschaft-
lichen und geschäftlichen \ erkehr zu dienen beabsichtigt, so ist doch gerade
diese Partie auch denjenigen sehr zu empfehlen, welche mit dem Studium
des Portugiesischen litterarische Zwecke verfolgen. Wenigstens besitzen
wir eine bessere Darstellung der portugiesischen Syntax meines Wissens
nicht. (Die des Herrn von Bei n har d s tö ttner z. B. ist entschieden
schwächer.) — S. 164: „Andere Adjektiva haben nur komparativische Be-
deutung und können nicht durch mais gesteigert werden, wie exterior, in-
terior, anterior, posterior, superior, inferior; nur im Geschäftsleben sagt man
zuweilen : esta fazenda e muito superior, diese Ware ist von viel besserer
Qualität." Die genannten Adjektiva lassen keine weitere Komparierung zu,
aber doch eine Verstärkung z. B. durch muito, und keineswegs ist diese auf
den Geschäftsstil beschränkt. Ebendaselbst wird der Grund, warum Adjek-
tiva wie portuguez, corporeo, vencedor, matador nicht kompariert werden,
in deren Ableitung von Substantiven, resp. Verben gesucht (und peccador
sündhaft mit dem Komparativ mais peccador als Ausnahme erwähnt), wäh-
rend offenbar die Bedeutung den Grund enthält. „Aufserdem können die-
jenigen Adjektiva nicht gesteigert werden, die einen Zustand ausdrücken,
wie morto tot, nascido geboren, casado verheiratet, desterrado verbannt."
Diese Adjektiva gehören mit den ersterwähnten zusammen; die Fassung:
„die einen Zustand ausdrücken" ist aber einerseits zu weit (vergl. triste,
28*
436
BeurteIluno;en und kurze Anzeigen.
feliz), andererseits zu eng (vergl. portuguez). In linguas meii) barbara«:,
hat meio nicht adjektivische, sondern adverbialische Funktion. S. 176 findet
sich der Satz: „Nds näo o tinbamos avisado wir hatten ihn nicht benach-
richtigt", während o auf S. 174 (und auch schon S. 80) als blofs sächliche
Form angerührt worden ist. S. 177 : „Statt seu, sua, gebraucht man mei-
stens die Umschreibung de X'm.^^e oder do Snr oder da Snra." Dafs dies
nur von der zweiten Person gilt, ersieht man zwar sofort, dennoch mufste
es gesagt werden. S. 179: „Nach den Ausdrücken eis-aqui hier ist, und
eis-ali da ist, hat quem eine verallgemeinernde (?) Bedeutung; z. B. eis-
aqui quem vos dini a verdade, hier ist jemand, der auch die Wahrheit sagen
wird." „Das, was drückt der Portugiese durch o que oder durch aquillo
aus"; es mufs heifsen: aquillo que. S. 185, Z. 7 v. o. soll es statt quem
näo sabe wohl heifsen: quem nada sabe. S. 187: quem muito embarca,
pouco aperta (entsprechend dem französischen: qui trop embrasse, mal
etreint) ist doch nicht, wie es an dieser Stelle sein soll, ein Beispiel für die
Veränderlichk(M*t von muito und pouco. Die sonderbare Regel: „Folgt auf
mehr oder weniger ein als, so setzt man gewönlich de mais, de menos"
wird erst verständlich durch die Beispiele : eile tem dez annos de mais que
tu; tens dois contos de menos que eu. S. 195: anda lendo und anda a 1er,
werden unrichtig als bedeutungsgleich hingestellt. S. 200 wird angegeben,
dafs bei nem . . nem das Prädikat „im Singular oder Plural" stehen könne;
soweit meine Kenntnis reicht, ist (bei singularischem Subjekt) der Plural
wenig gut. S. 204 ist die Regel ül3er den Konjunktiv nach Konjunktionen
(und dem Relativpronomen) augenscheinlich viel zu allgemein gefafst.
S. 211: „Die [Adverbial-]Endung mente kann in verschiedener Weise er-
klärt werden: erstens als Ablativus des lateinischen mens, mentis Absicht;
zweitens leitet man es her von dem keltischen Substantiv ment, welches
Weise bedeutet." Die zweite Erklärung möge der Verfasser getrost strei-
chen. — Ein Anhang giebt einiges aus der portugiesischen Lautlehre (wobei
die verschiedenen Entwickelungen des nämlichen Lautes der Grundsprache
rein äufserlich und anscheinend als gleichberechtigt nebeneinander gestellt
sind) und die hauptsächlichen Daten der Litteraturgeschichte.
Wenn wir zum Schlufs noch etwas iiber die mit der Grammatik ver-
bundenen Übersetzungs- und sonstigen Übungsstoffe, welche ebenfalls in
den beiden Büchern ganz gleichartig sind, sagen sollen, so sind auch diese
im ganzen recht praktisch; um sie im einzelnen beurteilen zu können,
müfste man die beiden Lehrbücher einmal dem Unterrichte zu Grunde ge-
legt haben. Hierzu fehlte dem Referenten die Gelegenheit. Die Exercicios
(spanisch-deutsche Übersetzungsstoffe) und Temas (deutsch-spanische) bezw.
Exercicios und Temas führen recht gut in die Umgangs- und Schriftsprache
ein, wenn sich auch, hauptsächlich im Anfange, hier und da eine Plattheit
;i la Ollendorff' einschleicht. Es folgt meist ein Abschnitt: Conversacion
(Conversacao) — hinter einem zusammenhängenden Stücke auch wohl als
Rekapitulacion sich über deren Inhalt erstreckend — welcher sich sehr zum
Auswendiglernen eignen dürfte.
Im ganzen sind die spanische Grammatik von Schilling und die
portugiesische Grammatik von Schmitz trotz einiger Mängel für die prak-
tischen Zwecke unter allen mir bekannten Lehrbüchern die besten.
Dr. Franz Lütgenau.
Franz Hirsch, Geschichte der Deutschen von ihren Anfängen
bis auf die neueste Zeit. Leipzig u. Berlin, W. Friedrich.
Deutsche Litteraturgeschichten giebt es wie Sand am Meere Die
wenigsten davon sind indessen wirklich lesbar. Der eine Verfasser ist zu
gelehrt, der andere zu oberflächlich. Dieser begnügt sich mit weitschicbtigen
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 437
biblio<;raphischen Nachweisungen, jener erdrückt sein Werk mit kritischen
Ausführungen, welche das Bild des Dichters und Schriftstellers gleichsam
verdecken. Und doch sollte letzteres die Hauptsache sein. Denn aus einer
Litteraturgeschichte will man doch eben die Dichter und Schriftsteller selber
kennen lernen, nicht nur die Meinungen des Verfassers. Sie sollen seine
Schilderungen fest und deutlich zeichnen, dafs wir eine Vorstellung von
ihren Werken und ihrem \\irken bekommen. Nur eine solche Darstellung
wird zugleich anregend genug sein, dafs wir uns von der Geschichte zu den
Thaten, d. h. zu den Büchern wenden. Die meisten Litterarhistoriker wollen
eine solche Anregung g.'ir nicht geben. Sie kommen der Neigung des deut-
schen Publikums entgegen, welches bekanntlich lieber über die Bücher, als
diese selbst liest. Fragt man sich scbUefslich, was man aus einem solchen
Werke erfahren hat, so beschränkt es sich besten Falles darauf, dafs der
Autor ein geistreicher Mann ist.
Die Geschichte der deutschen Litteratur von Franz Hirsch macht
in dieser Beziehung eine rühmliche Ausnahme. Sie verrät gründliches
Wissen, ist aber trotzdem leicht und volkstümlich geschrieben. Überall
tritt uns eine eigene Meinung entgegen, aber der Stoff kommt darüber nicht
zu kurz. Man mag mit Hirsch nicht immer übereinstimmen, stets hat man
das erfreuliche Gefühl, dafs er bei der Sache ist, dafs ihn echte Begeiste-
rung führt und er diese auch im Leser zu erwecken bestrebt ist.
Davon legt schon die Schilderung der mittelalterlichen Poesie Zeugnis
ab. Hier ist nichts von Voreingenommenheit gegen das ritterliche Zeitalter
des Glaubens zu spüren; selbst den beiden grofsen Gegensätzen, Wolfram
von Eschenbach und Gottfried von Strafsburg, wird Hirsch in objektivster
Weise gerecht. Interessant ist seine Stellung zu der Roswitha- und Nibe-
lungen-Frage. Unter dem Namen der gelehrten Nonne Roswitha von Gan-
dersheim besitzen wir bekanntlich eine Anzahl lateinischer Komödien, welche
Heiligenlegenden behandeln. Vor einigen Jahren hat nun ein Wiener Ge-
lehrter. Aschbach, nachzuweisen versucht, dafs diese Komödien eine grofs-
artige Fälschung sind, und ihr eigentlicher Verfasser der berühmte Humanist
Konrad Geltes ist. Hirsch tritt dieser Hypothese in vollstem Umfange bei,
die Aschbach vornehmlich auf stilistische und sprachliche Gründe gestützt
hat. Man braucht in der That nur die Inhaltsangabe jener, trotz der darin
auftretenden Heiligen, höchst bedenklichen Komödien zu lesen, um sich zu
sagen, dafs in diesem Tone allenfalls ein Humanist der Renaissance, nicht
aber eine Nonne im alten Sachsenland zur Zeit Kaiser Ottos I. dichten
konnte. Allerdings bat man gerade deshalb oft ein Langes und Breites
über Roswithas Naivetät und die Unbefangenheit jener frühen Zeiten ge-
schrieben, allein das sind im Grunde doch nur Phrasen, die das Unerklär-
liche erklären sollen.
Eignet sich Hirsch hier die scharfe moderne Kritik an, so macht er
beim Nibelungenliede dagegen Front und tritt der Lachmannschen An-
schauung, als sei das grofse Epos wie durch ein Wunder aus allerhand
Volksballaden zusammengewachsen, entschieden entgegen. Lachmanns Ver-
such hatte bekanntlich den vornehmsten Zweck, der berühmten Theorie
F. A. Wolffs über die Entstehung der homerischen Epen etwas Gleich-
wertiges an die Seite zu setzen. Müllenhoff, der Schüler Lacbmanns, hat
dann dasselbe für die Gudrun unternommen. Schade, dafs nicht noch ein
Epos vorhanden war, an dem man seine Kunst hätte üben können. Unsere
grofsen Dichter wollten schon von Wolffs Ansichten nichts wissen. Wir
meinen, dafs ein Dichter in dieser Beziehung doch noch mehr versteht als
ein Kritiker. So gut wie man bei Homer und den Nibelungen den indivi-
duellen Dichter wegdisputiert, könnte man auch Firdusi in die Mythologie
verweisen. Sehr richtig macht Hirsch darauf aufmerksam, wie, wenn es
genügte, Widersprüche und stilistische Ungleichheiten aufzufinden, ein
l^achmann der Zukunft vielleicht noch zu dem Schlüsse kommen wird.
438 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
Schillers Wallenstein und Goethes Faust seien gleichfalls nicht das Werk
eines einzelnen. Übrigens vergleiche man einmal das Nibelungenlied, oder
besser noch: die von Lachmann ausgesonderten angeblichen Urlieder mit
denjenigen Liedern der Edda, welche die Siegfried- Sage behandeln. Hier
alles ballailenartige Konzentration, die in dramatischer Abgeschlossenheit
vor uns steht, dort nichts Selbständiges, alles nur aus dem Ganzen ver-
ständlich. Halten wir deshalb daran fest, einen Dichter der Nibelungen zu
verehren und lassen wir den „dichtenden \'olksgeist" beiseite, der eine Ab-
straktion ist, und auch das kleinste Lied noch nicht zu stände gebracht hat.
Oder glaubt man wirklich, dafs sich allgemeine Gedanken in der Luft plötz-
lich zu Versen „verdichten", etwa wie Wasserdämpfe zu Wolken?
Der erste Teil des vorliegenden Werkes geht bis zum Ausgange des
Mittelalters, der zweite bis Lessings Tod. Von hervorragendem Werte sind
hier die Kapitel über Luther und Hans Sachs. Der Verfasser gehört nicht
zu jenen Principienreitern, die um der religiösen Bedeutung der Reforma-
tion willen die vielen moralischen und politischen Schattenseiten jener Pe-
riode bemänteln. Er schildert zudem Luther weniger vom Standpunkte des
Theologen, mehr als Sprachbildner, Dichter und gemütstiefen echt deutschen
Mann. " Ebenso mit dem Herzen ist die Würdigung Hans Sachsens ge-
schrieben. Hirsch meint, Sachs nähme in der damaligen deutschen Littera-
tur eine ähnliche centrale Stellung ein wie Shakespeare in der englischen.
Was bei dem einen die Universalität der dichterischen Fähigkeit, ist bei
deni^ anderen die Universalität in der Anhäufung des Stoffes. Als Poet
kann man ja unseren wackeren Schuster nicht neben Shakespeare stellen,
aber beide sind bezeichnend für die Nation, der sie angehören. Wer nicht
zu den Shakespearomanen gehört, die den grofsen Briten mit einem musel-
männischen poetischen Monotheismus verehren, der wird das begreifen, und
es auch nicht belächeln, wenn wir sagen, dafs Goethe mit seiner Vielseitig-
keit, seiner Neigung zur ruhigen Beschaulichkeit und echten \'olksmäfsig-
keit gleichsam ein verklärt wiedergeborener Hans Sachs war. Hier, wie bei
jedem Dichter, fuhrt Hirsch übrigens charakteristische Proben an. Im
Mittelalter meist eine Übersetzung, bisweilen auch den Urtext. Letzteres
können wir nur billigen, dagegen finden wir die Manier, die Dichter des
Reformationszeitalters in ihrer schaudervollen, systemlosen ürorthographie
abzudrucken, unpraktisch, obschon es heutzutage zum litterarhistorischen
guten Ton gehört. Es wird uns dadurch unnötigerweise das Verständnis
erschwert. Das ist doch so, als wollte man an einem silbernen Becher aus
alter Zeit Rost und Schmutz sitzen lassen. Gehören diese zum Kunstwerk?
Nein! Dagegen haben wir die Kapitel über Gottsched und die Schweizer,
Gottsched und Lessing wieder mit grofsem Genufs und aufrichtigem Beifall
gelesen. Auch Lessing gegenüber bewahrt sich Hirsch seine Ruhe. Treff-
lich ist, wie er an der Unfähigkeit Lessings, den aufstrebenden Goethe zu
verstehen, die Grenzen seines Geistes aufzeigt. Wer dem Verfasser bis
hierher gefolgt ist, der wird jedenfalls wünschen, dafs derselbe seine Arbeit
recht bald zu einem glücklichen Ende führen möge. H. H.
Geschichte der deutschen Volkspoesie seit dem Ausgange des
Mittelahers bis auf die Gesienwart. Von Dr. T. H. Otto
Weddigeu. München, Verlag von Georg Callvvej, 1884.
A'erfasser behandelt im vorliegenden Werke das kirchliche, das histori-
sche, das erotische, das sociale Volkslied; ferner Volksballaden und Roman-
zen, didaktische Volkspoesie (Satire, Pasquill, Epigramm, Priamel), Fabeln,
Sprichwörter, Volkssagen, Volksmärchen, Volksbücher, Schwanke, poetische
Erzählungen, Volksromane und Volksschauspiele.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 439
Er ist der "erste, welcher — abgesehen von den in kein System gebrach-
ten Forschungen Uhlands u. s. w. — uns das ganze Gebiet der Volks-
poesie, dieses ewig frischen Quells, worin die Kunstpoesie, wenn sie altert,
sich wieder kraftigen und verjüngen kann, mit Gründlichkeit und Liebe uns
vor Augen führt. An Litteraturgeschichten haben wir keinen Mangel; aber
eine „Geschichte der deutschen Volkspoesie" fehlte uns bisher völlig. Wed-
digen, durch seine zahlreichen Schriften vorteilhaft bekannt, hat überall
mit dem Auge des Forschers und Dichters gesehen, und so hat er uns in
seinem neuesten Werke eine Leistung gereicht, welche uneingeschränktes
Lob verdient. Gewifs sagt er selbst, dafs die bessernde Hand und nachfol-
gende Forscher , noch manches nachtragen werden, denn das Gebiet ist fast
unerschöpflich, aber man hat eben zu bedenken, dafs vorliegendes Buch der
erste \'ersuch ist. Abgesehen davon ist die Diktion, die Begeisterung
für den Gegenstand an dem Werke so wohlthuend, dafs wir es aufrichtig
allen Schul- und Privatbibliotheken empfehlen können. Es bildet ein not-
wendiges Supplement zu jeder Litteraturgeschichte, Dr. A.
Elementarbuch der italienischen Sprache für den Schul- und
Privatunterricht. Von Sophie Heim, Lehrerin des Italieni-
schen an der höheren Töchterschule in Zürich. Zweite
durchgesehene und mit einem Wörterverzeichnis versehene
Auflage. Zürich 1884. 284 Seiten.
S. Heims Elementarbuch des Italienischen mufs jeder begierig sein ken-
nen zu lernen, der ihre so anziehenden Lesestücke aus neueren italienischen
Schriftstellern gesehen hat. Die Erwartung wird auch nicht getäuscht, die
gute Bekanntschaft mit dem heutigen Gebrauche zeigt sich auch hier in
manchem kleinen Zuge, und macht dem Kenner Vergnügen. Dem Titel
entsprechend ist das Buch vorwiegend sehr stark mit Übungsbeispielen ge-
sättigt, so dafs man u. a. hier das ganze Einmaleins bis zu 24 mal 24 hinab
in Zahlen gedruckt findet, damit man es italienisch ablese, und wer im
Rechnen zurückgeblieben ist, kann es hier zugleich noch lernen. Bis S 174
reicht die Formenlehre, sie ist einfach, klar, nicht oberflächlich. Selten ist
etwas zu erinnern. Die Accentlehre ist dürftig, und signör Orazio ist in
signor Oiäzio zu verbessern, wie ich hier schon zu vielen Grammatiken an-
gemerkt habe, vgl. meine Sprachlehre S. 31. Die Syntax ist in starker An-
lehnung an Fornasiari, Sintassi italiana dell' uso moderno nicht ohne Ge-
schick abgefafst. Eine tiefer gehende Richtung, Betrachtung der älteren
Sprache gehört wenig zu der Aufgabe des Buches, und darf man sie nicht
eigentlich darin suchen. Das Deutsche in dem Buche ist nur zuweilen etwas
ungewöhnlich; am meisten ist mir aufgefallen, dafs „statt" und „wegen"
immer den dritten statt des zweiten Falles nach sich haben.
Fr. Müller, Grundrifs der Sprachwissenschaft, III. Band: Die
Sprachen der lockenhaarigen Rassen; II. Abteilung: Die
Sprachen der mittelländischen Kasse, I.Hälfte. „Fortsetzung
und Schlufs des ganzen Werkes (Bogen 15 ff., Seite 225 ff.)
werden im Laufe des nächsten Jahres erscheinen." Wien
1885. 224 Seiten.
Die in dem vorliegenden Stücke von Fr. Müllers Werke behandelten
Sprachen sind die Sprache der Basken und die Sprachen des Kaukasus.
Die Behandlung des Baskischen auf S. 1—4 7 ist eingehend, mehr als man
auf dem kleinen Räume erwarten sollte, klar und hübsch, von der Art, dafs
440 Beurteilungen und kurze Anzeigen.
sie zu einer genauen Bekanntschaft mit dieser Sprache vollständig hinrei-
chen würde, wenn man nicht eine etwas stärkere Auseinanderhaltung und
Schilderung der Mundarten, sowie einige poetische Sprachproben vermifste.
Mit Recht ist hier wesentlich die Grammaire comparee des dialectes basques
des \&n Eys zu Grunde gelegt worden. Einige vergleichende Blicke auf
amerikanische, früher in diesem Werke behandelte Sprachen sind anziehend,
doch bleibt wohl hier noch manches zu bemerken übrig: so scheint mir,
würde eine Vergleichung des Ungarischen und der vtn'wandten Sprachen
hier nicht unrichtig, auf vielen Punkten beruhend sein und sich fast von
selbst aufdrängen. " Ich mache nur auf die Formen des ungarischen Zeit-
wortes aufmerksam, welche das Objekt gleich in sich enthalten. Auch wun-
dert mich, in einem Werke wie das vorliegende gar nicht einmal ein Wort
über die in so vielen zum Teil weit auseinander stehenden Sprachen sich
begegnenden Formen für die Zahl sechs zu trefien: auch hier heilst s6i sechs.
Van Eys schreibt übrigens nur sei, erwähnt aber nach Larramendis Wörter-
buch hierzu Pluralformen seyac und seyrac, so dafs es, wie er, Van Eys,
nicht übel bemerkt, wohl eigentlich seir, nicht nur sei geheifsen haben mufs.
Auf das Pluralzeichen k im Ungarischen und Finnischen wie im Baskischen
weist schon Van Eys hin: es ist auffällig genug. Die kaukasischen Spra-
chen werden in zwei Familien, die nordkaukasische und die südkaukasische
eingeteilt. Die erstere umfafst neun Sprachen: die der Abchasen (Aapbsua),
die der Awaren, die der Kasikumüken (Lak), die der Artschi, die der Hür-
kanen, die der Kürinen, die der Uden, die der Tschetschenzen (Na/tsuoi) und
die der khistischen Thuschethier (Batsa), Hauptquelle sind hier wohl Scbief-
ners Arbeiten; auf die Schrift des Schora-Bekmursin-Nogmow: Die Sagen
und Lieder des Tscherkessenvolkes, bearbeitet von Berge, das freilich mehr
die \'ölkerschaften als deren Sprachen betrifft, scheint nicht geachtet zu
sein. Die Nachrichten gehen hier sehr ins Einzelne: man beachte nur, dafs
die Sprache der Artschi einem Volke von etwa 500 Individuen angehört.
Die südkaukasischen Sprachen, welche hier betrachtet werden, sind: Geor-
gisch, Mingrelisch, Lazisch, Suanisch. Das Georgische ist durch Brosset,
Elements de la langue georgienne, Paris 1837, allgemein zugänglich gewor-
den. Ihm schliefsen sich Älingrelisch und Lazisch ziemlich eng an, wäh-
rend das Suanische etwas mehr für sich steht. Grofs aber ist der Gegen-
satz zwischen der nordkaukasischen und der südkaukasischen Gruppe, so
dafs der Verfasser oft Mühe hat, überhaupt noch Berührungspunkte zwischen
beiden herauszufinden. H. Buchholtz.
Martin Hartmann, Chronologisch geordnete Auswahl der Ge-
dichte Victor Huo^os, Heft 2 und 3. Leipzig, Teubner,
1884. IV u. 115rbezw. IV u. 128 S. Preis Mk. 1,20.
Die hohen Erwartungen, die das erste Heft der Hartmannschen Aus-
wahl aus Hugo (vergl. Archiv, Bd. LXXII, p. 107 ff.) bei den Freunden
des Dichters erregt hatte, sind vom Herausgeber nicht getäuscht worden.
Wie das \\'erk vollendet daliegt, kann ihm eine hervorragende Bedeutung
für den neusprachlichen Unterricht beigemessen werden. Man darf Victor
Huoo infolge des Erscheinens dieser Auswahl als zum Kanon der franzö-
sischen Lektüre gehörig betrachten.
Gewifs hat es manchem Kollegen nicht an der Absicht gefehlt, sich
mit Victor Hugo vertrauter zu machen, um den allzu engen Kreis der
poetischen Schullektüre zu erweitern und unseren Jungen diese kraftvolle
edle Poesie näher zu bringen. Aber bei der Absicht dürfte es in den
meisten Fällen geblieben sein. Denn man wird selbst von strebsamen Leh-
rern nicht erwarten wollen, dafs sie durch die siebzehn Bände Lyrik und
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 441
Epik der Edition definitive sich durchlesen, wo manches Minderwertige mit
aufgenommen ist, was die Wogen der Zeit doch spurlos hinwegspülen
werden. Schon aus diesem Grunde ist das Unternehmen Martin Hartmanns
zeitgemafs. Eine vernünftige Auswahl aus der gewaltigen Masse derHugo-
schen Dichtungen, eine geschmackvolle Blütenlese des Edelsten und wahr-
haft Unvergänglichen, in welcher aber auch alle Seiten des vielseitigsten
aller neueren Lyriker würdig vertreten waren, von den duftigsten lyrischen
Blüten bis zu den zornsprühenden, geharnischten Dichtungen hinauf, — ein
solches Buch hätte dem Dichter viele Freunde zugeführt. Jetzt liegt ein
Blumenstraufs von 136 Dichtungen da, mit feinem Geschmack und
pädagogischem Takte ausgesucht und gruppiert.
Referent beschäftigt sich seit Anfang seiner Studienzeit mit Victor Huj^o
und kann sich rühmen, den Dichter gründlich zu kennen. Noch nie aber
ist die ehrwürdige Gestalt des Dichtergreises ihm so leibhaftig entgegen-
getreten wie nach dem Lesen der 136 von Hartmann ausgewählten Dichtun-
gen. Hier entwickelt sich der Jüngling vom Jahre 1820 vor unseren Augen.
Zuerst singt er von seinem heldenmütigen Vater, von Königtum und Vater-
land, von Gott dem Allmächtigen und dem Helden Napoleon. Er ist dann
der stets gütige Kinderfreund, der seine eigene Familie vergöttert. Der
Tod der geliebten Tochter bringt ihn dem Wahnsinn nahe, und mutig rafft
er sieh auf. Der Staatsstreich vom 2. Dezember raubt ihm die Heimat,
zwanzig Jahre harrt er blutenden Herzens im Auslande aus, bis mit dem
Tage von Sedan „ZViowme", sein Todfeind, in den Staub zurücksinkt. Und
noch ertönt sein Schlachtruf, denn sein Gewissen ist lauter und rein, er
hat stets nach Wahrheit gestrebt und nie ein unsittliches Wort ausge-
sprochen:
Je combattis pour la pensee,
Pour le devoir, pour Dieu nie,
Pour la grande France ^clipse'e,
Pour le soleil calomnie,
Je combattis l'ombre et l'envie
Sans peur, sans tache a mon e'cu ;
Puis 11 se trouva — c'est la vie —
Qu'ayant lutte', je fus vaincu.
(Quatre Vents, Livre lyrique Nr. 15.)
J'ai des pleurs a mon oeil qui pense,
Des trous ä ma robe en lambeau ;
Je nai rien a la conscience :
Ouvre, tombeau !
(Contempl. VI, 24.)
Der tadellosen Auswahl* entsprechen die Anmerkungen. Hartmann
giebt meist sachliches Material und hat hier Gelegenheit, mit einer weit-
umfassenden Belesenheit und äufserst eingehenden Detailkenntnis** alles
dessen zu glänzen, was nur irgendwie mit Victor Hugo zusammenhängt.
Man vergleiche z. B. die Bemerkungen zum Gedichte au Statuaire
David, ferner die scharfsinnigen Beobachtungen des Sprachgebrauchs,
über Chiasmus von Adjektiv und Substantiv, über Wiederkehr einzelner Aus-
* Aufser den beiden Distichen Nr. 98 und 131 könnte am ehesten la Rose
de l'Infante (Nr. 115) wegen seiner Länge fehlen (247 Verse).
** Die Vermutung, dals Nr. 27 und 35 dem Maler Louis Boulanger gewidmet sind,
ist zutreffend. Viele andere Gedichte, so Ballade 8 und 13, sind gleichfalls an ihn
gerichtet; Mazeppa (Orient. 20) wurde durch das im „Salon" vielbewunderte
Bild Boulangers angeregt. Ferner hat Hugo seinem treuen Freunde Feuilles d'automne
Nr. 27 und 28, sowie die meisten Briefe aus der Rheinreise gewidmet.
442 ßeurteilungeu und kurze Anzeigen.
drücke, wie Vombre, in den Dichtungen der späteren Perloile etc. etc. Nach
dieser Seite hin hatte vielleicht der Kommentar erweitert werden dürfen:
so hatte auf den stehenden Ausdruck saigner statt soutfrir, auf die häufige
^^'iederkehr der Worte (/otißre, ahlme etc. und ganz besonders auf das
immer häufiger werdende Epitheton apre hingewiesen werden können. Wir
notieren aufs Geratewohl aus Heft 3 : apre exil, apre c.hemin, apre foret,
espace apre et silencieux, apre escaipement, apre fleur des dioies, leiir sovffre
apre et chaiid, seid dans cette apre ;??///, avec un apre accent etc. etc.
Andererseits hätte der Wegfall blofser Worterklärungen, wie chaiime
(Nr. 37, 4), faire im reve (Nr. 29, 9 und 51, l), traits (97, 24), mon pays
(101,11), Kaum für notwendigere Erläuterungen geschaffen, z. B. zu Ze cräne
fjeant des Aschylos in Nr. 32. Hier liegt die Anspielung auf fiie thörichte
Fabel von Aschylos' Tod (cf. Welcker, Alte Dkm. II, 341) und das Orakel
ovoartov oe ße).05 xnraxTarsY nicht für jedermann nahe.
Ferner ist mante Nr. 119, VI, 19 unrichtig mit „Bettdecke" wieder-
gegeben ; das Richtige geben trotz Littre die voraufgehenden Worte eile
prend sa lanterne et sa cape (119, V, 1). Die Stelle aus rExpiation
(90, VII, 25): ,
Ils trainent sur Paris qui les voit s'etaler.
Des sabres qu'au besoin iU sauraient avahr
scheint uns durch die Anmerkunor nicht genügend erklärt. Der wahre Sinn
geht aus dem bitter höhnenden Tone des ganzen Gedichtes und dem \'er-
gleich der napoleonischen Bande mit einer Kunstreitertruppe klar hervor.
N'orgl. Bonaparte, ecuyer du cirque Beauharuais (22); et du champ de ba-
taille il tombe au champ de faire C25'); on quete des liards dans le petit
chapeau (45) ; toi spectre imperial, tu bats la grosse caisse (72).
So korrekt der Druck auch im Verhältnis zu anderen Ausgaben ist, es
sind immerhin in den beiden Heften Accents-, Tirets- und ähnliche Ver-
sehen etwa zehn, andere Druckfehler* ebenso viele im Verzeichnis unberück-
sichtigt geblieben.
Das am Schlufs beigegebene „\'erzeichnis der in Frage kommenden
Litteratur" giebt nicht weniger als dreiundsiebzig gröfsere oder kleinere
Werke, die manchmal nur nebenbei mit Victor Hugo sich beschäftigen. Hier
ruht viel Unbedeutendes neben altberühmten Werken in gemütlichster Ein-
tracht, so Sarrazins kleiner Vortrag über das franz. Drama des 19. Jahr-
hunderts neben Sainte-Beu ves epochemachenden Kritiken. Vollständig
soll ein derartiges Verzeichnis natürlich nicht sein; doch hätten folgende
allgemein zugänglichen Schriften ebenfalls Aufnahme verdient:
1) Schmidt- Weifsenfeis, Frankreichs moderne Litteratur seit der
Restauration. Berlin 1856. 2 Bde.
2) P. Stapf er, Etudes sur la litt, franc moderne et contemporaine.
Paris 1881.
3) Maxime du Camp, Souvenirs litteraires. Paris 1882. 2 Bde.
4) P. Paris, Apologie du Romantisme. Paris 1824 (dem Ref. nicht
zur Hand und nur aus dem Bericht über die Sitzung vom 17. Nov. 1882
der Acad. des Inscr. im „Temps" bekannt).
5) Rob. Prölfs, Das neuere Drama in Frankreich. Leipzig 1881
(II, 1 der Geschichte des neueren Dramas).
* Fehlende Tirets Nr. 27, 115; 82, 77; Accents und dergl. Nr. 52, 154;
54, 82; 111, 53; 113, 52; 114, 154; 118, 12; 120,28. — Druckfehler: Nr. 51,
V, 3 sour- Nr. 113, 59, 133, 41 fehlt jeweils ein e an sir, noir; Nr. 135, 29
u statt n; 104, 8 c statt e; 53, 151 qui statt qu ; Nr. 127 ist das nous aus
"Vers 27 nacli 31 {gerückt woiden Geringere in der Anmerkung zu 31, T, 1 und
88, 19, 51, in, 31.
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 413
6) H. Born, Die romantische Schule in Deutschland und Frankreich.
Heidelberg 1879 (Vortrag II, 4 der Frommelt^chen Sammlung).
7) Ludw. Spach, Zur Gesch. der mod. franz. Litt. Strafsb. 1877.
8) Beumelberg, Über den Versbau in den Dramen \ ictor Hugos.
Oldenburg 1S83 (Progr. der Cäcilienschule).
9) Serre, Le sublime Goethe et Victor Hugo. Paris 1881.
10) Leffondrey, V. Hugo le pi-tit. Paris 1872 (elendes Pamphlet).
11) Zola, Mes Haines und Le Komnn experimental.
12) Archiv f. d. Stnd. etc. I, 37 5; V, (Jl; XXXII, 1; XXXV IT, 166
und öfter.
Andere werden sicherlich noch mehr nachtragen können, denn die
Hugo-Litteratur ist eine unübersehbare. Mit Parodien allein — auch diese
gehören zur allseitigen Kenntnis des Dichters — könnte man eine Bibliothek
füllen. *
Wir können diese Besprechung nicht abschlief^■en, ohne an die hoch-
verdiente Verlagshandlung die Mahnung zu richten, sie möge von Hart-
manns vorzüglicher Auswahl auch für das grolse Publikum eine Ausgabe in
einem Bande in entsprechender Ausstattung veranstalten.. Ohne Zweifel
würde dieselbe gerade jetzt kurz nach des Meisters Tod als „Festgeschenk"
die weiteste Verbreitung finden und auf das oberflächlich absprechende
Urteil der sogenannten Gebildeten über französische Lyrik einen iiberaus
wohlthätigen Einflufs üben. Denn noch kein Urteilsfähiger hat von Hugos
unvergänglichen Werken Kenntnis genommen, ohne die seit 1870 bei aller
Welt gangbar gewordene Ansicht über den Dichter über Bord zu werfen.
G. Strien, Choix de Poesies fran^aises ä l'usage des ^coles
secondaires. Halle 1884, Eug. Strien. VI und 57 Seiten,
Preis 2:eb. 1 Mk.
Seitdem die Lektüre ganzer AVerke französischer Autoren den Kern-
punkt des Unterrichts bildet und die Chrestomathie von Tertia ab verbannt
ist, hat wohl mehr als ein Kollege den Mangel einer solchen empfunden,
wenn es sich darum handelte, etwas Abwechselung in die Einförmigkeit der
historischen oder tragischen Lektüre zu bringen, wie sie semesterlang ge-
trieben wird. Es ist allerdings sehr schön, wenn ein Primaner beim Ver-
lassen des Gymnasiums vier bis fünf Historiker, drei bis vier Stücke von
Corneille, Racine und Moliere und allenfalls noch Mirabeaus Heden gelesen
hat, aber von der überreichen Lyrik der Franzosen hat er keinen Begriff
und wird im späteren Leben die alltäglichen Urteile der „Gebildeten" ge-
treulich nachbeten, wenn er nicht gerade neuere Sprachen zum Fachstudium
wählt. Schon darum ist eine Anthologie wenigstens für Sekunda und Prima
neben den Schulausg,aben unentbehrlich.
Diese Lücke will G. Strien durch vorliegende Sammlung von dreifsig
Gedichten ausfüllen : Der Schüler soll sie von Tertia bis Prima mitführen
und alljährlich fünf Gedichte auswendig lernen, so dafs er beim Ver-
lassen des Gymnasiums einen hübschen Vorrat französischer Dichtung mit
ins Leben nimmt. Mit der hohen Meinung Striens vom Werte des Aus-
wendiglernens ist Referent ganz und gar einverstanden und hat besonders
in der Mittelstufe ihn genügend kennen gelernt. Es fragt sich nur, ob
eine Gedichtsammlung schon die Tertia berücksichtigen mufs, da auf dieser
* Paul Albert erwähnt pag. 36: Harnali, ou la contrainte par cor. —
Antoine, Aper9us etc. p. 134: Les Hures graves, Parodie zu den Burgraves
von Clairville; Baumgarten, La France qui rit, p. 151 — 169: Les Boules
graves oder les Burgs inriniment trop graves von Philipon (vergl. auch Max.
du Camp a. a. O. I, 236).
444 Beurteilungen und kurze Anzeigen
j^V^U WtlV^ «.V..-.V. ...^..-.V..j5V
Stufe nocli die Chrestomathie goniigenden Memorierstoff bietet. Ferner ist
es fraglicli, ob Abschnitte aus den sogen, klassischen Dichtern in die Ge-
dichtsammlung aufzunehmen sind; denn die Tragiker werden in IIa und I
ohneliin gelesen, so dafs der Lehrer ciiizehie Al)sohiiitte bei Gelegenheit
auswendig lernen lassen kann. Dem Ref. schwebte vielmehr als Muster eine
für II und I berechnete Auswahl der neueren Lyrik vor.
Sieht man aber von diesen rein principiellen Bedenken ab und prüft
den relativen Wert von Striens Choix de I'oesies, so kann man dem Buche
sowohl hinsichtlich der geschmackvollen Auswahl als auch der vorgeschla-
genen* Reihenfolge nur die wärmste Anerkennung zollen und ihm eine mög-
lichst groCse Verbreitung wünschen. Zudem ist die Ausstattung mustergültig,
ähnlich der der Rengerschen Schulbibliothek, und der Preis sehr mäfsig.
Karl Foth, ßonaparte en Egypte, aus Thiers, Hist. de la Rev.
franc^. und Hist. du Cons. et de l'Enipire. — Leipzig,
Rensfersche Buchhdlof., 1885. XII und 116 S. mit drei
Karten. In Leinw. geb. Mk. 1,40.
Von Thiers' weitschichtigem Nationalwerk dürfte der Abschnitt über
den abenteuerlichen Feldzug nach Ägypten in deutschen Schulen der be-
kannteste sein, einmal weil der einseitige Lobredner des Schlachtenkaisers
hier keine empfindlichen Patrioten verletzen kann, und dann weil diese Partie
leicht aus dem Zusammenhang sich reifsen lafst und somit gerade für ein
Semester passenden LesestofI bildet. Wer in Obersekunda oder Unterprima
unterrichtet, wird sie nicht ignorieren dürfen.
Foths Ausgabe darf ihrem inneren Werte wie ihrer äufseren Beschaffen-
heit nach als vortreft'lich bezeichnet werden. Der Text ist in neunzehn
Kapitel eingeteilt, was den raschen Überblick sehr fördert. Indessen no-
tieren wir auf S. 2 — 24 fünf Accentsfehler und auf S. 5 — 82 ebenso viele
Versehen, während die anderen Bogen absolut korrekt sind. Die sprach-
lichen Anmerkungen sind, den Grundsätzen der Rengerschen Schulbibliothek
entsprechend, sehr spärlich, etwa 25 in den acht Bogen Text. So sehr diese
Sparsamkeit im Interesse der Selbständigkeit des Schülers geraten/- er-
scheint, wir hätten doch hin und wieder bei Ausdrücken wie un feu plon-
geant et meurtrier, oder la turhulence envahlssante de la France die ent-
sprechende deutsche Übersetzung gewünscht.
Reiche Belehrung bietet der mit drei Kartenskizzen bereicherte sach-
liche Anhang. Die knappen und inhaltreichen Einleitungen sind gleichfalls
zweckentsprechend. Nur will dem Ref der biedere Carnot, der organi-
sateur de la victoire, nicht recht als .,royalistisch gesinnt" erscheinen. Ferner
hätte vielleicht die eine oder die andere kritische Bemerkung Thiers' par-
teiische Angaben richtigstellen dürfen : so ist z. ß. die Verdächtigung
* III b: Le Corbeau et le Renard (La Font.); le Lab. ti ses Enfanis (id.);
T Enfani aiine du »Sei^wew (Racine) ; les Hü'07idL-Ues (Beranger) ; la C/ocÄe fLamart.). —
III a: le Chene et le Roseaa und les Animaux mal. de la peste (La F.); h Meimier
.SV/res-6'o«cj (Andrieux) ; le Montag nard emigre (Ch.at&^\i\)r\&ndi); Charlottembcmrg (id.). —
IIb: Adieux de Marie Stuart (Ber); la Chu/e des Feuilles (Millevoye) ; la Grand! -
mere, Extase und Pour les Pauvres (V. Hugo). — IIa: Victoire du Cid und
Auguste et Cinna (Com); Man Habit und le Tailleur et la Fee (Be'r.) ; V Automne
(Lamart.), — Ib: Mort d Hiiipol. und Louanges de Dien (Racine): Mort de Colignr/
(Volt.); la Jeune Captive (Chenier) : le Cor (Yigny). — la: Misanthrope (}>lol.); Apo-
logie de la Satire (Boileau; ein schauerlich langweiliges Stück, das einzige der Samm-
lung, was nicht glücklich gewählt ist!); Originea de la poesie franq. (Boileau); Mort
de Jeanne d^ Are (Delavigne); Qu'est-ce que la Poesie (Musset).
1
Heui'teiluiigen und kurze Anzeigen. 445
Po u ssiel gu es, wie aus dem 1845 VL'iüflTentlichten Aktenniaterial ersicht-
lich (Protokoll des Kriegsrats vom 1. Pluv. \'I1I, Berichte Klebers und
Desaix', Korresp. mit dem Grofsvezier), nicht ganz gerechtfertigt. Indessen
wollen viele Schulmänner die historische Kritik aus der Schule verbannt
wissen: also — habeat sibi.
Die Ausstattung der Fothschen Ausgabe ist tadellos, der Preis für das
elegant in Leinen gebundene Büchlein sehr mäfsig. Somit wird dasselbe
rasch in den höheren Schulen Eingang finden.
Baden-Baden. Joseph Sarrazin.
Petry, Die wichtigsten Eigentümlichkeiten der englischen Syntax.
4. Auflage. Remscheid, H. Krumm.
Infolge der warmen Empfehlung, welche Dr. Lüttge den beiden ersten
Ausgaben dieses trefflichen Büchleins in dem Archiv gewidmet hatte, machte
Ref. einen praktischen Versuch mit demselben bei seinem Unterrichte in
der Schule, und er kann jetzt nach seiner Erfahrung nur bestätigen, was
der frühere Recensent dem Buche nachrühmte. Es ist das Notwendige in
vollkommen hinreichender Weise hier gegeben, und der Verf. leidet nicht
an der in den neueren grammatischen Hilfsbüchern so häufig sich kund-
gebenden Manie der Vollständigkeit. Die Regeln sind einfach, klar, präcis,
und die Wahl der Übungsbeispiele ist ganz vortrefflich; überdies hat Ref.
an verschiedenen Stellen dieser neuesten Ausgabe die verbessernde Hand
des aufmerksamen Verfassers mit Dank bemerkt.
Zeitschriftenschau.
Fiämuri Arberit, La Bandiera dell' Albania.
Anno 1, Corigliano Calabro, 30 Aprile 1884, Num. 7.
S. I — V bringt die Fortsetzung des Berichts über die albanische Schule
in Italien; Anerkennung und Unterstützung vom Papste. S. V einige Verse
von Giuseppe de Rada. S. V — Vllf. Über den Palast Adriano von Ga-
briele Cav. Dara: handelt von Albaniern auf Sicilien; noch dort vertretene
Namen von Albaniern werden genannt, darunter auch der des Verfassers,
dem sein Vater eine von ihm verfafste Schilderung albanischer Sitten, sowie
auch ein albanisch-italienisches und italienisch-albanisclies Wörterbuch
hinterliefs, welches alle bisher gedruckten übertrifft. Der Palazzo Adriano,
noch heute ein Besitz des Königs, wird von Albaniern und Italienern be-
wohnt, treff"liclien Leuten, die öfter durch Gaben an den König verhinderten,
dafs derselbe verkauft wurde.
Anno T, Corigliano Calabro, .SO Maggio 1884, Num. 8.
S. I. Nachrichten von Albanien. S. II — IV. Programm der Radikalen
in Ungarn : dieselben sind Freunde der Albanier und im Wesentlichen mit
des Herausgebers Schrift „Quanto di libertä e di ottimo vivere sia nei go-
verni rappresentativi, Napoli 1882" einverstanden. S. IV — VI. Ein Lobgesang
auf den Mond, von P. Fra Antonio Santori : der Herausgeber merkt zwei-
mal an. "wie die Sprache durch den Reim leide. S. VI— VII. Wieder ein
Stückchen: achten wir auf das Leben ehe es untergeht. S. VTI — VIII. Über
die albanischen Wörter at Vater, eem Mutter, sis Muttermilch, Mutterbrust.
Es sind noch echte, alte, pelasgische. Von dem ersten bekamen die Ru-
mänier und Italiener tata, \'ater, vom zweiten die Italiener mamma, meine
^Mutter. S. VIII. Neueste Nachricht: Athen, den 10. Juni. Vorgestern hat
446
Beurteilungen und kurze Anzeigen.
sich im Philologisclien Institut, <ler Parnaf?, für Griechenland die Verbin-
dung „Die albanischen Brüder" gegründet, zur Pflege albanischer Sprache.
Anno I, Corigliano Calabro, 30 Giugno 1884, Num. 9.
S. I IV. "Wollen sie uns also blenden? Die Pforte hat die Einfüh-
runf' der vorliegnnden albanischen Zeitschrift in Albanien verboten und
zeigt damit, dafs sie nun nach 400 Jahren Albanien nicht für einen Teil
von sich, sondern für eine Beute hält, die es nach Belieben verzehren kann.
S. IV— VI. Die Stunde ist gekommen. Durch den Aufruf des Anastasios
Koluriotis vereinigen sieb die albanischen Städte Griechenlands, alle Alba-
nier in Griechenland. Der Verfasser jauchzt, bemerkt, ein Viertel der Be-
völkerunfT des Königreichs Griechenland sind Albanier: es ist jetzt einmal
Zfit zu antworten, ob sie Ankömmlinge sind oder vielmehr ein Rest der
ersten pelasgischen Lagerung, welche sich nach Benloews Annahme vom
Adriatischen Meere bis zum Halys erstreckte. S. VI — VIII. Über Kirizza
oder Corcia in der Toscheria.
Anno I, Corigliano Calabro, 30 Luglio 1884, Num. 10.
S. I — III. Achten wir auf das Leben, ehe es untergeht. S. II— VI.
Der Aufsatz von der albanischen Schule in Italien, G. de Rada unterzeich-
net, wird beschlossen. S. VII— VIII beschliefst den Aufsatz über Korizza,
Eutimio Nitko unterzeichnet.
Anno I, Corigliano Calabro, 30 Settembre 1884, Num. 11.
S. I — V. Der Herausgeber spricht, wohl im Anschlufs an sein vorhin
angeführtes Buch, vom Realen und Idealen in den Vertretungen der Welt.
Soll noch fortgesetzt werden. S. \'. Vorurteile des oberen Albaniens.
S. V — VII. Ein Bernardo Bilotta unterzeichneter Brief aus Frascineto, über
diesen Ort. S. VII— VIII. Einige Verse des Giuseppe de Rada und von
Dochi von Scutari an die Witwe ebendesselben.
Anno I, Corigliano Calabro, 30 Ottohre 1884, Num. 12.
S. I— IT. In Konstantinopel erscheint ebenfalls eine albanische Zeit-
sciirift — ein Beweis der guten Gesinnung des Sultans, zu welcher er auch
(^rund hat. S. III — IV. Fortsetzung des Aufsatzes vom Realen und Idealen.
S. V. Ein Brief aus Scutari warnt vor Bestrebungen der Griechen, Albanien
mit ihrem Reiche zu vereinigen. S. V — VIII. Plana de' Greci auf Sizilien
von aus Scutari gekommenen Albaniern erbaut. Heute hat es 10 000 Ein-
wohner, ist die gröfste albanische Kolonie Siziliens.
Wir überschauen nun noch den je zweiten Bogen dt-r hier vorgeführten
sechs Hefte. S. 48—58. Die Lieder von den Thaten der Helden werden bis
zum Ende des ersten Buches geführt. S. 59—73. Das zweite Buch von den
Thaten der Helden ; 15 Lieder, das erste enthält 18. S. 74 — 83. Das dritte
Buch der Volkslieder. S. 84 — 93. Eine Satire an die Ehrenmänner von
S. Demetrio Corone des Costa Bellocci, doch hat der Herausgeber einige
Stücke als zu üppig weggelassen. S. 94—96. Vorrede und Anfang des nun
folgenden Wörterbuches für die vorhergehenden Lieder, welche manches
Altertümliche und Schwierige enthalten.
Seguito (lel Glornale di Filologla Romanza. Studj di Filologia
Komanza pubblicati da Ernesto Monaci, Fasel, Roma 1884.
192 pp.
Das ganze erste Heft von Monacis Studj di Filologia Romanza wird
von einer einzigen Arbeit eingenommen, diese ist von N. Zingarelli und
führt den Titel Parole e forme della Divina commedia aliene dal dialetto
fiorentino (Dedicato al Prof. d'Ovidio). Sagt d"Ovidio in seinen Saggi
Critici 533, es seien einmal alle Latinismen, Gallicismen urid mundartlichen
Formen der Commedia zusammenzustellen, so übernimmt dies hier der Ver-
Beurteilungen und kurze Anzeigen. 447
fasser. Zunächst wird einMtend von d«'n IIss. des Ge(]Ichtcs geredet, es
sollen fünf als die ältesten beachtet werden : der Palatino 178, der sog. des
Fil. \illani, der Gaddiano Laur. XC, 8up. 125, der Laurenziano XL, 22 —
zu diesen vieren in Florenz noch der Vaticano 3199. Der erste Haupt-
abschnitt vom lateinischen Elemente reicht von S. 13—108. Es kann nicht
fehlen, dafs hier öfters zu viel vorgeführt wird. Z. B. die soll dies sein,
aber man hat doch di und niezzodi, und kennt diese toskani>>che Art, das
üxytonon zu meiden; dolve soll doluit sein, zumal es \ irgil sage (Inf. II,
51); aber wenn Fr. Sacchetti Nov. 164 a molti si dolfe (s. meine Grammatik
S. 70) sogar mit f hat, in Prosa, so ist es wohl erwiesen, dafs dies Über-
eilung heifsen mufs. Face =: facit ist möglicherweise lateinisch, aber sicher
doch nicht, da (las ^^'ol•t italienisch Formen vom reinen und vom verstärk-
ten Stamm bildet und solche wie diese auch volkstümlich sein konnten: der
Verfasser gesteht diese Möglichkeit zu, aber er hätte sich weiter erkundi-
gen sollen. Den Schlufs dieses Abschnittes bildet ein Rückblick: im gan-
zen etwa 511 Latinismen, teils im Klange, teils in der Bedeutung, teils in
lexikalischer Art, das Paradies stellt die meisten. Der zweite Hauptabschnitt
S. 109—143 behandelt die Gallicismen. Gasparys Buch wird oft mit Ehr-
erbietung angeführt, und so unternimmt Verf. hier wohl diesem zu Gefallen
auch einen Ausfall auf Nannucci, den er nachher mit einer Verbeugung wie-
der gut macht. Es ist unzweifelhaft, dafs Nannucci hier wie auch in anderen
seiner Bestrebungen zu weit ging, ist richtig und begreiflich, aber ihm gegen-
über sich aufs hohe Pferd zu setzen, er besafs keines der criteri glottologici
moilerni heifst es hier, wiederhole ich auch hier, steht keinem wohl an. Dafs
in dem Zusammenfallen von con mit come bei Dante und anderen Alten
nichts Proven^alisches ist, hat der Verfasser recht: er bleibt aber die Er-
klärung schuldig. Noch mehrere alte Belegstellen und die wie ich glaube
festzuhaltende Erklärung, dafs come nicht von quomodo, sondern mit latei-
nischem quem und cum verwandt, mit der Präposition con wahrhaft eins
ist, s. in meiner Grammatik S. 139. Der dritte Hauptabschnitt von S. 144
bis 163 umfafst das Mundartliche. Auch hier zeigt es sich, dafs der Verfasser
sich nicht genug nach Belegen umsieht. Cionca = monca, mutilata Inf, IX,
18 im Reime gehört südlichen Mundarten an, aber, heifst es weiter, wir haben
zunächst noch keinen historischen oder phonologischen Btweis, um das VA'ort
dem Florentinischen abzusprechen — und nichts weiter, keine Erwähnung
auch nur eines \'ersuches, es irgendwo an der P>age nicht zu fernem Orte
zu finden. Einige allgemeine Bemerkungen über Dantes Schrift : De vul-
gari eloquentia, über die Sprachen der Seelen, über den Reim, beschliefsen
das Buch. H. Buchholtz.
P r o g r a m m e n s c h a u.
Über Wolframs Willehalni. Von Prof. Jos. Seeber. Programm
des k. k. Privatgymnasiums am Seminarium Vincentinum
zu Brunn 1884. 34 S. ^r. 8.
o
Mit der reichen Litteratur über Wolframs Willehalm wohl vertraut (nur
<las Prognimm von Saltzmann, Pillau 1882, über die französische Quelle
scheint ihm unbekannt geblieben zu sein) bringt der Verf. einen sehr wert-
vollen Beitrag zum Thema. Was für die eine, was für die andere Ansicht
spricht, genau abwägenf), kommt er zuerst zum Ergebnis, dafs der Anfang
der Dichtung in das Jahr 1214, das Ende des fünften Buches in 1216, das
achte Buch vor 1220 zu setzen sei. Der zweite Teil nennt die Handschriften,
Bruchstücke und Ergänzer vollständig. Im dritten Teil, über die Quellen,
wird als alleinige Quelle La bataiile d'Aleschans, zuerst 1834 von Jonckbloet
herausgegeben, genannt; der \'erf. hebt namentlich die Verdienste Jan
• • • »IT '1
Mastes hervor. Der deutsche Dichter, wird weiter eingehend ausemander-
gesetzt, überragt vielfach sein französisches Vorbild an feinem Gefühl und
künstlerischer Mäfsigung; die reichen Züge der Roheit, die sich bei dem
Franzosen finden, mildert er oft, besonders wenn es sich um Streitscenen
zwischen N'erwandten handelt, und ist bestrebt, das natürliche Gefühl zu
schonen. Je mehr er zum Schlufs kommt, desto mehr entfernt er sich von
seinem Vorbilde, er zeigt auch hier wieder seine Stärke in der Charakter-
schilderung. Wie er den Parzival allmählich sich läutern läfst, so wird auch
der anfangs thörichte Rennwart nach und nach ein anderer, feiner Mensch.
Er hat so das lose Gewiir der französischen Dichtung harmonisch umge-
staltet, den Stoff vertieft. War früher der Willehalm immer als Fragment
angesehen, so haben neuerdings San Marte und Claws zu beweisen gesucht,
dafs Wolfram sein Gedicht vollendet und hinterlassen habe. Der Verfasser
beweist, dafs diese Ansicht irrig, der Willehalm nicht vollendet sei. Schon
die Angabe des Dichters, dafs er Anfang und Ende der ihm vorliegenden
Erzählung dem Leser vorführen wolle, dafs aber das Ende fehlt, beweist
gegen San Marte; der Schlufs der Bataiile d'Aleschans sollte nach des
Dichters Plane bis zu Rennewarts Vermählung mit Alyze umgestaltet werden.
An der Vollendung, so nimmt der Verf. mit Wackernagel an, ist er alh-in
durch seinen Tod gehindert worden: in den Beginn des Jahres 1220 fallt
die Abfassung des neunten Buches, und dies Jahr hat er kaum überlebt.
Wie nun der Schlufs des Gedichtes etwa gewesen sein mlifste, können wir
vermuten, wenn wir genau den Ideengang des erhaltenen Gedichtes ver-
folgen; diesen legt schliefslich der Verf. anschaulich vor.
i
Prügrammenschau. 449
Dreizehnlieder. Von F. W. Weber. Inhalt und Bemerkungen
von Dir. Dr. ß. Werneke. Programm des Gymnasiums
zu Montabaur 1884. 18 S. 4.
Die Abhandlung bringt eine Inhaltsangabe des bekannten Gedichtes,
sowie einen Abrifs des Planes desselben. Der Zweck des Verf. ist, dadurch
zu beweisen, dafs das Gedicht nicht blofs reich sei an dichterischen Schön-
heiten, sondern auch das treueste Bild des Lebens und Treibens unserer
Vorfahren, dafs es deshalb wie wenig andere Dichterwerke sich zur Klassen-
lektüre im oberen Gymnasium eigne. Ob sich dazu neben anderen Ge-
dichten, welche doch mehr darauf Anspruch machen dürften, Zeit finden
mag, bleibt zweifelhaft. Was die Schönheit des Gedichtes betrifft, so hat
wohl ziemlich einstimmig die Kritik ein günstiges Urteil gefällt; vielfach
ist nur die Einwendung gemacht, dafs es einen etwas süfslichen Charakter
habe und an den überwundenen Standpunkt der Romantik erinnere.
Oidipus und Lear. Eine Studie zur Vergleichung Shakespeares
mit Sophokles. Von Prof. Dr. J. J. Richter. I. Teil.
Programm des Gymnasiums zu Lörrach 1884. 18 S. 4.
Der Verf. teilt zuerst die ursprüngliche Gestalt der Sage vom Oidipus
mit, nach dem Vorbilde der bekannten Abhandlung von Schneidewin, und
bezeichnet die beiden Punkte, welche sich in der alten Sage nicht fanden,
das die Geburt des Oidipus betreffende Orakel und die hierin begründete
Aussetzung des Kindes, als dramatische Erfindung, wodurch erst die Ver-
gangenheit mit der Zukunft verknüpft, der Wille der Götter als der be-
stimmende Faktor hingestellt wurde. Da die Handlungen des Oidipus nicht
aus seinem Charakter hervorgehen, so mufsten die unerhörten Frevel der
Mittelpunkt des dramatischen Interesses bleiben. Die Tragödie führt uns
nur die gänzliche ^ ernichtung des Glückes des Königs vor. Dann ist ferner
merkwürdig der fortwährende Widerspruch zwischen der \'erblendung des
Oidipus und dem klaren Bewufstsein des Zuschauers über den endlichen
Ausgang, endlich der Eintritt der Peripetie durch die Erkennung seiner
selbst durch den Helden der Tragödie. Der Verf. giebt hiernach einen
Überblick über den Gang des Dramas, wobei er gut entwickelt, wie Oidipus
auf seinen Verdacht und seinen Eifer gegen Kreon und Teiresias gekommen
ist. Inwiefern von einer tragischen Schuld des Oidipus die Rede sein kann,
auf diese Frage geht der \ erf. hier nicht ein. Er wendet sich vielmehr
gleich zum Lear. Er erzählt die alte Sage von Lear, über welche wir be-
kanntlich eine besondere Schrift von Eidam haben, und bezeichnet als Ab-
weichungen Shakespeares das unglückliche Ende Lears und der Cordelia
und die Verknüpfung ihrer Schicksale mit denen der Familie Glosters. Er
giebt dann eine Übersicht über den Gang der Tragödie, um schliefslich
den Untergang Glosters, Lears und Cordelias zu motivieren. Wie oft ist
schon die Frage, ob Cordelia schuldig oder nicht schuldig sei, erörtert
worden! Ob der Verf. den Aufsatz von Ohlmann im zweiten Bande des
Jahrbuches der deutschen Shakespeare-Gesellschaft kennt, erhellt nicht. Er
legt sich die Sache so zurecht, dafs doch die gröfsten Bösewichter unter-
gehen rnufsten, dafs aber, wenn Cordelias Partei die Schlacht nicht verlor
und Cordelia selbst nicht umkam, der Zweikampf Edgars mit Edmund un-
möglich gewesen sei, Edmund und Goneril ihre Strafe nicht gefunden hätten,
ohne Cordelias Untergang der Krieg nicht aufgehört hätte. Gegen diese
Lösung ist aber doch noch mancherlei zu erinnern. Der zweite Teil der
Abhandlung ist dem Ref. noch nicht zugegangen.
Archiv f.D. Spraclien. LXXm. 29
450 Programmenschau
ö'
Der Lanzelot des Ulrich von Zatzikhoven. (Schlufs.) Von
AI. Neumaier. Programm des Gymnasiums zu Troppau
1884. 26 S. gr. 8.
Der vorjährigen ersten Abteilung hat der Verf. hier die zweite und
letzte folgen lassen, welche die Beziehungen des Lanzelot zu den Werken
llartmanns von Aue behandelt. Das Resultat der eingehenden Untersuchung
ist, dafs der Lanzelot jünger ist als Hartmanns Erec, dafs Ulrich bei- seinem
Gedicht den Erec als nachzuahmendes Muster vor sich gehabt habe, wie
sich aus vielen sprachlichen und stofTlichen Beziehungen ergiebt; ferner hat
Ulrich viele unhöfische Ausdrücke, woraus ihm aber kein Vorwurf zu machen
ist, vieles auch hat er mit der V^olkspoesie gemein; aus seiner Genauigkeit
in der Behandlung der Metra ist zu schliefsen, dafs er kein geringer Dichter,
kein Anfänger war, sowie auch dafs der Lanzelot nicht als sein erstes Werk
anzusehen ist Die Vorwürfe, welche einige Kritiker dem Lanzelot gemacht
haben, treffen alle zeitgenössischen Dichter, unserem Geschmack erscheint
bei allem manches fremdartig. Aufser Erec sind alle übrigen Gedichte
Hartmanns jünger als der Lanzelot. Im Gebrauch der Fremdwörter über-
triff*t der Lanzelot noch den Erec; manche vulgäre Ausdrücke kommen nur
in unserem Gedichte vor und sind schwer zu erklären. Zu seinen Vorzügen
gehört sein Geschmack in der Anwendung poetischer Hilfsmittel, z. B, der
Tropen, rhetorischen Redewendungen. Mit ziemlicher Gewifsheit ist der
Lanzelot in die Jahre 1196 — 1200 zu setzen.
Ein Beitrag zur Kenntnis des Sprachgebrauchs Klopstocks.
Von Christ. Würfl. (Forts.) Programm des zweiten deut-
schen Gymnasiums zu Brunn 1884. 56 S. gr. 8.
Wie die im Archiv angezeigte erste Abteilung der Abhandlung, so ver-
dient die vorliegende zweite, welche noch umfangreicher ist und von dem
Verbum Gallicismen bis zum Subst. Urteilssprecher reicht, wegen der grofsen
Sorgfalt mit Lob hervorgehoben zu werden. Auch aus dieser Abteilung
werden die deutschen Wörterbücher ohne Ausnahme einen ungemein reichen
Stoff" schöpfen können; hier erst erkennen wir, wie sehr viele Wörter oder
doch deren Gebrauchsweise auch im Grimmschen Wörterbuche fehlen. Dafs
sie fehlen, ist freilich ein Beweis, dafs sie sich nicht haben einbürgern
können ; aber sie geben uns doch das deutlichste Zeugnis von der sprach-
schöpferischen Kraft Klopstocks. die vor keiner Kühnheit bangte. Die
alphabetische Ordnung erleichtert die Übersicht über die Neuerungen Klop-
stocks; es sind somit die beiden Programme eine willkommene Ergänzung
zu des Verf. umfangreichen Aufsätzen über die poetische Sprache Klop-
stocks im G4. und 6.ö. Bande des Archivs. Um den Reichtum des Stoffes
klar zu machen, würcle es nötig sein, den gröfsten Teil des Programms
. wiederzugeben ; ein Bild mag ein Auszug aus den ersten Blättern liefern.
Ks fehlen also im deutschen Wörterbuche u. a. folgende Klopstocksche
Wörter: „mich gallicismet, Galliatte = französ. Sprache, Garbengefilde,
Gebärerinangst, geheindeckend, Geberin. Part, geglaubt, geheimnisverhüllend,
Geierklaue, Geiferbifs, halbgeheitert, halbkreiseml, halbnnkenntlich, halb-
zürnend, Hallelujagesang, Harfenlaut, Harfentonsname, Heerchen = kleine
Heere, heilerfullt, Heilgeber, heiliggefaltet, Heilmeer, Heiltag, Heilungskraut,
heifsgefaltet, herabgaff*en, herabschmettern, herabschreien, herabstammeln,
herabstrahlen, heraWtönen, herabwanken, herabwehen, Heralde, heraufarbeiten,
heraufbeben, heraufbrausen, heraufglühen, heraufgrenzen, herauf klagen,
Heraufkunft, heraufrücken, heraufrufen, heraufsingen, heraufstrahlen, herauf-
tönen, heraufwandeln, heraufwanken, heraufwehen, heraushelfen, herbeiolasen,
herherrschen, herketten, herlahmen u. s. w." Es ^ind nicht blofs Komposita,
Projrramnienschau. 451
c
in deren Bildung Klopstock unerschöpflich war, die hier als in den Wörter-
büchern fehlend zusammengestellt sind, überall mit allen Belegstellen; auch
in Bezug auf eigentümlichen (lebrauch bietet die Abhandlung reichen Stoffi
und endlich auch bei den längst aufgenommenen Wörtern ist doch die
Autorität Klopstocks so wichtig, dafs auf ihn mehr als bisher geschehen
Rücksicht genommen werden muffte. Die Abhandlungen des Verf. ver-
dienen daher für die Zukunft wohl beachtet zu werden.
Lessings Hamburgische Dramaturgie als Schullektüre. Von
Dr. Schmitz. Programm des Gymnasiums zu Wehlau
1884. 24 S. 4.
Um die Hamburgische Dramaturgie dem Schüler näher zu bringen, dafs
er von ihr aus die unzulänglichen dramatischen Versuche der früheren Zeiten
wie die Meisterwerke der folgenden Generation richtig würdigen lerne, dazu
hat der Verf. den vorliegenden Versuch gemacht. P> teilt seinen Stoff in
drei Teile, im ersten führt er den Entwickelungsgang des deutschen Dramas
bis auf Lessing, mit besonderer Berücksichtigung Gottscheds, vor. Dieser
Teil hätte aber fehlen können; was da gesagt ist, weifs doch nicht blofs
jeder Lehrer, sondern es ist Gemeingut der gebildeten Welt. Der zweite
Teil will Lessing als dramatischen Dichter und dramaturgischen Schrift-
steller schildern und seine Verdienste um das Drama in das rechte Licht
setzen ; nachher be^eicllnet der Verf. richtiger den Inhalt als Lessings dra-
matische und dramaturgische Thätigkeit bis zur Dramaturgie. Da der Lehrer
auch hier nichts Neues findet, der Schüler aber schwerlich die Citate aus
Lessings Briefen nach der Maltzahnschen Ausgabe nachsehen wird, so wäre,
um Raum zu gewinnen, auch wohl dieser Teil besser weggeblieben. Der
dritte Teil endlich betitelt sich: Versuch, den Gesamtinhalt der Dramaturgie
nach bestimmten Gesichtspunkten zusammenzustellen, oder, wie es vorher
heifst, den überreichen Inhalt derselben in den Rahmen einer schematischen
Disposition zu bringen. Auf diese Weise soll eine vollständige Übersicht
über die Schrift gewonnen werden. Die Aufgabe ist nicht leicht. Der
Verf. legt sich die Lösung so zurecht, dafs er als Grundthema bezeichnet
die Klarstellung des Wesens des echten Dramas im Anschlufs an Aristoteles,
demnach seien die zwei Teile: Nachweis der bisherigen Regeln als irriger,
und Darlegung der Regeln des Aristoteles. Daraus sollen sich ergeben als
Unterabteilungen für den negativen Teil: deutsches und französisches Theater,
für den positiven einerseits die Gegensätze Tragödie und Komödie, anderer-
seits Definition der Tragödie und Hauptbestandteile, woran sich schliefsen
Einzelheiten das Drama betreffend und Zusammenstellung der auf Shake-
speare bezüglichen Stellen. In dieser Weise hat nun der Verf. den reichen
Stoff" zu ordnen gestrebt, und man mufs einräumen, dafs das innerlich Ver-
wandte mit Fleifs herausgesucht und aneinandergereiht ist. Überblicken
wir aber die ganze Zusammenstellung, welche die starke Hälfte der Arbeit
ausmacht, so vermissen wir trotzdem diesen und jenen Punkt der Drama-
turgie, den Lessing keineswegs für ganz unbedeutend ansieht; andererseits
ist die Disposition keineswegs leieht übersichtlich und einleuchtend. Der
erste negative Teil z. B. soll nachweisen, dafs die französische Tragödie
nicht die gerühmte Vollendung besitze, da sie auf unrichtigen, den Aristo-
teles mifsverstehenden Principien beruhe, also keine wahre Komödie im
Sinne des Aristoteles sei. Da wird man doch zunächst eine Bekanntschaft
mit den Grundsätzen des Aristoteles erwarten. Hier aber lautet die Dispo-
sition: a) das deutsche Theater, es ist verderbt, die Dichter sind unreif,
die Kritiker Schwätzer, das Publikum urteilslos, die Schauspieler zu empfind-
lich; Kritik deutscher Originaldramen, wie Cronegks Olint, Weifses Richard III.
Da ist also weder von Aristoteles noch von der französischen Tragödie die
29*
452 Programmenscliau
ö'
Rede; dieser erste Punkt konnte also nicht mit Fuji als erste Unterabteilunfr
des ersten Hauptteiles aufgeführt werden. Ahnliche logische Bedenken
lassen sich öfters gegen das Folgende erheben. Nirht sowohl als eine
Disposition möchte demnach die Arbeit bezeichnet werden, als vielmehr als
ein Index, der freilich nicht ganz vollständig ist; als solcher hat er seinen
^Vert. In der Einleitung s:iirt mit vollem Kecht der Verf. von der Drama-
turjrie. dafs erst durch sie über d;is Wesen und das Ziel des Dramas für
rille Zeiten unumstöfsliche Normen aufgestellt seien, dafs erst durch sie die
i'ranzösischen Regeln ihre richtige Beurteilung gefunden haben, die groben
Mängel der französischen Tragödie nachgewiesen seien. Nachher aber scheint
er durch Autoritäten sich haben bestechen zu lassen und will Lessings strenges
Urteil darum eingeschränkt wissen, weil, wenn die französische Tragik in
^Vahrheit Unnatur und Künstelei wäre, es unmöglich sein würde, dafs auch
heute, nach einem Jahrhundert der gewaltigsten staatlichen und gesell-
.»'chaftlichen Umwiüzungen, Corneille und Racine im Herzen eines grofsen
gebildeten Volkes noch immer ihre ungeschmälerte Geltung behaupten. Ist
dies Faktum ein Gegenbeweis? Dann würde auch zu folgern sein, dafs
X'ictor Hugos neueste Ergüsse, welche das grofse gebihlete Volk als höchste
Poesie anstaunt, mit Unrecht tolle Exklamntionen genannt werden. Und
bedingen die grofsen politischen Umwälzungen Vertiefung des feinen Ge-
schmacks? Ja, den ganzen Wert der Hamburger Dramaturgie reduziert
in der Note der Verf. auf ein Minimum, indem er erklärt: „Die französische
Tragö<lie ist nach Lessing keine Tragödie im Sinne des Aristoteles,
und darum keine wahre Tragödie." Dann ist die Hamburger Dramaturgie
nichts als ein Kommentar zum Aristoteles, Lessing ein gewöhnlicher Scholiast,
und es ist wieder zweifelhaft, ob überhaupt auf Aristoteles etwas zu
geben ist.
Die Lektüre der Hamburo^Ischen Dramaturcrie Lessino^s In der
Oberprima. Von Prof. L. Zück. I. Teil. Programm des
Gymnasiums zu Rastatt 1884. 26 S. 4.
Die zweite Hälfte dieses Programms enthält die praktische Anwendung
der Auseinandersetzung der ersten Hälfte , nämlich die Darstellung der
Lessingschen Kritik des Trauerspiels Olint und Sophrome von Cronegk und
seine Aufführung, oder einen Lehrgang, oder eine Lehrstunde über St. 1 — 7,
oder vielmehr nur den ersten Teil der Besprechung, nämlich der Kritik des
Trauerspiels; Raummangel bedingte den Abbruch mitten im Thema, die
Fortsetzung soll das nächste Programm bringen. Man kann über diesen
und jenen Punkt anderer Ansicht sein als der \'erf., z. B. über das bei-
läufig erwähnte innerliche Verhältnis der Emilia Galotti zu dem Prinzen,
über die sehr ausgedehnte Heranziehung der Schriftsteller, welche Lessing
in seiner Kritik erwähnt, insofern dadurch sehr viel Zeit beansprucht wird;
aber das mufs man zugeben, dafs durch die Art der Behandlung, welche
hier vorliegt, unzweifelhaft die Aufklärung und Bildung des Schülers sehr
gefördert wird. Diese Methode, alles genau anzusehen, überall zu fragen,
diß Begriffe allmählich zu klären, endlich systematisch zusammenzufassen,
mufs Frucht tragen. L'nd auch wenn man dies und das kürzer fassen, hier
und da, um schneller voranzukommen, den Lehrer vortragen lassen will,
statt den Schüler zu fragen, mufs man sagen, dafs, wenn dieser erste Teil
der Dramaturgie, diese erste Kritik in dieser Weise durchgemacht ist, der
Schüler so viel reifer im Selbstdenken, so viel reicher an wohlverstandenen
Begriffen geworden ist, dafs das \'erständnis des Folgenden ihm wenig
Schwierigkeiten mehr bereiten wird, die Lektüre viel rascher vorangehen
kann. Reifst man die Fragen aus dem Zusammenhange, welche der Verf.
stellt und beantwortet wissen will, dann mögen sie schwierig erscheinen;
Programmenschau. 453
aber der Zusammenhang lehrt, dafs sie (ler Schüler beantworten kann und
in seinem Denken lobenswerte Fortschritte gemacht, z. B. unter welchen
Bedingungen darf der dramatische Dichter als Genie bezeichnet werden?
Wann kann die Handlung wahrscheinlich genannt werden? AVas sind Leiden-
schaften? Welches ist der Unterschied in der Thätigkeit des Genies und
des Talents? Auf welchen Gebieten äufsert sich das Genie? Hier kommen
wir zu vortreft'lichen Dispositionsübungen. Die Gefahren des Genies, die
Notwendigkeit der Beschränkung, der Regeln, alles kommt dem Schüler zum
Bewufstsein. Weiter: Was heifst romantisch? Wann werden \ erstöfse
gegen die historische Wahrheit in der Dichtung zu Fehlern? Erörterung
des Begriffs der Schwärmerei an einzelnen Charakteren, Welches ist der
Unterschied zwischen einem falschen und einem wahren Märtyrer? In-
wiefern will das Trauerspiel angenehme Thränen erwecken ? Was sind
moralische Wunder? warum sind sie im Trauerspiel nicht zulässig? Mora-
lischer Endzweck der Tragödie? Was ist ein christliches Trauerspiel? ist
es überhaupt möglich?
Im ersten Teile seiner Abhandlung giebt der \ erf. die Stücke der
Hamburgischen Dramaturgie an, die zu lesen seien; man kann der Auswahl
nur zustimmen. Er setzt aber voraus, dafs der Schüler mit den Dramen,
welche Lessing kritisiert, bekannt sei ; sei das nicht der F'all, so bringe (h'e
Lektüre der Hamburgischen Dramaturgie für die Schüler mehr Nachteile
als Vorteile, Nachteile nämlich für den Charakter, sie lernten über Dinge
reden, die sie nicht aus eigener Anschauung kennen ; es müfsten daher schon
in der Obersekunda französische Dramen gelesen werden, Voltaires Semi-
ramis, Merope und Zaire, Corneilles Rodogune gehörten in den Kanon der
französischen Schullektüre. Ist das wirklich notwendig? Unsere an der
griechischen und deutschen Poesie genährte Jugend kann doch wenig Ge-
schmack finden an dem klassischen Drama der Franzosen. Und sodann
durch die Lessingsche Polemik und Kritik hindurch, deren Wahiheit sich
ihr von selbst aufdrängt, gelangt sie zu positiven Besultaten, welche für
sie die wichtigste Frucht der Dramaturgie sind; die Objekte, durch deren
Sektion die Wahrheit gefunden ist, sind für sie bedeutungslos. Der Ernst
der Lessinjischen Kritik imponiert ihr; wenn sie auch blindlings jetzt auf
Lessrng schwört, wird sie nicht damit zu leichtfertigem Aburteilen gebracht;
die Gefahr, welche der Charakter laufen soll, ist doch wohl nur erträumt.
Dafs der Verf auch sprachliche Eigentümlichkeiten, Satzbildung u. s. w.
beachtet wissen will, ist zu loben; auch auf die stilistische Bildung soll die
Dramaturgie wirken, und das ist nur möglich, wenn auf die präcise Schlufs-
folgerung, auf treffende Metaphern, prägnante Ausdrücke aufmerksam ge-
macht wird. Auch hier in dem ersten Teile erwähnt der Verf. die Emilia
Galotti als eine Charaktertragödie, in welcher der tragische Ausgang der Emilia
nicht ganz unverschuldet, sondern die naturnotwendige Folge eine tragische
Schuld und damit in ihrem Charakter begründet sei; diese Auffassung ist
bekanntlich heutiges Tages nicht mehr allgemein angenommen. Viele schöne
Aufgaben, die im Anschlufs an die Hamburger Dramaturgie der Schüler
mündlich oder schriftlich behandeln kann, sind hier und da vom Verf. an-
gegeben. Kein Lehrer des Deutschen in den oberen Klassen möge die Ab-
handlung unbeachtet lassen.
Zu Lessings Laokoon. Bemerkuno-en zu BUimners Laokoon-
Studien. Heft II: über den fruchtbarsten Moment. Von
Oberlehrer Dr. H. Fischer. Programm des Gymnasiums
zu Greifswald 1884. 24 S. 4.
Die Abhandlung gehört zwar grofsenteils in das Fach der Kunst-
geschichte, sie darf aber nicht ganz im Archiv übergangen werden ; es
454 Proorammenschau
o*
handelt sich um die AUgemeingültigkeit eines Lessingschen Satzes. Der
fruchtbars^te Moment, sagt bekttnntlich Lessing, ist derjenige, welcher der
Einbildungskraft das freieste Spiel läfst ; die höchste Stafl'el eines Affektes
bietet diesen Vorteil nicht, folglich darf diesen Punkt der Künstler nicht
wählen. Blümner hat nun nachweisen wollen, dafs eine grofse Zahl, viel-
leicht die Mehrzahl der als vollendet angesehenen Kunstwerke die äufserste
Stufe des Affekts zeigten, wonach dann Lessings Satz nicht zum allgemeinen
Princip erhoben werden dürfte. \'on einzelnen dieser von Blümner vor-
geführten Werke beweist nun aber der Verf., dafs der dargestellte Moment
keineswejis die höchste Staffel des Affekts bezeichne. Von der Laokoon-
pruppe giebt er zu, dnfs sie zur Erhärtung des Lessingschen Satzes wenig
geeifinet erscheine, aber bemerkt, dafs sie mindestens ebenso wenig zu
seiner Widerlegung geeignet sei. Mit liecht habe dagegen Blümner gesagt,
dafs die Grenzen dessen, was mit dem Schönheitsbegriff" der Griechen ver-
einbar war, viel weiter waren als Lessing sieh habe träumen lassen. Auch
giebt er Blümner zu, dafs die christliche Malerei des Mittelalters vor der
Darstelluns: von Gegrenständen des äufsersten Affekts oder des höchsten
Punktes der Handlung keineswegs zurückgeschreckt sei ; diese Kunst habe
ja mehr im Dienste der Keligion als der Schönheit gestanden. Einzelne
grofse Meister der modernen Kunst führt dann der Verf. vor, um an ihnen
Blümners Widerspruch zu prüfen. Da sehen wir denn, dafs selbst der
kühnste von allen, Michelangelo, nur in wenigen Werken den Höhepunkt
der Handlung gewählt hat, sonst immer einen dem Gipfel der Handlung
bald vorangehenden, bald nachfolgenden Augenblick. Die weiteren Aus-
einandersetzungen des Verf. über Rafael, Correggio, Tizian, Dürer, Rubens,
die Maler der Gegenwart müssen hier übergangen werden ; wir empfehlen
sie allen denjenigen, welche sich für die Kunst und die Afterkritik inter-
essieren, die letztere bekommt manches verdiente Wort zu hören. Der
Verf. schliefst damit, dafs er Blümners Einwendungen gegen den Lessing-
schen Satz als im wesentlichen unbewiesen erklärt, dafs zu allen Zeiten
wahre Künstler bei Darstellunor von Handlungen, welche mit hoher Steige-
rung des Affekts verbunden sind, es vermieden haben, den höchsten Punkt
der Handlung zu wählen, dafs es aber auch ^Verke giebt, bei denen es dem
Künstler gar nicht darauf ankommt, die Phantasie anzuregen, sondern eben
nur den dargestellten Moment zu zeigen. Somit bleibt es bei der Gültig-
keit des Lessingschen Satzes als eines allgemeinen Kunstgesetzes.
Goethe als Student in Leipzig. Von Prof. L. Blume. Pro-
gramm des akademischen Gymnasiums in Wien 1884.
19 8. gr. 8.
Der noch verbreiteten Meinung gegenüber, als ob Goethes Lebensweg
so glatt und geradlinig gewesen, dafs ihm jeder Umweg und jede Ver-
irrung auf demselben erspart geblieben sei, will der Verf. nachweisen, dafs
auch in Leipzig Goethe mancherlei Wandlungen innerlich durchgemacht
habe. Die Beweise dafür sind richtig beigebracht; sie lagen aber schon
in der bisherigen Litteratur über diese Periode vor; wer mit dieser bekannt
ist, findet hier neue Aufschlüsse nicht-vor; eine geschickte Zusammenstellung
des Bekannten ist jedoch der Arbeit nicht abzusprechen.
Zu Goethes Gedichten. Von Karl Rieofer. Programm -des
Franz-eToseph-Gymnasiums zu Wien 1884. 16 S. gr. 8.
Der Verf. setzt das Gedicht „Beherzigung" in das Jahr 1775 nach der
Rückkehr von der Schweizerreise, wo Goethe doch nicht wufste, ob er
bleiben solle; in dem Gefühl der Unruhe gebe sich der Dichter den Be-
Programmenschau. 455
scheid, dafs jeder nach seinem Triebe handeln, aber sich treu bleiben müsse.
Gleichzeitig, dieselbe Situation darstellend ist dem Verf. das Gedicht „Er-
innerung". Von der Kantate „Rinaldo", welche 1811 entstanden, giebt der
Verf. eine Einzelerklärung. Er giebt die vielfachen Anklänge an das dem
Dichter von Jugend an bekannte Gedicht Tassos an, sowie aber auch die
darin sich aussprechende Stimmung Goethes; damals habe derselbe bei der
Arbeit an seiner Autobiographie in der Erinnerung sich wieder ganz in die
Jugendzeit versenkt, und sein innerliches Verhältnis zu Lili klinge noch
einmal wieder aus diesem Gedichte uns entgegen. Die Erklärung hat viel
für sich,
Goethes Iphigenie auf Tauris, nach den vier überlieferten
Fassungen. \^on M. Reckling. Programm des Gym-
nasiums zu Buchsweiler 1884. 32 S. 4.
Die Arbeit weist mit minutiösem Fleifse nach, wie, je mehr sich die
Gestalt der Heldin dem Dichter verklärte, er um so mehr strebte, dieser
Gestalt die reinsten Farben zu geben, und mit welcher minutiösen Sorgfalt
er dabei zu Werke ging, bis er endlich seiner Dichtung diesen bezaubernden
Wohllaut der Sprache verliehen hatte. Die vier Bearbeitungen sind 1883
von Bächtold herausgegeben, es sind die erste Prosafassung von 1779 (A),
die Fassung in freien lamben von 1780 (B), die dritte Prosabearbeitung
von 1781 (C), endlich die letzte Bearbeitung in fünffüfsigen lamben (D).
Dazu kommt noch die sogen. Strafsburger Fassung, welche Bächtold vor B,
dagegen der Verf. wegen der hier aufgezählten Abweichungen von A und B
nach B setzt. Über die Entstehung und Weiterbildung der Jphigenie hat
Düntzer die Beweisstellen gesammelt, aus denen der Verf. einen Auszug
giebt. Die sowohl Motivierung als Stil berücksichtigende stete Vervoll-
kommnung des Gedichtes tritt uns erst bei einer sorgfaltigen Vergleichung
der verschiedenen Fassungen entgegen, und der Verf. der Abhandlung hat
sich das grofse Verdienst erworben, diese aufs genaueste vorgenommen und
die Änderungen nach bestimmten Gesichtspunkten geordnet zu haben, und
zwar vergleicht er zuerst die drei Bearbeitungen A,B,C und zuerst in Stil
und Ausdruck; demnach sind die Änderungen in C mehr dem Charakter der
redenden Person angepafst, so dafs der Ausdruck edler wird, im Einzelnen
findet sich gröfsere Präcision, unnötige Worte sind gestrichen, aber es werden
auch fehlende Zwischengedanken ergänzt, Sätze zu besserer Verbindung
umgestellt. Zweitens verwendet der Dichter in C verschiedene Mittel, um
einen gewissen poetischen Rhythmus zu schaffen. Sodann werden ausführ-
licher C und D verglichen ; die Änderungen sind ungemein zahlreich und
legen so recht klar die wachsende Vertiefung des Dichters in sein Werk
dar, da zeigen sich die vielen Änderungen in Bezug auf den Ausdruck und
Stil, die der Situation und den Charakteren mehr entsprechen, den Ausdruck
veredeln, verdeutlichen. Unnötiges und Unpassendes entfernen, fehlende
Zwischengedanken ergänzen, epische Fülle erstreben, durch Personifikationen
die Diktion poetischer machen. Dazu sind natürlich die Änderungen aus
metrischen Rücksichten sehr zahlreich, welche wiederum von dem Verf.
nach verschiedenen Gesichtspunkten wohl geordnet sind, ^^'ie es nun kam,
dafs das Gedicht in seiner neuesten, uns so fesselnden Gestalt ohne Be-
geisterung von den Zeitgenossen aufgenommen wurde, wird erklärt dadurch,
dafs man die alte Form gewöhnt war; so erklärt sich Goethe selbst das
Auffallende. Der Verf. findet den Grund aber darin, dafs damals noch die
ästhetische Urteilskraft nicht gebildet genug war, um die neuen Schönheiten
zu fassen, dafs damals noch die Sturm- und Drangperiöde nichf vorüber
war, das Publikum noch für Schillers erste dramatische Kraftdichtungen
schwärmte. Gerade Schiller aber war es, der damals die neue Iphigenie
viel vollkommener als die frühere nannte.
456 Programmenschau.
Die Schicksalsidee in Schillers ^Yallensteiu. Von Dr. F. G.
Hann. Programm des Gymnasiums zu Klagenfurt 1884.
17 S. gr. 8.
Der Wallenstein, sagt der Verf., ist eine rechte Schicksalstragödie im
antiken Sinne. Die Schicksalsmacht tritt auf in der Form des Gestirn-
glaubens, der Gestirnglaube und folglich die Schicksalsidee ist die wirkende
und stürzende Macht, der Lebensnerv des dramatischen Werkes; diese Schick-
salsidee in Schillers Wallenstein sei bisher zu wenig gewürdigt. Der astro-
logische "Wahn Wallcnsteins? Doch wohl nicht. Aber kämpft denn AV alien-
stein gegen diesen Gestirnglauben, der doch das Schicksal sein soll, an?
Kann da von einer Schicksalstragödie die Rede sein? Der Verf. wird sich
düoh wohl mit der vulgären Ansicht vertragen können. Es ist eine Fort-
setzung der Arbeit versprochen ; möge diese nicht mit so zahllosen Druck-
fehlern überladen sein, wie dieser erste Teil; der ärgste ist S. 5: „die ent-
scheidende Tat, der vßgig welcher mit Notwendigkeit des Helden Unter-
gang herbeiführt, ist getan."
Herford. Hölscher.
M i s c e 1 1 e n.
Faust und Proserpina.
Goethe schrieb am 23. September 1800 an Schiller: „Meine Helena ist
die Zeit auch etwas vorwärts gerückt; die Hauptmomente des Plans sind in
Ordnung u. s. w. Das sehe ich schon, dafs von diesem Gipfel aus sich
erst die rechte Aussicht über das Ganze zeigen wird", worauf Schiller er-
gänzend antwortete: „Dieser Gipfel, wie Sie ihn selbst nennen, mufs von
allen Punkten des Ganzen gesehen werden und nach allen hinsehen."
Am 5. Juli 1827 äufserte Goethe zu Eckermann: „Ich hatte den Schlufs
(der Helena) früher ganz anders im Sinne, ich hatte ihn mir auf verschie-
dene Weise ausgebildet und einmal auch recht gut; aber ich will es euch
nicht verraten. Dann brachte mir die Zeit dieses mit Lord Byron und
Missolunghi, und ich liefs gern alles Übrige fahren." Am 15. Januar 1827
hatte er zu demselben folgende Aufserung gethan: „Fausts Rede an die
Proserpina, um diese zu bewegen, dafs sie die Helena herausgiebt — was
mufs das nicht für eine Rede sein, da die Proserpina selbst zu Thränen
davon gerührt wird!"
Dies sind die bedeutsamsten Bemerkungen Goethes über seine Helena-
Schöpfung — wenig genug, um ein völlig sicheres Bild zu bekommen ; nur
soviel erhellt, dafs die Ausführung wesentlich anders geworden ist, als ur-
sprünglich beabsichtigt. Auf jenen Bemerkungen, sowie auf einer gründ-
lichen Erwägung des überlieferten Helena-Textes fufsend, äufsert der scharf-
sinnige Goethefoi scher Wilhelm Scherer* sich in sehr einleuchtender, ein-
dringlicher Weise über die Art und Weise, wie der Altmeister vermutlich,
ja höchst wahrscheinlich, seine Helena anfanglich im Sinne gehabt hatte.
So auch nimmt er bestimmt an, dafs zwischen dem zweiten und dritten Akte
eine Lücke ist, wie schon aus obigem Gespräch mit Eckermann ersichtlich,
indem an fraglicher Stelle Fausts Eintritt in die Unterwelt und die Erwei-
chung der Proserpina behandelt werden sollte. Ich stimme dieser Ansicht
Scherers vollständig bei, wenngleich v. Loeper (in seiner zweiten Faust-
Ausgabe) dagegen spricht: „Goethe hatte die Absicht, die Scene in der
Unterwelt auszuführen, wie Faust, ein anderer Orpheus, die Helena durch
seine rührenden Bitten der Proserpina abgewinnt; nicht blofs die Schwierig-
keit, sondern wohl noch mehr die Einsicht, dafs sie dramatisch entbehrlich
sei. wird den Dichter von der Ausführung abgehalten haben." Ich bedaure,
dafs wir die unentbehrliche und wirksame Scene nicht von Goethes Meister-
hand besitzen, und habe nun den Versuch gewagt, unter Anlehnung an
* Deutsche Rundschau 1883/84.
458 Miscellen.
Goethes Sprachweise und Gedankenrichtung die Lücke zu füllen — ein
gewaltif^es Wagnis, um so mehr als von dem Altmeister selber sonst nicht das
mindeste Stoffliche vorliegt. Dabei hege ich nichts weniger als den Gedan-
ken, irgendwie Goethes Geistestiefe und Formgewandtheit nur einigermafseii
erreicht zu haben. Immerhin sei meinem \'ersuche eine freun<11iche Auf-
nahme entgegengebracht.
Zauberhafte matt erhellte hühlenartisre Hnlle mit natürlichen rohen Pfeilern von glitzerndem
Gesteine. Der bekränzte Thron der Proserpina in Mitte der Mittelbiihne. Rechts vom Zu-
schauer: die 12 Eumeniden — mit braunen, langwallenden Gewändern, weit herabliängen-
dem. schwarzlockigem Haar, kurzen, zurückgeschlagenen, hellgrauen Sehleiern und Fackeln in
den Händen. Links: die 12 Erinnyen — mit dunkelgrauen, kurzgehaltenen Gewändern,
schwarzem, dicksträhnigem Haar, Schlangengeifsehi in den Händen.
Semna (Eumenide, zu den Erinnyen).
Wilde Schwestern, zögert nicht lange —
Auf! hinab in den Tartarus!
Wenn euch die Königin säumig findet,
Schilt sie mit Recht und straft euch hart.
Alekto (Erinnye).
Schwestern nennst du uns, böse Semna?
Gönnst uns den Raum nicht am Herrscher thron!
Ob wir Erinnyen, ihr Eumeniden —
Sind — bei Styx! — nicht geringer als ihr!
Semna.
Ei, Alekto, willst du mich lehren,
Tochter der Nacht, wie Proserpina denkt?
Sanft ist das liebliche Kind der Ceres —
Sie verachtet euer Geschlecht.
Schlangenhaarige, Geifseltragende,
Dolch- und Giftgerüstete, weicht!
Horcht — ich höre der Königin Nahen —
Eilt, ihr Schwesterlein! flink davon!
(Leiser Donner.)
Hekate (Eumenide).
Friede, Schwestern zur Rechten und Linken,
Heiliger Friede walte hier,
In der Proserpina würdigen Hallen,
Bis an die Ufer der Lethe und Styx!
Alekto (gegen Semna).
Bitter ist, verschmäht sich sehen ! —
Dienerinnen der Herrscherin
Sind wir wie ihr! und doch verachtet — «
Heuchlerinnen durch euer Spiel! —
Komm, Tisiphone! komm, Megära ! —
Gleisnerinnen, gedenkt des Worts:
Büfsen sollt ihr uns eure Ränke
Ohne Gnade — Rache ist süfs!
Semna.
Eilt, dem finstern Pluto zu schmeicheln!
Lafst uns unsere Königin !
Euch ist der Tartarus angewiesen —
Zögert nicht länger — Proserpina naht !
Miöcellen. 459
Alekto.
Schwestern, kommt, dem Pluto zu klagen,
Und der Rache zu denken — fort!
(Die Erinnyen stürzen nach links ab.)
Semn a.
Rüstet euch, rüstet euch, liebe Schwestern !
Fackeln hoch ! Die Königin !
(Pause. Proserpina — mit langem hellblauem Faltenkleid, lang hcrabwallendem Schleier,
Stimreif, myitengeschmückt, einen Stab in der Hand haltend — kommt auf einem prächtigen
Wagen, mit zwei schwarzen Stieren bespannt, von rechts ans^efahren. Der Donner verhallt, der
Wagen hält. Sie steigt ab, der wagenlenkende Knabe fährt nach links weiter. Die Eumeniden
verbeugen sich und gruppieren sich um den Thron, zwei Fackeln werden zu Seiten desselben
aufgestellt.)
Proserpina (auf dem Tluonsitze sich niederlassend.)
Ich sah : soeben wichen die Erinnyen.
Sie scheun mit Recht mein Auge, denn ich hasse sie!
Auf des Olympus sel'gen Höhen weilte ich
Und auf des Erdenrundes friedlichem Gefild,
Wo ich die Mutter kos'te. Nun zurückgekehrt,
Ist mir das grause Nachtgezücht des Tartarus
Noch ekler und verhafster als zuvor. Doch euch,
Ihr Wohlgesinnten, biete ich den Willkommgrufs !
Euch bin ich immer eine gnäd'ge Königin.
Semna,
Wir wissen es, erhabne Herrscherin, dir Dank
Und harren der Befehle, dir zum Dienst bereit.
Proserpina.
Geh, Hekate, dem König mich zu melden. Sag :
Ich habe mich gerissen von der Mutter Brust,
Es drängt mich zur Umarmung meines Gatten nun.
Hekate.
Ich eile, Herrliche. (Nach links ab.)
Proserpina.
Du, Semna, gehst zum Strand
Der Styx, um mir Granaten abzubrechen, dann —
Merk auf — zum Lethestaden, pflück mir milden Mohn,
Mein armes Herz zu trösten nach der Trennung Weh.
Und ihr, Geliebte, bleibet nahe. Kora, komm
Und lehn den Kopf an meine Kniee, Glaub mir, Kind:
Die Erde ist doch herrlich, schöner als Olymp.
Mit stiller Rührung denke ich vergangner Zeit,
Da ich als zarte Jungfrau noch auf Bluraenaun
Lustwandeln ging, Narcissenkränze windend — ach I —
Weit glücklicher als jetzo hier, obgleich man mich
Als mächt'ge Fürstin dieses gröfsten Reichs verehrt.
Noch fühl ich, wie der jähe Schreck mein Herz durchfuhr,
Als plötzlich aus dem finstern Schlund des Feuerbergs
Sich Pluto stürzte, einem wilden Geier gleich,
Der auf das Lamm schiefst, gierig mich nun an sich rifs
Und in dies ewig-nächt'ge Reich hinuuterzog.
Wohl liebt des Schattenlandes stolzer Herrscher mich —
Erschlofs er doch die unterird'schen Schätze mir,
Freigieb'ger Hand zu bieten sie der Oberwelt — ,
460 Miscellen.
Erkennen lernt ich Plutos reiches Herz und ihn
Verehren, ja: ihn lieben. Aber nimmer kann —
Nach Schluls des finstern Schicksals — nimmer kann
Ich Kinderglück ihm schenken. — Ewig unfruchtbar
Vertraure ich die lange, lange Götterzeit.
(Sie verhüllt ihr Gesicht. Pause.)
Hekate (zurückkehrend).
Der König beut dir seinen Gruls; er werde bald
Sich deinem Throne nahen, dich ans Herz zu ziehn —
Was hast du, Edle, Hohe? — Soll Gesang und Tanz
Das Auge dir erheitern? Sprich, Proserpina!
Proserpina (wie träumend).
Ich sah auf Erden manches glückbeseelte Paar —
Und Kinder, Kinder ungezählt. Warum nur ich
So arm und freudlos? Wehe!
Sem na (zurükkehrend, eine Schale tragend).
Edle Königin,
Hier ist, was du begehrtest: sanfter Mohn, und hier —
Hier sind Granaten, schönre hast du kaum gesehn.
Wie, Fürstin? so ergriffen plötzlich? — Kora, red!
Proserpina.
0 hätte nie mein Auge die Granaten frucht
Geschaut und lüstern schmeichelnd mir zum Mund gelockt!
Ich weilte heut noch unterm Licht der Sonne ! . . .
Semna.
Dich trifft der Tadel, Kora, unerfahrnes Kind :
Nicht hast du ihr, wie deine Pflicht gebot, gedient;
Sonst hättest du die Grillen munter weggescheucht.
Ihr auch, ihr habt nicht wohlgethan —
Prosperina.
Gieb, Semna, schnell!
Gieb Mohn, mein wundes, wildes Herz zu sanften! gieb!
Und reich mir von der gleifsend roten Frucht, dafs ich
Erstarke, Liebe, ehe mein Gemahl mich sieht.
Hekate.
Mich dünkt : ich höre seinen eil'gen Schritt. Es hallt
Dumpf dröhnend durch die Hallen und die Höhlen hin.
Und hört ihr nicht den heisern Ruf des Cerberus?
Semna.
Nein, nein — ha! wer ist der?
Faust (von rechts heranstürmend).
Wo ist sie? wo ist meine Helena? —
Und wer ist diese? Du Proserpina?!
(Sinkt vor dem Throne nieder.)
Proserpina.
Wer bist du, sonderbarer Fremdling? sag geschwind!
Fürwahr, mit höchstem Staunen schaue ich dich an:
Die Locke ist dir unverschnitten, und dein Blut
Durchschiefst die Adern heftig Wie dein Auge blitzt!
Du hast die glühen Scheitern nicht durchschritten.
MIscellen. 461
S emna (zu Hekate)
Schau :
Die schlimmen Lamien haben dem das Hirn uniAvölkt!
Faust.
Zu Füfsen dir, erhabne Königin,
Lafs mich die eine, einz'ge Bitte thun :
O gieb mir sie, gieb Helena mir hin,
An ihrem sül'sen Busen lal's mich ruhn,
Proserpina.
Er will — habt ihr vernommen? — will der Leda Kind
Zu seiner Lust gewinnen aus der Unterwelt !
Sprich, INIann: wie trug dein kecker Ful's dich her? Sprich, sprich!
Faust.
Nein, Fürstin, lenk nicht ab. Erfüll mein Flehen,
Mein dringend Flehen! Ach, ich weils: es ist
Ein Kleines dir, so ist das Werk geschehen —
Ein Wink! — und sie ist mein zu dieser Frist!
Proserpina.
Ihr treuen Eumeniden, ist's nicht unerhört?
Wie kam der stolze Erdensohn in unser Reich ?
Ist denn nicht mehr verschlossen diese Unterwelt
Jedwedem, welcher zugeeignet uns nicht ist?
Und rauschen nicht die Ströme wild um unser Land,
Versperrend jedem Lebenden den Eintritt hier?
So müssen wir uns sorgen unsrer Sicherheit !
Erinnyen ! wo weilen nun die Säumigen?
Geh, Hekate — die Grimmen sollen gleich — Nein, bleib —
(Zu Faust.)
Du kühner Mensch, erbleichen mufst du bei dem Wort
Erinnyen ! und denken an die schnellste Flucht —
Wenn du dein Leben wahren willst, so fleuch geschwind !
Faust (sich stolz bewufst erhebend).
Erinnyen? Was soll es? Nein, du schaust
Mich ruhig, Wifs, dafs denen nimmer Macht
Gegeben über mich. Denn ich bin Faust
Und spotte solchen Hirngespinsts der Nacht!
Proserpina.
Ist das dir nicht genügend, eitler Erdenwicht,
So beb vor Plutos Antlitz ; denn er selber komnot
Sogleich hierher, der mächt'ge Herr des Schattenreichs.
Faust. '
Er komme nur; ich hege festen Sinn.
Gewalt'ger, spräche ich mit freiem Wort,
Gewalt'ger, gieb schön' Helena mir hin,
Lais mich sie ziehn aus diesem Schauerort !
Proserpina.
Hört, hört ! noch hab ich solchen Menschen nie gesehn.
Der wagt, zu spotten also unsres Reiches Macht!
(Zu Faust.)
Ich halt's für Pflicht, zu mahnen, dafs du deines Heils
Gedenkest, Thor mit deinem überkecken Sinn.
462
Miscellen.
Faust. '
Lafs Helena mit freiem Willen ziehen —
Sonst zwing ich dich ! Mir ist die Kraft verliehen.
Proserpina (drohend den Stab erhebend).
Geduld, Geduld! Ich lache deines tollen Muts,
Und wollte ich, so lägest du entseelt vor mir.
Doch will ich nicht. Ich hoffe: friedlich scheiden wir.
(Für sich.)
Der Fremdling rührt mit seiner stolzen Zuversicht
Mich schier und der Erscheinung Anmut, "Wahrlich — schön
Ist dieser Jüngling . . .
(Zu Faust.)
Jede Feindung sei uns fern.
Nimm dessen zum Beweise diese Frucht von mir.
Ich weifs: sie wird dir herrlich munden — Frisch versucht!
Und du wirst mehr begehren dieser seltnen Kost.
Sem na.
Ei, wie listig die Herrin ist !
Fesseln möchte sie diesen Fremden
Sich zur Labe in ihrem Reich.
Ob er die gleisnische Frucht wird naschen?
Hekate.
Ja, er stutzt — er schaut die Frucht,
Schaut der Fürstin fragend ins Auge.
S e m n a.
Nein, er lächelt, als ahne er,
Was die Stolze im Busen erwäget.
Proserpina.
Du zögerst? Die Granate nimm aus meiner Hand!
Was Sterblichen sonst unvergönnt, das beut sich dir.
So nimm! Noch immer zweifelnd? Nimm die Frucht, mein Freund!
Faust.
Nein, Herrin, nein ! entschuld'ge mich ! Viel Dank !
Geschworen habe ich den festen Eid,
Zu kosten weder Speise, noch auch Trank,
Bevor gehoben ist mein Herzeleid,
Und du die schöne Helena ins Leben
Zurückgegeben und für mich gegeben !
(Er blickt Proserpina bittend an. Da sie schweigt, fährt er leidenschaftlicher fort:)
Heg Mitleid ! — Als Aurora schon erschien
Die Holde oft vor meinen trunknen Sinnen,
Und jetzo sollte sie mich schnöde fliehn?
Nein, nein — ich mufs, ich mufs sie mir gewinnen I
Mich dünkt : ich fühle sie mir nah, so nah —
Ach, Helena! wo weilst du? — Ha!
(Proserpina hat leise mit den F^umeniden gesprochen und dann eine beschwörende Hand-
bewegun? gemacht Helena als Schatten schreitet langsam, gedankenlos von links über die
Bühne Faust sinkt in wildem Entzücken ihr zu Füfsen:)
Du bist's! Ich habe dich herbeigezogen
Mit meines festen Willens Zauberkraft,
Ich sehe, dafs mein Glaube nicht gelogen.
Da, Helena, bist meines Daseins Haft !
(Sie schreitet weiter. Faust springt auf.)
Miscellen. 463
Nun zögre, Göttin, Einz'ge zögre, weil'.
Und Minnewonne werde mir zu teil!
(Sie entweicht seinen Armen nacli dem Hintergrunde zu.)
Was ist das? Heifse Sehnsucht der Umarmung
Ergreift mich — Sie entschwindet meinen Händen !
Erbarmung, o Proserpina, Erbarmung !
Mach Ernst und lafs dies Gaukelspiel sich enden!
(Helena verschwindet im Hintergründe. Faust ihr nachstrebend:)
Halt! halt!
Proserpina.
Geraach, mein Freund, gemach!
Faust.
0 Helena!
(Verzweiflungsvoll zurücktaumelnd :)
Sie ist entschwunden — ach !
Pro. s erpin a.
Ein Schatten nur ist Helena; als solcher weilt
In unserm Reich Jahrtausende sie schon. So ist's
Das Schicksal aller Sterblichen, wann sie verblüht
Den Scheitern übergeben werden: die Gewalt
Der Lohe zehrt der Sehnen Bindekraft gar schnell,
Zehrt Fleisch und Bein. Ein Schatten bleibt die Seele nur,
Ein luft'ges Traumbild einst'gen Erdenseins zurück,
Und so entschwebte Helena dir aus dem Arm.
Faust (der Proserpina zu Füfsen fallend).
Gewalt'ge Herrscherin im Schattenreich,
Der grofse Faust liegt vor dir — zagend, bleich — ,
Erflehend, was er zu ertrotzen wagte.
Als ich vermefsnen Thuns „ich will es!" sagte,
Da zeigt ich mich als Thor ohn Überlegung.
So mögst du nun aus sanften Mitleids Regung
Mir gönnen meines Lebens einzig Ziel,
Das grofse Ziel des Sehnens und des Stiebens.
Sie mir gewähren, ist für dich ein Spiel —
Ich weifs es, und ich bitte nicht vergebens.
Ich fühle, wie des Schicksals Stimme spricht:
Ja, Faust, der Sieg erblüht der Zuversicht!
Proserpina, so sei mir gnädig, neig mir
In Hulden deine edle Königstirn,
Gewährung lächelnd meinem Wunsch, und zeig mir,
Dafs nicht der Tollheit Raub dies Menschenhirn.
Altäre will ich dir zum Dank errichten,
All andre Götterhuldigung vernichten —
Sei gnädig, Fürstin, mir — Proserpina
Ist ewig meine Losung ganz allein.
Nur sprich zum Trost das grofse Wort mir: Ja,
Die holde Helena soll dein sein, dein!
Pros erp ina.
Wer einmal meinem Reiche angehöret, kehrt
Nie auf die lichte Oberwelt, ins Leben heim.
Faust.
Nein, halt, erhabne Herrin, daf< ich dich
Gemahne alter, längst vergangner Zeit,
46-4 Miscellen.
Als jener grolse Sänger, weit und breit
Berühmt, der edle Sänger Orpheus sich
Aus Harm entschlofs zum düstern Niedergang
Und mit dem wonniglichen Saitenschlage,
Mit seiner rührungvollen Sangesklage
Dem strengen Pluto in die Seele drang
Und ihn erweichte, dafs er ihm die treue
Geliebte Gattin gab aufs neue . . .
0, war ich Orpheus! Aber nimmer habe
Ich eine gleiche, wirkungstarke Gabe.
Proserpina.
Wohl war das eine grofse That, doch sicherte
Sie nicht des neuen Lebens Frist Eur\'dicen ;
Noch an der Schranke beider Welten wies sich's schon.
Urfest ist, was das Schicksal sinnt: Jedweder ^lensch.
Der einmal unser eigen ist, verläfst nicht mehr
Das stille Land der Schatten, und die Rückkehr in
Des Lebens muntern Reigen ist verschlossen ihm.
Fau s t.
Ach, war es nur ein kurzer Augenblick,
Den mir in Huld vergönnte das Geschick,
Zu ruhen in der schönen Griechin Armen !
Dann wollte ich mich gern dem Tode weihn
Und ewig, ewig euer sein —
Proserpina, Erbarmen !
Proserpina.
(Ihr Gesicht verhüllend und mit der Hand abwehrend.)
Lafs ab, mein Freund, lafs ab!
S emna.
O Fürstin, sieh uns bittend vor dir stehn — Gewähr
Des Edlen Bitte.
Proserpina.
Selber bin ich tief gerührt —
Die Thräuen netzen meine Wange — unerhört!
Und bin ich doch die Herrscherin der Unterwelt!
Ich dürfte nicht — und dennoch mufs ich wollen — Auf,
Es sei! — Erheb dich, Heldenjüngling, welcher du
Die Unterwelt durch deines Willens Macht besiegt.
(Sie ergreift seine Hand. Faust steht auf.)
Jedoch zuvor erfahren mufst du den Beding,
An den sich die Erlangung deines Wunsches knüpft.
Nur als des Lebens Schattenbild kehrt Helena
Zurück auf eure Oberwelt, wenngleich das Blut
Die Adern neu belebend ihr durchrieseln wird.
Es ist nur halbe Wirklichkeit, ein Schein des Seins.
Dafs einmal sie dem Lichte schon entrissen, hier
In meinem Reich geraume Frist geweilt hat, soll
Aus dem Gedächtnis ihr entrückt sein, alles auch.
Was seit dem Falle Trojas sich begeben hat.
Doch wohl bedacht, du Kühner, wohl bedacht:
Wird die Erinnrung des Vergangnen ihr geweckt,
Und ziehet je das Bild des eignen Todes ihr
Ins dämmernde Gedächtnis ein, ihr sagend, dafs
Miscellen. 465
Sie mein war, in des Orkus Dunkel schon geweilt,
So schwindet ihr des Lebens Schein aufs neue, und
Sie kehrt zurück auf ewig zu den Schatten.
Faust.
Es sei! Ich habe Wort für "Wort geschrieben
In meine Brust und hefte die Erringuno-
Des heifsen Wunsches ganz an die Bedingung,
Die du gestellt. Mir blüht ein stolzes Lieben!
Wo weilt sie noch? Nicht länger lafs mich schmachten!.
Komm, Helena, an deines Helden Brust;
Wir wollen auf das höchste Dasein trachten,
Dafs selbst die Götter neiden unsre Lust.
Pros erpin a.
Gemach, mein Freund! Es nahet leicht einmal die Zeit
W^o alle Lust des höchsten Daseins dir verraucht.
Für jetzt ist Helena dein eigen. Steig hinauf.
Um nur zurückzukehren, wenn des Lebens Frist
Dich unserm Reiche eignet. Steig hinauf — bei Styx!
Mein W^ort ist fest, vertrauen mufst du. Helena
W^ird in dem Licht der Sonne dein sein, wird sich bald
Dir einen zu der schönsten Minne. Nun leb wohl!
Auf Wiedersehen an dem Eand der Zeit !
Faust.
Mit dankerfülltem, vollem Herzen scheid ich,
Proserpina, und nicht den Himmel neid ich!
(Er eilt rechts ab.)
Proserpina.
Wohlan, so geb ich Helena der Bande los.
Nun schnell zur Arbeit! schlachtet mir ein schwarzes Rind,
Dafs sich die Schöne labe an dem frischen Blut
Und neu empfänglich werde für das Licht der Welt.
Lafst auch der Dienerinnen Schar erquicken sich,
Gefangene Trojanerinnen schmuck und traut,
Dafs sie getreu ihr folgen auf dem Erdenstieg.
Doch sorgt, dafs ihnen allen erst im Oberland
Zurückkehrt das Bewufstsein ihres Daseins, und
Sich der Erinnrung Faden knüpft an Trojas Fall.
Die grofse Lücke jeuer langen Zwischenzeit
Sei mit dem Schleier finstrer Nacht verhüllt. Genug,
Ihr wackern Eumeniden ! an die Arbeit jetzt!
(Einige ab in den Hintergrund.)
Hekate.
Horch, der Herr und Gebieter nahet!
Sieh, wie verlangend sein Auge leuchtet,
Schöne Königin !
Proserpina.
Mein Gatte — ja ! Entgegen eil ich ihm vom Thron,
Das Herz ihm zu erfreuen durch der Neigung Blick.
(Sie geht nach linlis ab. Einige mit Fackeln folgen.)
S emna.
Eines las ich im Auge der Fürstin :
Wenn auch Helena uns entrückt wird
Auf die Oberwelt —
Archiv f. n. Sprachen. LXXIIT. 30
466 Miscellen.
Nicht zerrissen sind die Bande,
AV'ieder kehret sie hierzuhmde!
Schwestern, an das Werk !
(Indem sie mit den übrigen in den Hintergrund abgeht, fällt der Vorhang.)
Adalbert Rudolf.
Ein Verdeutschungs- Wörterbuch.
Der hochverdiente Professor ür. Daniel Sanders in Alt-Strelitz beab-
sichtigt die Herausgabe eines Verdeutschungs- Wörterbuchs, über dessen Plan
er nachstehende Mitteilungen macht:
Es soll und wird die Mitte halten zwischen meinem „Fremdwörterbuch"
und meinem „Deutschen Sprachschatz". Das erstgennnnte Werk ist haupt-
sächlich für alle die bestimmt, welche über ihnen aufstofsende Fremdwörter
Belehrung suchen, sei es über die Bedeutung, die Aussprache, die Abwand-
lung, die Fügung im Satze etc., oder welche, wo es sich um seltene Aus-
drücke handelt, Belege für das Vorkommen zu haben wünschen. Für alles
dies glaube ich zur Genüge in meinem „Fremdwörterbuch" gesorgt zu haben,
in welchem ich eine möglichst erschöpfende V^oUständigkeit erstrebt habe.
Als hauptsächliche Benutzer dagegen des beabsichtigten „\ erdeutschungs-
Wörterbuches" denke ich mir namentlich Leute, denen sich im gegebenen
Falle ein ihnen nach allen Beziehungen bekanntes und geläufiges Fremd-
wort zunächst in den Gedanken und in die Feder drängt und die doch von
dem Wunsche beseelt sind, diese die Einheitlichkeit und Reinheit des deut-
schen Stils entstellenden Aufdringlinge durch einen gutdeutschen vollgültigen
Ersatz zu beseitigen, ohne sofort einen solchen finden zu können. In sol-
chen Verlegenheiten soll das zu Rate gezogene „Verdeutschungs-Wörterbuch"
rasche Aushilfe gewähren, indem es für die überhaupt überflüssigen oder
wenigstens in gewissen Fällen entbehrlichen Fremdwörter eine Verdeut-
schung oder meistens eine Anzahl von Verdeutschungen bietet, unter denen
man leicht die für den vorliegenden Fall zutreffendste wird auswählen kön-
nen. Hier schliefst sich, wie gesagt, das „Verdeutschungs-Wörterbuche an
meinen „Deutschen Sprachschatz" an, der, „nach Begriffen geordnet", „zur
Auffindung und Auswahl des passenden Ausdrucks" bestimmt, aber natürlich
nicht auf den blofsen Ersatz von Fremdwörtern beschränkt ist.
Mein umfassender „Deutscher Sprachschatz" sowohl wie mein nach
möglichst erschöpfender Vollständigkeit strebendes „Fremdwörterbuch" sind
beides un)fangreiche Werke, jedes zwei starke Bände bildend, dagegen wird
seiner Bestimmung gemäfs mein „Verdeuti<chungs- Wörterbuch" nur ein wenig
umfangreiches, handliches Büchlein bilden, da in dasselbe mit guter Absicht
nur allgemein übliche Fremdwörter aufgenommen sind, für die ein allge-
mein anerkannter oder doch empfehlenswerter Ersatz dargeboten werden
kann. Belege werden nur angeführt, wo sie in aller Kürze als Beispiel
einer glücklichen Verdeutschung aus mustergültigen oder guten Schriften
gegeben werden können. Wo der Nachschlagende einen in meinem „Fremd-
wörterbuch" sich findenden Ausdruck in das „Verdeutschungs- Wörterbuch"
nicht aufgenommen sieht, darf er annehmen, dafs mir unter den mir be-
kannt gewordenen dafür vorgeschlagenen Verdeutschungen keiner unbedingt
empfehlenswert erschienen ist. Ich möchte aber auch ausdrücklich hervor-
heben, dafs unter den fortgelassenen Fremdwörtern mir viele einer \'er-
deutschung nicht bedürftig erscheinen. „Es versteht sich" — habe ich in
in meinen „Deutschen Sprachbriefen" gesagt — «von selbst, dafs bei
der Besprechung ausländischer, von unseren deutschen abweichender Ver-
hältnisse die genaue fremdländische Bezeichnung nicht aus thörichter
Deutschtümelei durch ungenaue oder gar durch falsche und schiefe Ver-
deutschungen ersetzt werden dürfe, wie denn z. B. auch die über die
Miscellen. 467
Gleicliaitigkeit un»i Reinheit ihrer Sprache so eifersüchtig wachenden
Franzosen in solchen Fallen naturgemäfs und unbedenklich die fremden
Bezeichnungen anwenden, und ich wiederhole, was ich schon oben gelegent-
lieh ausgesprochen, dafs für die fachmäfsige und wissenschaftliche Behand-
lung die allen Bildungsvölkern gemeinsamen und allgemein anerkannten
Kunst- und Fachausdrücke auch im Deutschen beizubehalten sind. Mögen
in einem volkstümlichen Vortrage die gelegentlich vorkommenden Bezeich-
nungen „Mathematik" und „Chemie" durch „Gröfsenlehre und „Scheide-
kunst" erklärt oder ersetzt werden in mathematischen und chemischen Lehr-
büchern : diese Verdeutschuncien ein- und durchführen, oder gar die den
Mathematikern und Chemikern aller Völker gleichmäfsig bekannten und in
ihren Bedeutungen scharf bestimmten Kunstausdrücke durch langatmige,
ungefügte und nicht einmal in Deutschland allgemein bekannte, noch weni-
ger anerkannte Umschreibungen im Deutschen verdrängen zu wollen, wäre
ein ebenso thörichtes Unterfangen, wie etwa der Vorschlag, für Deutschland
die kurzen chemischen und mathematischen Formeln und Zeichen abzuschaf-
fen. So wird man auch in einer für den Volksunterricht bestimmten Sprach-
lehre jedem fremden Kunstausdruck, wo er zum erstenmal auftritt, eine
genaue und bestimmte Erklärung und, wo möglich, eine treffende Verdeut-
schung beifügen, aber im weiteren ^'erlauf erscheint dann die Verwendung
des genügend erklärten und eingeprägten fremden Kunstworts selbst für die
Volksschule nicht nur unbedenklich, sondern — mit Rücksicht auf die spä-
tere Erlernung anderer Sprachen — sogar empfehlenswert. Allerdings
würde es gar zu altfränkisch steif klingen, wenn man in der deutschen
Sprachlehre von der Constructio des Accusativi cum Infinitivo sprechen
wollte; aber wie lautet das, was das Campesche Verdeutschungs-Wörterbuch
dafür als Ersatz bietet? „Die Wortfolge des vierten Falls mit der unbe-
stimmten (oder abgezogenen) Weise (oder Form)." Wer würde sich zu
einem solchen Ersatz entschliefsen können oder mögen? Freilich bieten
sich dem Nachdenkenden leicht bessere Verdeutschungen dazu: „Die Fü-
gung (oder ^"erbindung) des vierten F'alls mit der Nennform des Zeitworts",
aber auch diese Verdeutschung möchte ich doch nur bei der ersten Einfüh-
rung des Kunstausdrucks oder späterhin etwa hier und da zur Abwechse-
lung empfehlen: im allgemeinen wird man nach genügender Vorbereitung
und hinreichender Erklärung und Einübung auch in der Volksschule un-
bedenklich von der „Fügung" (oder „Verbindung") „des Accusativs mit dem
Infinitiv" oder kürzer von dem „Accusativ mit dem Infinitiv" sprechen dür-
fen, ohne zu befürchten, daf;^ durch solcherlei Kunstausdrücke die Reinheit
des deutschen Stils geschädigt werde.
Ich glaube hiermit zur Genüge ausgesprochen oder doch angedeutet zu
haben, in welchem Umfange ein „Verdeutschungs-Wörterbuch" den Freun-
den eines möglichst reindeutschen Ausdrucks zu dienen bestimmt ist und
hoffentlich gute Dienste leisten wird.
Zum Schlufs möchte ich noch denen, die mich durch gütige Beiträge
zu unterstützen geneigt und bereit sind, aussprechen, dafs ich " mit Dank
jede zweckmäfsige Einsendung nach bester Einsicht zu verwenden bestrebt
sein werde, dafs mir aber namentlich Nachweise aus guten Schriften will-
kommen sein werden, in denen an der Stelle eines üblichen und schwer
ersetzbaren Fremdwortes sich ein glücklich gefundener und für die weitere
Verbreitung empfehlenswerter Ersatz darbietet.
Und hiermit schliefse ich diesen Aufsatz, ihn und schon im voraus das
darin angekündigte Buch der freundlichen Beachtung und Unterstützung
aller Freunde unserer Muttersprache empfehlend. Namentlich möchte ich
auch die mit meinen Ansichten einverstandenen Leiter von Zeitungen und
Zeitschriften freundlichst um Weiterverbreitung dieses Aufsatzes durch Ab-
druck bitten.
30*
468 Mlscellen.
Dunkle Stellen?
In der „Zeltschr. für weibliche Bildung" wünschte Direktor Dr. Kaiser
eine Erklärung der „dunklen" Stelle in Dickens' Christnias Carol: „unlike the
celebrated herd in the poeni. they were not forty children conducting them-
selves like one, but every child was conducting itself like forty." In einer
späteren Nummer der Zeitschrift wurde die von einem Kollegen, eingegan-
gene p]rklärung mitgeteilt. Dafs die Stelle eine Anspielung auf ein Gedicht
von Wordsworth ist, war indessen längst bekannt: Prof. Dr. I. Schmidt
giebt schon die richtige Erklärung in seiner 1876 erschienenen vortrefflichen
Ausgabe des Christmas Carol, und seit 1881 findet sich das Wordsworth-
sche Gedicht in den neueren Auflagen meines englischen Lesebuches.
Nachstehend gebe ich die Erläuterung zu zwei Anspielungen, die eher
,, dunkel" scheinen können; wenigstens zeigten mir wiederholte Anfragen,
dafs die erstere vielfach nicht erkannt wurde, und bei der zweiten gelangte
ich erst nach vielen vergeblichen Anfragen bei erfahrenen Fachgenossen auf
die richtige Spur.
1. A. Daudet sagt in „La mort de Chauvin", einem Kabinetstück der
Charakterschilderung, das ich in mein französisches Lesebuch aufgenommen
habe: „Je le (d. h. Chauvin) retrouvai ä l'Opera, debout dans la löge de
Girardin, demandant le Rhin allemand, et criant aux chanteurs qui ne
le savaient pas encore: II faudra donc plus de temps pour l'apprendre que
pour le prendre." Das folgende nicht uninteressante Citat, das ich in der
neuen Auflage meines Lesebuches mitgeteilt habe, liefert die Erklärung: —
Le mercredi qui preceda la declaration de guerre (1870), ä l'Opera, on
demanda la Marseillaise; Forchestre se preparait a la jouer, lorsqu'on re-
clame le Rhin allemand. Les musiciens semblerent hesiter et le regis-
seur s'avancant pres de la rampe declare qu'on ne pouvait chanter la poesie
de Musset, parce qu'on n'avait pas eu le temps de l'apprendre. Alors Emile
de Girardin se leva dans sa löge et s"ecria: „II est donc plus long ä ap-
prendre qu'ä prendre!" Toute la salle applaudit. Deux jours apres un ac-
teur revetu d'un uniforme de capitaine de la garde nationale mobile chan-
tait le Rhin allemand et recevait une ovation.
(Maxime du Camp, Souvenirs litteraires, Paris 1883.)
2. Arago sagt in seiner Biographie von James AVatt (vgl. meine Aus-
gabe S. 89, Berlin, AVeidmann): „On va jusqu'ä en rire, comme de Tex-
plication de la dent d'or." Über diese Anspielung gelangte ich nach
langem Suchen zu folgender Aufklärung: Im Jahre 1594 verbreitete sich
die Nachricht, dafs man bei dem siebenjährigen Sohne des Bauern Christoph
Müller zu Weigelsdorf in Schlesien einen goldenen Zahn entdeckt habe.
Die Nachricht von diesem Wunder erregte in Deutschland und bald auch
bei den Gelehrten des Auslandes grofses Aufsehen. Dr. Horst veröffent-
lichte 1595 eine lateinische Untersuchung darüber; er meint u. a., der gol-
dene Zahn dieses Kindes, bei dessen Geburt die Sonne in Verbindung mit
Saturn im Zeichen des Widders gestanden habe, sei der X'orlaufer des gol-
denen Zeitalters, in welchem der Kaiser die Türken aus der Christenheit
verjagen und den Grund zu einem Reiche legen würde, das tausend Jahre
dauern solle, worauf ganz deutlich der Prophet Daniel anspiele, wenn er
von einem Bilde mit goldenem Kopfe spreche. Das angebliche Wunder
wurde zwar als Betrug erkannt, fand aber noch in weiten Kreisen Glauben
und gab bis ins 18. Jahrhundert Veranlassung zu zahlreichen Streitschriften
für und wider. Vergl. Rulandi Demonstratio judicii de aureo dente pueri
Silesiaci, Erfurt! 1596; Ingolstetteri responsio ad Judicium Rulandi, Lipsiae
1596; Etliche Sendbriefe zum Zeugnis dafs der güldene Zahn noch heutigen
Tages gülden, Breslau 1596; Liddelii Ars medica, cum tractatu de aureo dente,
Hamburgi 1628 etc. S. auch Schles. Provinzialblätter N. F. II, 728; Buckle,
History of Civilization, I, eh. 6.
Brieg, 1884. Dr. Wershoven.
I
Miscellen. 469
Zur „Umstellung"' der Präposition im Englischen.
Bekanntlich gestattet das Englische in gewissen Fällen die Präposition
von dem Nomen, zu dem sie unserer Anschauung nach gehört, zu trennen
und — wie die Schulgramniatik zu sagen ptlegt — ans Ende zu stellen.
Die Falle finden sich bei Mätzner II, 1, S. 518 il\ unter der Bezeich-
nung „Umstellung der Präposition" geordnet. Die Schulgrammatik pflegt
die Erscheinung bei Gelegenheit des Fragesatzes, des Relativsatzes und der
Passivbildung zu besprechen, und in der That lassen sich darunter alle bei
Alätzner unterscbiedenen Fälle aufser dem ersten, dem Typus that 1 i/isist
on — , ohne Gewaltsamkeit einordnen oder doch daran anknüpfen.
Immerhin wird der Schüler an drei verschiedenen Punkten damit be-
schäftigt, während es doch eine einheitliche, aus einem Princip fliefsendo
Erscheinung ist.
Ein zweites Moment kommt dazu, um im didaktischen Interesse eine
befriedigendere Behandln ngsweise dringend wünschenswert zu machen.
Der so auffallende Gebrauch wir<l nach altem Herkommen als eine
blofse Abweichung von der äufseren Anordnung der Satzteile hingestellt ;
und doch müfste ein ganz wundersamer psychologischer Vorgang angenom-
men werden, wenn für Mitteilung und Verständnis die Präposition fungie-
rend gedacht werden müfste an einer Stelle, wo sie gar nicht steht.
Es mufs, um na<h beiden Seiten Abhilfe zu schaffen, ein Weg gefun-
den werden, der nicht nur alle betreflenden Fälle unter einem Gesichtspunkt
zu betrachten, sondern auch die ganze Erscheinung heyreif lieh zu finden ge-
stattet; und das ist nicht schwer.
Offenbar liegt das Eigentümlichem der Erscheinung darin, dafs der Eng-
länder ebenso geneigt ist, in seiner Vorstellung die Präposition als begrifi-
liche Bestimmung des Werks wie als Zeichen für die Beziehung zu empfin-
den, in welcher das Nomen, bezw. sein Begriffsinhalt zu denken ist; mit
anderen Worten, die Präposition geht für ihn ebenso gut eine begrifl'Iiche
Verbindung mit dem vorhergehenden V^erb als mit dem folgenden Nomen ein.
Es läfst sich dies durch Vergleichung mit dem Deutschen unmittelbar
veranschaulichen.
Wir drücken genau denselben Begriffsinhalt aus mit
Er schwamm durch den Teich
wie mit
Er durchschwamm den Teich;
auch die gebrauchten Sprachmittel sind dieselben — nur dafs im ersten Fall
die Präposition mit dem Nomen, im zweiten mit dem N'erb in engere \'er-
bindung getreten erscheint.
Beide Auffassungen dürfen wir im
He swam through the pond
ausgedrückt finden, je nachdem wir verstehen
He swam | through the pond,
wo die Präposition zum Nomen, oder
He swam through | the pond,
wo sie zum Verb eine innigere Beziehung eingeht, während dann das No-
men, entsprechend dem deutschen, als direktes Objekt übrig bleibt.
Danach wäre aufzustellen :
Im Englischen Jcann jedes Verb, welches eine präpositionale Ergätizung
verlangt, auch als mit der Präposition zusammengesetztes Verb mit transitiver
Beziehung aufgefofst und konstruiert iverden. Der Unterschied von dem an-
geführten deutschen Gebrauch liegt nur darin, dafs die Präposition dem
Verb folgt, und nicht mit ihm ein Wort bildet.
So ergeben sich aus I never thought of that ganz folgerichtig
that I never thought of
a matter which I never thought of
470 Miscellen,
a matter never to be thoujjht of
what did he think of
that was never thoujiht of etc.
Ein schlagender Beweis für diese Auffassung dürfte darin gefunden werden,
daß hei passiver Konstruktion das JXoynen in der That fjar iiicht als von
der Präposition berührt, sondern als Subjekt empfunden wird (he was never
thought of), während es bei aktiver Konstruktion Accusativ bleibt, der aber
eben unter dieser Beleuchtung sich unabweisbar als Objektskasus, nicht als
Kasus der Präposition aufdrängt.
Im weiteren Verfolg kann es kaum noch auffallen, wenn da, wo das
Verb zunächst durch ein direktes Objekt und dann durch ein präpositionales
Nomen ergänzt ist, wie in
I never had any intercourse with this man,
ebenfalls zwischen der Präposition und ihrem Nomen ein loseres Verhältnis
als zwischen der Präposition und dem Verbalbegriff" mit seiner Ergänzung
empfunden wird, so dafs die Konstruktionen
This man I never had any intercourse with
a man whom I never had a. i. w.
u. s. w., entsprechend den oben entwickelten Beispielen sich folgerichtig
ergeben.
Barmen. H. Breusing.
Wieder einmal Hephästophilus.
Eine Entgegnung.
Nachdem ich bereits längere Zeit die Deutung Mephistopheles = He-
phästophikis bei mir herum getragen hatte, gab ich sie der Öffentlichkeit
zuerst im Jahre 1880 anheim, indem ich sie Dr. L. Geiger für das Goethe-
Jahrbuch 1 zur Verfügung stellte. Nächstdem erweiterte ich den Gedanken
zu einigen Aufsätzen, welche in dieser Zeitschrift, sowie in dem Deutschen
Dichterheim zum Abdrucke gelangten. Ich erhielt auf Grund tlessen viel-
fache Zuschriften von Faustfreunden und -Kennern, welche sich mehr oder
weniger meiner Ansicht anschlössen. J. Bode und K. Engel versicherten
mich ihrer vollständigen Zustimmung, Dr. G. v. Loeper sprach meiner Deu-
tung die gröfste Wahrscheinlichkeit zu, während Prof Dr. K. J. Schröer,
Dr. E. Sabell u. a. sich zurückhaltender ausdrückten. Einige Jahre lang
ruhte meine Hepbästophilus-Angelepenheit für mich im Staube vorläufiger
Erledigung, bis ich neuerdings zufällig durt-h das grofsarlige Werk von
K. Engel über die Faustlitteratur* auf einen seinerzeit in dieser Zeitschrift
erschienenen Aufsatz von G. Hauff, „Vorstudien zu Goethes Faust. 1. Über
den Ursprung des Namens Mephistopheles; II. Über den Erdgeist in lexi-
kalischer Hinsicht" gelenkt ward. Bei Bekanntmachung mit dem Inhalte
ersah ich denn, dafs der erste Teil vorzugsweise eine Entgegnung auf meine
bezüglichen Aufsätze ist. Obwohl seitdem einige Zeit verstrichen ist, und
die Sache als verjährt angesehen werden könnte, so glaube ich dennoch der
Entgegnung eine Entgegnung folgen lassen zu müssen.
Hauff" sagt von vorn herein kurzweg aburteilend, dafs er mir „leider"
nicht beistimmen könne: dies bedauernde „leider" als lindernder Balsam
ist wirklich rührend. Nunmehr werde ich auf die einzelnen Punkte ein-
gehen :
Allerdings habe ich Hephästus als frühchristlichen Höllenfürsten nicht
mit völliger Bestimmtheit beweisen, sondern nur auf Grund der vergleichen-
* „Zusammenstellung der Faustschriften." Oldenburg, Schulzesche Ilofbuch-
handlung. Ein äufserst gediegenes, sehr empfehlenswertes Werk!
Miscellen. 471
(Jen Mytholotiie als höchst wahrscheinlich hinstellen können. Die Möglich-
keit, dafs Hephästus für Teufel genommen werden konnte, wird auch
von Schröer zugestanden. Nun aber bemerkt Hauff' in schroffer Weise:
„Rudolf selbst giebt zu: willkürlieh und unbewiesen sei die Annahme etc."
Das könnte scheinen machen, als ob ich diese Worte „willkürlich und un-
bewiesen" gebraucht habe, ist aber durchaus nicht der Fall, wie ein Nach-
schlagen seitens der unparteiischen Leser sofort ergeben wird. Überhaupt
empfehle ich jedem, welcher die Hauff'sche Entgegnung fernerhin durchzu-
lesen gedenkt, meine Aufsätze behufs \ergleichung entgegenzuhalten und
nicht die Behauptungen Hauffs ohne weiteres als bare iMünze nehmen zu
wollen.
Ich habe durchaus nicht behauptet, Jafs die alte Teufelsage nach Jahr-
hunderten unter dem Namen Lucifer zuerst wieder im Volksbuche von Dr.
Faust zur Anschauung gelange, sondern ich habe nur die ausgeprägte,
charakteristische Fassung der Sage im Volksbuche als Beleg angeführt und
um weitere Betrachtungen anzuknüpfen ; frühere Spuren des Namens Lucifer
und der Sage nachzuweisen, hielt ich zum Zwecke n)einer Abhandlung nicht
für wesentlich, weil ich nur in grofsen Zügen den Hauptgedanken verfolgen
wollte. Das hätte Hauff' sich von selber sagen können, indem ich, wie er
auch anführt, in einem anderen ausführlicheren Aufsatze die Spur des Na-
mens Lucifers bis nachweislich um 1300 zurückversetze. — Die von Hauff"
angeführten Belegstellen für den Namen Lucifer sind sachlich und lehrreich,
und ich mufs dankbar anerkennen, dafs auch ich daraus gelernt habe; viel-
leicht wäre Hauff" auf Grund seiner Stellung in der Lage gewesen, noch
näher darauf einzugehen, wie die lateinische Bibelübersetzung bei Gelegen-
heit der Stelle des Jesaja gerade auf den Namen Lucifer gekommen ist.
„Die Römer und Griechen sodann kannten keinen Teufel, ihre Religion
war nicht dualistisch." Ich bin ganz derselben Ansicht, und ich habe auch
nirgend eine andere Behauptung aufgestellt; man blättere nur in meinen
Aufsätzen. Die Sache ist thatsächlich so: Der Dualismus ist ein ursprüng-
licher indogermanischer Glaubenszug, welcher sich bei den Indern und noch
mehr bei den Persern in schroffer Weise ausgebildet hat. Dieser Gedanke
ist bei den Griechen un<i Römern gänzlich verloren gegangen, oder minde-
stens fast bis zur Unkenntlichkeit getrübt; nur schwache Spuren zur Deu-
tung der widerstrebenden Naturgewalten sind nachweisbar in den Kämpfen
gegen Giganten und Titanen und sogar in der gegenseitigen Anfeindung der
Gottheiten, Das deutsche Heidentum war jenem Gedanken treuer geblie-
beri, oder trat ihm unter anderen Einflüssen in der neuen Heimat allmählich
wieder näher, bis der Gipfel erreicht war mit der Gestalt des Locho (Loki),
welcher schon dem späteren Teufel auffallend ähnelt. Aber erst mit der
Ausbildung des Christentums ward die persisch-jüdische Sagenrichtung in
schärfster Weise entwickelt. Man beliebte den neuen Anschauungen ein
altes Aufsere zu geben, und der Gedanke liegt nahe, dafs bei der Latini-
sierung der Kirche auch die neue christliche Sage samt dem Teufelnamen
ein Mäntelchen altrömischen Schnittes erhielt. Das ist meine Hypothese,
deren Unmöglichkeit zu beweisen schwer fallen dürfte.
„Der Name Hephästus ist also nicht im Laufe der Zeit verloren gegan-
gen, sondern er ist im Sinne von Teufel nie dagewesen." Das ist eine
scharfe, kühne Behauptung, welche in etwas vorsichtigerer Form hätte ge-
geben werden können, etwa: „Der Name Hephästus ist im Sinne von Teufel
nicht .nachgewiesen, könnte aber vielleicht im Laufe der Zeit verloren ge-
gangen sein." Wenn mir auch dar sichere Beweis fehlt, so glaube ich
doch, wie bemerkt, die \\'ahrscheinlichkeit meines Gedankens hinlänglich
nachgewiesen zu haben.
„Zudem hätte sich gewifs nicht der griechische, sondern der römische
Name erhalten." Warum? In den letzten Zeiten des Römertuins hatte die
Hellenisierung so riesige Fortschritte gemacht, dafs thatsächlich die griechi-
472 Miscellen.
sehe Sprache dieselbe Rolle einnahm, welche lange Zeit von der französi-
schen Sprache behauptet ward. Aufserdem hatte eine vollständige Ver-
schmelzung der hauptsächlichsten Glaubensansichten der verschiedensten
Völker zu einer neuen internationalen Religion stattgefunden; denn:
Allen Göttern der Welt boten sie Wohnungen an,
Habe sie schwarz und streng aus altem Basal der Ägypter,
Oder ein Grieche sie weils, reizend, aus Marmor geformt.
Das das Griechentum hierbei einen bedeutenden Einflufs auf die im Grunde
durchaus nicht völlig gleichartigen Gottheiten des Römertums ausübte, ist
bekannt. Her Römer lernte die griechischen Göttornamen, manchmal mit
geringer JMundrechtniachung, den seinigen beizufiigen, und Hephästus war
ihm so geläufig wie Vulcanus. Meine Hypothese dürfte demnach doch nicht
so ganz unsinnig sein; aufserdem ist sehr wohl einleuchtend, dafs bei der
Namengebung des Teufels Zufällinkeiten obgewaltet haben können, und
nicht immer nach einer schroff-linealen Logik gegattert zu werden braucht.
Wenn Hauff nun weiter sagt: „Endlich verwickelt sich Rudolf in einen
Widerspruch mit sich selbst, wenn er das eine Mal behauptet: für den ge-
fallenen Engel sei im Mittelalter der Name Hephästus üblich gewesen, und
dann wieder : bis zum Auftauchen des Namens Lucifer finde sich überhaupt
kein Name für den gefallenen Engel", so heifst das: mir die Worte im
Munde verdrehen! Ich sage nämlich so: „Dabei mufs allerdings erwähnt
werden, dafs der Name (Hephästus) in diesem Sinne thatsächlich nirgend
angeführt wird, dafs vielmehr bis zum Auftauchen des Lucifer-Namens über-
haupt kein Name für den gefallenen Engel vorkommt u, s. w."; daraus zu
folgern, dafs ich mir den volkstutalich-lebendigen Teufel auch nur zeitweilig
namenlos denken könne, ist stark. — Ich bestreite entschieden, dafs es
Hauff' mit den bisherigen Widerlegungen gelungen ist, die Möglichkeit des
Höllenfürsten Hephästus und mit dem Oberteufel den ünterteufel Hephä-
stophilus zu beseitigen.
Wenn ich anfänglich noch dem Gedanken huldigte, dafs der Buch-
drucker Fust der Faustus senior sein könne, so habe ich (loch längst diesen
Gedanken fahren lassen, wie er überhaupt kaum noch Anhänger finden wird,
habe mich auch dieserhalben Archiv LXVHI, S. 255 ff", deutlich ausgespro-
chen. Ich bin eher geneigt, wie ich daselbst auseinandergesetzt habe, als
Faustus senior den Eutycbianos, Diener und Schüler des Pfaffen Theophilus,
anzunehmen, will aber, um Weitschweifigkeiten vorzubeugen, sofort bestimmt
bekennen, dafs ich auch für diesen kühnen Gedanken keinen Beweis habe,
sondern nur die Möglichkeit dürftig aus Vergleichen ziehe. Ich sage mit
Bezug auf diesen Eutycbianos — Faustus senior : Vielleicht haben hier die
entgegengesetzten Geister Theophilus und Hephästophilus (verstümmelt in
Mephistopheles) ihren Ursprung — jener (Gottesfreund) der warnende
Geist seines frommen väterlichen Freundes und nunmehr verklärten Beraters,
dieser (^Teufelsfreund) der Verführer, ein Unterteufel des Höllenherrschers
Hephästus = Lucifer. Mit diesem Gedanken würde auch Hauffs Skrupel,
dafs im Gegensatze zu dem ünterteufel Hephästophilus unser Theophilus
einen Engel bedeuten müsse, beseitigt werden können.
Hauff" bestreitet, dafs es eine Zeit gegeben habe, in welcher die Theo-
philus-Sage ganz mundgerecht gewesen sei, und doch liegt dieser Gedanke
so nahe, wenn man die vielen Bearbeitungen der Kirchensage bis auf die
niederdeutschen Mysterien ins Auge fafst. Warum soll man auf so off"enbar
volkstümlicher Grundlage nicht fufsen können.
Hauff" meint: Die ältere Form ist bekanntlich Mephostophiles! Das
heifst in ein Wespennest stechen! Allerdings lautet die ältest überlieferte
Form Mephostophiles; ob dies aber wirklich die ältere und vor allem rich-
tige Form ist, mufs sehr zweifelhaft erscheinen. Die erste englische Be-
arbeitung des deutschen X'olksbuches von Faust, ohne Jahrzahl, aber höchst
Miscellen. 473
wahrscheinlich schon etwa 1590 erschienen, hat den Namen Meph/stophiles,
und Marlowe, welcher seinen Faust allerspätestens 1592, aber eher einige
Jahre früher geschrieben hat, bietet die Namenform MephtstophiU's, wäh-
rend allerdings Shakespeare (Fr. Bacon?) in seinen etwa 1600 erschienenen
„Lustigen Weibern" wiederum Mepho^tophilws hat. Kann man so ohne
weiteres die Form des englischen Volksbuches und Marlowes unbeachtet
lassen uml die Abweichung als ganz zufällig oder willkürlich hinstellen ?
Wer sagt uns denn, woher der Freund des Buchdruckers Spies den Stoff
zu seinem Volksbuche geschöpft hat? Dafs er ihn nicht geradezu aus der
Luft gegriffen hat, bedarf keiner Erörterung. Ob nicht ältere Fassungen
der Sage vorgelegen haben, welche vielleicht noch einmal bekannt werden,
wie ja schon so manches verloren geglaubte Buch an das Tageslicht gekom-
men ist? Der Freund von Spies wird der Überarbeiter der überlieferten
Sage oder mehrer einschlägigen Sagen zu der Form des jetzigen Volks-
buches gewesen sein. — Die älteste englische Ausgabe des Volksbuches mit
dem Namen Meph?"stophiles ist 1827 von W. J. Thoms mit gröfster Pein-
lichkeit wieder abgedruckt worden. Als ein Beispiel der Befangenheit des
Urteiles stehe hier Düntzers Bemerkung: „Höchst seltsam ist es, dafs hier
im Abdrucke von Thoms der Geist des Faust schon Meph/stophiles heifst,
was ein Versehen des Abdruckes sein mufs, da viel später sich die Form
Mephostophiles erhalten hat." Ein Rätsel ist allerdings vorläufig noch, wie
die Abweichung des deutschen und englischen Volksbuches in dem Teufel-
namen zu deuten ist; dies zu lösen, spüre man nach.
Ich gebe zu, dafs die Formen Meph/s-Dophulus in der Handschrift von
1509 (?) und Meve-, Meph/stophilus in den Steyrischen V^olksliedern, sowie
andere ähnliche als unwesentlich zu erachten sind. Dennoch halte ich an
Meph/stophiles als echterer Form und Hephästophilus als Urform fest, wenn
auch Hauff" von „verzweifelten Ausflüchten" spricht, und ich werde erfreut
sein, noch einmal meine Ansicht bestätigt zu sehen. Dafs, worauf Hauff"
besonderes Gewicht legt, die als wahrscheinlich anzunehmende Form He-
phästophilus von der thatsächlich überlieferten Mephostophiles verdrängt
worden ist, kann leichtlich eine blofse Zufälligkeit sein, welche sich hoffent-
lich später einmal aufhellen wird.
Nunmehr geht Hauff* zu seiner eigenen Ansicht über den Teufelnamen
über. Er giebt keine eigenthch neue Deutung, sondern er knüpft an Sabell
an, indem er an die Verwandtschaft des Namens Mephistopheles mit Stoffel
denkt, wie Kasperle in den Puppenspielen den Geist zu nennen pflegt. Ich
mufs gestehen, dafs ich diesen Gedanken schon Jahre lang vor Bekannt-
gebung meines Hephästophilus gehegt, aber später als höchst unwahrschein-
lich wieder fallen gelassen habe; auf eine nähere Erörterung meiner Beweg-
gründe will ich hier nicht eingehen. Hauff' bringt, ebenso wie Sabell, den
Namen Mephistophiles als Mephistophel, Mephistoffel in Gegensatz zu dem
heiligen Christophorus, Christoffel und erwähnt noch unter einer Menge an-
derer höchst willkürlicher Wortbildungen zur Bezeichnung von Teufeln der
Namen Mepistophiel und Mefiafractus. Zur Deutung von Mepho oder
Mephi bleibe ungewifs, ob an das Hebräische (z. B. in Mephiboseth) oder
an Mephitis (muffig, müftig?) zu denken sei. In beiden Fällen wäre dann
Meph/stophiles trotzdem wieder die echtere Form! Woher aber die Form
Mephostophiles in den ältesten deutschen Volksbüchern gekommen sei?
Hauff' meint: von der Erinnerung an das doppelte o in Christophorus, be-
merkt aber dazu: „Dann müfste der Name lauten: Mephistopholus", und
kommt dann zu dem Schlüsse, dafs die Form Mephostophiles am wahr-
scheinlichsten deshalb werde gewählt worden sein, weil sie voller und run-
der klinge als das „abgeschüff'enere und pfiffigere" (?) Mephistopheles oder
-philes u. s. w.
Ich kann nur hinwiederum entgegenhalten: Verzweifelte Ausflüchte!
Hauff' selber giebt zu, die Kichtigkeit seiner Behauptung nicht beweisen zu
474 Miscellen.
können ; aber desto kecker verneint er meine Deutung und „glaubt deren
Unrichtigkeit bewiesen zu haben". Ich kann nur ein grofses Fragezeichen
hinter dieses dreiste Wort setzen. Hypothese steht gegen Hypothese! Ich
will es ähnlich machen wie Hauff, wenn auch etwas bescheidener. Ich habe
allerdings meine Deutung des Namens Mtphistopheles nicht vollkrättig be-
weisen, sondern nur ihre Wahrscheinlichkeit hinstellen können ; aber ich
behaupte die gröfste Unwahrscheinlichkeit, wenn nicht Unmöglichkeit der
Erklärung Haußs. Jedoch will ich dadurch beileibe nicht Herrn Gustav
Hauff den Geschmack an seinem „muffigen Stoffel" verleiden; denn:
Hat doch der Walfisch seine Laus, ,
Mufs ich auch meine haben !
Dafür werde aber auch ich, solange ich nicht mit besseren Entgegnungen
geschlagen werde, unentwegt und beharrlich festhalten an meinem Teufel-
freunde Hephästophilus! Adalbert Rudolf.
Berichtigungen:
Lies „sechs" statt „fünf".
Lies „der Dichter" statt „er".
Lies „den" statt „der".
Lies „die eingehende Schilderung der Zer-
störung,"
Lies „die" statt „den".
Lies „Tautre" statt „lautre".
Bd. LXXHI,
s.
129, Z.
1
n
s.
152, Z.
6
if
s.
152, Z.
13
»
s.
152, Z.
30
»
s.
153, Z.
5
»
s.
154, Z.
24
Verein für Lateinschrift.
Rundschreiben.
Die Unterzeichneten bezwecken, den ausschliefslichen Gebrauch der
Lateinschrift, welche bekanntlich die urdeutsche ist, zu befördern, und auf
diese Weise die für Schule und Verkehr so lästige Doppelschreibung ab-
zustellen. Die Gründe, welche dafür sprechen, haben wir in dem Nach-
stehenden angegeben.
Sollten unsere Bestrebungen Ihren Beifall finden, so richten wir die
ergebene Bitte an Sie, dieselben durch Ihren Beitritt gütigst zu unterstützen,
und, wenn es thunlich ist, aus Ihrem Bekanntenkreise einen Zweigverein zu
bilden.
Jeder Zweigverein wählt einen Schriftführer, welcher mit dem Vorstand
des Ge?amtvereins dadurch in Verbindung tritt, dafs er ihm die Namen der
Mitglieder meldet, und jährlich mitteilt, ob und wie sich die Anzahl dersel-
ben verändert hat.
Da fast alle deutschen Regierungen der Lateinschrift geneigt sind, aber
den ausschliefslichen Gebrauch derselben nicht eher anordnen werden, als
bis sich der Wunsch danach im \'olke allgemeiner ausspricht, sind auch
solche Mitglieder von Belang, welche ohne aktiv mitwirken zu wollen O'fer
zu können, durch ihren Beitritt die Einfuhrung der einheitlichen Schreibung
für wünschenswert erklären.
Geldbeiträge haben die Mitglieder nicht zu entrichten.
Der provisorische N'orstand besteht aus folgenden Herren : Realschuldir.
Prof. Dr. Buderus, Kassel: Dir. A. Diederichs, Bonn; Rektor R. Dietlein,
Schafstädt; Amisrichter R. Dilthey, Aachen; Rektor F". W. Fricke, Schrift-
Miscellen. 475
führ er, Wiesbaden; Prof. Dr. L. Herrig, Berlin; Prof. Dr. \V. Ihne, Hei-
delberg; Schuldirektor j\l. Kleinert, Dresden; Dr. Eduard Lolimeyer, Schrift-
führer, AVehlheiden bei Kassel; Realschuldir. Dr. F. Möller, Friedberg;
Kealschuldir. Prof. Dr. Schwalbe, Berlin; Kealschuldir. Dr. Krumme, Braun-
schweig; Prof Dr. U. Vietor, Marburg; Realschuldir. Dr. \N ittich, Kassel.
— En)pfohlen und unterstützt werden unsere Bestrebungen durch die Her-
ren: Prof. Dr. C. Beyer, Stuttgart; Prof. Dr. H. L. Cohn, Breslau; Gym-
nasialdir. Dr. Duden, Hersfeld : Geheimer Hofrat Prof. Dr. Finkelnburg,
Bonn; Prof. Dr. Michaelis, Berlin; Prof. Dr. Trautmann, Bonn; F. Sön-
necken, Bonn; Prof. Dr. Wilmanns, Bonn; u. a.
Vorzüge der Lateinschrift.
1) Die Lateinschrift ist zur Weltschrift geworden. Alle Kulturvölker
der Erde bedienen sich derselben oder kennen sie doch. Sie erleichtert
also den geistigen wie den geschäftlichen Verkehr.
2) Sie ist, abgesehen von den nie allgemein angewandten Runen und
Vulfilas gotischem Alphabet, die älteste deutsche Schrift. Aus ihrer ur-
sprünglichen runden Form, in welcher sie unsere Altvorderen, wie die übri-
gen Völker Europas, von den Römern erhielten, wurde sie im Laufe des
Mittelalters durch Brechen und Verschnörkeln mehr und mehr in eine
Eckenschrift verwandelt. Dies war aber durchaus nicht eine auf Deutsch-
land beschränkte Eigentümlichkeit, sondern geschah ebensowohl in Italien,
Spanien, Frankreich u. s. w. In den genannten Ländern kehrte man bei
steigender Geschmacksbildung zu dem ausschliefslichen Gebrauch der ur-
sprünglichen einfachen Schriftzüge zurück, während man denselben in
Deutschland zwar auch die Wiederanerkennung nicht mehr versagen konnte,
dabei aber das bisher getragene Übel der Eckenschrift ini weitesten Um-
fange bestehen liefs, und somit freiwillig das weitere Übel einer durch
nichts gerechtfertigten graphischen Doppelwährung auf sich nahm.
3) Der Lese-, und besonders der jetzt so ungebührlich zeitraubende
Schreibunterricht wird durch das Aufgeben der Eckenschrift aufser-
, ordentlich vereinfacht. Bisher hatten und haben die deutschen Schüler
acht Alphabete zu lernen (ein grofses und ein kleines, je in lateinischer
und in deutscher Schrift, und diese vier wiederum im Druck) anstatt, wie in
den meisten übrigen europäischen Ländern, nur vier.
4) Die Handschrift wird besser, wenn nur eine Schriftgattung im
Gebrauch bleibt. Beim Schreibunterricht wirkt das Einüben der spitzwinke-
ligen deutschen Schrift dem Aneignen der gerundeten lateinischen unver-
meidlich entgegen, und umgekehrt. Daher gelangen deutsche Schüler —
abgesehen von der auf zweierlei Schriften zu verwendenden doppelten Lern-
zeit — viel später, ja oft überhaupt nicht in den Besitz einer festen Hand-
schrift, als es der Fall sein würde, wenn sie nur eine der beiden so ver-
schiedenen Schriften zu üben brauchten.
5) Die gerundeten und dadurch weiten und lichten Formen der La-
teinschrift sind anerkannt schöner als die eckigen, verschnörkelten und
dadurch verdunkelten Formen der deutschen Buchstaben.
6) Sie sind deutlicher, können demzufolge in viel kleinerer Gestalt
lesbar hergestellt werden und finden aus diesem Grunde bereits allgemein
Anwendung, wo es auf Deutlichkeit und aufserdem auf Feinheit ankommt,
z. B. bei Personen- und Ortsnamen, bei Inschriften, auf Schildern, Münzen,
Stempeln, Landkarten u. s. w. Genauen Messungen zufolge vermag ein ge-
sundes Auge die Lateinschrift auf durchschnittlich 143 cm Entfernung zu
entziffern und auf 115 cm deutlich zu lesen, während dazu bei gleich
grofser deutscher Schrift eine Entfernung von 115 und 90 cm kaum
ausreicht.
7) Die allgemeine Einführung der Lateinschritt stöfst auf keine er-
47G Miscellen.
beblichen ScViwierijikeiten , da diese Schrift jedem Deutschen durch den
Schulunterricht laugst bekannt ist.
8) Die Kleinheit der Grundbuchstaben der deutschen Schreibschrift
und deren entsprechende Feinheit wirkt schädlich auf die Sehkraft ein,
was ohne Zweifel wesentlich dazu beiträgt, dafs die Kurzsichtigkeit hei den
Deutschen häufiger angetroffen wird als bei irgend einem anderen Volke,
*J) Sollte man später, dem obersten Grundsatze der Rechtschreibung
entsprechend, einlautige Buchstaben Verbindungen, wie ss, ch, seh
und die unbequemen betüpfelten Umlaute (ä, ö, ü) durch einfache Zeichen
ersetzen wollen, so werden sich diese leichter durch Merkmale an den
gröfseren und einfacheren Lateinbuchstaben herstellen lassen als durch
weitere Verzwickuns: der kleinen und verschnörkelten deutschen Schriftfor-
men. Auch sind die ersteren besser geeignet, Accent und Quantitätszeichen
aufzunehmen.
10) Fast alle deutschen Regierungen zeigen sich der Lateinschrift ge-
neigt. Die amtliche Berliner Konferenz von 1876 nahm den Satz: ..Der
Übergang von dem deutschen zu dem von fast allen Kulturvölkern ange-
wandten lateinischen Alphabet ist zu empfehlen", mit 10 gegen 3 Stimmen
an, und die Festsetzungen dieser Konferenz bildeten bekanntlich die Grund-
lage zu den 187 9, 1880 u. s. w. erschienenen preuf^ischen, bayerischen,
sachsischen, österreichischen Regelbüchern. Auch in dieser Rücksicht steht
also unseren Bestrebungen kein Bedenken entgegen. Die Hindernisse be-
schränken sich lediglich auf einen mifsverstandenen Patriotismus und auf
die Macht der Gewohnheit. Indes jener kann berichtigt diese bekämpft
werden. Beginnen wir nur I Bei jedem Unternehmen erweist sich das
Zaudern als gefährlichster Feind. Wer alles von der Zeit erwartet,
erreicht nichts.
Bibliographischer Anzeiger.
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Herder.) :{ Mk.
Evsenbachs Grammatik der deutschen Sprache für Engländer von AL v.
"Blomberg. (Leipzig, Wigand.) 1 Mk. 20 Pf.
Gudrun für den Schulgebrauch ins Neuhochdeutsche übersetzt und mit Ein-
leitung versehen von Paul Vogt. (Leipzig, ^^ igand.) 2 Mk.
Das Nibelungenlied, übersetzt und zum Gebrauch für höhere Töchtcrschtdi'n
eingerichtet von L. Frey tag. (Berlin, Friedberg & Mode.) 2 Mk. jO l*f
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3 Mk. 50 Pf.
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E. Rce brich. (Paris. Fischbacher.) 3 fr.
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Litteratur für höhere Mädchenschulen und Lehrerinnenseminare. (Berlin,
Oehmigke.) 1 Mk 10 Pf.
H. Breyniann, Französische Grammatik für den Schulgebrauch. (München,
Oldenbourg.) 1 Mk.
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Springer.) 80 Pf.
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L. Herr ig, Aufgaben zum Übersetzen aus dem Deutschen ins Englische.
Nebst einer Anleitung zu freien schriftlichen Arbeiten. 13. Auflage.
(Iserlohn, ßädeker.) 2 Mk. 50 Pf.
L. Herr ig. Englisches Vokabular und Hamiltons Reise nach London.
Praktische Anleitung zum mündlichen Gebrauche der englischen Sprache.
4. Auflage. (Iserlohn, Bädeker.) 1 Mk. 20 Pf.
O. Speyer, Tales from the bistorv of England. (Leipzig, Baumgärtner.)
90 Pf.
Shakespeares Coriolan. Für den Schulgebrauch bearb. von O. Pritsche.
(Leipzig, Wigand.) 1 Mk. 80 Pf.
PB Archiv für das Studium
3 der neueren Sprachen
A5
Bd.73
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