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Full text of "Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen"

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ARCHIV 


FÜR   DAS 


STUDIUM  DER  NEUEREN  SPRACHEN 
UND  LITTERATUREN. 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


LUDWIG      HERRIG. 


XXXIX.  JAHRGANG,  73.  BAND. 


BRAÜNSCHWEIG, 

DRUCK     UND    VERLAG     VON     GEORGE    WESTER  MyV  NN. 

1885. 


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Cr.  ("5 


Inhalts-Verzeichnis  des  LXXIII.  Bandes. 


A  bhandlungen. 

°  Seite 

Eine  Fortsetzung  von  Lessings  Nathan  und  ihr  Verfasser.    Von  Th.  Ebner  1 

Über  das  Wort  und  den  Begriff  Posse.    Von  Dr.  Biltz 35 

Aimon  de  Varennes.     Von  A,   Risop 47 

Bemerkungen  zu  Otfrid  ad  Liutbertum.     Von  G.  Michaelis       .     .     .     .  73 
Einige  Bemerkungen  über  den  Unterricht  in  der  englischen  Grammatik  an- 
geknüpft an  den  „Lehrgang  der  englischen  Sprache"  von  Deutschbein. 

Von  Hermannisaac 85 

Der  Ebingersche  Vokabularius  1438.  Von  Dr.  Renward  Brand- 
stet ter.     II 99 

Der  Lucidaire  Gilleberts.     Von  Dr.  P.  Eberhardt 129 

Die  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben.     Von  Hermann  Isaac  .     .     .  163 

Kyffhäuser,  Tannhäuser,  Rattenfänger.     Von  Adalbert  Rudolf      .     .     .  179 
Über    Karl    Wilhelm    Ramlers    Änderungen    Hagedornscher    Fabeln.      Von 

Dr.  Albert  Pick , 241 

Xavier  de  Maistre.     Von  Adolf  Ey    - 273 

Das  Leben  des  heiligen  Alexis,  Mit  Beifügung  des  altfranzösischen  Originals 
(aus  dem  1 1 .  Jahrhundert),  nach  der  Ausgabe  von  Gaston  Paris,  über- 
setzt von  TheodorVatke 290 

Dickens  und  seine  Hauptwerke.     Eine  kritische  Studie  von  A.   Ball  .     .     .  325 
Die  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben.     Von  Hermann  Isaac.    (Fort- 
setzung)         371 

Sitzungen  der  Berliner  Gesellschaft   für   das  Studium    der  neueren  Sprachen  415 

Beur teilun  o-en    und    kurze    Anzeioren. 

Breymann,  Französische  Elementargraramatik  für  Realschüler.  Ausgabe  für 
Lehrer.  —  Breymann  und  Möller,  Französisches  Elementarübungsbuch 
für  Realschüler.  —  Breymann  und  Möller,  Zur  Reform  des  neusprach- 
lichen Unterrichts.  Anleitung  zum  Gebrauch  des  französischen  Ele-» 
mentaiübungsbuches  von  Hermann  Breymann  und  Hermann  Möller. 
(Th.  Wohlfahrt) 106 


IV 

Seite 
Karl  K.  Holzinger  von  Weidlich,    Die   einfachen    Formen    des   französischen 

Zeitwortes  in  geordneter  Darstellung.     ( — g — ) 111 

Prof.  Dr.  W.  "Wiedmayer,  Französische  Stilübungen  für  obere  Klassen    .     .     112 

Dr.  J.  B.  Peters,    Materialien   zu    französischen  Klassenarbeiten.     Für  obere 

Klassen  höherer  Lehranstalten 112 

R.  Wilcke,  Anleitung  zum  englischen  Aufsatz.     ( — g — ) 113 

Jules  Theisz,  Petite  histoire  de  la  litterature  fran9aise 113 

Guillaume  le  Conquerant.  Aus  Augustin  Thierrys  Histoire  de  la  Conquete 
de  TAngleterre  par  les  Normands.  Mit  Einleitung  und  Noten  zum 
Schulgebrauch  herausgegeben  von  Dr.  H.  Robolsky 113 

La  lettre  francaise 114 

Grammatisches  Übungsbuch  für  den  Unterricht  in  der  französischen  Sprache. 
Im  Anschiufs  an  die  Schulgrammatik  von  Plötz  bearbeitet  von  W.  Ber- 
tram.    (L.) 114 

Internationale  Zeitschrift  für  allgemeine  Sprachwissenschaft.     Herausgegeben 

von  Dr.  F.  Techmer.     L  Band 205 

J.  Stürzinger,  Orthographia  Gallica.  Altester  Traktat  über  französische  Aus- 
sprache und  Orthographie.     (Fr.   Bischoff) 208 

Dr.  Hubert  H.  Wingerath:  1)  Choix  de  lectures  fran^aises  I,  3.  Aufl.: 
2)  Lectures  enfantines  d'apres  la  methode  intuitive;  3)  Petit  Vocabu- 
laire  fraucais.     (Th.  K rafft) 211 

A  Spanish  Grammar  of  the  modern  Spanish  language  as  now  written  and 
spoken  in  the  capital  of  Spain.  By  William  Knapp.  —  Modern  Spanish 
Readings.  embracing  text,  notes  and  an  etymological  vocabulary,  by 
W.  Knapp.     (Dr.  Paul  Förster) 212 

Booch-Arkossy,  Praktisch-theoretischer  Lehrgang  der  französischen  Schrift- 
und  Umgangssprache.  —  H.  Brei  tinger,  Elementarbuch  der  franzö- 
sischen Sprache  für  Mittelschulen.  1.  und  2.  Heft.  —  W.  Fr.  Eisen- 
mann, Schulgrammatik  der  französischen  Sprache.  —  J.  Hunziker, 
Französisches  Elementarbuch.  I.  Teil.  —  F.  W.  Körbitz,  Lehr-  und 
Übungsbuch  der  französischen  Sprache  für  Real-  und  Bürgerschulen. 
Eine  vollständige  Schulgrammatik  zur  Beförderung  einer  rationellen 
ünterrichtsweise.  1.  Kursus,  7.  Aufl.  2.  Kursus,  4.  Aufl.  —  Dr.  G.  F. 
Pflüger,  Grammatik  der  französischen  Sprache  für  höhere  Schulen. 
1.  Teil.  —  Dr.  K.  Brandt,  Kurzgefafste  französische  Grammatik  für 
die  Tertia  und  Sekunda  eines  Gymnasiums.     ( — t — ) 214 

Dr.  J.  W.  Zimmermann,  Schulgrammatik  der  englischen  Sprache  für  Real- 
gymnasien und  andere  höhere  Schulen.  Erster  Lehrgang.  (Professor 
J.   G Utersohn) 216 

J.-B.  Bossuet,  Ausgewählte  oraisons  funebres,  für  den  Schulgebrauch  erklärt 

von  Dr.  Völcker.     (R.  Scherffig) 219 

Lamprechts  Alexander,   herausgegeben    von    Karl  Kinzel.  —  Germanistische 

Handbibliothek,  herausgegeben  von  Julius  Zacher.    VI 221 

Dr.  R.  Sonnenburg,    Grammatisches  Übungsbuch    der  französischen  Sprache. 

Methodische  Anleitung   zur   Einübung   der   syntaktischen  Regeln.     (L.)     221 
1)  Internationale  Zeitschrift  für  allgemeine  Sprachwissenschaft,  herausgegeben 


V 

Seite 
von  F.  Techrtier.  —  2)  Die  Sprachlaute  im  allgemeinen  und  die  Laute 

des    Englischen,    Französischen    und    Deutschen    im    besonderen.     Von 

Moritz  Trautmann 426 

Spanische  Grammatik  mit  Berücksichtigung  des  gesellschaftlichen  und  ge- 
schäftlichen Verkehrs.  Von  J.  Schilling.  —  Portugiesische  Grammatik 
mit  Berücksichtigung  des  gesellschaftlichen  und  geschäftlichen  Verkehrs. 
Von  F.  J.  Schmitz.     (Dr.  Franz  Lütgenau) 430 

Franz  Hirsch,    Geschichte   der  Deutschen   von   ihren  Anfängen   bis   auf  die 

neueste  Zeit.     (H.  H.) 436 

Geschichte   der   deutschen    Voikspoesie    seit    dem   Ausgange    des   Mittelalters 

bis  auf  die  Gegenwart.     Von  Dr.  T.  H.  Otto  Weddigen.     (Dr.  A.)     .     438 

Elementarbuch  der  italienischen  Sprache  für  den  Schul-  und  Privatunter- 
richt.    Von  Sophie  Heim 439 

Fr.  Müller,  Grundrifs  der  Sprachwissenschaft.  III.  Band:  Die  Sprachen 
der  lockenhaarigen  Rassen;  II.  Abteilung:  Die  Sprachen  der  mittel- 
ländischen Rasse,  I.  Hälfte.     (H.  Buchholtz) 439 

Martin   Hartmann,    Chronologisch   geordnete    Auswahl   der   Gedichte'  Victor 

Hugos,  Heft  2  und  3 440 

G.   Strien,  Choix  de  Poesies  francaises  a  l'usage  des  e'coles  secondaires   .     .     443 

Karl  Foth,  Bonaparte  en  Egypte,    aus  Thiers,    Hist.    de   la   Rev.  fran*;.  und 

Hist.  du  Cons.  et  de  l'Empire.     (Joseph  Sarrazin) 444 

Petry,  Die  wichtigsten  Eigentümlichkeiten  der  englischen  Syntax    ....     445 

Zeitschriftenschau.     (H.  Buchholtz)    .     . 445 

Proorammenschau. 

Über   Wolframs  Willehalm.     Von    Prof.  Jos.  Seeber.     Programm    des  k.  k. 

Privatgymnasiums  am  Seminarium  Vincentinum  zu  Brunn      ....     448 
Dreizehnlieder.     Von    F.    W,   Weber.      Inhalt    und   Bemerkungen    von  Dir. 

Dr.  B.  Werneke.     Programm  des  Gymnasiums  zu  Montabaur      .     .     .     449 
Oidipus  und  Lear.    Eine  Studie  zur  Vergleichung  Shakespeares  mit  Sophokles. 
-  Von  Prof.  Dr.  J.  J.  Richter.    I.  Teil.    Programm  des  Gymnasiums  zu 

Lörrach      .  ~ 449 

Der  Lanzelot    des  Ulrich  von  Zatzikhoven.     (Schlufs.)     Von  AI.  Neiimaier. 

Programm    des  Gymnasiums  zu  Troppau 450 

Ein    Beitrag    zur   Kenntnis     des    Sprachgebrauchs   Klopstocks.      Von   Christ. 

Würfl.     (Fortsetzung.)     Programm    des   zweiten  deutschen  Gymnasiums 

zu  Brunn 450 

Lessings    Hamburgische    Dramaturgie    als   Schullektüre.     Von    Dr.  Schmitz. 

Programm    des  Gymnasiums  zu  Wehlau 451 

Die  Lektüre    der    Hamburgischen  Dramaturgie   Lessings   in   der    Oberprima. 

Von    Professor    L.    Zück.      I.    Teil.      Programm    des    Gymnasiums    zu 

Rastatt 452 

Zu  Lessings  Laokoon.    Bemerkungen  zu  Blümners  Laokoonstudien.    Heft II: 

Über    den    fruchtbarsten    Moment.      Von    Oberlehrer    Dr.    H.    Fischer. 

Programm  des  Gvmnasiums  zu  Greifswald 453 


VI 

Seite 

Goethe  als  Student  in  Leipzig.  Von  Prof.  L.  Blume.  Programm  des  aka- 
demischen Gymnasiums  in  Wien 454 

Zu  Goethes  Gedichten.  Von  Karl  Rieger.  Programm  des  Franz-Joseph- 
Gymnasiums  zu  Wien 454 

Goethes  Iphigenie  auf  Tauris,  nach  den  vier  überlieferten  Fassungen.     Von 

M.  Reckling.     Programm    des  Gymnasiums  zu  Buchsweiler      ....     455 

Die    Schicksalsidee   in    Schillers   Wallenstein.     Von    Dr.  F.  G.  Hann.     Pro- 

irramm  des  Gvmnasiums  zu  Klagenfurt 456 

M  i  s  c  e  1 1  e  n. 

Seite  115  —  124.     222—237.     457—476. 

Bibliographischer  Anzeiger. 

Seite  125  —  128.     238—240.     477—480. 


Eine  Fortsetzung  von  Lessings  Nathan 

und   ihr   Verfasser. 

Von 

Th.    Ebner. 


I. 

Es  wird  in  dem  Nachfolgenden  keinesweo-s  eine  der  seit 
Lessins  so  genannten  Rettungen  beabsichtigt.  Die  Schilderung 
eines  Mannes,  der,  zu  seiner  Zeit  eine  hochgeachtete  Persönlich- 
keit, sich  berufen  fühlte,  in  dem  um  Lessings  Nathan  ent- 
brennenden Streit  ein  Wort  mitzureden,  findet  in  der  Art  und 
AVeise,  wie  dies  geschah,  ihre  Berechtigung.  Denn  man  ist 
gewöhnt,  bei  den  Gegnern  immer  an  die  Person  des  durch 
Lessing  unsterblich  gewordenen  Hauptpastors  Göze  zu  denken, 
und  es  mag  ein  um  so  erfreulicherer  Anblick  sein,  mitten  unter 
der  feindlichen  Schar  einen  Mann  zu  erblicken,  der,  w^ohl  auch 
nicht  einverstanden  mit  den  erst  in  den  Fragmenten  und  dann 
im  Nathan  dargestellten  Ideen,  doch  in  seiner  Bekämpfung  und 
Widerlegung  derselben  einen  anderen  Weg  wandelte  als  die 
meisten  von  Lessings  Gegnern! 

Die  Entstehung  des  Nathan  geht  nach  Lessings  eigenen 
Worten  in  einem  Brief  an  seinen  Bruder  weit  zurück  über 
seine  Streitigkeiten  mit  Göze  nach  der  Herausgabe  der  Wolfen- 
bütteler  Fragmente,  die  als  bekannt  vorausgesetzt  werden  dürfen. 
Will  man  die  erste  Idee  dazu  nicht  schon  in  dem  Jugendwerk 
„Die  Juden"  entdecken,  so  giebt  die  Stelle  aus  seinem  Briefe: 
„Ich  habe  vor  vielen  Jahren  einmal  ein  Schauspiel  entworfen, 
dessen  Inhalt  eine  Art  von  Analogie  mit  meinen  gegenwärtigen 
Streitigkeiten  hat,  die  ich  mir  damals  w^ohl  nicht  träumen  liefs" 
den  ersten  Anhaltspunkt  für  die  Entstehung,  zu  der  auch  noch 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  LXXIII.        '  ^  (s4-^ 


2  Eine  Fortsetzung  von  Lessings  Nathan  und  ihr  Verfasser. 

die  ohnedem  schon  sehr  dramatisch  gehaltene  „Rettung  des 
Cardanus"  das  Ihrio^e  beiojetraojen  haben  ma^.  Nun  er  aber 
sah,  welchen  Sturm  überall  die  Herausgabe  der  Wolfenbütteler 
Fragmente  hervorrief,  und  wie  es  sich  namentlich  sein  Haupt- 
gegner Göze  angelegen  sein  liefs,  den  ohnedem  schwer  be- 
drängten Mann  in  jeder  Weise  unschädlich  zu  machen,  mufste 
ihm  das  Wiederauffinden  dieses  Entwurfes  eine  willkommene 
Gelegenheit  sein,  mit  der  Ausführung  desselben  „den  Theologen 
einen  ärgeren  Possen  zu  spielen,  als  noch  mit  zehn  Fragmenten". 
„Ich  mufs  versuchen,  ob  man  mich  auf  meiner  alten  Kanzel, 
auf  dem  Theater,  wenigstens  noch  ungestört  will  predigen  lassen," 
schreibt  er  an  Elise  ßeimarus,  und  macht  sich  allsogleich  an 
die  Ausarbeitung  seines  Nathan.  Dafs  ihm  in  der  That  die 
Möglichkeit  vorschwebte,  diesen  auf  dem  Theater  aufgeführt  zu 
sehen,  sagen  nicht  nur  seine  Worte  an  den  Buchhändler  Vofs : 
„ich  will  ihm  den  Weg  nicht  selbst  verhauen,  endlich  doch 
einmal  aufs  Theater  zu  kommen,  wenn  es  auch  erst  nach  hun- 
dert «Jahren  wäre,"  sondern  auch  der  Schlufs  einer  von  ihm 
entworfenen  Vorrede:  „Noch  kenne  ich  keinen  Ort  in  Deutsch- 
land, w^o  dieses  Stück  schon  jetzt  aufgeführt  werden  könnte ; 
aber  Heil  und  Glück  dem,  wo  es  zuerst  aufgeführt  wird." 
Einstweilen  erschien  Nathan  im  Jahre  1779,  und  seine  Auf- 
nahme entsprach  allen  Erwartungen,  die  Lessing  hierfür  gehabt 
hatte,  vollkommen:  Herder  nannte  das  Stück  in  einem  Briefe 
an  Lessing  „Mannes werk",  Goethe  rühmte  die  heitere  Naivität 
im  Nathan,  und  dem  begeisterten  Gleim  galt  der  Verfasser  des 
Nathan  als  „ein  Gott  und  kein  Atheist".  Die  Theologen  frei- 
lich schwiegen,  und  als  Stimmführer  seiner  Gegner  trat  nicht 
ein  solcher,  sondern  ein  Arzt  und  Dichter  aus  Gottscheds 
Schule,  Dr.  Balthasar  Ludewig  Tralles,  mit  seinen  „Zufälligen 
altdeutschen  und  christlichen  Betrachtungen  über  Lessings  neues 
dramatisches  Gedicht  Nathan  der  Weise"  auf.  Lessinor  würdiojte 
den  Mann,  den  „nur  sein  hohes  Alter  von  einem  Tanze,  den 
ich  sonst  mit  ihm  versuchen  würde"  rettete,  keiner  Antwort. 
Einen  Verteidiger  fand  er  in  dem  kursächsischen  Hofrat  F.  W. 
V.  Schütz  mit  dessen  „Apologie,  Lessings  Nathan  betreffend, 
nebst  einem  Anhang  über  einige  Vorurteile  und  nötige  Toleranz", 
deren  Wert  Jördens  freilich  nur  gering  anschlägt.    „Die  einzige 


Eine  Fortsetzung  von  Lessings  Nathan  und  ihr  Verfasser.  3 

warme  und  eingehende  Beurteilung,  welche  Lessing  noch  er- 
lebte, brachte  die  Akademie  der  Grazien  in  dreizehn  Briefen 
an  Madame  B.,  deren  ungenannter  Verfasser  Professor  Schütz 
in  Halle  war."  Der  erste  theatralische  Versuch  freilich,  den 
Drebbelin  in  Berlin  machte,  mifc^lang  vollständig.  Erst  Schiller, 
der  den  Nathan  für  die  Weimarer  Hofbühne  bearbeitete,  gelang 
es,  demselben  einen  Platz  auf  den  Brettern  zu  erobern  und  ihm 
von  da  aus  den  Weg  auf  alle  Bülmen  der  gröfseren  Städte 
Deutschlands  zu  bahnen. 

Im  Jahre  1782  erschien  „der  Mönch  vom  Libanon,  ein 
Nachtrag  zu  Nathan  der  Weise",  mit  dem  Motto:  Totg  lomoTg 
tv  TiaQaßolaTg,  und  im  Jahre  1785  eine  zweite,  sehr  veränderte 
Auflasse.  Verfasser  dieser  Schrift,  die  von  seinen  Zeito^enossen 
mit  viel  Beifall  aufgenommen  wurde,  war  J.  G.  Pfranger,  Hof- 
prediger zu  Meiningen.  Der  Verfasser  des  Mönches  vom 
Libanon  wurde  am  5.  Auojust  1745  zu  HildburMiausen  ije- 
boren.  Trotz  aller  Talente,  die  er  schon  in  früher  Juo;end 
zeigte,  wurde  er  dazu  bestimmt,  das  Gewerbe  seines  Vaters, 
das  eines  Lohgerbers,  zu  erlernen.  Allein  Pfranger  wufste 
seinen  Willen,  der  nun  einmal  auf  das  Studium  ging,  durch- 
zusetzen und  ^inoj  nach  Coburoj  zum  Besuch  des  dortio^en 
Gymnasiums.  Noch  einmal,  beim  Tod  seines  Vaters,  versuchte 
seine  Mutter,  ihn  von  seinem  Vorhaben  abzubringen,  aber  er 
blieb  standhaft,  und  bezog,  freilich  unter  den  kümmerlichsten 
Verliältnissen,  die  Universität  Jena,  wo  er  bei  Walch  und  Polz 
Theologie  und  Philosophie  hörte.  Schon  im  Jahre  1772  kam 
er  als  Pfarrsubstitut  nach  Strefsenhausen  und  im  Jahre  1776 
bekam  er  den  Antrag  zur  Hofpredigerstelle  nach  Meiningen 
und  behielt  dieselbe  auch  bis  zu  seinem  am  10.  Juli  1790  er- 
folojenden  Tode.  Pfranger  war  als  Schriftsteller  unsiemein  thätior, 
und  wenn  sich  auch  seine  Hauptthätigkeit  als  solche  hauptsäch- 
lich auf  das  pastorale  und  theologische  Gebiet  erstreckte,  so 
fand  er  doch  noch  Zeit  und  Mufse,  auch  seine  poetischen  An- 
lachen zur  Geltunoj  kommen  zu  lassen.  Seine  nach  seinem  Tode 
von  J.  E.  Berger  herausgegebenen  Gedichte,  die  aufserdem  eine 
ausführliche  Biographie,  teilweise  aus  der  Feder  seiner  Gattin, 
enthalten,  zeigen  allerdings  kein  hervorragendes  Talent,  wohl 
aber   an    vielen   Stellen,    und    namentlich    in    seinen    geistlichen 

1* 


4  Eine  Fortsetzung  von  I^osslngs  Nathan  und  Ihr  Verfasser. 

Liedern,  warme  Empfindung!  Manclie  derselben  erinnern  leb- 
haft an  entsprechende  Stellen  in  dem  „Mönch  vom  Libanon", 
und  namentlich  das  in  seiner  Art  charakteristische  Gedicht 
„Gewifsheit  der  Auferstehung"  weist  direkt  auf  einen  dasselbe 
Thema  behandelnden  Dialog  im  „Mönch"  hin.  Was  Pfranger 
als  Mensch  und  als  Schriftsteller  war,  sagt  Jördens  im  An- 
schlufs  an  die  obengenannte  Biographie:  „In  diesem  Amte  — 
nämlich  dem  eines  Hofpredigers  in  Meiningen  —  erwarb  er 
eich  die  ganze  Achtung  und  das  Zutrauen,  dessen  er  nach 
Geist  und  Herz  so  würdig  war.  Vornehm  und  Gering  schätzten 
seine  Wahrheitsliebe  und  Redlichkeit,  seine  stille  Frömmigkeit, 
seine  anspruchslose  Gelehrsamkeit,  und  suchten  seinen  L^mgang, 
den  er  durch  Witz  und  Laune  und  vorzüglich  durch  schätz- 
bare Bemerkuno^en  über  AVeit  und  Menschen  sehr  anö-enehm 
und  anziehend  zu  machen  wufste.  Am  meisten  liebte  er  die 
stillen  Freuden  des  häuslichen  Lebens.  Er  gab  bei  mehreren 
Gelegenheiten  Beweise  einer  aufgeklärten  Denkungsart,  und  be- 
nutzte das  Gute,  was  er  in  den  Schriften  der  Neueren  fand, 
ohne  desweofen  die  Verdienste  der  Alten  zu  verkennen.  Überall 
bemerkte  man  an  ihm  den  Mann,  der  gewohnt  war,  über  die 
wichtiofsten  Gegenstände  des  menschlichen  AVissens  selbst  nach- 
zudenken.  Seine  Liebe  zur  AVahrheit  war  unbestechlich,  und 
er  warnte  ohne  Menschenfurcht  vor  herrischen  Thorheiten  und 
Modesünden.  Und  doch  hörte  man  ihn  gern,  und  selbst  Grofse, 
denen  Widerspruch  oftmals  so  unerträglich  ist,  schätzten  ihn 
nur  um  so  höher:  denn  was  er  sprach,  kam  vom  Herzen,  und 
er  wufste  zu  rühren,  wie  es  wenio;e  können.  Mit  der  Offenheit 
seines  Charakters  verband  er  eine  musterhafte  Bescheidenheit. 
Er  haschte  nicht  ängstlich  nach  Lob  und  Beifall.  Er  trat  als 
Schriftsteller  auf,  aber  er  arbeitete  langsam  und  war  streng 
gegen  seine  Arbeiten,  ehe  er  sie  dem  Druck  übergab.  P2r 
würde  vielleicht  sehr  weniij  oder  jrar  nichts  für  das  Publikum 
geschrieben  haben,  wenn  ihn  nicht  der  Wunsch,  Gutes  zu  wirken, 
und  die  Sorge  für  seine  immer  gröfser  werdende  Familie  dazu 
ermuntert  hätte.  Er  war  unstreitiij  einer  der  beliebtesten  und 
vorzüglichsten  Prediger  seiner  Zeit.  Seine  Vorträge  w^aren  so 
reich  an  Gedanken,  in  eine  so  schöne,  edle  Sprache  gekleidet, 
so  voll  praktischer  Lebensweisheit,    dafs    sie  immer  Eingang  in 


Eine  Furtiictzung  von  Ltssings  Nathan  und  ihr  Verfasser.  5 

die  Herzen  seiner  Zuhörer  fanden.  Er  empfahl  vorzüglich 
thätiges  Christentum,  nicht  nur  durch  Lehren,  sondern  auch 
durch  seinen  frommen  Wandel.  Er  lebte  wie  er  lehrte.  Das 
Publikum  hat  Pfranger  aus  seinen  Predigten  als  einen  vortreff- 
lichen Kanzelredner  kennen  gelernt.  Überall  findet  man  den 
Denker  und  Menschenbeobachter,  der  in  seine  Vorträsfe  eine 
brauchbare  Philosophie  des  Lebens  zu  verweben  weifs,  den 
geübten  Mann,  der  die  bekanntesten  Dinge  durch  neue  Dar- 
stellungen und  Wendungen  interessant  zu  machen  versteht,  den 
toleranten  Moralisten,  der  nicht  kanzelt  und  poltert  und  doch 
derbe  Wahrheiten  sagt,  sie  aber  mit  Bescheidenheit  vorbringt, 
und  dem  der  Andersdenkende  gern  auch  seine  Anhänglichkeit 
an  das  kirchliche  System,  die  hier  und  da  durchschimmert, 
zuirute  hält.  Pfranojer  besafs  bei  einem  sehr  o-ebildeten  Ver- 
stand  eine  lebhafte  Phantasie,  die  ihm  immer  die  schönsten  und 
fruchtbarsten  Bilder  darbot,  wodurch  er  seinen  Vortrag  beson- 
ders anziehend  zu  machen  wufste.  Als  Dichter  hat  er  die 
Poesie  der  Deutschen  zwar  nicht  mit  ausoezeichneten  Meister- 
stücken  bereichert,  aber  die  sanften,  frommen  Empfindungen, 
die  er  mehrenteils  in  einer  fliefsenden  Sprache  vorträgt,  machen, 
dafs  man  seiner  Mufse  gern  zuhört.  Überall  verrät  sich  in 
seinen  Gedichten  Empfänglichkeit  für  das  Schöne  und  Reiche 
der  Natur  und  Sitten,  die  aber  durch  Kritik  und  Poetik  noch 
zu  keinem  sicheren  Takt  ausgebildet  worden.  Einzelne  wahr- 
haft schöne  Stellen  triift  man  allenthalben  auch  selbst  da  an, 
wo  das  Ganze  uns  minder  gefällt.  Eben  das  gilt  von  seinen 
geistlichen  Liedern.  Manche  derselben  können  den  besten  un- 
serer  Liederdichter  an  die  Seite  gesetzt  werden." 

Was  nun  die  eigentliche  Entstehung  seines  Mönch  vom 
Libanon  betrifft,  so  wissen  wir  aus  der  Erzählung  seiner 
Gattin,  dafs  ihm  schon  die  von  Lessing  1778  herausgegebenen 
Fragmente  viel  zu  schaffen  gemacht  hatten.  „Als  Lessings 
Nathan  erschien  und  so  allgemeinen  Beifall  fand,  so  gab  ihm 
das  Veranlassung  den  Mönch  vom  Libanon,  Dessau  1782,  zu 
schreiben.  Nicht  eben  um  mit  Lessing  eine  Lanze  zu  brechen, 
sondern  um  manche  Angstliche  zu  beruhigen  und  zu  zeigen, 
was  das  Christentum  auf  so  manchen  witzigen  und  scheinbaren 
Einwurf  des  Lessingschen  Dramas  antworten  könnte.     Es  war 


6  Eine  Fortsetzung  von  Lessings  Nuthan  und  ihr  Verfasser. 

immer  ein  Wagestück,  sich  neben  Lessing  zu  stellen.  Aber 
es  war  gar  nicht  Pfrangers  Absicht,  zu  einer  Vergleicliung  mit 
Lessings  Meisterwerk  aufzufordern.  Daher  kein  polemischer 
Ton,  kein  zürnender  Seitenblick  auf  Lessing,  aber  gcwifs 
schöner  und  starker  Stellen  viele." 

Unter  den  gleichzeitigen  Kritiken  möchte  ich  diejenige  der 
„Göttinger  gelehrten  Anzeigen"  und  die  der  „Allgemeinen 
deutschen  Bibliothek"  besonders  als  eingehend,  freilich  auch  äu 
verschiedenem  Resultat  gelangend  anführen.  Die  ersteren  sag^n: 
„Alles  ist  überhaupt  mehr  theologisch  als  philosophisch  gestellt 
und  behandelt.  Lessingschen  Scharfsinn  findet  man  also  frei- 
lich nicht,  der  Tempelherr  und  Recha  werden  bekehrt,  man 
weifs  nicht  wie.  Doch  eben  der  theologische  Gang  des  Dramas 
macht  vielleicht  bei  einem  Teil  der  Leser  das  Verdienst  aus. 
Da  es  übrigens  in  Anlage  und  Ausführung  neben  den  Nathan 
crestellt  ist,  so  mufs  es  wohl  auch  in  diesem  Lichte  betrachtet 
werden,  und  so  mufs  man  Stellen  übersehen,  wo  man  sonst 
den  blofsen  Nachahmer  finden  würde.  Dagegen  kommen  ein- 
zelne Züo-e  vor,  insonderheit  an  Saladin,  welche  selbst  nach 
Lessings  Saladin  noch  immer  gefallen.  Wenn  der  Mönch  her- 
vorstechen sollte,  so  mufste  Nathan  freilich  zurückstehen,  und 
er  macht  auch  hier,  sowäe  der  Tempelherr  und  Recha,  eine 
ziemlich  gemeine  Figur.  Hingegen  erkennen  wir  an  vielen 
Stellen  den  glücklichen  Wetteiferer  mit  Lessing."  Die  „All- 
"■emeine  deutsche  Bibliothek"  dagegen  weifs  sich  nur  an  die 
Schwächen  in  Pfrangers  „Mönch  vom  Libanon"  zu  halten.  Die 
offenbare  Erkenntnis,  dafs  seine  Persönlichkeiten  mit  denen 
Lessings  nichts  gemein  haben,  hebt  sie  in  einer  wenig  passen- 
den Heftigkeit  hervor  und  gelangt  am  Ende  zu  der  Frage: 
„Was  soll  uns  nun  dies  Stück  hinter  dem  Nathan  lehren? 
Die  Absicht  des  Verfassers  scheint  zu  zeigen:  dafs  unter  allen 
positiven  Religionen  die  christliche  die  beste  und  die  wahrste 
ist.  Sonderbar,  dafs  er,  was  die  Glaubenssachen  betrifft,  den 
Saladin  für  einen  echten  Mohammedaner,  Nathan  und  Recha 
für  Juden  und  den  Tempelherrn  für  einen  Christen  annimmt; 
nach  Lessings  Zeichnuno;  scheinen  sie  so  ziemlich  frei  von 
allem,  w^as  in  einer  Religion  positiv  ist,  und  nur  das  anzu- 
nehmen,   was    die   reinste   geläutertste  Vernunft  von  Gott  lehrt. 


TEine  Fortselzuns  von  Lessiiiirs  Nathan  und  ihr  Verfasser.  7 

Dies  verändert  bei  Sakulins  Zweifeln  und  Rechas  Bekeh- 
runs:  sar  merklich  den  Fall.  Man  weifs  eioentlich  nicht,  wie 
man  mit  diesem  Saladin  daran  ist;  an  Gott,  Vorsehung,  Un- 
sterblichkeit der  Seele  zw^eifelt  er  doch  nicht.  Er  wird  hier 
als  blutdürstiger  Eroberer  beschrieben,  darum  fürchtet  er  den 
Zorn  des  Richters,  und  gegen  diese  Furcht  sichert  ihn  nur  sein 
Traum!  Das  kann  doch  wohl  kein  Beweis  sein  sollen.  Recha 
gewinnt  den  Stifter  der  christlichen  Religion  lieb,  da  sie  sein 
Leben  liest,  w'ie  bei  jedem  fühlenden  Herzen  natürlich  ist.  Aber 
nun  soll  sie  auch  den  Beweis  aus  den  Wundern  und  sogar  aus 
den  Märtyrern  glauben,  den  der  Mönch  ihr  vordemonstriert. 
Nathan  ist  doch  vom  Verfasser  selbst  im  Handeln  als  höchst 
edel  und  höchst  fromm  und  gottergeben  dargestellt  worden. 
Der  Hauptheld  ist  der  Mönch,  allein  seine  gepriesene  Tugend 
scheint  uns  so  ziemlich  mönchisch.  —  Sein  Handeln  ist 
Möncherei  und  übertriebene  Grille  eines  dickblütigen  Fanatikers ; 
nicht  Forderunjy  des  Christentums.  —  Die  Fabel  von  den  drei 
Ringen  wird  ein  wenig  bespöttelt  und  dagegen  eine  Parabel 
vom  Ackerbau  erzählt,  die  w^enigstens  an  poetischem  Verdienst 
weit  unter  jener  steht.  —  Um  auf  unsere  Frage  zurückzukom- 
men: w'as  lernt  man  aus  diesem  seinsollenden  Lehrgedichte? 
so  läfst  sich  nichts  anderes  antworten  als:  dafs  ein  Sultan  zu- 
weilen an  Gründen  der  Vernunft  nicht  genug  hat,  sondern  auch 
Spiele  der  Einbildungskraft  verlangt;  und  dafs  ein  Christ  sehr 
edel  sein  kann  (nur  schade,  dafs  dieser  hier  zugleich  mön- 
chisch ist)." 

IL 

Es  mas:  nun,  wenn  die  Handlung  im  Mönch  vom  Libanon 
des  näheren  erzählt  werden  soll,  mit  wenigen  Worten  die  Vor- 
aussetzuuo[,  auf  der  sich  Lessino^s  Nathan  und  dieses  Drama 
aufbaut,  erwähnt  sein.  Saladins  Bruder  Assad  hatte  aus  Neigung 
zu  einer  Christin  vor  Jahren  seine  Familie  und  seinen  Glauben 
verlassen.  Unter  dem  Namen  eines  Wolf  von  Filneck  lebte  er 
eine  Zeit  lang  in  Deutschland,  der  Heimat  seines  Weibes,  bis 
ihn  das  rauhe  Klima  von  dort  ins  Morgenland  zurücktrieb.  In 
Deutschland  liefs  er  einen  Sohn  zurück,  den  sein  mütterlicher 
Oheim  Konrad  von  Staufen,  ein  Tempelherr,  erzog.    Im  Morgen- 


8  Eine  Fortsetzung  von  Lessings  Nathan  und  ihr  Verfal^scr. 

laiicl  wird  ilmi  eine  Tochter  geboren.  Er  verteidigt  mit  den 
Kreuzfahrern  Gaza  und  übergiebt  bei  dieser  Gelegenheit  ehiem 
seiner  vertrautesten  Freunde,  dem  Juden  Nathan  in  Jerusalem, 
seine  Tochter,  die  dieser,  da  Assad  bei  Askalon  gefallen  und 
er  selbst  seine  ganze  Familie  verloren,  nun  als  sein  eigenes 
Kind  erzieht.  Das  Weitere  bildet  den  eigentlichen  Inhalt  des 
Lessinascheu  Drames  und  bedarf  als  solcher  keiner  näheren 
Erwähnung.  Bei  der  Erzählung  der  Handlung  folge  ich  zu- 
nächst der  ersten  Ausgabe  des  Mönch  vom  Libanon,  die  im 
Jahre  1782  in  Dessau  erschien. 

Auf  einem  Wege  in  Damaskus,  nahe  bei  dem  Palaste  des 


Sultans,  an  der  Kirche  vorbei,  nach  welcher  ein  grofser  Zu- 
sammenflufs  von  Menschen  ist,  treffen  sich  der  schon  von 
Lessinix  so  wohlbekannte  Klosterbruder  und  der  Mönch  vom 
Libanon,  und  da  beide  erfahren,  dafs  in  der  Kirche  ein 
„Thränen-Fest  für  unseres  Sultans  Leben"  gefeiert  werde, 
eini2:en  fie  sich  schnell  und  schliefsen  sich  dem  Zu^'e  in  die 
Kirche  an.  Li  der  ersten  Scene  des  ersten  Aktes  führt  uns 
der  Dichter  in  Saladins  Krankenzimmer,  wo  der  Sultan  seiner 
Schwester  von  der  Ahnung  seines  nahen  Endes  spricht.  Sittah 
freilich  will  noch  nicht  an  dieses  glauben,  aber  Saladin  bleibt 
auf  seinem  Glauben  bestehen,  und  angesichts  des  Todes  läf&t 
er  sein  o;anzes  Leben  noch  einmal  vor  seinem  Au2:e  vorüber- 
ziehen.  Indessen  bringt  der  Diener  Abdallah  die  Kunde  von 
der  Ankunft  des  sehnsüchtig  erwarteten  Arztes  und  dieser  selbst 
erscheint  gleich  darauf  in  Gestalt  des  Mönches  vom  Libanon. 
Er  meint  zu  Siitahs  Trost,  dafs  die  Krankheit  noch  nicht  2'ar 
so  verzweifelt  sei,  und  eilt,  die  nötigen  Arzneien  zu  bereiten. 
„Doch  wieder  ein  Gesicht  wie  Assads;  freilich  die  Jugendblüte 
nicht"  meint  Saladin  nach  seinem  Weggang,  und  Sittah  be- 
stätigt diese  Ähnlichkeit:  „Bald  hätt  ich  ihn  gefragt,  ob  Kurd 
nicht  etwa  sein  Sohn  sei."  Indessen  ist  dieser  Gedanke  nur 
ein  augenblicklicher,  und  Saladin  aufsert  ein  Verlangen  nach 
Nathan,  den  Sittah  augenblicldlch  rufen  lassen  wiU.  In  einem 
nun  folgenden  Monologe  Saladins  erfahren  wir,  dafs  seine 
eigentliche  Krankheit  keine  körperliche,  sondern  eine  geistige, 
hervorgerufen  durch  die  letzten  Vorgänge  und  Erfahrungen,  ist. 
Aus  Ermattung  entschlummert  Saladin,    und    an    seinem  Laster 


Eine  Fortsetzung  von  Lessings  Natlum  und  ilir  Verfasj^cr.  9 

entspinnt  sich  nun  ein  Gespräch  zwischen  den  beiden  Mame- 
luken Ofsmaun  und  Abdallah,  in  welchem  der  letztere  Saladin 
oecren  die  Vorwürfe  des  in  seinem  Innersten  verbitterten  Ofsmann 
schützt.  Da  dieser  sich  nun  entfernt  und  Nathan  herbeikommt, 
erzählt  Abdallah  dem  Juden  von  dem  Mönch,  hinter  dessen 
Gebaren  gar  leicht  VerrUterei  stecken  könnte.  Denn  da  er 
von  den  Christen  in  Jerusalem  gesandt  sei,  den  Sultan  zu 
retten,  und  bekannt  sei,  wie  ungern  sich  die  Christen  unter  die 
Herrschaft  der  Türken  beugen,  so  wisse  man  nicht,  was  da- 
hinter stecke,  und  selbst  Nathan  meint  nun:  „ganz  scheint  der 
Verdacht    nicht   ohne    Grund."      Indessen    ist    Saladin    erwacht 

und  versucht  mit  einem  «"rausamen  Scherz   die  maulfertioe  Er- 
es C3 

gebenheit  Abdallahs  auf  die  Probe  zu  stellen;  während  er  in 
dem  nun  folgenden  Gespräch  mit  Nathan,  dessen  eingehende 
Charakteristik  ich  mir  für  spater  vorbehalte,  diesem  offen  und 
ehrlich  bekennt:  „Ich  hiefs  dich  kommen,  Nathan,  dem  Herzen 
die  verlorene  Kühe  wiederzugeben,  die  ihm  deine  Weisheit 
nahm",  denn  „Wie  schrecklich  hat  die  Wahrheit  ihren  Ernst 
an  mir  irerochen."  Die  Aufreijuno:  aber,  in  die  den  Sultan  das 
Gespräch  mit  dem  Juden  versetzt,  ist  eine  für  den  Kranken  zu 
grofse,  und  in  wirre  Fieberphantasien  verfallend  sieht  er  sich 
mitten  auf  dem  Schlachtfelde  unter  Toten  und  Verwundeten. 
Nur  der  klugen  Rede  seiner  indessen  wieder  herbeiüekommenen 
Schwester  o-elin^^t  es,  den  Aufo:ereo;ten  zu  beruhioen  und  zum 
Schlummer  zu  bringen. 

Der  zweite  Aufzug  zeigt  uns  den  Mönch  und  den  Tempel- 
herrn in  einer  grofsen  Gartenlaube  am  Palast  in  vertraulichem 
Gespräche  sitzend.  Eingehend  erkundigt  sich  der  Mönch  nach 
Familie  und  Geschick  des  Tempelherrn  und  seiner  Schwester, 
und  es  drängt  ihn,  dem  Templer  zu  gestehen:  „Sieh,  junger 
edler  Mann,  dein  Schicksal  hat  mich  so  gerührt,  dafs  alles  mir 
so  lieb  ist,  was  dich  betrifft."  Dieser  zögert  nicht  mit  einem 
gleichen  Bekenntnis  der  Sympathien  für  den  Mönch:  da  sich 
derselbe  des  weiteren  nach  der  Schwester  erkundigt:  „hat  die 
Schwester  auch  ihres  Bruders  edles  Herz ;  sie  ist  als  Jüdin 
ohne  Zweifel  auch  erzogen?"  erbietet  sich  der  Tempelherr,  seine 
Schwester  herbeizuholen,  und  Recha  trotz  ihres  Widerwillens 
gegen   alles,    was    eine   Kutte    trägt,    folgt   dem    Bruder.      Der 


10  Eine  Fortsetzung  von  Lessings  Nathan  und  ihr  Verfasser. 

Mönch,  den  der  Anblick  des  Mädchens  aufs  tiefste  ergreift, 
erzählt  diesem  von  ihrem  Vater,  mit  dem  er  „manche  gute, 
nicht  üanz  unedle  That  ojethan",  und  verweist  die  Geschwister 
auf  ein  Wiedersehen  mit  demselben  im  Jenseits.  Er  versteht 
es,  in  einem  längeren  Gespräche  mit  dem  Mädchen,  das  den 
Wert  des  Christentums  behandelt,  das  Herz  Rechas  so  ganz 
für  sich  zu  gewinnen,  dafs  sie  ihm  bekennt:  Guter  Vater,  du 
hast  mein  Herz!  selbst  eine  Kutte  kömmt  mir  nicht  mehr 
schrecklich  vor,  seit  ich  dich  reden  gehört.  Der  Mönch  aber, 
der  dem  Mädchen  ein  Evangelienbuch  zur  fleifsigen  Benutzung 
übero-iebt,  stellt  ihr,  da  sie  meint,  sie  werde  der  Versuchun^j 
Christum  lieb  zu  gewinnen  wohl  kaum  widerstehen  können,  das 
Zeu<Tnis  aus ;  ..Lies  und  lieb  ihn,  dein  Herz  ist  seiner  wert." 
Der  sich  indessen  den  Dreien  mit  Schmeichelreden  nahende 
Abdallah  wird  von  Recha  und  Assad  —  so  heifst  ja  nun  seinem 
Vater  nach  der  junge  Templer  —  in  kurzen  Worten  abgefertigt, 
und  macht  dann  in  einem  Monolog  seiner  wilden  Eifersucht  auf 
den  Mönch  Luft,  denn 

Mein  ist  Recha! 

Auf  ihr  beruht  der  glänzende  Entwurf 

Von  meinem  Glück. 

Zu  geeigneter  Stunde  naht  sich  ihm  darum  auch  jetzt  der 
Imam  Jezid,  und  durch  allerlei  Stachelreden  weifs  er  diesen 
so  ofesen  den  Mönch,  der  ihn  beim  Sultan  schon  vollständii^ 
verdrängt  habe,  aufzureizen,  dafs  der  Imam,  seiner  nicht  mehr 
mächtior,  ein  aefüoriores  Werkzeuo^  für  den  Plan  Abdallahs  wird. 
Beide  belauschen  in  einem  Versteck  ein  Gespräch  Nathans  mit 
Sittah,  die  sich  höchst  verächtlich  über  Jezid  und  seine  Kunst 
und  Wissenschaft  aussprechen,  dagegen  dem  Mönche  und  seinem 
Gebaren  das  vollste  Lob  spenden.  Natürlich  steigert  dieses 
den  Zorn  Jezids  bis  zur  Raserei,  so  dafs  ihm  Abdallah  nur 
wie  von  ungefähr  einen  Gedanken  hinzuwerfen  braucht,  wie 
Nathan  und  der  Mönch  unschädlich  zu  machen  wären,  um  eicher 
zu  sein,  dafs  derselbe  von  dem  Imam  gierig  aufgegriffen  und 
zur  That  gemacht  wird. 

Indessen  sind  der  Mönch  und  der  Klosterbruder  mit  Zu- 
bereiten von  Arzeneien  beschäftigt,  bei  welcher  Gelegenheit  der 
redseliixe  Klosterbruder    erzählt,   wie    treulich   er   seinem  Herrn 


Eine  Fortsetzung  von  Lessings  Nathan  uml  ihr  N'erfasser.  11 

cjedlenf,  der  bei  Askalon  im  Treffen  fyeblieben  und  ihm  seine 
Tochter  für  den  Juden  Nathan  zuvor  überijeben  habe.  Daneben 
freilich  drängt  es  ihn,  dem  Mönche  von  seinem  Auftraij,  mit 
dem  ihn  der  Patriarch  diesem  nachgeschickt,  zu  erzählen.  Dieser 
Auftrag  laute  auf  nichts  anderes,  als  wohl  zu  erwägen,  welche 
Vorteile  aus  der  Krankheit  des  Sultans  „der  lieben  Christen- 
heit zu  Nutz  und  Frommen"  zu  ziehen  wären.  Auch  sei  nach 
Ansicht  des  Patriarchen  gegen  Saladin  als  einen  Feind  der 
Christenheit  keinerlei  Bedenken  gültig:  „Und  könnte  nur  die 
Kunst  des  frommen  Herrn  Noch  ein'ge  Wochen  ihn  so  zwischen 
Leben  Und  Tod  erhalten,  bis  man  insgeheim  Auf  jeden  Fall 
bereitet  sei,  dann  so  wollte  Er  wohl  dem  frommen  Herrn  davon 
berichten.  Noch  etwas  mehr.  Es  würde  dann,  sagt  er,  dies 
Pülverchen,  das  er  mir  anvertraute,  schnell  entscheiden  Auf 
Leben  oder  Tod."  Die  durch  diese  Nachricht  hervoro-erufene 
Angst  des  Mönches  beruhigt  der  Klosterbruder  durch  die  Ver- 
sicherung, dafs  er  das  Pülverchen  verloren  habe.  Noch  naht 
sich  nun  dem  allein  weiterarbeitenden  Klosterbruder  Abdallah, 
um  ihn  auszuforschen,  erfährt  aber  nur  das  Notwendigste  von 
diesem. 

Die  erste  Scene  des  dritten  Aufzusjes  zeisjt  uns  in  Saladins 
Krankenzimmer  diesen  sowie  Sittah  und  Recha.  Saladin  fühlt 
sich  durch  den  Trank  des  Mönches  wunderbar  gestärkt;  dieser, 
da  er  eben  den  Sultan  besucht,  wird  nun  bald  in  ein  religiöses 
Gespräch  verwickelt  und  nimmt  natürlich  hier  wiederum  die 
Gelegenheit,  das  Christentum  als  die  allein  echte  Religion  dar- 
zustellen. Bei  Erwähnung  der  Erzählung  Nathans  wird  der 
Mönch  von  Recha  aufgefordert,  seine  Ansicht  in  ein  ähnliches 
Gewand  zu  kleiden,  und  er  folgt  diesem  Wunsche.  Nathan, 
der  nach  dem  Weorofano^  des  Mönches  ins  Zimmer  getreten, 
kann  sich  nicht  enthalten,  den  ihm  dort  ento^eo^entönenden 
Ruhraeserhebungen  des  Mönches  Nachrichten  aus  Jerusalem 
entgegenzuhalten,  die  denselben  als  ein  Geschöpf  des  Patriarchen 
verdächtigen.  Diesen  Verdacht  bestärken  in  seiner  Weise  Abd- 
allah und  ein  eben  aus  Jerusalem  an  den  Sultan  kommender 
Brief  seines  Vaters,  der  den  Mönch  als  geheimen  Meuchel- 
mörder verklagt.  Recha  und  der  Tempelherr  w^erden  nun  ver- 
hört, und  ihr  Lob  und  Vertrauen    zu    dem  Manne    machen  den 


12  Eine  Fortselzung  von  Leasings  Nathan  und  ihr  Verfasser. 

Sultan  wieder  schwankend.  Indessen  nahen  sieh  Nathan,  Jezid, 
Abdallah  und  der  Mönch  mit  einem  Becher  Arznei.  Jezid  aber 
nimmt  heimlich  Gelegeidieit,  den  Becher  des  Mönches  mit  einem 
anderen  zu  vertauschen,  und  nur  durcli  eine  l\ede  Saladins  auf- 
merksam gemacht,  sieht  der  Mönch  noch  einmal  in  den  Becher 
und  entdeckt,  dafs  derselbe  Gift  enthält.  Trotz  aller  Beteue- 
runoen  seiner  Unschuld  wird  er  gefangen  genommen,  und  der 
vierte  Aufzus:  zei^rt  uns  nun  denselben  im  Gefänofnis.  Abdallah 
triumphiert,  dafs  sein  Plan  gelungen,  und  er  erneuert  sein  Bünd- 
nis mit  Jezid.  Indessen  trifft  Nathan  vor  dem  Gefängnis  mit 
dem  Klosterbruder  zusammen,  und  dessen  Erzählung  giebt  ihm 
einen  deutlichen  Wink,  wo  und  in  wessen  Person  der  richtige  Gift- 
mischer zu  suchen  und  zu  finden  sei.  ßecha  und  der  Tempelherr 
besuchen  den  Mönch  im  Gefängnis  und  überzeugen  sich  von 
seiner  Unschuld,  die  nun  auch  durch  Nathan,  der  indessen  die 
Vertauschuns  der  Becher  entdeckt,  bestäti2;t  wird.  Jezid,  dessen 
Gewissen  sich  regt,  wird  von  Nathan  mit  allerlei  Andeutungen 
in  die  Enge  getrieben  und  begiebt  sich  zu  dem  Mönch,  um  von 
diesem  das  Eecept  seiner  Arznei  erfahren  und  so  den  Sultan  retten 
zu  können.  Bei  seinem  Austritt  aus  dem  Gefängnis  wird  er 
von  dem  mit  der  Wache  sich  nahenden  Ofsmann  verhaftet  und 
in  denselben  Turm,  in  dem  der  Mönch  gefangen  ist,  geworfen. 
Der  fünfte  Aufzuo-  zeiot  uns  das  Verhör  von  Jezid  und 
Abdallah  und  die  Befreiung  des  Mönches,  der  bei  dem  Sultan 
um  Verzeihung  für  die  Mörder  bittet  und  von  allen  als  ein 
neues  Mitglied  der  Familie  mit  Begeisterung  aufgenommen  wird. 
Unterdessen  wird  auch  noch  ein  Diebstahl  entdeckt,  denn  die 
Heilkräuter  des  Mönches  sind  verschwunden,  und  Abdallah,  der 
alle  Schuld  auf  den  Imam  zu  schieben  sucht,  wird  zum  Tode, 
der  Imam  zu  lebenslänolichem  Gefänfinis  verurteilt.  Abdallah 
aber  rächt  eich  an  dem  Sultan,  indem  er  sich  als  den  Enkel 
Nurredins,  dem  Saladin  einst  Thron  und  Keich  entwendet,  zu 
erkennen  giebt,  nachdem  er  zuvor  durch  eine  Erzählung  den 
Sultan  sich  selbst  das  Urteil  des  Verräters  hat  sprechen  lassen. 
Dem  mit  dem  Tode  Ringenden  giebt  sich,  um  dem  Unglück- 
lichen weuio^stens  eine  Freude  noch  zu  bereiten,  der  Mönch 
vom  Libanon  als  seinen  Bruder  Assad  zu  erkennen.  Saladin 
stirbt,    und    sein    Vater    Nodgemeddin,    der    herbeigeeilt,    findet 


tiine  Fortsetzuncj  von  Lessinrjs  Nathan  und  ihr  Verfasser.  13 

seinen  verlorenen  Sohn  wieder.  Der  Klosterbruder  aber,  der 
eben  mit  einem  Korb  voll  Kräutern  und  Blumen  herbeieilt,  damit 
daraus  der  MÖnch  die  rettende  Arznei  zubereite,  kann  diese 
nur  noch  als  letzten  Grufs  über  die  Leiche  Saladins  streuen. 

Dies  der  Gang  der  Handlung  in  der  zweiten  Auflage  des 
Buches  von  1785.  Dieselbe  erscheint  der  ersten  von  1782 
o^egenüber  in  manchen  Stücken  umgeändert.  So  weifs  diese 
letztere  nichts  von  der  Bercegnun«]^  des  Mönches  mit  dem  Kloster- 
bruder,  sondern  führt  uns  direkt  in  Saladins  Krankenzimmer, 
wo  Sittah  dem  Bruder  die  Ankunft  eines  Mönches  und  Arztes 
vom  Libanon  meldet.  Saladin  scherzt  nicht  in  so  grausamer 
Weise  mit  Abdallahs  Opferwilligkeit,  und  dieser,  der  nach  der 
Unterredunor  Rechas  mit  dem  Mönch  sich  dem  Mädchen  naht, 
ist  nur  der  Diener  und  nicht,  wie  in  der  zweiten  Auflage,  auch 
der  glühende  Liebhaber  Rechas,  so  dafs  auch  sein  Monolog 
nur  ein  oreo-en  den  Mönch  als  eine  bei  Hof  schon  so  rasch  be- 
liebte  Persönlichkeit,  nicht  aber  gegen  ihn  als  einen  Neben- 
buhler um  Rechas  Gunst  gerichteter  ist.  Als  in  die  zweite 
Auflage  erst  ein":eschoben  erweist  sich  ebenso  die  neunte  Scene 
des  zweiten  Aktes,  in  welcher  der  Mönch  und  der  Kloster- 
bruder miteinander  beschäftigt  sind,  dem  Sultan  eine  Arznei 
zuzubereiten,  eine  Gelegenheit,  bei  welcher  letzterer  dem  Mönch 
den  oanzen  Plan  des  Sultans  entdeckte.  Statt  dessen  findet 
sich  in  der  ersten  Auflao;e  eine  Scene  im  Garten,  wo  Saladin 
von  einem  Traum  erzählt,  der  ihm  die  drei  Gestalten  des 
Heidentums,  Judentums  und  Christentums  vorführte  und  die 
Ohnmacht  der  beiden  ersteren  dem  letzteren  gegenüber  in  über- 
wältigender Weise  zeigte,  zugleich  ihm  aber  auch  sagte,  dafs 
sich  das  Wort:  „Heute  wirst  du  mit  mir  im  Paradiese  sein" 
noch  vor  Abend  an  ihm  erfüllen  sollte.  In  der  sodann  in  dem 
Gespräche  Saladins  mit  dem  Mönch  eingeflochtenen  Parabel 
hatte  der  Verfasser  da,  wo  er  in  der  zweiten  Auflage  mit 
einem  kurzen  „doch  ging's  nicht  immer  so"  die  Entwickelung 
des  Menschengeschlechtes  erwähnt,  diesen  Gedanken  des  näheren 
ausgeführt : 

Dies  ruhige  Gartenleben  war 

Für  Menschen  nicht,  wo  Sinn  an  Sinn,  der  Geist 

Im  Zirkel  aller  Schönheit  der  Natur, 


14  Eine  Fortsetzung  von  Lessings  Nathan  und  ihr  Verfasser. 

Durch  immerwährenden  GenuTs  entnervt 
Bald  seiner  Wiird  entsinkt. 

Unmittelbar 
Nur  immer  Kraft  aus  Kraft  zeugt  Übermut 
Und  träge  Lüsternheit.     Für  Kinder  ist's, 
Die  selbst  sich  zn  versorgen  noch  zu  schwach   sind, 
Zu  unerleuchtet,  sich  zu  leiten,  dafs 
Auf  jedem  Schritt  noch  Amm'  und  Lehrer  ihnen 
Zur  Seite  gehen.     Da  die  Ersterschaflfnen 
Nunmehr  zum  reifen  Alter  aufsfe wachsen 
Sich  fühlen  lernten,  trieb  sie  Gott  ins  Feld, 
Und  sengte  mit  dem  Flammenschwert  des  Cherubs 
Zur  Od'  ihr  Paradies, 

Die  Welt  war  jüngst 
Mit  Kraut  und  Gras,  mit  Baum  und  Saat,  hervor 
Aus  Gottes  Schöpferhand  gegangen.     Immer 
Fand  der  Vertriebne  noch  den  Segen  Gottes, 
Afs  ohne  saure  Müh  von  seinem  Tisch. 
So  auserlesen  waren  nur  die  Früchte 
Nicht  mehr,  er  mufste  suchen,  prüfen,  sammeln, 
Was  heilsam  war. 

Die  Menschen  mehrten  sich  — 

um  dann  in  der  Fassung,  wie  sie  auch  die  zweite  Auflage  hat, 
fortzufahren.  Dao:eo;en  weifs  die  erste  Aufla2:e  wiederum  noch 
nichts  von  einer  Besreo^nuno:  Nathans  mit  dem  Klosterbruder 
vor  dem  Gefängnisturm,  in  welcher  der  Jude  die  Spuren  zur 
Entdeckung  des  Giftmischers  findet.  Aber  in  der  ersten  Auf- 
lage hatte  der  Mönch  den  Verdacht  selbst  ausgesprochen  und 
eich  dann,  da  die  Geschwister  seine  Leiden  beklagen,  bei  Recha 
mit  der  Frage  nach  dem  Forto;ano^e  ihrer  Lektüre  im  Neuen 
Testament  erkundio^t.  Bald  sind  die  beiden  wiederum  in  eifrio^- 
stem  Disputieren  über  die  Wunder,  den  Tod  und  die  Auf- 
erstehung Christi,  und  der  jNIönch  bereitet  sogar  Recha  darauf 
vor,  dafs  ihr  Vater  noch  lebe.  Dem  hinzukommenden  Nathan 
erwidert  er  auf  dessen  freundlichen  Vorwurf;  „Du  solltest  doch 
nicht  meine  Tochter  mir  abtrünnior  machen  wollen!"  mit  der 
Versicherung; 

Das  will  ich  nicht,  das  rächt,  wenn  sie  als  Christin 
Verlernte  dich  zu  lieben,  Gott  im  Himmel! 
Was  wäre  dann  das  Christentum  ?     Und  Nathan 
Zürnt  nicht,  wenn  seine  Recha  neue  Gründe 
Lernt,  gut  und  fromm  zu  sein,  und  gottergeben. 


Eine  Fortsetzung  von  Lesslngs  Nathan  und  ihr  Verfasser.  15 

Und  mit  Nathans  Antwort  an  Recha: 

Nein,  gutes  Kind,  ich  zürne  nicht:  je  besser, 
Um  desto  h'eber  deinem  Vater:  nur 
Sei  was  du  bist  mit  Überzeugung. 

ist  bei  den  Dreien  die  Harmonie  vollständig  geschlossen. 

Im  fünften  Aufzug  bringt  sodann  die  erste  Auflage  un- 
mittelbar vor  dem  Verhör  des  Jmam  ein  Zeugnis  für  die  Un- 
schuld des  Mönches  auch  in  einem  Briefe  von  dem  Vater  des 
Sultans,  wodurch  sich  der  erste,  in  dem  der  Mönch  als  Meuchel- 
mörder verklagt  w^urde,  als  Fälschung  erweist,  während  die 
letzte  Scene,  welche  die  zweite  Auflage  vorführt,  die  Ankunft 
Nodgemeddins,  des  Vaters  des  Sultans,  und  des  Klosterbruders 
mit  den  Kräutern  hier  noch  fehlen. 

Die  meisten  der  in  der  zweiten  Auflage  von  dem  Verfasser 
vorgenommenen  Änderungen,  soweit  sie  nicht  blofs  einzelne 
Sätze  und  Wendungen  betreffen,  zeigen  das  unverkennbare  Be- 
streben, der  Handlung  in  jedem  ihrer  Teile  eine  scharf  aus- 
geprägte und  logische  Motivierung  zu  geben,  ohne  Charakter 
und  Tendenz  des  Ganzen  zu  beeinträchtigen.  Allein  auch  wenn 
dies  besser  gelungen  wäre,  als  es  in  der  That  der  Fall  ist,  so 
erhöht  das  den  Wert  des  Stückes  keineswegs,  wenn  es  ihm 
auch  zur  Zeit  seiner  Entstehung  einen  w^eiteren  Leserkreis  ver- 
schafft haben  mag  als  den,  welchen  der  Nathan  gefunden. 

Eine  dritte  Auflage,  die  im  Jahre  1817  erschien,  bringt 
das  Stück  unverändert  und  weist  als  Beigabe  nur  eine  Einlei- 
tuno^  von  A.  Wendt  auf. 

Mit  einer  Erkennungsscene  schliefst  Lessings  Nathan,  und 
mit  einer  Erkennungsscene  der  Mönch  vom  Libanon.  Allein 
während  sich  bei  Lessing  gerade  in  dieser  Schlufsscene  der 
ganze  mächtige  Gedanke  seines  dramatischen  Gedichtes  in  einer 
Weise  verkörpert,  dafs  wir  von  ihm  scheiden  in  einer  gehobenen 
Stimmung,  wie  sie  nur  ungewöhnliche  Ereignisse  im  Menschen- 
leben erzeugen,  ist  es  dagegen  im  Mönch  vom  Libanon  ein 
wahrer  Akt  der  Gnade  vom  Verfasser,  wenn  er  uns  end- 
lich mit  der  schon  lange  bekannten  Thatsache  zum  Schlüsse 
führt. 

Freilich  der  ganze  Plan  dieser  Fortsetzung  baute  sich  schon 
auf  einer   Anschauung   auf,    die   dem    Lessingschen    Gedanken 


IG  Kine  l-'ortsetzung  von  Lessings  Nathan  und  ihr  Verfasser. 

von  einer  immer  ü:röfseren  \'ollkommenheit  des  Menschen- 
gescblechtes  in  seiner  Entwickelung  schnurgerade  entgegen- 
lauft. In  geiner  Erziehun«:  des  Menschenojeschlechtes  mit  den 
Worten  schliefsend  „Geh  deinen  unmerklichen  Schritt,  ewige 
Vorsehung!  Nur  lafs  mich  dieser  Unmerklichkeit  wegen  an 
dir  nicht  verzweifeln!  Lafs  mich  an  dir  nicht  verzweifeln, 
wenn  selbst  deine  Schritte  mir  scheinen  sollten  zurückzugehen. 
Es  Ist  nicht  wahr,  dafs  die  gerade  Linie  immer  die  kürzeste 
ist,"  und  mit  den  Worten:  „Ist  nicht  die  ganze  Ewigkeit  mein?" 
eine  Aussicht  eröffnend,  die  uns  an  einer  endlichen  Vollendung 
der  tausend  tausend  Jahre  des  weisen  Richters  nimmermehr  zwei- 
feln laföt,  mufste  er  einem  von  der  absoluten  Vollkommenheit 
seiner  christlichen  Religion  schon  In  dieser  Zelt  überzeugten 
Menschen  In  einer  Weise  nahe  treten,  die  diesem  w^ie  eine 
«lotteslästerllche  Schmähuno^  auf  das  Allerheillijste  erschien. 
Wenn  nun  Pfranger  sich  berufen  fühlte,  diese  Schmähungen 
7.U  widerlegen,  und  die  Frage  über  die  Echtheit  einer  Religion 
von  seinem  Standpunkt  aus  zu  beantworten,  so  mag  dem  dichte- 
risch beanlagten  Hofprediger  der  Gedanke  einer  Fortsetzung 
des  Nathan  am  nächsten  gelegen  sein.  Wir  wissen  von  Lessing 
aus  seinen  eigenen  Worten,  dafs  etwas  Derartiges  auch  in  seiner 
Absicht  lag:  „Da  ich  übrigens  nun  sehe,  dafs  das  Stück  zwi- 
schen 18  und  19  Bogen  wird,  so  bleibt  es  dabei,  dafs  Ich  ent- 
weder gar  keine  oder  doch  nur  eine  ganz  kurze  Vorrede  vor- 
setze, und  dafs  ich  alles  Übrige  unter  dem  Titel:  ,Der  Derwisch, 
ein  Nachspiel  zum  Nathan'  besonders  drucken  lasse,"  schreibt 
er  an  seinen  Bruder.  Und  er,  der  von  seinem  Nathan  selbst 
sa^t,  dafs  er  ein  Sohn  seines  eintretenden  Alters  sei,  den  die 
Polemik  habe  entbinden  helfen,  mag  allerdings,  nun  dieses  sein 
Vermächtnis  zum  Abschlufs  gekommen,  manches  auf  dem  Herzen 
gehabt  haben,  das  Ihm  Stoff  zu  einer  solchen  Fortsetzung  ge- 
boten hätte.  Dies  sagen  ja  ganz  deutlich  seine  .  Worte  an 
Elise  Relmarus,  bei  der  er  sich  wegen  Verzögerung  einer  Zu- 
sendung entschuldigt:  „Der  Schubjak  Semler  ist  einzig  daran 
schuld!  Ich  bekam  sein  Geschmiere  eben  als  ich  noch  den 
ganzen  fünften  Akt  am  Nathan  zu  machen  hatte,  und  wurde 
über  die  impertinente  Professorengans  so  erbittert,  dafs  ich  alle 
gute  Laune,    die   mir   zum  Versemachen    so   nötig   ist,    darüber 


Kine  Fortsetzung  von  Lessings  Nathan  und  ihr  Verfasser.  17 

verlor  und  schon  Gefahr  lief,  den  stanzen  Nathan  darüber  zu 
vero^essen."  Dafs  es  ihm  nicht  mehr  o;elano;,  diesen  Plan  zu 
einem  Nachspiel  auszuführen,  dafs  es  im  Gegenteil  einem  seiner 
theologischen  Gegner  einfallen  mufste,  diesen  Gedanken  aufzu- 
greifen und  nach  seiner  Weise  auszuführen,  gehört  vielleicht 
auch  zu  dem  tragischen  Mifsgeschick,  unter  dem  Lessiug  in 
seinem  ganzen  Leben  zu  leiden  hatte.  Lessing  beabsichtigte 
den  Derwisch,  der  nach  Nathans  Ansicht  unter  Menschen  gar 
leicht  verlernen  könnte,  Mensch  zu  sein,  zum  Mittelpunkt  eines 
Nachspiels  zu  machen,  Pfranger  liefs  aus  dem  Totenfeld  in 
Askalon  die  durch  Saladins  Erzählung  so  anziehende  Gestalt 
seines  Bruders  Assad  wieder  auferstehen,  kleidet  ihn  in  eine 
Kutte  und  macht  aus  ihm,  dem  tapferen  Kämpfer  und  feurigen 
Mann,  einen  weltentsagenden  Mönch,  dem  Bekehren  und  Pre- 
dio;en  die  liebste  pjeschäftijrunon  sind.  Neben  ihm,  dem  Mittel- 
punkt  des  Ganzen  und  Hauptträger  der  Idee  des  Dichters,  sind 
es  noch  Nodgemeddin,  der  Vater  des  Sultans,  dem  wir  aller- 
dings erst  in  der  vorletzten  Scene  des  letzten  Aktes  begegnen, 
um  die  Überzeugung  von  der  gänzlichen  Entbehrlichkeit  dieser 
Persönlichkeit  zu  gewinnen,  da  er  nur  eingeführt  wird,  um  ja 
kein  Glied  der  ganzen  Familie  fehlen  zu  lassen,  und  die  beiden 
Mameluken  Ofsmann  und  Abdallah  mit  dem  Lnam  Jezid,  die 
uns,  von  Lessing  her  unbekannt,  hier  vorgeführt  w^erden.  Es 
entspricht  dem  von  seinen  Zeitgenossen  und  seinem  Biographen 
entworfenen  Bilde  Pfrangers  vollständig,  dafs  die  Polemik  gegen 
den  Nathan,  wie  er  sie  in  seinem  Mönch  vom  Libanon  ausübte, 
eine  durchaus  friedliche  und,  wenn  ich  so  sagen  darf,  liebens- 
würdioe  war.  Man  sieht  ihn  niro-ends  eine  absichtlich  feind- 
liehe  Stellung  gegen  Lessing  einnehmen.  Es  ist  als  ob  er 
seinem  Leser  die  beiden  Stücke  zur  freien  Wahl  hinstellte, 
ohne  auch  nur  den  geringsten  Versuch  zu  einer  Bevorzugung 
seiner  Ansicht  zu  machen.  Freilich  der  Beifall,  den  das  Stück 
dann  fand,  ist  auch  nicht  sowohl  auf  Rechnung  seiner  ästhe- 
tischen Vorzüge,  als  vielmehr  auf  seinen  christlich-orthodoxen 
Zweck  eines  Schutzes  gegen  die  vermeintlichen  Angriffe  Lessings 
zu  schreiben.  So  läfst  es  sich  auch  erklären,  dafs  den  Haupt- 
inhalt des  Stückes,  dessen  Handlung  ja  am  Ende  die  eines 
ganz   gewöhnlichen  Intriguenstückes   ist,    Belehrungen   und  Be- 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  LXXIII.        .  2 


18  Eine  Fortsetzung  von  Lesslngs  Natlian  und  ihr  Verfasser. " 

trachturifren  über  das  Christentum  und  seine  allsie";ende  Gewalt 
bilden,  und  dafs  daneben  die  bei  Lessing  so  bis  in  die  kleinsten 
Teile  hinein  individualisierte  Charakteristik  der  einzelnen  Per- 
sonen vollständig:  verloren  £!;ehi.  Schon  ästhetisch  verfehlt  ist 
es,  fünf  Akte  hindurch  einen  kranken  Mann,  wie  Saladin  es  ist, 
reden  zu  lassen,  und  es  ist  mit  Ausnahme  der  Hauptperson  im 
Mönche  nicht  eine  einzige  im  Ganzen,  bei  der  man  ein  wirk- 
lich individuelles  Leben  oder  aucli  nur  eine  entfernte  Ähnlich- 
keit mit  den  Gestalten  Lessin^s  entdecken  könnte.  Dadurch 
hat  sich  der  Verfasser  die  Lösuno^  des  im  Nathan  enthaltenen 
Problems  sehr  leicht  gemacht.  Denn  da  nun  einmal  schon  im 
voraus  all  seine  Persönlichkeiten  nach  christlichem  Muster  zu- 
gerichtet und  im  geheimen  eigentlich  schon  gut  protestantische 
Menschen  sind,  so  müssen  all  ihre  Einwände  und  Zweifel,  die 
sie  dem  Christentum  des  Mönches  gegenüber  geltend  machen, 
nur  als  harmlose  und  unschuldige  Wortgefechte,  keineswegs 
aber  als  charakteristische  und  in  sich  selbst  abgeschlossene  An- 
schauungen und  Gedanken  erscheinen.  Man  durfte  ja  wohl, 
da  sich  das  Stück  als  eine  Fortsetzung  des  Nathan  ausgab, 
darauf  gespannt  sein,  wie  der  Dichter  gerade  die  Gestalt  des 
Juden  weiterentwickle.  Allein  schon  in  der  Scene  mit  Saladin, 
wo  ihm  dieser  seine  Zweifel  betreffs  des  Märchens  mitteilt, 
kommt  man  zu  dem  Resultat,  dafs  hier  eine  ganz  neue,  mit 
dem  Lessingschen  Nathan  in  keinerlei  Zusammenhang  stehende 
Figur  geschaffen  sei.  Saladin,  bei  Lessing  eine  königliche 
Figur  vom  Scheitel  bis  zur  Sohle,  eine  Natur,  in  der  „nichts 
klein,  nichts  eng  und  schwächlich  ist",  ein  Mann,  der  bei  aller 
echten  Menschenliebe,  bei  jedem  Mangel  an  Hochmut  und  Stolz, 
doch  ein  starkes  und  edles  Selbstbewufstsein  bekundet,  ist  hier 
zum  kleinlichen,  disputiersüchtigen  und  begriffspaltenden  All- 
tagsmenschen geworden,  und  Nathan,  der  in  jedem  seiner  Worte 
den  klugen  Menschenkenner,  den  Mann  der  moralischen  Selbst- 
verleugnung bekundet,  ist  ein  gutmütiger,  zu  Zeiten  auch  senti- 
mentaler Schwätzer,  der  sein  früheres  Denken  und  Handeln 
vollständig  vergessen  zu  haben  scheint.     Saladin    ängstigt  sich: 

Nun  soll  ich  sterben?  soll  mit  meinem  Ring 
In  dieser  Üngewifsheit  hin  zum  Richter. 
Wie  wenn  ich  nun  betrogen  wäre,  Nathan? 


Eine  Fortsetzung  von  Lessings  Nathan  und  ihr  Verfasser.  19 

und  dieser  antwortet  ihm  darauf  mit  der  Gegenfrage: 

Wie  wenn  sie  alle  nun  betrogen  wären? 

freilich  um  gleich  darauf,  da  Saladin  nur  Irrtum  und  Wahn 
überall  erblickt,  den  Sultan  in  langer  Rede  mit  der  Schilderung 
der  menschlichen  Schwachheit  zu  trösten  und  ihn  darauf  hin- 
zuweisen: 

Wie, 
Wenn  Wahn,  wenn  Morgendämmerung  auf  Erden 
Das  höchste  Ziel  für  Menschenkräfte  wäre; 
Dort  erst  ging  dann  das  volle  Licht  uns  auf. 
Gott  steigt  auf  Stufen  zur  Vollkommenheit, 
Und  viel,  viel  Stufen  sind  der  Täuschung  aus 
Der  tiefen  Nacht  hinauf  zum  vollen  Mittaof. 
Was  man  nicht  fassen  kann,  doch  fassen  wollen, 
Ist  unzufriedner  Stolz. 
Zu  tief  für  unsren  Horizont.     Gott  ist 
Die  Wahrheit:  Gott!  —  Der  Mensch  ein  Ding  das  irrt. 
Das  fehlt. 

Drum  meint  Nathan,  müsse  Saladin  auch  den  Menschen  neh- 
men wie  er  ist,  müsse  nicht  suchen  und  sich  abquälen  nach 
einer  allgemein  gültigen  Wahrheit,  da  ja  doch  dem  einen  als 
Irrtum  gelte,  w^as  dem  anderen  als  W^ahrheit  erscheine.  Saladin 
aber  sagt: 

Es  mufs  nicht  richtig  sein  mit  deinen  Schlüssen, 
Denn  ist  die  Wahrheit  Hirngespinst,  so  ist's 
Die  Tugend  auch.  —  Was  sagst  du? 

Und  Nathan  analysiert  ihm  die  Tugend  ebenso  als  etwas  Indi- 
viduelles wie  die  Wahrheit,  denn 

Hängt  was  mehr 
Vom  Zufall  ab  als  sie?    Die  Lagen  sind's, 
Worein  ein  glücklich  Ungefähr  dich  setzt ; 
Das  Land,  das  du  bewohnst :  die  Art  von  Menschen, 
Worunter  du  zu  leben  hast;  die  Speise, 
,  Die  du  geniefsest,  und  der  Wasserquell, 
Woraus  du  schöpfest;  endlich  selbst  die  Luft, 
Die  dich  umgiebt,  und  mehr  als  alles  dies 
Die  frühe  Stimmung  jeder  Kraft,  Erziehung 
Und  väterliches  Vorurteil;  und  dann 
Der  erste  Stofs,  womit  das  Schicksal  dich 
Hin  in  des  Lebens  wßite  Laufbahn  wirft. 


20  Eine  Fortsetzung  von  Lessings  Kathan  und  ihr  Verfasser. 

Allein  Saladin  kann  nicht  oelten  lassen,  dafs  der  ^Mensch 
so  ganz  baumartig,  so  ganz  der  Sklave  seiner  Masse  sein  soll, 
denn  „Was  wäre  Freiheit?" 

Auch  auf  diese  Frage  hat  dann  Nathan  rasch  eine  Antwort 

bereit : 

Ein  Spielwerk,  Saladin,  für  üpp'ge  Kinder, 

Ein  Gängelband,  woran  der  Mensch  allein 

Zu  gehen  träumt  und  doch  nicht  weiter  kömmt, 

Als  ihn  die  Wärtrin  kommen  läfst.     Wenn's  hoch  kömmt, 

Ein  Laufkarrn,   wo  das  kindische  Geschöpf 

Im  Kreis  der  Welt  und  ihrer  Kräfte  stolz 

Herumrennt  und  den  Mitgespielen  zuruft: 

Seht,  ich  bin  frei:  das  ist's. 

Saladin  kann  sich  mit  all  dem,  zumalen  da  nun  Disputieren 
seine  Sache  nicht  mehr  sei,  und  es  ihm  bedünke,  als  ob  Nathan 
damit  nur  der  Wahrheit  ausweiche,  nicht  begnügen,  er  verlangt: 

Du  hast  mich  ganz  verwirrt: 
Nach  Wahrheit  handeln,  sagst  du  ?  —  Doch  nicht  wissen, 
Was  Wahrheit  sei  ?  selbst  es  nicht  wissen  wollen  ? 
Und  blindlinjjs  aufs  Geratewohl  so  fort";ehn  ? 
Wie  ist  das,  Nathan? 

und  dieser  giebt  ihm  den  Bescheid: 

Sieh,  der  Wahrheit  darf's 

Nicht  viel  um  Mensch  zu  sein:  „Es  ist  ein  Gott: 
Sei  fromm  und  fürchte  den ;  und  trau  ihm  zu, 
Dafs  er  der  Tugend  lohnt,  das  Laster  straft, 
Da  hast  du  Wahrheit  gnug. 

Ebenso  giebt  er  ihm  nun,  da  den  Sultan  seine  Erklärung 
der  Tugend  so  irregeführt,  einen  gedrängten  Bescheid  in  dieser 
Frage,  da  Saladin  sich  selbst  der  gröfsten  Laster  anklagt: 

Nathan, 

Wer  kennt  ihn  nicht, 
Den  frommenden  Saladin? 

Saladin. 

Den  Räuber  auch, 
Den  Bluthund,  Nathan,  auch?    Kennst  du  auch  den? 
Der  mehr  unschuld'ges  Blut  vergossen  als 
Zehntausend  Mörder,  die  das  Rachschwert  würgt? 

Nathan. 
Nein,  Saladin,  den  kenn  ich  nicht. 


Eine  Fortsetzung  von  Lessings  Nathan  und  ihr  Verfasser.  21 

Saladin, 

So  kennt  ihn  Gott. 

Nathan. 

Wie  er  das  Chaos  kennt, 

Aus  dessen  Tiefen  einst  das  Licht  hervorstiejj. 
Ist  es  drum  noch  ?    Du  bist  der  erste  nicht, 
Den  er  durch  Ubelthaten  unvermerkt 
Den  rechten  Weg  der  Tugend  finden  liefs. 
Gesetzt,  du  warst  es  einst,  so  bist  du's  jetzt 
Nicht  mehr:  und  Gott  straft  nicht  die  Übertretung 
Des  Sünders  an  der  Tugend  des  Gerechten, 
Den  frommen  Saladin  nicht  statt  des  bösen. 

Aber  all  das  genügt  dem  kranken  Sultan  nicht.  „Ach,  das 
Gewissen  ist  keine  Krankheit,  Nathan;"  und  da  ihm  nun,  am 
Ende  seines  Lebens,  auch  der  Glaube  genommen  ward,  so 
Aveifs  er  nicht  mehr,  wohin  sich  wenden,  ohne  Irrtum  und  Wahn 
zu  erblicken.     Gewifsheit,  ruft  er  aus: 

Gewifsheit  ist  die  Kraft  der  Wahrheit !     Zweifel 
Ihr  Feind!   ein  tötendes  Insekt,  das  tief 
Und  tiefer  in  die  Wurzel  gräbt,  bis  endlich 
Die  schöne  Blume  sinkt !  —  Sie  ist  verwelkt, 
Für  mich  verwelkt,  zerfallen  liegen  noch 
Die  dürren  Blätter  um  mich  her. 

So  findet  der  Sultan,  anstatt  der  Widerlegung  seiner  Zweifel, 
nur  neuen  StofiT  für  dieselben,  und  man  empfindet  hier  schon 
deutlich  den  Unterschied  in  der  Charakteristik  derselben  Person 
durch  beide  Dichter;  denn  ein  solches  Irreführen,  ein  solches 
Verwirren  von  Anschauuno'en  und  Beorififen  ist  dem  Lessino- 
sehen  Nathan  vollständig  fremd.  Bei  ihm  erweist  sich  jedes 
Wort  und  jeder  Gedanke  als  erzeugt  aus  einem  festen  und  ab- 
geschlossenen System,  aus  einer  nicht  auf  der  schwankenden 
Grundlage  dehnbarer  und  willkürlich  auszuleckender  Worte  be- 
ruhenden  Weltanschauung.  Für  diesen  Gedanken  des  Zweifels 
an  allem  hatte  er  im  Nathan  keinen  Kaum,  da  es  ja  hier  galt, 
der  Welt  ein  neues  Evangelium  zu  bieten,  und  einmal  getränkt 
mit  diesem  alles  zersetzenden  und  alles  zerstörenden  StoflPe, 
mufste  das  von  Lessings  Künstlerhand  so  wohlbedächtig  zu- 
sammengefügte Ganze  auseinander  fallen  und  jeden  Versuch, 
aus  den  Bruchstücken  ein  dem  Sinne  der  Zerstörer  entsprechendes 


22  Eine  Fortsetzung  von  Lcssings  Natli;in  und  ihr  Verfasser. 

Gebäude  emporzurichten,  aufs  empfindlichste  strafen.  Am  wenig- 
sten natürlich  empfinden  wir  dies  bei  dem  Mönch,  der,  wie 
oben  schon  bemerkt,  der  einzige  sein  dürfte,  in  dessen  Charak- 
teristik individuelles  Leben  zu  spüren  ist.  Freilich  mufste  ja 
er,  der  sich  in  den  Mittelpunkt  des  Ganzen  zu  stellen  hatte, 
auch  mit  dem  ganzen  Rüstzeug  des  positiven  Christentums 
gegen  die  gefürchteten  Angriffe  versehen  sein,  und  wir  sehen 
hier  mit  Freude  nicht  einen  in  dem  aus  Leasings  Streitschriften 
so  wohl  bekannten  Gözeschen  Gewände  einherstürmenden  und 
schreilustigen  Gegner,  sondern  einen  ruhig  und  friedlich  seinen 
Standpunkt  wahrenden,  aber  denselben  nirgends  marktschreierisch 
als  den  allein  richtigen  anpreisenden  Mann  und  Theologen. 
Dafs  man  namentlich  den  letzteren,  d.  h.  den  Prediger,  dessen 
eigentliches  Gebiet  die  Kanzel  und  ihre  Beredsamkeit  bilden, 
da  und  dort,  und  so  namentlich  auch  in  dem  ersten  Monoloji 
des  Mönches,  vielleicht  gar  zu  deutlich  hervortreten  sieht,  daraus 
kann  wohl  dem  Verfasser,  den  wir  als  eine  auf  diesem  Felde 
gerade  berühmte  Persönlichkeit  kennen  o;elernt,  schwerlich  ein 
Vorwurf  gemacht  werden.  Nebenbei  läuft  freilich  auch  die 
durch  Klopstock  gewissermafsen  klassisch  gewordene  christliche 
Geiühlsseligkeit  und  Sentimentalität  und  das  poetische  Spiel 
mit  manchen  durch  den  Dichter  des  Messias  o-leichsam  officiell 
gewordenen  Begriffen.  Stellen  wie  die  folgende  aus  dem  Mono- 
loge des  Mönchs: 

Bald  ist  vielleicht 
Der  Abend  da;  lafs  mich  noch  wirken,  weil 
Es  Tag  ist,  dafs  mein  Glaub  ein  Licht  sei,  das 
Im  Dunkeln  leuchte,  dafs  ich  nicht  umsonst 
Errettet  von  dem  Reich  der  Finsternis 
Zum  Reiche  deines  Sohnes,  Herr,  gebracht  sei! 
Ihn  zu  bekennen  sei  mir  hohe  Pflicht! 
Durch  gute  Thaten  ihn  zu  ehren  Wonne 
Und  Seligkeit.    Durch  ihn  lafs  diesen  Tag 
Mir,  Herr,  gesegnet  sein. 

bestätigen  das  oben  Gesagte  wohl  am  deutlichsten. 

Am  übelsten  wurde  wohl  in  der  Fortsetzung  des  Nathan 
Lessings  Tempelherr  bedacht.  Man  begegnet  ihm  da  und  dort, 
sei  es  allein  oder  in  Gesellschaft  seiner  Schwester  Recha,  allein 
es  hat    den  Anschein,    als   ob   er   dem   Verfasser    des   Mönches 


Eine  Fortsetzung  von  Lcssings  Nathan  und  ihr  Verfasser.  23 

eine  der  unbequemsten  Figuren,  mit  der  er  gar  nichts  anzu- 
fangen gewufst,  gewesen  ^e'i.  Nur  einmal,  da  er  seine  Schwester 
Kccha,  die  seiner  Aufforderung,  den  Mönch  zu  sehen,  mit  den 
gewifs  nicht  aus  Lessings  Charakteristik  stammenden  Worten 
ento^efrnet; 

Ja  war  es  nur 

Kein  Mönch,  mein  lieber  Assad!    Diese  Menschen 

Sind  mir  so  grauerlich,  so  ausgezeichnet, 

Die  ihre  Tugend  so  zur  offnen  Schau 

Zu  tragen  pflegen ! 

sieht  er  sich  zu  einer  längeren  ßede,  in  welcher  er  diese  An- 
schauung seiner  Schwester  zu  widerlegen  strebt,  veranlafst. 
Diese  letztere  dagegen  sucht  nicht  allein  in  ihrem  Gespräch 
mit  dem  Mönch,  sondern  auch  in  der  Folge  ihre  Persönlichkeit 
zur  Geltuno^  zu  brinofen.  Freilich  unterlieot  auch  sie  dem 
Schicksal  der  übrigen  aus  Lessing  herübergenommenen  Per- 
sonen. Dort  von  dem  so  oft  wegen  mangelnder  Poesie  ver- 
urteilten Lessing  mit  dem  ganzen  Zauber  einer  echten,  er- 
freuenden und  ergreifenden  Jungfräulichkeit  ausgestattet,  eine 
schwärmerische  Natur,  die  all  ihr  Denken  und  Empfinden,  sich 
selbst  und  ihr  ganzes  Leben  nicht  von  ihrem  Vater  trennen 
kann,  und  hier  ein  Mädchen,  das  sich  scheinbar  wohl  da  und 
dort  auf  die  Autorität  Nathans  beruft,  im  übrigen  aber  ihre 
eigenen  Wege,  die  einer  kleinlichen,  BegriflPe  spaltenden  Dispu- 
tiersucht geht.  Mit  einer  schon  durch  die  obigen  Worte  cha- 
rakterisierten Abneigung  gegen  jegliches  Christentum  ausge- 
stattet, kann  sie  sich  nicht  genug  darüber  verwundern,  dafs  der 
Mönch  auch  einem  Judenmädchen  einen  Platz  im  Paradiese 
einräumen  will.  Aber  auch  sie  erkennt  gar  bald  in  dem  Mönch 
und  seinem  Glauben  einen  Stärkeren.  Nicht  ihr  Spott,  mit  dem 
sie  den  Mönch  angreift: 

Ihr  Christen  seid  doch  sonst 

,Mit  eurem  Himmel  so  freigebig  nicht, 

Seitdem  der  heil'ge  Petrus  auf-  und  zuschliefst, 

bringt  den  Mönch  aus  der  Fassung: 

Nein,  Recha, 
Der  heil'ge  Petrus  ist  nicht  schuld  daran, 
Dafs  Menschen  ihre  Brüder  in  die  Hölle 


24  Eine  Fortsetzung  von  Lesslngs  Nathan  und  ihr  Verfjisser. 

Verstofsen ;  wifst  es,  dafs  von  jedem  Volk 
Wer  recht  thut  und  gottselig  lebt,  dem  Herrn 
Gefällt. 

Recha. 

Recht  thut?  —  recht  glaubet,  sagen  sie, 
Und  würgen  lieber,  was  nicht  glauben  will. 
Als  wenn  sie  Gottes  Richteramt  zu  führen 
Berufen  wären!    Menschen  sind  sie  nicht, 
Nur  Christen. 

Mönch. 

Christen  nicht,  nur  Menschen,  Menschen ! 

Und    da    er    dem    Mädchen    in    begeisterten    Worten    Christus 
preist,  als  den,  in  dem  sie  alles  finden  werde,  was  sie  sucht: 

0  wie  wird  meine  Recha  da  am  Kreuze 
Bei  seiner  Mutter  stehn  und  ihn  beweinen: 
Und  traurig  dann  auf  Erden  suchen,  ob 
Nicht  einer  noch,  ihm  gleich,  zu  finden  wäre. 
Und  keinen  finden! 

und  Recha  ihm  hierauf  entgegenhält: 

Den  lehrten 
Euch  eure  Väter,  eure  Lehrer  lieben, 
Mich  Nathan  jenen  (Moses),  nun  wem  soll  ich  glauben? 

hat  der  Mönch  sogleich  die  Antwort  bereit: 
Der  AVahrheit,  Recha! 

Der  hieraus  sich  selbst  ergebenden  Frage  „Was  ist  die  Wahr- 
heit" stellt  er  natürlich  w^iederum  Christum  als  des  Gesetzes 
Erfüllung  entgegen.  Wir  erfahren  die  endgültige  W^irkung 
dieser  Worte  auf  Recha  aus  einem  sich  noch  in  der  ersten  Auf- 
lage vorfindenden  z\veiten  Gespräche  des  Mönches  mit  Recha, 
wo  dieselbe  im  ganzen  bereits  als  Christin  erscheint  und  nur 
noch  in  einigen  Bedenken  der  Aufklärung  des  Mönches  bedarf. 
Da  ist  namentlich  die  Auferstehung,  mit  der  sich  Recha  durch- 
aus nicht  befreunden  kann: 

Mönch. 

Für  Gott  giebt's  keine  Wunder,  nur  für  uns. 
Denn  was  er  wirkt,  thut  alles  eine  Kraft, 
Wenn  er  die  Toten  weckt,  so  ist's  dieselbe. 
Die  sie  zuerst  erschuf,  die  sie  erhielt. 
Hätt  er  auf  unsern  Glauben  warten  wollen, 


Eine  Fortsetzung  von  Lessings  Nathan  und  ihr  Verfasser.  25 

Bis  er  das  erste  gröfste  Wunder  that, 
Wo  wäre  dann  die  Welt? 

Kecha. 

Allein  der  Fall, 
Dafs  solch  ein  Toter  wiederlebt,  ist  doch 
So  einzig,  unerhört. 

Mönch. 

So  einzig,  Recha, 
Sind  alle  Fälle  in  der  Welt,  ein  jeder 
Ist  solch  ein  eigener  Gedanke  Gottes, 
Dem  seine  Macht  das  Dasein  giebt;  je  feiner 
Der  eine  sich  vom  andern  unterscheidet, 
Nur  desto  herrlicher  wirkt  seine  Kraft, 
Strahlt  seine  Weisheit. 

Es  zeigt  sich  ganz  deutlich,  mit  welchem  Wohlbehagen 
der  Verfasser  gerade  auf  diesem  Punkte  verw^eilte,  und  die 
Gründe  hierfür  lassen  sich  ja  leicht  finden:  Gilt  es  ihm  doch 
hier  namentlich  einen  der  HauptangrifFe  Lessings  und  seines 
unbekannten  Wolfenbütteler  Fragmentisten  abzuwehren,  und  so 
bemüht  er  sich,  jedem  scheinbar  noch  so  gerechtfertigten  Ein- 
wand gegen  die  Glaubwürdigkeit  der  Auferstehung  die  Spitze 
abzubrechen : 

M  ö  n  c  h. 

Dein  Moses 
Gab  seinen  Wundern  durch  die  Hoffnung  des 
Verheifsnen  Landes  ein  Gewicht,  das  leichter 
Ihm  Glauben  schaffen  konnte.    Was  denn  Christus? 
Nichts,  nichts  was  Menschen  reizt,  im  Gegenteil 
Verleugnung  alles  Irdischen  und  Leiden ; 
Zuletzt  schmachvoller  Tod  war  seiner  ersten 
Bekenner  Los.    Doch  glaubten  sie,  bekannten : 
Und  starben  fröhlich. 

ßecha. 

Nun  das  war  mir  immer 
Sehr  sonderbar!    Für  was  zu  sterben,  und 
So  blutig!  noch  mit  solchem  lauterem 
Bewufstsein  seiner  selbst,  mit  solchem  Trost, 
Mit  solcher  Freudigkeit  zu  Gott!  —  und  für 
Die  gröfste  aller  Lügen!  —  dacht  ich  oft. 
Die  niemand  glücklich,  aber  viele,  viele 
Unglücklich  macht,  aufs  ganze  Leben  elend! 


26  Eine  Fortsetzung  von  Lessings  Nathan  und  ihr  Verfasser. 

Die  Gottes  cw'gen  Zorn  dem  Sünder  häuft, 
Der  seinen  heil'gen  unnennbaren  Namen 
Durch  schändh'chcn  Betrug  entweiht ;  das  ist 
Doch  unbegreiflich,  dacht  ich.  —  Aber  Nathan 
Erkhirte  mir  das  anders:  „Liebe  Recha," 
Spracli  er,  „zu  allen  Zeiten  starben  Menschen 
Für  ihre  Meinungen,  so  gut  für  Lügen 
Als  für  die  Wahrheit;  Muselmann  und  Christ. 
AVoran  das  Herz  gewöhnt  ist,  nun  das  denkt 
Sich's  dann  als  wahr  und  stirbt  darauf. 

Mönch. 

So!  so! 
So  waren  sie  daran  gewöhnt,  den  Toten 
Als  lebend  sich  zu  denken? 

Recha. 

Freilich  wohl! 
Mönch. 
Den  toten  Christus,  den  sie  sterben  sahen, 
Als  auferstanden  sich  zu  denken  ?   mufs 
Ein  sonderbarer  Traum  gewesen  sein, 
Für  den  sie  Vaterland,  Relis-ion 
Und  Ehr  und  Leben  fahren  liefsen,  und 
Um  Christi  willen  Narren  wurden  —  mufs 
Ein  langer  eigner  Traum  gewesen  sein. 
.,Ein  "Wunder  will  geglaubt  sein,"  sprachst  du.     Ist's 
Für  uns  mehr  Wunder  als  für  jene?  —  Menschen 
Sind  ans  Natürliche  gewöhnt:  was  für 
Ausnahmen  waren  denn  die  ersten  Zeuo;en 
Des  Lebens  Jesu,  dafs  sie  unbewiesen 
Ein  Wunder  glaubten,  das  so  viel  Beweis 
Erfordert?  —  Sieh,  wenn  ich  dir  sagte,  Recha, 
Dein  Vater  lebt  — 

Recha. 
So  wärst  du  ein  Betrüger! 

Mönch. 
Du  übereilst  dich. 

Recha. 

Wie,  das  wäre  möglich? 

Mönch. 
Warum  denn  nicht? 

Recha. 
Weil  Wunder  möglich  sind? 

Mönch. 
Das  brauchte  keines  Wunders. 


Eine  Fortsetzung  von  Lesslngs  Nathan  und  ihr  Verfasser.  27 

Es  ist  freilich  auch  hier,  wo  doch  ein  Hauptpunkt  be- 
sprochen wird,  die  Ruhe  und  Entfernung  jeglicher  Streitsucht 
anzuerkennen,  mit  der  Pfranger  verfährt;  ein  Verfahren,  das 
trotz  aller  Schwächen  in  manchen  Scenen  einen  Ton  von  Gemüt- 
lichkeit und  warmer  Empfindung  hervortreten  läfst,  wie  er  sich 
wohl  bei  keinem  anderen  Gegner  Lessings  gefunden  haben 
macr.  Und  w4e  dort  Nathan  mit  seiner  Erzähluno:  von  den 
drei  Ringen  den  Mittelpunkt  bildet,  so  konnte  es  sich  erklär- 
licherweise der  Verfasser  des  Mönches  auch  nicht  versagfen, 
dieser  seiner  Hauptperson  ein  Gegenstück  hierzu  in  den  Mund 
zu  legen,  in  dem  die  Quintessenz  seiner  ganzen  religiösen  An- 
schauung zusammengefafst  erscheint.  Auch  hier  ist  es  wiederum 
Saladin,  der  Veranlassung  hierzu  giebt,  da  er  den  Mönch 
scherzend  ob  seiner  Zuneigung  zu  Recha  der  Kuppelei  be- 
schuldigt. Die  oben  erwähnte  Unterredung  Saladins  mit  Nathan 
hat  diesem  keinen  Trost  gebracht,  und  es  mufs  nun  dem  Mönch 
vorbehalten  bleiben,  in  die  von  Zweifeln  durchwühlte  Seele 
Saladins  Ruhe  und  Frieden  zu  brino^en.  Wie  ihm  dies  sfelino^t, 
und  wie  auch  hier  wiederum  die  allein  und  ewi":  sültio^e  Wahr- 
heit  des  Christentums  es  ist,  die  als  Retterin  erscheint,  die  als 
eine  herrliche  Thatsache  das  verkündet,  was  Lessinofs  Nathan 
und  Saladin  erst  nach  tausend  Jahren  zu  hoffen  w^as^en,  das 
eben  ist  der  Inhalt  der  Scene,  in  welcher  der  Mönch  dem 
kranken  Sultan  neben  der  leiblich  stärkenden  Arznei  auch  eine 
solche  für  die  kranke  Seele  bietet.  Lessing  wufste  wenigstens 
diese  bedeutende  Scene  auch  äufserlich  zu  motivieren,  während 
bei   Pfranger   die    das   ganze    Gespräch    einleitende   Frage    des 

Sultans; 

So  kannst 
Du  aber  deines  Glaubens  nicht  gewifs  sein. 
Wenn  ich  bei  meinem  selig  werden  kann. 
Wie  du  ? 

so  ziemlich  aufser  jedem  Zusammenhang  mit  dem  Vorhergehenden 

steht.    Von  solcher  Ungewifsheit  kann  und  darf  natürlicherweise 

der  Mönch  nichts  wissen : 

Ob  dich  dein  Glaube  selig  macht, 
Ob  er  dem  Geiste  Freudigkeit  zu  Gott, 
\  Dem  Herzen  Trost  und  Kraft  zum  Guten  giebt, 

Die  Wunden  des  Gewissens  heilt,  dich  heiter 


28  Eine  Fortsetzung  von  Lessings  Nathan  und  ihr  Verfasser. 

Den  Tod  erwarten  lehrt  und  festen  Grund 

Dir  legt  zu  Hoffnung  an  der  Ewigkeit, 

Das  mufst  du  fahlen,  wissen  kann's  kein  Mensch. 

Allein  auch  in  des  Mönches  Reden  kann  im  Anfang  Saladin 
die  Wahrheit  nicht  finden,  die  er  sucht: 

Aufrichtig,  Freund, 
Es  scheint  mir  Widerspruch  in  deinen  Reden 
Zu  sein,  wenn  anders  Unterschied  in  deinem 
Und  meinem  Glauben  ist.    Denn  sieh,  die  Wahrheit  — 

Mönch. 
Ist  nicht  des  Menschen  eigene  Erfindunf]j: 

O  DJ 

Ist  Gottes  Gabe,  wie  die  andren  Güter 
Des  Lebens.    Diesem  giebt  sie  die  Geburt, 
Und  eigner  treuer  Fleifs  erwirbt  sie  jenem. 

Sittah  freilich,  die  bei  dieser  Unterredung  zugegen  ist,  und 
dieselbe  gelegentlich  mit  einer  Bemerkung  unterbricht,  meint 
bei  dem  Disputieren  der  zwei: 

Nur  schade,  dafs 
Ihr  noch  nicht  einig  seid,  was  eigentlich 
Der  rechte  Glaube  sei,  die  Lehrer  selbst 
Verdammen  sie  einander.     Wie?  ist  denn 
Dein  Christus  auch  so  zwiefach?  griechisch  und 
Lateinisch  ?  und  verdammt  wie  seine  Christen 
Auch  so  sich  selber? 

und  da  ihr  der  Mönch  diese  Uneinio^keit  aus  der  menschlichen 
Leidenschaft  erklärt,  meint  sie,  es  wäre  Avohl  das  Beste,  zu 
warten  mit  den  Hingen,  bis  einst  der  Richter  entscheiden  wird. 
Hiermit,  mit  der  kurzen  Erwähnung  des  Nathanschen  Märchens 
ist  ein  fester  Stand  gewonnen,  und  es  bleibt  dem  Mönch  ja 
nur  die  Aufgabe,  demselben  die  richtige  Deutung  zu  geben: 

Mönch. 

Der  Vater  starb,  vermochte  selbst  nicht  mehr 
Den  Ring  zu  unterscheiden. 

Saladin. 

Ist  auch  wahr, 
Er  mufs  ein  Mensch  gewesen  sein. 

Mönch. 

Der  nirgends  ^ 

Zu  finden  ist,  so  wenig  als  der  Künstler, 


Eine  Fortsetzung  von  Lesslngs  Nathan  und  ihr  Verfasser.  29 

Der  ihn  so  sinnreich  hinterging  —  du  siehst, 
Er  pafst  nicht  weiter. 

Saladin. 

Gott,  das  giebt  mir  Licht! 

Mönch. 

Auch  drückt  es  mir  den  Sinn  der  Thoren  aus. 

Dem  srofsen  Haufen  unter  allen  Völkern 

War  freilich  immer  die  Religion 

Ein  Amulet,  das  ohne  weitre  Müh 

Dem  Menschen,  der's  besafs,  die  Gnade  Gottes 

Und  unleugbares  Recht  zum  Himmel  gab. 

Der  blofse  Name  war's,  das  Götzenbild, 

Der  Tempel,  nicht  Religion.     Allein 

Dem  Klügern  ist  der  Glaube  nur  das  Werkzeug 

Zu  seinem  ew'gen  Glück. 

Recha. 

Du  könntest  uns 

Wohl  auch  so  was  erzählen? 

Mönch; 

Wenn  Erzählen 

Nach  meiner  schlechten  Klosterart  Erzählen 

Genug  ist,  Recha,  ja. 

Saladin. 

Erzähle  nur 

So  gut  du  kannst. 

Mönch. 

Es  hält  sich  ungefähr 
Mit  der  Religion  wie  mit  dem  Feldbau. 
Da  hat  sich  viel  verändert  in  der  Welt, 
Seitdem  sie  w^ar.     Allmählich  lehrten  erst 
Not  und  Bedürfnis  Kunst  und  Wissenschaft. 
Die  ersten  Menschen  nahmen  ihre  Früchte 
Unmittelbar  aus  Gottes  Hand  in  Eden. 
Auch  als  Vertriebne  fanden  sie  noch  gnug 
Zusammen  ohne  saure  Müh.    Doch  ging's 
Nicht  immer  so.    Die  Menschen  mehrten  sich. 
Was  nun  die  Erde  noch  freiwillig  schenkte, 
War,  alle  zu  ernähren,  nicht  genug. 
-  Man  fing  zu  pflanzen  an,  natürlich  nicht 
Das,  was  die  beste  Nahrung  gab,  vielmehr, 
Was  so  am  leichtsten  wuchs,  den  Gaumen  reizte, 
Und  überhaupt  den  Sinnen  wohlgefiel. 
Nicht  lange  müh^e  sich  der  eigne  Fleifs. 


30  Eine  Fortsetzung  Von  Lessings  Nathan  und  ihr  Verfasser. 

Denn  einer  plünderte  den  andern.     Völker 

Vertrieben  Völker,  wanderten  umher 

Und  raubten  was  sie  fanden,  Frucht  und  Götter. 

So  konnte  kein  gesittet  Volk  entstehn. 

Man  sann  auf  Künste.    Da  erfand  ein  Mann 

Das  Grabscheit,  lehrte  dann  sein  Volk  den  Feldbau 

Mit  eigner  Hand ;  und  zäunte  rings  umher 

Vor  jedem  andern  Volk  die  Grenzen  ein. 

Des  fremden  Guts  gewohnt,  verkannten  sie 

Die  wahre  Absicht  gröfstenteils,  und  glaubten 

Der  Sache  genug  gethan  zu  haben,  wenn 

Sie  sich  des  Werkzeugs  rühmten,  welches  sie 

In  einem  goldnen  Tempel  aufbewahrten. 

Das  Land  blieb  ungebaut: 
Man  fiel  in  heidnisches  Gebiet  und  lebte 
Von  Zeit  zu  Zeit  von  ihren  Opfermalen. 
Doch  fanden  sich  auch  hier  und  da  noch  Biedre, 
Die  die  Erfindung  ehrten,  und  durch  Fleifs 
Bewiesen,  dafs  das  Land,  so  steil  und  bergicht 
Es  immer  war,  durch  Hilfe  dieses  Grabscheits 
Mit  reichem  Wucher  zu  benutzen  wäre. 
Doch  scheute  man  die  Mühe,  denn  es  <nr\cr 
Nicht  ohne  sauren  Schweil's.     Ein  andrer  dachte 
Der  Sache  weiter  nach  und  fand  den  Pflug. 

Saladin; 
Und  wie  ging's  dem? 

M  ö  n  c  h. 

Wie's  allen  Klügern  geht. 
Wie's  auch  dem  Stifter  meines  Glaubens  ging. 
Das  Grabscheit  war,  so  wenig  man  es  nützte, 
Gleichwohl  das  Heiligtum  der  Nation. 
Man  schmähte,  lästerte,  verfolgte,  würgte 
Den  edlen  Mann,  mit  einem  Wort,  er  ward 
Ein  Märt'rer  seiner  Kunst.    Doch  hinterliefs 
Er  die  Erfindung  in  den  Händen  ein'ger 
Gutdenkenden,  die  sie  nach  seinem  Tode 
Der  w^eiten  Welt  bekannt  zu  machen  suchten. 
Da  war  denn  hin  und  wieder  grofse  Freude. 
Die  Saaten  fingen  herrlich  an  zu  grünen ; 
Das  gute  Land  trug  doppelt,  und  die  dürren 
Und  unfruchtbarsten  Heiden  wurden  fruchtbar. 

Bald  artete  der  Fleifs 
In  Laster  und  in  Thorheit  aus,  denn  manchen 
Ging  so  das  Ding  zu  langsam ;  sieh,  da  kehrten 


Kine  Fortsetzung  von  Lessings  Nathan  und  ihr  Verfasser.  Sl 

Sie  flugs  die  Sterze  um,  und  fuhren  flink 

Weg  über's  weite  Feld,  und  riefen  denen, 

Die  lang  in  tiefen  Furchen  weilten,  stolz 

Und  spöttisch  zu :  seht,  wir  sind  fertig.     Doch 

Der  Herbst  bestrafte  ihren  Wahnwitz  bald 

Durch  fehlgeschlagne  Hoffnung.     Andre  pflügten 

Nicht  tief  genug.    Da  blieb  das  Unkraut  und 

Vertilgte  jede  befsre  Saat.    Boshafte 

Gemüter  fuhren  mit  dem  Pfluge,  statt 

Ihr  Feld  zu  bauen,  in  des  Nachbars  Weinberg, 

Und  schnitten  Stock  und  Rebe  durch.     Die  andern, 

Statt  die  Erfindung  zu  benützen,  wollten 

Gern  selbst  Erfinder  sein.    Man  nahm  den  Pflug, 

Zerlegt'  ihn,  wollte  wissen  und  berechnen, 

Wie's  immer  möglich  wiire,  dafs  das  Ding 

So  grofse  Wirkung  thät.     Man  wollte  bessern; 

Warf  dies  und  jenes  weg  und  setzte  dies 

Und  jenes  zu,  wie's  jedem  nützlich  schien. 

Natürlich  glaubte  jeder  recht  zu  haben, 

Und  hafste  jeden,  der  ihm  widersprach. 

Darüber  ging  der  Sommer  hin;  das  Feld 

Lag  ungeackert  da ;  der  Weinberg  war 

Verwüstet;  und  vom  Pflug  blieb  endlich  nichts 

Als  noch  das  blofse  Eisen. 

Saladi  n. 

Nun,  das  Eisen, 
Was  ward  damit? 

M  ö  n  c  h. 

Hier  lafs  mich  enden,  Sultan. 
Man  fand  indessen  ein  Vermächtnis  des 
Erfinders,  das  den  ganzen  wahren  Bau 
Des  Werkzeugs  Stück  vor  Stück  beschrieb,  wonach 
Die  Klügern  sich  mit  leichter  Müh  den  Pflug 
Verfertigten.     Die  Trümmer  des  zerrifsnen, 
Die  wurden  hier  und  da  als  Heiligtümer 
Von  Thoren  aufbewahrt,  und  jedes  hiefs 
Der  Pflug  bis  auf  den  heut'gen  Tag. 

S  aladin. 

Gut!  Gut! 
Allein  das  Eisen,  Mönch;  das  Eisen! 

Mönch. 

Nun, 
Ist  die  Erzählung  nicht  schon  hing  genug? 
Lafs  mich  hier  enden,  Sultan. 


32  Eine  Fortsetzung  von  Lessings  Nathan  und  ihr  Verfasser. 

S  a  l  u  d  i  n . 

Nein,  es  fehlt 
Zu  Rechas  Moses  und  zu  deinem  Christus 
Mir  noch  der  dritte  Mann. 

Mönch. 

Den  Saladin 
Doch  besser  kennt  als  ich. 

Saladin. 

Nein  rede!  rede! 
Das  Eisen. 

INIönch. 

Du  befiehlst.    Gut  dann,  so  wisse! 
Dies  fand  ein  hitz'ger  Kopf  und  dachte:  ha! 
Das  Ding  ist  scharf,  ist  gut  zum  Hauen,  und 
Verwandelte  die  Pflugschar  in  ein  Schwert. 
Er  zog  damit  von  Land  zu  Land  und  hieb 
Und  mordete  und  rief  bei  jedem  vSchlag: 
Seht,  Thoren  da,  dies  ist  Religion ! 

Saladin. 
Beim  ]\Iuhamed,  da  hast  du  wahr  geredet. 

Mit  diesem  Gespräch,  der  Schilderung  des  Mosaismus,  des 
Christentums  und  des  Islams,  wobei  das  mittlere  in  seinen  An- 
fängen in  idealer  Reinheit  und  Vollkommenheit  verklärt  er- 
scheint, schliefst  der  eigentliche  Inhalt  des  Stückes  ab.  Denn 
das  nun  Folo;ende  ist,  wie  sich  aus  dem  oben  ang^esebenen 
Inhalt  ersehen  läfst,  nur  eine  äufserliche  Fortentwickelunof  und 
Beendigung  des  wenig  interessanten  Inhalts,  und  Pfranger  mufste 
sich  ja  wohl  selbst  sagen,  dafs  hiermit  seine  eigentliche  Auf- 
gabe gelöst  sei.  Für  ihn  und  seine  Gesinnungsgenossen  jeden- 
falls in  einer  durchaus  befriedigenden  und  jede  gegenteilige  An- 
sicht endgültig  abweisenden  Form.  Es  drängt  sich  nun  freilich 
die  Frage  auf,  ob  Pfranger  mit  dieser  Parabel,  die  manche 
schöne  und  poetische  Stelle  enthält,  der  Lessingschen  Parabel 
eine  Leistung  gegenübergestellt,  aus  der  eine  endgültige  Ent- 
scheidung der  Frage  nach  der  Wahrheit  einer  Religion  zu  holen 
wäre.  Freilich,  er  hält  sich  nur  an  historische  Daten,  er  schil- 
dert die  Entwickelunii'  der  Relio^ion  aus  dem  Mosaismus  zum 
Christentum,  und  stellt  als  eine  widerliche  Mischunsr  von  beiden 


o 


den  Islam  zuletzt.     So   ist   ihm  auf  diesem  Grunde  die  Wahr- 


Eine  Fortsetzung  von  Lesslngs  Kaihan  und  ihr  Verfasrer.  33 

heit  des  Christenturas  eine  thatsächllche,  ohne  dafs  er  sich  der 
Erkenntnis  seiner  Verirrunfren  und  Verzerrunofen  verschllefsen 
will,  und  mufs  es  ihm  auch  als  Notwendigkeit  erscheinen,  in 
seiner  Fortsetzung  des  Nathan  die  Person  des  Mönches  zu 
schildern,  wie  er  dies  wirklich  that.  Hier  will  uns  bedünken, 
als  ob  Pfranger  eine  Schwäche  bei  Lessing  entdeckt  habe,  die 
bei  der  Prüfuno^  von  dem  Inhalt  der  Parabel  nicht  senus:  be- 
achtet  werden  kann.  Wollte  dieser  mit  den  drei  Kinoen  die 
drei  Religionen  des  Juden,  des  Christen  und  des  Moslem  be- 
zeichnen, und  wollte  er  in  der  That  die  absolute  Wahrheit  von 
einer  derselben  unentschieden  lassen,  so  war  es  auch  eine  Not- 
wendigkeit für  ihn,  seine  Vertreter  dieser  drei  Kellgionen,  einen 
jeden  nach  dem  thatsächlichen  Gehalt  der  seinigen,  zu  charak- 
terisieren. Dafs  dies  nicht  geschehen,  dafs  Lessing  es  wohl 
verstand,  dieselben  als  treffliche  und  edle  Menschen,  nicht  aber 
mit  den  gleichen  Eigenschaften  als  Juden  und  Mohammedaner 
zu  schfldern,  das  darf  ausdrücklich  hervorgehoben  werden.  W'enn 
nun  bei  ihm  Jude  und  Moslem  die  Hauptträger  von  des  Dich- 
ters Gedanken  sind,  und  die  Christen,  denen  er  In  seinem 
Nathan  eine  ßolle  zuw^eist,  einen  mehr  oder  w^enlo^er  unter- 
ixeordneten  Rano-  aecrenüber  denselben  einnehmen,  so  kann  dies 
gesagt  werden,  ohne  dem  Vorwurf  gegen  Lessing  zuzustimmen, 
dafs  er  sich  eine  absichtliche  Herabwürdio:uno^  des  Christentums 
liabe  zu  Schulden  kommen  lassen.  Ja  wenn  man  den  ganzen 
thatsächlichen  Gehalt  des  Nathan  heraushebt  und  ihn  mit  den  drei 
dargestellten  Religionen  zusammenhält,  so  kann  man  sich  der 
Erkenntnis  nicht  verschllefsen,  dafs,  wenn  irgend  eine  derselben, 
es  trerade  und  einzloj  nur  die  christliche  Relloclon  ist,  die  nach 
all  ihren  Lehren  und  Ideen  für  die  nach  den  tausend  tausend 
Jahren  vollendete  allixemelne  Menschheltsrellorlon  die  alleInio;e 
Grundlao'e  bilden  kann.  Dafs  ihre  Vollenduno;  hierzu  noch 
ferne  ist,  dafs  sie  bis  zu  ihrer  vollständigen  Reife  und  Ausbil- 
dung noch  mancherlei  Irrungen  unterworfen  ist,  das  ist  doch 
kein  Grund,  um  an  ihrer  Wahrheit  zu  zweifeln,  und  das  mag 
auch  dem  Verfasser  des  oSlönches  vom  Libanon  geholfen  haben, 
die  Zweifel  zu  besiegen,  in  die  ihn  die  Wolfenbütteler  Fra^- 
mente  und  der  Nathan  versetzt.  So  darf  in  ihm  auch  der  Ge- 
danke entstanden  sein,  zu  zeigen,  dafs  gerade  das,  w^as  Lessing 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    LXXIII.  '  3 


34  Eine  Fortsetzung  von  Lessings  Nathan   und  ihr  \'erfasser. 

als  seine  eigenen  Gedanken,  als  seine  von  jeglicher  Berührung 
mit  den  positiven  Religionen  befreiten  Ideen  darzustellen  suchte, 
der  Inhalt  des  Christentums  sei,  dessen  Wahrheit  er  nicht  höher 
stellt  als  die  des  Mosaismus  und  Islam.  Diesem  Gedanken 
verdankt  die  Person  des  Mönches  vom  Libanon  offenbar  ihre 
Entstehung,  und  wenn  auch  das  ganze  Stück,  das  eben  nur 
zufällig  sich  in  dramatische  Form  kleidete,  im  Vergleich  mit 
Lessinofs  Nathan  einen  untero-eordneten  Wert  seiner  Form 
und  seinem  Inhalt  nach  beanspruchen  kann,  so  ist  doch  die 
Liebe  und  Milde  hervorzuheben,  mit  der  Pfranger  diese  Haupt- 
person charakterisierte,  um  in  ihr  zu  beweisen,  dafs,  so  oft  man 
sich  auch  von  dem  Christentum  lösen  und  befreien  wollte,  um 
an  seiner  Statt  ein  anderes  zu  bieten,  es  doch  immer  wieder 
nur  die  von  ihm  gegebenen  und  gebotenen  Lehren  und  Grund- 
sätze sind,  auf  denen  sich  unser  Leben  aufbaut.  Es  wäre  dem- 
nach auch  nur  falsch,  wenn  man  in  dem  Mönch  vom  Libanon 
eine  feindliche  Polemik  ireojen  Lessing  erblicken  oder  Ptran<2[er 
gar  eine  souveräne  Verachtung  der  im  Nathan  ausgesprochenen 
Ideen  unterschieben  wollte.  Für  ihn  waren  sie  ja,  da  er  sich 
einmal  zu  einer  tieferen  Prüfung  derselben  veranlafst  sah,  am 
Ende  nur  christliche,  und  es  erwuchs  ihm  daraus  die  Aufgabe, 
in  einer  friedlichen  und  milden  Art,  wie  sie  ihm  eigen  war,  dies 
zu  zeigen.  Dafs  er  darum  auch  da,  wo  er  dem  Verfasser  des 
Nathan  gegenüber  einer  geradezu  gegenteiligen  Meinung  war, 
ruhig  und  ohne  jede  Gehässigkeit  sprach,  ist  um  so  mehr  an- 
zuerkennen, als  männiglich  bekannt  ist,  dafs  ein  solcher  Gegner 
Lessinojs  nur  selten  orefunden  ward. 

Der  Mönch  vom  Libanon  ist  heute  vergessen,  Lessings 
Nathan  ist  für  viele  ein  Evanorelium  der  Toleranz  j^eo^enüber  dem 
sogenannten  starren  und  einseitigen  Christentum  geworden.  Ob' 
sie  aber,  wie  ja  wohl  ihr  Lob  und  Rühmen  beweisen  soll,  den 
Kern  des  Nathan  verstanden  und  seinen  Inhalt  zur  That  ge- 
macht, mufs  dahingestellt  bleiben.  Pfrangers  Buch,  mag  man 
nun  nach  seiner  hier  «Tegebenen  Schilderuno;  darüber  denken  wie 

Od  o 

man  will,  bleibt  immerhin  eine  charakteristische  Erscheinung  für 
eine  Zeit,  deren  gewaltige  Gärung  gerade  auf  religiösem  Gebiete 
eich   bis  auf  unsere  Ta^^e  hinaus  fühlbar  j^emacht  hat. 


über  das  Wort  und  den  Begriff  Posse. 


„Bücher  haben  ihre  Schicksale",  wie  ein  geflügeltes  Wort 
besagt,  einzelne  Wörter  aber  auch.  Es  giebt  schöne,  glück- 
liche Wörter,  die  sich  einer  alten,  edlen  und  allgemein  aner- 
kannten Herkunft  erfreuen.  Mit  sicherem  Tritt,  mit  stolzem 
Klange  sind  sie  in  die  Litteratur  eingetreten,  haben  ihren  Lauf 
in  derselben  gemacht,  jede  Rede  geschmückt,  in  welcher  sie 
vorkamen,  und  noch  jetzt  freut  sich  jeder  Schriftsteller  ihrer 
Anwenduno-.  Dao^esjen  finden  sich  andere,  minder  beoünsti^te 
Spröfslinge  des  Sprachgeistes,  von  zweifelhaftem  und  ver- 
stecktem Herkommen,  deren  man  sich  nur  zur  Bezeichnung 
von  niederen,  unfeinen  Dingen  bedient,  ja,  mit  deren  Begriff 
sich  geradezu  von  vornherein  ein  Tadel  und  eine  Herabsetzung 
verbindet.  Ein  solches  sprachliches  Aschenbrödel  ist  das  Wort 
Posse.  Seine  Abkunft  ist  zweifelhafter  Natur,  der  deutsche 
Ursprung  wird  ihm  von  einigen  geradezu  bestritten,  und  seine 
Bestimmung  ist  bis  auf  den  heutigen  Tag  die,  etwas  Niedriges, 
ja  Gemeines  zu  kennzeichnen.  Eines  solchen  übel  angesehenen, 
raifsbrauchten  Wesens  sich  anzunehmen,  hat  einen  gewissen 
Reiz.  Rettungen  sind  ja  in  unserer  Litteratur  von  jeher  etwas 
Beliebtes  gewesen ;  die  ärgsten  erlauchten  Dirnen  und  Tyrannen 
hat  man  neuerdinsfs  in  Schutz  genommen.  Warum  also  nicht 
auch  einem  so  unschuldigen,  eigentlich  doch  seiner  Schlechtig- 
keit sich  gar  nicht  bewufsten  Wesen,  wie  einem  Worte,  zu 
Hilfe  kommen? 

Zunächst,  was  sein  Herkommen  betrifft,  so  werde  ich  die 
Dunkelheit,  welche  auf  demselben  liegt,  wenn  auch  vielleicht 
etwas  aufhellen,  doch  kaum,  gänzlich  zerstreuen  können.     Zwar 

3* 


36  Über  das  Wort  und  den  Begriff  Posse 


o 


die  gröbste  Anschuldigung,  welche  man  in  dieser  Beziehung 
jiesfen  das  Wort  erhoben  hat,  bin  ich  allenfalls  im  stände 
zurückzuweisen.  Man  hat  es  geradezu  von  böse,  Bosheit  her- 
zuleiten versucht.  Und  dieser  Versuch  ist  schon  sehr  alt. 
GrafF  verzeichnet  im  Ahd.  Sprachschatz,  Bd.  III,  Sp.  217,  alt- 
hochdeutsche Glossen  aus  einem  Bibelkodex  und  aus  einem 
Kodex  des  Boethius  de  consolatione  philosophiac,  wonach  nugaj 
mit  gebosc,  der  Akkusativus  dazu  nugas  mit  giposi  übersetzt 
wird.  Anderweitige  althochdeutsche  Glossen  zu  den  Satiren 
des  Persius  übertragen  nugari  mit  böson,  nugaris  mit  thu 
bosos ;  in  den  Glossen  eines  Tegernseer  Kodex  zu  einer  Historia 
ecclesiastica  wird  ineptus  mit  giposer,  der  Akk.  plur.  ineptas 
mit  giposo  gedeutet;  in  Glossen  zum  Prudentius  nugator  inanis 
mit  giposari  wiedergegeben.  Hieraus  zu  schliefsen,  dafs  unser 
neueres  Posse,  unter  dem  man  doch  eben  solche  nuga3  versteht, 
von  jenem  bosi,  gabösi  herzuleiten  sei,  lag  nahe.  Nichtsdesto- 
weniger hat  schon  Grimm  im  „Deutschen  Wörterb."  in  dem 
sehr  ausführlichen  Artikel  „Bosse"  jene  Ableitung  zurück- 
gewiesen, indem  er,  wie  mir  scheint,  mit  Grund  darauf  auf- 
merksam macht,  dafs  nicht  nur  der  lange  Vokal  6  in  jenem 
ahd.  gabösi,  sowie  der  allmählich  eintretende  Umlaut  ö  in  böse, 
sondern  auch  das  Doppel-s  in  Bosse,  Posse  jenem  Ursprünge 
widerspreche.  Wenn  freilich  Grimm  gleichzeitig  an  derselben 
Stelle  als  Grund  orejren  diese  ahd.  Ableitunjr  von  Posse  den 
Umstand  geltend  macht,  dafs  das  Wort  im  Mhd.  nicht  vor- 
komme, so  möchte  ich  diesen  nicht  für  stichhaltig  ansehen. 
Einerseits  findet  sich  posse  in  der  Bedeutung  von  „mutwilliger 
Streich"  in  der  That  in  einem  Gedichte  Frauenlobs  (Minne- 
sänger, herausg.  von  v.  d.  Hagen,  Bd.  III,  149^'),  andererseits  habe 
ich  schon  bei  früheren  Gelescenheiten  die  eigentümliche  Erscheinuno; 
hervorgehoben,  dafs  einzelne,  im  althochdeutschen  Zeiträume  vor- 
kommende Wörter  in  der  mittelhochdeutschen  Periode  wie  ver- 
schwunden sind  und  erst  im  15.  und  16.  Jahrh.  wieder  auftauchen. 
Jak.  Grimm  wendet  sich,  und  nach  ihm  mehrere  andere 
Verfasser  von  deutschen  Wörterbüchern,  wie  z.  B.  Weigand, 
bei  der  Ableitung  des  Wortes  Posse  vielmehr  dem  Ahd.  puzan, 
mhd.  bozen,  spät  mhd.  bossen,  schlagen,  stofsen,  zu.  Man 
könnte  nun  denken,  dafs  der  Übergang  aus  dem  bözen,  bossen, 


über  das  Wort  und  den  lk'<rriir  Posse.  37 


-o 


schlagen  zu  Posse  einfach  so  zu  machen  sei,  dafs  Posse  ein 
Schlag,  Streich  sei.  Schon  Adelung  weist  sub  voce  Posse  dar- 
auf hin,  dafs  die  meisten  gleichbedeutenden  Wörter,  wie  Gauke- 
lei, Schwank,  lateinisch  jocus,  von  einer  Bewegung  hergenom- 
men seien  und  zunächst  possenhafte  Bewegungen  und  Stellungen 
bedeuten.  Er  hätte  auch  scherzen  anführen  können,  welches 
ursprünglich  hüpfen,  springen  bedeutet  und  nichts  als  eine  Er- 
Aveiterung  von  schern,  dann  schernen,  eilen,  rasch  fortgehen,  ist. 
Ebenso  ist  im  Griechischen  naieiv,  schlagen,  und  nait^tiv,  spielen, 
offenbar  nah,  d.  h.  wie  Mutter  und  Kind  verwandt.  Dem  ana- 
logen, anscheinend  so  leichten  Übergange  von  bözen,  bossen, 
schlagen,  zu  Posse  steht  aber  zunächst  die  Thatsache  entgegen, 
dafs  sich  kein  vermittelndes  Verbum  bossen,  im  Sinne  von 
scherzen,  Mutwillen  treiben,  findet.  Ein  Frequentativum  bosseln, 
bössein,  im  Sinne  von  scherzen,  nugari,  kommt  allerdings  vor. 
Allein  nur  dialektisch  und  vereinzelt;  in  Stalders  „Schweize- 
rischem Idiotikon"  S.  200  ist  „pösseln"  im  Sinne  von  „kleine 
mutwillige  Streiche"  machen  aufgeführt.  Dagegen  giebt  es  ein, 
mit  bözen,  bossen,  schlagen  zusammengehöriges  Substantivum 
bosse,  welches  in  einer  so  ganz  eigentümlichen,  von  zahlreichen 
Stellen  namhafter  Schriftsteller  belegten  Bedeutung  vorkommt, 
dafs  der  Übergang  davon  zu  unserem  jetzigen  Posse,  so  um- 
ständlich und  indirekt  derselbe  auch  erscheint,  in  der  That  als 
der  richtigste  und  zuverlässigste  sich  darbietet.  Jenes  bosse, 
es  findet  sich  auch  im  italienischen  bozza,  im  französischen 
bosse  wieder,  bedeutet  zunächst  eine,  durch  einen  Stofs  oder 
Schlao'  hervorojebrachte  Beule  oder  Erhöhuno-  und  wird  dann 
vor  allen  Dingen  und  hauptsächlich,  ebenso  wie  das  davon  ab- 
geleitete bosseler,  bossieren,  von  den  durch  getriebene  Arbeit 
hervorgebrachten  erhabenen  Figuren  gebraucht.  Dann  von 
Figuren  und  Steinarbeit  überhaupt.  Ein  oder  eine  Bosse,  Posse 
ist  also  eine  auf  Brunnen,  Gesimsen  oder  sonst  passenden 
Stellen  angebrachte  Figur,  meist  von  komischem  Aussehen.  In 
diesem  Sinne  wird  das  Wort  von  allen  hervorragenden  Lexiko- 
graphen des  16.  bis  18.  Jahrh.  verzeichnet.  Maaler  (lat.  Picto- 
rius)  hat  in  'seiner  „Teutsche  Spraach"  S.  319^:  „Possen,  als 
die  man  an  die  Brunnen  macht,  wasser  aufszeblaasen  oder 
kindle  an  den  rören,  die  wasser  aufsschrävend  (d.  h.  ausspritzen) 


38  Über  das  "Wort  und  den  Begrifif  Posse. 

oder  biüntzlend."  Namentlich  kommt  das  Wort  so  in  den 
Kompositis  bossenwerk  und  bossenstück  vor.  Dasypodius  giebt 
bosseuwerk  dm'ch  parergon.  Deutlicher  nennt  Henisch  S.  466 
und  467  bossenwerk  „das  laub,  so  man  zur  zier  von  stein  oder 
holzwerk  um  die  Thüren  macht."  Er  spricht  von  einem  „trink- 
«Teschirr  mit  allerlei  bossenwerk  von  gold  oder  silber  geziert." 
Frisch,  Bd.  II  S.  66^.  hat:  „Bossenstück  von  Laubwerk,  wunder- 
liche Figuren  und  Auszierunojen  von  Larven  und  Fratzen- 
gesichtern,  larva^,  terribiles  ornamentorum,  anaglyphorum  figura3, 
ab  artificibus  fictjc."  In  diesem  Sinne  kommt  Posse,  Bossen- 
werk u.  s.  w.  bei  den  Schriftstellern  namentlich  des  16.  Jahrh. 
sehr  häufig  vor.  Bei  Grimm  ist  eine  ganze  Keihe  von  Bei- 
spielen dafür  angeführt.  So  heifst  es  in  Stumpfs  Schweizer- 
chronik 669^:  „Neben  jeglichem  Wappen  und  Ehrenzeichen  waren 
zween  Bossen"  (d.  h.  in  Bern  zwei  Bären,  in  Zürich  zwei 
Löw^en).  In  der  deutschen  Übersetzung  der  remedia  utriusque 
fortuna>  Franz  Petrarchas  vom  Jahre  1559  heifst  es:  „Warum 
lafst  Ihr  Euch  also  bewegen  die  Bilder,  die  sich  weder  wiegen 
noch  regen  mögen,  ob  sie  schon  im  Bossen  stehn,  als  wollten 
sie  srehn,  lachen  und  weinen."    Bei  H.  Sachs  I,  399^  liest  man: 

Auf  dem  Gesimbs  sach  ich  viel  Possen 
Ans  Glockenspeis  künstlich  gegossen. 

Ob  das  „bofs",  welches  sich  bei  Schriftstellern  aus  jener 
Zeit  im  Sinne  von  lustiger  Mensch,  lustiger  Gesell  findet,  eben 
jenes  Possen,  also  nichts  als  eine  Übertragung  von  jenen  leb- 
losen komischen  Relieffio-uren  auf  lebende  Menschen  sei,  lasse 
ich  dahingestellt.  Bei  Kaisersperg  im  Ev.  Septuag.  heifst  es: 
Aber  die  erbern  dingt  man  nit,  wenn  nieman  fragt  von  der  leer, 
dann  allein,  ist  er  ein  gut  gesel  und  ein  guter  bofs."  Und 
in  seinen  Predigten  über  Brands  Narrenschiff  c.  50 :  „Mancher 
in  disem  schyflf  gern  fert,  dann  es  sind  viel  gut  bossen  drynn, 
die  grofs  arbeit  und  klein  gewinn  haut."  Scherz  und  Oberlin,  die 
diese  Stellen  aus  Kaisersperg  anführen,  erklären  das  Wort  mit 
homo  facetus.  Jedenfalls  dürfte  der  Übergang  aus  jenen  lustigen 
Figuren,  aus  jener  komischen  Eelief-  und  Feuilletonarbeit  auf 
unser  Posse  im  Sinne  von  lustiges  Ding,  belustigende  Arbeit 
überhaupt  das  Richtige  sein.  Grimm  weist  mit  Grund  darauf 
hin,    dafs   sich  daher  auch  wohl  die  Wendungen :    einen  Possen 


über  das  Wort  und  den  Bejrrifl'  Posse.  39 


reiföcn,  einen  Possen  treiben,  erklären.  Erwähnen  will  ich  noch 
eine  Stelle  in  Joh.  Mathesius'  Sarepta  oder  Bergpredigt  (Bl.  181'' 
ad  fin.,  Ausg.  v.  1587,  Nürnberg),  wo  das  Verbum  possieren 
geradezu  in  der  Bedeutung  von  „in  komischer  Weise  erdichten" 
gebraucht  wird.  „Dise  heimliche  heillose  vnnd  Gotteslester- 
liche  abgötterey,"  sagt  er  dort,  „will  vns  nun  vnser  Preceptor 
seliger  in  seinem  gemalten  glast  fürstellen,  damit  wir  die  triege- 
rey  neben  Gottes  Wort  in  gleichnufö  erkennen  —  selber  auch 
keinen  Gott  oder  Gottesdienst  possirn,  erdichten  vnnd  vns 
vor  menschentand  vnd  Satzungen  hüten." 

Wann  und  bei  welchem  Schriftsteller  zuerst  der  Übersfan"- 
dieses,  in  früherer  Zeit  überall  als  Maskulinum  gebrauchten 
Bosse,  Posse  in  das  Femininum  „die  Posse"  eingetreten  sei, 
läfst  sich  kaum  angeben,  noch  schwieriger  dürfte  der  Nachweis 
sein,  wann  dies  „Posse"  zuerst  als  Bezeichnung  für  ein  ganzes 
dramatisches  Stück  angewendet  worden  ist.  Ursprünglich  war 
der  Posse  (bei  Adelung  zuerst  „der  Possen")  nur  ein  einzelner 
lustiger  Streich,  eine  einzelne  lustige  Gebärde,  Possenreifser 
Männer,  welche  solche  lustige  Streiche  oder  Grimassen  machten. 
Allerdings  gebrauchte  man  diese  Bezeichnung  schon  immer  haupt- 
sächlich von  solchen  Streichen  und  Gebärden  in  dramatischen 
Spielen.  „Alle  comedische  Scribenten,  denen  Bossen  zu  reifsen 
angeboren"  schreibt  schon  Fischart  im  siebenten  Kapitel  seiner 
„Geschichtklitterung".  Die  Sache  selbst,  das  dramatische  Possen- 
spiel, ist  ja  uralt  und  hat  mit  den  Anfängen  unseres  Dramas 
überhaupt  begonnen.  Schon  in  die  geistlichen  Ludi  des  Mittel- 
alters waren  possenhafte  Elemente  eingemischt,  und  zusammen- 
hängende Possenspiele,  oft  auch  nur  als  Anhängsel  an  gröfsere 
ernste  Stücke,  weist  die  Theatergeschichte  in  allen  Ländern, 
hauptsächlich  an  den  Hauptstätten  der  Entwickelung  unseres 
deutschen  Dramas,  also  in  Nürnberg,  AVien,  Hamburg,  Berlin 
nach.  Die  Bezeichnung  Posse  für  Komödie  findet  sich  aber 
erst  bei -Gottsched: 

Drum  tummle  sich  im  Thal  der  Posse, 

Wer  sich  nicht  höher  schwingen  kann, 

heifst  es  bei  ihm,  und  damit  ist  zugleich  jener  Begriff  der  Posse 
als  etwas  niedrig  Komisches,  als  eine  gemeine  Gattung  des 
Dramas  gegeben  und  mehr  -als  ein  Jahrhundert  lang  im  wesent- 


40  Über  das  Wort  m\^  den  BegrilT  Posse. 

liehen  oeblieben.     Was    man    sich    unter  Posse    vorstellt,   dafür 
dürfte  der  Artikel  bezeichnend  sein,  welcher  sich  dafür  in  dem 
von  Herlüfssohn   und  R.  Blum   herausgegebenen  Theaterlexikon 
findet,   einem  Werke   von   nicht   gerade  autoritativer  Bedeutung 
in  der  Litteratur,  aber  interessant  als  Echo  dessen,  was  in  den 
Theaterkreisen  herrschende  und  allgemein  gültige  Meinung  war 
mid   auch    noch  ist.     „Die  Posse,"    heifst   es  dort   in    dem    von 
Louis    Schneider  geschriebenen   Artikel,    „schildert   gewöhnlich, 
ohne  die  strengen  Regeln   des  höheren  Lustspiels    zu    befolgen, 
Beo-eo-nisse  und  Situationen  des  o-emeinen  Lebens,  durch  Gegen- 
Überstellung    lächerlicher    Individualitäten,    deren   Konflikt    eine 
komische   Wirkung    hervorbringt.     Die    Posse    will   nicht    Cha- 
raktere   folgerecht    entwickeln,     will    keinen    Grundsatz,    keine 
Wahrheit    zur  Anschauung   bringen,    sondern   ohne   tiefere  Ab- 
sicht das  Ungewöhnliche,  Lächerliche  in  oft  gewagter  und  kaum 
zu   rechtfertigender  Zusammenstellung    darstellen.     Ihr  Feld    ist 
die  Übertreibung  in  Situation  und  Charakter,   ihr  äufseres  Ge- 
wand der  Witz  in  seiner  gröfsten  Ausgelassenheit,  ihre  Grenze 
das    Läppische,    absolut    Gemeine    und    Niedrige.     Aus    diesen 
Gründen   ist   eine  gute  Posse    eine   so  seltene  Erscheinung  auf 
der    deutschen    Bühne.      Es    gehört    eine    ganz    besondere    Be- 
fähio-uns:  dazu,    die  Grenzen    zu  erkennen,    bis    zu  welchen  der 
Dichter  hier  gehen  kann,  und  es  ist  eine  alte  Bühnenerfahrung, 
dafs    eine    Posse    entweder    vollständig    durchfällt     oder    einen 
o-länzenden  Erfol":  hat."    Im  weiteren  Verfolo-  des  Artikels  wird 
dann  darauf  hingewiesen,  dafs  gute  Possen,  da  sie  ein  Spiegel- 
bild  des    wirklichen  Lebens   seien,    meistens    nur    in    gröfseren 
Städten  entständen,  ,,wo  das  Volksleben  bewegt,  schnell  wechselnd 
und  eigentümlich    sich   gestalte."     Auch    sei   für   die  Entwicke- 
lung  der  Posse  die  grofse  Stadt  insofern  Vorbedingung,  als  sie 
eine  besondere  Bühne   für    sich   verlange   und   man   weder  dem 
Publikum    zumuten   könne,    auf    denselben    Brettern,    wo    noch 
eben  „die  klassischen  Gebilde  unserer  Dichterfürsten  erschienen 
seien",     Stücke    wie    „das  Landhaus    an    der  Heerstrafse"  oder 
den  „Pachter  Feldkümrael  von  Tippeiskirchen"  darzustellen  oder 
zu  goutieren.  Die  beiden  Dinge,  welche  der  Posse  hier  vorgeworfen 
werden,    Übertreibung    in    Situation    und    Charakteren    und    das 
Streifen  an  das  Niedrige  und  Gemeine  im  Menschen,  sind  jene 


über  das  Wort  und  den  BegrllT  Posse.  41 

beulen  Eij^cnschaften,  welche  man  noch  heutzutaii:e  ofemeinhin 
mit  dem  Be<>;riffe  der  Posse  verbindet  und  weisen  deren  man 
sie  eben  zum  bas  j^enre  der  Poesie  rechnet.  Sind  diese  Eisten- 
schaffen  denn  aber  in  der  That  so  schlimm  und  so  herabwür- 
digend? Finden  sie  sich,  frage  ich  zunächst,  nicht  in  den  aus- 
gezeichnetsten Stücken  der  hervorra^fenden  Komödiendichter  aller 
Zeiten  und  Nationen?  Wenn  in  den  „Vögeln"  des  Aristophanes 
die  Übers"dtti2:uno;  der  beiden  wackeren  Bürsfer  Beschwatzefreund 
und  Hoffegut  an  dem  politischen  Treiben  in  Athen  so  weit  geht, 
dafs  sie  in  eine  Felseneinöde  zum  Vogel  Wiedehopf  flüchten, 
mit  den  Vöi^eln  ein  Wolkenkuckucksheim  ijründen  und  sich 
selbst  in  Vögel  verwandeln,  ist  das  nicht  „Übertreibung  in 
Situation  und  Charakteren"?  Verdient  es  eine  andere  Bezeich- 
nung, wenn  Sokrates  in  den  „Wolken"  seine  Phantastereien  so 
weit  treibt,  dafs  er  mit  diesen  luftigen  Wesen  selbst  in  Verkehr 
tritt  und  dem  Sohne  des  bei  ihm  Hilfe  suchenden  Strepsiades 
mit  seinen  Sophistereien  den  Kopf  derartig  verdreht,  dafs  dieser 
seinen  eigenen  biederen  Vater  durchprügelt?  Ja  man  kann 
sasfen,  wo  ist  ein  einzio-es  Stück  des  i^rofsen  griechischen 
Komödiendichters,  welches  nicht  eben  solche  hochgetriebene 
oder  übertriebene  Situationen  und  Charaktere  darbietet?  Von 
dem  Streifen  an  das  Niedrige  und  Gemeine  im  Menschen  will 
ich,  was  die  Personen  des  Aristophanes  betrifft,  ganz  schweigen. 
Sie  streifen  nicht  blofs  daran,  sie  greifen  oft  derb  hinein.  Und 
ißt  dies  bei  den  Komödien  eines  Shakespeare,  eines  Moliere 
etwa  anders?  Ist  das  Benehmen  Petrucchios  gegenüber  dem 
trotzköpfigen  Käthchen  in  „der  Widerspenstigen  Zähmung",  ist 
der  Charakter  des  Haushofmeisters  Malvolio  in  „Was  ihr  wollt", 
sind  die  Doktoren  in  Molieres  „Eingebildetem  Kranken"  und 
dieser  selbst,  um  aus  den  zahllosen  sich  hier  darbietenden  Bei- 
spielen die  ersten  besten  herauszugreifen,  nicht  alles  solche  über- 
triebene, nach  dem  gewöhnlichen  Mafsstabe  gemessen  unwahr- 
scheinliche  und  unnatürliche  Charaktere?  Sie  sind  es  so  sehr, 
dafs  man  sagen  kann,  keines  der  Stücke  der  genannten  drei 
grofsen  Komödiendichter,  die  dadurch  eben  auch  alle  zu  Possen 
gestempelt  werden,-  sind  ohne  solche  Überschwenglichkeiten. 
Ja  sie  müssen  es  sein,  weil  eben  solche  sogen.  Übertreibungen 
notwendig   zum  Wesen    der   Komödie,    naujentlich    der   höheren 


42  Über  Jas  Wort  und  den  Begriff  Posse. 

Komöilie  gehören.  Dieselbe  erblickt  eben  die  Dinge  und  Per- 
sonen, ^velcllen  sie  strafend  den  Stempel  des  Lächerlichen  auf- 
drücken will,  im  Hohlspiegel  der  Phantasie,  und  indem  sie  sie  auf 
diese  Weise  ins  Ungeheuerliche  vergröfsert,  handelt  sie  genau 
nach  den  Gesetzen  des  Dramas,  welches,  da  es  sich  mehr  als 
jede  andere  Dichtungsart  an  die  Sinne,  an  die  Augen  und  Ohren 
der  Menschen  wendet,  diesen  daher  auch  alles  möglichst  drastisch 
und  plastisch,  grofs  und  hervorspringend  darzeigen  mufs.  Ist 
es  doch  mit  der  Tragödie  nicht  anders ;  denn  die  äufsere  Gröfse 
und  der  äufsere  Glanz  der  Könige  und  Kaiser,  Prinzen,  Prin- 
zessinnen und  heldenhaften  anderen  Personen,  mit  denen  sie  es 
zu  thun  hat,  haben  schlechterdings  keine  andere  Bedeutung,  als 
Exponenten  ihres  inneren  Wertes  zu  sein  und  dadurch  das  Un- 
heil, welches  sie  anrichten  oder  welches  sie  trifft,  desto  augen- 
fälHuer  und  erareifender   zu  machen. 

Nicht  minder  zu  entschuldigen  ist  es,  dafs  die  Posse,  wie 
ihr  vor«:eworfen  wird,  an  das  Niedri<];:e  und  Gemeine  in  der 
menschlichen  Natur  rühre.  Ja  sie  mufs  es  geradezu,  wenn  sie 
ihrer  Aufo^abe  als  Komödie  o-erecht  werden  will.  Um  dies  er- 
sichtlich  zu  machen,  ist  es  nötig,  einen  kleinen  Streifzug  in  das 
Ästhetische  zu  thun  und  das  Wiesen  des  Komischen  zu  be- 
zeichnen. Von  diesem  Wesen  des  Komischen  sind  schon  viele 
Definitionen  und  zum  Teil  in  einem  so  hochtrabenden  philoso- 
phischen Jargon  gegeben  worden,  dafs  der  natürliche  Mensch 
eine  gewisse  Scheu  empfindet,  überhaupt  darauf  einzugehen. 
Ich  will  mich  kürzer  und  einfacher  fassen.  Wie  dasjenige  tra- 
gisch ist,  was  uns  traurig,  so  ist  das  komisch,  was  uns  lustig 
macht.  Traurig  sind  wir  aber,  wenn  es  uns  übel,  lustig,  wenn 
es  uns  ffut  ero^eht.  Nun  liecrt  es  allcrdin";s  nicht  in  der  Macht 
des  dramatischen  Dichters,  es  uns  selbst  wirklich  gut  oder  übel 
ergehen  zu  lassen,  wohl  aber  uns  Personen  vorzuführen,  welche 
sich  in  einer  üblen  Lage  befinden  und  aus  Mitgefühl  mit  denen 
wir  traurig  gestimmt  werden,  wenn  ihre  üble  Lage  eine  unver- 
diente, heiter  aber,  wenn  sie  verdient  und  dabei  doch  nicht  so 
ßchliram  ist,  dafs  sie  die  in  derselben  Befindlichen  geradezu  zu 
Grunde  richtet.  Das  Bewufstsein,  um  Avie  viel  besser  es  uns 
ergeht  als  jenen,  durch  irgend  eine  Inkonvenienz  oder  Aus- 
schreitung in  eine  üble  Situation   Geratenen   ist    es,    welches   in 


über  das  Wort  und  den  Begrifl*  Posse.  43 

uns  jenes  behagliche  Gefühl  erzeugt,  das  wir  Lustigkeit  oder 
Heiterkeit  nennen.  Idealer  gestimmte  Gemüter  dürften  geneigt 
Bein,  dies  zu  leugnen  und  der  edlen  menschlichen  Natur  wider- 
sprechend finden.  Unbefangene  Dichter  und  Philosophen  haben 
es  aber  von  jeher  zugegeben.  „Süfs  ist  es,"  singt  schon 
Lucretius  im  zweiten  Buche  seines  Werkes  de  rerum  natura, 
„bei  hoher  See,  wenn  die  Winde  das  Meer  peitschen,  vom 
sicheren  Lande  aus  der  o^rofsen  Mühe  eines  anderen  zuzuschauen, 
nicht,"  fährt  er  fort, 

quia,  vexari  quemqnam,  est  jucunda  voluptas, 

Sed  qiiibus  ipse  raalis  careas,  quia  cernere  suave  est. 

Schopenhauer,  der  unbefangenste  der  modernen  Philosophen, 
stimmt  dem  ausdrücklich  bei.  Das  eigentliche  Element  und  die 
Wurzel  des  Komischen  ist  also  die  Schadenfreude.  Nun  giebt 
es  freilich  einen  doppelten  Schaden,  einen  solchen,  welchen  der 
Mensch  erleidet,  wenn  er  sich  unberechtigten  und  tadelnswerten 
Extravao'anzen  hinoreo-eben  hat,  und  diesen  zu  strafen  ist  die 
Aufgabe  der  Satire  oder  der  ofev/öhnlichen  Komödie  und  des 
Lustspiels,  und  einen  Schaden,  eine  Enttäuschung,  die  uns 
treffen,  nicht  weil  wir  einer  tadelnswerten  Neigung  oder  Rieh- 
tunof  nachsieoeben,  sondern  weil  wir  nur  einem  üjanz  berech- 
tigten,  in  der  Menschennatar  liegenden  Streben  gefolgt,  mit 
diesem  Streben  aber  an  den  Grenzen,  welche  überall  unserer 
Natur  gezogen  sind,  an  dem  gemeinen  Gange  der  Dinge  ge- 
scheitert sind.  Das  Gefühl,  welches  ein  solcher  vergeblicher 
Kampf  eines  berechtigten  höheren  Strebens  mit  der  Unzuläng- 
lichkeit der  menschlichen  Natur  erzeugt,  ohne  gerade  das  Indi- 
viduum wesentlich  zu  schädigen,  ist  der  Humor,  und  dieser 
Humor,  der  mit  dem  einen  Auge  weint  und  mit  dem  anderen 
lacht,  weint  über  jene  Vereitelung  unseres  besten  Strebens  und 
lacht  über  das  Unverhältnismäfsige  desselben  zu  unseren  Kräften, 
ist  recht  eiojentlich  das  AVesen  der  höheren  Komödie  oder  der 
Posse,- welchen  deutschen  Namen  ich  dieser  höheren  Komödie 
eben,  im  Gegensatze  freilich  zu  dem  gewöhnlichen  Gebrauch, 
vindizieren  möchte.  Die  obige  Erklärung  des  Humors  stimmt 
auch  mit  der  alten  bekannten  klassischen  Definition  des  Wortes 
überein,  welche  sich  in  Ben  Jonsons  Lustspiel:  Every  mau  in  bis 
humour  findet,  und  welche  wnser  verehrter  Mitarbeiter  H.  Vatke 


44  Über  das  Wort  und  den  Begrifl'  Posse. 

neulich    in    seinem    trefFlichen  Aufsätze    „Ben  Jonson   in  seinen 
Anrcin""en"  wieder  citierte.    „Wenn  irgend  eine  besondere  Eigen- 
echaft,''  helfet  es  darin,  „so  Besitz  ergreift  von  einem  Menschen, 
dafö  sie  alle  seine.  Neigungen,   seine  Geister   und  Kräfte   dahin 
brincrt,  in  ihrem  Zusammenflusse    alle  in  einer  Richtuno;  hinzu- 
Stürzen,  das  mag  wahrhaft  ein  Humor  genannt  werden."    Jener 
zweite  wesentliche  Umstand  zur  Erzeugung  der  komischen  Wir- 
kung- ist  freilich  bei  dieser  Erklärung  des  berühmten  englischen 
Humoristen  noch  weggelassen,    dafs    nämlich   jene    von    ihm    so 
geschilderte  und  in  ihrer  Entstehung  detaillierte  einseitige  Rich- 
tung: des  Menschen  in  Konflikt    gerät    mit    seiner   eigenen    oder 
seiner  Mitmenschen  beschränkten  Natur  und    dadurch,    wie    be- 
merkt, jener   lächerliche    Gegensatz    eines    hohen    Strebens    und 
einer  niedrigen,  unzulänglichen  Kraft  entsteht.     Es  ergiebt  sich 
hieraus  eben,    wie  wesentlich    die    scharfe  Hervorhebung    dieser 
Beschränktheit,  schärfer  ausgedrückt,  dieser  Gemeinheit  und  Nie- 
drio'keit  der  menschhchen  Natur  der  Komödie  oder  Posse  ist. 
Es  erhellt  daraus    aber    auch    gleichzeitig,    und    mit    dieser 
freilich    paradox   erscheinenden    Ansicht    will   ich    meine    gegen- 
wärtiizen  Ausführungen  schliefsen,  die  eigentümliche  Erscheinung, 
dafs  die  Neigung    zur  Posse    und    die  Pflege    derselben    gerade 
bei    den  Völkern    in    den    Epochen    ihrer    höchsten    Kultur    und 
wenn    sie   die    Höhe    ihrer   Entwickelung    zu   überschreiten    be- 
ginnen,  hervorzutreten  pflegt.     Es    soll    ein  Ausspruch  Goethes 
sein   (ich    selbst    vermag   ihn    augenblicklich    in    seinen  Werken 
nicht  zu  finden),    dafs    er    den   Humor    in    der    Litteratur    nicht 
liebe,    weil    er    das  Zeichen   einer    sinkenden  Epoche  sei.     Mag 
man  von  der  Thatsache  erbaut  sein  oder  nicht,    sie  drängt  sich 
doch    sichtlich    der    Beobachtung    entgegen.      Als    die    Griechen 
nach  langiem  lebhaften  Ringen    nach  einer  freiheitlichen  Gestal- 
tun^»-  ihrer  Politik,    und  trotz  desselben    in    eine   immer    wüstere 
und    wechselvollere    Demokratie    gerieten,    so    dafs    den    besten 
Bürgern  das  Leben  in  ihrer  Hauptstadt  unleidlich  erschien,    da 
dichtete    ihnen    ihr    ungezogener    Liebling    der    Grazien    seinen 
Vogelstaat;  als  alles  ihr  Philosophieren  ihnen  kein  Heil,  sondern 
nur  immer  nebelhaftere  und  unfafsbarerc  Phantasiegebilde  bringen 
woUte,    da   hält    er   ihnen    als    Spiegelbild    ihres  Treibens    seine 
Wolken-  vor;  alc  ihre  Litteratur  von  den  Idealen  eines  Aschylus 


n 


über  das  Wort  und  den  BegrifT  Posse.  45 

und  Sophokles  zu  den  flachen  Wahrheiten  eines  Euiipides 
herabgestiegen  war,  da  quakten  ihnen  seine  „Frösche"  diese 
Thatsache  entgegen.  Den  Römern,  welche  es  im  Drama,  also 
auch  in  der  Komödie,  niemals  zu  eigenen  selbständigen  Lei- 
stun2:en  orebracht  haben,  hielt  Horaz  in  seinen  unübertrcfFlichen 
Episteln  und  Satiren  auf  der  Höhe  ihrer  staatlichen  Entwicke- 
lung  den  Humor  ihrer  Lage  vor.  AVenn  w^ir  in  Shakespeares 
und  Molieres  Stücken  weniger  jenen  Humor  über  die  Unlös- 
barkeit  staatlicher,  sittlicher  und  religiöser  Probleme,  welcher 
der  höheren  Komödie  eigen  ist,  entwickelt  sehen,  so  dürfte  die 
Signatur  ihrer  Zeitalter,  welche  eben  noch  aufstrebende,  nicht 
durch  die  Überfülle  der  Kultur  übersättigte  waren,  eine  Ur- 
sache davon  bilden. 

Paradoxer  noch  als  das   bisher  Gesagte  erscheint  es,  wxnn 
man  in  unserer  Zeit,    auf   der    glücklichen  Höhe    einer   nach  so 
lanjjem  Streben  erreichten  Machtstelluno;  Elemente    zu    solchem 
Humor,    zu    einer    possenhaften    Stimmung,     wie    die   oben    ge- 
schilderte, finden  wollte.    Und  doch  ist  eine  Neigung  dazu,  doch 
sind  alle   Bedingungen    zu    einer   höheren  Gestaltung  der  Posse 
bei  uns  vorhanden.     Man   beobachte,    wie    bei    immer   gröfserer 
Ablenkung  vom  Idealen,  ja  bei  einer  Geringschätzung  desselben, 
alles,    im   Leben    nicht    weniger    als    auf   den    Brettern,    welche 
dieses  Leben  bedeuten    sollen,    nach   dem  Heiteren,  Amüsanten, 
Possenhaften  förmlich  hascht  und  lechzt.     Wenn  man  Geleo^en- 
heit  hat,    das  Publikum  in  unseren  Theatern  häufiger  zu  beob- 
achten, so  sieht  man,  wie  jede  lustige,  humorvolle  Wendung  bei 
den  Vorstellungen  förmlich  wie  ein  Labsal,  eine  Oase  nach  der 
Wanderuno'    durch    ernstere    oder    auch    lanorweilio-ere    Strecken 
begrüfst  wird.     Nähern    wir   uns    auch   schon  einem  Aristopha- 
nischen Zeitalter  des  Humors,  d.  h.  der  über  alle  Enttäuschungen 
dieses  Erdenlebens  durch  ein  bitteres  Gelächter  sich  tröstenden 
Posse?      Enttäuschunoen    dieser    Art    freilich,    o-crade    auf   der 
Höhe  der  Kultur,  auf  der  wir  uns  befinden,  sind  uns  nicht  er- 
spart geblieben,    und   vielleicht   datiert    daher    die  pessimistische 
Strömunof,  welche  oferade  die  Werke  vieler  der  schärfsten  Denker 
der  Neuzeit  durchzieht.     In    so    vieler    Hinsicht    sind    wir   trotz 
redlichsten  Bemühens  der  Faust,  welcher  sieht,  „dafs  wir  nichts 
wissen  können." 


46  Über  das  Wort  und  den  BegrilT  Posse. 

Wenn  wir  alle  philosophiöclien  Systeme,  von  Heraklitos 
dem  Düsteren  bis  auf  Ed.  v.  Hartmann,  durchstudiert  haben, 
so  wissen  wir  von  denjenigen  Fragen  unseres  Daseins,  die  uns 
am  meisten  interessieren  und  die  uns  am  nächsten  liegen,  von 
dem  Schöpfer  und  der  Schöpfung  dieser  Erdenbühne,  von  dem, 
wie  es  sein  wird,  w^enn  für  den  einzelnen  unter  uns  die  Lampen 
derselben  erlöschen,  von  jenen  leuchtenden  anderen  Welten, 
welche  sich  über  unseren  Köpfen  drehen,  wenn  wir  abends  nach 
Hause  wandern,  von  allen  diesen  Dingen  wissen  wir  dann  so 
viel  wie  vorher,  das  heifst  nichts.  Der  mancherlei  Enttäu- 
schungen, welche  das  19.  Jahrhundert  hinsichthch  der  freiheit- 
lichen Gestaltung  des  politischen  Lebens  gebracht  hat,  will  ich 
irar  nicht  o-edenken.  AVie  hat  unser  transrhenanisches  oder 
transvoofesisches  Nachbarvolk,  seitdem  es  aus  den  Blutströmen 
seiner  ersten  grofsen  Revolution  der  Menschheit  die  kostbaren 
Gaben  einer  freieren  Humanität,  einer  den  Menschenrechten 
entsprechenderen  politischen  Entwickelung  dargebracht  hat,  in 
immer  neuen  Revolutionen  sich  abringen  müssen,  und  wohin  ist 
dasselbe  mit  diesen  Kämpfen  endlich  gelangt?  Sind  das,  wird 
man  uns  freilich  fragen,  Gedanken  der  Lust,  Gefühle  der  Heiter- 
keit, Stoff  für  Possen,  höhere  oder  geringere,  welche  uns  durch 

solche  oreschichtliche  oder  kulturhistorische  Enttäuschuno^en  ein- 
es o 

geflöfst   und  dargeboten  werden?     Mufs    niclA   die    Menschheit, 

indem    sie   dadurch   an    ihre   Grenzen    erinnert    wird,    vielmehr 

Trauer   und  Schmerz   emj)finden?     Gewifs    mufs   sie   es.     Aber 

ein  so  dringendes  Bedürfnis  für  das  Dasein    ist    andererseits  in 

jeder  Lage,  um  eben  nur  darin  bestehen  und  dauern  zu  können, 

gleichsam  wie  das  Licht  für  den  Äther,  für  die  Menschennatur 

die'  Freude  und  die  Lust  daran,  dafs  sie  auch  jene  demütigenden 

Empfindungen  über  die  Grenzen  und  Mängel  desselben  schliefs- 

lich  kleidet  in  die  Formen    des  Humors,    desjenigen  Humors, 

der  jene  Jeaune  qui  pleure  und  »Jeanne  qui  rit  des  französischen 

Lustspiels  zugleich   ist,    und    zuletzt,    künstlerisch    geleitet   und 

gestaltet,    alle    seine   Empfindungen    ausströmt    und   ergiefst  in 

dein    glänzenden   oder  unscheinbaren,   goldenen    oder    bleiernen, 

wie    immer    und    aus    welchem    Stoffe    gebildeten    Gefäfse    der 

Posse. 

Dr.  ßiltz. 


A i m o n   de    V a r e n n e s. 


Die  Zahl  derer,  die,  sei  es  in  kurzen  Notizen  oder  in  län- 
geren Abhandlungen,  dem  Dichter  des  Roman  de  Florimojit, 
jenes  altfranzösischen  Gedichtes,  welches  eine  Schilderung  sagen- 
hafter Vorgeschichte  der  makedonischen  Könige  enthält,  ihre 
Aufmerksamkeit  geschenkt  haben,  ist  gewifs  keine  geringe; 
indes  sind  ihre  Angaben  meist  so  willkürlich  und  tragen  so 
deutlich  den  Stempel  eines  unkritischen  Verfahrens,  dafs  der 
wissenschaftliche  Wert  der  von  ihnen  gewonnenen  Ergebnisse 
nicht  eben  hoch  ano:eschlao;en  werden  darf.  Ob  unter  den  von 
Borel  in  seinem  Tresor  des  recherches  et  antiquites  gauloises 
et  frauQoises,  der  von  1655 — 1667  erschien,  s.  vv.  seiieschal  und 
drudus  geojebenen  Bezuostellen  die  eine  oder  die  andere  auf 
empfehlenswerterer  Basis  beruht,  konnte  ich  nicht  ermitteln,  da 
mir  jenes  Werk ,  nur  in  der  neuen  von  Favre  besorgten  und 
1882  zu  Niort  erschienenen  Ausgabe  vorgelegen  hat,  die  selt- 
samerweise einio:e  in  der  Orio^inalaus^abe  stehende  Abband- 
lunofen  und  weitere  Ausführun^^en  zu  einzelnen  Artikeln,  darunter 
auch  wohl  die  hier  in  Betracht  kommenden  Stellen,  unterdrückt 
hat  (vergl.  Bd.  I,  S.  II).  Indessen  wird  auch  auf  das  daselbst 
gelieferte  Material  kein  besonderer  Wert  zu  lesjen  sein;  Paulin 
Paris,  Manuscrits  frangais  III,  S.  52  hat  bereits  auf  darin  ent- 
haltene Irrtümer  hingewiesen.  P.  Paris  ist  denn  auch  der  ein- 
zige, der  (1.  c.  S.  9 — 53)  nach  bestimmten  kritischen  Gesichts- 
punkten verfahren  und  d-aher  auch  zu  einigen  richtigen  Resultaten 
gelangt    ist.      Aber    auch    an    seinen    Ausführungen    wird   sich 


48  Äimon  ile  VarenneS. 

inancheilei  aussetzen  lassen,  und  ille  Untersuehung  einiger  Piu^kte 

auf  der  Grundlacre    eines    aus":edelmteien  handschriftlichen  Ma- 
cs o 

terials  und  unter  Heranziehunoj  umfano^reicherer  litterarischer 
Hilfsmittel  wird  dieselben  in  einem  ganz  anderen  Lichte  er- 
scheinen lassen,  als  sie  von  P.  Paris  gesehen  wurden.  In  der 
Bezeichnuno:  der  Handschriften  schliefsen  wir  uns  an  E.  Steno-el 
an,  der  dieselben  in  seinen  Mitteiluns-en  aus  französischen 
Handschriften  der  Turiner  Universitätybibliothek  (Halle  1873, 
S.  41)  in  folgender  Weise  angeordnet  hat:  A  =  jMs.  i\\  353 
(alt  6973);  ß  =  iMs.  fr.  792  (alt  7190--^);  C  =  Ms.  fr.  1374 
(alt  74983);*  D  =^  Ms.  fr.  1376  (alt  7498^);  E  r=  Ms.  fr.  1491 
(alt  75592);  F  =  Ms.  fr.  15101  (suppl.  fr.  413);  G  =  Ms.fr. 
24  376  (La  Vall.  47),  alt  2706  (vergl.  De  Bure  Cat.  d.  1.  Bibl. 
de  la  Valllere  II,  164);  H  =  Ms.  Harl.  4487  (vergl.  Michel, 
Kapp.  98);  I  =  San  Marco  22**  (vergl.  Champollion  Figeac, 
.Mel.  bist.  IH,  369).  Die  Turiner  Handschrift  (Ms.  fr.  27,  jetzt 
L.  H,  16,  alt  g  I,  41)  bezeichnen  wir  mit  K.  Stengel  nennt 
dann  die  beiden  Prosabearbeitungen  Ms.  fr.  1490  (alt  7559) 
und  Ms.  fr.  12  566  (alt  suppl.  fr.   199).***     Über    die  von  ihm 

*  Vergl.  Fr.  Michel,  R.  d.i.  Violette,  Paris  1831,  S.  XL— XLIV;  Parise 
la  Duchesse  ed.  Guessard  et  Larcliej  pref.  S.  XIII. 

**  Vergl.  Paul  Lacroix,  Mss.  des  Bibliotheques  ditalie  1839,  S.  180. 
Jacob,  Dissert.  sur  quelques  points  curieux  de  l'histoire  de  France  et  de 
rhist.  litteraire  VII,  179.     Macaire  ed.  Guessard  pref  S.  CII  u.  CVI, 

***  Beschreibungeil  bezw.  Spuren  sonstiger  Handschriften  unseres  Ge- 
dichtes liefsen  sich  an  folgenden  Stellen  entdecken:  1)  bei  Anton-Francesco 
Frisi  in  den  Memorie  storiche  di  Monza  e  sua  corte  etc.  Milano  1794, 
Bd.  III,  S.  214,  Nr.  CXCV:  Poema^  o  rotnanzo,  detto  di  Florimondo  in  4^, 
scgn.  R.  Ill^  del  See.  XIIJ^  scritto  von  lingua  Protienzale  (Frisi  meint  Alt- 
franz.) in  doppia  coloiina,  di  foglj  LXVI.  Er  verweist  ungenau  auf  die 
Turiner  Handschrift  bei  Pasini,  Bibliotheca  Regia  Taurinensis  pag.  468 
(=:  Bd.  II,  S.  468);  mit  seinen  sonstigen  Ausführungen  werden  wir  später 
zu  rechnen  haben.  2)  Bei  Antoine  du  Verdier,  Bibl.  franc.  Bd.  I,  S.  697  : 
Le  Pt.oman  de  FLoritmmd,  en  rinie  ecrit  en  /nain,  en  la  Bidliotheque  du  Capi- 
taine  Sala^  a  Lyon.  8)  In  der  Aufzählung  der  Lin'es  en  Fran<;ois  escriptz 
a  la  main^  a  Tors^  devont  Vostel  de  Monseigneur  de  Diinois  {Extroit  du 
Ms.  de  la  Bihl.  roy.  No.  Peih.  S4ö2).  bei  Le  Roux  de  Lincy,  Les  Cent  Nouv. 
Paris  1841,  Bd.  I,  S.  LXXI  wird  Le  Duc  Florimons  erwähnt,  h)  Eine  Ab- 
schrift der  Venediger  Handschrift  (l)  von  der  Hand  des  St.  Palaye  befindet 
sich  zu  Paris  auf  der  Arsenalbibliothek  Belles-Lettres  No.  179  (3320).  Vgl. 
St.  Palaye,  Dict.  Bd.  X,  Liste  des  principaux  ouvrages  S.  27  (Hist.  litt.  XV, 
S.  490).  6)  Eine  Prosaversion  auf  der  Arsenalbibliothek  zu  Paris  Nr.  217 
befindlich  nennt  Hsenel,  Catalogi  Hbrorum  manuscriptorum  qui  in  Biblio- 
thecis  Galliai,  Helvetia?,  Belgii,  Britanniae  M.,  Hispaniie,  Lusitaniaß  asservan- 
tur,  Lipsiae  1830,  S.  352:  Roman  du  Chevalier  Florirnont;  lettre  du  pretre 
Jean  ä  Vempereur  et  au  roy  de  France;  vel.  4. 


Aimon  de  Varennes.  49 

erwähnten  Drucke  vgl.  Brunet,  Manuel  du  Libralrie  s.  v.  Flori- 
mont;  Antoine  du  Verdier,  Bibl.  frangoise  Bd.  I,  S.  697 
(=  Bd.  III  der  Bibliotheques  fran^oises  de  la  Croix  du  Maine 
et  de  du  Verdier  etc.,  Paris  1872—73);  Grässe  Ilg,!,  S.  448; 
llist.  litt.  Bd.  XV,  S.  488.  Es  existiert  in  der  Bibl.  Harl. 
noch  ein  gleichfiiUs  aus  der  Bibliothek  des  Nicolas  Joseph 
Foucault,  Comitis  Consistoriani,  stammende  Handschrift  Cod. 
See.  XIV,  Mus.  Brit.  Bibl.  Harl.  3983,  PL.  LXIX,  A,  von 
der  ich  die  Kollation  besitze;  der  Schlufs  lautet:  Explicit  li 
ronmans  de  florimont  Cil  qui  foit  ait  hien  en  ce  mont  Cil  qui 
lescript  en  j^ci'i'cidis  soit  de  p  ihiicrist  eslis  Et  de  hien  faire  ne  re- 
croie  IJiücrist  tiengne  en  droite  voie  De  desuoier  sire  le  gar  de  Gar 
dou  tont  satent  en  . . . .?  Lau  mil  l>CC  (das  erste  dieser  drei  CCC 
ist  in  der  Handschrift  nur  verstümmelt  vorhanden)  et  .i\v  et  trois 
./.  mois  deuant  la  sainte  crois  Fist  thomas  le  hucJiier  cest  Hure 
Mult  fu  delie  que  en  fu  deliure  Le  tiers  iour  de  lassumption  acompli 
sa  deuotion.  (H2.) 

P.  Paris  hat  seinen  Angaben  eine  Handschrift  (A)  zu  Grunde 
gelegt,  die  er  trotz  vieler  Nachlässigkeiten  des  Schreibers  für 
die  sprachlich  beste  und  zugleich  älteste  Darstellung  des  Textes 
hält,  die  aber  thatsächlich,  wie  vor  Paris  schon  Ginguene,  Hist. 
litt^XV,  486  angiebt,  sicher  erst  im  14.  Jahrhundert  entstanden 
ist.  Dies  läfst  sich,  abgesehen  von  dem  Charakter  der  Schrift, 
auch  an  sprachlichen  Eigentümlichkeiten  nachweisen.  Neben 
zahlreichen  metrisch  fehlerhaften  Versen  und  sonstiojen  argen 
Verstümmelungen  begegnen  Fälle,  in  denen  die  Imperfektendung 
-olent  bereits  einsilbig  gebraucht  ist,  z.  B.  lapeloient  le  bois  del  lion 
fo.  2c;^9?ani/r^  iür  planeure :  .II.  jonrnees  2^(^^  auenture  Pooit  durer 
cele  planure  fo.  2  c  (poid  aler  la  pleneure  D)  u.  s.  w.  Unter 
den  übrigen  Handschriften,  die  zum  gröfsten  Teile  dem  14.  Jahr- 
hundert angehören,  dürfte  wohl  keine  gröfseren  Anspruch  darauf 
erheben,  als  die  älteste  und  beste  Überlieferung  unseres  Ge- 
dichtes zu  gelten,  als  das  von  Stengel  mit  F  bezeichnete  Ms.  fr. 
15101  (suppl.  fr.  413).  Allerdings  hat  das  Ms.  auf  den  ersten 
Blick  und  bei  einer  weniger  eingehenden  Prüfung  nicht  viel 
Empfehlendes  für  sich,  und  daraus  mag  sich  denn  auch  erklä- 
ren, dafs  demselben,  wiewohl  hier  und  da  citiert,  bisher  noch 
von  keiner  Seite,  soviel  ich  sehe,  die  ihm  gebührende  Beachtung 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    LXXIII.  '  4 


50  Aimoii  de  Varennes. 

und  Würdigung  zu  teil  geworden,  —  auch  ist  dasselbe  bis  auf 
den  heutigen  Tag  unpaginiert.  Die  ersten  acht  Blätter  und  das 
letzte  Blatt  müssen  vielleicht  nicht  allzu  lanjre  nach  Entstehun«; 
der  Handschrift  durch  irgend  welche  äufseren  Einflüsse  zerstört 
worden  sein ;  die  vernichteten  Folios  wurden  später  ersetzt 
durch  einen  Schreiber,  dessen  bessernde  Hand  auch  im  übrigen 
Teile  der  Handschrift  bei  der  Wiederherstellunor  einiger  ver- 
wischten  Lettern  sichtbar  wird.  Die  Unechtheit  dieser  späteren 
Hinzufüo:unoren  läfst  sich,  ab<]jesehen  von  der  wenis^er  ver^^ilbten 
Färbuno;  des  Peri2:amentes  und  dem  verschiedenen  Charakter 
der  Schrift,  auch  an  einio;en  lautlichen  Abweichunoen  mit  Leich- 
tigkeit  erkennen.  Die  Infinitive  und  Farticipia  der  ersten  Kon- 
jugation haben  in  den  unechten  Teilen  fast  durchgängio-  die 
Endungen  eii\  ei{s),  während  der  Schreiber  des  echten  Teiles 
entschieden  er^  es  bevorzugt ;  einem  dort  stets  gebrauchten  hoin 
steht  hier  überall  die  Form  hoen  gegenüber,  ebenso  verhalten 
sich  faisce  und  jascet^  apeler  aj^elent  und  ajialer  aj^alent^  fault  und 
fat,  fauble  und  fahle  u.  s.  w.  Es  ist  anzunehmen,  dafs  dem 
späteren  Überarbeiter  bei  seiner  ergänzenden  Arbeit  die  ver- 
derbten Folios  des  Originals  noch  vorgelegen  haben  und  dafs 
er  versucht  hat,  den  von  denselben  gebotenen  Text  sachlich 
und  mundartlich  nach  Möglichkeit  wiederherzustellen.  Dafs 
einem  Schreiber  des  13.  Jahrhunderts,  der  nach  einer  gewifs 
arg  zerstörten  Vorlage  zu  arbeiten  hatte,  dies  nicht  durchweg 
gelang,  und  dafs  er  seine  ihm  anhaftenden  sprachlichen  Eigen- 
tümlichkeiten dabei  nicht  ganz  unterdrückt  hat,  ist  nicht  zu  ver- 
wundern. Immerhin  wird  man,  gestützt  auf  den  von  ihm  ge- 
botenen Text,  der  ursprünglichen  Form  der  zerstörten  Teile 
des  Gedichtes  am  nächsten  kommen.  Die  Mundart  der  echten 
Handschrift  trägt,  wie  ich  in  der  Ztschr.  f.  rom.  Phil.  VII,  S.  63 
bemerkt  habe,  einen  hervorstechend  lothringischen  Typus,  doch  ist 
die  Mischung  mit  weiter  westlichen  Sprachformen  eine  derartige, 
dafö  eine  strengere  Lokalisierung  der  Handschrift  die  Feststel- 
lung ihres  Ursprunges  in  der  Umgegend  des  an  der  Grenze  der 
heutigen  Champagne  gelegenen  Städtchens  Varennes  zum  wahr- 
scheinlichen Ergebnis  haben  dürfte,  und  diese  Erfahrung  würde 
zugleich  erweisen,  dafs  dieses  Varennes  der  Geburtsort  unseres 
Dichters  ist.     Es  ist  damit  noch  nicht  gesagt,   dafs   wir  in  un- 


Almon  de  Varennes.  51 

serem  Ms.  das  Archetypon  oder  die  Handschrift  des  Dichters 
selber  zu  sehen  hätten:  diese  Annahme  wird  verhindert  durch 
einige  sachliche  Unklarheiten  und  Mifsverständnisse,  die  hin 
und  wieder  begegnen.  Doch  kann  als  sicher  gelten,  dafs  der 
Schreiber,  der,  nach  einer  Marginalglosse  fo.  79  zu  schliefsen, 
sich  vielleicht  Tkiohalz  le  se ... .?  nannte,  dieselbe  Mundart 
sprach  wie  der  Dichter,  und  dafs  sich  beide  auch  der  Zeit  nach 
ziemlich  nahe  gestanden  haben  müssen.  Jedenfalls  gebührt  un- 
serer  Handschrift  in  der  Kritik  des  Textes  der  hervorragendste 
Platz.  Eine  Zusammenstellung  der  mundartlichen  Eigentüm- 
lichkeiten derselben  liegt  an  dieser  Stelle  nicht  In  unserer  Ab- 
sicht, doch  sei  es  vergönnt,  hier  auf  einige  Reime  hinzuweisen, 
die  die  Ürsprünglichkeit  unserer  Handschrift  den  übrigen  Hand- 
schriften oreo;enüber  zur  Genüge  darthun  werden.     Eine  Eigen- 

DO  O  O 

tümlichkeit  des  lothringischen  Dialektes  ist,  wie  Friedr.  Apfel- 
stedt,  Lothr.  Ps.  S.  XXXVHI,  an  der  Mundart  von  Metz 
nachweist,  die  Verstummung  des  auslautenden  r,  so  dafs  z.  B. 
der  Infinitiv  und  das  Part.  pass.  der  ersten  und  zweiten  Kon- 
jugation in  der  Aussprache  zusammenfallen.  So  erklären  sich 
denn  in  Ms.  F  Reime  wie :  en  lor  lit  sen  sen  uont  reposer  Poe 
ont  dormit  et  mit  pense  fo,  44  a,  wo  die  anderen  Hss.  se  sont 
rej)Ose  ändern;  oder  qant  ont  maingie  si  sont  leite  Li  un  salerent 
deporter  fo.  63  c,  wo  die  anderen  Hss.  teils  au  disner,  teils  si  fönt 
leuer  oder  laver  für  si  sont  leue  setzen ;  oder  li  dus  florimonz  fait  crier 
Que  li  somier  soient  trosse  fo.  88  b,  wo  die  anderen  Hss.  que  il 
facent  soumiers  trousser  ändern.  Auch  bin  ich  geneigt,  den  Reim 
2'>er  foi  :  avoir  fo.  77  a  dem  Dichter  zulieb,  der  seine  Mundart, 
wie  wir  später  sehen  werden,  so  wacker  verteidigt,  unange- 
fochten zu  lassen,  wiewohl  hier  so  leicht,  nach  dem  Vorgange 
anderer  Hss.,  in  por  voir  zu  ändern  wäre.  Von  Wichtigkeit 
ist  auch  der  Reim  li  rois  en  une  chamhre  entra\it~\  A  sa  fille  q 
mit  li  p)laist  fo.  96  c,  wo  die  anderen  Hss.  vait  :  p>lait  setzen. 
Nicht  blofs  in  dem  unechten  Teile  begegnet  eine  Bildung  der 
3.  Pers.  Plur.  Fut.  auf  ant^  und  zwar  im  Reime:  le  treu  nos 
aporterant  Si  com  il  faxoient  deuant  fo.  3  b,  eine  Lesart,  die  nur 
Mss.  C  G  beibehalten,  während  die  anderen  Hss.  sich  genötigt 
sehen,  aj^orteront  :  tenront  B  oder  aporteront  :  ont  D  E  Ho  zu 
schreiben;    A    setzt   aporteront   :   deuant-,    auch    der   echte   Teil 


52  Aimon  de  Varennes. 

bietet  für  diese  Eigentümlichkeit  ein  Beispiel;  .V.  roiame  len 
seruirant  Bleu  seront  riclie  li  enfant  fo.  12c,  wo  die  anderen  Hss., 
mit  xA^usnahme  von  C,  entsprechende  Änderungen  eintreten 
lassen. 

Ein  beträchtlicher  Teil  der  unklaren  und  verkehrten  Auf- 
stellungen über  die  unseren  Dichter  und  sein  Gedicht  betreffen- 
den Daten  haben  in  der  frühzeitig  zertrümmerten  Textüberliefe- 
rung ihren  ersten  Ursprung  gefunden  und  sind  aus  den  zahl- 
reich verbreiteten  Hss.  auch  in  die  Berichte  mancher  Litterar- 
historiker  übergegangen.  Für  die  Bestimmung  der  persönlichen 
Verhältnisse  unseres  Dichters  kommen  drei  Stellen  des  Komans 
in  Betracht:  zunächst  der  Anfang  und  das  Ende,  die  in  dem 
von  uns  als  Grundlafje  der  Uberlieferunoj  bezeichneten  Ms.  F, 
wie  oben  ausgeführt  worden,  unecht  sind.  An  diesen  beiden 
Stellen  zeigen  denn  auch  die  verschiedenen  Handschriften  die 
weitoehendsten  Abweichuno;en  voneinander,  und  diese  Thatsache 
läfst  sich  nur  im  Zusammenhano;e  mit  der  frühzeitis^en  Zer- 
Störung  der  betreffenden,  später  notdürftig  wieder  hergestellten 
Teile  der  Urhandschrift  F  erklären.  An  der  dritten  Stelle 
Ms.  F  fo.  80  a  ff.  zeioren  die  verschiedenen  Hse.  viel  s^röfsere 
Übereinstimmung  —  und  mit  Hilfe  der  hier  gebotenen  An- 
gaben wird  sich  ein  grofser  Teil  der  durch  die  beiden  anderen 
Stellen  veranlafsten  Irrtümer  richtigstellen  lassen,  besonders 
weil  wir  es  hier  in  F  mit  dem  unstreitig  echten  Texte  zu  thun 
haben. 

Was  zunächst  den  Namen  des  Dichters  angeht,  so  wird 
derselbe  fast  einstimmig  unter  der  Form  Aymes  bezw.  Aymon 
überliefert.  Abweichende  Schreibungen  sind  Haimes,  Haimon  DC 
8.  V.  festa  convivia ;  Ilaime  C  ohne  flexivisches  s  wird  gerecht- 
fertigt durch  allerdings  selten  begegnende  Verse  wie:  ayme  en 
ait  trouei  une  brauche  Ms.  F  fo.  80  a  oder  on  ayme  ot  iai  maint 
ior  esteit  fo.  2  c;  in  Ms.  F  begegnet  Aigmes  neben  häufigerem 
Aymes;  doch  dieselbe  Handschrift  schreibt  auch  aigmet  oder 
ainmet  =  amat.  Bei  St.  Palaye  Bd.  X,  Liste  des  principaux 
Ouvrages  S.  1  wird  die  Namensform  Aymar  erwähnt;  auch 
Frisi  a.  a.  O.  nennt  ihn  ^^Aymer,  o  meglio  Aymes^^.  Nicht  so 
glimpflich  wird  mit  des  Dichters  Zunamen  verfahren ;  derselbe 
begegnet   in   drei    oder  noch  mehr  verschiedenen  Formen.     Auf 


Aimon  de  Varcnncs.  53 

dem  inneren  Deckblatte  des  Ms.  E  findet  sich  von  moderner 
Hand  die  Angabe,  der  Dichter  helföe  in  einem  Ms.  Aymes  de 
Varentines;  du  Meril,  Flore  et  Blancheflor  S;  CXCVI  Anm. 
nennt  ihn  ebenfall?,  gestützt  auf  Ms.  D,  ,.At/mes  de  Varennes 
Oll  pliitot  de  Varentines'''.  Noch  weiter  geht  Dinaux,  Trouv.  Brab. 
S.  53;  derselbe  hält  die  Form  Varentines  für  unkorrekt,  ändert 
r  in  l  und  gelangt  so  zu  Valentines,  eine  Bildung,  die  er  an- 
standslos für  die  alte  Benennung  der  Stadt  Valenciennes  aus- 
giebt.  Den  ersten  Anlafs  zu  dieser  in  einigen  Handschriften 
(vergl.  A  fo.  1  a,  geändert  fo.  28  d,  und  D  fo.  1  b,  64  b)  enthal- 
tenen irrigen  Lesart  scheint  die  verderbte  Stelle  in  Ms.  F  fo.  1  b 
sreji^cben  zu  haben,  aus  der  ich  varatru  oder  dergleichen  (nach 
du  Meril  a.  a.  O.  naratbi)  herausgelesen  habe.  Schon  de  Bure, 
Cat.  Vall.  H,  164  hat  die  Lesart  Varentine  als  irrig  bezeichnet, 
und  dies  wird  zur  Evidenz  erwiesen  durch  Ms.  fo.  80  a,  wo 
der  Dichter  Ai/nies  de  naranes  und  damit  in  Übereinstimmung 
von  den  anderen  Hss.  aufser  D  Aymes  de  Varennes  genannt 
w'ird.*  Wenn  dem  Dichter  von  einer  Reihe  Berichterstattern  der 
Name  Aijmon  de  Chastillon  beigelegt  wird,**  so  geben  die  Hand- 
schriften keine  unmittelbare  Veranlassung  zu  dieser  Bezeich- 
nung, und  besteht  hier  der  Irrtum  darin,  dafs  eine  der  zahl- 
reichen in  Frankreich  gelegenen  Städte  Namens  Chastillon,  die 
der  Dichter  nur  vorübergehend  als  den  Ort,  an  welchem  er  sein 
Gedicht  verfafst  habe,  bezeichnet,  ohne  jede  weitere  Berech- 
tiiiuno;  ihm  als  Beiname  gegeben  wird. 

Bei  der  Erörteruno^  der  Zeit,  in  der  unser  Dichter  o^elebt 
hat,  lassen  sich  zunächst  einige  Bemerkungen  an  die  zuerst 
von  De  Bure  Cat.  d.  1.  Vall.  U,  S.  166  gemachte  und  später 
von  P.  Paris  Ms.  fr.  IIT,  94 — 95  weiter  ausgeführte  Beobach- 
tung knüpfen,  nach  welcher  der  Roman  d^Aliicandre  des  Lambert 
li  Tors  der  Zeit  nach  vor  dem  Roman   de  Florimont    zu   setzen 


*  Aimes   de   Varnies   le   retrait   Ms.  E   fo.  1  b,    Haimes   deleneos   nous 
dist  ib.  fo.  58  c:    Varienes  G  fo.   1  a,  fo.  53b. 

**  Vergl.  Glnguene,  Hist.  litt.  XV,  S.  490;  Amaury-Duval,  Hist.  litt. 
XIX,  678  Äinion  de  Varannes  ou  de  Chastillon;  so  auch  Reiffenberg,  Phil. 
Mousk.  II,  S.  CCXCIV;  Galland,  Mein,  de  l'Acad.  des  Inscript.  Bd.  II  (cf. 
P.  Paris,  Mss.  fr.  III,  S.  51>;  Antoine  du  Verdier  a,  a.  O.  I,  S.  176;  Adal- 
bert  Keller,  Roravart  S.  97,  der  sich  auf  Jacob,  Dissert.  sur  quelques  points 
curieux  de  l'histoire  de  France  et  de  Thistoire  litt^raire  VIL  179  beruft. 


54  Aimon  de  Varennes. 

sei.  De  Bure  beruft  sich  auf  folgende  Worte  Aimons:  Signor 
ie  sai  ai<sez  de  /i  Que  dalixandre  auez  oi  Mai  ne  sauez  ancore  pas 
Dont  fiit  sa  meire  olipias  Del  roi  jiheUpon  ne  sauez  Qtä  fiit  ses 
pcire  dont  fut  nez  Ms.  F  fo.  1  d.  Allerdings  geschieht  in  dem 
Roman  d'Alixandre  der  Lebens  Schicksale  Philipps  und  der 
Olympias  nur  vorübergehend  Erwähnung,  und  Aimon  hat  eich 
möo-licherweise  mit  obigen  Worten  auf  die  Unvollkommenhcit 
der  dort  gemachten  Angaben  berufen.  Wenn  nun  aber  P.  Paris 
a.  a.  0.  meint,  iVimon  habe  an  einer  anderen  Stelle  daran  er- 
innert, dafs  man  auch  im  Roman  d'Alixandre  erfahre,  wie 
Olympias  mit  Unrecht  angeklagt  worden  und  wie  Alexander 
an  Nectanabus  Rache  genommen,  so  ist  zu  bemerken,  dafs  dies 
bei  Aimon  durchaus  nicht  in  Form  einer  ausdrücklichen  Hin- 
weisuniT  auf  den  Roman  d'Alixandre  j^esehieht.  Der  Dichter 
erzählt,  wie  der  flüchtige  Nectanabus  nach  Griechenland  gekom- 
men und  dort  Lehrer  Alexanders  geworden  sei,  und  fährt  dann 
fort :  les  gens  en  dissoient  folie  Que  olipias  fut  samie  Alixandres  ses 
fils  estoit  Mai  eil  mantoit  q  le  dissoit  Grant  mensonge  fut  con  le 
dist  Car  Alixandres  puels  losist  Mult  dist  on  de  mal  per  le  mont 
Ms.  F  fo.  34  c.  Doch  nicht  blofs  in  den  branches  des  ge- 
nannten Alexanderromans  (vergl.  ed.  Michelant  4,  25 ;  9,  3  ff.) 
wird  eine  Ehrenrettung  der  Olympias  versucht,  sondern  da- 
durch, dafs  bereits  Alberic  de  Besanc^on  die  seit  dem  Pseudo- 
callisthcnes  verbreitete  und  in  allen  Litteraturen  des  Morgen- 
und  des  Abendlandes*   als  Thatsache   anerkannte  Überlieferung 


*  Zur  Litteratur  der  Sage  vom  Nectanabus  konnte  ich,  abgesehen  von 
den  in  der  Praf.  zu  der  Ed.  des  Pseudocallisthenes  von  Carolus  Müller  in 
<len  ReUqua  Arriani  et  scriptorum  de  rebus  Alexandri  M.  fragmenta  etc., 
Parisiis  1846,  in  Zachers  Pseudocallisthenes  (1867)  und  E.  Rhodes  „Der 
griechische  Roman  und  seine  Vorläufer",  Leipzig  1876,  S.  180  fl".  gelieferten 
Beiträgen,  folgende  Stellen  entdecken.  Im  Sinne  des  Pseudocallisthenes 
wird  die  Sage  erzählt  bei  Photius,  Bibliotbeca  ed.  Immanuel  Bekker,  Berolini 
1825,  S.  148a  21;  Vincentius  Bellovacensis,  Spec.  Hist.,  Duaci  1624,  lib.  IV, 
S.  117 — IIH  (vergl.  auch  Malus,  Prasf.  zu  Julius  Valerius  S.  XIV);  auch  die 
lateinische  Version  des  Qualichino  d'Arrezzo  (erste  Hälfte  des  13.  Jahrh.), 
von  der  A.  Krefsner  H.  A.  G8  (1882),  S.  29  (cf  ßrunet  I,  S...60)  den  An- 
fang mitgeteilt  hat,  erzählt  die  Sage  nach  der  gewöhnlichen  Überlieferung. 
Nicht  in  diesen  Zusammenhang  gehört  die  lateinische  Alexandreis  des  Gaultier 
de  Chastillon  (gegen  1180,  cf.  P.  Paris,  Mss.  fr.  III,  S.  90),  der  nicht,  wie 
Krefsner  a.  a.  O.  meint,  auf  den  Archipresbyter  Leo,  sondern  auf  Curtius  und 
Justinus  zuriickgeht,  vgl.  Michelant,  R.  d'Ahx.  Vorrede,  S.  XVIII;  ten  Brink, 
Engl.  Litt.  S.  232;  Chassang,  Hist.  d.  Roman  1862,  S.  442;  auch  Bojardo,  Orl. 


Aimon  de  Varenncs.  55 


von  der  Vcrfülirung  der  Olynipias  durch  den  ägyptischen  Köni_ 
und  Zauberer  Nectanabus  als  schnöde  Lüge  brandmarkt,  wird 
der  Versuch,  den  gefeierten  Helden  Alexander  von  dem  Vor- 
wurfe einer  illegitimen  Abkunft  zu  reinigen ,  geradezu  zum 
charakteristischen  Zuoe  sämtlicher  französischen  Bearbeiter  der 
Alexandersage,  zu  denen  wir  Aimon  de  Varennes  in  gewissem 
Sinne  füglich  rechnen  können.* 

Dafs  Alberic,    dem   sich    auch    hierin   sein  deutscher  Nach- 
ahmer,   der   Pfaffe  Lamprecht,  eng  anschlielst,  **   der  erste  ge- 


inani.,  canto  XXX,  22  ;  so  auch  die  englischen  Bearbeitungen  der  Alexandersagc, 
vgl.  ten  Brink,  Engl.  Litt.  S.  301 ;  von  späteren  englischen  Bearbeitern  sind  zu 
nennen:  John  Gower,  Confessio  Amantis  ed.  Reinhold  Pauly,  London  1857, 
Bd.  111,  S.  61  u.  128,  der  einige  von  der  sonstigen  Gestalt  der  Sage  ab- 
weichende Züge  entliält ;  besondere  Eigentümlichkeit  zeigt  auch  in  einer 
mittelenglist'hen  Bearbeitung  der  Historia  de  excidio  Trojie  des  Phrygiers 
Dares  eine  Stelle,  in  der  lies  Neptanahus  (diese  Namensform  begegnet  auch 
sonst)  und  der  Olynipias  Erwähnung  gethan  wird,  die  sich  aber  nur  in  Ms. 
Marl.  f^25  findet  im  Gegensatz  zu  Ms.  Lincoln's  Inn  150  und  dem  latein. 
Original,  vergl.  H.  A.  LXXII,  S.  25;  das  von  Büchner,  Gesch.  d.  Engl. 
Poesie,  Darmstadt  1855,  S.  98  erwähnte  Gedicht  des  Nicolas  Grimoald 
(zweite  Hälfte  des  16.  Jahrh.)  ü?er  Fall  des  ägyptischen  Astronomen  Zoroas. 
Von  den  byzantinischen  Chronographen  erzählt  z.  B.  Michaelis  Glycas  An- 
nalium  Pars  II  ed.  J.  Bekker  (bei  Niebuhr,  Corp,  Script.  Hist.  Byzant.), 
Bonn  1836,  S.  267  die  Überlieferung  als  Thatsache;  mit  weniger  Bestimmt- 
heit Georgius  Syncellus,  Chronogr.  ed.  Dindorf  (Niebuhr  1.  c.)  Bd.  I, 
S.  486 — 487,  der  auch  die  Überlieferung  erwähnt,  nach  welcher  Nectanabus 
nach  Äthiopien  floh  ;  und  mit  aller  Vorsicht  fügt  Cedrenus  (Niebuhr  a.  a,  O.) 
Bd.  I,  S.  264,  8  IF.  seiner  Darstellung  die  Bemerkung  hinzu:  JwSwqos  Se 
fr^oiv  ort,  Idle^av^QOs  «1  'Hoay.Xiovs  x6  ttoos  Ttar^os  elly.e  ysi^os,  ttqos 
fitirobs  Ss  ^laxiScov. 

*  Nicht  nur  die  wahrscheinhch  auf  der  Grundlage  des  französischen, 
von  Lambert  li  Tors  und  Alexandre  de  Bernay  verfafsten  Alexanderliedes 
auf  Befehl  Johanns,  von  Burgund  (Jean  sans  Peur,  f  1419)  in  Prosa  ge- 
schriebene Histoire  d'Alixandre  des  JOHANNES  VVAÜQVALIN  (Jean 
Fauquelin,  Hist.  litt.  XV,  S.  163)  schliefst  sich  in  der  Darstellung  der  Ge- 
burt Alexanders  und  in  der  Beurteilung  der  daran  geknüpften  schlimmen 
Gerüchte  den  in  ihrem  Vorbilde  zum  Ausdruck  kommenden  Anschauungen 
an,  sondern  auch  der  ungenannte  Verfasser  einer  jedenfalls  nach  1466  in 
französischer  Prosa  geschriebenen  und  von  jener  Quelle  offenbar  ganz  un- 
abhängigen Geschichte  Alexanders  verhält  sich  der  Sage  von  der  Vater- 
schaft des  Nectanabus  gegenüber  durchaus  ablehnend,  und  zwar  unter  Hin- 
weis auf  die  heilige  Schrift  (1.  Maccab.  1,  v.  1),  wo  Alexander  ausdrück- 
lich Phihpps  Sohn  genannt  werde.  Vergl.  Beiträge  zur  älteren  Litteratur 
oder  Merkwürdigkeiten  der  Herzogl.  öß'entl.  Bibliothek  zu  Gotha,  hrsgb. 
von  Fr.  Jacobs  und  F.  A.  Ukert,  LeijJ^ig  1835—38,  Bd.  I,  S.  371—415. 

**  Man  vergl.  die  Worte  Alberics :  Dicunt  nlquant  estrohatour  Quel  reys 

fud  filz  d'encantatoiir.     Mentent,  fellon  loseng et'mr ;  Mal  en  credreyz  nee  un 

de   lour ;    Qu\mz  fud   de   ling   fTenperatour  Et  filz   al  rei   Macedonor   (Paul 

Heyse,   Rom.  Inedita,   Berlin  1856,   S.  3—6)   mit  den   Worten   des   Pfaflfen 

Liimpreclit:  noch  sprechint  manige  lugenere  Daz   eines  goucheleres    sun  icere 


56  Aimon  de  Varonnes. 

wesen  ist,    der    den  Glauben    an  jene,    aus   ägyptischem  Lokal- 
patriotismus   entstandene    Fiktion     zu    erschüttern    versuchte,* 
ohne  dalß  ihm   seine  Quelle,    die   bisher   unveröffentlichte   soge- 
nannte ITistoria  de  prceliis   des  Avcldpreshyter  Leo    (erste   Hälfte 
des  10.  Jahrh.)  darin  vorausgegangen  wäre,  läfst  sich  schliefsen 
aus    dem    bei  Pertz,    Monumenta   VIII,    S.   62 — 77  mitgeteilten 
Ed'ceq^üun  de    Vita  Alexandri  magni   aus    der   Feder    des    latei- 
nischen Chronisten  Ekkehardus  Uraugiensis,    der    ebenfalls    auf 
den    Archipresbyter    Leo    zurückgeht    und    zwar    auf    ziemlich 
reiner  Quelle  beruht  (vergl.  Zacher,  Pseudocallisthenes  S.  109), 
die  Überlieferung  der  Sage  von  der  illegitimen  Geburt  Alexan- 
ders aber  noch    ganz   in    dem  Stile  des  Pseudocallisthenes  vor- 
träf^t.    Aimon  scheint  nun  nicht  blofs  einer  vielleicht  seit  Alberic 
in    Frankreich    allmählich    herrschend    gewordenen    Anschauung 
oder  dem  Zuge    seines  Herzens   gefolgt  zu  sein,    wenn   er  jene 
Tradition    als    unwahr    zurückweist,    sondern    sein    dabei   beob- 
achteter Gedankengang  scheint   in    der  That  in  einem  gewissen 
Zusammenhange  zu  stehen  mit  Kom.  d'Alix.  9,  3  fF.    Bei  Aimon 
kommt  Nectanabus  nach  Griechenland  und  wird  Lehrer  Alexan- 
ders,   daran   schliefst  sich  die  Bezeichnung  seines  Verhältnisses 
zu  Olympias  als  Lüge,    die   erwiesen   sei   durch    den  Umstand, 
dafd  er  später  seinen  Tod    durch  Alexander  fand.     So  auch  im 
Rom.  d'Alix.  9,  3  fF. :  une  grant  piece  apres  c  Alixandres  fu  7ies,** 


Alexander,  den-  ih  ü  von  nagen  Si  liegent  alse  hose  zcujen  Alle  di  is  ie  ge- 
dächten Wände  er  iras  relite  kunincsluhte  Sulhe  lugenmere  Sulen  sin  iinmere 
Jeqelichen  frumen  man  Sin  r/eslecJde  ih  tcol  gcreiten  kanr  Sin  geslehte  icas 
herilch  etc.l,  vergl,  A.  Rochart,  Pfeiffers  Germania  I,  S.  284. 

*  Auch  der  Verfasser  des  altspanischeii  Alexanderliedes  (Mitte  oder 
Ende  des  13.  Jahrhunderts),  mag  es  nun  der  WeltKeistliche  Joan  Lorenza 
Öegura  de  Astorga  (nach  Sanchez,  Coleccion  de  poesias  castellanas  anteriores 
al  siglo  XV,  Bd.  III,  S.  1 — 352)  oder  der  arcediano  de  Toledo  Jofre 
Garcia  de  Loaysa  (nach  Amador  de  los  Rios  in  seiner  Ausgabe  der  Werke 
des  Marques  de  Santillana,  Madrid  1852,  S.  614  s.  v.  Gaufredo)  gewesen 
sein,  bezeichnet  copla  19 — 20  die  Verführung  der  Olympias  als  Verleum- 
dung, folgt  hierin  indes  nur  seiner  französischen  Vorlage,  der  Alexandreis 
des  Lambert  11  Tors  und  Alexandre  de  Bernay;  vergl.  Ferd.  Wolf,  Studien 
zur  Geschichte  der  spanischen  und  pjortugiesischen  Nationallitteratur,  Berlin 
1859,  S.  73. 

**  Man  sieht,  dem  Dichter  dieser  zu  4,  25  in  Widerspruch  stehenden 
Stelle  ist  die  historische  Thatsache  bekannt  gewesen,  dafs  Nectanabus  erst 
lange  nach  der  Geburt  Alexanders  rnach  Diodorus  XVI,  51  in  Ol.  107,  3)  aus 
Ägypten  geflohen  ist;  vergl.  die  Erörterung  dieser  chronologischen  Frage 
bei   Carolus    Müller,    Prasf.    zum   Pseudo-Callisthenes  S.  XX— XXI    in    den 


Aimon  de  Varennes.  57 

Vint  ./.  hom  e  T  jiais^   de  graut  sens  renoim's,   Natabus  ot  a  non, 
des  arts  ert  bieii  fondes.     Cil  fu  puis   d^AlLv andres  et  mestres  et 

prives De  Im  fast  AlLvandres  mescreus  et  hlames    Por  coii 

que  de  sa  mlre  fa  durerncnt  prives,  Dist-on  FU  ert  ses  fius  et  de 
Im  engenrcs.  .1.  jor  le  jirist  as  maints  sor  .7.  rnont  ü  il  ert,  Si  le 
houta  aval  que  il  fu  lues  tues.  Vergl.  dazu  ib.  4,  25  ff.  Man 
\vircl  also  anstandslos  mit  De  Bure  und  P.  Paris,  denen  sich 
auch  Michelant,  Rom.  d'Alix.  S.  XV,  anschliefst,  den  Roman 
de  Florimont  der  Zeit  nach  später  als  den  Roman  d'Alixandre, 
also  mit  Sicherheit  nach  der  ersten  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts 
setzen  können,  und  zwar  wird  sich  das  von  JF(?)CE  M(onza) 
vertretene  Datum  1188  oder  1189  GK  vor  allen  anderen  Zeit- 
angaben empfehlen.  Die  Jahreszahl  1180  B  D  H  erklärt  sich 
vielleicht  aus  der  unklaren,  auch  metrisch  ungenügenden  Lesart 
des  an  dieser  Stelle  unechten  iMs.  F:  21  et  c  .iiii.  .vx  et  vin  ans; 
spätere  Abschreiber  haben  dieses  et  vin  (^=  VIII?)  als  überflüssig 
we^jzelassen  oder  auch  in  der  verderbten  Urhandschrift  nicht  ver- 
standen  und  sind  dann  mit  Hilfe  eines  etwas  gewaltsamen  Poly- 
syndetons zu  der  metrisch  richtigen  aber  sachlich  falschen  Les- 
art M  et  c  et  iiii  dw  ans  orelano;t.  In  ähnlicher  Weise  ist,  wie 
es  schon  durch  P.  Paris,  Mss.  fr.  IH,  S.  17  geschehen,  das 
von  Borel,  Galland  und  Amaury-Duval  vertretene  Datum  1128 
zu  beseitioen ;  dasselbe  beruht  auf  Verlesung^  des  Textes  des 
Ms.  A,  welches  hier  die  metrisch  mangelhafte  Lesart  mil  cenam 
rins  huit  ans  bietet ;  hier  läfst  sich  aus  dem  Grundstrich  des  a 
in  cenam  zusammen  mit  den  drei  Grundstrichen  des  ni  bequem 
die  Zahl  .IUI.  rekonstruieren,  woraus  sich  dann  mit  Leichtigkeit 
die  Zahl  1188  ergiebt.  Für  das  von  Frisi,  Mem.  stör,  di  Monza 
Bd.  HI,  S.  214  als  irrig  hingestellte  Datum  1146,  sowie  für  das  bei 
St.  Palaye  Bd.  X,  Liste  des  principaux  ouvrages  S.  1  erwähnte 
1159  haben  eich  für  mich  keine  Anhaltspunkte  ergeben,  letz- 
teres ist  vielleicht  Druckfehler  für  1189.  Das  ebenfalls  bei 
St.  Palaye  a.  a.  O.  angeführte,  vorgeblich  von  einem  Ms.  Karl. 
gebotene  Datum  1224,  für  welches  De  Bure,  Cat.  Vall.  II,  S.  165 
sich  entschliefst,    weil    es    uns    der  Zeit,    in    der  der  einzige  im 


Reliqua  Arriani  et  scriptorum    de  rebus  Alexandri  M.  fragmenta  —  Parisiis 
MDCCCXLVI. 


68  Aimon  de  Varennes. 

12.  und  13.  Jalirh.  hckimnie  Aimon  de  Varoines  (J26S)  gelebt  hat, 
nälier  bringe,  und  welches  auch  von  Roquefort,  Gloss.  als  das 
richtige  bezeichnet  wird,  ist  mir  nicht  erklärlich,  es  sei  denn, 
dafs  darunter  das  in  Ms.  Ho  fo.  82  d  sich  findende  Datum  I22'3 
(oder  gar  lo2o?  s.  o.  S.  49)  zu  verstehen  ist;  dasselbe  bezieht 
fcich  aber  nicht  auf  die  Zeit  der  Abfassung  des  Gedichtes,  son- 
dern auf  die  Zeit  der  Beendigung  der  Handschrift  durch  den 
Schreiber  Thomas  le  IJuchier.  Hat  also  Aimon  seinen  Roman 
im  Jahre  J188  oder  1189  gedichtet,  so  dürfte  er  vielleicht  um 
das  Jahr  JJ60  geboren  worden  sein,  wenn  es  erlaubt  ist,  aus 
seinem  Verhältnisse  zu  einer  schönen  Dame,  die  er  an  meh- 
reren Stellen  in  begeisterten  Worten  preist,  sowie  aus  seiner 
oft  wiederholten  Klage  über  Untreue  und  verschmähte  Liebe 
den  Schlufs  zu  ziehen,  dafs  er  zur  Zeit  der  Abfassung  in  ver- 
hältnismäfsig  jugendlichem  Alter  gestanden  habe. 

Wenn  oben  die  Stadt  Varennes  als  der  wahrscheinlich  an- 
zunehmende Geburtsort  des  Dichters  bezeichnet  w'urde,  so  lieiit 
darin  ein  Widerspruch  gegen  eine  wohl  zuerst  von  P.  Paris, 
Mss.  fr.  IH,  S.  12  aufgestellte  und  nach  ihm  von  Gidel,  Etutle 
sur  la  litterature  grecque  moderne,  von  Holland  in  Pfeiffers 
Germania  I,  S.  246  und  auch  sonst  wiederholte  Ansicht,  welche 
dem  Aimon  griechische  Abkunft  zuschreibt.  Es  war  mir  nicht 
möglich,  iimerhalb  des  Gedichtes  auch  nur  eine  einzige  Stelle 
zu  entdecken,  die  zu  der  von  Gidel  1.  c.  S.  8  gethanen  Aufse- 
rung  berechtigte,  dafs  der  Dichter  sieh  selber  für  einen  Grie- 
chen von  Geburt  ausg^egeben  oder  auch  nur  den  Versuch  dazu 
gemacht  hätte.  Mit  einiger  Sicherheit  läfst  sich  nur  behaupten, 
dafs  Aimon  in  der  Balkanhalbinsel  gereist  ist,  wenn  man  sich 
auf  einige  genaue  Ortsangaben,  die  in  der  Art,  wie  sie  gegeben 
werden,  auf  eigener  Anschauung  beruhen  können,  berufen  will. 
Im  allgemeinen  beirnügt  er  sich  zwar  mit  der  nackten  Aufzäh- 
lung  der  Städte  und  Länder,  die  er  zu  erwälmcn  Gelegenheit 
hat,  und  nur  diejenigen  Orte,  in  denen  er  längere  Zeit  ver- 
weilte, w^erden  relativ  genauer  beschrieben,  so  Gallipoli  und  der 
hras  Saint  iorge:  A  r/alijjol  iine  citeit  Ou  aijme  ot  iai  maint  ior 
esteit  Illuec  est  li  hras  phis  estroit  Passer  le  ^n^ß^  le  ior  HI  fois 
Ms.  F  fo.  2c;  oder  Ahydos:  A  quinzime  (seil,  ior)  sont  arriveis 
A   eucdon  une  cijteis   La    citeis  nomne  auedon  Boucadaide  (Boca 


f         Äimon  de  Varennes. 


59 


dauede  Ms.  E  =^  Bouche  d^Avie  bei  Villehardouin,  Bouke  dave 
bei  Robert  de  Clary  ed.  Hopf,  Chroniques  greco-rom.  ined. 
ou  peu  connues,  Berlin  1873,  S.  34)  po?'  ce  ait  non  Li  leiis 
qid  drols  le  seit  nonmeir  Qiie  illuec  clüet  II  hras  en  meir  Ms.  F 
fo.  4d.  Seine  geographischen  Kenntnisse  gehen  aber  auch 
über  die  Balkanhalbinsel  hinaus,  er  ist  auch  in  Ägypten 
gewesen,  wenigstens  beschreibt  er  uns  die  doppelte  Möglichkeit, 
wie  man  von  jenem  Lande  aus  nach  Griechenland  gelangen 
könne:  Qid  veult  degipte  en  gresce  aleir  La  graut  meir*  li  couient 
passeir  Mai  sil  veut  aleir  p  suide  Per  anthioche  et  per  turquie  Au 
longue  voie  a  p)ort  (1.  hord)  de  rneir  Porait  il  hien  en  gresce  aleir 
Le  hras  saint  iorge  passerait  Jai  plus  de  meir  ni  trouerait  Ms.  F 
fo.  2  b — 2  c.  Diese  Stellen  zeigen  genugsam  die  Art  und 
Weise,  in  der  der  Dichter  von  seinen  Reisen  zu  erzählen  pflegt, 
nirgends    aber    «"eben    seine  Aufseruno;en   über  die  von  ihm  be- 

DO  O 

rührten  Städte  Anlafs,  die  eine  oder  die  andere  derselben  als 
seinen  Geburtsort  anzusehen.  Dafs  ferner  das  Griechische  nicht 
seine  Muttersprache  gewesen  sein  kann,  sondern  dafs  er  des- 
selben wenig  oder  gar  nicht  mächtig  gewesen,  dafür  sprechen, 
abofesehen  von  den  öfter  angeführten  vulsfär-o-riechischen  Stellen, 
mit  denen  Aimon  seinen  Erzählungen  zuweilen  einen  grofseren 
Reiz  zu  verleihen  sucht,**  einige  begrifflich  und  sachlich  falsche 
Auffassungen,  die  den  Dichter  deutlich  als  Nichtgriechen  kenn- 
zeichnen. Adam  Smith  bei  Max  Müller,  Vorlesungen  über 
die  Wissenschaft  der  Sprache  I,  S.  320  erzählt  von  einem 
Bauernburschen,  der  den  Eigennamen  des  an  seinem  Hause 
vorüberfliefsenden  Flusses  nicht  kannte;  es  sei  der  „Flufs'', 
pflegte  derselbe  rundweg  auf  diesbezügliche  Fragen  zu  ant-" 
Worten.  Dieser  Gattungsname  ^,Flufs'^  war  ihm  also  ofl^enbar 
zu  einem  ein  individuelles  Objekt  bezeichnenden  Eigennamen 
jxeworden.  Ähnlich  ero;eht  es  Aimon  de  Varennes,  der  den 
Namen    des    Flusses,    an    dem   Phili'ppopolis   gelegen   ist,    nicht 


*  Bei  Chaucer,  Prol.  ed.  Zupitza  59  the  Grete  See,  alte  Benennung  des 
Miitelländisclien  Meeres  \  vergl.   trertzberg,  Chaucer  S.  579. 

**  Eine  Erklärunfi  dieser  vulg:'ar-griechischen  Stellen  ist  in  ungenügen- 
der Weise  von  du  Meril.  Flore-ßlancheflor  8.  CXCIX,  versucht  worden; 
dagegen  scheinen  die  Erklärungen  Paul  Meyers,  Bibl.  de  rEcole  d.  Chartes 
Ser.  VI,  ß,  II,  331   (1866)  überall  das  Richtige  zu  treffen. 


60 


Alraon  de  \'arennes.  * 


kennt,*  vielleicht  auch  von  den  PldUposes^  wie  in  F  die  Be- 
wohner dieser  Stadt  heifsen,  nie  gehört  hat,  indem  diese  stets 
nur  von  einem  Flusse  sprachen,  ohne  den  Namen  IleLrus  oder 
Maritza  zu  gebrauchen  —  kurz,  für  Aimon  wird  der  ihm,  dem 
Nichtgriechen,  fremde  Gattungsbegriff  >Tor«/fo^  zum  Eigennamen; 
er  sagt  gelegentlich  der  Schilderung  der  Gründung  von  Philijjpo- 
jwUs:  Li  rols  la  nomina  de  son  nom  PliiUpople  Vapella  oni  Sor 
ung  ßiiue  sijet  la  citeis  Qni  est  jyodoinen  **  ajyeleis  Ensi  ait  il  non 
eil  greiois  Ne  sai  con  ai  non  en  Fransois  i\Is.  F  fo.  8  b.***  —  An 
einer  anderen  Stelle  erzählt  der  Dichter,  der  Ort,  wo  der  König 
Candiohras  mit  seinen  drei  Verbündeten  vom  König  Philipp 
besiegt  worden  sei,  werde  seitdem  .sahato  {asabato,  Ms.  B:  aiisa- 
hato)  genannt,  und  zwar  deshalb,  weil  sahato  im  Französischen 
ost^  Heer  bedeute:  Li  leus  e)i  (d.  h.  von  der  Niederlage  des 
feindlichen  Heeres)  ait  aneov  le  nom  Asabato  \   le  nöniet    on   Seu 

q  dist  on  ost  en  fransois  Noment  sahato  en  grezois Et  li  leus 

ou  farent  xiencu   Li  quatre  roi  et  ahata    Si  fiit  p)er  droit  de  lost 
noniez  Et  sahato  fat  apalez  Des  greus  et  de  la  gent  latine  Ms.  F 


*  Auch  Villehardouin  und  Henri  de  Valenciennes  nennen  niemals,  wo 
sie  Anlafs  haben  von  dem  Flusse  Hehriis  oder  Maritza  zu  sprechen,  den- 
selben bei  einem  dieser  Namen;  er  heifst  bei  ihnen  stets  nur,  soviel  ich 
sehe,  hl  rivitre  (VAndrenople^  oder  sie  begnügen  sich  mit  der  Angabe  U  y  a 
lins  ßuns.  Vergl.  Villehardouin  ed.  Buchon,  Recherches  et  IMatefiaux  pour 
servir  a  une  histoire  de  la  domination  francaise  aux  Xllle,  XlVe  et  XVe 
siecles  dans  les  provinces  demembrees  de  i'empire  grec  ii  la  suite  de  la 
quatricme  croisade,  Paris  1809,  S.  151.  Dafs  der  Hebrus  in  der  Vulgär- 
sprache {yjOQiTixr  Sid/.sxTOS  oder  /;  '/ydi]i'  oioiau  yltozrn)  bereits  Maoir^a 
hiffs,  berichtet  Georgius  Acropolita  (1220 — 1282),  Annal.  ed.  J.  ßekker 
(Xiebuhr,  Corp.  Script.  Hist.  Byz.)-  Bonn  1836,  S.   05,  77,  126. 

**  Hs.  Harl.  3983,  fo.  8b,  die  in  dem  p  das  griechische  P  =.  o  sieht, 
bietet  hier  die  interessante  Variante  rodomans. 

**^-  Eine  derartige  Specialisierung  eines  GattungsV.egriffes  —  vielleicht 
indessen  weniger  harmloser  Art  wie  hier  —  findet  sich  in  der  Fabel  XX 11 
des  Lyoner  Ysopet,  ed.  Förster  S.  29,  die  die  Überschrift  trägt:  dou  roi 
fjue  li  Antique  eslirent ;  es  heifst  daselbst  v.  1073  fl. :  Une  gent  en  une  con- 
tree  De  Grece  ot^  moiit  fu  sennee.  Ce/e  gent  apele  on  Antique,  De  rou  per- 
lent  pou  les  croniques.  Es  ist  damit  zugleich  ein  Wortspiel  verknüpft,  wie 
die  Überschrift  des  lateinischen  Textes  S.  107,  XXI  a  zeigt:  qualiter  Attici 
elegerunt  sibi  regem  (v.  4  attica  terra),  wo  der  Lyoner  Text  (L),  der  dem 
französischen  Übersetzer  vorirelesen,  schon  die  Vai-iante  antica  bietet. 

f  Die  Form  as(d>oto  neben  sahato  erinnert  an  das  euphonische  oder 
pleonastische  «,  welches  im  Vulgärgriechischen  oft  am  Anfang  der  Wörter 
steht  und  sich  auch  in  einigen  antiken  Wörtern  findet,  z.  B.  aorayvs  für 
orrv/vs,  noTtaioo)  tlir  onnion),  oaT^noTirj  für  orfQont];  vergl.  F.  \V .  A.  Mullach  : 
Grammatik  der  griechischen  Vulgärsprache  in  historischer  Entwickelung. 
Berlin  1856,  S.   143. 


Aimon  de  Vareunes.  .         61 

fo.  93  d — 94  a.  Thatsächlich  entspricht  dieses  vulgäre  sahato 
dcQi  klassischen  GeßaoTogj  welches  in  seiner  Bedeutung  und 
Anwendung  dem  lateinischen  angustus  ungefähr  gleichsteht.  Du 
Meril  1.  c,  P.  Paris,  Mss.fr.  III,  46  und  nach  ihm  GIdel  1.  c. 
S.  180 — 181  meinen  nun,  Aimon  verwechsele  hier  die  beiden 
französischen  A\'örter  ost  =  aiinee  und  aost  =  angustus  mit- 
einander; denn  Geßaorog  entspreche  dem  lateinischen  augustus^ 
und  dies  letztere  habe  im  Altfranzösischen  aost  oder,  wie  P.  Paris 
in  etwas  unklarer  Weise  hinzusetzt,  oust  gelautet,  wie  noch  der 
moderne  Monatsname  aout  dokumentiere.  Wir  gestehen,  dafs 
wir  auf  ein  Verständnis  des  Gedankenganges,  der  den  Dichter, 
ob  er  nun  Grieche  oder  Nichtgrieche  gewesen,  zu  einer  der- 
artigen Verwechselung  hätte  führen  können,  völlig  verzichten 
müssen,  und  Avenn  diese  Erklärung  einen  Beweis  für  des  Dich- 
ters griechische  Abkunft  abgeben  soll,  so  ist  dieselbe  recht  un- 
o-lücklich  orewählt.  Die  ano^ezoofene  Stelle  zeigt  vielmehr  deut- 
lieh,  dafs  der  Dichter  kein  Grieche  gewesen  sein  kann,  denn 
sonst  hätte  er  doch  wissen  müssen,  dafs  dem  Worte  sahato 
nicht  die  Bedeutung  des  französischen  ost,  Heer,  sondern  die 
des  lateinischen  augustus,  erlaucht,  zukommt.  Der  Sach- 
verhalt ist  offenbar  ein  viel  einfacherer;  Aimon  sagt  weiter: 
Et  sahato  dient  ancour  A  la  cort  a  lempereor  Cil  ~q  apres  lui  sont 
pose  Protosahato  sont  nome  Proto  dist  en  fransois  premier  Et 
sahato  por  ostoier  Protosahato  fait  nomer  Siax  q  doient  ses  os 
guier  Ms.  F  fo.  93  d — 94  a.  Der  Dichter  weifs  also,  dafs  p>roto 
der  erste  bedeutet,  er  weifs  oder  glaubt  zu  wissen,  dafs  der 
Oberanführer  das  byzantinischen  Heeres  protosahato  heifst,  und 
so  war  es  für  ihn,  den  Nichtgriechen,  der  aber  gern  mit  seiner 
vermeintlichen  Kenntnis  der  griechischen  Sprache*  prunkt,  das 
Einfachste  und  Natürlichste,  in  sahato  die  Bedeutung  des  franzö- 
sischen ost  zu  erblicken  und  protosahato  im  Anklang  an  franzö- 
sische Ausdrücke  wie  quievetains  de  lost  oder  de  la  guerre  (vergl. 
Beaumanoir  12)  mit  Heerführer  zu  übersetzen.  —  Eine  Ver- 
wechselung scheint  übrigens  Aimon  bei  dieser  Gelegenheit  immer- 


*  Übrigens  hat  er  auch  einige  Kenntnis  des  Persischen,  wie  folgende 
Stelle  zeigt:  la  dame  (die  Mutter  des  Florimont)  auoit  nom  eJozie  Em 
fransois  icelt  dire  /iorie  Iseu  q  nos  apalons  ßor  Apalent  li  persant  edor 
'Ms.  F  fo.  15  c. 


6t^  Aimon  de  Varennes. 

hin  beoran2,en  zu  haben,  dieselbe  trifft  dann  aber  weniger  das 
Wort  als  die  Sache.  Es  ist  zunächst  zweifelhaft,  ob  mit  der 
von  Alexius  Comnenus  I  (1081  — 1118)  geschaffenen  Würde 
des  TTQiOTooißaoTog  die  Stellung  eines  Heerführers  verknüpft 
war;  es  hat  vielmehr  den  Anschein,  als  wäre  dieselbe  nur  an 
hochverdiente  Personen  als  ehrende  Auszeichnuno;  verliehen 
worden.  Die  ßedinjrunoren  für  die  Erteiluno;  dieses  Ehrentitels 
sclieinen  sich  aus  einer  von  D  C  s.v.  mitgeteilten  Stelle  zu 
ergeben :  Erat  enim  {Constanthius)  vir  sapiens,  discretus,  eloquens, 
et  curialitate  multiinoda  redimitus,  ^>?'o  quihus  in  eiusdem  Lnjjera- 
toris  aula  maxiniani  habehat  dignitatem,  de  qua  Protosevasto  dice- 
hatur;  nee  erat  ita  magnus  prineeps  post  logofhetam.  Aimon  täuscht 
sich  also  nicht,  wenn  er  von  dem  hohen  Range  {eil  q  apres  lui 
[dem  empereor']  sont  pose  Protosahato  sont  nome  Ms.  F  fo.  93  d) 
seines  p^rotosahato  zu  berichten  weifs;  bezüglich  seiner  Amts- 
thätigkeit  scheint  er  ihn  aber  zu  verwechseln  mit  dem  tiqcoto- 
GrouTjjyog,  der  nach  D  C  gloss.  ad  Script,  med.  et  infim^e  grxc. 
(Lugduni  1688)  ßd.  II,  S.  1342  auch  den  Titel  nuvotßaoTog 
führte,  oder,  was  ebenso  wahrscheinlich  ist,  mit  dem  tiqmto- 
OTQUTWQ,  dem  aufser  seinem  Amt  als  marescallus  oder  primiis 
equorum  curator  auch  militärische  Obliegenheiten  zufielen,  wie 
aus  einer  Stelle  bei  DC  1.  c.  Bd.  II,  S.  1463 — 1464  hervor- 
geht; zudem  zeigt  eine  Stelle  bei  Willelmus  Tjrius  lib.  18, 
cap.  24  (cf.  DC  gloss.  lat.  s.  v.),  dafs  der  jwotostrator  an  Würde 
dem  protosehastos  gleichgestanden  haben  mufs :  duo  nepotus  eins 
(des  Alexius  Comnenus),  fratres  uterini,  Joannes  scilicet  Proto- 
sebasto,  et  Alexius  Protostraior^  qui  inter  illustres  sacri  Palatii 
ptrimuni  obtinebant  loeum.  Man  sieht,  dafs  es  durchaus  verzeih- 
lich ist,  wenn  ein  Mann  wie  Aimon,  der  des  Griechischen  wenig 
kundig  und  allein  auf  seine  Erinnerung  des  von  ihm  Gesehenen 
und  Gehörten  ang^e wiesen  ist,  die  schon  an  sich  so  schwierig-en 
und  spitzfindigen  Rangunterschiede  der  byzantinischen  Be- 
amtenhierarchie zusammenwirft  und  die  schwankenden  Vorstel- 
lungen seines  gewifs  recht  vielseitig  in  Anspruch  genommenen 
Gedächtnisses  für  Thatsachen  aussfiebt.  Diese  Verwechselunoj 
des  TioioTOOtßaoTog  mit  dem  TZQMioGTQdrr^yog  oder  dem  7iq(oto- 
OTQUTOJQ  zeigt  dann  vielleicht  auch  den  Gedankengang,  der  ihn 
dahin  führte,  den  Ort  ,,sabato^  oder  „^eßuortj'''  mit  dem  Begriff 


Aimon  de  Varennes.  65 

„05^,  Heer"  in  Verbindung  zu  bringen,  und  vielleicht  trägt  fol- 
gende von  Malalas,  Chronographia  lib.  VIII,  cap.  I,  S.  192 — 193 
(ed.  Dindorf  bei  Niebuhr,  Corpus  scriptorum  historite  byzantina?) 
berichtete  Thatsache  zur  Klärung  des  richtigen  Sachverhalts 
bei;  Malalas  1.  c.  erzählt:  oang  ßaoilavg  ^AXti.auÖQog  nQoiQexpd- 
jLiepog  b(.i6(jQ0vag  ycvvaiovg  OTQaTi]yovg,  xara,  Ttjg  dnovotag  Aoav^kov 
OQyioß^eig,  nQcorog  na^era^aro  zlaQtico  no  ßaoileX  rLtQO(nv.  Kai 
tld^iüv  dg  BvtovnoXiv  (d.  i.  Byzanüum  oder  Stadt  des  Byzas,  cf. 
Malalas  ib.  b,  5)  r^g  EvQCuniig  l'y.ziGev  ly.tT  roTioy,  orntQ  l/.dXtoa 
tÖ  ^TQaTTjyiov '  l'/.H  yoQ,  OTQurriyi^Gug  rd  tov  nolt/nov  (.leid  rov 
idiov  OT^uTOv  Y.ai  Tiov  üv^if-id/iov  avTOV  InkQuotv  exeT&ey  gvv  tw 
\öi(o  nXri&ai  di'Tr/.Qvg  aig  eiiiTioQiot^  T-rig  Bid-vriag  Ityofiavov  /Jio/.oi  etc.  — 
Den  grellsten  Widerspruch  gegen  die  etwaige  griechische  Ab- 
kunft unseres  Dichters  bildet  die  hohe  stilistische  Vollendung 
und  Gewandtheit  im  Gebrauche  des  Französischen,  Eigenschaf- 
ten, die  dem  roman  de  Florimont  im  besonders  hohen  Grade 
eioen  sind.  P.  Paris  selber  zollt  an  mehreren  Stellen  seiner 
Besprechung  diesen  Vorzügen  die  höchste  Anerkennung  (Bd.  III, 
S.  39)  und  läfst  sich  einmal  sogar  zu  dem  schmeichelhaften 
Zugeständnis  hinreifsen,  dafs  eine  derartige  Keinheit  und  Ge- 
wandtheit des  Ausdrucks  sich  schwerlich  in  anderen  Werken 
jener  Epoche  antreffen  lasse.  Diese  Stelle  ist  zugleich  charak- 
teristisch für  die  Parissche  Auffassung  und  mag  deshalb  hier 
mitgeteilt  w^erden :  c'est  dejä  quelque  chose  d^issez  remarquahle 
qu'un  Grec  venant  composer  un  j^oeme  francais  en  France,  au 
XIP  siede,  dans  le  Lyonnais^  ou  saus  doute  on  iiarloit  alors  un 
d.ialecte  fort  peu  litteraire^  et  l'ecrivant  avec  wie  elegance  et  wie 
nettete  d^expr^ession  que  Von  trouverait  difficilement  dans  les  coiii- 
p>ositions  de  la  meme  epoque  Mss.  fr.  Bd.  III,  S.  12.  Besonders 
werden  die  kurzen  Wechselreden,  in  deren  Bau  Chrestien  von 
Troyes  so  grofse  Kunstfertigkeit  zeigte,  auch  von  unserem 
Dichter  mit  grofsem  Geschick  behandelt;  ein  Beispiel  davon 
hat  Ludwig  Holland  in  Pfeiffers  Germania  I,  241  mitge- 
teilt. 

In  diesen  Zusammenhan-g  gehört  auch  eine  Stelle,  die  mir 
von  P.  Paris  1.  c  HI,  15 — 16  und  von  Gidel  1.  c.  S.  9 — 10 
völlig  mifsverstanden  zu  sein  scheint.  Der  Dichter  schlief^t 
sein  Gedicht  mit  folgender  Apostrophe  an  sein  etwaiges  Publi- 


64  Aimon  de  N'arennes. 

kuni,  die  ich  hier  zunächst  wörtlich  nach  P.  Paris  und  Gidel 
wiedergebe:  O'it  auez  de  Florimont  Dou  roi  Florimont  uos  ai  dit 
Or  pri  a  celz  qid  Vont  o'it  Et  as  bons  troueors  dou  mont  Quant 
Festoire  o'i/e  aueront  Et  as  francois  pri  par  amour  Qu'ils  ne 
hlasment  mon  lahour  Qui  hlasme  ce  qu'il  doit  her  Et  loe  ce  qiCil 
doit  hlasmer  II  ne  se  puet  pas  phis  Jwnnir  As  Francois  voll  de 
iant  sendr  Que  ma  langue  lor  est  saluage  Et  ie  ai  dit  en  leur 
langage  Tot  au  miecc  que  ie  le  sai  dire  Si  ma  langue  la  lor  empire 
Por  ce  ne  men  dient  anui  Miex  ahn  ma  langue  que  Valtrui.  P.  Paris 
lir,  16  sieht  in  diesen  Worten  einen  Versuch  seitens  des  Dich- 
ters, sich  den  Franzosen  jreo'enüber  weo;en  der  Wahl  seines 
ihnen  fremden  und  fernlleo'enden  Stoffes  zu  entschuldio-en,  und 
dies  sei  ein  neuer  Beweis  für  Aimons  griechischen  Ursprung, 
wahrend  Gidel,  der  an  dieser  Stelle  etwas  dunkel  bleibt,  ge- 
neigt scheint,  in  der  langage,  von  der  der  Dichter  spricht,  das 
griechische  Idiom  zu  erblicken,  für  welches  die  Nachsicht  der 
Leser  in  Anspruch  genommen  würde.  Zunächst  sei  darauf  hin- 
gewiesen, dafs  ein  Teil  dieser  Quelle  in  Ms.  F  etwas  abweicht 
und  zwar,  wie  mir  scheint,  zu  gunsteu  eines  besseren  Ver- 
ständnisses derselben.  Ms.  F  fo.  118  a  (zum  unechten  Teil  s^e- 
hörig)  schreibt :  Qui  hlasme  ce  quil  doit  loeir  Et  loe  ce  quil  doit 
hlaimeir  II  ne  se  p)uet  pas  mues  honir  As  fransois  veult  de  tant 
seruir  Que  ma  langue  lor  est  saluaige,  setzt  also  die  3.  Pers.  Sing, 
statt  der  1.  Pers.  Sing.,  und  dies  entspricht  offenbar  mehr  dem 
Zusammenhange  und  der  bitteren  Stimmung,  die  des  Dichters 
Worten  zu  Grunde  liegt:  wer  mein  Werk  tadelt,  meint  er,  der 
will  damit  den  Franzosen  dienen,  ihnen  eine  Gefälligkeit  er- 
weisen, denn  mein  Idiom  klingt  ihnen  saluage,  was  doch  wohl 
nicht  fremd,  unbekannt  bedeutet,  sondern  den  Sinn  des  latei- 
nischen agrestis,  rudis  =  roh,  barbarisch,  hat.  Und  nun  fährt 
er  nach  Ms.  F  fort:  car  ie  ai  dit  en  mon  langaige  az  muelz  q 
in  ai  seu  dire  Se  ma  langue  la  lor  empire  Por  ce  ne  men  dissent 
(sie!)  anui  Miex  ahn  ma  langue  que  lautrui.  Seine  Tadler  würden 
fcich  um  so  mehr  herabwürdigen  (Jionir)^  als  er  sein  Möglichstes 
versucht  habe ;  und  mit  einer  herben  Anspielung  auf  die  Eigen- 
liebe und  Hoffart  der  Franzosen  fährt  er  dann  fort:  Romans 
ne  estoire  ne  plet  A  fransois  se  il  ne  Ion  fet^  und  dies  sei  auch 
gar  nicht  zu  verwundern,  car  ou  houcaige  Ken  est  si  lais  oisiaux 


Almon  de  Varennes.  65 

saluaige  Qne  ses  nis  ne  li  soit  plus  Maus  Que  tous  li  miudres 
des  oisiaus  Et  II  estre  de  mon  pays  Me  sont  plus  beiz  ce 
rnest  auis. 

Wir  haben  gesehen,  dafs  das  Lothringische  der  vom  Dichter 
gesprochene  Dialekt  gewesen  sein  mufs,  und  dieser  ist  denn 
auch  das  Idiom,  welches  den  Centralfranzosen  so  barbarisch 
klang  und  ihren  tadelnden  Spott  herausforderte.  Dafs  Aimon, 
der  Lothringer,  allen  Grund  hatte,  die  beifsende  Laune  der 
Franzosen  zu  furchten,  die  sie  gegen  alle  diejenigen,  die  nicht 
ihren  am  Hofe  und  in  der  eleganten  Welt  gebräuchlichen  cen- 
tralfranzösischen  Dialekt  sprachen,  rücksichtslos  und  ohne  Zart- 
gefühl spielen  liefsen,  das  erhellt  genugsam  aus  dem  unange- 
nehmen Abenteuer,  welches  der  gleichzeitige  artesische  Dichter 
Quenes  de  Bethune  am  Hofe  der  Königin  Alix,  Witwe  Lud- 
wiorg  VH.,  zu  bestehen  hatte  und  welches  die  Veranlassun«^  zu 
jenem  bekannten,  vielfach  veröffentlichten  Gedichte  wurde,  in 
welchem  der  Dichter  seiner  Entrüstung  über  den  ihm  noch 
dazu  in  Gegenwart  seiner  Angebeteten,  der  Comtesse  Marie 
de  Champagne,  wegen  seines  eigentümlichen  Dialektes  wider- 
fahrenen Spott  in  erbitterten  Worten  Luft  macht;  ich  citiere 
nach  Dinaux,  Trouv.  artes.  III,  S.  388:  Mout  me  semont  amours 
que  je  m'envoise  Quant  je  plus  dois  de  chanter  estre  cois,  Mais 
j'ai  plus  graut  talent  que  je  me  coise  Por  cou  jai  mis  mon  chanter 
en  defois  Que  mon  langage  ont  hlasme  U  Fransois  Et  tnes  cliansons^ 
oyant  les  Cliampenois^  Et  la  contesse  encoir,  dont  j)lus  me  poise. 
La  Roine  ne  fit  pas  que  courtoise  Que  me  reprist,  eile  et  ses  fiex 
li  rois;  Encoir  ne'  soit  ma  parole  francoise  Si  la  puet  on  hien 
entendre  en  fransois  etc.  etc.  Einen  weiteren  Beitrag  zum  Ka- 
pitel von  französischer  Hoffart  und  Verkleinerungssucht  findet 
Reiffenberg  in  der  Eingangsstrophe  zu  der  Genesis  des  Herman 
de  Valenciennes,  wo  der  Dichter  mit  äufserster  Bescheidenheit, 
in  deren  Ausdruck  allerdings  eine  «gewisse  unterdrückte  Bitter- 
keit  und  Ironie  wiederklingt,  das  Interesse  des  Publikums  für 
sein  AVerk  in  Anspruch  nimmt:  Signor,  or  escotes,  entendes  ma 
raison:  Je  ne  vos  di  pas  fahUj  ne  ne  vos' di  cancon:  Clers  sui, 
povres  de  sens,  si  sui  moult  povres  hon  Nes  sui  de  Valencienes, 
Herman  m'^apiele  on.  De  persone  Dex  eure  ne  prend,  s'est  grande 
u  7ion;    On  a  sovent  grant  aise  en  p>etite  maison;    De  petite  fon- 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  LXXIII.  5 


GJ  Aimon  de  Varcnnes. 

taine  tot  son  saol  holt  on.  Tot  ce  di-je  j^our  voir,  je  suis  moult 
pcfit  Jio)i,  Canones  sui  et  j'^^estre  par  grand  electlon,  cf.  Phil. 
Mousk.  11,  S.  CCXCIII.* 

Als  litterarische  Frucht  seiner  orientalischen  Reisen  ist  nun 
des  Dichters  roman  de  Florimont  zu  betrachten,  und  es  entsteht 
die  Frage  nach  der  Art  der  Quellen,  aus  denen  derselbe  ge- 
schöpft ist.  Zwar  unterrichtet  uns  Aimon  so  bald  als  möglich, 
dafs  er  seine  Geschichte  aus  dem  Lateinischen  ins  Romanische 
übersetzt  habe :  ensi  com  il  lauoit  empris  Lait  de  latin  en  romans 
mis  Ms.  F  fo.  Ib,  und  nach  seiner  an  zwei  Stellen  wiederholten 
Versicherunaj  hat  er  die  lateinische  Version  selber  aus  einem 
griechischen  Original  entlehnt;  Ms.  F  fo.  80a  sagt  er:  a  siax 
q  seuent  de  clergie  Contet  per  ethymelogie  Que  j^or  samie  uialine 
Traist  de  greu  listore  latine  Et  del  latin  fist  le  romans  Aymes  q 
fut  loials  amans,  vergl.  auch  ib.  fo.  118  b.  Du  Meril,  Flore  et 
Blancheflor  S.  CC  findet  in  dieser  Versicherung  des  Dichters 
genug  Gewähr  für  die  Wahrheit  derselben,  nimmt  ein  grie- 
chisches Original  an,  welches  Aimon  zunächst  ins  Lateinische 
übersetzte  und  in  seiner  lateinischen  Fassung  dann  als  Grund- 
lage für  seinen  französischen  Roman  benutzte  —  der  Beweis 
für  das  V^orhandensein  eines  lateinischen  Mediums  werde  er- 
bracht durch  eine  Stelle,  in  der  lire  in  seiner  lateinischen  Be- 
deutung choisir  erscheint ;  wir  geben  die  betreffenden  Worte 
nach  Ms.  F  fo.  48  c :  hiaw  ostes   sont  les  rohes  faites   Oil  iiolez  q 


*  Derartige  Äufserungen  sind  für  das  Verständnis  der  Entstehung  einer 
mustergültigen  Schriftsprache,  sowie  für  das  V-'erhältnis  der  Mundarten  zu 
letzterer  gewifs  nicht  ohne  Wichtigkeit.  Zu  den  oben  angeführten  Bei- 
spielen mag  sich  hier  aus  späterer  Zeit  die  mehrfach  wiederholte  Bitte  um 
Nachsicht  gesellen,  die  Sebastian  Moreau  aus  Villefranche  in  Beaujolais, 
der  \'erfasser  eines  La  Prinse  et  Delivrance  du  Roy  (seil.  Francois  I)  be- 
titelten Berichtes,  wegen  seiner  sprachlichen  Eigentümlichkeiten  an  sein 
Lesepublikum  richtet  und  die  zugleich  von  dem  geringen  Selbstgefühl  des 
Schreibers  Zeugnis  ablegt.  So  sagt  er  im  Prolog:  plaise  aux  lecteurs  sitj)- 
porter  htnlgnement  le  gros  lanr/aige  pen  elegant^  cur  fay  ph/s  de  retard  ä  In 
verite  qua  la  colourer  de  rMtorique ;  und  am  Schlüsse  seines  Werkes  schützt 
er  geradezu  seine  Abkunft  aus  Beaujolais  als  Entschuldigung  vor:  ...  sup- 
pliant  iceux  et  tous  aultre.s  lecteurs  et  auditeurs  qiiil  ne  preignent  les 
chosesj  sinon  en  bonne  part^  et  excusent  les  faustes  par  leiir  Mntoolence^  et 
le  langaige  mal  aorne^  cueiily  dt  ma  natiuite  heaujoloyse  qui  en  fera  excuse, 
vergl.  Archives  curicuses   de  l'histoire   de   France   depuis    Louis  XI  jusqu'ä 

Louis  XVIII par   M.  L.  Cimber   et   F.  Danjou,    Paris  1835,    premiere 

Serie,  Bd.  II,  S.  254  und  451. 


Aimon  de  Varennes.  G7 

soient  traites  De  soie  sont  dune  qlor  On  ne  p?«?^  lire  la  millor  {ne 
sai  eslire  la  inillous  Ms.  B  fo.  22  u).  Belege  aus  altfranzösiacher 
Zeit  sind  mir  zwar  nicht  bekannt,  doch  sei  daran  erinnert,  dafs 
noch  heute  lere  im  Wallonischen  diese  Bedeutung  zeigt;  vergl. 
Grandsaffnase  s.  v.  Zunächst  mufs  es,  nach  den  Irrtümern 
zu  urteilen,  in  denen  wir  den  Dichter  hinsichtlich  des  Sinnes 
ziemlich  gewöhnliclier  griechischer  Wörter  betroffen  haben, 
recht  zweifelhaft  erscheinen,  ob  seine  griechischen  Sprachkennt- 
nisse überhaupt  so  weit  reichten,  um  ihn  zu  der  Übersetzung 
eines  griechischen  Originals  zu  befähigen,  und  selbst  wenn 
ihm  dieselben  zuo-estanden  werden  müfsten,  so  bliebe  es  doch 
immerhin  noch  höchst  seltsam,  dufs  er  seine  griechische  Vor- 
lage vorerst  ins  Lateinische  übersetzt  haben  sollte;  viel  Zeit 
und  j\Iühe  hätte  er  sparen  können,  wenn  er  das  Verfahren 
jenes  Franzosen  eingeschlagen  hatte,  der  nicht  allzu  lange  nach 
ihn)  die  Legende  von  Barlaam  und  Josaphat  direkt  aus  dem 
griechischen  Original  übertrug,  vergl.  Paul  Meyer,  Barlaam  et 
Josaphat,  Fragments  d'une  traduction  fran9aise  de  Barlaam  et 
floasaph  faite  sur  le  texte  grec  au  commencement  du  XIII*^  siecle, 
Paris  1866  (vergriffen);  auch  abgedruckt  in  der  ßibl.  de  l'Ecole 
des  Chartes,  Ser.  VIB,  II,  331  (1866).*  Man  darf  um  so 
mehr  geneigt  sein,  an  diesen  Quellen  des  Dichters  zu  zweifeln, 
als  sich  aus  dem  Gedichte  Stellen  beibringen  lassen,  die  auf 
eine  ganz  andere  Art  der  Überlieferuno;,  nämlich  auf  mündliche 
Tradition,  hinweisen,  und  diesbezüglichen  Äufserungen  Aimons 
darf  man  desto  mehr  Glauben  schenken,  als  dieselben  harm- 
loser klingen,  weil  sie  nicht  einer  blofsen  Mode  entstammen, 
wie  dies  mit  den  Berufun2:en  altfranzösischer  Dichter  auf  latei- 
nische  Quellen  so  häufig  der  Fall  ist.  Der  Dichter  hat  die 
Gründung  von  Philippopolis  erzählt  und  fährt  nun  fort:  Signov 
cest  istoire  est  vertauhle  Nen  ia  mensonge  ne  faiihle  Phelipople 
est  ancor  ades  Bien  seiuent  II  pJiiUposes  Qui  listoire  ont  cn  baillie 
Se  vos  voleis  qiie  ie  vos  die  ^Is.  B  fo.  8  b,  und  dafs  die  zu  er- 
zählende istoire  nach  der  Erfahrung  Aimons  zu  urteilen  so  recht 
eigentlich   in  Philippopolis    ihren  Boden   und  Pflege   fand,   geht 


*  Eine    schriftliche    Quelle   des   Roman  de  Florimont    nimmt   auch    an 
Nicolai,  Griech.  Litt.  III,  314,  dt^r  sich  auf  Gidel  beruft. 


5* 


G8  Aimon  de  Varennes. 

hervor  aus  den  Worten  il  (Aimon)  lauoit  en  gresse  veiie  Mai 
nestoi't  ^)«.9  j^ertot  seiie  A  felipople  la  troua  Ms.  F  fo.  1  b,  und 
unter  dieser  istoire  scheint  er  geradezu  das  durch  mündliche 
Tradition  Vernommene  zu  verstehen,  wenn  er  sagt:  Aijmes  Je 
naranes  vos  dist  Qui  Ustoire  mist  en  escrit,  Si  com  fine  amor  li 
eonsoiUe  Et  ses  cuers  les  mos  appai'oille  Ms.  F  fo.  80a.  Wir 
möchten  diese  Erörterung  in  den  Zusammenhang  verweisen,  in 
welchem  Erwin  Rohde,  Der  griechische  Roman  und  seine  Vor- 
läufer, Leipzig  1876,  S.  536  ff.,  die  verschiedenen  Möglich- 
keiten der  Einführuncr  crriechischer  Sa^enelemente  in  die  Litte- 
raturen  des  Abendlandes  erwogen  hat.  Vergl.  auch  ten  ßrink, 
Engl.  Litt.  S.  212. 

Wenn  der  Dichter  nun  ferner  berichtet,  er  hätte  den  in 
Philippopolis  gesammelten  Rohstoff  zu  seinem  Gedichte  mit  sich 
nach  CJiastillon  gebracht  (a  felij^ople  la  troua  Ä  chastUlon  len 
aporta  Ms.  F  fo.  1  a)  und  hier  demselben  die  uns  vorliegende 
Fassung  gegeben,  so  sind  wir  damit  vor  ein  neues  Rätsel  ge- 
stellt, insofern  die  Handschriften  in  der  näheren  Angabe  der  Lage 
dieses  ChastUlon  bedenklich  auseinander^jehen.  Nach  der  Mehr- 
zahl  derselben,  A,  B,  C,  G,  I,T,  M,  mufs  diese  Stadt  in  Lyonnais 
gelegen  haben,  und  diese  Bestimmung  wird  besonders  unter- 
stützt durch  eine  Aufserung  des  Dichters,  nach  welcher  das 
Gedicht  gar  nicht  in  Frankreich  gedichtet  wurde  {il  ne  fnt  mie 
fait  en  france  Ms.  F  fo.  1  a),  und  bekanntlich  wurde  Lijon  erst 
1307  durch  Philipp  den  Schönen  mit  Frankreich  vereinigt. 
De  Bure  (1788)  1.  c.  II,  S.  165  hat,  soviel  ich  sehe,  zuerst 
darauf  hingewiesen,  dafs  die  Familie  de  Varennes  ein  Schlofs  in 
Lyonnois  besafs ;  mit  gröfserer  Vorsicht  wird  diese  Notiz  von 
Fr.  Michel,  R.  d.  1.  Violette  (1834)  S.  XLIII— XLIV,  aufge- 
nommen, der  indes  noch  eine  weitere  Angabe  hinzufügt,  die 
geeignet  ist,  zu  gunsten  derselben  zu  sprechen.  Nach  D.  Lobi- 
neau,  Histoire  de  Bretagne  Bd.  II,  S.  100  lebte  im  Jahre  1268 
in  Lionnois  ein  Aymon  de  Varennes,  und  wir  haben  gesehen, 
dafs  De  Bure  1.  c.  sich  für  das  Jahr  J224:  als  Abfassungszeit 
des  Gedichtes  entschieden  hatte,  weil  dieses  Datum  uns  der 
Zeit,  in  der  der  einzige  aus  dem  12.  und  13.  Jahrhundert  be- 
kannte Aimon  de  Varennes  gelebt  hat,  näher  bringt.  Nach 
Michel  a.  a.  O.  hätten   wir  es  dann    mit  dem    in  der  Nähe  von 


Aimon  de  Varcniies.  G9 

Lyon,  bei  der  Ilc  Barbe  gelegenen  Städtchen  Cludillon  tVAzergue 
zu  thun;  und  P.  Paris  (1840)  Bd.  III,  S.  11  nimmt,  gestützt 
auf  die  Lesart  des  von  ihm  benutzten  Ms.  A  fo.  1  a  sor  aselr/ne 
a  rJiastillon  keinen  Anstand,  mit  aller  Bestimmtheit  in  dem  sre- 
nannten  Chatillon  den  Ort  zu  erblicken,  in  welchem  der  roman 
de  riorimont  gedichtet  wurde;  nach  ihm  ist  der  von  D.  Lobi- 
neau  erwähnte  Aimon  de  Varennes  ein  Nachkomme  unseres 
Dichters. 

Dieser  scheinbar  o-ut  unterstützten  Ortsbestimmung]:  steht 
gegenüber  die  Annahme,  dafs  wir  in  dem  von  x\imon  be- 
zeichneten chastillon  das  in  Laonnais  G^eleü'ene  Chdiillon-du- 
Temple  zu  sehen  hätten  (vergl.  Michel  1.  c.  S.  XLIV) ;  und  in 
der  That  zeigt  ein  Teil  der  Handschriften,  darunter  auch  das 
von  uns  als  Grundlage  der  Überlieferung  aufgestellte  Ms.  F 
(an  dieser  Stelle  allerdings  unecht),  die  Lesart  loenols  fo.  1  a. 
Kein  einziger  der  Punkte,  die  sich  zu  gunsten  der  Lesart 
lionois  anführen  liefseu,  ist  geeignet,  die  Wahrscheinlichkeit 
der  Lesart  loenois  zu  erschüttern.  Das  in  der  Nähe  von  Lyon 
gelegene  Schlofs  und  sein  Besitzer  Aimon  de  Varennes  mögen 
immerhin  zu  unserem  Dichter  in  Beziehung  stehen,  ohne  dufs 
daraus  mit  Notwendigkeit  folgt,  dafs  schon  der  letztere  in  jener 
Gegend  gelebt  hat.  Die  von  Ms.  A  vertretene  Lesart  aselffue, 
die  erst,  allerdings  mit  aller  Leichtigkeit,  in  asergue  zu  ändern 
wäre,  ist  in  Mss.  F  und  E  ersetzt  durch  die  Lesart  Lo^^s  a 
aeionr  a  chastillon  Estoit  ainnie  une  sakon  fo.  Ib;  letztere  er- 
mangelt also  jeder  genauen  Ortsangabe;  a  seiour  braucht  nicht 
die  ursprüngliche  Lesart  gewesen  zu  sein,  denn  die  angezogene 
Stelle  gehört  zu  dem  unechten  Teile  des  Ms.  F.  Der  hier 
schon  frühzeitig  zertrümmerte  Text  hat  der  AVillkür  der  Schreiber 
einen  grofsen  Spielraum  gelassen,  und  die  von  Ms.  A  vertretene 
Variante  aselyiie  hat  nicht  mehr  Berechtigung  als  die  von  Ms.  B 
ccebotene  Lesart  desor  saine  a  chastillon  fo.  o  a,  oder  das  von 
anderen  Handschriften  gegebene  a  siege,  au  siege  etc.;  die  ver- 
schiedenen Schreiber  suchten  sich  eben  jeder  auf  seine  eigene 
Art  die  ihnen  dunkel  erscheinende  Stelle  zu  erklären.  ^lehr 
Bedenken  geiren  loenois  könnte  die  oben  mito-eteilte  Versiehe- 
runoT  des  Dichters  erregen,  nach  welcher  das  Gedicht  o-^ir  nicht 
in    Frankreich   gedichtet    \A:urde,    und  Laon    hat    auch    zu  jener 


70  Aimon  de  Varemics. 

Zelt,  wie  fast  stets,  zu  Fninkreich  gehört.  Der  ganze  Wort- 
laut der  Stelle  il  ne  fut  mie  fait  en  france  Maix  en  la  langne 
de  francois  Le  prist  (fist  die  anderen  Hss.)  aijnies  en  loenols 
Ms.  F  fo.  1  a  macht  es  wahrscheinlich,  dafs  Aimon  sich  auf 
seine  Quelle  bezog,  die,  wie  er  ja  später  wiederholt  versichert, 
in  Philippopolis  zu  suchen  ist  —  der  eigentliche  roman  wurde 
nicht  in  Frankreich  gedichtet,  doch  wurde  dessen  Bearbeitung 
in  französischer  Sprache  von  Aimon  in  loenols  vorgenommen. 
In  der  zwischen  lionois  und  loenols  (nur  Als.  E  hat  leonois*) 
«geteilten  Überlieferung  bietet  sich  ein  neues  Beispiel  zu  der 
uralten  Verwechselung  der  beiden  Städte  Lyon  und  Laon\  die- 
selbe findet  ihren  Ursprung  in  der  Benennung  Lugdumim  an 
Stelle  von  Laudununi^  welches  der  eigentliche  Name  für  Laon 
ist,  und  ging  zu  Zeiten  so  weit,  dafs  man  Übei-lieferungen,  die 
sich  ausschllefslich  auf  eine  der  beiden  Städte  bezogen,  auf  die 
andere  übertrug;  so  wurde  z.  B.  die  Thatsache  der  Gründung 
Lyons  durch  den  Legaten  Cäsars  L.  iMunatius  Plancus  an- 
standslos auch  von  dem  Entstehen  der  Stadt  Laon  erzählt. 
Verorl.  Devisme  Histoire  de  Laon  Bd.  I,  S.  2  und  58.  Man 
sieht  jedenfalls,  dafs  wir  hier  vor  eine  wenigstens  mit  dem  bis 
jetzt  vorhandenen  Material  unentscheidbare  Frage  gestellt  sind, 
und  wenn  daher  Dinaux,  Trouv.  Brab.  IV,  S.  53  ff.,  geradezu 
und  mit  aller  Bestimmtheit  behauptet,  der  Dichter  hätte  seinen 
Roman  in  dem  in  Laonnais  gelegenen  Chdtlllon-du'Temple  ge- 
dichtet, so  verfährt  er  mit  gewifs  nicht  geringerer  Willkür  wie 
diejenigen,  die  sich  für  das  in  Lyonncds  gelegene  Chdtillon' 
d'Azergues  entschieden  haben.  Einige  weitere  von  Fr.  Michel, 
R.  d.  1.  Viol.  S.  XLIV,  erwähnte,  vielleicht  auf  unseren  Dichter 
bezügliche  Andeutungen,  darunter  namentlich  das  Epitaphium 
in  der  Abtei  Salnt-Martln-des-Champs,  welches  den  Namen 
eines  Haymes  de  Varry  trägt  (vergl.  Monasterii  regalis  S.  Martini 

de  Campis Historia  S.  571),  sowie  die  von  Dinaux  a.  a.  O. 

möglicherweise    anzunehmenden    Beziehunfjen    unseres    Dichters 
zu    dem   Templer-Orden,    gehören    in    das    Gebiet    reiner    Ver- 


*  L^onnois  heifst  die  die  Stadt  Saint-Pol-de- Leon  umgebende  Land- 
Schaft,  und  nach  Michel,  R.  d.  1.  \'iol.  S.  XLIII,  kann  hier  Chätillon-en- 
Vendelais  oder  Chätillon-sur- Seiche  geraeint  sein. 


Aimon  de  Varcnnes.  71 

mutuni]^;  es  mixcs'  daher  an  dieser  Stelle  i>:enüi»en,  einfach  darauf 
zu  verweisen. 

Wie  die  Lebcnsvcrhühnisse  des  Dichters  selber,  so  ist 
aucli  die  Persönlichkeit  der  Dame,  der  zu  Ehren  er  sein  Ge- 
dicht verfafst  hat  und  die  an  die  Beschützerin  des  Dichters  des 
Cleomades  (cf.  den  Anfang  und  V.  18  519  ff.)  erinnert,  in  ein 
wie  es  scheint  nicht  zu  lichtendes  Dunkel  gehüllt;  das  einzige, 
was  sich  an  ihr  mit  einiger  Sicherheit  feststellen  läfst,  ist  der 
Name.  Derselbe  begegnet  innerhalb  des  Gedichtes  an  vier 
Stellen,  von  denen  drei  denjenigen  Teilen  angehören,  die  in 
Ms.  F  unecht  sind,  und  hier  zeigen  denn  auch  die  verschie- 
denen Handschriften  bedeutende  Abw^eichungen  voneinander. 
Jedenfalls  lassen  sich  aus  der  grofsen  Masse  von  Namen  zwei 
ausscheiden,  die  beide  berechtigt  sind  und  von  denen  der  kür- 
zere vielleicht  eine  Koseform  des  längeren  sein  soll:  wir  finden 
den  Namen  einmal  im  Reime  auf  z,  das  andere  Mal  im  Keime 
auf  ine],  so  schreibt  Ms.  F  fo.  la:  or  oies  signor  q  ie  di  Aymes 
por  amor  amdli  Fid  le  romant-  si  saigeinent  u.  s.  w.  [Auahii 
oß  A,  Aualls  B,  por  Allane  vi  C;  de  ailli  E;  Anali  G,  Po7xi- 
lanui  I,  de  noilli  Ho,  Ancdid  K).  Der  längere  Name  mufs  vier- 
silbig gewesen  sein;  er  begegnet  auf  dem  letzten  unechten 
Folio  des  Ms.  F  in  der  jedenfalls  verderbten  Form  uilonine : 
tont  ensi  com  per  uilonine  Trait  del  greu  listoire  latlne.  Zum 
Gluck  begegnet  der  Käme  auch  in  dem  unbestreitbar  echten 
Teile  des  ]Ms.  F  fo.  80  a  Que  j^or  samie  uialine  Traist  de  greu 
listore  latine.  Den  Namen  vialine  hat  Ms.  B  denn  auch  an 
zwei  Stellen  fo.  35  a  und  fo.  50  b;  dagegen  steht  ebendaselbst 
fo.  3  a  2^of  malina  li  dis  fu  dis,  wo  Ms.  F  fo.  la  p  cortoisie  fut 
escris  schreibt.  Jedenfalls  zeigt  der  Reim  idaline  :  latine  zur 
Genüge,  dafs  die  Namensform  iidiane  CE  fo.  la  oder  iuliaine 
D  fo.  64  b,  die  dann  auch  in  den  Prosabearbeituno^en  des 
15.  Jahrhunderts  und  bei  mehreren  späteren  Berichterstattern 
steht,  ohne  Berechtiojunoj  ist. 

Zum  Schlufs  sei  noch  erwähnt,  dafs  Frisi,  Memorie  sto- 
riche  di  Monza  Bd.  HI,  S.  214  in  der  Jidiane  seines  Codice 
Monzese  ein  männliches  Wesen  erblickt,  welches  er  ins  13.  Jahr- 
hundert verleojt  und  zum  Übersetzer  des  von  Aimon  sedich- 
teten  Romans    in  die    lingua  Provenzale  macht;    er    sagt:    Qiiesf 


72  Aimon  de  Varenncs. 

opera,  che  coidiene  la  vita  di  Filippo  il  Macedone,  fii  composta 
da  certo  Aymer,  o  mcglio  Aymes  7iel  1188,  e  ncl  seguente  secolo 
tradotta  nclla  lingua  iudicata,  da  uno  Scrittore  chiamato  Giii- 
liano  ....  Che  jioi  VAutore  di  questa  traduzione  sia  il  nominato 
Giuliano  non  vlia  luogo  a  duhitarne,  leggendosi  nel  Codice  Äfon- 
zese  poco  dopo  il  suo  principtio :  Par  Jidiane  fit  escrit 

Berlin.  A.  Risop. 


Bemerkungen  zu  Oifrid  ad  Liutbcrtum. 

Von 

G.  Michaelis. 


Zu  der  kleinen  Zal  der  einfachen  Vokale  und  Diphthongen,  welche 
uns  von  den  Römern  überlifert  find  und  an  welche  fich  unl'ere  Schriit 
anlente,  kamen  durch  die  Entwicklung  der  neueren  Sprachen  allmäh- 
licli  neue,  indem  fich  mannigfache  Zwifchenftufen  zwifchen  den  drei 
Eckpunkten  a,  i,  u,  fowie  neue  Diphthongen  bildeten.  Anlich  war  eä 
mit  den  Konfonanten,  die  fich  durch  Vor-  und  Rückfchiebungen  der 
Artikulationsftellen  und  durch  Abftufungen  in  den  Artikulationsgraden 
vervilfciltigten.  Es  konnte  daher  nicht  ausbleiben,  dass  man  einzu- 
fehen  anfing,  dass  die  uns  überliferten  lateinifchen  Schriftzeichen  zu 
einer  genaueren  Darftellung  der  neueren  Sprachen  nicht  ausreichten. 

Schon  der  Frankenkönig  Chil  per  ich  (561 — 584)hatte  verfucht, 
das  lateinifche  Alphabet  für  vier  deutfche  Laute  zu  ergänzen,  ono 
damit  durchzudringen. 

Otfrid  von  Weißenburs:  machte  um  868  in  dem  an  Liutbert, 
Erzbifchof  von  Mainz,  gerichteten  Schreiben,  welches  er  feinem  Evan- 
gelienbuche  als  Vorrede  voranfchickte,  wenn  auch  nur  in  fer  knapper 
Weife,  auf  einige  Übelftände  aufmerkfam,  welche  die  zu  geringe  Zal 
der  lateinifchen  Buchftaben  boten.  So  vilfach  die  betreffenden  Stellen 
auch  fchon  befprochen  find,  fo  dürfte  doch  eine  erneuerte  Betrachtung 
derfelben  vom  Standpunkte  der  heutigen  Sprachphyfiologie  aus  nicht 
überflüssig  fein. 

Es  heißt  bei  Otfrid: 

„Hujus  enim  lingnse  barbaries  ut  est  inculta  et  indisciplinabilis 
atque  insueta  capi  regulari  freuo  grammatica?  artis,  sie  etiam  in  multis 


74  Bemerkungen  zu  Otfiid  ad  Liutbertum. 

diotis  sciiplo  est  proptcr  Htcrarum  aiit  congeriem  aut  incognitam  sono- 
ritatcm  difiicilis.  Nam  inteidum  tn'a  uuu^  iit  puto,  qua?rit  in  sono, 
priores  dno  consonantes,  ut  mihi  videtur,  tertium  vocali  sono  manentc; 
inlerdum  vero  nee  a,  nee  e,  ncc  i,  nee  u  vocalium  sonos  pra^eavere 
potni:  ibi  y  greeum  mihi  videbatiir  ascribi.  Et  etiarn  hoc  elementuni 
lingua  ha?c  horrescit  fnterdum,  niilli  sc  caracteri  aliquotiens  in  qiiodam 
sono,  nisi  difficile  jungens;  h  et  z  sepius  ha?e  lingua  extra  usum  latini- 
talis  utitiir,  qua^  grammatici  inter  literas  diciint  esse  superfluas.  Ob 
Stridoren!  au  lern  dontium,  ut  puto,  in  hac  h'ngua  z  utuntur,  k  autem 
ob  fautium  sonoritatera.  —  Ilic  sepius  i  et  o  cetera^que  similiter  cum 
illo  vocales  simul  inveniuntur  inscripta?,  interdum  in  sono  divisaj  vo- 
cales  manentes,  interdum  conjunetae,  priore  transeunte  in  consonantium 
potestatem." 

Die  Worte:  „Et  etiarn..  .  superfluas"  find  in  der  Wiener  Hand- 
fchrift  in  drei  Zeilen  an  Stelle  zweier  früher  dageftandenen  nicht  mer 
erkennbaren  durch  den  Korrektor  eingefchriben.  (Vergl.  das  genaue 
Facfimile  bei  Kelle  II,  Tafel  2.  Erdmanns  Otfrid  p.  IX  und  328.) 

Wir  dürfen  in  den  anirefürten  Worten  im  sjan/.en  wol  den  Stand 
der  Laut-  und  Schreiblere  erkennen,  wie  folche  in  Fulda  unter  der 
Leitung  des  H  r  a  b  a  n  u  s  Mau  r  u  s  (822 — 847),  dessen  Schüler  Ot- 
frid war,  gelert  wurde,  über  den  aber  Otfrid  im  einzelnen  hinauszu- 
gehen verfuchte.     (Vgl.  Job.  Müller,  Quellenfchriften  S.  191  ff.) 

Bei  der  Aufzälung  der  Vokale  a,  ^,  i,  u  ist  o  villcicht  zu  ergän- 
zen, indem  es  nur  zufällig  ausgelassen  wurde;  villeicht  ist  es  aber 
auch  abfichtlich  nicht  mit  aufgefürt,  da  für  o  kein  ij  eintritt. 

Die  Eingangsworte  der  anjjefürten  Stelle  erinnern  wol  an  Donat: 
„Omnis  vox  aut  articulata  est  aut  confusa.  articulata  est  quce  litteris 
comprehendi  potest,  confiisa  quas  scribi  non  potest"  (Keil  IV,  367). 
Wie  weit  lautgetreu  gefchriben  werden  kann,  das  hängt  eben  von  dem 
Zuftande  der  Entwicklung  der  Schriftzeichen  ab. 

0.  Erdmann,  Otfjids  Evangelienbuch  S.  XIII,  bemerkt  über 
das  y  der  Wiener  Handfchrift:  ,.y  ftellt  der  Korrektor  befonders  häufig 
(aber  nicht  durchgehend)  aus  i  des  ersten  Schreibers  her  in  der  Vor- 
filbe  />-,  die  derfelbe  öfters  (namentlich  in  den  Marginalien)  auch  fchon 
fo  gefchriben  hatte;  ferner  ebenfalls  beim  ersten  Schreiber  einmal  aus 
e  in  fyrsagenti  I,  4,  68;  einigemal  aus  ^i:  blyent  III,  7,  64,  gimyatu 
III,  22,  37,  gimyato  II,  21,  27.  III,  6,  26  (fo  fchreibt  Sehr.  I  von 
felbst  Sah  32),    syah  Ilf.  18,   19    (wol   um   der  Lefung   suah  =z  swah 


Bemerkun<ren  zu  Otfrid  iul  Liutbertum.  75 


•& 


vorzub(  ijgen);  st/uzo  III,  5,  20;  beim  zweiten  Scbroiber  iVy  aus  Xu 
IV,  28,  11,  bhjent  ans  W?^e«/  V,  23,  273.  —  S.  328:  y  ist  in  Y 
häufiic  aus  einem  vom  Schreiber  «refotzten  Vokal  korriofirt,  nnd  zwar 
im  eiirentlioLen  Sinne  durch  Hinzufchreiben  oder  durch  Anfii^runn:  eines 
Striches."  (Vgl.  Kelle  II,  445.) 

Lachmann  (Otfrid  1833,  Ersch  und  Gruber  Sect.  III,  T.  VII, 
Kl.  Schriften  I,  459)  fagt  über  Otfrids  Angaben :  „Er  bemerkt,  i  vor 
Vokalen  fei  bald  diphthongifch,  bald  Konfonant,  er  erklärt  die  Schrei- 
bung nun,  wenn  ivu  gemeint  ist,  für  genauer  als  das  in  den  Hand- 
fchriften  feines  Werkes  doch  auch  vorkommende  im.  Wunderbar  ist 
das  y,  welches  er  gefetzt  habe, 'wo  er  den  Laut  keines  der  fünf  Vokale 
habe  können  befchaffen.  Nach  dem  Gebrauch  in  den  Handfchriftcn 
könnte  man  wol  an  ein  verkünmiertos  und  an  ein  umgelautetes  u  den- 
ken, aber  für  difen  Umlaut  in  fo  früher  Zeit  wage  ich  mich  nicht  auf 
mu'dleii  im  Gedicht  auf  den  h.  Georg  zu  berufen,  welches  villeicht 
malljen  heißen  foll.  Den  hbenten  Vokallaut,  welchem  auch  ij  nicht 
genügen  foll,  weiß  ich  nicht  zu  erraten." 

Dagegen   bemerkt   Müllen  ho  ff  (Denkm.- 322)   zu   dem    in  der 
pfiilzifchen  Handfchrift  des  Otfrid  erhaltenen  Georgsliede,  V.  38: 
man  goihezen  muillen  ze  pulver  al  uerptjrnnen, 

nach  Müllenhoffs  Lesung: 

man  goliiez  en  müllen,  ze  pulver  al  verprennen: 

„Durch  das  ui  in  muillen  fcheint  der  Umlaut  ü  bezeichnet  zu  fein.  Auf- 
fallend genug:  doch  liisst  fich  die  Anficht,  dass  die  ersten  Anfänge  difes 
LTmlauts  nicht  in  die  ahd.  Zeit  hinaufreichen,  daraus  nicht  erweifen, 
dass  er  aus  den  Handfchriftcn  nicht  zu  erkennen  ist;  noch  mhd.  Hand- 
fchriftcn, z.  B.  die  Gießener  des  Iwein  lassen  ihn  unbezeichnet." 

Auch  im  Ndd.  blib  der  Umlaut  oft  noch  lange  unbezeichnet,  wo  er 
doch  wol  fchon  vorhanden  war.  Lübben  fcheint  mir  in  der  Läugnung 
des  Umlautes  im  Mnd.  zu  weit  gegangen  zu  fein.  (Vgl.  darüber  meine 
Beiträge  zur  Gefchichte  der  Rechtfchr.  II,  72  ff.)  Das  y  wurde  ja  auch  im 
Nord,  und  Agf.  als  L^mlaut  von  u  gebraucht.  Wir  werden  daher"  wol  dabei 
bleiben  müssen,  dass  Otfrid  durch  y  den  Laut  ü  habe  andeuten  wollen. 

Für  das  griechifche  y  im  fremden  Worte  sillala  fchreibt  Otfrid  I, 
1,  23  bereits  i.  (Vgl.  Grimm  Gramm.  I^  80,  Wackernagel,  Umdeut- 
fchung,  Kl.  Sehr.  HI,  276.) 

Was  den  fibenten  Vokal  betrifft,  von  dem  Lach  mann  fagt 
dass  er  ihn   nicht   zu   erraten  w^sse,    fo  kann,   da   an  den  Umlaut  ö  zu 


76  Bemerkungen  zu  Otfrld  ad  Liutbcrtum. 

Otlrids  Zeit  im  Hoclideutfchen  nicht  zu  denken  ist,  wol  nur  das  ton- 
lofe  e  gemeint  fein.  In  unbetonten  Silben  war  dis,  wenn  es  auch  kein 
befonderes  Zeichen  hatte,  im  Ahd.  nach  Lachmanns  eigenen  Ausfürun- 
gen  fchon  vorhanden.  Lach  mann,  über  ahd.  Betonung  und  Vers- 
kunst (Kl.  Sehr.  I,  S.  401)  bemerkt:  „dass  die  hochdeutfche  Sprache, 
fo  früh  wir  fie  kennen,  fchon  einzeln  und  allgemach  immer  mer,  den 
Ableitungsfilben  ire  vollen  Vokale  entzieht  und  fie  in  ein  unbetontes 
e  abf eh  wacht,  wärend  fie  den  Flexionsendungen  bis  ins  12.  Jarh.  weit 
mer  die  urfprünglichen  Laute,  oft  fogar  noch  die  Länge  lässt." 
S.  402  .  „Die  oberflächlichste  Betrachtung  otfridifcher  Verfe  muss  leren, 
dass  ihm  das  tonlofe  e  ein  fo  guter  Vokal  ist  als  alle  anderen,  dass  er 
es  fer  oft  in  die  Hebung  des  Verfes  fetzt,  wo  die  folgende  Senkung 
einen  vollen  und  oft  einen  langen  Vokal  oder  Diphthong  enthält." 

Auch  unfere  gewönliche  Schrift  hat  noch  heute  kein  befonderes 
Zeichen  für  difen  unbetonten,  außerhalb  des  Hell  wag- Chladnifchen 
Dreiecks  flehenden  Vokal  (Siueets  mid-viLved-narroiv),  und  überlässt  es 
der  genaueren  Schreibung  der  Dialekte,  ficli  zu  helfen.  S  e  h  m  e  1 1  e  r 
hat  dafür  d.  andere  haben  e  oder  e  eino;efürt. 

Otfrids  Bemerkung  über  das  unfilbige  (halbkonfonantifche)  in 
consonantium  potestatem  übergehende  /  vor  anderen  Vokalen  fch ließt 
fich  unmittelbar  an  Donat  an,  bei  dem  es  heißt:  „/  et  u  transeunt  in 
consonantium  potestatem,  cum  aut  ipsaj  inter  se  gcminantur  aut  cum 
aliis  vocalibus  iunguntur,  ut  luno,  vates.'^  (Keil  IV,  367.)  So  heißt 
es  auch  bei  Aelfric,  ed.  Zupitza,  S.  6  :  „i  and  u  bcou  dwende  to  con- 
sonantes,  gif  hi  beod  toga^dcre  gesette  odde  mid  odrum  swegendlicum." 
(Über  die  unfilbigen  Vokale  vgl.  Sievers  Phonetik  123,-  Kräuter  Laut- 
verfeh. Anh.  I.)  Bei  Otfrid  find  die  vokalifchen  i  und  u  von  den  kon- 
fonaiitifchen  forgfältig  durch  die  Accente  unterfchiden.  (Vgl.  Erdmann, 
S.  lU  und  329;  Piper,  Lit.-Gefch.  u.  Gramm.  278.) 

Die  Entftehung  des  Zeichens  iv  aus  iiu  deutet  fchon  darauf  hin, 
dass  IV  im  Ahd.  noch  dem  Vokal  u  näher  ftehend  halbvokalifch  und 
bilabial,  noch  nicht  labiodental  (genauer  labio-marginal)  war.  (Vgl. 
Grimm  I-  139.)  Statt  der  zufammcngefetzten  Anlaute  siv,  thw,  die, 
zw  fteht  bei  Otfrid  noch  einfach  sii,  ihu,  du,  zu  (cf.  Erdmann  XII) 
z.  B.  ijisukhen  IV,  13,  25,  tliuingan  III,  7,  65,  thuungin  V,  20,  87; 
duellen  I,  27,  16,  dualta  I,  19,  17;  suival  II,  12,  17  etc.  (vgl.  Kelle 
II,  483  f.).  Die  Angelfachsen  fuchten  fich  durch  die  Rune  wen  zu 
helfen,  f'ir  welche  fpäter  ebenfalls  lü  eintrat. 


Bemerkungen  zu  Otfrid  ad  Liutbertuni.  17 

In  betreff  des  k  und  z  bemerkt  Lachmann :  „dass  Otfrid  die  iin- 
lateinifchen  Bucliftaben  als  notwendiges  Übel  anfehe,  fei  ihm  oft  als 
Befchränkung  vorgeworfen."  Ich  kann  indes  in  den  Worten  Otfrids 
nicht  finden,  dass  er  die  k  und  z  als  ein  Übel  anfehe.  Er  Tagt  vilmer 
nur:  unfere  Sprache  gebrauche  fie  öfter  extra  usiim  laiinitatis^  und  dass 
es  grammatici  gebe,  welche  fie  für  überflüssig  erklärten. 

Das  durch  die  hochdeutfche  Lautverfchiebung  aus  t  eniftandene 
z  liatte  (ich,  wie  Jakob  Grimm  und  G  ra  ff  unzweifelhaft  nachge- 
wifen  haben,  fchon  im  8.  Jih.  in  zwei  Laute  gefpalten : 

1)  z  =n  dem  Affrikatdiphthongen  ts, 

2)  3  =::  einer  einfachen  Spirans  (=  unferm  ß  wie  in  gießen). 

Im  Anlaut  ist  z  diphthongifch  =  ts  geblibon,  wärend  urfprüng- 
lich  einfaches  t  im  In-  und  Auslaut  im  allgemeinen  unter  Verdrängung 
des  t  zur  bloßen  Spirans  geworden  ist. 

Otfrid  hatte,  wie  es  mir  fcheint,  in  der  citirten  Stelle  den  Ge- 
brauch des  z  für  die  Spirans  im  Sinn.  Von  z  ^=  ts  hätte  er  wol  kaum 
fagen  können,  dass  es  extra  usum  latinitatis  fei,  da  Z,  wenn  es  auch 
erst  nach  Festfetzung  des  übrigen  Alphabetes,  zugleicli  mit  dem  Y,  aus 
dem  griechifchen  Alphabet  in  das  lateinifche  aufgenommen  und  an  den 
Schluss  desfelben  hinter  X  geftellt  wurde  (vgl.  Kirchhoff,  Studien  zur 
Gefchichte  des  griech.  Alph.^  120),  doch  in  der  lateinifchen  Schrift  die 
Geltung  =r=ts  erlangt  hatte.  Von  difem  z  hätte  er  doch  wol  nur  fagen 
können,  dass  es  in  der  deutfchen  Sprache  vil  häufiger  vorkomme  als  in 
der  lateinifclien. 

Schon  der  Schreiber  der  Parifer  Handfchrift  des  Ifulor  de  nativitate 
domini^  wol  auch  ein  gelerter  Mönch,  hatte  das  Bedürfnis  gefiilt,  den 
Spiranten  3  durchgehends  von  dem  Affrikatdiphthongen  z  v.w  unter- 
fcheiden  ;  er  hatte  zu  dem  Hilfsmittel  gegriffen,  dass  er  f,  {{  als  De- 
terminativ hinter  z  fetzte,  wärend  andere  Schreiber  das  Determinativ 
f  vor  das  z  fetzten,  was  mit  der  Zeit  das  gewönlichere  wurde. 

Doch  vfüY  man  in  Fulda  und  in  St.  Gallen  in  bezug  auf  die 
Schreibuno;  der  Zifchlaute  hinter  der  Genauis^keit  des  Schreibers  des 
Ifidor  zurückc-ebliben,  indem  in  beiden  Schulen  das  Zeichen  z  in  der 
doppelten  Bedeutung  der  Affrikata  und  der  Spirans  one  Unterfchei- 
duno;  beibehalten  wurde,  obwol  fich  auch  fow^ol  in  Fulda  wie  in  St. 
Gallen  einzelne  sz  einftellten.  Im  Tatian  (vgl.  Sievers  Vorrede 
S.  14)  findet  fich  einmal  sz :  gisaaznisso^  urfpninglich  hatte  es  aber 
öfter  in   der   Handfchrift    geftanden.      In   der   Benediktine rregel 


!?Ö  t3cmerkun<xen  zu  Otfrid  ad  Llutbertum. 


'Ö' 


lindet  lieh  c?^  zweimal:  hiwi6zida^  Ilatt.  I,  72,  tui6zun  98,  o;  bei 
Notker:  rdbena  iinde  dlbisze  Mcp.  llatt.  III,  285.  Vgl.  Seiler  bei 
Paul-Branne  I,  416.     Auch    fönst   kommen  vereinzelte  sz  oder  zs  vor. 

Dass  das  3  als  Spirans  ein  dem  s  naheftehender  Laut  war,  geht 
ichon  daraus  hervor,  dass  fich  bei  Otfrid,  wenn  das  folgende  Wort 
mit  einem  s  beginnt,  häufig  durch  Assimilation  hervorgerufen,  was  für 
wai  gefchriben  findet:  icas  so,  was  sies  etc.  (Vgl.  Kelle  II,  367,  508. 
Piper  I,  104.) 

In  bezug  auf  die  genauere  phyfiologifche  Beftimmung  der  Spirans 
3  flehen  noch  immer  hauptfächlich  drei  Anflehten  neben  einander: 

1)  Die  Kumpel  tfche,  zu  der  fich  auch  Wein  hold  (vgl.  mhd. 
Gram.-  §  203)  gewandt  hat,  dass  fchon  die  ahd.  Spirans  nichts  ande- 
res als  ftimmlofes  alveolares  s  gewefen  fei,  mochte  dis  nun  apikal  oder 
doifal  gebildet  werden.  Der  Keim  zu  difer  Anficht  findet  fich  fchon  bei 
Wolke  und  in  R.  v.  Raumers  Schrift  übe)'  die  Aspiration  inid  Laut- 
verj cliiebung  1837.  Die  Deductionen  Raumers  find  fönst  vorzüglich, 
aber  darin  ftrauchelte  er,  dass  er  von  vorn  herein  (§  21,  22)  die  Arti- 
knlationsftelle  von  3  =  ß  als  identifch  mit  der  von  f  annam. 

2)  W.  Wackernagels  Anficht  geht  dahin,  dass  die  Spirans  3 
vom  alveolaren  s  verfchiden  gewefen  fei,  dass  fich  aber  nicht  mer 
ermitteln  lasse,  worin  der  Unterfchid  beftanden  habe.  Noch  1866 
fagt  er  ausdrücklich:  „Der  Laut  des  altd.  z  oder  sz  ist  fchon  feit  einem 
halben  Jartanfend  und  darüber  erftorben  und  für  uns  unwid erfind- 
bar." (Kl.  Sehr.  III,  34.)  Auch  Andrefen  erklärt  noch  1870  den 
Laut  des  3  für  unbekannt:  „Wer  vermag  anzugeben,  in  welcher  Weife 
verfchiden?"  (ZS.  f.  d.  Phil.  II,  325.) 

3)  Die  dritte  Anficht,  welche  die  Spirans  3  als  marginal-dentale 
vom  alveolaren  s  unterfcheidet,  ist,  fovil  ich  weiß,  zuerst  von  mir  1862 
aufgeftellt.  (Herrigs  Arch.  Bd.  32.)  —  Herrn.  Paul  (Beiträge  I, 
1.S74,  S.  169)  ist  dann  genau  zu  derfelben  Beftimmung  gekommen: 
..Bei  der  Bildung  des  3  wird  die  Zungenfpitze  nicht  fo  weit  vorgefcho- 
ben  als  bei  der  des  englifchen  tli,  fondern  kommt  höchstens  bis  an  den 
Rand  der  oberen  Zanreihe.'*  —  Braune  (Beitr.  I,  530)  kommt  eben- 
falls zu  der  Anficht:  1)  dass  der  Unterfchid  zwifchen  s  und  3  in  der 
ahd.  Zeit  ficher  nicht  auf  tönender  und  tonlofer  BefchaflTenheit  beruhte, 
2)  dass  difer  Unterfchid  ein  Unterfchid  der  Artikulationsftelle  war,  und 
zwar,  dass  die  Artikulationsftelle  des  mhd.  3  mer  nach  vorn  an  den 
Zänen.    die   des  s  weiter  nach  oben  und  fo  den  slavifchen  kakuminalen 


Bemerkungen  zu  Otfrid  ad  Liutbortuni.  *9 

Lauten  verhältnismäßig  am  nächsten  lag.  —  Seh  er  er  (zur  Geioh.  d. 
d.  Spr.2  184)  ftimmt  fchließlich  dem  zu,  dass  das  auslautende  s  tonlos 
fei,  und  dass  der  Unterfchid  zwifchen  e^  und  es  nicht  in  feiendem  oder 
zutretendem  Stimmton  beftehen  könne.  (Vgl.  meine  Zifchlaute.  2.  Aufl.) 

Hätte  Otfrid  die  Spirans  3  als  alveolares  s  gefpiochen,  wie  es 
Rumpelt  und  feine  Anhänger  annemen,  fo  würde  er  fchwerlich 
gegen  die  grammatici  aufgetreten  fein,  die  das  3  inter  Uteras  siiperßaas 
rechneten  ;  er  hätte  es  dann  vilmer  felbst  in  difem  Sinne  als  eine  litei^a 
superflua  bezeichnen  müssen,  wogegen  er  (ich  deutlich  genug  erklärt. 
(Für  z  =r  (s  hätte  man,  wenn  auch  weniger  beholfen,  ts  fetzen  können.) 
Eine  prägnantere  Bedeutung  erhalten  indes  die  Worte  Otfrids,  wenn 
wir  3  als  Zeichen  des  marginalen  Lautes  anfehen,  den  die  lateinifche 
Sprache  überhaupt  nicht  kannte,  als  wenn  wir  es  als  identifch  mit 
alveolarem  s  annemen. 

Dife  Aufflissung,  meine  ich,  werde  auch  durch  die  Worte  oh  stri- 
dorem  dentium  einigermaßen,  wenn  auch  allerdings  nicht  ausreichend, 
unterftützt.  Auch  unfer  alveolares  s  pflegt  man,  da  der  Luftftrom  des 
an  den  Alveolen  gebildeten  Fricativlautes  an  den  Kanten  der  Zäne 
vorbeipassiren  muss  und  hier  noch  eine  Brechung  erhält,  einen  Stridor 
dentium  zu  nennen;  aber  der  unmittelbare  fpecififche  Stridor  dentium  ist 
doch  der,  welcher  direkt  an  den  Kanten  der  Zäne  feine  Artikulation 
erhält. 

Auch  Otfrids  scepius  erhält  damit  eine  fchärfere  Bedeutung,  da 
die  Spirans  3  im  Ahd.  häufiger  ist  als  die  Affrikata  z. 

So  meine  ich,  dass  wir  Olfrids  Anficht  wol  am  nächsten  kommen, 
wenn  wir  annemen,  dass  er  unter  Stridor  dentium  genau  das  verftanden 
hat,  was  ich  feit  1862  als  marginal-dentale  Spirans  anfgeftellt  habe. 
Der  Laut  hat  fich  vom  Beginn  des  Hochdeutfchen  ab  nach  betontem 
langem  Vokal  bis  insNhd.  erhalten,  wärend  er  nach  kurzen  und  schwach- 
betonten Vokalen  und  nach  Konfonanten  feit  der  Mitte  des  13.  Jrh., 
wie  allgemein  anerkannt  wird,  in  alveolares  s  übergegangen  ist.  Der 
zur  Tradition  gewordene  Satz,  dass  die  Spirans  3  feit  der  Mitte  des 
13.  Jrh.  allgemein  in  alveolares  s  übergegangen  fei  (cf.  Weinhold  mhd. 
Gramm.2  §  204),  bedarf  jedenfalls  einer  Befchränkung. 

Kräuter,  zur  Lautverfch.  56  bemerkt,  dass  die  Länge  fowol 
Vokale  als  Konfonanten  häufig  vor  Veränderungen  fchütze,  welchen 
die  Kürze  unterlige.  „Vile  Sprachen  und  Mundarten  haben  das  kurze 
s  zwifchen  Stimralauten  auch  nach  kurzoreblibenen  Selbstlautern  tönend 


so  Bemerkungen  zu  Otfrid  ad  Liutbertum. 


o 


gemacht,  abei  nicht  das  iiri'prünglich  gedente  ss."  Dagegen  zeigt  uns 
das  marginale  3  ein  anderes  Verhalten :  die  Verdoppelung  33  nach 
kurzem  Vokal  ist  in  alveolares  s  übergegangen,  wärend  3  nach  langem 
A'okal  unverändert  geblibcn  ist:  iva^ier  ist  zu  wasser  geworden,  wärend 
gro},e  einer  folchen  Veränderung  allgemein  nicht  unterlegen  ist. 

Anlautend  kommt  die  Spirans  3  im  Hochdeutfchen  nicht  vor,  da 
hier  z  diphthongifch  =r  ts  gebliben  ist,  doch  darf  die  marginale  Spirans 
villeicht  angenommen  werden,  wenn  in  einem  Reichenauer  Nekrologe 
des  9.  Jrh.  nordifehe  Pilgrime  J)or,  porgils  als  zor,  zurgils  eingetragen 
lind.  (Grimm,  Gefch.  d.  d.  Spr.  395.)  Auch  wird  in  englü'chen  Dia- 
lekten oft  z  für  th  gefchriben,  wo  wol  auch  an  marginales  3  zu  denken 
ist.  Villeicht  dürfen  wir  überhaupt  das  nord.  und  agf.  th  noch  unferm 
marginalen  3  näher  flehend  annemen  als  es  gevvönlich  nach  der  heut 
liberwigenden  interdentalen  Ausfprache  des  englifchen  ili  gefchiht. 
Es  feit  ja  auch  noch  heute  in  England  nicht  an  Phonetikern,  welche 
das  th  nicht  interdental,  fondern  marginal  bilden  (Svveets  iwmf-teeth- 
opeii).     Bell  fpricht  es  marginal  und  divided. 

Paul  weift  zugleich  noch  darauf  hin,  dass  die  Spirans  3  =  ß  im 
Judendeutfch  für  anlautendes  hochd.  z  eingetreten  fei.  Im  Hochdeut- 
fchen hat  fich  die  Verfchiebung  von  der  AfTrikata  zur  Spirans  auf  den 
In-  und  Auslaut  befchränkt.  Das  Judendeutfch  ist  aber  in  difer  Ver- 
fchiebung um  einen  Schritt  weiter  gegangen,  indem  es  auch  anlautendes 
hochd.  z  in  die  Spirans  3  verwandelt:  yßu''*  ftatt  „-2"«",  wie  dis  der 
Abgeordnete  Frhr.  v.  Hamm  er  stein  in  der  Sitzung  am  5.  December 
1883  bei  dem  Worte  „woßu"  dem  Abgeordnetenhaufe  ad  aures  demon- 
strirt  hat.  In  dem  ftenographifchen  Berichte  hat  Frhr.  v.  Hammer- 
stein, wie  er  felbst  erklärt  hat,  z  in  ß  korrigirt. 

Grimm  (Gefch.  d.  d.  Spr.  416)  weift  darauf  hin,  dass  anlauten- 
des sz  (ich  im  Ungarifchen  finde;  „Auch  finnifch  T  follte  einen  ver- 
fchobenen  ungr.  Laut  zur  Seite  haben,  und  wirklich  fcheint  ihm  sz 
zu  enlfprechen  in  ^M2iZ2  ventus,  ungr.  52-^/,  tahho  angulus,  ungr.  szöglel.'''' 
Doch  dürfte  aus  difem  Vorkommen  wol  nicht  auf  einen  direkten  Zu- 
l'ammenhang  zwifchen  ungarifchem  sz  und  judendeutfchem  ß  zu  fchlie- 
ßen  fein ;  das  Ungarifche  ligt  dazu  doch  wol  zu  fern.  Indes  verdient 
die  Frage,  wie  die  in  Rede  ftehende  Eigentümlichkeit  des  Judendeutfch 
entftanden  fei,  noch  weitere  Prüfuns:. 

Wie  weit  der  marginale  Laut  nach  betontem  langem  Vohal  noch 
heute  von  dem  alveolaren  hinreichend  fcharf  unterfchiden  wird,  darüber 


Bemerkunjien  zu  Otfrld  aJ  Llutbertum.  81 


e 


gehen  die  Anßchten  nocli  auseinander.  Sievers  (Litt.  Centralbl.  1883 
No.  23)  hat  zugegeben,  dass  in  gewissen  Gebieten  der  preußifchen 
Provinzen  Brandenburg  und  Sachsen  der  Unterfchid  noch  ftatlfindet; 
am  fchärfsten  ist  er  mir  bei  Eingebornen  der  Provinzen  Preußen  ent- 
gegengetreten. Auch  ist  es  gewiss  nicht  zufällig,  dass  feit  dem  An- 
fange der  fünfziger  Jare  Österreich  der  Hauptfitz  der  Kämpfe  für  die  die 
Untcrfcheidnng  von  ß  und  ss  durchfürende  Heyfefche  Regel  geworden 
ist,  und  dass  dife  bei  der  Festfetzung  der  Rcchtfchreibung  für  die  öster- 
reichifchen  Schulen  durch  die  Epoche  machende  Verordnung  der  öster- 
reichifchen  Regirung    vom    2.  Aug.  1879   den  Sig   davongetragen  hat. 

Das  Streben,  unfere  Laute  in  die  engen  Fesseln  des  lateinifchen 
Alphabets  zu  zwängen,  hat  feit  einem  Jartaufend  an  der  dentalen 
Spirans  gerüttelt,  am  meisten  zu  Luthers  Zeit  und  von  neuem  durch 
Rumpelt,  one  ihn  doch  ganz  befeitigen  zu  können.  Um  fo  anerken- 
nenswerter ist  es,  dass  Otfrid  bereits  als  Wächter  auftrat,  dass  wir 
uns  von  der  lateinifchen  Schrift  nicht  ganz  behindern  lassen  füllten  für 
die  eigentümlichen  deutfchen  Laute  eigentümliche  Bezeichnungen  ein- 
zufüren.  So  gut  die  Grundlage  des  lateinifchen  Alphabets  für  unfere 
Natlonalfchriften  ist,  und  fo  woltätig  Cie  feit  Einfürung  des  Chiisten- 
tums  gewirkt  hat,  fo  durfte  doch  für  fie  nicht  jede  weitere  Entwick- 
lung abgefchnitten  werden.  Für  die  phonetifch  genaue  Umfchreibung 
der  Sprachen  und  Mundarten  fteigern  ßch  natürlich  die  Anforderungen. 
(Vgl.  darüber  H.  Hübfeh  mann,  Umfchreibung  der  iranifchen  Spra- 
chen und  des  Armenifchen.) 

Noch  eins  tritt  uns  aus  der  Handfchrift  des  Otfrid  entgegen. 
Jakob  Grimm  hat  für  die  dentale  Spirans,  um  fie  von  z  =  ts  zu 
nnterfcheiden,  das  fogenannte  gefchwänzte  3  angenommen.  R.  v.  Muth 
in  feiner  Anzeige  der  3.  Auflage  von  Lübbens  Wörterbuch  zu  den 
Nibelungen  (Anz.  f.  d.  A.  III,  272)  nennt  das  nach  feiner  Anficht 
ganz  überflüssige  und  entberliche  3  „eine  üble  Nachamung  der  franzö- 
lifchen  Cedille."  Allein  fchon  zu  Otfrids  Zeit  ftehen  z  und  3  als  gra- 
phifche  Varietäten  fridlich  nebeneinander.  (Über  frühere  Vorkommen 
des  3  vgl;  Wattenbach,  lat.  Pal.^  55.)  Gerade  an  unferer  Stelle  fteht 
in  der  Handfchrift  ein  fer  fchön  gefchwänztes  3.  Dife  Form  wird  nach 
Wattenbach  fpäter  die  gewönliche,  weil  die  auch  noch  vorkommende  z 
dem  r  rotundum  zu  änlich  wird.  Was  lag  daher  näher  als  dass 
Grimm  die  beiden  handfchriftlich  vorhandenen  Zeichen  dazu  benuzte, 
um  für  das  ahd.  und  mhd.  die  'beiden   verfchidenen  Laute    des  alten  z, 

Avcliiv  f.  n.  Sprachen.  LXXIII.  6 


82  Bemerkungen  zu  Otfrid  ad  Llutbertüm. 

die  AftVikata  und  die  Spirans,  von  einander  zu  unterfclieiden  ?  Die 
fpan  i  Icl  1  -  fr  an  zoll  fehe  Cedille,  aus  untergefetztem  z  entftanden  (vgl. 
AVatlenbach,  p.  5G),  ist  jüngeren  Urfprungs  und  wir  bedürfen  ircr  nicht, 
um  uns  das  Grimmfche  3  zu  erklären.  Für  das  Nhd.  bot  lieb  als  Erfatz 
das  ß,  ßi   über  dessen  Gcfcbichte  ich  an  anderm  Orte  gefprochen  habe. 


Was  endlich  das  k  betrifft,  fo  unterfcheidet  Otfrid  feinhörig  das 
deutfche  von  einem  Nachlaute  begleitete  h  (x/)  von  der  echten  reinen 
romanifchen  tenuis  c.  Difer  Unterfchid  ist  namentlich  von  Kräuter 
ausfürlich  erörtert.  Derfelbe  lagt  darüber  (Lautverfeh.  84):  „Otfrid 
fchreibt  im  Anlaut,  ferner  nach  rj  /,  n  im  Inlaut  beinahe  immer  k  (zu- 
weilen auch  ch)  und  gewönlich  auch  für  ck;  leztercs  ist  nur  dadurch 
erklärlich,  dass  k  eine  Doppelkonfonanz  bezeichnete;  auch  im  Tatian 
kommen  folche  k  =z  ck  vor  (bei  Williram,  welcher  im  Anlaut  ebenfalls 
k  hat,  zeigen  fich  wie  im  Ifidor,  bei  Notker  und  in  der  Benediktiner- 
regel auch  eck  für  ck).  Wenn  Otfrid  das  k  vor  flexivifchem  t  regel- 
mäßig in  g  verwandelt,  fo  ist  k  offenbar  eine  Affrikata,  welche  iren 
Reibelaut  vor  einer  Tenuis  einbüßt,  änlich  wie  im  Griechifchen  und 
Sanskrit  kJit,  plit  zu  kt,  pt  werden."  (Vgl.  Kelle  II,  523;  Piper  Lit.- 
Gefch.  u.  Gramm.  241.) 

Damit  dürfte  auch  unfere  Bezeichnung  ck  einen  weiteren  Hinter- 
grund  gewonnen  haben. 

Otfrid  verlangt  das  Zeichen  k :  oh  faucium  sonoritatem. 

Fauces  oder  isthmus  faucium  heißt  die  Enge  zwifchen  dem  Gaumen- 

fegel,  den  Gaumenbögen   und   der  Hinterzunge,   welche  die  Mundhöle 

von    der    Rachenhöle    (griechifch    pharynx)    trennt.      (Vgl.    Grützner, 

Phyf.   der  Stimme  68,   v.  Meyer,   Sprachwerkzeuge  124.)     Doch   wii-d 

fauces  lateinifch  auch  für  die  Rachenhöle  felbst  gebraucht. 

Faucal  hätte  man  danach  villeicht  die  Artikulation  nennen  können, 
welche  Rumpelt  velar^  Kräuter  postpalatal,  Sievers  guttural  nennt. 

Es  fei  mir  hier  geftattet,  noch  eine  Bemerkung  aus  der  Gefchichte 
der  Vokallere  einzufchalten.  Hieronymus  Fabricius  ab  Aqua- 
pendente,  de  locutioue.,  Ven.  1601  fetzte  die  Umwandlung  der  Stimme 
in  die  verfchiden  artikulirten  Vokale  in  diu  fauces;  er  fügte  dann  frei- 
lich hinzu:  „At  quonam  modo  afficiatur  aer  et  in  quam  figuram  partes 
varlae  ad  variam  Vocalium  formam  contrahendain  conformentur,  ab- 
strusa  sane  res  est.  Et  num  in  vocali  0  rotundari  magis  faucium  cavi- 
tatem  contingat ;  in  A  vero  potius  ovalem  figuram  in  longum  productam 


Bemerkungen  zu  Otfrkl  a  I  Liutbertum.  83 


Ö 


efficere:  quemadmodum  in  E  Iraiisverse  ovalem:  in  I  autem  acuminatam  : 
in  U  demum  profundiorem  cavitatem,  ego  sane  rem  difficillimam  definiro 
minime  ausiin."  —  Dass  indes  die  Konformation  der  fances  allein  nicht 
ausreiche,  um  die  Klänge  der  verfchidenen  Vokale  zu  erklären,  wussle 
fchon  das  Altertum  und  ist  durch  alle  neueren  Unterfuchungen  beftä- 
tigt.  Doch  ligt  in  den  angefürten  Worten  immer  fchon  ein  Vorbote  zu 
den  neueren  Vokaltheorien. 

Mir  fcheint  es  keine  glückliche  Wal  gewefen  zu  fein,  als  Lep- 
s  i  u  s  die  im  Kelkopf  an  den  Stimmbändern  (iramediately  at  the  larynx, 
fagt  er  ungenau,  Stand.  Alph.  68)  gebildeten  Laute,  wie  unfer  h, 
fauccd  nannte.  Für  dife  Laute  wird  wol  der  Ausdruck  laryngal^  den 
ich  in  meiner  Abhandlung  über  die  Benennung  der  Kelkopflaute  18G3 
(ZS.  f.  Sten,  u.  Orth.  IL  Jarg.)  vorgefchlagcn  habe,  der  zweckmäßigste 
fein.  Die  lateinifche  Benennung  des  Kelkopfs  war  guttur,  die  griechi- 
fche  larynx.  Schon  der  Begründer  der  neueren  Anatomie  Andreas 
Ve  sali  US,  Corporis  Immani  fahrica,  Bas.  1543,  gab  der  griechifchen 
Benennung  den  Vorzug  vor  der  lateinifchen.  Er  fagt:  „Caput  quidem 
asperos  arteria^  laryngem  potius  quam  guttur  mihi  appellandum  putave- 
lim."  Den  Grund  zu  difer  Entfcheidung  könnte  man  darin  fuchen 
wollen,  dass  fich  die  ungute  Bezeichnung  guttural  für  die  mit  dem  hin- 
tern Teil  der  Zunge  am  Gaumen  artikulirten  Laute  bei  den  Grammatikern 
bereits  festgefelzt  hätte;  allein  das  ist  in  hohem  Grade  unwarfcheinlich ; 
ich  finde  den  Ausdruck  guttural  zuerst  bei  Joh.  Wallis  1653,  alfo 
erst  110  Jare  nach  dem  Erfcheinen  von  Vesals  Werk.  Es  haben  fich 
bereits  vile  Stimmen  dafür  erhoben,  dass  man  den  von  Wallis  einge- 
Kirten  verkerten  Gebrauch  des  Wortes  guttural  wider  aufgeben  foUe. 

Nach  Vesal  haben  die  Anatomen  aller  Nationen  die  griechifche 
Benennung  des  Kelkopfs  larynx  angenommen  und  dabei  wird  man  wol 
bleiben.  Die  phonetifche  Nomenklatur  wird  fich  aber  immer  der  fest 
beftimmten  anatomifchen  möglichst  nahe  anzufchließen  haben.  Dadurch 
werden  am  besten  Missgriffe  vermiden,  wie  fie  fo  vilfach  vorgekom- 
men find  und  noch  täglich  vorkommen. 

Otfrid  fagt  gegen  den  Schluss  feiner  Vorrede  vom  Schöpfer  der 
]\[enfchen:  „qui  plectrum  eis  dederat  linguae."  Darin  könnte  man 
villeicht  einen  Anklang  an  Galen  finden,  welcher  dem  Zäpfchen  {uva, 
7ivula,  griechifch  yaQyaQscöv^  die  Rolle  eines  Piektrums  zugefchriben 
hat:  „0  ftlr  ovQaviOKog  oiov  i]x£l6v  ti  TTQOxeifisvor,  b  8l  yanyuQecov  o'iov 
nlr^HTQov.'*    (Gal.   ed.   Kühn  III,  526.)     Allein  der   leztere   Vergleich 

6* 


84  Bemerkungen  zu  Otfrld  ad  Liutbertum. 


ist  fchon  bei  Galen  fchwerverftändlich  (vgl.  Grützner,  73).  Wir  wer- 
den daher  in  dem  Ausdruck  plectrum  bei  Otfrid  wol  nur  eine  allge- 
gemeine  Hindeutung  auf  die  Beweglichkeit  und  Schlagfertigkeit  der 
Zunge  erblicken;  in  difer  Beziehung  dürfte  ja  doch  die  Zunge  das 
Zäpfchen,  dessen  Functionen  erst  die  neuste  Zeit  richtig  erkannt  hat, 
wol  noch  weit  übertreffen. 

Wir  müssen  nach  allem  fchließlich  Scherer  (z.  Gefch.  d.  d.  Spr.^ 
31)  recht  geben,  wenn  er  Otfrid  bessere  Kentnis  vom  Mechanismus 
des  Sprechens  zufchreibt,  als  etwa  das  gelerte  Deutfchland  des  11.  Jrh. 
fich  gebildet  hatte,  welches  wol  kaum  über  Donat  hinausgekommen  ist, 
und  werden  dem  Dichter  des  Evansfelienbuches,  des  jjrößten  Denkmals 
ahd.  Sprache,  fo  kurz  und  fragmentarifch  feine  Bemerkungen  über  die 
Laute  find,  gern  auch  einen  hervorragenden  Platz  an  der  Spitze  der 
Gefchlchte  der  deutfchen  Phonetik  einräumen. 


Einige  Bemerkungen      *  i 

Über  den  Unterricht  in  der  englischen  Grammatik 

aDgelcniipft 

an  den  „Lehrgang  der  englischen  Sprache"  von  Deutschbein. 

V^on  Hermann  Isaac. 


Dafs  die  Grammatik  von  Deutschbein*  sich  grofser  Beliebtheit 
erfreut,  beweist  die  Zahl  der  Auflagen,  die  sie  im  Laufe  eines  neunjähri- 
gen Bestehens  erlebt  hat ;  und  diese  Vorliebe  ist  allerdings  eine  berech- 
tigte. Der  Herr  Verfasser  hat  es  sich  angelegen  sein  lassen,  durch 
unablässige,  verbessernde  Arbeit  seine  Grammatik  zu  einem  äufserst 
praktischen  Schulbuche  zu  machen,  das  dennoch  diejenige  Wis- 
senschaftlichkeit,  wie  sie  für  höhere  Knabenschulen  erlaubt  und 
erforderlich  ist,  nicht  vermissen  läfst. 

Als  ein  Vorzug  nach  der  letzteren  Seite  hin,  der  den  meisten  eng- 
lischen Grammatiken  abgeht,  ist  die  Verwertung  der  Resultate  der  laut- 
physiologischen Forschungen  zu  bezeichnen,  die  einerseits  in  einer  ein- 
leitenden Abhandlung  zusammengestellt  sind,  andererseits  in  den  vor- 
trefflichen Lautbeschreibungen  der  ersten  Lektionen  zur  Geltung  kom- 
men. Der  viel  beklagte  Mifsstand  der  Aussprache  des  Englischen  auf 
unseren  Schulen  kann  nur  gehoben  werden  auf  dem  Wege  wissenschaft- 
licher Vertiefung  in  die  Gesetze  der  Lautbildung.  Und  da  nun  vor- 
aussichtlich nicht  alle  Lehrer  eins  oder  das  andere  der  hervorragenden 
Werke  auf  diesem  neuangebauten  Gebiete  —  EUis,  Sweet,  Sievers, 
Vietor  —  zum  Gegenstande  privaten  Studiums  machen  werden,   so  ist 


*  Theoretisch-praktischer  Lehrgang  der  englischen  Sprache  mit  genü- 
gender Berücksichtigung  der  Aussprache  für  höhere  Schulen.  Achte  ver- 
besserte Doppelauflage.     Köth^n  (O.  Schulze),  1884.  —  8.  XX  u.  440  S. 


Kl      Einige  Bemerkungen  über  den  Untei rieht  in  der  engl.  Grammatik. 

die  erwjilinle  .Vbliuiidlimg,  welche  nicht  für  Anfanger,  sondern  für  die 
Lehrer  und  auch  wohl  für  die  Schüler  der  obersten  Stufe  berechnet  ist, 
ein  verdienstliches  Werk.  Ebenso  anerkennenswert  ist  es,  dafs  der 
Verfasser  fortgesetzt  auf  analoge  Erscheinungen  der  deutschen  und 
französischen  Grammatik  aufmerksam  macht  und  an  geeigneten  Stellen 
- —  z.  B.  bei  der  das  Particip  und  das  Verbalsubstantiv  zugleich  ver- 
tretenden Form  —  auch  den  älteren  Sprachstand  zu  kurzen,  sachlichen 
Erklärungen  heranzieht. 

I  Der  Verfasser  einer  Schulgramniatik  mufs  aber  nicht  blofs  Philo- 
loge, sondein  auch  praktischer  Schulmann  sein;  und  als  solcher  bewährt 
sich  Deutschbein  in  der  wohldurchdachten,  methodischen  Verteilung  des 
Lernstoffes  und  in  der  klaren,  logisch  knappen  Fassung  der  Regeln  ; 
grammatische  Abhandlungen,  die  das  bekannte  Mühlrad  in  den  Köpfen 
der  Schüler  in  Bewegung  zu  setzen  pflegen,  kommen  in  diesem  Lehr- 
buche nicht  vor.  Der  Stoff  ist  auf  vier  Jahreskurse  verteilt:  auf  den 
ersten  (Abschnitt  1,  2)  fällt  die  Einübung  der  Aussprache,  der  elemen- 
taren Formenlehre  und  der  zur  Satzbildung  unentbehrlichsten  syntakti- 
schen Verhältnisse,  auf  den  zweiten  (Abschnitt  3,  4)  die  vollständige 
Formenlehre,  auf  den  dritten  (Abschnitt  5,  6)  die  Syntax ;  der  vierte 
ist  ein  Repetitions- Kursus  mit  vorzugsweise  zusammenhängenden 
Übungsstücken,  in  dem  die  früheren  Abschnitte  eine  Reihe  von  gram- 
matischen Erweiterungen  erfahren. 

Die  Aussprache  wird,  wie  es  sich  gehört,  in  einer  Reihe  von 
einfachen  Reseln  neben  der  Formenlehre  bis  zur  vierzehnten  Lektion 
behandelt;  die  Bezeichnung  derselben  erfolgt  durch  Zeichen  über  und 
unter  den  Vokalen  (- -  - .  ..  "')  und  Schrägstellung  der  stummen  Buch- 
staben. Daneben  werden  eine  Anzahl  von  orthographischen 
Regeln  seireben,  die  den  Anfän<rer  vor  manchen  überflüssi;ren  Fehlern 
bewahren.  Nach  der  17.  Lektion  (d.  h.  nach  einem  Semester)  ist  der 
Schüler  weit  «zenu";  fortjreschritten,  um  mit  der  Lektüre  leichter,  zu- 
sammenhängender  Stücke  zu  beginnen;  das  dem  Lehrbuch  angehängte 
Lesebuch  ist  für  die  Bedürfnisse  des  ersten  Jahres  vollkommen  aus- 
reichend. Die  Übungssätze,  in  denen  auch  die  Umgangssprache 
zur  Geltung  kommt,  sind  anfangs  sehr  einfach,  steigen  aber  hinsicht- 
lich ihrer  grammatischen  Schwierigkeit  wie  ihres  Gehalts  in  angemes- 
sener Stufenfolge  empor;  erwähnenswert  sind  die  den  Übungsstücken 
angehängten  Sprichwörter  und  Dichterstellen.  Repetitionsstücke 
sind  zahlreich  eingeschoben,  und  am  Ende  der  Abschnitte  hat  der  Ver- 


Einige  Bemerkungen  über  den  Unterricht  in  der  engl.  Grammatik. 


87 


fa>ser  zum  Zwecke  grammatischer  Rcpctition  eine  groi'se  Anzahl  von 
Sätzen,  in  denen  die  behandelten  Regeln  in  prägnanter  "Weise  zur  Dar- 
stellung gelangen,  zusammengestellt. 

Im  besonderen  ist  lobend  hervorzuheben  die  Behandlung  der  un- 
regelmäfsigen  Verba,  welche  ihrer  grofsen  Wichtigkeit  ent- 
sprechend in  zwölf  Lektionen  verarbeitet  werden.  Ihre  Einteilung  ist 
die  von  der  Sprachwissenschaft  geforderte,  in  schwache  und  starke, 
welche  letzteren  nach  der  Art  ihres  Ablautes  geordnet  werden;  jedem 
Verbum  ist  eine  kleine  Sammlung  von  Redensarten  beigegeben.  Ein 
vortreffliches  phraseologisches  Material  bietet  der  Abschnitt  über  die 
Präpositionen.  Die  Regeln  über  die  Satzstellung  gründen  sich 
auf  die  bedeutende  Arbeit  von  Verron  und  meine  Besprechung  dersel- 
ben (Herrigs  Archiv  LXVII,  213—232).  Den  Vokabeln  sind 
sehr  häufig  kurze  synonymische  Bemerkungen  zugesetzt,  und  das 
deutsch -enijlische  Lexikon  unterscheidet  sich  von  den  mir  be- 
kannten  dieser  Art  dadurch ,  dafs  es  bei  verschiedenen  englischen 
Übersetzuniien  einer  deutschen  Vokabel  immer  mit  weni^^en  Worten 
den  Unterschied  des  Gebrauches  klar  macht.  So  ist  die  Gram- 
matik nach  allen  Richtungen  bemüht,  dem  Schüler  das  Lernen,  dem 
Lehrer  das  Unterrichten  zu  erleichtern;  niemals  bietet  sie  —  z.  B.  in 
den  zu  lernenden  Wortreihen,  in  denen  manche  Grammatiken  geradezu 
Vollständigkeit  anstreben  —  dem  Schüler  zu  viel,  eher  an  einzelnen 
Stellen  zu  wenig.  Sie  verlangt  nirgends  von  dem  Lehrer  etwas  Unbil- 
liges —  etwa  wie  Plötz,  aus  dem  sich  jener  durch  methodische  Neu- 
ordnung des  Stoffes,  durch  Umarbeitung  ganzer  Kapitel,  logische 
Fornuilierung  zahlloser  nicht  durchdachter  Regeln  erst  eine  neue 
Grammatik  schaffen  mufs,  wenn  er  nicht  Lust  und  Streben  des 
Schülers  in  dem  Ciiaos  eines  derartig  präparierten  Lernstoffes  versinken 
sehen  will. 

Jede  gute  Grammatik  bietet  jedem  Recensenten  immer  noch  eine 
Reihe  von  Einzelheiten,  die  er  verbesserungsbedürftig  findet,  und  es 
lassen  sich  dann  leicht  einige  Seiten  füllen  mit  solchen  Ausstellungen 
im  Kleinen.  Aber  es  scheint  doch  zweifelhaft,  ob  man  einem  guten 
Buche  damit  einen  Dienst  erweist,  und  jedenfalls  vorzuziehen,  dafs 
man  diese  kleinen  —  mitunter  nur  vermeintlichen  —  Korrekturen 
direkt  an  die  Adresse  des  Verfassers  richtet.  Im  vorliegenden  Falle 
soll  nur  auf  einige  wichtigere  Punkte,  deren  Behandlung  keineswegs 
bei  Deutschbein   allein,   sondern  im   allgemeinen   in   methodischer  oder 


88     Einige  Bemerkungen  über  den  Unterrielit  in  der  engl.  Grammatik. 

wissenscliaftHclier  Beziehung   noch  zu  wünschen  übrig  läfst,   aufmerk- 
sam gemacht  werden. 

Ililfszeitiuörter,     Der  Unterschied  von  can  und  maij   (S.  70)  wird 
meistens  dahin   bestimmt,   dafs   das,  erstere   die   physische,   das  letztere 
die  moralische  und  logische  Möglichkeit  ausdrücke  (Deutschbein  bedient 
sich  deutscher  Worte).     Der  Schritt  von  dem  Wissen  dieser  eine  gewisse 
philosophische  Bildung   voraussetzenden  Regel   zu   ihrer  richtigen  An- 
wendung ist  aber  nach  meiner  Erfahrung  nicht  für   alle  Schüler  gleich 
leicht;   die  meisten   bedürfen   einer   praktischeren  Handhabe,   die  ihnen 
etwa  in  folgender  Gestalt  geboten  w^erden  könnte:    Ich   kann  =  ich 
bin  im   stände   I   can,   =r  ich   darf  I   may   =::es   ist    denkbar 
dafs   ich...    I  may.  —  Dafs   to    clo   (S.  204)    auch    in    affirmativen 
Sätzen    zur    Hervorhebung    des   Verbalbegriffes   gebraucht  wird,   wird 
kaum    von   einer   Grammatik    übersehen ;    dafs   es    aber    in    negativen 
Sätzen    fortbleibt,    wenn   der  Ton   auf   der  Negation   ruht,    steht  nicht 
überall:  I  did  not  say  so  heifst  „das  sagte  ich  nicht",  „das  sagte  ich 
nicht"  (frz.  ne  —  point)  heifst  I  said  not  so.  —  Für  das  Verbum  lassen 
im    Sinne    von   „veranlassen"    die   verschiedenen   Ausdrucksweisen  — 
cause,  Order,  bid,  make,   have  oder   get  mit  Part.  —  blofs  anzugeben, 
ist  nicht  ausreichend.     Die  gröfste  Schwierigkeit  macht   den  Schülern 
die  richtige    Verwendung    von   make,   das   sie   mit   der   viel   gröfseren 
Feiheit  des  frz.  faire  zu  behandeln  pflegen,  und  have,  die  sich  in  ihrem 
Gebrauche  gefjenseitis:  ausschliefsen.     ..Ich   licfs   ihn    eintreten"   kann 
nur  heifsen  I  made   him  enter   (I  had  him   [besser  his   name]   entered 
könnte  höchstens  den  Sinn  haben  „ich  liefs  ihn  eintragen  in  irgend  eine 
Liste").     „Ich  liefs   meine  Stiefel   putzen"   kann   nicht  mit   make   ge- 
geben werden,  sondern  nur  mit  I  had  my  boots  cleaned.   Have  kann  nur 
gebraucht  werden,  wenn   in  dem  von  „veranlassen"   abhängigen   Satze 
mit  „dafs"  eine  passive  Verbalform,  make  nur,  wenn  darin  eine  aktive 
Verbalform   vorkommt:    ich  veranlafste,   dafs   er   eintrat;  ich  veran- 
lafste,  dafs  meine  Stiefel  geputzt   wurden.    Bid   schliefst  sich  dem 
Gebrauche  von   make  vollkommen  an,   nur  dafs  bei  ihm  wie  bei  order 
ein  wirklicher  Befehl  vorausgesetzt  wird.     Bei  order  und  cause  kommt 
es  auf  die  Beschaffenheit  des  abhängigen  Satzes  —  ob  aktiv  oder  pas- 
siv —  nicht  an:   I  caused,   ordered   him   to   enter;  I  (caused)   ordered 
my  boots  to  be  cleaned. 

Der  Gebrauch  des  eigentlichen  englischen  ä'o//;m?21;/ü5  (S.  211),  der 
bekanntlich    nur  in  der  3.  Sing.  Präs.  und   im  Präs.  und  Impcrf.   von 


Einige  Bemerkungen  über  den  Unterricht  in  der  engl.  Grammatik.      S9 

to  be  besondere  Formen  hat,  ist  im  Vergleich  zu  früherer  Zeit  (z.  B. 
bei  Shiiksperc)  ein  sehr  beschränkter  geworden.  Er  wird  heute  vorzugs- 
weise durch  Umschreibung  mit  Hilfszeitwörtern  gebildet;  und  die  rich- 
tige Verwendung  der  konjunktivischen  Hilfszeitwörter  je  nach  den  ver- 
schiedenen Satzarten  ist  eine  Schwierigkeit  der  englischen  Syntax,  die 
sich  mit  dem  Gebrauch  des  Konjunktivs  und  des  Optativs  im  Griechi- 
schen messen  kann.  Am  schwieri"^sten  ist  die  Unterscheidung  des 
Gebrauchs  von  shall  und  should,  je  nachdem  im  Hauptsatze  eine  per- 
sönliche Zeit  oder  ein  Präteritum  steht,  und  von  should  allein  für 
Gegenwart  und  Vergangenheit;  und  es  wird  sich  schwerlich  auf  diesem 
Gebiete  eine  hinreichende  Klarheit  erzielen  lassen,  ohne  dafs  die  Satz- 
lehre herangezogen  wird  —  wie  es  auch  in  einigen  Grammatiken  ge- 
schehen ist.  Demgemäfs  —  die  folgenden  Angaben  wollen  den  Gegen- 
stand nicht  erschöpfen  —  wird  der  Konjunktiv  in  Subjektsätzen 
nach  unpersönlichen  Ausdrücken  gegeben  durch  should  allein  (nach 
einzelnen  it  is  possible  etc.  durch  may  und  might);  in  Objekt- 
sätzen nach  Verben  des  Wünschens,  HofFens,  Bittons,  Befehlens 
durch  may  und  might,  will  und  would,  nach  den  letzteren  na- 
türlich auch  durch  shall  und  should;  nach  den  Verben  des  Sasrens 
und  Denkens  und  der  Geraütsempfindung  durch  should  allein,  nach 
den  Verben  des  Fürchtens  durch  may  und  might  nach  that,  durch 
should  allein  nachlest;  in  Relativsätzen  durch  shall  und 
should  (drücken  sie  eine  Absicht  aus,  durch  may  und  might);  in 
solchen  Temporalsätzen,  die  sich  auf  eine  noch  ungewisse  Zu- 
kunft beziehen,  shall  und  should;  in  Konsekutivsätzen  durch 
shall  und  should;  in  Konditionalsätzen  durch  should 
(shall  selten)  und  to  be  mit  präpositionalem  Infinitiv;  in  Kon- 
zessivsätzen durch  may  und  might;  in  Finalsätzen  durch 
may  und  might,  nach  lest  durch  should.  Dafs  neben  dieser,  wie 
ich  glaube,  gebräuchlichsten  Verwendung  der  konjunktivischen 
Hilfszeitwörter  zahlreiche  Abweichungen  in  der  modernen  Litteratur 
vorkommen,  ist  dem  Kundigen  bekannt.  Über  die  wesentlichen  Fra- 
gen, wann  der  Konjunktiv  gebraucht  werden  mufs  oder  nur  kann, 
wann  der  einfache  Konjunktiv  heute  noch  statthaft  und  modern  ist, 
wann  der  umschriebene  eintreten  mufs,  ja  über  den  ganzen  Ge- 
brauch der  Hilfszeitwörter  in  Haupt-  und  Nebensätzen  herrscht  noch 
grofse  Unklarheit,  die  nicht  eher  gehoben  werden  wird,  bis  endlich 
die   für   exakten   englischen   Sprachunterricht    unerläfsliche    Specialfor- 


f'O     Einige  Bemerkungen  über  den  Untcrrielit  in  der  engl.  Granimaiik. 

schung  über  die  Iicutigen  cnglisebtin  Hilfszeitwörter  vorliegen  wird.* 
Vielleieht  dürfen  wir  gründliche  Helchrung  von  dem  Miirraysehcn 
Lexikon  erwarten,  wie  ja  auch  das  ausgezeichnete  Shakespeare-Lexikon 
von  AI.  Schmidt  den  Gebrauch  der  Hilfszeitwörter  bei  Shakespeare 
erschöpfend  bestimmt  hat. 

Gebrauch  des  persönlichen  Fürtvortes  im  Engli- 
schen für  das  refle.vive  im  Deutschen  (S.  92).  Einzelne 
Grammatiken  geben  die  grundfalsche  Kegel,  dafs  nach  Präpositionen 
das  [>ersönliche  und  nicht  das  reflexive  Fürwort  zu  setzen  ist.  Es 
liandelt  sich  für  den  Anfanger  gerade  um  die  Entsclieidung  der  schwie- 
rigen Frage,  wann  er  nach  Präpositionen  das  reflexive,  wann  das 
persönliche  zu  setzen  hat.  Meistenteils  finden  wir  die  Regel,  dafs  nach 
Präpositionen  das  reflexive  Pronomen  gebraucht  wird,  wenn  dieses,  das 
persönliche,  wenn  die  Präposition  betont  ist  (sobald  in  dem  letzteren 
Falle  kein  Mifsvcrstandnis  entsteht):  he  thought  of  himself  er  dachte 
an  sich;  he  took  the  child  wM*th  him  er  nahm  das  Kind  mit  (sich); 
so  he  spokc  to  himself  so  sprach  er  bei  sich  (hier  ist  weder  to  noch 
himself  betont,  aber  to  him  würde  auf  eine  andere  Person  hinweisen). 
Zur  Not  kann  man  mit  dieser  Regel  auskommen;  aber  leicht  zu  hand- 
haben ist  sie  nicht,  und  auf  welchem  wissenschaftlichen  Grunde  ruht 
sie  ?  Die  einfachen  Objekts-Akkusative  (sich  verteidigen  etc.)  sind  alle 
nicht  betont  und  werden  doch  alle  mit  -seif  geireben.  —  Mit  Hilfe  der 
Satzlehre  kanu  man  das  Verhältnis  sehr  kurz  und  unzweideutig  be- 
zeichnen :  In  adverbialen  Bestimmungen  steht  das  per- 
sönliche Fürwort  für  das  reflexive.  Die  Verba  „denken, 
sprechen,  sich  verlassen'*  fordern  als  notwendige  Ergänzungen  die 
Präpositionen  ,,an,  zu,  auf*';  die  vom  Ycrbum  notwendig  geforderte 
Ergänzung  ist  aber  ein  Objekt,  daher:  he  thought  of  himself.  he  spoke 
to  himself,  he  relied  on  himself.  Die  Verben  „nehmen,  schliefsen" 
erfordern  jedoch  durchaus  nicht  die  Präpositionen  ..njit,  hinter",  die 
?>iränzuniren  ..mit  sich,  hinter  sich"  sind  also  adverbiale  Bestimuiun- 
gen;  daher:  he  took  the  child  wiih  him,  he  shut  the  door  bchind  him. 
—  Die  Erklärung  dieses  Gebrauches  giebt  die  Sprachgeschichte:  noch 
bei  Shakspere   und   im  17.  Jahrhundert    werden  die  reflexiven  Objekts- 


*  Über  den  Gebrauch  des  Konjunktivs  giebt  rs  eine  Schrift  von  Gavin 
Hamilton  (The  True  Theory   of  the  feubjunctive.     Edinb.  I«b4),    die  mir 


bisher  ni'  ht  zugänglich  g«.*wesen  ist. 


Einige  Bemerkungen  über  den  Uiiterrieht  in  der  engl.  Grammatik.      Ol 

AkkiKsative  ebensowohl  durch  das  pers()nliche  Fürwort  wie  durch 
-seif  gegeben ;  seit  jener  Zeit  haben  nun  die  Kompositionen  mit  -seif 
das  Gebiet  der  Objekte  definitiv  erobert,*  in  das  Gebiet  der  adverbialen 
Bestimmungen  sind  sie  nur  S[)oradiseh  eingedrungen;  vielleicht  wird  es 
ihnen  später  einmal  auch  gehören,  wie  das  deutsche  „sich"  das  früher 
gebranchte  persönliche  Fürwort  ebenfalls  daraus  verdrängt  hat.  Die 
obige  Regel  hat  nämlich  Ausnahmen :  es  giebt  einzelne  adverbiale  Be- 
stimmungen, in  denen  das  Reflexivum  allein  üblich  ist:  by  one's  seif 
für  sich,  abseits,  beiseite;  in  one's  seif  an  und  für  sich;  between  our- 
selves  unter  uns;  she  was  beside  herseif  with  awe;  he  thought  within 
himsclf;  und  nach  den  Präpositionen  for  (vorzugsweise),  on  und  to 
wird  es  gern  gebraucht:  so  findet  sich  bei  Macaulav  die  Zweckbestim- 
mung  nach  den  Verben  build,  choose,  claini,  earn,  establish,  findj  form, 
gain,  keep,  obtain,  prepare,  procure,  provide,  reservc,  say,  secure,  select, 
shift,  trace,  win,  write  durch  das  Reflexivum  (for  one'.s  seif)  gegeben ; 
ebenso  die  Ortsbestimmung  mit  on  (on  one's  seif)  nach  bring,  draw, 
invoke,  lay,  picture,  put,  take ;  die  Zweck-  oder  Ortsbestimmung  mit  to 
(to  one's  seif)  nach  bring  back,  draw,  havc,  keep,  read  (to  one's  seif 
für  sich  haben,  behalten,  lesen),  reserve  (to  neben  for  s.  oben),  take; 
und  nach  for  und  in  einigen  Wendungen  mit  to  ist  das  Reflexivum 
entschieden  gebräuchlicher  als  das  Personale.  Ja,  es  finden  sich  sogar 
Konstruktionen  in  Macaulay  wie  contain  within  one's  seif,  collect 
round,  disguise  from,  encourage  in  one's  seif  (a  disposition),  portion 
out  a  m  0  n  g,  raise,  rouse  a  g  a  i  n  s  t ,  say  a  b  o  u  t  one's  seif.  Look  at, 
on  one's  seif,  inflict  a  w^ound  on  one's  seif,  take  care  of  one  s  seif, 
want  to  one's  seif  dagegen  fallen  unter  die  Regel;  die  Ergänzungen 
sind  hier  Objekte.  (Über  den  Gebrauch  der  reflexiven  Verba  bei  Ma- 
caulay siehe  die  vortreffliche  Arbeit  von  Dr.  E.  Beckmann.  Herrigs 
Archiv  LIX  205-239.) 

Die  Genitive  des  Relativ-Pronomens  ivhose,  of  whom.  of  ivhich 
(S.  195)  wird  der  Schüler  niemals  besser  unterscheiden  lernen,  als 
wenn  er  über  die  grammatischen  Begriffe  des  subjektiven  (oder  possessi- 
ven), des  objektiven  und  des  partitiven  Genitivs  verfügt.  Der  subjek- 
tive Genitiv  wird  ausgedrückt  durch  whose,  w^enn  er  eine  Person,  durch 
of  which    (whose),   wenn  er  eine  Sache  bezeichnet.     Der   objektive  und 


*  Die  Dichter  selbst   dieses   Jahrhunderts   machen    eine   Ausnahme:  bi-i 
ihnen  finden  sich  die  Personalia  picht  selten  für  die  Reflexiva  gebraucht. 


02      Einige  Bemerkungen  über  den  Unterricht  in  der  engl.  Grammatik. 

der  partitivc  Genitiv  werden  gegeben  durch  of  wliom,  of  which.  Auch 
für  die  Stellung  der  Genitive  ist  die  Kenntnis  dieser  Begriffe  insofern 
wiciitig,  als  der  partitive  Genitiv  (of  whom,  of  which)  dem  unbe- 
stimmten Fürwort,  Zahlwort,  Superlativ,  von  dem  er  abhängt,  nach- 
treten  mufs.  (Die  ausführliche  Regel  hierüber  nach  Verron  s.  Archiv 
LXVII,  216.) 

Dafs  any  (S.  93)  in  fragenden,  verneinten,  bedingten  Sätzen  steht, 
wird  ebenso  regelmäfsig  angegeben,  wie  die  vergleichenden  Sätze  mit 
US,  than  übergangen  werden.  In  einigen  Grammatiken  fehlt  eine  An- 
gabe über  den  Gebrauch  von  any  in  affirmativen  Sätzen,  in  denen  es 
eine  Verstärkung  von  every,  ein  betontes  „jeder"  ist;  es  sollte  daher 
unter  den  verschiedenen  Ausdrücken  für  „jeder"  nicht  fehlen : 

either  each  every  any 

(von  zweien)       (von  einer  beschränkten       (kollektiv)       (Verstärkung  von 

Anzahl)  every) 

ebenso  entsprechen  sich ; 

every  one     every  body     everything)    ^^       everywhcre)   -i     ,  ii  — 

any  one        any  body        anything    \  anyvvliere     \         '         anyhow  (auf 

jede  Art). 

Zu  den  Ausdrücken,  welche  „kein"  bedeuten,  gehört  auch  not  any: 

neither  none  (nur  substantivisch)         no  (etc.)  not  any 

(von  zweien)         (von  beschränkter  Anzahl)       (kollektiv)       (Verstärkung 

von  no  und  none); 

in  demselben  Verhältnis  stehen 

no  none  nobody  nothing  nowhere 

not  any  one       not  any  body       not  anything      not  anywherc. 

Unter  den  Regeln  über  die  Pluralhüdiuig  (S.  172)  machen  in  der 
Schule  diejenigen  die  gröfsten  Schwierigkeiten,  welche  von  den  Sub- 
stantiven ohne  besondere  Pluralform  oder  mit  doppelter  Pluralform, 
sowie  von  den  nur  im  Singular  oder  im  Plural  vorkommenden  Sub- 
stantiven handeln.  Gewöhnlich  werden  diese  Regeln  in  ein  Dutzend 
Paragraphen  verteilt  und  lassen  jene  übersichtliche  Zusammenordnung 
vermissen,  welche  aus  dem  scheinbar  Vielgestaltigen  ein  leicht  über- 
sehbares Weniges  zu  schaffen  im  stände  ist.  So  z.  B.  finde  ich  nir- 
gendwo die  doppelten  Pluralformen  von  Englishman  etc.  und  hair  etc. 
zusammengestellt,  die  doch  hinsichtlich  ihres  Gebrauches  demselben 
Gesetze  folgen.     Ich  möchte  folgende  Ordnung  vorschlagen; 

1)  Eine  doppelte  Pluralform  haben,  je  nachdem  sie  von 
Einzelwesen  oder  kollektiv  gebraucht  werden  : 


Einige  Bemerkungen  über  den  Unterricht  In  der  engl.  Grammatik.      93 

an  Englishman  some  Englishmen  the  English 

(ebenso  Scotchman,  Lishman,  Welshman,  Frenchman,  Dutchman) 
a  hair  some  hairs  my  hair 

„  fruit  „       fruits  fruit 

„  fowl  „      fowls  fowl 

„  fish  „       fishes  fish 

(ebenso  die  meisten  Fiseharten). 

(Bemerkungen  über  die  Bedeutung  von  fruit?,  über  die  Neben- 
formen von  Scotchman  etc.  sind  hinzuzufügen.) 

2)  Nur  als  Singularia  werden  gebraucht  —  das  V e r b u  m 
folgt  im  S  i  n  g  u  1  a  r  : 

advice  (Ratschläge)      merchandise  (Waren)       income  (Einkünfte) 
knowledge  (Kenntnisse)  business  (Geschäfte)     property  (Besitztümer) 
progress  (Fortschritte)       strength  (Kräfte). 

(Eine  Bemerkung  über  die  Plurale  progresses,  properties  ist  viel- 
leicht hinzuzufügen.) 

3)  Nur  als  Pluralia  werden  gebraucht  —  das  V  e  r  b  u  m  folgt 
im  Plural  —  die  Singularformen : 

people  Leute  (People  Volk  —  besonders  im  Gegensatz  zu  den  herr- 
schenden Klassen  —   hat   den  Plural    peoples,   der   aber   weniger 
gebräuchlich  ist  als  nations), 
cattle     (ein  Stück  Vieh  a  head  of  cattle), 
swine     (ein  Schwein  a  pig  [bog]). 

(Das  letzte  Wort  findet  sich  gewöhnlich  mit  deer  und  sheep  in 
den  Grammatiken  verbunden,  selbst  in  solchen,  die  seine  Ungebräuch- 
lichkeit  im  Singular  konstatieren.) 

4)  Im  Singular  und  Plural  dieselbe  Form  haben  —  das 
Verb  um  folgt  im  Singular  oder  Plural: 

a)  Die  Volke rnamen  auf  -ese  und  Swiss. 

b)  Die  Tiere  deer  und  sheep. 

c)  Die  Mafs begriffe  head,  couple,  pair,  dozen,  score,  groce, 
fathom. 

(Brace,  hogshead,  stone,  quire,  reara  dürften,  da  sie  in  der  Schule 
wenig  vorkommen,  überflüssig  sein.) 

d)  Die  militärischen  Ausdrücke:  horse,  foot,  sail  (Schiff), 
cannon,  gun,  shot. 

e)  Die  Pluralformen  means,  news,  alms. 

An  diese  letzteren   dürfte^  sich   am   natürlichsten   die  Wissen- 


&4     Einige  Bemerkungen  über  den  L'ntcrrlclit  in  der  engl.  Grammatik. 

schuften  auf  -ics  anscliliefsen,  die  ja  heute  auch  vielfach  als  Sin- 
giilaria  gebraucht  werden.  Dann  würden  die  aus  zwei  gleichen  Teilen 
bestehenden  Gegenstände  folgen:  spectacles  etc.  und  schliefslich  die 
allers^ebräuchlichsten  Pluralia  tantum. 

Es  ist  eine  Erfahrung,  die  mit  mir  wohl  alle  Lehrer  des  Englischen 
gemacht  haben  werden,  dafs  die  Schüler  von  vornherein  geneigt  sind, 
die  englische  Apposition,  wie  die  französische,  ohne  Artikel  zu  gebrau- 
chen. Es  ist  daher  ratsam,  sich  nicht,  wie  viele  Grammatiken  (S.  162) 
ihun,  mit  einer  Regel  über  den  Ausfall  des  Artikels  bei  Titeln  etc.  zu 
begnügen,  sondern  das  Hauptgesetz  hinzustellen :  „die  englische 
Apposition  hat  den  Artikel",  dann  als  Beschränkung  hinzuzu- 
fügen :  „der  Artikel  fällt  nur  bei  solchen  Appositionen  aus,  welche 
einen  Titel  oder  einen  Verwandtschaftsgrad  bezeichnen." 

Ausgenommen  sind  die  ausländischen  Titel  czar,  czarina,  emperor, 
empress,  grandduke,  grandduchess,  archduke,  archduchess,  elector,  elec- 
tress  und  princess,  wenn  sie  dem  Namen  vorangehen.  (Prince  folgt 
bekanntlich  der  allgemeinen  Regel.) 

Verschiedene  Grammatiken  geben  noch  als  zweite  Ausnahme  den 
Fall,  wo  der  Name  mit  of  folgt:  the  Earl  of  Essex,  the  Duke  of 
Hereford.  Nun  sind  aber  Essex  und  Hereford  ebensowenig  Personen- 
namen  wie  the  Prince  of  Wales,  the  King  of  Bavaria,  sondern 
Ortsnamen;  es  kann  also  gar  kein  appositives  Verhältnis  von  Earl  zu 
Essex  stattfinden.  Sobald  jedoch  ein  wirklicher  Personennamen  zu  the 
Earl  of  Essex  tritt,  fällt  der  Artikel  natürlich  fort:  Robert,  Earl  of 
Essex ;  Henry,  Prince  of  Wales. 

Bei  der  Präposition  um  (S.  146)  mufs  der  Schüler  notwendig  auf 
den  Unterschied  von  about  und  round  aufmerksam  gemacht  werden: 
he  walked  round  ihe  garden  (um  den  Garten  herum)  und  he  walked 
about  the  garden  (im  Garten  herum).  —  Für  die  Unterscheidung  der 
verschiedenen  Übersetzungen  von  vor  möchte  ich  folgende  Fassung 
vorschlagen : 

vor  —  von  örtlicher  oder  zeitlicher  Reihenfolge  —  before 

—  wenn   von  einem  beliebigen  Zeitpunkt  in 

die  Zukunft  ojerechnet  wird  —  before 

—  wenn  von  einem  beliebigen  Zeitpunkt  in 

die  Vergangenheit  gerechnet  wird  —   ago,  since. 

(Gewöhnlich  findet  man  den  Gebrauch  von  ago   auf  die  Gegenwart  be- 
schränkt:   I   was  in  F^ngland   five  years  ago   „jetzt   vor   fünf  Jahren." 


% 


Einige  ßemerkunrien  über  den  Unterricht  in  der  enfrl.  Grammatik.       95 


Das  ist  nicht  richtig:  man  kann  mit  ago  sehr  wohl  von  einem  Zeit- 
punkte der  Vergangenheit  in  die  fernere  Vergangenheit  zurückrechnen.) 
Sobald  erröfsere  Wortreihen  anfjefiihrt  werden,  scheint  es  mir  nn- 
erläfslich  für  ein  Schulbuch,  die  Wörter  nicht  zufälh'g,  nicht  alplia- 
betisch,  sondern  nach  der  Bedeutung  zusammenzustellen,  wie  es  in  der 
Grammatik  von  Deutschbein  in  der  That  auch  meist  geschieht.  Für 
die  Verba  jedoch,  welche  abweichend  vom  Deutschen  den  Akkusativ 
regieren  (S.  181),    wäre   meines   Erachtens   eine    übersichtlichere  Ord- 

dieselbe,  wie  wir   sie   in  französischen  Gram- 


nunw  möirlich  «gewesen 

c  c  o 

matiken  häufig  finden : 

\'erba  des  Sagens. 
advise 

answer 
contradict 

jorder 

jcommand 

forbid 

jaliow 

(permit 

eongratulate 
tbank 

flatter 

(menace 

Ithreaten 


\'erba  der  Bewegung.     Beliebige  andere  Vevba. 

precede 
follow 


jmeet 
lencounter 


Jimitate 
lemulate 
Je  quäl 
/resemble 


please 

serve 

obey 

resist 

(brave 

(defy 

assist 
help 

belleve. 


Diese  Ordnung  wird  den  Schülern  zu  klarem  Bewufstsein  bringen, 
dafs  sie  nur  wenige  Verba  zu  denen,  die  sie  aus  dem  Französischen 
bereits  kennen,  hinzuzulernen  haben  und  ihre  Sicherheit  im  Gebrauch 
derselben  ohne  o^rofse  Gedächtnisanstren^uns:  erhöhen.  —  Die  Verba 
doubt  und  repent  (S.  187)  gehören  doch  wohl  besser  zu  den  Verben, 
die  den  Accusativ  oder  den  Genitiv  nach  sich  haben  (S.  234),  wenn 
auch  die  Konstruktion  mit  dem  Genitiv  gewöhnlicher  sein  mag. 

Wendungen  wie  go  a-hunting  (auf  die  Jagd  gehen),  go  a-fishing 
(138)  dürfen  jetzt  aus  unseren  Grammatiken  ausgemerzt  werden,  sie 
sind  veraltet  und  nur  noch  vulgär  (s.  Storni  270  ff.);  man  sagt  go  (out) 
fishing.  Die  Verben  der  Bewegung  go,  be  out,  take  out,  come  (run- 
ning)  sind  also  zusammenzustellen  mit  jenen  anderen  (commence,  cease, 
intend,  deny  etc.),  nach  denen  das  Gerundium  ohne  Präposition  folgen 
kann.  —  Dafs  das  substantivische  Subjekt  des  Gerundiums  nicht 
immer   in    den    sächsischen    Genitiv    verwandelt    wird,    sondern    auch 


96     Einige  Bemerkungen  über  den  Unterricht  in  der  engl.  Grammatik. 

Xoniinailv  bleiben  kann,  wird  von  den  meisten  Grammatiken  erwähnt 
(8.  220);  aber  die  Grenzen  für  diesen  Gebrauch  werden  nicht  gesteckt. 
Giebt  es  keine  oder  sind  sie  auch  nicht  bekannt?  —  Mir  sind  bei  der 
Lektüre  vier  Fälle  aufgefallen,  in  denen  das  Zeichen  des  sächsischen 
Genitivs  fortzubleiben  pflegt:  1)  selbstverständlich,  wenn  es  eine 
Sache  bezeichnet,  2)  wenn  es  einen  Zischlaut  am  Ende  hat  (im  Plural 
z.  B.),  3)  wenn  es  Bestimmungen  bei  sich  hat,  4)  beim  passiven 
Gerundium.  Aber  auch  aufserhalb  dieser  Fälle  findet  sich  der  Nomi- 
nativ statt  des  Genitivs  vor  dem  Gerundium,  kurz  —  non  liquct. 

Es  giebt  eine  im  modernsten  Englisch  ziemlich  häufig  vorkom- 
mende Konstruktion,  die  von  der  Mehrzahl  der  englischen  Gram- 
matiken  gar  nicht  einmal  erwähnt  wird  —  eine  recht  auffallende  Er- 
scheinung, die  deutlich  bew^eist,  dafs  die  Zahl  oder  Unzahl  der  täglich 
erscheinenden  Grammatiken  zu  dem  Umfang  und  der  Tiefe  der  gram- 
matischen Specialforschung  nicht  in  geradem  Verhältnis  steht.  Diese 
Konstruktion  ist  der  Accusativ  mit  dem  Infinitiv  nach  for  (S.  216), 
Er  ist,  wenn  mich  meine  Beobachtung  nicht  täuscht,  im  neuesten 
Englisch  mehr  in  Aufnahme,  als  er  früher,  z.  B.  in  den  Schriften  des 
vorigen  Jahrhunderts  \var.  Vorhanden  ist  er  aber  bereits  bei 
Shakspere;  freilich  kommt  er  dort  nur  ein  paarmal  vor  und  nur 
als  Vertreter  von  Subjektsätzen,  während  er  heute  für  alle  möglichen 
Arten  von  Sätzen  gebraucht  wird.  Am  ausführlichsten  finde  ich  diese 
Konstruktion  bei  Bandow  behandelt,  dessen  Beispiele  den  mannigfiichen 
Gebrauch  derselben  hinlänglich  erläutern.  Ich  selbst  habe  in  den  letz- 
ten Tagen  in  wenigen  Kapiteln  aus  „Silas  Marner"  und  „Romola" 
von  George  Eliot  sieben  Beispiele  gefunden,  die  ich  mir  hinzuzufügen 
erlaube:  (Subjektsätze.)  It  is  easier  for  a  camel  to  go 
thron  gh  a  needle's  eye  than  for  a  rieh  man  to  enter  the  king- 
dom  of  God.  —  How  considerate  it  was  for  San  Francisco  to 
rest  contented  with  so  small  a  portion  of  ihe  wealth.  —  It  is  enough 
for  a  man  to  understand  his  own  business.  —  It's  part  of  my 
punishment  for  my  daughter  to  dislike  me  (Eliot).  —  It  will  be 
to  very  little  purpose  for  you  to  frequent  good  Company,  if  you 
do  not  learn  their  manners  (Deutschbein).  —  (Objektsätze.)  The 
sturdy  boy  longed  for  the  time  to  corae  which  gave  the  ocean 
for  his  home.  —  I  longed  for  John  to  speak  and  teil  me  some- 
thing.  —  I  should  be  very  thankful  for  father  never  to  be  trou- 
bled  with  know^ing  what  was  done  in  the  past  (Eliot).   —  We  shall 


Einige  Bemerkungen  über  den  Untcrriclit  in  der  engl.  Grammatik.     97 

be  glad  for  you  to  stop  as  long  as  you  likc.  —  (Es  ist  gewifs 
nicht  als  Zufall  zu  betrachten,  dass  sich  der  Accusativ  mit  dem  In- 
finitiv nach  for  bei  Verben  der  Gefühlsthätigkeit  und  gerade  bei  solchen? 
die  ein  Objekt  mit  for  verlangen,  findet.)  —  (Attributivsätze.) 
Dombey  is  the  man  for  you  to  choose  asa  friend.  —  He  put  a 
ladder  up  for  m  e  to  get  down  by.  —  Is  this  not  a  stränge  Situation 
for  me  to  be  found  in?  —  Truth  is  a  riddle  for  eyes  and  wit 
to  discover  (=  to  be  discovered  by  eyes)  (Eliot).  —  (Finalsätze.) 
The  hour  was  now  come  for  him  to  awake.  —  The  crocodiles  leave 
iheir  eggs  in  the  sand  for  the  sun  to  hatch  [them?].  —  She  held  the 
door  wide  for  them  to  enter  (Eliot). —  Thy  tongue  can [not]  leave 
off' its  everlasting  chirping  long  enough  for  thy  understanding  to 
consider  the  matter  (Eliot).  —  (Vergleichssatz  nach  too.) 
Her  thoughts  were  too  busily  occupied  with  the  sad  transactions  for 
sleep  to  visit  (als  dafs)  her  pillow.  —  The  Roman  writers  have 
transmitted  some  reports  .  .  .  too  audacious  for  even  themselves 
to  have  believed  [them?].  —  The  heap  of  coins  had  become  too  large 
for  the  iron  pot  to  hold  them.  —  Godfrey's  mind  was  too  füll 
of  his  lot  for  him  to  gi  ve  much  thought  to  Wildfire  (Eliot).  —  Die 
Grenzen  des  Gebrauchs  dieser  Konstruktion  fest  zu  bestimmen,  bin  ich 
ebensowenig  im  stände  wie  die  Grammatiker,  welche  ich  durchsucht 
habe;*  wir  haben  hier  wiederum  ein  interessantes  Gebiet  der  eng- 
lischen Grammatik,  das  der  Specialerforschung  wartet.  Für  die  Schule 
indessen  wird  es  kaum  erforderlich  sein,  in  alle  Verwendungsmöglich- 
keiten einzugehen;  sondern  genügen,  auf  die  häufigst  vorkommenden 
aufmerksam  zu  machen.  Notwendig  ist  die  Konstruktion  zum  Aus- 
druck von  „als  dafs"  nach  too,  wenn  das  Subjekt  des  Ne- 
bensatzes ein  anderes  als  das  des  Hauptsatzes  ist,  übri- 
gens eine  Bedingung,  die,  wie  Deutschbein  richtig  bemerkt,  für  alle 
Fälle  Geltung  hat.  Sehr  gewöhnlich  ist  sie  als  Vertreterin  von  Sub- 
jektsätzen vorzugsweise  nach  unpersönlichen  Ausdrücken 
(it  is  possible  etc.),  häufig  an  Stelle  von  Finalsätzen.  Jeder  Satz 
aber,  dea  sie  vertritt  —  auch  hierin  folge  ich  Deutschbein  —  mufs 
eine  Notw^endi^keit  oder  Möo-lichkeit  ausdrücken,  und  nicht  ein  Faktum ; 
nach  it  is  true,  certain,  probable,  it  happened  wäre  sie  undenkbar. 


*  In  Mätzner  habe  ich  wohl  die  jetzt  veraltete  Konstruktion  von  for 
to  mit  dem  Infinitiv  ausführlich  behandelt  gefunden ;  für  die  vorliegende 
habe  ich  nur  ein,  wie  es  seheint  znfiillig  hineingekommenes  Beispiel  entdeckt. 

Archiv  f.n.  Sprachen.  LXXIII.  7 


98     Einige  IBemerkungcn  über  den  ünterriclit  in  Her  engl.  Grammatik. 

Ich  wiederhole  nochmals,  dafs  die  vorausgehenden  Erörterungen 
sich  nicht  ausschliefslich  gegen  die  Grammatik  von  Deutschbein  wen- 
den sollen  —  sie  könnten  es  doch  nur  zum  Teil  —  sondern  ganz 
objektiv  einzelne  verbesserungsfähige  Seiten  des  grammatischen  Unter- 
richts in  der  englischen  Sprache  bezeichnen.  Ich  schliefse  mit  dem 
Wunsche,  dafs  die  nicht  unbedeutenden  Lücken,  welche  das  Funda- 
ment dieses  Unterrichts  dem  sehenden  Auge  bietet,  durch  eifrige,  viel- 
seitige Detailarbeit  ausgefüllt  werden  mögen.  Denn  es  giebt  keinen 
gröfseren  Feind  eines  wissenschaftlichen,  eines  methodischen  d.  h.  eines 
fruchtbringenden  Unterrichts  als  —  Unklarheit. 


Der  Ebingersche  Vokabularius   1438. 

Von 

Dr.  Renward  Brandstetter. 


II. 

Die   Pflanzen-   und   Tiernamen. 


Abies  etis  tanne  3.  d.  f.  g. 
Abrotanum      gertwurtz     vel     schab- 

wurtz. 
Abrosiana  huswurtz. 
Absintheum  wermuet. 
Accasium  schiebe. 
Accancie  allant. 

Acbantus  hufen  dorn  vel  wasolter. 
Acer  eris  massolter. 
Acera  grund  rebe. 
Accidula  sur  ampber. 
Achileya  =  mille  folium. 
Agaricus  est  quEedam  herba. 
Agacia  schiebe,    agazio  ich  schieben 

brichen. 
Agarica   est  fungus  candidus   et  odi- 

ferus  nocte  lucens. 
Agrestis  =  villikanus   dorfman   aker 

man  vel  qu^dam  herba. 
Agrimonia  queedara  herba. 
Agnus    castus   est   herba    conseruans 

castitatem. 
Albutum  haselwurtz. 
Aleum  knobloch. 
Allia  knoblocb. 
Alica  ein  körn. 

Aloa  est  herba  suauissimi  odoris. 
Algo  vel  .alga  herba  marina. 
Allutum  est  herba  marina. 
Alnus  erle. 
Amarellus  emerze.  . 
Amarillus  amelber  böm. 
Ambrosia  est  herba  perdulcis. 
Amigdalus  mandel  böm. 
Amonis  amenböm. 
Amorusca  gensbluem  vel  eyter  bluem. 


Anisium  enis. 

Appallaria  schafft  höw, 

Appium  ephe. 

Aquilegia  agleige  vel  agrimonie. 

Arbutus  butten  böm  4.  d. 

Asarius  hasel  wurtz. 

Asarabacaria  idem  est. 

Ascalonia  est  herba  sicut  dicta  ab  as- 

calon  ciuitate. 
Accorus  herba  s.  swertel. 
Atriplex  herba  s.  melden. 
Auena  habern. 
Auellannus  hasel  stud. 
Auelianna  hasel  nus  oder  stud. 
Aurisea  masledi  herba  quasdam. 
Ayzon  huswurtz. 
Baleranus  katzen  krut. 
Balausterium  dicitur  centifolium  pul- 

uis  foliorum  eius  sauat  wlnera. 
Barba  iouis  huswurtz. 
Bardana  gröfs  klett. 
Bedula,  bedorgar  brunn  wurtz. 
Bedellium  est  arbor  aromatica. 
Benedicta  bach  miintz. 
Betonica  est  quaadam  herba. 
Betbonia,  betenia  herba. 
Bidellum  brunn  wurtz, 
Bismabia  ibsch. 
Bistorta  müntze. 
Blattulum  schnitloeh. 
Bletra  manglod. 
Boletus  phifferling, 
Borith  est  herba  fullonum  ad  lauan- 

das  vestes. 
Borrago  burrethz. 
Brassamica  brunnwurtz. 

7* 


100 


Der  Eblnffersclie  VokabularluS. 


Brionia  finer  wertz. 

Biijrlossa  ochsen  zunoj  s.  herba. 

Calcaiidida  kürbs. 

Camomilla  giamill  herba. 

Canapns  hanf  vel  hanf  söm. 

CaputHum  kabus. 

Caprifolium  winda. 

Capilhis  vemeris   est  quaedam  herba. 

Carpeus  hagenbuoch. 

Carui,  carium  kümi. 

Cardamus  wilder  kresse. 

Carendula  riugel  bluom. 

Castaneus  kestenböm  vel  pannus  dun- 
kel gräw. 

Caulis  köl. 

Cedus  cederböm. 

Celidonia  schelwurtz  vel  cold  wurtz. 

Centinodia  wagbreiti. 

Centauria  maior  erde  galle. 

Cepa  1 .  d.,  cepe  3.  d.  zubele.  cepa 
mariua  wurmkrut.  cepulacen  zübel 
nuiols.  ceparium  ein  muofs  mit 
zubellen,  cepulatum  ein  muos  mit 
fleisch  vnd  '  pheffer  wurtzen  vnd 
zubellen  gemacbet. 

Cerussus,  cerasus  kirsbom. 

Cicer  is  kiker  erwis. 

Cicuta  wütrich  vel  Schmerling. 

Cidamen  winde. 

Cidonius  kütten  böm. 

Cingus  est  arbor  flexibilis  vel  cingus 
dicitur  schwam. 

Cimium  römsch  kümi. 

Cinoglossa  huntz  zung  talis  herba. 

Cinus  melböm  vel  eschi  böm. 

Cippressus  crippes  böm. 

Ciparis  wilder  galgan. 

Ciprus  merbintz. 

Cirpus  holbintz. 

Citrus  tierli  böm  citrum  tierli. 

Consolida  quedam  herba. 

Concurbita  kürps. 

Cornus  hagen  dorn, 

Coruins  liasel  stud. 

Corriola,  corrigiola  artzme  vel  kratzme 
winde  herba. 

Cordiaurum  est  herba  frigida  scilicet 
coriander  s.  rmgelbluom. 

Corinbus  rebgebli  winda. 

Crassula  basilie. 

Crocum  sallran. 

Cucumer  kurbs  vel  erdöpfel.  cucu- 
marius  kiirbsgart. 

Cucusta  wütrich. 

Draguntea  nater  wurtz. 

Dumus  hurst  hegg  vel  heidelber  vel 
bramber. 


Ebulus,  ebulum  attich. 

FAersL  guot  wurtz  ebhöw. 

Elobrum  album  gemerr  s.  wis  wurtz. 

Elitropa  sunnen  wirbel. 

Enulancampana  alant. 

Emicedo  Brachloch. 

Epatica  leber  krut, 

Epithimum  est  flos  thimi. 

Ericonon  vntzitig  krutt. 

Ernum   vislig   körn  vel  quoddam  le- 

gumen. 
Ernus  wiki  vel  dicitur  ficus. 
Eruca  brachkrut. 
Esula  wolf  milch. 
Esulus  brach  krutt. 
Esculus  nespel  böm. 
Eupatorium  wildi  salbin. 
Faba  bona. 
Fagus  buocha. 

Farrago,  farraga  grüni  gerst. 
Far  weise. 

Fenum  grecum  kriechs  höwe. 
Feniculum  venchel. 
Ficus    figbom   vel   figboms   fruht   vel 

morbus  s.  figwertz. 
Filipendula  herba  s.  meiolan. 
Filix  varn  herba. 
Finecula  =  parua  ficus. 
Fraga  erdber.  P'ragus  erdherstud  vel 

curuatio  pollicis  vel  ipse  pollex. 
Fraxinus     eschkriech.     iraxinium   est 

locus  vbi  crescunt. 
Frambosus  hinber. 
Fu   =   herba    quae    etiam     Valeriana 

dicitur. 
Galbanus  qu^edam  herba. 
Galganum  gallgan.  galanga  galgan. 
Galla  merhirs  vel  eich  öpfel. 
Gallianum  =  gabanus  herba. 
Gamandres  gamandre. 
Gariophilum,  gariophilata,  gariophila- 

trix  gamandre. 
Girasolis  wunder  böm. 
Glans  dis  evchel. 
Gladiolus,  giadiola  schwertel. 
Gleba  turd  vel  kle  vel  erd  scholl. 
Glissidis  herba  s.  bethenie. 
Glos  ful  holtz  bruoder  wip  bluom. 
Granum  solis  gich  körn. 
Herebitus  erbselböm. 
lacinctus  flos  s.  gleige. 
Ibiscus  est  genus  virgulti  quod  vtitur 

pro  flagello. 
Tris  refrenboo;  glevsre. 
luniperus  rekolter. 
luncus  semd  vel  bintz. 
lusquianum  pulsen  talis  herba. 


Der  Ebinoersclie  Vokabularius. 


101 


L.iblcium  io?sl)uob  vel  blacbte. 
Labrusca  tistel  vel  haf»  rcb  vel  nah- 
tjchatt  vel  vuzitig  fruht  vitis  agrestis. 
Laotiica  latocb.  lactoca  arcestis  vvil- 
der  lattich. 

Lanceo  rippe  qiueJam  berba. 

Lanugo  tütenkolb  vel  nuwer  bart 
vel  flos  cerbuli  qui  postquam  ex- 
siccatus  est  leui  flatu  l'ertur  in 
aerem. 

Lappa  klette. 

Lapacium,  blachte  sed  credo  dici  la- 
bicium. 

Laurus  lorbon. 

Laureola  zilant. 

Lauribacca  lorbona. 

Lauendula  lauendel  vel  ringel  bluom. 

Lens  lentis  linsi. 

Lenticula  öluas  vel  clein  linsi  vel  est 
diniinutum  a  lens  tis. 

Lentiscus  kriet-bböm  vel  melböni. 

Libisticuni  lubstek  qua3dam  herba. 

Lilium  lye  est  lactei  coloris  vel 
Stengel. 

LinuDi  flachs  vel  viluin  vel  rethe. 

Lii2;wa  canis  huntz  zung  quiedam 
herba. 

Ligwa  ceruina  hirtzung  talis  herba. 

Liquaricia  süses  holtz. 

Lupinus  Wölfin  genus  leguminis. 

Lupulus  hophe. 

Lut'jm  prima  producta  est  rubeus  flos. 

Macis  muscat  bluem. 

Macracen  venchel. 

Macropiper  est  longum  piper. 

Maguderis  köl  dorse. 

Malua  papel  quedam  herba. 

Malomellum  maltz  öpfel. 

Malum  terre  eröpfel. 

Mandragora  alruna  vel  erd  öpfel 
herbu  habens  poma. 

iMastix  weid  vel  berchtram. 

Medica  est  quoddam  genus  legu- 
minis quod  quum  semel  seritur 
decem  annis  permanet  vel  est  arbor 
que  alio  nomine  dicitur  citrus. 

Mel  siuestre  sunt  folia  in  deserto 
lata  rotunda  lactei  coloris  et  mel- 
litum  saporem  habentia. 

Melanpiper  lang  pheffer. 

Mellilotum  himel  schlüssel. 

Melotum  wilder  kle. 

jMempheus  grensing. 

Menta  müntz  scilicet  herba. 

Mercularis  hopfe. 

Migra  vngestampti  gerst. 

Migma  est  ordeum  cum  palea  munita. 


Millefollium  gerwel  herba  quaedam. 
Millemorbium  truoswurtz. 
Mirifica  birche. 

jMirra  e  est  arbor  vel  gumi  eiusdem. 
Mirtis     mirtelböm     vel     stund     krut 

scilicet  herba. 
Molusca  dicitur  nux  castanea. 
Morus  mulböm. 
Moradium  heydeber. 
Mora  rubi  branber. 
Moracelsi  mulber. 
INluscisca  muscat  böm, 
Musous  miesch. 

Napa  m  rapula  =  rübe.    napus  idem, 
Nardus  ein  krut  vel  ein  böm. 
Narstutium  kress  herba. 
Nepeta  dicitur  menta  siluestris. 
Nerpulum  velt  kümi. 
Nespulus  nespel  böm. 
Nux  longa  mandelkern. 
Oliua  ölbom. 
Olea  idem  scilicet  arbor. 
Oleaster  wilder  Ölböm. 
Olus  köl. 

Origanum  roter  kost. 
Orphinum    est    herba    crescens    sine 

bumore  s.  bönlen. 
Ossinum  herba  s.  basilie. 
Paliurus  distel  s.  talis  herba. 
Palimmus  agleye. 
Pandeconum  wilder  venchel. 
Panicium  =  lilium. 
Papauer  3.  d.  magsamen. 
Papirus  gross  gesemd  vel  mer  bintz 

vel  papir. 
Pastinaca  girgell  scilicet  herba  radix 

vel  nüw  setz   mit  reben    oder   ein 

karst. 
Passul  mer  trübel. 
Pepo  bebena. 

Perforata  sant  Johannes  krutt. 
Pes  uitula  arone  scilicet  herba. 
Petercilium  peterli. 
Petaffium  fünfbleter  quasdam  herba. 
Pyonia  gibt  körn. 
Picea  vorha  quaedem  arbor. 
Pinpinella  bibinella. 
Piper  pheffer. 
Pirus  bierböm, 
Piretrum  behtram  herba. 
Pisa,  pisum  erwis. 
Plantago  wegrich. 
Pomus  öpfel  böm. 
Policaria  wund  krut. 
Polipodium  stein  varn  vel  engel  süsse. 
Polium  ried  krut. 
Populus  est  arbor. 


102 


Der  Ebingersche  Vokabularius. 


PoiTum  loch  vel  burreths. 

Fortulaca  bürtzel. 

Porrusecilis  schnitloch. 

Precula  schnit  loch. 

Prunus  kriechbom. 

Fulicaria  agleya. 

Quercus  eych  böm. 

Quiniorda  =  rosa  caniua. 

Rabacaulis  rübkrut. 

Rafi\nus  rnaior  reticb. 

Kaphanus  minor  mer  rätich. 

Roborum     mora     dicuntur     agrestia 

poma. 
Rodans  tis  rosen  stude. 
Rosmarinus  mer  röfs. 
Rubus  dorn  bösch  vel  bramc. 
Rubeta  lob  frösch  vel  mulber. 
Rubetum  harnstein  bösch. 
Rubea  lidwurtz. 
Rufa  coccio  =  lens  lentis. 
Ruta  rut  talis  herba. 
Satirion  stendel  wurtz. 
Sagaeia  schlehbom. 
Salix  "wid. 
Salina    naht    schatt   vel   esels   burdi 

vel  locus  vbi  invenitur  sal. 
Saluia  salbey. 
Saliunca  riet  grafs. 
Salmentum  herba  spinosa. 
Sambucus  holder  vel  species  simphonie 

de  sambuco  facta. 
Saginarius  hartrvigel  s.  arbor   vel  id 

est  homicida. 
Sandix  rietkrut  rubea  herba. 
Sanda  pheffer  böm. 
Sauisma  seinböm. 
Sencio  agleye  vel  senex. 
Senecion  brunnen  kress  vel  brunnen 

wurtz. 
Serpillum  kenle  kein  scilicet  poleium 

siluestre  veltken  scharley. 
Serpentina  serpetin  wurm  krut. 
Siligo  rogg  siliginus  roggin. 
Silermontanum  siermandra. 
Simula  bluom  vel  simelbrot. 
Sinapis,  sinapium  senf, 
Spargus  rossmüntz. 
Squamonia  ein  krud. 
Spillus  agley. 
Spinnellus  spinelböm. 
Stimula  est  quedam  herba. 
Solsequiura   sunnen  wurbel   talis  flos 

qui  sequitur  solem. 
Sorbum  sefi  böm. 
Strucianum  wilkol.  , 

Tamariscus  bantz  scilicet  herba. 
Therebintus  rekolter  böm. 


Thymus  quidem  flos. 

Thireus  swertel. 

Tormentilla  fruwurtz  quasdam  herba 

milch  krut. 
Tragenta  senf. 
Tremula  aspa. 
Valendriana  baldram. 
Veniculum  venchel.  veniculum  porci- 

num  wilder  venchel. 
Vertilago  wolf  milch. 
Virga  pastoralis  wolfstrel. 
Vitulamen  abschniten  winter  gerst. 
Viola  vigelbom  viglat.  violacium,  vio- 

laria  vigel  krut. 
Vlmus  wul  böm  vel  vlm  böm. 
Viticella  liela  herba. 
Vua  passa  mer  trübel. 
Ybischus  ybsch. 
Ybiquincida  merbintz. 
Yrios  arone. 
Yliaca  wermuot. 

Accipiter  habk. 

Acciclus  egli. 

Achaneis  =  carduellus  vel  distcl  kolb. 

Attago  birch  huon. 

Agredula  =  parua  raua. 

Alauda  lerch. 

Alchion  est  auis  maritima. 

Amma    est    auis    nocturna    qu£e   alio 

nomine  dicitur  stryx. 
Amio  piscis  quidem  ein  brahsrae. 
Amphisebeua  zwöhöptig  wurm. 
Aneta  ente. 
Anetarius  entrech. 
Ano  angel  visch. 
Anser  gantz. 
Apper  eber  schwin. 
Apis  big. 

Arapagarius  egden  pherid. 
Aranea  spinne  vel  mer  spinne. 
Assilus  big  on  angen  alias  trien. 
Aspiriolus  eychorn. 
Asturcio  habk  vel  einer  leige  ross  dz 

man  einem  herren  nach  füret. 
Attelibus  brucus  s.  keuer. 
Atticus  humel  vel  keuer. 
Auea  gans  dicitur  ein  stroneggler. 
Auis  vogel.  auigerulus  qui  gerit  aues 

ad  uendendum. 
Aurata  quidam  piscis. 
Aurificeps   quidam   volucris  s.    eserli 

vel  rott  brüstli. 
Aurifrisius  reigel. 
Babalus  barbe. 

Baleam  piscis  hus  vel  wal  visch. 
Bardalus  quoddam  animal. 


Der  Ebingersche  Vokabularius. 


103 


Bibio  onis  wIn  mugg. 

Blatta  glissent  vogel  vel  purpura  vel 

fledermus. 
Borbeta  triscbe. 
Bos  rind. 
ßotraca     eyd ochse     scilicct    habcns 

faeiem  rane. 
Brucus  keiier  parua  locusta. 
Brunellus  esel. 
Bubalus  walt  öchs  vel  vrochs.  buba- 

linus  idem  est.  bT^bulus  klein  wald 

öchs  bucalis  wald  öch.  bucula  wald 

öchsin. 
Buchingus  büking. 
Caballus  hengst  vel  stechross. 
Cabellus  buren  rössli. 
Cabo  bonis  =  equus. 
Calamita  vergift  frösch. 
Canielon  est  bestia  in  ethiopia. 
Camelopardus  kemelbar. 
Canapeus  est  parua  auis  habitans  in 

canapo. 
Candaride     guldin     wiirmli     die     vß' 

eschin  bömen  wachsent. 
Caprea  rechgeis  vel  varn  wider. 
Capricanus,  capricornus  steinbok. 
Capitarus  groppe. 
Carduellius  distel  uogel. 
Cariola  iserli  s.  volucris. 
Caropus  gropp. 
Cattus  katz. 
Cattellas  hündli. 

Catulaster  paruus  canis  scilicet  weif. 
Cecula  blinden  schlich  vel  ciser  mus. 
Cefalus  groppo. 
Celido  =  byrundo. 
Cerastes  gehurnter  wurm. 
Ceruus    hirtz   vel  furca   quc    sustinet 

domum  rustici. 
Cerua  bind. 
Cethus  wall  visch. 
Cicada  niuchein. 
Ciconia  storch. 
Cicedula  klein  cisli. 
Cimex  wandlus. 
Cinifes  fis  f.  g.  huutzmug. 
Cinomia  huntz  flieg. 
Cinifex  mugga  s.  cinifes. 
Cinomolgus  =  ciniphes  vel  pellicanus. 
Cirogrillus  =  erinacius. 
Cix  =  cisli. 

Clebia  hasel  scilicet  visch  quidam. 
Cocodrillus     finna    marina    vel    auis 

cocodrille. 
Congros  pisces  scilicet  hasel. 
Conturnix   wachtele    brachuogel   sed 

debet  dici  cuturnix. 


Corilius  karph. 

Coredula  dula. 

Cornix  krega. 

Coruus  rapp. 

Coturnix  rephuon. 

Crabrona  est  vermis  quidam  ein  böser 

fliegender  wurm. 
Crotalus  ein  tier. 
Culex  mug  wantlufs. 
Culpar  ein  barg  schwin. 
Curiegus  rephuon. 
Delphin  mer  schwin. 
Dentrix  est  piscis   multos  et  grandis 

habens  dentes. 
Diomede  grasmugg. 
Diomeda  wasser  vögelli. 
Dispas    adis  est  genus   serpentis  sci- 
licet wasser  wurme. 
Duraapiscis  stichling. 
Edis    ein    kitzi.    edos    wider,    edum 

kitzi  vel  widerli. 
Ella  alant  quidam  piscis. 
Emissarius    bok  vel  Cursor  vel  schell 

s.  equus  qui   aptus    est  ad   coeun- 

dum  ad  equas. 
Emorreus  bluet  wurm. 
Equus  ein  ross.  equa  merch.  equester 

rossman.  equitius  ross  staller. 
Ericinus  mersnek. 
Ericius,  erinacius  vgel. 
Erodius  valk. 
Erugo  egel   s.  röti  rubigo  vicium  se- 

getum. 
Erudo  egel. 
Esinus  merswin. 

Escaurus  huso  quidam  piscis  esok  idem. 
Fenix  est  auis  coccinei  coloris. 
Ficedula  ried  schneph. 
Foca  e  merkalb. 
Frigellus  buochfink. 
Fucus    est  apis    non  mellificans   sed 

aliorum    mel   comedens    vel    brem 

vel  mul  kefer  crescens  in  stercore 

mulorum  vel  farwe  krut. 
Fulica  bilgrim  gir  valk  vel  hör  gans. 
Fundula  grundel. 
Furfarina  dorntüchel. 
Gacius,  gadiolus  quidam  piscis. 
Gallina  henna. 
Gallinacius  kappun. 
Gamma  wasser  wurm. 
Gamarius  est  piscis  scilicet  salm. 
Girofalko  girfalk  bönfalk. 
Glis  animal  glis  terra  tenax  glis  lappa 

vocatur    ein    ratt    muos    lette    ein 

klette. 
Grus  krye  kranch. 


10-i 


Der  Ebingerschc  \'okfibularius. 


Guggulut;  göcli. 
Ilerodius  herodiou  valk. 
llirperius  liusieit  s.  piscis. 
lacukis   fliegend   schlang  vel    schütz 

wurm. 
Ibris  vel  ibrida    est  porcus  natus  de 

apro  siUiostri   et  porca   domestica. 
Idrox  wasser  steltz. 
Ixion    onis    est   alba   auis  de  geuere 

vulturum  scilicet  minor. 
Lamia  hechsi  tale  animal  et  est  mon- 

strum. 
Larus  secundum  quosdem  müsser  vel 

weche  vel  wasser  vogel  s.  hünli. 
Laudula     lerche     sed    crede    debere 

dici  alauda. 
Ledia  quidem  pisces. 
Leena  löwin  vel  helfant. 
Lepus  has. 

Lepos  est  auis  in  stangnis  habitans. 
Leporarius  canis  s.  wind. 
Letofagus  est  vermis  mortuus  come- 

dens. 
Liraax  snegg. 
Linx  luhs. 

Ligwa  auis  vogel  raug. 
Licissa   est    animal   natum   ex   patre 

lupo  et  matre  cane. 
Loaficus  weche  talis  volucris. 
Locusta     höwstaflel     matschrek     vel 

quedani  herba. 
Lumbricus  regen  wurm   vel  wurm  in 

dem  buch. 
Lupus  ein  wolf. 
Lupus  hecht. 
Luscina  mer  vögellin. 
Lusculus  quidem  piscis. 
Lutilia  wasser  steltz. 
Melus  hermli   vel  tachs  inde  melota. 
Melomurus  vnda  aque  vel  est  swartzer 

mer  visch. 
Melaurus  schiige  vel  piscis. 
Älenonides  swartz  mer  vögelli. 
Mergulus  tucherli. 
Merges  etis  ysuogel. 
Merops  grün  specht. 
Mergus  =  mergulus  scharbe. 
Merulus     qui    cantat    pro    vino    vel 

smierling. 
Merula  amsula. 

Meranulus  schwartzer  mer  visch. 
Meropis  muser. 
Merocor  horrnus. 
Migale  hermli. 
Miluus  wige. 
Millabo  dicitur  piscis   volitans  supra 

aqua  et  significat  tempestatem. 


Mingcus    ad   parictem   est   canis  vel 

intirmus  qui  non  potest  longus  ire. 
Mirlus  smirlus  scilicet  auis. 
Mix  iserli  s.  auis. 
Monedula  tula. 

Mugilus  est  piscis  valde  agelis. 
Multipes  vermis  multorum  pedum. 
Murena  lemphir  piscis  quidem. 
Murenula  diminutum   nünög   vel  sil- 

brin    vel    guldin    kettena    vel   fur- 

spang  vel  ornatus  colli. 
Muriceps,  murilegus  katze. 
Muricio  merschnegg. 
Murex  icis  est  piscis. 
Murica  e  est  coclea  vel  conchilium. 
Musio  catze. 
Musca  flieg  vel  monile. 
Mustela  wisel. 
Musmo  est  animal  natura   ex  caprea 

et  ariete. 
Nictimena  wigla. 
Nicticorax  naht  rapp. 
Nicinus  huntz  fliege. 
Nigella  ratte. 
Ninulus  binden  kalb. 
Obices  dicitur  serpens  colorem  arene 

habens. 
Onager  wald  esel.  • 

Onocrotulus  vel  onocrotalum  est  auis 

wulgariter  hortrübel. 
Ontragus    est    auis    secundum  quos- 

dam  dicitur  schnephe. 
ünoliras  dicitur  quasi  asinus. 
Orix    est   quidem    mus   s.    animal    in 

mundum  vel  heher  vel  hasel  huon 

vel  animal  simile  capre  siluestri. 
Oriolus  witewal  quidam  volucris. 
Ornix  heher  est  auis  vel  quercus. 
Orthigomet...  rephuon  orhuon. 
Orthimetra  vrhön. 
Orticulerna  hortuba. 
Ossifrangus    bein    brüchel     quedam 

auis. 
Ostrea  wasser  schnegg  piscis. 
Palumber  ruoder  laff'e  slage  tube  oder 

holtz  tube. 
Papilio  phiffblter. 

Pardulus  phigargan  origen  cameleon. 
Parix  meise. 
Parias  est  animal  quod  cauda  ambu- 

lat  =  pareas. 
Passer  gespar. 
Passilis    est    auis    vel    animal    quod 

manu  pascitur. 
Paua  phewin. 
Pegasus  phawe. 
Pellicanis  est  auis. 


Der  Ebinjicrsclie  Vokabularius. 


lOö 


Pellauus  sohlyge  talis  piscis. 

Pelliades  idem  est, 

Pelora  tröstel  auis. 

Pellargosis  dicitur  ciconia. 

Perdix  rephuon. 

Periboluni  belua  marina. 

Piconcus  picconius  rötbrüstli. 

Piciis  Specht. 

Pigargonius  quoddam  aninial  vel  auis. 

Pigargus  quffidam  auis  parua. 

Pipus  Specht. 

Pipiones  sunt  pulli  columbarum. 

Piscis     visch.      pisciculus,     piscillus 

vischli. 
Phasianus  fasant. 
Philomena  nahte  galla. 
Platanus  eychorn. 
Phus  schlyg  talis  piscis. 
Polernus  füli  =  pollendrus. 
Porcus  swin.  porca  mora. 
Poruirlo,  porphirio  est  qiia3dam  auis. 
Pulex  floh  schwartze  lufs. 
Puto  onis  vltisen  animal. 
Rana  frösch. 

Rubicula  rötteli  talis  piscis. 
Rucius  ross. 
Salmo  salm  piscis. 

Salmandra  ein  für  wurm  ein  liutwurm. 
Saura  moll  scilicet  vermis. 
Scarabius  wibel  vermis. 
JScabro  ross   keuer   crescens  in  ster- 

kore. 
Serpedo   tö   wurm  =    lumbricus   vel 

dorn  wurm. 
Seta  burst  vel  wasserkalb. 
Sibulus  wisplung  vel  serpens. 
8ilarus  barbe. 
Sillago  quidam  piscis. 


Simeus  all'. 

Sparus  tratt  piscis. 

Speriolus  eichorn. 

Strix  wisfcla  hiilen. 

Sorex  schermufs  spitzmufs. 

Scorpia  nater. 

Scrofa  SU  vel  more. 

Tabellius  zabel  animal  quoddam. 

Tereo  holtzwurm. 

Tbeballus  zebel  zilitz  quedam  ani- 
mal. 

Tirus  ein  land  vel  triatel  madc. 

Tortuca  scharphe  s.  vermis. 

Tragficus  wefze. 

Träges  quedam  anmial. 

Tragfilaphus  hirtz  bok. 

Trossa  trossel. 

Tuligo  mer  visch. 

Turdus  brach  vogel  stare. 

Turdela  trostel. 

Turnilla  grundel  quidam  piscis. 

Veiter  wind  scilicet  canis. 

\'ermis  wurm,  vermiculum  rot  wiirmli 
sidin  würmli. 

Vespa  wespi. 

Vippera  nater    vipperus  natreht. 

Vitulus  kalb  vitula  kalba. 

VUula  hüwlem  auis. 

Vppupa  widhopf. 

Vrculus  mer  ross. 

A'ria  schwin  lus. 

Vrsus  bere  vrsa  berin. 

Ypotus  raersohwin. 

Ybex  ibsch  est  genus  quadrupedis. 

Yrundo  schwalb  vel  yrugo. 

Yrugo  egla. 

Ydrus  wasserschlang. 

Zomus  phaff  in  der  fedren. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 


BreymanD,  Französische  Elemenfargrammatik  für  Realschüler. 
Ausgabe  für  Lehrer.  München,  R.  Oldenbourg,  1884. 
XII  u.  75  S.  —  Breymann  und  Möller,  Französisches  Ele- 
mentarübuno'sbuch  für  Realschüler.  München,  R.  Oklen- 
bourg,  1884.  VI  u.  175  S.  —  Breymann  und  Möller,  Zur 
Reform  des  neusprachlichen  Unterrichts.  Anleitung  zum 
Gebrauch  des  französischen  Elementarübungsbuches  von 
Hermann  Breymann  und  Hermann  Möller.  München, 
R.  Oldenbourg,  1884.     48  S. 

Seit  mehreren  Jahren  sprechen  sieh  immer  mehr  Stimmen,  sei  es  in 
Zeitschriften,  sei  es  in  selbständigen  Veröffentlichungen,  für  die  Notwendig- 
keit einer  Änderung  der  bisherigen  Methode  des  Unterrichts  in  neueren 
Sprachen  aus.  Diese  Änderung  wird  teils  in  Bezug  auf  die  Unterweisung 
in  der  Aussprache,  teils  in  Bezug  auf  die  in  der  Grammatik  verlangt. 

Man  verlangt  heutzutage  vor  allem  eine  bessere  theoretische  Einsicht 
des  Lehrers  in  die  Natur  der  Laute  der  fremden  und  derjenigen  der  eige- 
nen Sprache,  und  man  behauptet  mit  Recht,  dafs  der  Lehrer  einer  fremden 
lebenden  Sprache  die  Pflicht  habe,  sich  mit  diesem  Gegenstande  zu  befassen, 
nachdem  Miinner  wie  Brücke,  Sievers,  Trautmann,  Vietor,  von  den  Auslän- 
dern gar  nicht  zu  reden,  so  feine  Untersuchungen  und  Beobachtungen  auf 
diesem  Gebiete  gemacht  haben,  Untersuchungen  und  Beobachtungen,  die 
ebenso  interessant  an  sich,  als  zu  einer  wissenschaftlichen  Erkenntnis  eines 
wichtigen  Teils  der  Sprachkunde  notwendig  sind.  Kennt  der  Lehrer  aber 
die  Physiologie  der  Laute  der  fremden  Sprache  und  den  Unterschied,  der 
zwischen  ihrer  Hervorbringung  und  derjenigen  der  verwandten  Laute  seiner 
Muttersprache  stattfindet,  so  ist  er  auch  offenbar  besser  im  stände,  seinen 
Schülern  nicht  blofs  durch  einfaches  Vorsprechen  und  Nachsprechen  ihrer- 
seits auf  rein  empirische  Art  die  Aussprache  beizubringen,  sondern  auch 
durch  fafsliche  Angaben  über  die  Hervorbringung  der  Laute  ihnen  die 
Schwierigkeiten  hinwegzuräumen  oder  zu  erleichtern.  Es  ist  ja  selbstver- 
ständlich, dufs  es  dem  Schüler  leichter  sein  mufs,  einen  gewissen  Laut  her- 
vorzubringen, wenn  er  eine  Anleitung  über  die  Art  der  Stauung 
der  Sprach  Organe  bei  Aussprache  desselben  erhält,  als  wenn 
man  ihm  noch  so  oft  einen  Laut  vorspricht,  den  er  trotz  sei- 
nes guten  Willens  nicht  trifft,  weil  er  nicht  weifs,  wie  er 
denselben  hervorbringen  soll.    Dafs  man  aber  die  richtige  Aussprache 


I 


Beurteilungen  untl  kurze  Anzeigen.  107 

schon    gleich   in    der  ersten   Stunde  zu  lehren   hat,   liegt   ebenso  klar  am 
Tage,  denn  „quo  semel  est  imbuta  recens  servabit  odorem  testa  diu." 

Die  zweite  Forderung,  die  man  in  neuerer  Zeit  an  den  Sprachunter- 
richt stellt,  betrifft  die  Verminderung  des  grammatischen  Stoffes,  der  dem 
Lernenden  zur  Aneignung  dargeboten  werden  soll.  Es  ist  bis  jetzt  zu  viel 
Grammatik  getrieben  worden,  man  hat  dem  Schüler  Regeln  und  Ausnahmen 
zu  lernen  aufgebürdet,  die  er  nie  Gelegenheit  hatte  anzuwenden.  Die  mei- 
sten Verfasser  von  Schulgrammatiken  suchten  ihre  Vorgänger  durch  gröfse- 
ren  Regelreichtum  und  gröfsere  Vollständigkeit  der  Ausnahmen  zu  übertreffen 
—  zur  Qual  der  Schüler  und  zum  Schaden  der  Sache.  Warum  dem  Schüler 
zumuten,  Regeln  und  Ausnahmen  zu  lernen,  die  er  während  seiner  ganzen 
Schulzeit  und  selbst  bei  späterer  schriftlicher  oder  mündlicher  Anwendung 
der  fremden  Sprache  nicht  brauchen  wird?  Stellt  nicht  die  heutige  Zeit 
überhaupt  mehr  Anforderungen  an  die  Lernkraft  der  Jugend,  als  dies  früher 
der  Fall  war,  und  soll  man  nicht  einem  Schwerarbeitenden  jede  unnötige 
Last  im  Interesse  seiner  Leistungsfähigkeit  abnehmen  ?  Also  auch  diese 
Forderung  —  Vereinfachung  des  grammatischen  Lehrstoffs  —  ist  sicher  be- 
rechtigt und  wird  im  Princip  nicht  auf  grofsen  Widerstand  stofsen,  wenn 
auch  im  einzelnen  bei  der  Festsetzung  des  zu  Bietenden  und  des  Wegzu- 
lassenden sich  Meinungsverschiedenheiten  ergeben  dürften. 

Diesen  beiden  Forderungen  in  Bezug  auf  Aussprache  und  Grammatik 
suchen  nun  die  Bücher  von  Breymann  und  Möller  zu  entsprechen. 

L  Die  Elementargrammatik  von  H.  Breymann  enthält  auf  52  Seiten  das 
Regelmäfsige  aus  Laut-,  Schriftzeichen-  und  Formenlehre. 

a)  Die  Lautlehre  behandelt  in  übersichtlicher,  leicht  fnfslicher  Weise 
das  Notwendige  über  die  Vokale  und  Konsonanten  und  deren  Aussprache, 
die  Silben,  Doppelkonsonanten,  die  Betonung  und  die  Bindung.  Eine  schöne 
Tabelle  in  §  9  gieht  dem  Lehrer  Gelegenheit,  den  Schüler  auf  die  Art  der 
Hervorbringung  der  Konsonanten  aufmerksam  zu  machen.  Da  es  nun  vor- 
kommen kann,  dafs  der  Lehrer  selbst  nicht  genau  über  die  Bildung  der 
Konsonanten  informiert  ist,  so  hat  sich  der  Verfasser  die  Mühe  o-enommen, 
für  denselben  in  einem  Anhang  der  Elementarorammatik  (der  sich  nur  in 
der  Ausgabe  dieses  Buches  für  Lehrer  findet  §§  ,55  bis  74)  das  Notwen- 
digste der  französischen  Lautlehre  zusammenzustellen.  Es  mufs  wiederholt 
werden,  dafs  diese  Abhandlung  sich  nur  in  der  Lehrerausgabe  befindet,  wie 
auch  der  Verfasser  auf  Seite  VI  der  Vorrede  ausdrücklich  erklärt:  „Dem 
Ermessen  und  pädagogischen  Takte  des  Lehrers  bleibt  es  natürlich  anheim- 
gestellt, wie  viel  er  von  dem  in  den  §§  161  bis  207  Gebotenen  dem  Schüler 
mitzuteilen  für  nötig  hält."  Und  sicher  ist  der  Gedanke  des  Verfassers 
auch  gewesen,  dafs  -dem  Ermessen  des  Lehrers  auch  die  Art  anheimgestellt 
bleibe,  in  der  er  das  in  den  citierten  Paragraphen  Gebotene  mitteilen  will.  Ein  in 
den  bayerischen  Realschulblättern  auftretender,  etwas  hastiger  Recensent  der 
Elementargrammatik  scheint  nun  zu  glauben,  als  verlange  der  Verfasser 
beim  Unterricht  wörtliche  Wiedergabe  des  in  dem  Anhange  für  den  Lehrer 
Mitgeteilten,  denn  nur  so  ist  es  zu  erklären,  wenn  dieser  Recensent  empha- 
tisch ausruft:  „B.  kann  ein  vbrzüglicher  akademischer  Lehrer  sein,  zu  Kin- 
dern von  zehn  Jahren  versteht  er  nicht  zu  sprechen."  Wenn  der  Verfasser 
gewollt  hätte,  dafs  seine  Erklärungen  über  die  Laute  den  Schülern  wörtlich 
mitgeteilt  werden  sollten,  so  hätte  er  doch  nicht  zwei  Ausgaben  seines 
Buches  herstellen  lassen,  sondern  er  hätte  den  genannten  Anhang  gleich  in 
das  Schülerbuch  aufgenommen.  Nun  kann  man  aber  doch  nicht  verlangen, 
dafs  der  Verfasser  einer  Abhandlung,  die  sich  an  Lehrer,  also  an  erwach- 
sene, gebildete  Personen  richtet,  sich  einer  so  einfachen  und  elementaren 
Redeweise  bedienen  solle  wie  die  ist,  die  man  zehnjährigen  Knaben  gegen- 
über anwenden  mufs. 

Der  Verfasser  läfst  jedem  Lehrer  die  Freiheit,  wie  viel  Aussprachetechnik 
er  lehren  will,  und  wir  behaupten,  dafs  es  ein  armseliger  Lehrer  sein  müfste. 


108  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

tler  nicht  fühlte,  in  welchem  Tone  er  zu  seinen  jedesmaligen  Schülern  spre- 
chen mufs,  und  der  nicht  im  stände  wäre,  irgend  einen  der  Lehrsätze  des 
Anhangs  in  eine  Sprache  umzuwandeln,  die  von  zehnjährigen  Schülern  ver- 
titanden  wird.  Es  sind  ja  nicht  Abstraktionen,  die  mitzuteilen  sind,  sondern 
man  arbeitet  ja  beim  Ausspracheunterricht  gleichsam  mit  einem  Instrumente; 
nicht  blofs  der  Gedanke,  sondern  auch  der  Sinn  des  Gebörs  wird  in  An- 
spruch genommen;  was  aber  mit  Instrumenten  betrieben  wird  und  in  die 
Sinne  fällt,  kann  unmöglich  dem  Verständnis  zu  grofse  Schwierigkeiten  be- 
reiten. 

Dafs  man  aber  eine  lebende  Sprache  richtig  oder  wenigstens  annähernd 
richtig  aussprechen  lehren  müsse,  wird  ja  wohl  kein  Vernünftiger  bezwei- 
feln. Dann  gehört  aber  auch  die  Unterweisung  in  der  richtigen  Aussprache 
•  in  die  wSchule  und  zwar  an  den  Anfang  des  Unterrichts,  denn  wollte  man 
diesen  Gegenstand  an  das  Ende  der  Schulzeit  verlegen,  so  würde  die  falsche 
Gewöhnung  unausrottbar  sein.  Man  stelle  sich  nur  vor,  was  es  für  uns,  die 
wir  sechs  Jahre  lang  an  der  Schule  und  bei  privatem  Lesen  in  späteren 
Jahren  das  Griechische  nach  Quantität  und  mit  deutschen  Vokalen  ge- 
sprochen haben,  für  Schwierigkeit  hätte,  nach  dem  Itacismus  und  nach  dem 
Accent  lesen  und  so  Gesprochenes  verstehen  zu  lernen. 

Die  Erfahrung  lehrt  auch,  dafs  es  den  Schüler  sehr  interessiert,  die 
richtige  Aussprache  und  die  Unterschiede  zwischen  der  Hervorbringung  der 
fremden  Laute  und  jener  der  Muttersprache  kennen  zu  lernen,  und  es  freut 
ihn,  einen  Satz  mit  dem  echten  fremden  Klange  sprechen  zu  hören  und 
selbst  so  sprechen  zu  lernen. 

Grundbedingung  zu  einem  anresjenden  Unterrichte  dieser  Art  ist  nun 
aber  selbstverständlich,  dafs  der  Lehrende  selbst  die  Sache  kennt.  Lehr- 
talent mufs  wohl  jeder  Lehrer  haben,  aber  ein  Lehrer  einer  lebenden 
Sprache  mufs  vor  denen  anderer  Fächer  noch  ein  empfindliches  Ohr  für  den 
Sprechton  und  eine  natürliche  Gabe  der  Tonnachahmung  voraus  haben. 
Gerade  in  dem  Mangel  dieser  beiden  P^ifordernisse  scheint  ein  guter  Teil 
der  Opposition  gegen  eine  exakte  Behandlung  der  Aussprache  ihren  Grund 
zu  haben.  Denn  diejenigen,  welche  selbst  nichts  hören  und  nicht  im  stände 
sind,  ein  Wort  der  fremden  Sprache  mit  dem  ihm  eigentümlichen  Klange 
auszusprechen,  sondern  ihren  heimischen  Dialekt  auch  in  der  fremden 
Sprache  nicht  zu  verleugnen  vermögen,  diese  können  natürlich  den  neuen 
Forderungen  nicht  gerecht  werden ;  sie  werden  deshalb,  um  ihre  Unfähigkeit 
in  diesem  Stücke  nicht  eingestehen  zu  müssen,  sich  gegen  jeden  Versuch  in 
dieser  Richtung  sträuben.  Solche  Lehrer  eignen  sich  dann  allerdings  eher 
zu  Schreib-  als  zu  Sprechlehrern. 

Es  giebt  jedoch  noch  eine  andere  Klasse  von  Lehrern,  denen  es  weder 
an  gutem  Willen,  noch  an  der  Fähigkeit  fehlt,  sich  selbst  eine  annähernd 
richtige  Aussprache  anzueignen,  die  aber  entweder  durch  die  Ungunst  der 
Verhältnisse  nicht  in  der  Lage  gewesen  sind,  einen  kundigen  Mann  zum 
Lehrer  gehabt  zu  haben,  oder  die  sich  durch  die  etwas  anspruchsvollen 
Namen  Lautphysiologie  oder  Phonetik  haben  abschrecken  lassen,  der  Sache 
näher  zu  treten.  Auch  mufs  zugestanden  werden,  dafs  nicht  alle  diesen 
Gegenstand  behandelnden  Werke  in  der  für  praktische  ^''erwertung  wün- 
schenswerten Weise  abgefafst  sind.  Von  diesem  Standpunkte  aus  ist  der 
Anhang  in  der  Lehrerausgabe  der  Breymannschen  Elementargrammatik  ein 
wahrer  Schatz  für  die  zuletzt  genannte  Klasse  von  Lehrern  zu  nennen.  Es 
ist  da  alles  Nötige  so  übersichtlich  zusammengestellt,  es  finden  sich  da  so 
viele  praktische  Winke,  so  viele  feine  Bemerkungen,  dafs  wir  überzeugt 
sind,  dafs  manche  sich  darunter  befinden,  die  selbst  solchen,  die  einer  guten 
Aussprache  sicher  zu  sein  wähnen,  beherzigenswert  erscheinen  werden.  Wir 
sind  ferner  überzeugt,  dafs  jeder  Lehrer,  der  einigen  Sinn  für  die  lebende,  ge- 
sprochene Sprache  hat,  sich  durch  die  Lektüre  dieser  Paragraphen  zum  Studium 
einer  unserer  gröfsercn  Phonetiken  veranlafst  sehen  wird.     Alle  diejenigen, 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  1Ö9 

die  es  mit  ihrem  Berufe  ernst  nehmen  und  einen  Sinn  für  das  Künstlerische 
bei  der  Erlernung  einer  fremden  Sprache  besitzen  und  noch  nicht  mit  dem 
Studium  dieser  J3inge  sich  befafst  haben,  werden  dem  Verfasser  für  diese 
klare  Einführung  in  die  Technik  der  französischen  Aussprache  Dank  wissen. 

b)  In  der  Buchstaben-  und  Silbenlehre  geht  des  Verfassers  Bestreben 
vor  allem  dahin,  dem  Schüler  die  keineswegs  selbstverständliche  Thatsache 
zum  Bewufstsein  zu  bringen,  dafs  der  Laut,  d.  h.  der  gesprochene  Ton 
etwas  ganz  Selbständiges  ist  und  dafs  die  Schrift  nur  ein  Mittel  ist,  den- 
selben darzustellen,  und  dafs  ein  und  derselbe  Laut  durch  verschiedene 
Ikichstabenverbindungen  dargestellt  werden  kann.  So  einfach  dieser  Satz 
klingt,  ist  er  doch  erst  in  neuerer  Zeit  allgemein  reeipiert  worden.  Früher 
hat  man  gewöhnlich  den  Buchstaben  mit  dem  Laute  identifiziert.  Der  neue 
Satz  entspricht  aber  offenbar  allein  der  Wirklichkeit  und  bei  konsequenter 
Durchführunoj  ist  er  wohl  geeignet,  den  Schüler  mehr,  als  es  bisher  der 
Fall  war,  auf  den  Gebrauch  des  Ohres  statt  auf  den  des  Auges  hinzuweisen. 
Durch  die  ganze  Art  des  hisherioen  Unterrichtes  wurde  und  wird  der  Schü- 
1er  daran  gewöhnt,  sich  nur  diejenigen  Wörter  zu  merken,  die  er  geschrie- 
ben oder  gedruckt  vor  sich  sieht,  andere  Wörter,  die  er  nur  hört,  wird  er 
kaum  im  Gedächtnis  behalten,  er  fragt  unwillkürlich:  wie  schreibt  man  das? 
Wenn  der  Schüler  aber  an  Aufmerksamkeit  an  den  Laut  gewöhnt  wird,  so 
wird  er  auch  Wörter  behalten,  die  ihm  blofs  vorgesprochen  werden,  und  er 
wird  so  von  der  Schrift  unabhängiger.  Es  ist  dann  auch  kein  Unglück,  wenn 
er  ein  nur  gehörtes  Wort  unorthographisch  schreibt,  unpbonetisch  wird  er 
es  nie  schreiben.  Auf  Grund  dieses  Gedankens  leitet  Recensent  seine  Schü- 
ler stets  an,  nicht  zu  fragen:  Hat  religlon  einen  Accent?  sondern  nur: 
Spricht  man  religlon  oder  religlon?  In  dieser  Emancipation  von  der  Schrift 
liegt  unserer  Ansicht  nach  das  Geheimnis  der  angeblichen  Begabung  der 
slavischen  und  orientalischen  Völker  für  Erlernung  fremder  Sprachen.  Sie 
lernen  die  fremden  Sprachen  meist  mit  dem  Ohre,  nicht  mit  dem  Auge,  und 
sind  deshalb  besser  im  stände,  das  Gesprochene  zu  verstehen  und  nachzu- 
f>prcchen.  während  bei  unserer  Lehrmethode  der  Schüler  zwar  besser  schreibt, 
aber  schlechter  spricht  und  noch  schlechter  hört  oder  versteht.  Wir  wollen 
hier  keineswegs  dem  Empirismus  das  ^Vort  reden;  eine  Sprache,  die  mit 
dem  Auge  gelernt  wird,  haftet  vielleicht  auch  länger  im  Gedächtnisse  als 
eine  blofs  mit  dem  Ohr  erlernte,  aber  es  ist  behufs  allseitiger  Ausbildung 
des  Lernenden  nötig,  auch  das  Ohr  und  die  Sprachorgane  besser  zu  üben, 
als  es  bisher  geschah.  Schüler,  deren  Ohr  nicht  systematisch  geübt  wird, 
werden  kein  Diktat  schreiben  können,  weil  sie  das  gesprochene  Wort  nicht 
klar  aufzulassen  im  stände  sind:  sie  wissen  nicht,  wo  ein  Wort  aufhört  und 
das  andere  anfängt.- 

Dieser  wichtigen  Thatsache  ist  nun  vom  Verfasser  der  Elementargram- 
matik auch  in 

c)  der  Wortlehre  Rechnung  getragen.  Überall  wo  die  Wortform  sich 
infolge  der  Flexion  ändert,  ist  sorgfältig  zwischen  einer  Veränderung  des 
Lautes  und  einer  \'erän'.lerung  der  Schrift  unterschieden,  eirte  Unterschei- 
dung, die  unseres  W^issens  hier  zum  erstenmal  konsequent  durchgeführt  wird. 
Auch  bei  den  Fürwörtern  zeigt  sich  in  der  glücklich  gewählten  Unterschei- 
dung von  tonlosen  und  betonten  derselbe  Gedanke. 

Der  oben  erwähnte  Recensent  erklärt:  „Der  grammatische  Teil  macht 
auf  Originalität  wohl  kaum  Anspruch."  Man  kann  doch  nicht  verlangen, 
dafs  ganz  neue  Sprachgesetze  aufgedeckt  und  aufgestellt  werden  sollen. 
Aber  unseres  Erachtens  ist  die  oben  erwähnte  Unterscheidung,  ferner  die 
Behandlung  der  regelmäfsigen  Verba,  sowie  die  ganze  Vorführung  (ter 
Sprachgesetze  originell  genug.  Die  Originalität  bei  der  schulniäfsigen  Be- 
handlung grammatischer  Dinge  ist  in  der  Anordnung  und  Darstellung  zu 
suchen.  Und  hierin  hat  dieses  Buch  ganz  bedeutencJe  A'orzüge  vor  ande- 
ren:    die    Knappheit    der    Regeln,    die    Zusammenstellung    des    Zusammen- 


HO  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

gehörigen,  die  Beschränkung  des  StoII'es  und,  was  nicht  zu  unterschätzen 
ist,  die  Übersichtlichkeit  des  Ganzen,  welche  wesentlich  durch  die  typogra- 
phische Ausstattung  unterstützt  wird.  Auch  die  Ausstattung  des  Buches  in 
Bezug  auf  Papier,  Schönheit  und  Gröfse  der  angewandten  Lettern  läfst  nichts 
zu  wünschen  übrig. 

Da  es  dem  Kecensenten  mehr  um  Darstellung  der  gröl'seren  Gesichts- 
punkte zu  thun  war,  von  denen  aus  diese  Grammatik  zu  beurteilen  ist,  so 
kann  er  sich  von  der  näheren  Erörterung  des  Details  dispensieren  und  zur 
Besprechung  des  die  Grammatik  ergänzenden  Übungsbuches  übergehen, 
nicht  ohne  den  \\'unsch  ausgesprochen  zu  haben,  dafs  die  Grammatik  den 
Kampf  mit  Vorurteil,  Schlendrian  und  Übelwollen  siegreich  bestehen  möge. 

II.  Das  Französische  Elementarübungsbuch  von  H.  Breymann  und  H.  Möl- 
ler schliefst  sich  an  die  Paragraphen  der  Schulgrammatik  an  und  stellt  gleich- 
falls einen  ganz  bedeutenden"  Fortschritt  gegen  die  bisherigen  Übungsbücher 
dar  und  darf  deshalb  als  ein  vorzügliches  Lehrmittel  bezeichnet  werden. 

Die  Verfasser  arbeiten  schon  auf  der  Elementarstufe  auf  Anbahnung  der 
Fertigkeit  im  mündlichen  Gebrauch  des  Französischen  hin.  Es  geschieht  dies 
von  §  97  an  (die  Zahl  aller  Paragraphen  ist  284)  durch  die  Abteilung  „Question- 
naire",  welche  den  Inhalt  der  zusammenhängenden  französischen  Lesestücke 
in  Frage  und  Antwort  behandelt.  Von  §  88  an  bilden  nämlich  die  franzö- 
sischen Mustersätze  zusammenhängende  Stücke  über  Dinge  und  Verhält- 
nisse, die  durchaus  im  Anschauungskreise  des  Schülers  liegen.  Jedoch  sind 
auch  die  einzelnen  Muster-  und  Übungssätze  der  vorausgehenden  Paragraphen 
«lurchaus  nicht  trivial,  sondern  sie  sind  mit  Geschick  ausgewählt  oder  erfunden. 
Die  französischen  Stücke  überwiegen  die  deutschen  Aufgaben  an  Zahl  (die 
Dictees  mitgerechnet  um  ca.  15)  und  namentlich  an  Länge.  Sollte  ein  Lehrer 
das  umgekehrte  Verhältnis  wünschen,  so  würde  er  die  französischen  Stücke 
mit  besonderer  Aufmerksamkeit  durchnehmen  und  als  Grundlage  zu  münd- 
lichen Ketroversionen  benützen  können,  wodurch  sich  viele  Übungen  er- 
geben würden.  Die  Zahl  der  im  Buche  vorkommenden  Vokabeln  scheint 
etwas  zu  bedeutend ;  aus  dem  angebängten  deutschen  Wörterverzeichnis 
ergiebt  sich  eine  Summe  non  ca.  2000  \'okabeln,  die  gewifs  nicht  alle  in 
einem  Jahre  gelernt  werden  können.  Die  Verfasser  wollen  allerdings,  dafs 
das  Buch  in  einem  Jahre  absolviert  werde.  Aber  was  hindert  denn,  zwei 
Jahre  auf  die  Durchnahme  desselben  zu  verwenden?  Recensent  würde  vor- 
schlagen, einige  —  etwa  hundert  —  der  ungewöhnlicheren  Wörter  wegzu- 
lassen und  mit  §  198  das  erste  Schuljahr  abzuschliefsen.  Dann  würden  — 
das  Schuljahr  zu  240  Sprachstunden  gerechnet  —  auf  jede  Lehrstunde  vier 
Wörter  treffen,  so  dafs  also  der  ganze  Vokabclreichtum  des  Buches  in  zwei 
Jahren  angeeignet  werden  könnte.  Dann  würden  die  unregelmäfsigen  Verba 
in  den  III.  Kurs  zu  verweisen  sein,  im  IV.  und  V.  würde  die  Syntax  ab- 
solviert und  das  sechste  Schuljahr  zu  einer  Generalrepetition  verwendet  wer- 
den. Recensent  würde  also  lieber  die  Behandlung  der  Syntax  um  ein  Jahr 
verschoben  sehen,  als  auf  die  Aneignung  der  im  Elementarübungsbuch  ge- 
botenen Vokabeln  verzichten.  Denn  die  ersten  Lnterrichtsjahre  sind  er- 
fahrungsgemäfs  die  günstigsten  für  das  Erlernen  von  Wörtern,  während  die 
späteren  günstiger  für  das  Erfassen  der  Syntax  sind,  und  andererseits  ist 
es  unbedingt  nötig,  dafs  zur  Erzielung  besserer  ünterrichtsresultate  und  um 
den  Schüler  in  den  Stand  zu  setzen,  sich  nach  dem  Verlassen  der  Schule 
selbständig  fortzubilden,  mit  Bedacht  und  systematisch  auf 
<lie  Erwerbung  eines  ausgedehnteren  Vorrates  unentbehr- 
licher  und  brauchbarer  Vokabeln   hingewirkt  werde. 

Nun  noch  einige  Worte  über  den  dritten  Gegenstand  dieser  Besprechung, 
über  die 

III.  Anleitung  zum  Gebrauch  des  französischen  Elementarbuches  von 
H.  Breymann  und  H.  Möller. 

Es  ist  dies  eine  sehr  beachtenswerte  kleine  Schrift,  deren  „Allgemeiner 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  111 

Teil"  auch  diejenigen  interessieren  wird,  welche  das  Elementarbucli  nicht 
benützen. 

Der  besondere  Teil  der  Schrift  giebt  dann  Aufschluls  darüber,  wie  sich 
die  Verfasser  die  Art  der  Benutzung  ihres  Buches  beim  Unterricht  vorstel- 
len. Sie  beeilen  sich  jedoch  hinzuzusetzen,  dafs  ihre  Erläuterung  keines- 
wegs die  Freiheit  des  Lehrers  hemmen  wolle,  sondern  dafs  die  Ziele, 
welchen  das  Elementarübungsbuch  zustrebt,  innerhalb  des  vom  Buche  vor- 
gezeichneten Rahmens  auch  auf  verschiedenen  "Wegen  erreicht  werden 
könnten. 

Wir  schliefjien  diese  Besprechung  in  der  Überzeugung,  dafs  die  be- 
sprochenen Bücher  einen  wesentlichen  Fortschritt  in  der  Unterrichtsmethode 
des  Französischen  bezeichnen,  und  mit  dem  Wunsche,  dafs  dieselben  allseitig 
die  Anerkennung  finden  möchten,  die  sie  so  sehr  verdienen. 

München,  Dezember  1884.  Th.  Wohlfahrt. 


Karl  R.  Holzinger  von  Weidicb,  Die  einfachen  Formen  des 
französischen  Zeitwortes  in  geordneter  Darstellung.  Graz, 
Leuschner  &  Lubensky,  1883.     618.    8. 

Die  Schrift  ist  für  den  Lehrer  bestimmt  und  versucht,'  die  Formen 
des  französischen  Verbums  ihrer  Bildung  nach  zu  erklären;  und  zwar  weder 
rein  geschichtlich,  noch  rein  deskriptiv,  sondern  es  wird  „derjenige  Teil 
eines  Zeitwortes,  durch  welchen  es  sich  von  allen  anderen  Zeitwörtern  seiner  Be- 
deutung nach  unterscheidet",  als  Stamm  des  neufranzösischen  Verbs  angesehen 
und  aus  diesem  die  verschiedenen  Formen  hergeleitet,  insofern  das  zwi- 
schen dem  Stamm  und  der  betreffenden  Form  bestehende  Verhältnis  auch 
im  Lateinischen  oder  wenigstens  in  der  alten  Sprache  vorhanden  war  und 
sich  somit  geschichtlich  rechtfertigt.  So  wird  für  tenir  als  Stamm  ten  an- 
gesehen,  dessen  e  in  den  stammbetonten  Formen  zu  ie  diphthongiert  wird, 
während  die  flexionsbetonten  Formen,  die  des  Futurs  ausgenommen,  dumpfes 
e  zeigen.  Das  p.  p.  bu  wird  durch  bevu,  beu  erklärt.  Als  ursprünglicher 
Stamm  dieses  Verbums  gilt  bev;  in  den  stammbetonten  Formen  des  Prä- 
sens ist  der  Vokal  des  Stammes  zu  oi  gesteigert.  Die  lautflektierenden 
(Gegensatz:  stummflektierenden)  Formen  des  Präsens  bildet  ein  anderer 
Stamm:  buv;  boire  ist  also  ein  „mehrstämmiges"  Verb,  indessen  gehören 
seine  verschiedenen  (Tempus-)Stämme  demselben  V^okalstamme  an. 

Dieses  Verfahren  des  Verfassers  läfst  sich  gutheifsen,  soweit  das  sprach- 
geschichtliche Korrektiv  im  Auge  behalten  wird.  Dies  geschieht  aber  nicht 
immer.  So  ist  das  „Konjunktivsuffix"  ss  in  j'aimasse  aus  essem  erklärt, 
während  amassem  zu  gründe  liegt.  Die  lateinischen  Verbalstämme  na,  pa, 
cre,  pare  und  (con)  no  diphthongierten  —  so  giebt  der  Verfasser  an  — 
beim  Übergänge  ins  Französische  ihre  Vokale  im  Präsensstarame  und  setz- 
ten das  Inchoativsuffix  an.  So  entstanden  die  Präsensstämme  naiss,  paiss, 
croiss,  paroiss,  connoiss.  Die  Entwickelungen,  welche  hier  als  „Diphthon- 
gierungen" zusammengefafst  werden,  sind  aber  nicht  in  eine  Reihe  zu  stel- 
len. Über  das  S.  37  Angegebene:  „Für  den  Ausdruck  ,leben'  ergänzen  sich 
die  beiden  defektiven  Zeitwörter  vivre  und  das  untergegangene  Zeitwort 
vescoir,"  ' wozu  es  in  der  Anmerkung  heifst:  „das  altfrz.  p.  p.  vescut  läfst 
auf  einen  Infinitiv  vescoir  schliefsen"  (!),  und  „für  den  Ausdruck  ,wissen' 
ergänzen  sich  savoir  und  das  untergegangene  sachir",  hätte  sich  der  Ver- 
fasser auch  aus  der  Sprachgeschichte  eines  anderen  belehren  lassen  können. 

Das  Büchlein  will  ein  Leitfaden  für  die  Behandlung  des  französischen 
Verbs  im  Unterrichte  sein.  Ich  gestehe  indessen  für  meinen  Teil,  zu  den 
„praktischen"  (die  Anführungszeichen  rühren  vom  Verfasser  her)  Lehrern 
zu  gehören,  bei  denen  „die  Versuche  dieser  Art  die  Furcht   vor  einer  Ver- 


Il2  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

j^röl'serung  der  Uiiterrichtsschwierigkeiten  nicht  zu  beseitigen  vermocht  hat". 
Gewils  ist  es  für  den  Schüler  am  leichtesten,  die  Verbalformen  mechanisch, 
ohne  Erklärung  zu  lernen.  AVill  man  aber  auf  einer  höheren  Stufe  eine  Er- 
klärung hinzutreten  lassen,  so  kann  dieselbe  nur  die  historische  sein,  weil 
es  eine  andere  nicht  giebt.  Auf  der  Gymnasialprima  wird  man  dies  gewifs 
zu  thun  wünschen,  sieh  aber  damit  begnügen  müssen,  gelegentlich  an  Bei- 
spielen die  strenge  Gesetzmäfsigkeit  der  Entstehung  der  späteren  Sprach- 
formen aus  älteren  nachzuweisen.     Ein  weiteres  ist  nicht  Sache  der  Schule. 

— g— 


Prof.  Dr.  W.  Wiedmayer,  Französische  Stilübungen  für  obere 
Klassen.     Stuttgart  1883.     126  S.    8. 

Das  Buch  bietet  eine  treffliche  Sammlung  zusammenhängender  Stücke 
zum  Übersetzen  aus  dem  Deutschen  ins  Französische.  Das  Übersetzen  der- 
selben, obwohl  durch  grammatische,  stilistische,  auch  synonymische  Anmer- 
kungen erleichtert,  wird  dem  Primaner  noch  Schwierigkeiten  genug  machen, 
ihn  aber  in  gleichem  Mafse  üben  und  fördern.  Der  praktische  Versuch  hat 
mir  dies  bestätigt.  Lobenswert  ist  auch,  dafs  hinsichtlich  des  Inhalts  die 
französische  Litteratur  besonders  berücksichtigt  worden  ist. 

Das  Buch  ist  zunächst  im  Anschlufs  au  des  Verfassers  „Syntax"  be- 
arbeitet, setzt  aber  deren  Gebrauch  keineswegs  voraus. 

Dr.  J.  B.  Peters,  Materialien  zu  französischen  Klassenarbeiten. 
Für  obere  Klassen  höherer  Lehranstalten.  Leipzifj  1882. 
72  S. 

Dieses  Büchlein  dient  ungefähr  dem  gleichen  Zwecke  wie  das  vorher- 
gehende. Über  die  Art  seiner  Benutzung  giebt  der  Verfasser  noch  näher 
an,  dafs  es  Extemporalien  zur  Übung  —  zu  unterscheiden  von  solchen, 
deren  Zweck  Prüfung  ist  —  dnrbietet  und  dafs  die  ganz  besonders  berück- 
sichtigten Synonymen  jedesmal,  wenn  eine  Gruppe  derselben  (ohne  Anfüh- 
rung des  Unterschiedes)  zusammengestellt  ist,  in  der  „vortrefflichen"  fran- 
zösischen Synonymik  von  Dr.  K.  Meurer,  die  er  bei  den  Schülern  voraus- 
setzt, nachzuschlagen  seien.  Auch  ich  unterscheide,  wie  der  \'erfasser,  beim 
Extemporale  zwischen  den  beiden  Zwecken  der  Übung  und  der  Prüfung. 
Das  dem  letzteren  Zweck  dienende  Extemporale  mufs  der  Lehrer  selbst  aus- 
arbeiten, da  der  augenblickliche  Standpunkt  der  Schüler  und  die  besonderen 
Erfahrungen  des  Lehrers  dabei  Berücksichtigung  fordern.  Mit  manchen 
neueren  Schuhnännern  ganz  auf  dasselbe  zu  verzichten  und  das  Feststellen 
des  \Aissens-  und  Könnensmafses  nur  dem  mündlichen  Unterricht  zuzu- 
weisen, halte  ich  nicht  für  rätlich:  die  bevorstehende  Prüfungsarbeit  ist  ein 
zu  gutes  Motiv  des  Lernens  für  den  Schüler.  Freilich  darf  sie  dann  nicht 
zu  häutig  kommen  —  vielleicht  monatlich,  das  Übungsextemporale  wöchent- 
lich. Was  aber  die  Behandlung  der  Synonymen  angeht,  so  ist  zunächst  das 
Meurersche  Büchlein,  welches  gleichzeitig  mit  den  „Materialien"  benutzt 
werden  soll,  herzlich  schlecht.  Wissenschaftlich  selbständige  Arbeit  läfst 
sich  ihm  nicht  nachrühmen,  es  zeichnet  sich  auch  nicht  einmal  durch  scharfe 
Bedeutungsbestimmung  oder  treffliche  Beispiele  aus.  Überhaupt  aber  soll- 
ti.  n  die  Synonymen  nicht  nach  einem  Buche  und  gewissermafsen  systematisch 
«lurchgenommen  werden.  Es  ist  kaum  ein  geistiger  Gewinn  damit  erzielt, 
dafs  der  Schüler  hundert  synonymische  Gruppen  kennt  und  das  über  die 
Unterschiede  Bemerkte  mehr  oder  minder  gut  wiederzugeben  weifs.  Viel 
mehr  gewinnt  er,  wenn  ihm  in  einigen  gelesenen  Stellen  der  Unterschied 
deutlich   vor  Augen   tritt,   so   dafs   eine   Vermittelung  durch    das    Hilfsbuch 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  113 

unnötig  wird.  Dabei  kann  man  etwa  so  verfahren,  dafs  eine  zuerst  begeg- 
nende Stelle,  welche  den  Bedeutungsumfang  des  einen  Synonymums  (z.  H. 
la  puissance)  klar  erkennen  läfst,  zunächst  scheinbar  aus  Anlafs  irgend  einer 
anderen,  z.  B.  grammatischen,  Eigentümlichkeit  oder  als  Sentenz  memoriert 
wird.  Tritt  nun  später  das  zweite  S}'nonymum  (le  pouvoir)  an  einem  an- 
deren Orte  gleichfalls  scharf  charakteristiscli  auf,  so  lenkt  man  die  Auf- 
merksamkeit der  Schüler  zugleich  auf  die  früher  memorierte  Stelle  zurück 
(falls  sie  sich  nicht  von  selbst  alsbald  darauf  besinnen  sollten)  und  entwickelt 
so  den  Unterschied,  bezw.  läfst  sie  selbst  denselben  auffinden.  Auch  kann 
eine  dem  Denken  des  Schülers  bisher  noch  nicht  geläufige  logische  Distink- 
tion  ihm  an  zwei  Synonymen  deutlich  gemacht  werden;  z.  B,  subjektive  und 
objektive  Beziehung  an  engl,  freedom  (Zustand  oder  Eigenschaft  eines  Sub- 
jekts) und  liberty  (objektiv,  die  Freiheit  substantiell  gedacht,  daher  auch 
bestimmte,  einzelne  Freiheiten).  So  wird  zunächst  dem  Erkennen  des  Schü- 
lers ein  gewisser  formaler  Gewinn  zugeführt,  und  die  verschiedenen  Bezeich- 
nungen, welche  eine  andere  Sprache  für  die  aufgefundenen  Begriffsnüancen 
ilarbietet,  prägen  sich  ganz  von  selbst  und  nebenbei  ein,  weil  sie  zur  Ver- 
deuthchung  der  Erkenntnis  dienen.  Es  wird  hierdurch  diejenige  Behand- 
lung der  Synonymen,  welche  ich  die  stoffliche  nennen  möchte,  vermieden 
und  durch  eine  vorwiegend  begriffliche  ersetzt:  es  wird  das  formelle  Den- 
ken  geschärft,  nicht  aber  das  (ledächtnis  belastet.  Bei  systematischer  Be- 
handlung dagegen  verliert  die  Synonymik  das  Anregende  und  vermehrt 
eio;entlich  nur  den  Unterrichtsstoff". 

Die  „Materialien"  sind  im  übrigen  zur  Übung  der  Schüler  oberer  Klas- 
sen nicht  ungeeignet.  Sie  setzen  etwas  geringere  Kenntnisse  voraus  als  das 
vorher  besprochene  Wiedmayersche  Buch. 

R.  Wilcke,  Anleitung  zum  englischen  Aufsatz.  Berlin  1881. 
68  S. 

Nach  dem  Titel  wird  man  von  dem  Büchlein  etwas  anderes  erwarten 
als  das,  was  es  wirklich  darbietet.  Dasselbe  enthält  nämlich  eine  allgemeine 
Stil-  und  Dispositionslehre  und  es  wird  dabei  das  Englische  nur  insofern  be- 
rücksichtigt, als  einmal  bei  den  vorkommenden  Kunstausdrücken  neben  der 
deutschen  die  englische  Bezeichnung  angegeben  wird,  und  als  zweitens  die 
Beispiele  dieser  Sprache  entnommen  sind.  Hierbei  hätte  sich  immer  noch 
viel  Idiomatisches  heranziehen  lassen,  so  dafs  das  Buch  wenigstens  einen 
Teil  seiner  Aufgabe  gelöst  hätte;  doch  ist  dies  nur  wenig  geschehen.  Auf 
unseren  Schulen  dürfte  sich  hiernach  von  dem  Büchlein  kaum  Gebrauch 
machen  lassen.  -  — g — 

Jules  Theisz,  Petite  histoire  de  la  litterature  francaise.  Löcse 
(Hongrie)  1883.     66  S.    8. 

Nicht  besser  und  nicht  schlechter  als  die  meisten  ähnlichen  Zusam- 
menstellungen. Der  Selbständigkeit  entbehrt  das  Büchlein  so  gut  wie  ganz, 
Sainte-Beuve,  Demogeot  u.  a.  sind  oft  wörtlich  ausgeschrieben. 

Guillaume  le  Conquerant.  Aus  Augustin  Thierrys  Histoire  de 
la  Conquete  de  l'Angleterre  par  les  Normands.  Mit  Ein- 
leitung (2  Seiten)  und  Noten  (3  Seiten)  zum  Schulgebrauch 
herausgegeben  von  Dr.  H.  Robolsky.  Leipzig  (ohne 
Jahreszahl). 

Die    Wahl    dieses    Gegenstandes    für    ein    Schullektürebuch    war    recht 
glücklich  und  hat,  wie  das  Erscheinen  einer   zweiten  Auflage   beweist,  Bil- 
Archiv  f.  n.  Spraclien.    LXXIII.  S 


114  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

ligung  gefunden.     Inhalt   und   Sprache    sind  zu   dem  angegebenen  Zwecke 
durchaus  geejfrnet. 

Gleiches  Ivob  verdient  das  von  demselben  Verfasser  herausgegebene 
Büchlein 

La  lettre  fraiKjaise.     Leipzig,  Renger. 

RoboLsky  hat  dasselbe  aus  dem  Nachlafs  seiner  verstorbenen  Schwester 
(Frau  Dr.  Toppe)  veröffentlicht.  Das  Büchlein  soll  dem  weiblichen  Ge- 
schleclit  als  Hilfsbuch  für  den  Briefstil  dienen  und  dürfte  diesen  Zweck 
nach  unserer  Meinung  ausgezeichnet  erfüllen. 

Grammatisches  Übungsbuch  für  den  Unterricht  in  der  fran- 
zösischen Sprache.  Im  Anschlufs  an  die  Schulgramraatik 
von  Plötz  bearbeitet  von  W.  Bertram.     Bremen  1881. 

Ein  willkommenes  Materialienbuch  für  denjenigesn,  welchem  der  Umfang 
der  in  der  Plötzschen  Schulgraramatik  gebotenen  Übungsstücke  nicht  aus- 
reicht. Zugleich  kann  der  gebotene  Stoff  für  die  Konversation  benutzt  wer- 
den. Für  einen  Vorzug  halten  wir  es,  dafs  die  französischen  Sätze  puten 
nationalen  Autoren  entnommen  sind  und  somit  die  Gewähr  eines  guten  Fran- 
zösisch bieten.  Wir  sind  im  Gegensatze  zu  anderen  der  Meinung,  dafs  ein 
französisches  Lehrbuch  seine  französischen  Sätze  stets  mustergültigen  fran- 
zösischen Schriftstellern  entlehnen  sollte.  Schreibt  der  Verfasser  sie  selbst, 
so  läuft  höchst  wahrscheinlich  manches  Nichtidiomatische  mit  unter.  Und 
sind  die  meisten  Lehrer  des  Französischen  in  der  französischen  Stilistik  (der 
praktischen)  denn  so  sattelfest,  dafs  das  Deutsch-Französische  manches  Lese- 
buches auch  sie  selbst  niemals  irreführt?  L. 


Miscellen. 


Re  Umberto. 
\'on    Richard    Schmidt- Cabanis,   übersetzt  von  Leopolde  Bizio. 


Heil  dir,  Savoyens  fürstlicher  Sprofs, 
Der  sich  den  Kampfpreis  gewann! 

Tapferster  Helden  würd'ger  Genofs  — 
Wird  man  dich  rühmen  fortan ! 

Mocht  auch  in  Kriegestänzen 
Blutiger  Lorbeer  dir 

Nimmer  den  Scheitel  noch   kränzen: 

Hell  soll  die  Palme  dir  glänzen  — 
Reinere  Zier!  — 

Wenn   durch   die  Gaue  erschütternd 

wild 
Donner  der  Schlachten  grollt; 

Wenn  auf  verwüstetem  Saatgefild 

Ehern  der  Würfel  rollt: 
Höllische  Mifsgewalten 

Können  doch  nimmer  im  Bann 
Mark  und  Sehnen  dort  halten; 

Frei  darf  die  Kraft  sich  entfalten  — 
Mann  gegen  Mann! 

Rüstiges  Ringen  im  wogenden  Kampf 
Frischt  und  weitet  die  Brust; 

Wiehernder  Rosse  mutig  Gestampf 
Steigert  des  Reiters  Lust; 

Ob  auch  sein  Blut  mufs  färben, 

Rinnend,  die  Scholle  rot, 
Sieg  doch  half  er  erwerben : 

Für  das  Vaterland  sterben  — 
Ruhm  reicher  Tod ! 


Salve,  0  sabaudo  Principe, 
Che   la  gran  lotta  hai    combattuto  e 

vinto ! 
AI  par  degli  avi  tuoi 
Magnanimo  sei  tu,   figlio  d'eroi. 
Se  pur  la  fronte  di  cruenti  allori 
Mai  piü  non  cingi, 
E  d'  ogni  altro  piü  splendida  e  piüpura 
Questa  palma,  che  in  pugno  oggi  tu 

stringi. 

Quando  1'  urlo  selvaggio 

E   il  tuon    delle   battaglie   empie   le 

terre, 
E  le  ubertose  biade 
11  bronzo  del  cannon  devasta  e  rade  ; 
Poter  non  v'  ha,   che   il  braccio  e  il 

nerbo  al  prode 
Abbia  mai  domo: 
La  forza  crompe,  ebbra  e  la  pugna, 

ed  arma 
La  febbre  del  lottar  1'  uom   contro 

r  uomo. 

11  fluttüar  deir  ardua 
Tenzon   rinfranca   al   combattente  il 

petto; 
La  scalpitante  zampa 
E    il    nitrir    del    cavallo    il   cuor   gli 

avvampa. 
Sia  pur  ch'ei  debba  imporporar  delsuo 
Sangue  la  terra, 
Se  il  premio  alfin    della  battaglia  ei 

giunge : 
Hello  e  il  morir  per  la  sua  patria  in 

guerra ! 

8* 


116 


Miscellen, 


Aber  ein  grausiges  Blachfeld  zumal 
Dehnt  sich  schweigend  und  weit 

Dort,   wo  im  dumpfigen  Krankensaal 

Lager  an  Lager  gereiht ; 
Dort,  wo  in  Jammerhöhlen 

Lauernd  die  Pest  sich  birgt; 
Wo  sich  der  Kühnste    mufs   stählen, 
Nur  die  Opfer  zu  zählen, 
Die  sie  erwürgt! 

Nimmer  der  Hörner  kriegrischer  Klang 
Dringt  dort  befeuernd  ans  Herz; 

Nimmer  ein  freudiger  Schlachtgesang 
Sänftigt  den  brennenden  Schmerz ; 

Nimmer  der  Banner  Winken 

Hebt  den  zagenden  Sinn  — 
Nimmer  der  Waffen  Blinken: 
Streiter  um  Streiter  sinken 
Wehrlos  dahin! 

Tückisch  des  Dämons  eisige  Hand 
Taucht  in  schwärendes  Gift 

Pfeile  —  schärfer  denn  Diamant; 

Ziellos  schiefst  er  —  und  trif!t! 
Wälle  verwesender  Leiber 

Stützen  des  Furchtbaren  Macht; 
Greise  und  Kinder  und  "Weiber 
Rafft  er  —  ein  gieriger  Räuber  — 
Jäh  über  Nacht!  — 

Du  aber  trotztest  des  Würgers  Wut, 
Hieltest  dem  Schrecknis  stand ; 

Fachtest  der  Feigen  gesunknen  Mut, 
Die  zur  Flucht  schon  gewandt. 

Furchtlos,  inmitten  Leichen, 
Ruhte  dein  Königsblick 

Auf  dem  Unhold,  dem  bleichen, 

Bis  er  doch  mufste  weichen 
Endlich  zurück ! 

Also  hervor  aus  grimmem  Gefecht 

Schrittest  als  Sieger  du, 
und  deine  Bürger  jauchzen  mit  Recht 

Ihrer  Edelstem  zu  — 
Weihen  den  Kranz  dir  der  Ehren, 

Der  deinem  Wirken  gebührt; 
Sieh,  und  den  friedlich  hehren 
Haben  des  Dankes  Zähren 
Perlengeziert. 

Selbst   deiner  Feinde  düsteres  Heer, 
Das  sich  „unfehlbar"  glaubt: 


Ma  miserando  e  lugubre 
L'  ampio  quadro  ivi  s'  apre,  ove  fra 

il  greve 
Tanfo  deir  ospedale 
Lunghe  file   di  letti  empion  le  sale; 
Ove  in  tugurii  squallidi  la  peste 
Tende  1'  agguato ; 

Ove  fino  il  piü  ardito  ha  raccapriccio 
Le   vittime   a    contar,    ch'    essa   ha 

strozzato. 

Ivi  al  clangor  di  belliche 
Trombe  non  vibra  e  non  si  accende 

il  cuore; 
Ivi  non  tempra  il  fiero 
Duol    di    chi    sofl're    un    lieto    inno 

guerriero ; 
Ivi  il  lampo  delT  armi,  e  la  bandiera 
Ai  venti  stesa 

Non  rialza  il  coraggio  a  chi  vacilla: 
Iva  cade  ciascun  senza  difesa. 


La  fredda  man  del  demone, 
Piü   che    il    diamante    aguzze,    entro 

il  veleno 
Marcio  le  freccie  intride: 
Scocca  senza  mirar,  colpisce  e  uccide. 
Vigor  le  danno  i  monti  dei  cadaveri 
Tmputriditi; 

Vecchi,  donne  e  fanciuUi,  in  una  notte, 
II  vorace  ladron  tutti  ha  rfipiti. 


Ma  tu  1'  ernpio  carnefice 
Tu  r  hai  sfidato,  e  atteso  a  pie'  sicuro  ; 
Alle  turbe  fuggenti 
Nuovo  cor  desti  tu,  nuovi  ardimenti. 
Fra  i  cadaveri  immoto,  il  tuo  fissasti 
Sguardo  di  Re 

Sovra  il  pallido  mostro;  ed  esso  infine 
Ceder   dovette,   o   Umberto,    innanzi 

a  te. 

Cosi  dal  fiero  eccidio 
Trionfatore  uscisti,  e  al  sommo  erede 
Delle  virtü  sabaude 
Dair  Alpi  al  mar  tutta  l'Italia  applaude. 
La  Corona  al  valor  t'  han  consacrata 
Tutte  le  genti; 

Ma  le  perle  piü  belle  al  tuo  diadema 
Le  lagrime  saran  dei  tuoi  redenti. 


Perfino  il  bleco  esercito 
Che   „infallibil"   si   crede    e   sul   tuo 

capo 


Miücellen. 


117 


Ol)    dich's    verflucht    und    verketzert 

schwer, 
Neigt  nun  verstummend  das  Haupt; 
Leider  vergebens  flehten 

All  ihre  Heilgen  sie  an, 
Dafs  die  ein  \\'under  thäteu  — 
Du  aber  —  ungebeten  — 
Hast  es  gethan ! 

Heil  dir,  Italias  tapferer  Hehl, 

Blühendes  Königsreis! 
Klingen  soll  hinaus  in  die  \\'elt 

Laut  deines  Namens  Preis! 

Mehrt'  auch  kein  ^'ölkermorden 

Noch  deiner  Krone  Glanz: 
Bist  doch  für  Süd  und  Norden 
Wahrhaft  ein  Vater  worden  i 

Des  Vaterlands!        ♦ 


Impreca  c  malcdice, 

Ammutoliscc  c  piega  la  cervice; 
Invan  dai  loro  santi  essi  un  prodigio 
Hanno  invocato, 

Li  pregarono  invan ;  —  ma  lo  facesti 
11  miracolo  tu:  —  tu  non  pregato. 


Italo  eroe,  di  Principi 
Rampolio  vigoroso,  io  ti  saluto ! 
Dee  d'  ogni  terra  in  fondo 
Empiere   il    suon    della    tua    fama   il 


S'  anco   il   fulgor 


mondo. 
di   tua    Corona    in 


guerra 


Tu  non  aumenti, 

Fin  nel  settentrione  ultimo,  Padre 

Te  della  patria  chiameran  le  genti. 


Lateinschrift  oder  deutsche  Schrift? 

Es  ist  in  neuerer  Zeit  vielfach  der  Wunsch  ausgesprochen  worden,  in 
unseren  Büchern  und  Schriften  nur  ein  Alphabet,  und  zwar  das  sogenannte 
lateinische  anzuwenden,  und  da  diese  Frage  für  das  deutsche  Kultur-  und 
Geschäftsleben  von  gröfserer  Wichtigkeit  ist,  als  es  bei  oberflächlicher  Be- 
trachtung scheint,  dürfte  eine  nähere  Beleuchtung  jedem  vaterländisch  Ge- 
sinnten von  Interesse  sein.    Wägen  wir  die  Gründe  für  und  wider  parteilos  ab. 

Gründe   gegen    die    ausschliefs liehe    Anwendung    der    Latein- 

sch  rift. 

1)  Die  Gegner  der  Lateinschrift  sagen,  es  sei  unpatriotisch,  die  uns 
eigentümliche  deutsche  Schrift  aufzugeben.  Sie  sprechen  damit  einen 
Grund  aus,  der,  wenn  er  sich  als  richtig  erweisen  sollte,  schwerwiegend 
cenug  wäre,  die  vorgeschlagene  Neuerung  zurückzuweisen.  Es  ist  dies 
jedoch  nicht  der  Fall.  Die  Sache  liegt  anders.  Um  sie  richtig  zu  stellen, 
müssen  wir  sagen:  Die  „lateinische"  wie  die  „deutsche"  Schrift  sind  beide 
deutsch;  oder:  die  lateinische  Schrift  ist  die  runde  —  die  deutsche 
Schrift  die  eckige  Form  desselben  Alphabets. 

Hier  der  Beweis  dafür.  Eine  Schrift,  welche  aus  dem  Wesen  unserer 
Sprache  hervorgegangen  wäre,  also  eine  eigentümliche  deutsche  Schrift, 
haben  wir  nie  gehabt:  die  Runen  wird  man  weder  so  nennen,  noch  sie 
wieder  einführen  wollen.  Wir  bekamen  unsere  Kultur  von  den  Römern 
und  mit  ihr,  vorzüglich  bei  Einführung  des  Christentums,  die  lateinischen 
Buchstaben.  Die  lateinische  Schritt  wurde,  nachdem  sie  sich  unseren  Laut- 
verhältnissen angepafst  hatte,  zur  christlich-deutschen. 

Alle  -deutschen  Werke  bis  zur  Erfindung  der  Buchdruckerkunst  sind  in 
dieser,  der  „lateinischen"  Schrift  geschrieben.  So  die  Bibelübersetzung  des 
Ulfila  um  400,  wie  das  Wessobrunner  Gebet,  das  Hildebrandslied,  der  Heliand 
um  800,  das  Ludwigslied,  Notkers  Psalmen  und  die  ganze  reiche  Litteratur, 
deren  Sprache  durch  „mittelhochdeutsch"  bezeichnet  wird,  z.  B.  das  Nibe- 
lungenlied, Gudrun,  Titurel,  Parsifal,  Lohengrin,  Tristan  und  Isolde,  Frei- 
danks Bescheidenheit,  Reineke  Fuchs,  sämtliche  Minnelieder  von  Heinrich 
von  Veldeke  bis  Ulrich  von  Lichtenstein  u.  s.  w. 

Begreiflicherweise  stimmten  die  Schriftzüge  der  verschiedenen  Schreiber 


118  Miscellen, 

nicht  völlig  überein,  namentlich  suchten  die  Mönche,  welche  sich  mit  Ab- 
schreiben beschäftigten,  die  Buchstaben  auf  mannigfache  Weise  zu  verzie- 
ren, und  so  kam  es,  dafs  Gutonberg,  als  die  Entscheidung  an  iim  trat, 
welche  bestimmte  Form  er  den  Drucklettern  geben  solle,  statt  der  reinen, 
runden  Form  der  Lateinschrift  die  gebrochene,  verschnörkelte  Zierschrift 
zum  Muster  nahm. 

Natürlich  druckte  man  allenthalben  mit  diesen  Lettern :  nicht  nur  in 
Deutschland,  sondern  auch  in  Frankreich,  Spanien,  Holland  u.  s.  w.  lange 
Zeit  hindurch.  Bei  der  steigenden  Geschmacksbildung  indessen  wurden  die 
Buchstaben  wieder  mehr  gerundet.  Die  nicht  gebrochene  Schrift  trug  den 
Sieg  davon.  Zuerst  bei  den  romanischen  Völkern  und  dann  bei  Schweden, 
Dänen,  Böhmen.  Nur  die  Deutschen  blieben  zurück.  Sie  sahen  sich  zwar 
durch  den  internationalen  Verkehr  gezwungen,  die  alte  runde  Schrift  wieder 
anzuwenden,  behielten  aber  unpraktischerweise  die  eckige  Schrift  daneben 
bei.  So  entstand  die  unnatürliche,  unerhörte  Einrichtung,  dafs  eine  Sprache 
durch  zwei  Alphabete  dargestellt  wurde.* 

AVir  haben  also  jetzt  eine  runde  und  eine  eckige  Lateinschrift  und 
nennen  unlogischerweise  die  letztere  deutsch.  Freilich  kommt  auf  den  Namen 
wenig  an ;  er  ändert  an  der  Sache  nichts,  wohl  aber  erschwert  er  die  Heilung 
des  Übels.  Hätte  man  stets  von  Rundschrift  und  Eckenschrift  geredet,  so 
würde  jetzt  keine  patriotische  Regung  der  Rückkehr  zu  den  einfachen 
natürlichen,  sprachrichtigen  \  erhältnissen  hemmend  entgegentreten,  sondern 
man  würde  fragen :  Welche  Schrift  sollen  wir  aufgeben,  die  runde  oder  die 
eckige?     Und  die  Antwort  könnte  nicht  schwer  fallen. 

Verschieben  wir  diese  Antwort  jedoch  bis  ans  Ende  unserer  Unter- 
suchung. Alle  Vorzüge  und  Mängel  der  einen  wie  der  anderen  Schrift 
müssen  erwogen  sein,  bevor  eine  gründliche  Entscheidung  getroffen  werden 
darf.  Trotzdem  die  sogenannte  deutsche  Schrift  nicht  ausschliefslich 
deutsch  ist,  könnte  es  sich  doch  herausstellen,  dafs  sie  als  die  zweckmäfsigere 
anerkannt  werden  müfste.  Haben  wir  doch  unsere  deutschen  Mafse  un<l 
Gewichte  gegen  fremdländisshe  aufgegeben,  ohne  uns  dabei  durch  mifsver- 
standenen  Patriotismus  beirren  zu  lassen!  Deutsche  Verkehrtheiten  be- 
wahren zeugt  eher  von  allem  anderen  als  von  Liebe  zum  V'aterlande. 

2)  Die  Rundschrift,  heifst  es  bisweilen,  nimmt  mehr  Zeit  in  Anspruch. 
Zur  Klarstellung  dieser  Angabe  frage  man  sich :  Nehmen  die  Rundbuch- 
staben mehr  Raum  ein?  Und  die  Antwort  lautet:  Nein,  im  Gegenteil;  folg- 
lich kann  das  Überblicken  durchaus  nicht  mehr  Zeit  erfordern.  „Gleich- 
wohl," wird  vielleicht  dieser  oder  jener  Leser  erwidern,  „bedarf  ich  that- 
sächhch  mehr  Zeit  dazu."  Zugegeben.  Das  aber  liegt  nicht  an  der  Schrift, 
sondern  an  Übung  und  Gewohnheit.  Der  Ausländer  wird  Gleiches  von  der 
deutschen  Schrift  behaupten.  Was  aber  das  Schreiben  der  beiden  Schrift- 
arten betrifft,  so  beachte  man  den  Umstand,  dafs  die  deutsche  Schrift  101, 
die  lateinische  dagegen  nur  94  Grundstriche  in  ihrem  Alphabete  enthält. 

3)  Endlich  macht  man  noch  darauf  aufmerksam,  dafs  die  allgemeine 
Einfuhrung  der  Lateinschrift  auf  grofse  Schwierigkelten  stofsen  würde. 
Ohne  Zweifel  entständen  solche,  wenn  z.  B.  die  Rede  von  dem  griechischen 
oder  arabischen  Alphabete  wäre;  allein  die  Kundschrift  brauchen  wir  nicht 
zu  lernen  —  wir  alle  kennen  und  können  sie  ohne  Ausnahme.  Sie  wird 
nicht  etwa   nur  in  den  Gymnasien  und  Realschulen,   sondern   schon   in   der 


*  Der  Natur  der  Sache  angemessen,  mufs  die  Sprache  für  jeden  Laut  einen 
Buchstaben  besitzen,  also  für  den  Laut  a  den  Buchstaben  a;  wir  aber  haben  acht 
Zeichen  dafür:  ein  geschriebenes,  ein  gedrucktes,  und  zwar  grofs  und  klein  in  deut- 
scher Schrift  und  ebenso  viele  in  Latein  —  sämtlicli  voneinander  verschieden.  Und 
so  alle  übrigen  Buchstaben.  Welche  Last  durch  diesen  nutzlosen  Uberflufs  vor- 
züglich der  lernenden  Jugend  erwächst,  fällt  in  die  Augen. 


Miscellen.  119 

untersten  Klasse  siimtUcIier  Volksscbiilen  gelehrt  und  jnjeiibt  und  findet  in 
stets  wachsendem  Mafse  Anwendung.  Wir  sind  an  ihren  Gebrauch  der- 
gestalt gewöhnt,  dafs  sie  in  manchen  Fallen  als  selbstverständlich  erscheint. 
Giebt  es  irgend  eine  Landkarte,  einen  Globus  mit  sogenannter  deutscher 
Schrill?  Oder  Post-  und  Stempelmarken,  ]\liinzen,  Postkarten?  Auch  die 
Inschriften  auf  Denkmalern,  die  Schilder  an  Verkaufsstellen,  die  Eisenbahn- 
Fahrplane  und  Billets,  die  durch  den  Drucktelcgraphen  hergestellten  Tele- 
gramme, das  Papiergeld  und  Millionen  von  Cirkularen  und  Formularen  der 
Kaufleiite  werden  fast  ausschliefslich  in  Rundsclirift  gedruckt,  sowie  Tau- 
sende von  deutseben  Büchern  und  Zeitschriften.  Der  Einführung  der  Rund- 
schrift steht  also  kaum  eine  nennenswerte  Schwierigkeit  entgegen.  Es  ist 
keine  Neuerung,  sondern  lediglich  eine  praktische  Durchführung  des  Be- 
stehenden.    Wir  brauchen  nur  zu  wollen. 

Gründe  für  die  ausschliefs liehe  Anwendung   der  Rundschrift. 

Ergiebt  sich  aus  dem  Obigen,  dafs  die  Anwendung  der  Rundschrift 
mit  keinem  Nachteile  verbunden  ist,  so  bleibt  noch  übrig,  zu  untersuchen, 
ob  sie  auch  genügende  Vorteile  bietet,  um  ihre  Durchführung  anzuraten. 
AVir  bemerken  darüber  folgendes: 

1)  Die  Rundschrift,  wie  bereits  angedeutet,  zeigt  einfachere,  edlere, 
deutlichere  Formen  als  die  gebrochene,  verschnörkelte,  altmodische  Ecken- 
schrift; sie  ist  also  schöner.  Vergl.  %  A.  S  W,  9Ji  M,  ^  K,  !  k,  ^)  p, 
v^  s  u.  s.  w.  2)(5lIX2(£§eS  Si^SCsSi?  DEUTSCHES  REICH!  Dafs  wir 
auch  die  gebrochene  Schrift  schön  finden,  ist  ein  Ergebnis  des  falschen 
Patriotismus  und  der  Macht  der  Gewohnheit.  Der  Mensch  und  besonders 
der  deutsche  Philister  findet  überall  das  schön,  was  er  liebt  und  woran  er 
sich  gewöhnt  hat.  Jeder  Fremde  wird  unsere  Eckenschrift  unschön  finden. 
Und  wir  sollten  stolz  auf  diese  Schrift  sein? 

2)  Die  Rundschrift  ist  wohlthätig  für  die  Augen.  In  keinem  Lande 
giebt  es  so  viel  Kurzsichtige  wie  in  Deutschland.  In  den  Oberklassen  der 
(Tvmnasien  finden  sich  nach  ärztlich  und  amtlich  angestellten  Untersuchungen 
durchschnittlich  60  Proz.  Kurzsichtige  ^verschiedenen  Grades,  und  selbst  in 
Töchterschulen  20,30  Proz.  Fremden  Ärzten,  welche  Deutschland  besuchen, 
fallen  die  vielen  jugendlichen  Brillenträger  als  etwas  Besonderes  auf,  und 
fast  alle  stimmen  darin  überein,  dafs  sie  die  Eckenschrift  als  Hauptquelle  des 
Übels  ansehen.  Die  vielen  Spitzen  und  Zacken  der  deutschen  Buchstaben 
reizen  das  Sehorgan.  Ein  ermüdetes  Auge  fühlt  sich  erleichtert,  wenn  es 
zum  Lesen  lateinischer  Schrift  übergeht.  Freilich  mufs  man  im  Lesen  der- 
selben geübt  sein.  Wer  selten  Lateinschrift  liest,  ist  gezwungen,  schärfer 
zuzusehen,  weil  ihm  die  runden  Formen  ungewohnt  sind,  und  er  kann  des- 
halb leicht  in  den  Irrtum  verfallen,  die  Rundschrift  sei  anstrengender. 

Indes,  das  Lesen  der  deutschen  Druckschrift  ist  noch  nicht  halb  so 
veiiderblich  wie  das  Schreiben  und  Lesen  der  Schreibschrift.  Die  feinen 
Striche,  aus  welchen  sie  besteht,  erfordern  eine  hohe  Spannung  der  Seh- 
kraft, vollends  bei  der  meist  blassen  Schultinte  und  bei  schwacher  Beleuch- 
tung, weitab  vom  Fenster,  in  der  Abenddämmerung,  bei  einer  flackernden 
Kerze  u.  s.  w.  Und  nun  ermesse  man  die  Verwüstung,  welche  die  jetzt 
gebräuchlichen  häuslichen  Aufgaben:  stundenlanges  Schreiben  in  solcher 
Schrift,  an  den  Augen  anrichten  müssen!  Es  ist  kaum  begreiflich,  dafs 
sich  nicht  deshalb  schon  längst  alle  Eltern,  denen  die  Gesundheit  ihrer 
Kinder  am  Herzen  liegt,  gegen  die  Beibehaltung  der  verderblichen  Ecken- 
schrift empört  haben. 

3)  Die  Handschrift  wird  fester,  wenn  die  Jugend  nur  eine  Art  von 
Schrift  zu  lernen  hat.  Rundschrift  und  Eckenschrift  sind  so  grundverschie- 
den, dafs  sich  die  Führung  der  Feder  danach  richten  mufs.  Hat  sich  der 
Lernende  kaum  an  die  eine  Art  der  Handbewegung  gewöhnt,  so  zwingt 
uum  ihn,  zu  der  anderen  überzugehen.    Beide  stören  sich  gegenseitig.    Erst 


j20  Miscellen. 

spiit  wird  Festigkeit  erlangt.  Daher  fimlet  sich  in  Deutschland  verhalt- 
nismäfsig  viel  seltener  eine  sichere,  ausgeprägte  Handschrift  als  z.  B.^  in 
Enal.'iiut  AVer  sich  auf  zwei  verschiedenen  Instrumenten,  etwa  auf  Geige 
und  Klavier,  ausbildet,  erreicht  niemals  Virtuosität. 

4)  Die  Lernlast  der  Jugend  wird  durch  Beseitigung  der  Eckenschrift 
erleichtert.  Das  Lesen-  und  Schreibenlernen  nimmt,  von  Orthographie  ganz 
abgesehen,  bekanntlich  geraume  Zeit  in  Anspruch,  in  Deutschland  augen- 
fäUig  doppelt  so  viel  als  in  Frankreich  oder  England,  und  es  nützt  wenig, 
wenn  man,  wie  es  z.  B.  in  manchen  Fibeln  geschehen  ist,  zu  der  Schreib- 
schrift zugleich  die  Druckschrift  deutsch  und  lateinisch  hinzufügt,  weil  dem 
Kinde  dabei  für  einen  Laut  acht  Zeichen  gegeben  werden  und  diese  Zeichen 
zum  Teil  so  verschieden  sind,  dafs  sie  den  Schüler  notwendig  verwirren. 
Wie  ganz  anders  würde  sich  dieser  Unterricht  gestalten,  wenn  wir  nur  ein 
Alphabet:  das  lateinische,  hätten!  Rektor  R.  Dietlein  hat  sich  das  grofse 
Verdienst  erworben,  eine  Fibel  (Berlin  1881,  Th.  Hofmann)  drucken  zu 
lassen,  welche  nach  dieser  Voraussetzung  eingerichtet  ist.  Mittels  eines 
solchen  Buches  lesen  und  schreiben  zu  lernen,  wird  den  Kindern  eine 
Freude  sein.  Die  Ähnlichkeit  zwischen  Schreib-  und  Druckschrift  braucht 
nicht  mühsam  aufgesucht  zu  werden,  da  namentlich  bei  den  kleinen  Buch- 
staben (rt  d  e  h  m  n  r  v  u.  s.  w.)  thatsächlich  fast  gar  kein  Unterschied 
vorhanden  ist,  wie  die  Dietleinsche  Fibel  deutlich  zeigt.  Hier  sind  es  vor- 
züglich Lehrer  und  Eltern,  von  denen  wir  das  werkthätige  Handeln  er- 
warten, um  der  Jugend  das  Kleinod  der  einheitlichen  Schrift  zu  erringen. 

5)  Die  ausschlief<liche  Anwendung  der  Rundschrift  erleichtert  den  Ver- 
kehr mit  anderen  Völkern.  Der  Rundschrift  bedienen  sich,  Russen  und 
Griechen  ausgenommen,  alle  V^ölker  von  Europa,  Amerika  und  Australien, 
und  bekannt  ist  sie,  wohin  nur  Europäer  und  Amerikaner  gedrungen  sind: 
sie  ist  eine  Weltschrift.  Der  Wunsch,  dafs  alle  Menschen  eine  Sprache 
reden  möchten,  wird  vielleicht  nie  in  Erfüllung  gehen;  dagegen  ist  wenig- 
stens eine  einheitliche  Schrift  fast  erreicht,  und  damit  für  den  geistigen  wie 
geschäftlichen  Verkehr  der  Völker  ein  ebenso  wichtiges  Erleichterungs mittel 
geschafien,  wie  die  Eisenbahnen  und  Telegraphen  es  bieten.^  Wie  seltsam, 
dafs  gerade  das  Volk  der  Dichter  und  Denker  in  diesem  einen  Punkte  so 
hinter'  der  vorschreitenden  Kultur  zurückgeblieben  ist  und  den  augenfälligen 
Gewinn  für  Verlust  ansieht! 

Dafs  Deutschland  diese  aufserordentlich  grofsen  Vorteile  nicht  beachtet, 
läfst  sich,  wie  gesagt,  nur  aus  mifsverstandenem  Patriotismus  erklären  und 
aus  jenem  unglückseligen  Eigensinne,  der  die  Schwächen  früherer  Jahr- 
hunderte in  ehrfurchtsvoller  Scheu  auch  jetzt  noch  beibehalten  will.  Es 
sollten  gerade  die  Deutschgesirnten  für  einen  Fortsehritt  eintreten,  welcher 
uns  nur  P2hre  und  Nutzen  bringen  kann  und  den  Ausländern  ein  grofses 
Hindernis  bei  Erlernung  unserer  Sprache  hinwegräumt.  Die  deutsche  Sprache 
und  Litteratur  kann  sich  an  Schönheit  und  Gediegenheit  mit  allen  andeT-en 
der  Erde  messen,  ja,  übertrifft  sie  in  manchen  Beziehungen;  aber  dennoch 
wird  sie  im  Auslande  noch  immer  zu  wenig  erlernt  und  gewürdigt,  und 
daran  träo-t  einen  erofsen  Teil  der  Schuld  unsere  unglückliche,  altmodische 
Eckenschrift. 

Wir  sind  mit  unserer  Betrachtung  zu  Ende  und  glauben  ihr  gemäfs  zu 
folgendem  Schlüsse  berechtigt  zu  sein: 

„Die  alleinige  Anwendung  der  Lateinschrift  bringt  keinen  nationalen 
Nachteil,  wohl  aber  wichtige  Vorteile;  die  Lateinschrift  ist  also  unbedenk- 
lich vorzuziehen,  und  es  liegt  jedem  Deutschen  die  Pflicht  ob,  diese  wohl- 
thUtifre  Reform  mit  allen  Mitteln,  die  ihm  zu  Gebote  stehen,  herbeiführen 
zu  helfen." 

Schliefslich  führen  wir  noch  einige  Urteile  anderer  über  die  Latein- 
schrift an. 

Jakob    Grimm    und    alle    germanistischen   Sprachforscher  haben   die 


Miscellen.  121 

Rundschrift  für  die  eigentlich  deutsche  und  vorzüglichere  erklärt.  Der  1868 
zu  Jena  verstorbene,  als  Sprachforscher  weit  berühmte  Prof.  A.  Schleicher 
z.  B.  sagt  darüber  in  seiner  Schrift  „Die  deutsche  Sprache":  „Ein  grofser 
Übelstand  ist  die  Beibehaltung  der  von  unseren  romanischen,  germanischen 
und  slavischen  Nachbaren  fast  durchaus  bereits  abgeschafften  verzerrten 
und  verschnörkelten  Schrift,  wie  sie  zur  Zeit  der  Erfindung  der  Buchdrucker- 
kunst gerade  üblich  war.  Keineswegs  ist  die  Schrift  etwa  eine  deutsche, 
etwas  uns  Eigentümliches,  Nationales;  diese  Entstellung  der  lateinischen 
Schrift  war  vor  einigen  Jahrhunderten  bei  allen  Nationen  üblich;  aber,  wie 
denn  überhaupt  der  Geschmack  sich  in  vieler  Beziehung  wieder  dem  Ein- 
fachen, Natürlichen  zuwandte,  man  kehrte  auch  hier  zu  den  edleren,  reinen 
Formen  zurück;  nur  wir  Deutschen  halten  zur  Unbequemlichkeit  für  den 
Ausländer  und  für  uns  sellist,  die  wir  alle  zwei  Schriften  lesen  und  schreiben 
lernen  müssen,  an  der  verkehrten  Sitte  einer  geschmacklosen  Zopfperiode 
fest." 

Als  Beleg  für  den  Eindruck,  welchen  unsere  Schrift  auf  Nichtdeutsche 
macht,  möge  auch  eine  Stelle  aus  der  in  London  erscheinenden  Daily  News 
hier  Platz  finden.  Dort  heifst  es:  Frankreich,  Italien  und  England  bringen 
allerdings  so  gute  Bücher  hervor  wie  Leipzig,  Hannover,  Berlin ;  aber  wir 
können  doch  ohne  die  deutschen  Bücher  nicht  wohl  fertig  werden.  Die 
deutsche  Schrift  jedoch  giebt  der  ^' ersuchung,  an  der  deutschen  Wissen- 
schaft vorbeizugehen,  eine  besondere  Stärke.  Die  Druckbuchstaben  sind 
knorrig,  verzwickt,  spitzig,  abstofsend.  Jeder  hat  eine  Familienähnlichkeit 
mit  irgend  einem  anderen  und  viele  sind  so  vollgespickt  mit  kleinen  Dornen, 
d.ifs  die  dem  Auge  wirklich  weh  thun.  Das  kleine  f  z.  B.  ist  so  zackig  wie 
die  Kriegskeule  eines  Südsee-Tnsulaners,  das  kleine  f  und  f  kosten  dem  Aus- 
länder, der  Deutsch  lernt,  manche  mühselige  Reise  durchs  Wörterbuch. 
Das  33  und  3}  führen  zu  verhängnisvollen  Verwechselungen.  Natürlich  lernt 
durch  beständige  Übung  der  Fremde  seinen  Weg  ins  Alphabet,  aber  auf 
Kosten  seiner  Zeit,  seiner  Augen  und  auch  wohl  seiner  guten  Laune. 

.    Wiesbaden.  Dr.  W.  Fricke. 

Lettres  de  M.  Guizot. 

Vor  kurzem  erschienen  in  der  bekannten  Verlagsbuchhandlung  von 
Hachette  &  Cie.  in  Paris  „Lettres  de  AL  Guizot  a  sa  famille  et  a  ses  amis 
recueillies  par  Mme  de  Witt  nee  Guizot."  —  Die  von  einer  Tochter  oder 
Cousine  des  1875  .verstorbenen  Autors  herausgegebene  Sammlung  besteht 
aus  153  Briefen  znd  bildet  einen  der  bekannten  stattlichen  Gelbbände  von 
436  Seiten.  Die  Briefe  sind  chronologisch  geordnet,  beginnen  vom  28.  Ok- 
tober 1810  —  also  im  25.  Jahre  Guizots  —  und  reichen  bis  zum  22.  Mai  1874. 

Wenn  auch  das  Werk  in  erster  Linie  in  Frankreich,  vor  allem  von  den 
Freunden  des  Schriftstellers  und  von  den  politischen  Gesinnungsgenossen 
des  Staatsmannes  mit  Enthusiasmus  gelesen  werden  wird,  darf  es  doch  in 
Deutschland  nicht  unbekannt  bleiben.  Denn  wenn  die  Briefe  schon  als 
Vervollkommnung  und  Vervollständigung  des  biographischen  Materials  man- 
chem willkommen  sein  dürften,  wenn  sie  manche  neue  Linie  zur  Zeichnung 
und  Beurteilung  des  Verstorbenen  bieten,  so  übt  vor  allem  der  geistvolle 
Stil  eine  hohe  Anziehungskraft  aus.  Neben  der  Kürze,  Präcision  und  Klar- 
heit,  welche  Guizot  in  seinen  geschichtlichen,  politischen  und  philosophischen 
Werken  anstrebt,  wirkt  hier  die  dem  Briefstil  eigene  Innigkeit  —  ich  möchte 
sagen  Innerlichkeit  —  wohlthuend  auf  den  Leser.  Der  Autor  ist  hier  nicht 
blofs  Verstandesmensch  und  nobeler  Charakter,  er  erscheint  als  liebender 
Gatte,  sorgsamer  Vater  und  teilnehmender  Freund;  er  läfst  uns  hinter  den 
durch  Politik  und  Ceremoniell  gezogenen  Vorhang  in  das  innere  Seelen- 
leben blicken. 


122  Miscellen. 

In  Bezug  auf  die  bei  der  Korrespondenz  in  Betracht  kommenden  Per- 
sonen lassen  sich  die  153  Briefe  in  vier  Gruppen  teilen:  1)  Briefe  an 
Familien  gl ie der  (Frau,    Kinder,    Schwägerin    u.  s.  w.)   —    etwa   40    — ; 

2)  Briefe  an  Schriftsteller   des  In-  und  Auslandes  (Barante,  Remusat, 
Vitet,  Mad.  Au;zuste  de  Gasparin,  MIstress  Austin,  Älad.  Lenormant),  ca.  50: 

3)  Briefe  an  französische  und  englische  Staatsmänner  (Duc  de  Broglie, 
General    Bugeaud,    Lord    Aberdcen,    Mr.    Piscatory),    vielleicht   30;    endlich 

4)  Briefe  an  Freunde  und  Gesinnungsgenossen. 

Von  den  an  die  Familie  n  gl  ie  de  r  gerichteten  Briefen  tragen  die  an 
Mme  Guizot,  nee  Dillon,  den  Stempel  innigster  Liebe,  herzlichster  Zärt- 
lichkeit. Auf  seinen  Keisen  zu  politischen  Zwecken  erzählt  er  seiner  „chere 
uiaman"  die  kleinsten  Umstände  auf  das  genaueste  und  spricht  der  „bien 
aimeo"  sein  Bedauern  über  die  Trennung  aus.  Mit  eben  solcher  Zärtlich- 
keit wendet  er  sich  an  die  noch  im  zarten  Alter  stehenden  Kinder.  Er  ver- 
steht es  so  w^ohl,  den  kindlichen,  unmittelbar  herzlichen  Ton  zu  trefien, 
dafs  man  z.  B.  bei  folgendem,  an  sein  Töchterchen  Henriette  gerichteten 
Briefe  denken  könnte,  Guizot  habe  sich  den  bekannten  Brief  an  seinen 
Sohn  „llänsichen"  zum  Muster  genommen: 

A  mademoiselle  Henriette  Guizot.* 

Londres,  samedi  21  mars  1840. 

Je  re^ois  a  l'instant  meme,  ma  chere  Henriette,  une  lettre  de  Rosine,** 
qui  me  fait  grand  plaisir  par  tout  ce  qu'elle  me  dit  de  votre  santc  et  de 
votre  gaiete.  Je  n'eu  doutais  pas,  mais  je  suis  charme  de  Ie  lire  en  detail, 
ce  qui  ne  vaut  pourtant  pas  autant  que  de  Ie  voir  de  pres.  Ceci  reviendra. 
Grandissez  et  engraissez  d'ici  lä.  Et  faites  des  progres  en  sagesse  comme 
en  force.  II  me  semble  que  la  musique  va  assez  bien.  Pour  Tecriture,  je 
juge  par  moi-meme,  et  Ie  progres  est  sensible. 

J'espere  que  vous  me  racontercz  demain  votre  gaite  chez  Mme  Lenor- 
mant et  toutes  vos  joies.  Je  vous  ai  bien  regrettee  l'autre  jour  au  Musee 
Britannique ;  mais  vous  auriez  ete  fatiguee.  Je  l'etais  moi-meme,  C'est 
trop  de  choses  ensemble.  Imagine-toi  Ie  Jardin  des  Plantes,  Ie  Musee  du 
Louvre  et  la  Bibliotheque  du  roi  reunis  dans  un  meme  edifice.  Les  livres, 
les  e.<tampes,  les  statues,  les  antiquites  egyptiennes,  les  vases  etrusques, 
les  animaux  et  les  oiseaux  empailles,  les  mineraux,  l'herbier,  tout  est  lä. 
On  rencontre  sur  l'escalier  des  rhinoceros,  des  hippopotames,  des  girafes, 
des  elans,  places  lä  comme  des  sentinelles.  Et  puis,  au  haut  de  l'escalier 
DU  entre  dans  une  salle  remplie  d'armes,  de  vetements,  d'ornements  de  guerre 
de  sauvages  des  iles  du  Sud ;  c'est  effroyable.  II  y  a  des  masques  de  guerre 
tout  rouges,  grands  comme  trois  ou  quatre  tetes  pour  donner  ä  ceux  qui 
les  portent  l'air  de  colosses,  la  bouche  ouverte,  avec  deux  rangees  de 
cinquante  enormes  dents  chacune,  des  cheveux  noirs  tout  berisses  et  des 
yeux  hagards.  Ces  masques,  que  les  grands  chefs  seuls  sont  en  etat  de 
posseder,  sont  faits  avec  les  plumes  des  alles  et  de  la  queue  de  charmants 
pctits  oiseaux  rouges;  il  faut  tuer  cinq  ou  six  mille  oiseaux  pour  avoir  de 
quoi  faire  un  niasque.  —  Ce  que  j"ai  trouve  de  plus  beau  au  INIusee  Bri- 
tannique, ce  sont  les  bas-reliefs  du  Parthenon  d'Athenes,  enleves  du 
Parthenon  meme  par  lord  Elgin  et  ranges  i<i  tout  autour  des  murs  d'une 
meme  salle.  C'est  magnifique  et  rien  n'en  peut  donner  lidec;  pas  meme  les 
petits  plätres    de  la  galerie  du  Val-Richer. 

II  n'y  a  au  Musee  Britannique  que  des  animaux  empailles.  Les  betes 
Vivantes  sont  dans  un  etablissement  particulier  qui  s'appelle  Zoological  Gar- 
dens,  et  qui  n'est  soutenu  que  par  des  souscriptions  volontaires.  J'irai  Ie 
visiter  un  de  ces  jours. 


*  Lettre  61,  V^S'  183  f.         **  Mme  de  Chabaud-Latour. 


Miscellen.  123 

Tu  vois  que  je  commence  h  aller  voir  les  choses.  Ce  dont  je  suis  le 
plus  curieux,  c'est  l'abbaye  de  Westminster,  admirable  ci^Hse  i>;othique  (|ui 
coutieut  les  tombeaux  de  tous  les  jrrands  hommes  de  l'Angletorre ;  mais  que 
le  tcmps  soit  doux.     Le  froid  des  egllses  m'est  fatal. 

Je  suis  charme,  ma  chere  enfant,  que  tu  apprennes  et  retiennes  beau- 
coup  de  beaux  vurs.  Dans  le  cours  de  ta  vie,  il  te  sera  souvent  agreable 
de  les  retrouver  dans  ta  memoire,  et  puls,  c'est  un  vif  plaisir  de  voir  ses 
propres  sentiments,  ses  sentiments  les  plus  chers,  exprimes  dans  un  beau 
langage.  11  y  a  longtemps  que  j'admire  et  que  j'aime  les  vers  que  tu 
m'as  eites. 

Adieu,  mon  Henriette,  j'ai  pres  de  eliez  moi  une  rue  qui  s'appelle  Hen- 
rietta-Street.  Je  ne  passe  jamais  devant  sans  un  sentiment  de  plaisir.  Adieu, 
je  vous  embrasse,   bonne  maman,  Pauline,  Guillaunie  et  toi.  — 

Wir  haben  diesen  Brief  vollständig  gegeben,  einmal  um  Guizot  als 
Familienvater  vorzufiihren,  dann  aber,  weil  wir  glauben,  dafs  Herausgeber 
von  Chrestomathien  etc.  diesen  Brief  gern  in  ihre  Bücher  übertragen 
werden. 

Guizots  Korrespondenz  mit  den  ihm  befreundeten  Schriftstellern 
bezieht  sich  zum  Teil  auf  die  Tageslitteratur,  auf  die  von  Guizot  in  der 
Eevue  des  deux  mondes  veröffentlichten  Artikel,  auf  seine  und  seiner  Freunde 
Werke,  sowie  auf  die  wichtigeren  Famifienangelegenheiten  der  letzteren. 
Wir  verweisen  in  dieser  Beziehung  auf  Brief  19  und  21,  wo  Guizot  seinen 
Freund  Kemusat  über  den  Verlust  seiner  Gemahlin  zu  trösten  sucht,  welche 
im  Wochenbett  gestorben  war,  und  auf  Brief  87  und  126  an  Barante.  — 
Während  der  Schreiber  im  ersten  dem  Freund  bei  dem  Tode  seines  zwanzig- 
jährigen Sohnes  teilnahmvolle  Trostesworte  spendet,  drückt  er  im  anderen 
(vom  Jahre  1860)  seinen  Schmerz  über  das  Hinscheiden  des  Lord  Aberdeen 
aus.  Höchst  charakteristisch  für  die  schriftstellerische  Thätigkeit,  für  die 
Art  seiner  Geistesarbeit  ist  ein  Brief  Guizots  an  Kemusat  vom  Jahre  1828. 
Guizot  wollte  seine  „Conseils  de  morale"  veröffentlichen  und  wünschte  ein 
\  orwort  von  Remusat.  Er  schreibt:  „Mon  eher  ami,  rends-moi  un  service, 
un  grand  service.  Vous  savez  qu'en  tete  de  ces  trois  grands  volumes  que 
je  vais  publier,  il  doit  y  avoir  une  notice.  J'ai  voulu  la  faire;  j'ai  ecrit, 
reecrit;  j"ai  essaye  de  toutes  les  manieres ;  j'ai  parle  en  mon  nom  au  nom 
d'un  tiers ;  j'ai  tente  toutes  les  formes.  Je  ne  peux  pas,  je  ne  peux  ab- 
sülument  pas.  Je  tombe  sur-le-champ  dans  une  intimite,  une  souff'rance, 
qu'il  est  impossible  de  laisser  voir.  Si  je  me  permettais  de  tout  dire, 
(i'ecrire  je  ne  sais  pas  combien  de  centaines  de  pages,  j'en  viendrais  peut- 
etre  a  bout;  peut  etre  me  ferais-je  comprendre.  Mais  il  n'y  a  pas  moyen. 
Depuis  six  semaines,  ce  supplice-la  s'est  ajoute  a  mon  supplice  et  je  ne 
suis  pas  plus  avance.  pp. 

Während  dieser  Brief  einen  Einblick  in  die  Gedankenwerkstatt  des 
Autors  gewährt  und  als  Beispiel  hochherziger  Offenheit  dienen  kann,  finden 
sich  in  anderen  beachtungswerte  Belege  für  die  religiösen  Ansichten  Guizots, 
Gedanken,  aus  denen  man  mit  ziemlicher  Sicherheit  auf  seine  Stellung  zur 
Offenbarung,  auf  sein  aus  Philosophie,  Ethik  und  Christentum  konstruiertes 
Glaubenssystem  schliefsen  kann.  Einige  Belege.  Guizot  schreibt  an  Re- 
musat (13.  Novbr.  1826):  ...  J'y  travaille  sans  cesse  ;  cet  ete  encore  pen- 
dant  six  semaines  j'ai  laisse  lä  toutes  mes  affaires  pour  m'en  occupcr;  j'ai 
employd  ce  temps-lä  a  rechercher  exactement  ce  que  veut  dire  le  mot  foi, 
quel  est  cet  etat  de  l'äme  son  origine,  son  veritable  sens.  Je  ne  suis 
pas  mecontent  du  resultat;  des  questions  vagues  sont  devenues  pre- 
cises  pour  moi,  des  difficultes  ont  ete  levees.  Mais  plus  j 'avance,  plus  je 
me  confirme  dans  cette  double  certitude  qu'il  y  a  lä  un  monde  reel,  auquel 
nous  tenons  par  des  rapports  assures,  et  que  ce  monde  est  interdit  ä  la 
connaissance  humaine,  que  nous  n'en  pouvons  jouir  ici-bas,  de  cette  possession 
claire  et  satisfaisante  qui   s'attache   ä   la  science.     Nous    pouvons,  j'en   suis 


124  Misccllen. 

convaincu,  nous  assurcr  qu'il  est,  mettre  la  main  sur  le  sceau  qui  le  couvre, 
janiais  le  ronipre  ... 

An  den  Abbe  Gratry,  welcher  ein  Werk  über  Religion  und  Philo- 
sophie verölTentlicht  hatte,  schreibt  Guizot  am  5.  Dezbr.  1863:  „Vous 
avez  Joint  l'exemple  au  precepte;  ce  que  vous  avez  dit,  vous  l'avez  fait; 
vous  avez  ete  croyant  et  philosophe;  vous  avez  uni  la  raison  k  la  foi. 
.  . .  c'est  un  acte  chrctien.  Vous  croyez  Fhomnie  intelligent  et  libre,  comrae 
Dieu  Ta  fait,  et  vous  le  traitez  en  consequence;  vous  respectez  son  intelli- 
geuce  et  sa  liberte.  Et  en  raeme  temps  vous  savez  que  ni  l'intelli- 
gence  ni  la  volonte  libre  de  Fhonime  ne  suffisent  a  le  gouverner  et  a  le 
sauver ;  et  vous  travaillez  a  le  ramener  dans  la  foi  et  sous  la  loi  que  Dieu 
lui-meme  a  donnees  aux  hommes,  tout  en  livrant  le  monde  ä  leurs  disputes. 
C'est-lä  le  christianisme,  monsieur,  c'est  la  philosophie  et  la  pratique  chre- 
tiennes."  Und  an  Wad.  Lenormant  (3.  Novbr.  1853):  „En  fait  de  sou- 
mission  a  Dieu,  j'ose  croire  qu'il  n'y  en  a  point  de  plus  entiere  que  la 
mienne.  Elle  a  ete  mise  h  Tepreuve.  J'ai  ete  bien  frappe,  au  fond  de 
l'esprit  comme  du  coeur,  dans  la  vie  privee  et  dans  la  vie  publique.  Jamais 
un  murmure  ne  s'est  eleve,  je  ne  dis  pas  sur  mes  levres,  mais  dans  mon 
äme.  J'ai  tout  accepte,  non  seulement  sans  rebellion  Interieure,  mais  avec 
confiance.  Les  voies  de  Dieu  ne  sont  pas  nos  voies  dans  notre  destinee 
personnelle,  comme  dans  celle  du  monde;  je  ne  sais  ni  le  motif  ni  le  but 
des  voies  de  Dieu,  mais  je  crois  en  Dieu;  et  la  foi,  c'est  la  confiance  dans 
la  soumission." 

Am  interessantesten  sind  vielleicht  die  Briefe,  in  denen  sich  Guizot 
direkt  mit  Politik  beschäftigt.  Verfolgt  man  nur  sie,  so  kann  man  das 
Werden  des  Fachmannes,  das  Sichbilden  des  Talents  beobachten.  Gleich- 
viel, ob  wir  ihm  als  Kandidaten  oder  berufenen  Volksvertreter,  als  Minister 
oder  Kritiker,  als  unbeteiligten  Zuschauer  oder  geschäftigen  Agitator  be- 
gegnen: überall  finden  wir  in  Guizot  den  geborenen  Staatsmann,  den  fer- 
tigen Politiker,  der  ruhig  und  sicher,  beobachtend  und  berechnend  sein 
Ziel  fest  im  Aujie  behält.  Schmiegsam  als  Minister,  selbstbewufst  als  Ab- 
geordneter,  weitblickend  als  Zuschauer! 

Gestattete  es  der  Raum  und  die  Tendenz  dieser  Anzeige,  so  führten 
wir  gern  einige  Briefe  an  aus  der  Sturmperiode  von  1847 — 1852.  Langsam 
sieht  Guizot  das  Wetter  heranziehen,  mit  ziemhcher  Sicherheit  stellt  er 
seine  Prognostika.  Ohne  Scheu  und  Rückhalt  spricht  er  sich  gegen  seine 
Freunde  und  Gesinnungsgenossen  über  den  „neuen  Kaiser"  aus,  mit  dem  er 
sich  übrigens  später  auf  guten  Fufs  zu  stellen  wufste.  In  der  Entschei- 
dungszeit (1870 — 71;  unterzieht  er  auch  die  deutschen  Verhältnisse  —  auf 
die  er  schon  in  seinem  Briefe  aus  Ems  an  Mistress  Austin  vom  5.  August 
1850  zu  sprechen  kommt  —  einer  eingehenden  Beurteilung.  Im  November 
1870  hoß't  er  noch  auf  eine  gute  Wendung  für  sein  Vaterland. 

Lausanne.  Otto  Wendt. 


Bibliographischer  Anzeiger. 


Allgemeines. 

G.  Körting,  Encyklopädie  und  Methodologie  der  romanischen  Philologie. 
Teil  II:  Die  Encyklopädie  der  romanischen  Gesamtphilologie.  (Heilbronn, 
Henninger.)  7  Mk. 

O.  Gerber,  Die  Sprache  und  das  Erkennen.    (Berlin,  Gärtner.)     8  Mk. 

F.  Heger,  Sprache.     Gebärdensprache.     (Progr.  der  Realschule  zu  Wien.) 

Arno  Grimm,  Über  die  baskische  Sprache  und  Sprachforschung.  (Breslau, 
Hirt.)  2  Mk. 

A.  Goerth,  Einführung  in  das  Studium  der  Dichtkunst.  II.  Bd.:  Das  Stu- 
dium der  dramatischen  Kunst.     (Leipzig,  Klinkhardt.)  6  Mk. 

A.  Gerber,  Die  Sprache  als  Kunst.    2.  Aufl.     (Berlin,  Gärtner.)    1.  Lfrg. 


2  Mk. 


Grammatik. 


H.  Rötteken,   Der  zusammengesetzte  Satz  bei  Berthold  von  Regensburg. 

(Strafsburg,  Trübner.)  2  Mk.  50  Pf. 

H.  Harth,  Die  Qualität  der  reinen  Vokale  im  Neufranzösischen.  (Oppeln, 

Franck.)     ..  1  Mk.  öO  Pf. 

E.  Engel,  Über  den  Gebrauch    der   Präpositionen   bei  Joinville.      (Progr. 

der  höheren  Bürgerschule  in  Heidelberg.) 
G.  H.   Webster,   A  grammar   of  new  English,  beginning  with  the  age  of 

Elizabeth.     Pittsburgh. 

E.  Bourciez,  Origines  et  formations  de  l'ancien  fran9ais.  Premiere  lecon 
du  cours  complementaire  de  langue  francaise  ä  la  Faculte  des  lettres  de 
Bordeaux.     (Bordeaux,  Gounouilhou.)  1  fr. 

L.  Wespy,   Die    historische  Entwickelung   der   Inversion   des   Subjekts   im 

Französischen.     (Oppeln,  Franck.)  2  Mk. 

Th.  Meyer,  Die  proven9alische  Gestaltung  der  mit  dem  Perfektstamm  ge- 
bildeten Tempora  des  Lateinischen.     (Marburg,  Elwert.)   1  Mk.  80  Pf. 
M.  Hüllen,  Über  den  Vokalismus  des  sicilianischen  Dialekts.  (Diss.  Bonn.^ 
M.  Zschalig,   Die  Verslehren  von  Fabri,  Du  Pont  und  Sibilet.     (Leipzig, 

Frohberg.)  1  Mk.  50  Pf. 

M.  Mussafia,    Della  prosodie  francese.     (Progr.  d.  Realgymn.  in  Triest.) 

D.  Zatelli,  De  l'emploi  de  la  negation    en   fran9ais  et  en  itahen.     (Progr. 

des  Gymn.  in  Rovereto.)  1  Mk. 

Lexikographie. 

D.  Sanders,  Verdeutschungswörterbuch.     (Leipzig,  Wigand.)  5  Mk. 

F.  Khuli,  Beiträge  zum  mittelhochdeutschen  Wörterbuche.  (Graz,  Selbst- 
verlag des  Verf.) 


1^6  Bibliographischer  Anzeiger. 

P.  Andreci",  Dictionnaire  tecbnologique  fran9ais-russe-allea)aad-anglals, 
contenant  les  termes  techniqiies  employes  dans  Industrie,  les  sciences 
appliquees,  les  arts  et  metiers.  1.  Bd.  (12  Lfrgn.)  (Petersburg,  Zinser- 
ling.)     .  ^  ,  25  Mk. 

E.  Deseille,  Glossaire  du  patois  des  matelots  Boulonnais.    (Paris,  Picard.) 
J.  Moers,    Die  Form-   und  Begrillsveränderungen   der  franz.  Fremdwörter 

im  Deutschen.     (Progr.  Bonn.)  1   Mk. 

Delinotte,  Dictionnaire  des  synonymes  fran9ais.  (Paris,NIIfsen.)  7  fr.  50  c. 

Litteratur. 

Wolfram  von  Eschenbach,  Parzlval,  in  neuer  Übersetzung  für  alle  Freunde 
deutscher  Dichtung.     (Berlin,  Friedberg  &  Mode.)  3  Mk. 

Hartmanns  armer  Heinrich.  Mit  Anmerkungen  von  W.  Wackernagel  hrsgb. 
von  W.  Toischer.     (Basel,  Schwabe.) 

R.  Froning,  Zur  Geschichte  und  Beurteilung  der  geistlichen  Spiele  des 
Mittflalters.     (Frankfurt  a.  M.,  Jügel.)  75  Pf 

R.  Schneider,  Die  namenlosen  Lieder  aus  Minnesangs  Frühling,  erläutert 
und  ins  Neuhochdeutsche  übertragen.  (Berlin,  Friedberg  &  Mode.)  60  Pf. 

H.  Kau  ff  mann,  Über  Hartmanns  Lyrik.    (Leipzig,  Fock.)  1  Mk.  50  Pf. 

H.  Hai  1  wich,  (i  estalten  aus  Wallensteins  Lager.  (Leipzig,  Duncker.)  3  Mk. 

P.  Th.  Falck,  Friederike  Brion  von  Sesenheim.  Eine  chronologisch  be- 
arbeitete Biographie  nach  neuem  Material  aus  dem  Lenz-Nachlasse.  (Berlin, 
Kamiah.)  ^  4  Mk. 

M.  Rödiger,  Kritische  Bemerkungen  zu  den  Nibelungen.  (Berlin,  Weid- 
mann.) 2  Mk.  40  Pf 

M.  Schwarze,  Die  Frau  in  dem  Nibelungenliede  und  der  Kudrun.  (Diss. 
Halle.; 

G.  Krause,  Friedrich  der  Grofse  und  die  deutsche  Poesie.  (Halle,  Waisen- 
haus.) 2  Mk. 

W.  Eigenbrodt,  Hagedorn  und  die  Erzählung  in  Reimversen.  (Berlin, 
\Veidmann.)  2  Mk.  40  Pf. 

F.  Überweg,  Schiller  als  Historiker  und  Philosoph.  Hrsgb.  v.  M.  Brasch. 
(Leipzig,  Reifsner.)  8  Mk. 

Kritische  und  nicbtkritische  Versuche:  Egmont,  Die  göttliche  Komödie, 
Faust.     (Danzig,  Axt.)  1  Mk.  20  Pf. 

O.  Lücke,  Goethe  und  Homer.     (Progr.  d.  Gymn.  zu  llfeld.) 

E.  Mauer hof,  Zur  Idee  des  Faust.     (Leipzig,  Wigand.)  2  Mk. 

J.  Schmidt,  Schiller  und  Rousseau.  Sammlung  gemeinverständlicher  Vor- 
träge,    (Berlin,  Habel.) 

K.  Rieger,  Zu  Goethes  Gedichten.     (Progr.  des  Joseph-Gymn.  in  Wien.) 

H.  Welli,  Geschichte  des  Sonetts  in  der  deutschen  Dichtung.  (Leipzig, 
Veit.)  5  Mk.  40  Pf. 

A.  Schüll,  Gesammelte  Aufsätze  zur  klassischen  Litteratur  alter  und 
neuerer  Zeit.     (Berlin,  Hertz.)  ,  7  Mk. 

J.  Vising,  Sur  la  versification  anglo-normande.  (Upsala,  Almqvist  &  Wiksell.) 

1  Mk.  75  Pf. 

L.  Römer,  Die  volkstümlichen  Dichtungsarten  der  altproven^alischen  Lyrik. 
(Marburg,  Elwert.)  1   Mk.  50  Pf. 

L.  Müller,  Das  Rondel  in  den  franz.  Mirakelspielen  und  Mysterien  des 
15.  und  IG.  Jahrhunderts.     (Marburg,  Elwert.)  1  Mk.  60  Pf. 

A.  Keller,  Die  Sprache  des  Ven.  Roland.     (Diss.  Strafsburg) 

G.  Raynaud,  Bibliographie  des  chansonniers  du  XHIe  et  XI\'e  siecles. 
Comprenant  la  description  de  tous  les  mss.,  la  table  des  chansons  classees 
par  ordre  alphabetique  de  rimes  et  de  la  liste  des  trouveres.  2  vols. 
(Paris,  Vieweg.)  15  fr. 

O.  Born  er,  Raoul  de  Houdenc,    Eine  stilistische  Untersuchung  über  seine 


I 


ßibllograplilscher  Anzcigef.  12? 

Werke  und  seine  Identität  mit  dem  Verf.  des  Messire  Gauvain.    (Leipzig, 

Dissert.) 
Di  Saint  Pierre,    B.   ßaoul   de   Cambrai.     Chanson   de  geste.     In  den 

Akten  der  Turiner  Akad.  d.  Wissenschaft. 
L.  Arreat,    La    morale    dans    le    roman.     L'epopee   et   le   roman.     (Paris, 

Alcan.)  .  2  fr.  50  c. 

S.  Berger,  La  Bible  franc^aise  au  moyen-äge.    Etüde  sur  les  plus  anciennes 

versions  de  la  Bible  ecrites  en  prose  de  langue  d'oil.  (Paris,  Champion.) 
J.  Brauns,  Über  die  Quelle  und  Entwickelung  des  altfranzösischen  Cangun 

de  Saint  Alexis.     (Kiel,  Lipsius  &  Tischer.)  1  Mk.  80  Pf. 

Le  roman  de  Renart,    public   par   E.  Martin.     2  vol.     2    partie    du   texte: 

Les  branches  additionnelles.     (Strafsburg,  Trübner.)  8  Mk. 

H.  Herzog,    Die    beiden    Sagenkreise    von   Flore   und   Blancheflor.      Eine 

litterarische  Studie.     (Leipzig,  Fock.)  1  Mk.  50  Pf. 

Rustebuefs   Gedichte.     Nach   den   Handschriften   der   Pariser  National-Bibl. 

hrsgb.  von  A.  Krefsner.     (Wolfenbüttel,  Zwifsler.)  10  Mk. 

E.  Vaudin,  Gerard  de  Roussillon.   Histoire  et  legendes.  (Paris,  Champion.) 

3  fr.   50  c. 
E.  Penning,    Ducis  als  Nachahmer  Shakespeares.    (Progr.  der  Realschule 

zu  Bremen.) 
A.  Rebhann,   Einflufs    der   französ.   Litteratur   auf  die   grofse  Revolution 

Frankreichs  im  18.  Jahrh.     (Progr.  des  Ober-Gymn.  zu  Hrüx.)     1   Mk. 

A.  Ricard,  Monographie  sur  le  Gil  Blas  de  Le  Sage.  (Progr.  der  Han- 
delsschule zu  Prag.) 

J.  Hagmann,    Über    Voltaires    „Essai   sur   les   moeurs".     (Leipzig,    Fock.) 

1  Mk.  50  Pf. 
E.  Le   Herich  er,    Litterature   populaire   de   Normandie.     (Paris,   Maison- 

neuve.)  ,  5  fr. 

V.  Fournel,   De  Malherbe   a  Bossuet.     Etudes   litteraires   et  morales   sur 

le  XVIIe  siecle.     (Paris,  Didot.)  3  fr. 

H.  Merbach,    Das   Meer   in    der  Dichtung    der  Angelsachsen.     (Breslau, 

Köhler.)  1  Mk. 

R.  Fricke,  Die  Robin-Hood-Balladen.     (Strafsburg,  Diss.) 

B.  ten  Brink,  Chaucers  Sprache  u.  Verskunst.  (Leipzig,  Weigel.)  5  Mk. 
E.    Koppel,     Lydgate's    Storv    of    Thebes.      Eine    Quellenuntersuchung. 

(München,  Oldenbourg.)  '  1  Mk.  50  Pf. 

S.  Stapf  er,  Shakespeare  et  l'antiquite.     (Paris,  Fischbacher.) 

A.  S.  G.  Canning,  Thoughts  on  Shakespeare's  historical  plays.  (London, 
Allen.)  12  sh. 

Feis,  Shakespeare  and  Montaigne.     (London,  Paul  &  Trench.)         8  sh. 

E.  Hermann,  Ergänzungen  und  Berichtigungen  der  hergebrachten  Shake- 
speare-Biographie.    (Erlangen,  Deichert.)  5  Mk. 

L.  Arrigoni,  Souvenir  de  Petrarque.     (Milan.) 

C.  M.  Sauer,  Geschichte  der  italienischen  Litteratur,  von  ihren  Anfängen 
bis  ayif  die  neueste  Zeit.     (Leipzig,  Friedrich.)  10  Mk.  50  Pf. 

L.  de  Camoens'   sämtliche  Gedichte,   deutsch   von  Wilh.  Storck.     G.  Bd. 

(Paderborn,  Schöningh.)  5  Mk.     kompl.  25  Mk. 

A.  Reinholdt,    Geschichte    der  russischen  Litteratur   von  ihren  Anfängen 

bis  auf  die  neueste  Zeit.  In  10  Lfrgn.  I.  Lfrg.  (Leipzig.  Friedrich.)  1  Mk. 
H.  V.  Faucker,    Das  Lied    von  der  Heerfahrt  Igors  Fürsten  von  Seversk. 

Aus  dem  Altrussischen  übersetzt.     (Berlin,  Deubner.)  1  Mk.  20  Pf. 

^  Hilfsbücher. 

J.  Wagner,  Musterbeispiele  zu  deutschen  Aufsätzen  für  Volkspräparanden 
und  Fortbildungsschulen.    2  Bändchen.  (Langensalza,  Schulbuchhandlung.) 

ä  90  Pf.^ 


128  Bibliograptilsclier  Anzeiger. 

A.  Wentzcl,  Themen  aus  den  verschiedenen  Gebieten  der  Pädagogik, 
nebst  Dispositionen  und  Winken  zu  ihrer  weiteren  Ausführung,  für  Lehrer. 
(Langensalza,  Scbulbuchhdlg.)  80  Pf. 

F.  W.  Bürgel  unil  F.  Wimmers,  Die  deutsche  Lektüre  in  Lehrerbildungs- 
anstalten. Litteraturkunde  und  Methodik.  3.  Jahr:  Die  Arten  der  dra- 
matischen Poesie.  Das  Epos.  Abschlufs  des  Lehrstoffs.  Nebst  einer 
Karte  zu  Schillers  Teil.     (Aachen,  Barth  )  1  Mk.  30  Pf. 

tl.  E.  Haselmayer,  Neue  deutsche  Aufsätze  und  Aufsatzpläne  für  höhere 
Kurse  der  Mittelschulen.     (\\'ürzburg,  Staudinger.)  1  Mk.  20  Ff. 

II.  Spelthahn,  Die  französische  Aussprache.    (München,  Seitz.)    50  Pf, 

K.  Stadler,  Französische  Grammatik  für  höhere  Mädchenschulen.  L 
(Kassel,  Kay.)  2  Mk.  50  Ff. 

K.  Stadler,  Methodik  des  grammatischen  Unterrichts  in  Mädchenschulen. 
(Kassel,  Kay.) 

A.  E.  Beauvais,  Grofse  deutsch-französische  Fhraseologie.  (20.  bis  30.) 
Schlufs-Lfrg.     (Wolfenbüttel,  Zwifsler.)  ä  50  Pf. 

Corneilles  Polveucte,  erklärt  für  obere  Klassen  von  K.  Brunn  emann. 
(Wolfenbüttel,  Zwifsler.)  90  Pf. 

Victor  Hugo,  p]ine  chronologisch  geordnete  Auswahl  seiner  Gedichte,  mit 
Einleitung  und  Anmerkungen  zum  Gebrauch  in  oberen  Klassen.  In  drei 
Heften  hrsgb.  v.  A.  M.  Hartmann.  (Leipzig,  Teubner.)    älMk.  50Pf 

Thiers,  Expedition  de  Bonaparte  en  Egypte.  Für  den  Schulgebrauch  erklärt 
von  K.  Foth.     (Leipzig,  Renger.)  1   Mk.  40  Ff. 

Mi'  haud,  Influences  et  resultats  des  croisades.  Für  den  Schulgebrauch  er- 
klärt von  F.  Hummel.     (Leipzig,  Renger.)  1   Mk.   15  Pf. 

Voltaire,  Mahomet,  erklärt  v.  K.  Sachs.  (Berhn,  Weidmann.)  1  Mk.  GO  Ff. 

L.  Herrig,  The  British  classical  authors.  Select  specimens  of  the  national 
literature  of  England  and  America  with  biographical  sketches  and  a  his- 
torical  outline  of  English  literature.  56*1^  ed.  (Braunschweig,  Wester- 
mann.) ^  4  Mk.  50  Pf. 

Mcrope.  Tragedia  di  Soipione  Maffei.  Mit  Anmerkungen  und  Wörterver- 
zeichnis von  K.  Goldbeck.     (Berlin,  Simion.)  50  Pf, 

Maly-Motta,  Italienische  Grammatik.  II.  Kursus:  Syntax,  Stilistik  und 
Poesie  in  ital.  Sprache.     (München,  Lindauer.)  2  Mk.  80  Pf 

S.  V.  Man  stein,  Handbuch  der  russischen  Sprache.  Grammatische  Über- 
sicht. Text  und  phonetische  Transskription,  Glossar.  (Leipzig,  Brock- 
haus.) 4  Mk.  50  Pf. 


Der  Lucidaire  Gilleberts.  * 

r  Von 

Dr.  P.  Eberhardt. 


Der  Liicidaire  ist  in  fünf  Handschriften  vorhanden: 

Handschrift  A  in  Paris,  Bibl.  de  l'Arsenal,  BLF  283  (neu 
3516).  Nach  Le  Roux  de  Lincys  Beschreibung  in  der  Einleitung 
seines  Roman  de  sept  sages  S.  XL  wurde  dieses  Manuskript 
im  Jahre  1268  vollendet  (vergl.  ferner  Z.  F.  R.  P.  H,  438  und 
Herrigs  Archiv  Bd.  LXVIH,  S.  319).  Unser  Text  ist  in  dem 
auf  Bl.  1  befindlichen  Inhaltsverzeichnis  unter  dem  Titel  „De 
Lucidaire"  und  als  auf  Bl.  148  beo^innend  ano;eführt.  Jedes 
Blatt  hat  auf  jeder  Seite  vier  Spalteu  zu  je  fünfzig  Zeilen.  Das 
Gedicht  enthält  hier  4142  Verse.  Glücklicherweise  war  der 
Lucidaire  nicht  mit  Miniaturen  versehen,  durch  deren  Aus- 
schnitt er  wie  andere  Stücke  dieser  Handschrift  arg  verstümmelt 
worden  wäre. 

Handschrift  B  in  Paris,  Bibl.  nat.,  franc?.  1807,  Bl.  ITS^' 
bis  207v. 

Handschrift  C  in  Paris,  Bibl.  nat.,  frang.  25  427  ist  unvoll- 
ständig. 

Handschrift  D  in  Florenz,  Lauren ziana,  Coventi  soppressi  99, 
ein  Bruchstück  von  1600  Versen,  wovon  G.  Paris  und  Alphonse 


*  Meine  am  26.  Juni  1884  bei  der  philosophischen  Fakultät  in  Halle 
eingereichte  Arbeit  sollte  bereits  gedruckt  werden,  als  mir  eine  Leipziger 
Dissertation  von  Hugo  Schladebach:  „Das  Elucidarium  des  Honorius  Augusto- 
dunensis  und  der  französische  metrische  Lucidaire  des  13.  Jahrhunderts  von 
Gillebert  de  Cambray''-  zu  Gesicht  kam,  auf  die  ich  nachträglich  an  ein- 
zelnen Stellen  Rücks'icht  nehme.  Die  Scbladebachschen  Bezeichnungen  der 
Handschriften  und  Verse  habe  ich  bei  jeder  Bezugnahme  "zum  besseren 
Verständnis  in  Klammer  (  )  hinter  den  meinigen  angegeben. 

ArcUiv  f.  n.  Sprachen.    LXXIII.  9 


i;>0  t)er  Luc'idaire  Gilleberts. 

Bos  in  der  Einleitung  zu  der  Vie  de  St.  Gilles  par  Guillaume 
de  Berneville,  Paris  1881,  p.  Xllf,  die  26  Eingangs-  und 
4  Schlufsverse  abs^edruckt  hat. 

Die  Plandschriften  ß,  C,  D,  sowie  eine  vierte  zu  Ashburn- 
haniplacc,  Barrois  171,  führt  P.  Meyer,  der  sie  in  das  13.  Jahr- 
hundert versetzt,  in  der  Romania  VIII,  327,  Anm.   1  an. 

Handschrift  E  in  Cambridge,  Corpus  Christi  College  Nr.  405 

behandelt    auf  Bl.  425    unter    der    Überschrift    „Hie   incipit    de 

Antichristo"    das    P^rschelnen    des    Antichrist?,    welcher    Passus 

dem  Lucidaire  v.   1108  ff.  entnommen  ist.    Die  Kenntnis  dieser 

Handschrift,    sowie    die    Übermittelung    der    vier    ersten    Verse 

verdanke  ich  der  Freundlichkeit  des  Herrn  Dr.  Stürzinger.    Sie 

lauten: 

jNleistre,  beneit  seies  tu, 
ben  me  as  de  tut  rendu. 
Mes  de  Antechrist  demandasse 
mout  volenters  si  je  osasse. 

Unser  Lucidaire  ist  in  Achtsilblern  gedichtet  und  beruht 
auf  dem  dritten  Buche  des  Elucidarlus  des  Honorlus  von  Augusto- 
dunum  (Auegabe  Sancti  Anselmi  Cantuarlensis  Opera  ed.  Ger- 
beron). Er  ist  wie  der  lateinische  Text  in  der  beliebten  Form 
von  Frage  und  Antwort  verfafst.  Mehrere  französische  Über- 
setzungen in  Prosa  aus  dem  13.  Jahrhundert  sprechen  für  die 
damalige  Beliebtheit  dieses  Stoffes.  Über  Nachbildungen  in  der 
französischen  Litteratur  vergleiche  man  Z.F.R.P.  I,  91,  wo  Suchier 
nachweist,  dafs  der  Sermo  de  sapientia  in  W.  Foersters  Dialoges 
Gregolre  lo  Pape  S.  283 — 298  auf  die  ersten  siebzehn  Kapitel 
des  ersten  Buches  des  Elucidarlus  zurückgeht,  ferner  P.  Meyer, 
Romania  I,  421  und  Ed.  Stengel,  Mitteilungen  aus  Handschriften 
der  Turiner  Bibliothek  S.  40. 

In  Versen  haben  wir  noch  eine  Bearbeitung  des  Eluci- 
darlus in  dem  ersten  Buche  der  Lumiere  as  Lais  von  Peter 
von  Peckham,  von  deren  Anfang  und  Schlufs  P.  Meyer  in  der 
Romania  VIII,  328  einen  Abdruck  giebt.  Peter  benutzte  den 
Elucidarlus  nur  für  das  erste  Buch  seines  Werkes,  und  nahm, 
da  jener  seiner  Ansicht  nach  in  verschiedenen  Punkten  Irrtümer 
enthielt,  seine  Zuflucht  zu  anderen  (Quellen.  Im  Prolog  seiner 
Lumiere  sagt  er  v.  583 — 588: 


Der  Lucidaire  Gilleberts.  131 

„Le  primer  liver  en  acun  endreit 

Est  de  Lucidarie  estreit, 

Mes  pus  jo  me  percevoie 

Ke  mespriz  en  poinz,  ne  vuloie 

Pins  de  cel  liver  treiter, 

Enz  comensai  en  autres  estudier." 

Diese  Aussao-e  bestätio-t  sich  vollkommen.  Denn  obwohl 
das  sechste  Buch  der  Lumiere  as  Lais  (OKI  Royal  15  D  II, 
Bl.  88»)  überschrieben  ist  „Ja  comence  le  sime  livre  he  est  del 
jour  de  jiigenient  e  des  peines  de  enferii  e  des  joies  du  ciel'^  also 
ähnlich  wie  unser  Text,  und  die  Überschriften  vieler  Kapitel  auf 
denselben  Inhalt  wie  im  Lucidaire  schliefsen  lassen,  wie  Bl.  88^' 
,^E)i  quel  vertu  leverunt  de  mit  ou  de  jour,'''  Bl.  88^'  ,,Le  quel  vendra 
nostre  seigmir,  Si  tuz  serrunt  de  wie  estature,  quant  leverunt  de 
mort  en  rz^,"  etc.,  so  zeigt  doch  eine  nähere  Einsicht  in  den 
Inhalt  dieses  Buches,  dafs  der  Schüler  wohl  im  allgemeinen 
dieselben  Fragen  stellt  wie  im  Elucidarius,  wenn  auch  in  ganz 
anderer  Reihenfolge,  der  Lehrer  aber  den  Stoff  zur  Beantwortung: 

O      '  «TD 

derselben  anderen  Quellen  entlehnt  hat.  Einmal  beruft  er  sich 
auf  den  heiligen  Ambrosius,  sehr  oft  auf  den  heiliiJi:en  Au<2;ustin 
und  Greoforius.  Den  Dialos2:en  des  letzteren  hat  er  den  ganzen 
Passus  vom  Fegefeuer  entnommen.  Denn  in  dem  Kapitel  „Ou 
purgatoire  put  estre"  (Bl.  Ob)  sagt  Peter: 

„Dunt  une  partie  vus  dirai 
de  ees  countes,  si  cum  jeo  sai, 
que  sunt  verreis  e  esprovez, 
cum  seint  Gregoire  l'ad  recitez 
en  un  livere  qne  est  nome 
jDyaloge'  saunz  fausete." 

Bei  der  Herstellung  des  Textes  standen  mir  nur  die  Hand- 
schriften A,B,  C  vollständig  zu  Gebote.  Ich  liefs  mich  bei  der 
Herstellung  eines  kritischen  Textes,  die  ich  zu  meiner  Orientie- 
rung vorgenommen  habe,  von  dem  Grundsatz  leiten,  alles,  was 
in  einer-  Handschrift  überliefert  ist,  in  denselben  aufzunehmen. 
Jedes  Plus  der  einen  Handschrift  im  Verhältnis  zu  den  übrigen 
ist  in  eckige  Klammer  [  ]  gesetzt  und,  wenn  aus  B,  mit  [''], 
und  wenn  aus  C  entnommen,  mit  [^J  bezeichnet. 

Daher  halte  ich  es  auch  für  geraten,  eine  Tabelle  aller 
Lücken    der    drei  Handschriften  aufzustellen,    die    zeigt,    welche 

9* 


132 


Der  Lucidaire  Gilleborts, 


Stellen  ß  oder  C  ausschliefslich  angehören,  ferner  eine  Über- 
sicht ofewährt,  wie  die  Handschriften  sich  o;eo;enseitio;  ergänzen, 
und  endlich  auch  ^Yichtige  Anhaltspunkte  für  die  Klassifikation 
der  Handschriften  giebt. 

In  den  Varianten  ist  die  richtige  Lesart  immer  voraus- 
geschickt und  mit  L  bezeichnet,  wenn  Übereinstimmung  mit 
dem  lateinischen  Texte  stattfand. 

In  der  Tabelle  wird  das  Vorhandensein  einer  Stelle  in 
einer  der  drei  Handschriften  durch  das  Plus-,  das  Fehlen  durch 
das  Minuszeichen  aus2:edrückt.  Mit  ü  sind  alle  Überi^änore 
bezeichnet  und  mit  L  alle  Stellen,  die  nur  in  R,  C,  nicht  aber 
in  A  vorhanden  und  auf  den  lateinischen  Text  gestützt,  also 
ursprünglich  sind. 


A 

B 

C 

A 

^ 

C 

49—54 

+ 

!  + 

660  —  1 

+ 

79  80 

+ 

+ 

674 

+ 

+ 

243—5 

675 

— 

+ 

246—55 

Ü 

— 

676 

+ 

270—1 

L 

+ 

677 

— 

280—1 

j 

735 

+ 

— 

314—5 

U 

-{■ 

746-9 

+ 

— 

336-7 

u 

— 

752—3 

342  —  3 

— 

1 

766-7 

— 

348  —  9 

ü 

-- 

768—9 

U 

-- 

— 

358—9 

-}- 

+ 

— 

770—1 

+ 

362—3 

772-3 

-|- 

365 

f~~ 

776  —  7 

— 

467 

800—1 

u 

410—3 

L 

+ 

807 

-|- 

— 

414  5 

U 

+ 

-- 

824—5 

-(- 

•-  ^ 

420  1 

L 

+ 

855 

423 

860—1 

u 

— 

428—9 

U 

870—1 

-|- 

445 

+ 

+ 

896-911 

— 

+ 

446   7 

+ 

914  —  5 

u 

448 

-- 

916  7 

— 

508—9 

920—1 

' 

+ 

525—6 

+ 

922-3 

613 

+ 

932—3 

+ 

622—3 

— 

' — 

938—9 

-1- 

+ 

625 

960—1 

— 

+ 

630—1 

U 

— 

964-5 

+ 

636-7 

'  968—9 

L 

+ 

+ 

612—3 

u 

978—9 

U 

—  — 

646—9 

u 

— 

1 

1  986—9 

—  — 

658—9 

+ 

+ 

993 

1 

-- 

— 

4- 

Der  Lucidaire  Gilleberts. 


133 


A 

13 

1 
c 

A 

B 

c 

998  9 

+ 

1758—9 

— 

1002-3 

1760-1 

1017 

1762-7 

U 

1022  5 

u 

— 

1769  70 

— 

1030—1 

— 

1776 

1100—1 

-h 

1822-3 

1106-7 

u 

— 

1828—31 

U 

— 

— 

1125 

1834—5 

1127 

— 

-t- 

1862  3 

U 

1128-9 

— 

1864  5 

— 

1136-7 

— 

1868  —  9 

1154—5 

— 

4- 

+ 

1874  —  7 

— 

1156-7 

1890  1 

LI 

— 

1172 

— 

1894-5 

U 

— 

1173 

— 

1896  7 

1175 

— 

1898  9 

— 

1180-90 

1905-6 

— 

1 

1192—3 

1908  13 

U 

1198-1201 

1915 

4- 

— 

-(- 

1260—1 

+ 

1935 

1262—7 

1937 

-j- 

— 

1274-5 

+ 

1916  —  9 

1296-7 

— 

^  __ 

1953 

-(- 

1300—1 

1968  —  9 

— 

1337 

— 

— 

— 

1970—1 

u 

— 

1339 

i 

2014—5 

+ 

1356-7 

2032  —  3 

u 

1380  —  1 

— 

2040-1 

u 

1390-1 

2067 

— 

-4- 

-- 

1436—9 

2068 

1470—1 

— 

2070  3 

1517—8 

— 

2078—9 

L 

— 

-\- 

1541  —  7 

2082  3 

L 

1548  —  9 

2084-5 

U 

4- 

1552—3 

+ 

2096-7 

1576  81 

u 

— 

2108-9 

U 

— 

1563a— b 

2114—5 

+ 

-- 

1576—81 

— 

2158-61 

L 

1594—1623 

L 

+  , 

2162-3 

1624—5 

2170   1 

U 

1626  —  31 

L 

— 

— 

2186-7 

-h 

1632—3 

1 

__  1 

1 

— 

2198—9 

1634—61 

L 

i 

2204  —  5 

ü 

— 

1660—7 

-[- 

2208-9 

1679 

2223 

+ 

1682 

— 

2225 

— 

-f 

1688—9 

U 

' 

2230  —  1 

-h 

1695 

-■- 

— 

2231—7 

u 

+ 

— 

1698  9 

+ 

2245 

+ 

1703 

-- 

2248 

1710—1 

+ 

2318-9 

1726—7 

u 

2328 

1730—1 

u 

+ 

< 

2331 

— 

134 


Der  Lucitlaire  Gilleberts. 


A 

B 

C 

A 

ß 

C 

2346—51 

1 

+ 

3301  2 

u 

+ 

2354-5 

L 

— 

3381—4 

ü 

— 

2358-61 

— 

3389  —  90 

+ 

2362  5 

U 

+ 

■ — 

3403  10 

u 

-|- 

2368-9 

U 

+ 

— 

3504 

2386-7 

+ 

-- 

3533—4 

L 

2394—5 

( 

— 

+ 

3573—4 

- 

+ 

2424-5 

L 

— 

3577—8 

" 

2426  —  7 

+ 

3595—8 

-j- 

2430—1 

— 

3638—9 

— 

2432—43 

L 

— 

3640—1 

— 

2450—1 

U 

3642-3 

H~ 

2458—61 

U 

3644—51 

U 

— 

2480—1 

L 

3655—6 

-- 

2498-9 

3688-9 

— 

+ 

2537—8 

+ 

— 

3694-5 

U 

2557—8 

— 

' 

3698  —  703 

+ 

2582 

3705 

-}- 

2625—6 

-\~ 

] 

3718—23 

2643-4 

1 

3730-1 

-- 

2653 

3738-45 

u 



2657  —  60 

3751 

2681  2 

— 

+ 

3753 

2685—7 

4- 

— 

3758  —  9 

u 

2705  —  6 

3766—9 

L 

2717—8 

— 

3788  91 

2733—4 

-j- 

3796—7 

2801-4 

— 

3812-3 

U 

2833  —  6 

3820—1 

U 

— 

— 

2863—4 

3832—3 

U 

-1- 

2879—80 

3851 

+ 

2907  —  8 

— 

3852  —  5 

u 

2925-8 

U 

+ 

— 

3864  88 

— 

2935—6 

U 

+ 

— 

3892—3 

u 

— 

2945—6 

U 

3900—1 

u 

4- 

— 

2957 

— 

3916  —  7 

+ 

2967  8 

3924—5 

+ 

2995  —  6 

-|- 

3930-1 

3049  54 

U 

— 

3956—7 

+ 

3063  4 

U 

— 

3962  3 

L 

+ 

3071—4 

u 

3966—7 

L 

-- 

3079 

3970—3 

— 

3080-5 

+ 

— 

3980— 1 

ü 

3099  —  100 

3990-1 

+ 

3153  4 

I 

+ 

3996—7 

— 

+ 

3157  —  60 

i 

1 

4048—9 

— 

4- 

3169  72 

u 

+ 

4054—70 

+ 

— 

3225—6 

4071  —  6 

4- 

3233—6 

u 

-4- 

— 

— 

4077  —  99 

+ 

— 

3247  —  8 

4100—3 

•  — 

3249-50 

-f 

— 

4104  9 

-- 

+ 

3267—8 

u 

+ 

— 

4110—3 

U 

3297—8 

u 

+ 

— 

4118-9 

-j-  . 

— 

Der  Lucidaire  Gilleberts. 


135 


A 

B 

C 

A 

B 

C 

4120-5 

u 



4186-95 

_  _ 

4130-1 

— 

4206—13 

4134  —  5 

-4- 

4216—23 

— 

4142—5 

4224—5 

u 

+ 

— 

4152 -y 

4236  -  9 

Explicit 

4160-2 

424G  — 7 

+ 

4163 

— 

4276  —  7 

4165 

__ 

— 

4302—5 

4170-3 

+ 

4308-9 

-f 

4176      9 

4328—9 

4184 

4352  —  9 

— 

4185 

i 

Klassifikation  der  Handschriften. 

Da  B  und  C  neben  gemeinsamen  Lücken  auf  den  latei- 
nisclien  Text  zurückgehende  Partien  gemeinschaftlicli  aufweisen, 
die  A  nicht  kennt,  so  können  sie  nicht  aus  A  geflossen  sein."^ 
Wohl  aber  könnte  man  bei  dem  auffälliojen  Zusammen o-chen 
von  B,  C  das  unvollständige  C  für  einen  Auszug  aus  dem  um- 
fangreicheren B  halten.  Doch  dagegen  sprechen  folgende,  wenn 
auch  zum  Teil  entbehrliche,  aber  sich  nicht  in  B  findende 
Stellen:  v.  342-3,  660—1,  752—3,  1030—1,  1563a— b,  2198-9, 
2907—8,  3956—7,  3996—7.    Doch  auf  L  ist  folgende  gestützt: 

Wie  die  klare  und  frische  Quelle  den  ermüdeten  Land- 
mann erquickt,  „ita,"  fährt  Honorius  Kap.  XX,  A  fort,  „delecta- 
bilis  fiivus  de  ore  tuo  distillans  meam  refocillat  animam,"  und 
der  französische  Dichter  v.  3687 — 9: 

„si  as  tu  m'ame  saolee 
et  replenie  et  abevree 
de  bon  miel  a  tote  la  ree 
dont  ta  beuche  est  asavouree," 

wovon  V.  3688 — 9  nur  C  angehören,  vergl.  Schi.  S.  35.  Daraus 
folgt,  dafs  C  wenigstens  nicht  ganz  aus  B  geflossen  sein  kann. 
Doch  eine  genauere  Vergleichung  von  A,  B,  C  und  D, 
soweit  letzteres  von  G.  Paris  abgedruckt  ist,  unter  sich  und 
mit  dem  lateinischen  Texte  führt  zu  dem  überraschenden  Resultat, 


*  B  und  C  stimmen  zu  L,  währemi  A  den  Text  entstellt  liat:  v.  4G0  — 5, 
666,  715,  780,  781,  812,  863,  870,  918,  1060,  2000,  2124,  2264,  2321,  2482, 
2-186,  2981,  3428,  3587,  3902. 


136  Der  Lucidaire  Gillcbcrts. 

dafs  zunächst  A,  C  gegen  B  eine  Gruppe  bilden.  Denn  es 
findet  eich  in  A,  C  zunächst  ein  gemeinschafthchcr  Fehler,  der 
sich  durch  den  Sinn  als  solcher  beweisen  läfst  und  durch  B 
korrigiert  Nvird.     Es  ist  fol^fender: 

Als  V.  3503  die  Vero-nüo^en  des  Salomon  denen  der  Guten 
gegenübergestellt  werden,  lesen  A,C:  et  des  delices  Salemon, 
ß  aber  richtig:  et  les  delices  Salemon  werden  gegen  die  der 
Seliiren  nur  Elend  sein. 

Bestätigt  wird  unsere  Vermutung,  A,C  eine  Gruppe  gegen 
B,  durch  folgende  Stellen,  wo  B  und  L  den  Handschriften  A,  C 
als  Korrektiv  dienen: 

1)  V.  438:  Genau  wie  L  verlegt  B  die  obere  Hölle  ou 
plus  bas  leu,  aber  A,C  el  plus  haut  lieu  que  la  terre  a.  Im 
Elucidarius  heifst  es  Kap.  IV,  C :  Duo  sunt  inferni,  superior, 
et  inferior.  Superior  iußma  pars  hujus  mundi,  quae  plena  est 
poenis. 

2)  V.  3453:  Die  Schnelligkeit  der  Gerechten  schildernd, 
sagt  der  Dichter,  dafs  sie  im  Augenblick  auf  und  nieder  steigen. 
Dasselbe  thun  die  Engel.     Dem  letzten   Satze  entspricht  in 

B     et  li  angle  dii'u  aiiisiiit  fönt, 
A     et  11  angele  derlsey  sont, 
C     et  li  ande  devise  lont. 

Der  Elucidarius  liest  Kap.  XVIII,  D:  Hoc  etenira  angeli  fa- 
cere  possunt. 

Das  Resultat  unserer  bisherin^en  Untersuchunii:  ist  nun  kurz 
folgendes:  A,  C  gehören  wegen  gemeinschaftlicher  Fehler  zu- 
sammen, doch  ist  C  nicht  aus  A  geflossen.  Wir  müssen  daher 
annehmen,  dafs  A,  C  auf  eine  gemeinsame  Quelle  x  zurück- 
gehen. Doch  dafs  C  nicht  nur  aus  x  geflossen  ist  und  noch 
nähere  Beziehuniien  zwischen  B  und  C  bestehen,  beweisen  fol- 
gende  auf  L  zurückgehende,  sich  nur  in  A  findende,  also  B,  C 
gemeinschaftlich  fehlende  Stellen: 

a)  L  Kap.  VII,  C:  Illorum  etiam  orare,  est  cruciatus  cor- 
poris vel  bene  gesta  pro  Christo,  deo  repraesentare. 

V.  920 — 3  :     Et  ses  encor  qu'est  lor  orer 
le  bienfait  a  deu  demostrer 
de  lor  cors  le  cruciement 
k'il  sofrirent  et  le  torment. 


Der  Lucidaire  Gillcberts.  137 

Strcnji:  frenomiiicn  "-ehört  dieser  Fall  niclit  hierher,    weil  C    für 
V.  'J20— 1   liest: 

Ses  encore  quel  sont  leiir  veu 

lor  bien  qu'il  deprii-nt  a  den, 

sei  aber  doch  erwähnt  wegen  der  in  B,  C  fehlenden  Verse  922 — 3. 

b)  L  Kap.  VIII,  A  :  Quae  autem  in  poenis  sunt,  non  appa- 
rent,  nisi  ab  angelis  permittantur  ....  etc. 

V.  986  —  9:    Mais  celes  qui  en  travail  sont, 
ja  nule  fois  ne  s'aparont, 
se  li  annale  ne  lor  otroient 
qiii  par  condiiit  les  i  envoicnt. 

c)  L  Kap.  X,  E:  Nequaquam,  sed  diabolus  ejus  maleficiis 
corpus  alicujus  (V*  alicujus  damnati)  intrabit,  et  illud  apportabit, 
et  in  illo  loquetur. 

V.   1262  —  6:    Et  la  ou  trovera  les  mors 
fera  diable  entrer  el  cors 
par  art  et  par  encantement, 
dont  saudront  sus  isnelement, 
parier  les  fera  a  la  gent. 

d)  L  Kap.  XX,  B:  Quod  enim  quisque  in  se  non  habuerit, 
in  altero  habebit. 

V.  3930 — 1:    Ce  que  li  uns  en  soi  n'avra, 
en  son  proisme  le  portera. 

e)  L  Kap.  XXI,  C;  Sicut  isti  immensa  voluptate  delicia- 
buntur,  ita  illi  immensa  miseria  amaricabuntur. 

V.  4152 — 5:    Si  con  cels  se  deliteront 

es  grans  delices  qu'il  aront, 
si  seront  cels  en  amertume 
et  en  misere  par  costumo. 

f)  L  Kap.  XXI,  C:  Sicut  isti  egregia  sanitate  vigebunt, 
ita  illi  infinita  infirmitate  deficient. 

V.  4156  —  9:    Si  con  ces  grant  sante  aront 
ki  puis  enterte  ne  criendront^ 
isi  seront  eil  soffissant 
de  male  enferte  et  de  grant. 


*  V  =  Variante. 


138  Der  Lucidairc  Gillcberts. 

Der  letzte  Fall  gehört  eigentlich    auch    nicht    hierher,    da  C  für 
V.  4158-9  liest: 

cnsi  erent  eil  dcfaillant 

et  de  male  enfrete  pcsant, 

doch  fehlen  C  v.  4156—7. 

Diese  Erscheinungen  sind  keinem  blofsen  Zufall  zuzu- 
schreiben.  Denn  es  wäre  sonderbar,  wenn  B,  C,  ganz  unab- 
hängig voneinander,  in  sechs  Fällen  dieselben  auf  L  gestützten 
Partien  ausliefsen.  Es  müssen  daher  nähere  Beziehungen  zwi- 
schen B  und  C  existieren. 

Allen  Anforderungen  genügt  nun  die  Annahme,  dafs  C 
unter  der  Benutzung  von  B  und  x  entstanden  ist. 

An  ihre  Vorlaoe  traten  die  Schreiber  von  A  und  C  be- 
arbeitend  heran,  änderten,  fügten  hinzu  oder  liefsen  aus,  je  nach 
ihrem  Geschmack. 

Wie  frei  der  Schreiber  von  A  verfuhr,  mögen  folgende 
Stellen  zeigen : 

1)  Nach  der  Schilderung  der  unteren  Hölle  heifst  es  in 
Ij  Kap.  IV,  C:  üt  sicut  corpora  peccantium  terra  cooperiun- 
tur,  ita  animae  peccantium  sub  terra  in  inferno  sepeliuntur.  Dem 
echlief:*en  sich   B,  C  genau  an,  wenn  sie  lesen: 

Car  si  con  11  cors  est  enfrez: 
et  est  de  terre  acouvetez, 
si  ont  les  ames  sepulture 
soz  terre  en  l'infernal  ardure. 

Daseien  A  v.  460 — 5  : 


o^o 


Quant  l'ame  est  partie  del  cors 
se  il  estoit  mangies  de  pors 
ou  il  fust  cn  poldre  ventes, 
ja  ne  seroit  si  tormentes 
que  l'ame  n'eüst  sepouture 
SOS  terre  en  l'infernal  ardure. 

2)  Als  Grund  der  vierten  Qual  der  Bösen  giebt  L  Kap.  IV,  A 
an :  Qui  autem  hie  foetore  luxuriae  dulciter  delectabantur,  juste 
ibi  foetore  putrido  (V  et  pulredine)  atrociter  cruciantur. 

Ebenso  B,  C: 

Apres,  por  ce  que  en  vieute 
de  luxure  sont  enorte, 


Der  Lucidairc  Gilleberts.  139 

trop  (loucement  si  deliterent, 
como  bestes  si  saoulcrcnt ; 
par  droit  la  piior  infernal 
seiifrent  eil  sanz  fin  et  le  mal. 

Dafijefi-en  versl«  A  v.  680  —  95: 

DO  O 

Apres,  por  ce  c'onques  nul  jor 
n'orent  vers  danieldeu  amor, 
ne  vors  les  povres  en  bienfais, 
ne  envers  les  mesiax  des  fais, 
ne  ne  lor  voldrent  riens  doncr, 
quant  lor  venoient  demander 
lor  almosnes  par  charite, 
et  por  le  roi  de  majeste, 
ains  lor  puoient  si  forment 
qu'il  nes  aperchoient  noient 
ne  nes  pooient  endurer, 
por  ce  lor  covient  sans  doiitcr 
soffrir  icele  grant  puor 
qui  en  infer  est  nuit  et  jor 
dont  il  ne  seront  ja  oste, 
si  con  nos  dist  l'autorite. 

Dieses  Verhalten  unseres  Schreibers  zu  seiner  Vorlage 
fAcht  denn  auch  Berechtio:unfr  zu  der  Vermutun"^,  die  in  der 
Tabelle  mit  Ü  bezeichneten  Übero^'änge  für  sein  Produkt  zu 
hahen,  denn  ohne  dieselben  schreitet  die  Erzählung  wie  in  B 
und  C  schneller  fort  und  gewinnt  die  Sprache  an  Kraft.  Ganz 
gegen  die  Gewandtheit  der  Sprache  unseres  Dichters  und  daher 
auch  in  B  und  C  nicht  vorhanden  sind  mehrfache,  fast  wört- 
liche W^iederholungen,   wie: 

1)  V.  648-9,  766—7,  1730-1: 

Li  maistres  lors  li  respondi: 
„Amis,"  fait  il,  „entent  a  mi!" 

2)  V.  914-5,  2032—3: 

Volontiers  amis  le  dirai 
ke  ja  ne  vos  en  mentlrai. 

3)  V.  1726—7,  1908-9: 

„Maistres,"  dist  il,  „par  vo  coniant 
encor  voil  demander  avant." 

4)  v.  2935-6,  3820—1,  4246—7: 

Apres  li  a  11  maistre  dit: 
„Amis,  enten  moi  un  petit!" 


140  Der  Lucidaire  GilUberts. 

5)  V.  3040— 50,  3063-4,  3()12— 3: 

Li  disciples  II  respoiuli: 
„INIciistre,  je  Tai  mout  bion  oi!" 

6)  V.  3232—3,  3407—8,  3G48-9: 

Li  maistres  dist :  „Amis,  enten 
et  si  retien  et  si  apren!" 

Dem  Schreiber  von  A  sind  auch  die  letzten  acht,  B  feh- 
lenden Verse  zuzuschreiben,  wo  er,  „qui  che  escrit",  Gott  bittet, 
ihm  Verstand  zu  geben,  so  zu  handehi,  dafs  er  die  Qualen  der 
Hölle  vermeiden  und  die  Freuden  des  Paradieses  geniefsen  könne. 
C  hat  einmal  eine  Umstellung  vorgenommen  (322 — 35,  288 — 319). 
ß  ist  äufserst  flüchtig  kopiert.  In  vielen  Fällen  (vergl.  Tabelle) 
fehlt  entweder  zur  vorherg-ehenden  oder  folgenden  Zeile  der 
entsprechende  Keimvers.  Den  Passus  von  v.  750  an  kopiert 
der  Schreiber  nach  v.  799  ein  zweites  Mal,  bricht  aber  nach 
drei  Zeilen,  seinen  Irrtum  noch  rechtzeitig  gewahr  werdend, 
ab,  dann  überspringt  er  wieder  v.  1899  und  trägt  ihn  acht 
Zeilen  später  nach.  Die  Vorlage  von  B  war  eine  zuweilen 
vom  Original  abweichende  Bearbeitung  y,  eine  Vermutung,  die 
folixende  auf  L  gestützte  Stellen   zu  bestatio-en  scheinen: 

1)  Als  der  Schüler  in  L  Kap.  XI,  E  den  Lehrer  fragt, 
..qua  aetate  vel  mensura*'  die  Guten  auferstehen  würden,  antwortet 
dieser:  „Qua  erant,  si  (V  cum)  essent  triginta  annorum,"  und 
dem  schliefsen  sich  A,  C  v.  1772  an:  En  sanblance  erent  de 
.XXX.  ans,  während  B  .xxxni.  liest. 

2)  In  der  Beschreibung  der  Kleidung  der  Gerechten  folgen 
A,C  gegen  B  genau  L  Kap.  XVI,  E:  Salus  autem  justorum 
et  laetitia  erunt  illorum  vestimenta,  indem  sie  lesen  v.  2336 : 

II  seront  ilueques  vestu 
de  grant  leece  et  de  salu, 

B  dagegen:  de  grant  biaute,  de  grant  vertu. 

Das  Endresultat  unserer  Untersuchuns:  ist  also  foljjendes: 
A  hatte  zur  Quelle  eine  Vorlage  x,  welche  die  A,C  ge- 
meinschaftlichen Fehler  enthielt,  aber  das  Oriirinal  vollständi^: 
gab,  also  auch  die  auf  L  zurückgehenden,  aber  in  A  fehlenden 
Stellen  von  C;  B  ist  eine  flüchtige  Kopie  einer  Bearbeitung  y 
und   unabhängig  von  A,    C    aber    eine   eklektische    Bearbeitung 


Der  Lucldairo  Gillebcrts. 


141 


von  X  und  B,    worauf  sich  das  B,  C  eigentümliche  Fehlen    von 
durch  L  oestützten  Stellen  zurückführen  läfst. 

Diese  Verhältnisse  lassen  sich,  wenn  O  das  Original  be- 
deutet und  die  Länge  der  Vertikalstriche  den  Grad  der  Ent- 
fernung von  O  angiebt,  durch  folgende  Figur  veranschaulichen:* 

O 


X 


y 


B 


Für  eine  kritische  Bearbeitung^  des  Textes  erojiebt  sich  dem- 
nach,  dafö  jede  Übereinstimmung  von  A,B  den  Originaltext  liefert. 

Was  D  angeht,  so  zeiget  eine  Vero-leichunfy  des  Abdrucks 
von  G.  Paris  mit  den  übrigen  Handschriften,  dafs  D  den  Hand- 
schriften  B,  C  näher  steht  als  A. 

E  tritt  infolge  der  mit  C  gemeinschaftlichen  Umstellung 
von  demandasse  und  osasse  in  nähere  Beziehunnj  zu  C. 


Die  Person  des  Dichters. 

Über   die    Person    des    Dichters    erfahren    wir   näheres    am 
Schlufs  des  Lucidaire  v.  4338 — 47,  wo  der  Dichter  ausruft: 


*  Die  auf  S.  45  bei  Schi,  befindliche  Klassifikation  der  Handschriften 
ist  weder  genau  noch  überzeugend.  Denn  aus  gemeinsamen  Varianten, 
übereinstimmenden  \  ersen,  möglicherweise  vom  Dichter  herrührenden  Er- 
weiterungen und  Zusätzen  können  in  Bezug  auf  das  Verhältnis  der  Hand- 
schriften zueinander  nicht  immer  endgültige  Schlüsse  gezogen  werden.  Un- 
trügeriscbe  Kriterien  liefern  nur  gemeinschaftliche  Fehler.  Hätte  Schi,  die 
Handschriften  auf  solche  geprüft  und  kritisch  behandelt,  so  hätten  ihm 
die  nahen  Bezielumgen  zwischen  A,  C  (B)  nicht  entgehen  können.  —  Ferner 
wird  man  weniger  von  Mittelstufen  zwischen  B  und  C  als  von  Bearbeitungen 
von  B  (C)  sprechen  müssen. 


142  t)(3r  Lucid.iire  Gilleberts. 

„Merchi  cri  a  cels,  qiil  l'oront 
et  qui  bone  essample  i  prendront, 
qu'il  cleprient  le  fils  Marie 
qiii  por  nos  vint  de  mort  a  vie, 
qu'il  merchi  ait  de  Gillebcrt 
et  qn'en  son  regne  le  herbert, 
eil  qui  a  Qiiambroi  fu  noris, 
a  Beaubec  a  deu  convertis, 
de  sa  mere  meesmement 
et  de  ses  amis  ensenient!" 

Der  Name  des  Verfassers  ist  also  Gillebert.  In  der  An- 
ffabe  des  Ortes,  wo  der  Dichter  erzoo;en  wurde,  v.  4344,  oehen 
die  Plandschriften  auseinander.  A  nennt  Chambres  (Dep.  de  la 
Manche).  Doch  einen  Ort  der  Normandie  als  Heimat  des  Dichters 
anzuneluuen,  verbietet  uns,  wie  wir  sehen  werden,  die  Sprache. 
Ich  bevorzuge  daher  die  Lesart  von  B  „Quambroi",  das  wir 
nach  dem  Resultat  der  Sprachuntersuchung  mit  Cambrai  (Dep. 
du  Nord)  werden  identifizieren  dürfen.*  Nach  A  war  er  in 
Beaubec  (Dep.  de  la  Seine  inferieure)  „a  deu  convertis",  d.  h. 
wahrscheinlich  in  die  1116  oder  1127  cjegründete  Cistercienser 
Abtei  eingetreten.  In  B  ist  die  zweite  Silbe  dieses  Ortsnamens 
nicht  recht  erkennbar;  man  kann  lesen  Belboec  und  Belborc. 
Wahrscheinlich  lebte  Gillebert  in  seiner  Jugend  in  Cambrai 
und  zog  sich  im  späteren  Alter  in  ein  normannisches  Kloster 
zurück. 

Über  Peter  von  Peckham,  den  Verfasser  der  Lumiere  as 
Lais  sagt  P.  Meyer  in  der  Romania  VIII,  327:  „II  s'est  nomme 
non  pas  par  vanite,  mais  pour  obtenir  le  benefice  des  prieres 
de  ses  lecteurs,  pieux  motif  auquel  nous  devons  en  plus  d'un 
cas  de  connaitre  les  noms  de  ceux  qui,  au  moyen  age,  compo- 
serent  des  poesies  morales  et  religieuses." 

Diese  Ansicht  liifst  sich  auch  für  unseren  Dichter  geltend 
machen.  Die  Antjabe  seines  Namens  ist  nur  in  dem  frommen 
Wunsche  begründet,  in  das  Gebet  seiner  Leser  eing-eschlossen 
zu  werden,  damit  er  mit  seiner  Mutter  und  seinen  Freunden 
vor  Gott  Gnade  und  in  dessen  Reiche  Herberge  finde,  v.  4338 — 47. 


*  Auf  keinen  Fall   war    er   aus    Launoy,    wie    Schladebach   S.  47    ohne 
jeglichen  Grund  vermutet. 


Der  Lueidalre  Gilleberts.  143 

Die  Sprache  des  Dichters. 

A.     Erojebnisse   der  Unters  uchun";  der   Reime. 

a)    Vokale. 

1)  0.  o',  das  tiefe  geschlossene,  und  o-,  das  hohe  offene  o,  werden 
stets  gesondert. 

2)  an  und  en  werden  nicht  vermischt,  noient  279,  negligent  G50, 
esciönt  967,  29G9,  occhident  2378  haben  e.  Mit  a  und  e  werden  im 
Lucidaire  dolent  und  talent  gebraucht:*  dohms  :  ans  3243;  dolent  : 
haltement  501,  :  froment  726,  :  torment  1284;  dolens  :  tormens  1012, 
:  pnlens  3551;  talant  :  avant  248;  lalent  :  gent  204,  :  voirement  982, 
:  largement  1292,  :  bonement  3866.  Die  vom  Part.  Präs.  imd  Gerun- 
dium abgeleiteten  Snbstantiva  gleichen  sich  in  der  Endung  ance  der 
ersten  Konjugation  an:    conissance  :  ramenbrance  874,  etc. 

3)  e^,  das  offene  e  (aus  lat.  e  oder  ae  in  geschlossener  Silbe),  e-, 
das  halb  offene  e  (aus  lat.  e  oder  i  in  geschlossener  Silbe),  und  e^,  das 
geschlossene  e  (aus  lat.  a  in  off^ener  Silbe)  hat  der  Dichter  nicht  ver- 
mischt. Beispiele:  e':  apres  :  pres  1023,  terre  :  conquerre  1360,  estre 
:  senestre  1866,  bele  :  novele  2565.  e^:  destrece  :  tristrece  291,  1875, 
:  leece  422  etc.  e^:  de  :  virginite  151,  :  majeste  1431  etc.  Ob  der 
Reim  bele  :  mele  2509  dem  Dichter  angehört,  lassen  die  Lesarten  von 
B  bele  :  vice  und  C  eüst  :  fust  unentschieden. 

4)  i.  e  -|-  i  ergab  in  der  Sprache  unseres  Dichters  keinen 
Diphthong  oder  Triphthong,  sondern  i.  Beweisend  ist  der  Reim  (ire): 
:  baptestire  1367,  doch  als  in  Übergängen  befindlich  weniger  belegend: 
desir  :  (plaisir)  1910,  (respondi)  :  pri  (preco)  1971,  (dit)  :  delit 
3234. 


*  Schladebach  erwähnt  S.  56  nicht  den  gemischten  Gebrauch  von  dolent 
und  talent,  giebt  dagegen  irrig  an,  dcifs  noient  mit  a  und  e  im  Lucidaiie 
gebraucht  werde.     Die  hier  einschlägigen  Verse  276 — 9  lauten: 

Li  un  sont  ichi  espurgie, 
quant  lor  cors  sont  bien  cruchie 
(v.   263)     et  travelllie  de  male  gent 
qui  nes  deportent  de  noient 

(B  gent  :  neant,  C  gent  :  nient).  Schladebach  liest  unbegrelfliciierweise 
grant  statt  gent,  obwohl  B,C  gent  ausschreiben  und  grant  keinen  Sinn 
giebt.  —  Ebensowenig  ist  noians  1832  (v.  1682),  das  übrigens  alle  drei 
Handschriften  nicht  mit  s,  sondern  t  überliefern,  für  die  Sprache  des  Dich- 
ters gesichert,  denn  A  liest:  certainemant  :  noiant,  B  neant  :  haustement, 
C   noient  :  hautement. 


144  Der  Lucidaire  Gilleherts. 

h)  DiphtJiojige. 

5)  ui.  Der  Lucidaire  weist  keinen  Reim  auf,  der  den  Übergang 
u  -|-  i  zu  ui  bewiese. 

6)  oi.  Für  die  Vermischung  von  abam  und  ebam  zeigt  unser 
Gedicht  mehrere  Beispiele:  venoient :  lechoient  474,  amoient :  faisoient 
704,  servoient  :  sauvoient  1008,  lapidoient :  faisoient  1946. 

Der  Reim  ot  :  sormontot  3952  durfte  beweisen,  dafs  Gillebert 
auch  die  Imperfektbildung  der  ersten  Konjugation  auf  -oe,  -one  kannte 
(vergh  H.  Suchier  Z.F.  R.  P.  II,  276  „im  Pikardischen  Avurde  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  das  normannische  -oe  (amoe)  gesprochen,  ehe 
-oie  (aus  ebam)  die  Alleinherrschaft  an  sich  rifs"). 

7)  ai.  ai  reimt  im  allgemeinen  nur  mit  sich  selbst.  Doch  be- 
gegnen uns  auch  Bindungen  von  ai  zu  e^,  die  beweisen,  dafs  ai  in  ge- 
schlossener Silbe  wie  offenes  e  gesprochen  wurde:  estre  :  maistre  326, 
:  naistre  1194,  set  (septem)  :  ait  2474,  apres  :  mais  3303.  Ferner 
finden  sich  Reime,  in  denen  ei  aus  lat.  e  oder  I  vor  n  zu  ai  wird  und 
mit  ai  aus  lat.  a  gebunden  ist:  paine  :  semaine  308,  628,  mains  (minus) 
:  daerains  950. 

8)  ie.  e  und  ie  sind  auseinander  gehalten.  Der  Reim  pendie  : 
clocifie  1906  scheint  zu  beweisen,  dafs  Gillebert  noch  die  alte  Endun«? 
-ie  des  Perfektums  der  zweiton  schwachen  Konjugation  kannte,  doch 
läfst  sich  keine  sichere  Entscheidung  treffen,  da  B  v.  1905 — 6  fehlen 
und  C  pendi  :  soffri  bindet.  Doch  durch  A,B  gesichert  ist  der  Reim 
vesquie  :  hailie  3255. 

9)  Für  die  Kontraktion  der  Endung  -iee  des  Femininums  des 
Part.  Perf.  der  Verba  auf  ier  zu  ie  zeigt  der  Lucidaire  keine  beweisende 
Beispiele. 

10)  ui  wird  mit  i  gebunden:  achoisi  :  lui  496,  fist  :  destruist 
1226,  :  estruit  4252,  trestuit  :  contredit  2625. 

c)  Konsonanten. 

11)  Ob  die  Auflösung  des  1  dem  Dichter  angehört,  läfst  sich  aus 
dem  Reim  cevols  :  angoisous  2845  nicht  mit  Sicherheit  feststellen,  da 
in  B,  C  der  entsprechende  chevox  :  dieux  (dolium)  lautet. 

12)  s.  Einfaches  s  und  s  als  Produkt  von  t  (d)  -[-  s  hält  der 
Dichter  streng  auseinander.  Doch  reimen  ans  :  grans  1217,  :  enfans 
1733,  :  dolans  3244, :  vaillans  4060.  Er  wird  also  anz  gesprochen  haben. 

Ohne  Beweiskraft  ist  der  Reim   paradis   :   esperis  121,   denn   B 


Der  Lucldaire  Gilleberts.  145 

reimt  paradlz  :  viz  und  C  faitis  :  mis,  ebensowenig  benis  :  paradis  246 
und  amis  :  fis  (fidus)  3900,  die  in  Übergängen  befindlich  als  unecht 
bezeichnet  werden  dürfen. 

13)  Die  Bindungen  von  s  mit  d  und  t  scheinen  zu  beweisen,  dafs 
diese  Konsonanten  zuweilen  stumm  waren:  clost :  conplot  1G26,  David 
:  amis  2999,  :  garnis  3275,  sosmist :  contredit  3323,  fist :  estruit  4252.- 

Der  Reim  venus  :  uns  2903  ist  unecht,  da  diese  Stelle,  mit  B,  C 
verglichen,  als  eine  Verderbnis  erscheint. 

14)  In  dem  Reime  (montaignes)  :  plaignes  2878  steht  mouil- 
liertes n,  wo  es  sonst  nicht  gewöhnlich  ist. 

B.    Ergebnisse  der   Silbenzählung. 

15)  Verschiedene  Verse  des  Lucidaire  geben  nur  dann  acht  Silben, 
wenn  wir  die  Nichtelision  eines  auslautenden  e  annehmen,  eine  Er- 
scheinung, die  sich  dadurch  erklärt,  dafs  Gillebert  das  dumpfe  e  nach 
schweren  Konsonantengruppen  in  den  Hiatus  treten  liefs.  Beispiele 
bieten  folgende  Verse:  dont  la  terre  est  pupliee  54,  discipline  et  ne 
l'amerent  697,  et  au  sepulcre  iront  liez  1390,  et  l'autre  est  esperitez 
1643,  por  .X.  mille  est  aconte  2682,  et  atemprance  et  justice  4285. 
Unsicher  sind  folgende:  Maistre,  or  me  dites  briefment  2109,  Li 
maistre  en  ore  respont  2173,  2328,  Dist  li  maistre:  „Or  i  entent" 
2448,  Dist  li  maistre:  „Amis  enten"  3407.  In  dem  Verse  .vii.  especiax 
vertus  aront  2471  weichen  A,B,C  bedeutend  voneinander  ab.  B  liest: 
.VII.  esperiteux  gloires  avront,  C  aber:  .vii.  grandes  boneürtes  ont, 
L  Kap.  XVII,  C :  Septem  speciales  (V  spirituales)  glorias  corporis 
habebunt,  et  Septem  animae.  Man  wird  especiax  dreisilbig  lesen  müssen, 
obwohl  es  v.  4100,  4289  viersilbig  gebraucht  ist.  celestiel  v.  4205 
ist  viersilbig. 

16)  ie  ist  einsilbig  in  Filistiens  v.  3058,  zweisilbig  in  Domiciens 
1146,  chrestiens  1147,  1220,  1853,  2128,4004,  anchien  1161,  1321, 
1375,  3345,  devriens  2007,  2009,  ensipience  4167,  terrien  4315, 
Typriens  4329. 

Saül  2985  ist  zweisilbig. 

17)  Vom  Substantivum. 

a)  Bezüglich  des  s,  das  die  Maskulina  der  ersten  und  dritten 
Deklination  auf  e  später  im  Nom.  Sing,  annehmen  konnten,  zeigt  die 
Sprache  des  Dichters  ein  Schwanken.  Das  flexivische  s  ist  noch  nicht 
vorhanden  in:   pere  502,    ministre   1159,   dire  :  sire  1770,  sire  2543. 

Arcliiv  f.  n.  Sprachen.    LXXIII.  10 


146  I^er  Lucidaire  Gillebcrts. 

Doch  findet  sich  daneben  auch  leres  1012,  hermites  1155,  menres 
3523,  graindres  3527,  mires  3844,  Basires  4328.  Von  den  Adjek- 
tiven hat  povres  520  das  s  des  Nom.  Sing,  angenommen.  Den  einzigen 
als  Acc.   fungierenden  Nom.  bietet  v.  103: 

Del  juste  est  con  del  riebe  ber, 
quant  il  doit  sa  ferne  espouser. 

b)  Die  Frage,  ob  die  Feminina  nach  der  lateinischen  dritten 
Deklination  im  Nom.  Sing,  ein  s  annehmen,  ist  schwer  zu  entscheiden. 
Nur  in  dem  Reime  fachon  :  raison  2859  stimmen  die  Handschriften 
überein.  Wie  sie  sonst  auseinandergehen,  zeigen  folgende  Reime,  in 
denen  Feminina  nach  der  lateinischen  dritten  Deklination  als  Nom.  Sing, 
fungieren : 

A,  B  greignor  :  menor  310,  :  baldor  934,  C  hat  anderen  Text; 
A,B  carbon  :  avon  3549,  C  carbons  :  avons  ;  A  tribulation  ;  trovon 
1304,  B  tribulations  :  treuve  on,  C  tribulations  :  creons ;  A  sante  : 
enfermete  3656,  B  santez  :  enfermetez,  C  fehlt;  A  maison  :  habitation 
364,  B  weicht  ab,  C  maisons  :  hnbitations ;  A  baudor  :  honor  2879, 
B  fehlt,  C  baudors  :  honors. 

Hieraus  ersehen  wir,  dafs  Gillebert  sicher  die  ältere  Form  kannte. 

18)  Vom  Adjektivum.  Die  Adjektiva  der  lateinischen  dritten 
Deklination  haben  im  Femininum  im  allgemeinen  noch  kein  e  angenom- 
men. Beispiele:  quel  329,  2141,  tel  369,  433,  666,  727,  884  etc., 
ardant  542,  itel  3167,  grant  2488,  3932,  3940,  3954  etc.,  griefment 
335,  briefment  413,  forment  638,  668,  corporelment  2920,  esperitel- 
ment  2921. 

Eine  Ausnahme  macht  tele  2280,  das  aber  durch  itel  ersetzt 
werden  könnte,  ferner  quelle  1337,  presentement  1542. 

19)  Vom  Pronomen.  Für  die  Anlehnung  der  Pronomina  le  und  les 
an  je,  ne  (non  und  nee),  qui,  se  oder  si  bietet  unser  Text  folgende  Beispiele  : 

a)  jel  349,  350,  1112,  1894,  1913,  1997,  2044,  ges  3158,  die 
aber  nichts  für  die  Sprache  des  Dichters  beweisen. 

b)  nel  1239,  1420,  nes  279,  1408,  1453  dagegen  sind  durch 
A,B,  C  gestützt,   ebenso 

c)  ques  3659,  doch  nicht  quil  3336,  quis  2015,  3402,  4085, 
ques  2913. 

d)  (si,  wenn)  ses  569,  (si,  sie)  sei  2427,  ses  2904,  sis  3107, 
4108.  Da  B,  C  in  den  letzten  Beispielen  abweichen,  so  können  diese 
auch  Produkt  des  Schreibers  von  A  sein. 


Der  Lucldalre  Gilleberts.  147 

Li  der  Dativ  der  unbetonten  Form  des  Pron.  Pers.  verliert  sein  i 
vor  en :  onqnes  nul  dangier  ne  Ten  fist  72.  Über  die  betonte  Form 
des  Pron.  Pars,  in  der  ersten  und  zweiten  Person  Singr.  g^eben  die 
Reime  moi  :  croi  432,  :  foi  513,  toi  :  voi  77,  :  croi  2900  Aufklärung. 
Der  Reim  respondi  :  mi  befindet  sich  in  Übergängen  648,  1730. 

20)  Der  Artikel.  Der  Artikel  li  als  Nom.  Sing,  kann  gekürzt 
werden:  l'autre  851,  1380,  1934,  42GG,  l'nns  2008,  38G0,  l'angles 
1772,  daneben  aber  auch  li  ewangiles  467,  li  un,  li  altre  950,  3550, 
3875,  li  uns  3539. 

21)  Das   Verbum. 

a)  Die  erste  Pers.  Sing.  Präs.  Ind.  der  ersten  schwachen  Konjugation 
zeigt  noch  kein  e:  pri  232,  413,  536,  cri  502,  espoir  981,  comant  1081. 

b)  Vor  vokalischem  Anlaut  verliert  das  e  der  dritten  Pers.  Sing. 
Präs.  seinen  Silben  wert:  „Maistre,"  dist  il,  ,,dex  regne  en  toi"  74, 
qui  maine  o  soi  grant  conpaignie  105,  puis  l'en  amaine  a  grant  leece 
107,  ains  que  d^  vigne  al  jugement  407,  vcrgl.  ferner  sueffre  426, 
apele  600,  conbate  2639,  amaine  3850. 

c)  Die  Endung  -ies  der  zweiten  Pers.  Plur.  Imp.  ist  stets  ein- 
silbig: tenries  568,  oisies  569,  ve'isies  2590,  gheroies  2861,  faisies 
2862,  pories  3662. 

Der  Reim  se  vos  le  me  volies  dire  328,  wo  -ies  zw^eisilbig  ist, 
geht  auf  Kosten  des  Schreibers  von  A,  der,  wie  die  Varianten  zeigen, 
seine  Vorlage  erweitert  hat. 

d)  Neben  der  regelmäfsigen  Bildung  des  Futurums  der  ersten 
schwachen  Konjugation  kennt  der  Dichter  auch  die  Unterdrückung  des 
unbetonten  e  zwischen  Verschlufs-  oder  Reibelaut  und  folgendem  r: 
donra  1282,  1288,  2339,  3394,  3438,3638,3692,4006,  dura  1306, 
demorai  2496.    Nicht  sicher  sind  demandrai  2381  und  comandrai  4251. 

Ob  Gillebert  sich  den  Einschub  des  unbetonten  e  erlaubte,  läfst 
sich  nicht  mit  Sicherheit  feststellen,  da  folgende  Stellen:  istera  2215, 
esteroit  4058,  averoit  3417,  esteront  3443,  estcra  3958,  renderont 
4045  sämtlich  mit  B,  C  variieren  und  daber  auch  dem  Bearbeiter  von  A 
zugeschrieben  werden  können.  Die  Übereinstimmung  von  A,  C  in 
esteroit  3264  beweist  wegen  der  nahen  Beziehungen  von  A,  C  zu- 
einander nichts  für  die  Sprache  des  Dichters. 

22)  neis  1182  und  nient  279,  817  werden  immer  zweisilbig  ge- 
braucht. 

Durch  die  Vermischung  von    abam    und   ebam  (6)  wird  das  Nor- 

10* 


148  Der  Lucidaire  Gilleberts. 

niannische  sofort  ausgeschlossen.  Die  Einsilbigkeit  der  Endung  -ies 
der  zweiten  Pers.  Plur.  Imp.  (21,  c)  versetzt  unser  Denkmal  in  die 
Pikardle.  Ohne  Beweiskraft  ist  der  Reim  issir  :  veir  3159,  der  nach 
H.  Suchier,  Aue.  u.  Nie.  p.  68  auch  in  den  Loherains  im  Reime  steht. 
Der  schwankende  Gebrauch  des  s  im  Nom.  Sing,  bei  den  Masku- 
linis  der  ersten  und  dritten  Deklination,  die  Anwendung  der  älteren 
Form  des  Nom.  Sing,  der  Feminina  der  lateinischen  dritten  Deklination, 
das  Fehlen  des  e  femininum  bei  den  Adjektiven  der  lateinischen  dritten 
Deklination  und  endlich  das  Verstummen  des  e  in  der  dritten  Pers. 
Sing.  Präs.  der  ersten  Konjugation  vor  folgendem  Vokal  weisen  auf 
das  Ende  des  12.  oder  den  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  hin.  Die 
zweite  Hälfte  des  13.  JahrhundertSvkommt  nicht  in  Betracht,  da  Hand- 
schrift A  im  Jahre  1268  vollendet  wurde. 

Das  Verhältnis  des  Lucidaire  zum  lateinischen 

Texte. 

Obwohl  Teil  III  der  Schladebachschen  Dissertation  diesen 
Teil  meiner  Arbeit  in  einigen  Punkten  überfiüssig  macht,  so 
gewährt  doch  die  Art  und  Weise  jener  Untersuchung  keinen 
genügenden  Einblick  in  das  wahre  Verhalten  des  Gillebert  zu 
seiner  Vorlage  und  macht  meine  Untersuchung  nicht  überflüssig, 
sondern  in  einigen  Punkten  sogar  notwendig.  Der  Erleichterung 
wegen  habe  ich  am  Rande  meines  französischen  Textes  die 
lateinische  Kapitelzählung  in  eckigen  Klammern  angegeben. 

Der  Hauptzweck  des  Gillebert  bei  der  Abfassung  seines 
Lucidaire  war,  das  Volk  zum  Guten  zu  führen  und  auf  das 
jenseitige  Wohl  hinzuweisen.  Er  schrieb  daher  ohne  jede  Spitz- 
findigkeit, klar  und  einfach,  wie  es  der  damaligen  Volksbildung 
angemessen  war.  Die  Tendenz  seines  Werkes  und  wie  er 
dasselbe  verfafste,  sagt  er  uns  v.  4334 — 7: 

„Por  bien  et  por  amendement 
l'ai  escrit  si  apertement 
que  li  clers  et  la  simple  gent 
i  poent  prendre  amendement." 

Ich  werde  mich  daher  nicht,  wie  Schladebach,  mit  einer 
nackten  Aufzählung  einzelner  Unterdrückungen  und  Erweite- 
rungen begnügen,  sondern  zeigen,  wie  der  Dichter,  geleitet  von 
jenen  Grundsätzen,  sich  zum   Elucidarius  verhält. 


Der  Lucidaire  Gilleberts.  149 

Betrachten  wir  zunächst  Gilleberts  UnterdrückunGfcn  im 
lateinischen  Texte.  Im  ersten  Kapitel  übergeht  er  den  Ver- 
gleich des  Schülers  und  seiner  Fragen  mit  der  Hydra  und 
deren  Köpfen,  da  er  jene  Sage  bei  dem  ungebildeten  Volke 
nicht  als  bekannt  voraussetzen  konnte  und  eine  ßehandluno- 
derselben  seinem  Zwecke  nicht  entsprochen  haben  würde.  Als 
zu  gelehrt  und  spitzfindig  läfst  der  Dichter  die  auf  S.  17  bei 
Schladebach  behandelte  Frage  des  Schülers  aus,  warum  die 
nicht  Vollkommenen  gerade  bis  zum  siebenten,  dreifsigsten  Tage 
oder  bis  an  das  Ende  des  Jahres  dulden.  Aus  gleichen  Grün- 
den wohl  auch  das  in  Kap.  X*  durchaus  dogmatisch  be- 
handelte Überheben  des  Antichrists,  ferner  in  Kap.  XVIII,  D 
den  Beweis,  dafs  der  Glanz  der  Guten  ums  Siebenfache  den 
der  Sonne  in  der  Sommerszeit  übertreffe.  Nämlich  Gott  als 
Schöpfer  der  Sonne  habe  mehr  Klarheit,  die  Menschen  seien 
der  Tempel  Gottes,  in  dem  Gott  wohnt,  folglich  müssen  diese 
in  gröfserer  Klarheit  leuchten  als  die  Sonne.  Über  die  in 
Kap.  XV,  E  unterdrückten  Fragen  des  Schülers:  „Quid  est 
transiens  ministrabit  illis?"  (Luc.  12,  v.  27)  etc.,  vergl.  Schlade- 
bach S.  18. 

Mit  Kecht  unterdrückt  Gillebert  schon  erwähnte  Stellen. 
In  Kap.  VI,  A  [v.  844—73]  **  von  der  unteren  Hölle  sprechend, 
übergeht  er  „unde  et  dives  rogabat  a  Lazaro  guttam  super  se 
stillari,"  welchen  Zusatz  er  ganz  richtig  schon  in  der  Geschichte 
vom  reichen  Manne  durch  v.  504—6  als  erledigt  betrachtet, 
ebenso  scheint  in  Kap.  XIV,  E  [2050—203]  die  Frage  des 
Schülers:  „Quomodo  judicabuntur?"  und  Antwort  des  Lehrers: 
„Coelesti  palatio,  qui  haec  fecerunt,  digni  censebuntur"  durch 
V.  2042 — 9  abgcthan,  wo  schon  von  dem  Wie  und  dem  Resultat 
des  Urteils  die  Rede  war.  In  Anschlufs  an  Kap.  XV  erzählt 
der  Dichter  bis  v.  2251  die  Reinigung  der  Elemente  und  thut  den 
glücklichen  Griff,  Kap.  XV,  A  den  Vergleich  zwischen  der  Ver- 
wandlung unseres  Körpers  und  der  Erde  zu  übergehen.  Er  sah 
richtig    voraus,    dafs    er   sich   bei   der   folorenden   einorehenderen 


*  Obwohl  Kap.  X  durch  den  Libellus  de  Antichristo  des  Adso  ersetzt 
ist,  werde  ich  im  folgenden  doch  die  Bezeichnung  „Kap.  X«  beibehalten. 

**  Die  in  der  eckigen  Klamnper  stehenden  Verszahlen   geben   die   dem 
Kapitel  entsprechende  Partie  meines  Textes  an. 


150  .  Der  Lucidairc  Gilk-berts. 

Schilderung  der  Verwandliino-  der  Erde  v.  2278 — 307  wiederholen 
mufstc.  Ein  anderes  Beispiel  für  geschickte  Vermeidung  von 
Wiederholung  bietet  Kap.  XVI,  D^  [v.  2308—82].  Hier  läfst 
der  Dichter  die  zweite  Frage  des  Schülers:  „In  qua  aetate,  vel 
in  qua  mensura  erunt?"  aus,  sich  wohl  erinnernd,  dafs  er  derselben 
schon  Kap.  XI,  E  bei  der  Auferstehung  der  Guten  und  ßösen 
begegnet  ist  und  sie  in  v.  1732 — 51  behandelt  hat.  Wohl  als 
selbstverständlich  unterdrückt  Gillebert  Kap.  VII  den  auf  die 
Guten  bezüglichen  Schlufssatz  des  Kapitels  „Non  tarnen  aliquid 
orant,  nisi  quod  ipse  deus  disposuit  facere  :  alioquin  incassum 
orarcnt",  da  es  ihm  ganz  natürlich  scheint,  dafs  die  Guten  Gott 
um  nichts  Böses  bitten  werden.  Ferner  Kap.  IX  die  Träume, 
zu  denen  der  Mensch  selbst  Anlafs  giebt,  da  dieselben,  im 
Grunde  genommen,  doch  wieder  ihren  Ursprung  in  Gott  oder 
dem  Teufel  haben  (vergl.  Schi.  S.  17),  und  endlich  in  Kap.  XX,  C 
die  Erledicrunsf  der  Frao-e,  warum  die  Seli2:cn  Himmel  und  Erde 
nicht  neu  gestalten,   vergl.  Schi.  S.  18. 

Den  Fortschritt  der  Handlunu*  nur  hemmende  Vero-leiche 
und  Citate  aus  der  Bibel  sind  für  unseren  Dichter  auch  ent- 
behrlich. So  in  Kap.  VIII,  D.  Der  Schüler  fragt:  ,, Habent 
plenum  gaudium  sancti?"  Den  die  Antwort  des  Lehrers  aus- 
machenden Vergleich  der  Heiligen  mit  Gästen,  die  über  ihre 
eigene  Einladuno  Freude,  aber  über  das  Nichterscheinen  ihrer 
Freunde  Schmerz  empfinden,  unterdrückt  der  Dichter  und  geht 
sofort  ad  rem,  indem  er  an  das  „plenum*'  in  der  Frage  des 
Schülers  anknüpft  und  dieselbe  durch  v.  926 — 35  beantwortet. 
Von  anoeführten  Hibelstellen  seiner  Vorlage  entnimmt  er  nur 
die  kräftigste.  So  übergeht  er  in  Kap.  XI,  C  das  auf  das 
Ertönen  der  Posaune  bezügliche  „Canet  enim  tuba,  et  mortui 
resurgent"  (1.  Kor.  15,  v.  52),  ferner  „Periit  memoria  eorum  cum 
sonitu"  (Psal.  9,  v.  7),  schliefst  sich  sodann  in  den  Versen 
1618 — 21  wieder  an  die  Worte  „et  altissima  (V.  altisona)  voce 
mortuis  clamabunt,  surgite*'  an,  erlaubt  sich  aber  sofort  folgende 
zweite,  sich  unmittelbar  an  den  vorhergehenden  Anschlufs  an- 
reihende Unterdrückung:  Media  nocte  clamor  factus  est  (Matth. 
25,  V.  6).  Gillebert  nimmt  also  für  seinen  Lucidaire  nur  das 
wichtige  ..surgite"  heraus  und  fühlt  ganz  richtig,  dafs  dies  auf 
das  Gemüt  des  Volkes    seine  ^^'irkung   nicht    verfehlen    konnte. 


Der  Lucidaire  Gillebcrts.  151 

Vollständig  entbehrlich  scheint  dem  Dichter  in  Kap.  XIV,  E 
die  auf  die  Worte  „Kommt  ihr  Gesegneten  meines  Vaters  etc." 
bezügliche  Frage:  .. üicentur  haec  sonis  vcrborum?*'  (vergl.  Schi. 
S.  17),  desgleichen  die  Kap.  XXI,  A  enthaltenen  Bibelstellen, 
wie  das  sich  auf  den  Wagen  Christi  beziehende  „Ascendes  super 
equos  tuos  :  et  quadrigae  tuae  salvatio"  (Abac.  o,  v.  8)  und  das 
auf  die  vier  Tugenden  bezügliche  ,, Hierusalem,  quae  aedificatur 
ut  civitas"  (Psal.  122,  v.  3). 

AVie  geschickt  Gillebert  vermeidet,  seinen  Leser  zu  er- 
müden, zeigt  Kap.  XVIII,  A.  Nur  über  die  sieben  leiblichen 
Güter  und  das  erste  oeistis^e  läfst  der  Dichter  den  Schüler  sein 
Erstaunen  durch  Ausrufe  ausdrücken,  doch  nicht  über  die 
übrigen  sechs  geistigen.  In  L  erwidert  der  Schüler  auf  die 
Freundschaft  des  David  und  Jonathan  v.  3303 — 10  „O  beati- 
tudo!",  auf  die  Eintracht  des  Laelius  und  Scipio  v.  3320  „0  in- 
efFabilitas !"  etc.  Nachdem  Gillebert  die  ersten  acht  Ausdrücke 
der  Verwunderung  berücksichtigt  hatte,  mochte  er  den  Eindruck 
gewinnen,  dafs  die  Anführung  der  übrigen  sechs  äufserst  er- 
müden mufste.  Auch  mochte  er  sich  der  Unmöglichkeit  be- 
wufst  sein,  jene  Ausrufe  wegen  des  Versmafses  und  der  Fessel 
des  Reimes  mit  der  Kürze  und  Bündigkeit  des  lateinischen 
Textes  wiederzuo-eben. 

Als  absurd  und  o-ecren  die  Tendenz  seines  Werkes  unter- 
drückt  der  Dichter  in  Kap.  VIII,  B  das  Erscheinen  des  Papstes 
Benedikt  halb  als  Esel  und  Bär  (vergl.  Schi.  S.  17),  ebenso  in 
Kap.  XI,  E  die  Frage,  ob  das  Kind  im  Mutterleibe  und  wie 
der  Mensch  auferstehe,  der  von  Avilden  Tieren  gefressen  wurde 
oder  mifso^eboren  war,  veröl.  Schi.  S.  19. 

Geschickt  w^eifs  Gillebert  auch  auszulassen,  um  anderen 
Stellen  gröfseren  Nachdruck  zu  geben.  Um  das  Schicksal  der 
Verdammten  noch  härter  darzustellen,  dient  der  künstlerischen 
Absicht  des  Dichters  im  Kap.  VIII,  E  die  Unterdrückung  der 
Angabe^  dafs  einige  Seelen  der  Bösen  einige  Kenntnis  besitzen. 
Kap.  X  entnimmt  der  Dichter  nur  die  letzte  der  beiden  Todes- 
arten, übergeht  dagegen,  dafs  der  Antichrist  vor  dem  Glänze 
des  göttlichen  Lichtes  und  vor  Furcht  sterben  werde.  Diese 
Todesart  machte  offenbar  weniger  Effekt  als  seine  Vernichtung 
durch  den  Erzengel  Michael. 


152  Der  Lucidaire  Gilleberts. 

Und  wenn  Honorlus  sich  am  Schlufs  des  Elucidarlus  über  die 
Wirkung  der  Ausscheidung  der  Bösen  als  den  rauhen  Steinen 
in  Bezug  auf  die  Festigkeit  der  Mauer  ausläfst,  indem  er  sagt: 
„De  quorum  exitio  justi  vinculo  charitatis  quasi  caemento  murus 
firmius  compaginabuntur",  so  ist  auch  hier  das  Streben  nach 
kräftiger  Schilderung  unverkennbar,  wenn  er  diese  Stelle  über- 
geht und  mit  der  Qual  der  Bösen  im  Feuer  und  mit  der  Freude 
der  Guten  im  Himmel  abbricht. 

Neben  diesen  meistens  motivierten  Unterdrückungen  zeigt 
Gillebert  auch  andere,  für  die  sich  kein  rechter  Grund  angeben 
läfst.  So  in  Kap.  X  für  die  Auslassung  der  Schilderung,  wie 
die  Menschen  sich  bei  der  Verfolgung  durch  den  Antichrist 
gebärden  werden  und  in  Kap.  XIX,  B  der  Ausspruch,  dafs  die 
Befjlerde  nach  weltlichen  Vero^nüsfen  uns  so  intensiv  durch- 
dringe  wie  der  Schmerz,  den  uns  ein  an  den  Kopf  gelegtes 
glühendes  Eisen  verursache  (vergl.  Schi.  S.  18).  Dies  mufs 
uns  um  so  mehr  wundern,  als  die  Behandlung  dieser  Stelle 
ganz  im  Sinne  des  Lucidaire  gewesen  wäre,  indem  dem  Leser 
der  Grad  seiner  Sinnenlust  veranschaulicht  Avurde.  Hierher 
könnte  man  auch  aus  Kap.  XIV,  C  die  symbolisch-allegorische 
Deutung  rechnen  von  Apok.  20,  v.  12:  Libri  aperti  sunt;  et  liber 
vitae,  etc.  Doch  hat  Schi,  unrecht,  wenn  er  S.  18  diese  Stelle 
als  „gänzlich"  unberücksichtigt  hinstellt.  Der  Dichter  berührt 
sie,  wenn  auch  nur  äufserst  flüchtig,  in  den  v.  2202 — 3: 

Iluec  liront  con  en  un  livre, 
s'il  seront  dampne  ou  delivre 

und  nimmt  den  Hauptgedanken  dieses  Passus  richtig  heraus. 
Allerdinors    würde   eine   einorehendere    Behandluno-   dieser   Stelle 

O  O  o 

nicht  gegen  die  Tendenz  des  Lucidaire  gewesen  sein.  Dafs 
der  Dichter  in  Kap.  XV,  A  die  eingehende  Schilderung  der 
Welt  durch  Feuer  v.  2240  nur  mit  dem  einfachen: 

Par  fu  sera  tot  degaste 

wiedergiebt,  mufs  uns  wundern,  da  er  doch  sonst  immer  darauf 
aus  ist,  durch  kräftige  Schilderung  auf  seine  Leser  zu  wirken. 
Wenn  Gillebert  einerseits  Stellen  übergeht,  so  führt  er 
andererseits  in  L  nur  kurz  angedeutete  Gedanken  weiter  aus 
und   versieht    sie   mit   Produkten   eigener    Phantasie.     Das   ge- 


Der  Lucidaire  Gilleberts.  153 

ßchieht  hauptsächlich  bei  Stoff,  der  die  Gemüter  mächtig  ergriff 
und  wohl  geeignet  war,  die  Menschen  zur  Eeue  und  Bufse 
zu  bewegen,  wie  ihn  Kap.  IV  „De  malorum  deductione  ad  in- 
feros ;  et  de  poenis  et  quas  ibi  sustinent"  bietet.  Hier  bewaff'net 
er  beim  Tode  der  Bösen  den  Teufel  mit  Spiefsen,  Haken  und 
Stacheln,  läfst  sie  hüpfen,  tanzen  und  springen  und  erzählt 
ausführlich  die  in  L  nur  kurz  erwähnte  Geschichte  vom  reichen 
Manne  und  armen  Lazarus.  Die  Höllenqualen  schildernd,  be- 
zeichnet er  alles  Aas  der  AVeit  im  Vergleich  zu  dem  „foetor 
intolerabilis"  der  vierten  Qual  als  Weihrauch  und  Wohlgeruch, 
läfst  in  die  sechste  ohne  Unterschied  Könige  und  Herzöge, 
Geistliche  und  Laien  eino-ehen  und  zeist  endlich,  dafs  in  der 
achten  das  Feuer  nicht  leuchte,  aber  von  schrecklicher  Glut  sei. 
Ausführlich  gegen  L  erzählt  der  Dichter  in  Kap.  IX  den  Traum 
des  Joseph  von  Sonne,  Mond  und  Sternen,  den  des  Joseph, 
des  Gemahls  der  Maria,  und  ganz  nach  eigener  Phantasie  den 
der  Frau  des  Pilatus.  Letzterer  scheint  eine  Erweiterung  des 
zweiten  Kapitels  der  Gesta  Pilati  zu  sein  (vergl.  C.  v.  Tischen- 
dorf, Evangelia  Apocrypha  S.  343).  Die  Angabe,  dafs  der 
Antichrist  dreifsig  Jahre  alt  sein  w^ird,  fehlt  dem  zehnten  Ka- 
pitel, ebenso,  dafs  Enoch  und  Elias,  die  uns  das  Kommen  des 
Antichrists  ankündigen,  in  grofser  Pracht  und  Klarheit  erschei- 
nen werden  v.  1454 — 9,  auch  die  Freude  des  Antichrists  und 
der  Seinigen  auf  dem  Olberge  über  seinen  vermeintlichen  Sieg 
V.  1512 — 28.  Dafs  der  Antichrist  durch  einen  Blitzstrahl  vom 
Erzengel  Michael  getötet,  in  Pulver  verwandelt,  vom  Winde 
verweht  und  seine  Seele  in  die  Hölle  geschleppt  wird,  ist  eine 
phantasievolle  Ausschmückung,  und  die  Angabe,  dafs  die  An- 
hänger des  Antichrists  über  den  jähen  Sturz  ihres  Herrn  er- 
staunt sein  werden  v.  1544 — 53,  eine  eigene  Betrachtunor  des 
Dichters.  Eingehender  als  Honorius  erklärt  Gillebert,  der  Un- 
kenntnis des  Volkes  Eechnung  tragend,  in  Kap.  XIV,  A  die 
Frage,  was  es  heifse,  dafs  die  Gottlosen  beim  Gericht  sich 
nicht  erheben,  sondern  ohne  Gericht  untergehen  werden.  In  L 
lautet  die  entsprechende  Stelle: 

Discipulus:  „Quare  dicitur  de  eis  ;  Non  resurgeiit  impii  in 
judicio?''  (Psal.  1,  v.  5,  Psal.  20,  v.  10). 

Magister;    ,,Non    contirlget  illis,    ut   ibi  judicent;    sicut    hie 


154  Der  Luoiilaire  Ciillobcrts. 

fcccnint.     De  Ins  dicitiir:  Foues  eos  iit  ciibainim  ignis  in  tempore 
cultns  tiii^'     Dagegen  vergl.  Lucidaire  v.  2115  —  23: 

Ce  senefie  lor  vertu 
ki  fu  plaine  d'inniquilc 
ol  siecle  et  de  jjraiit  crualte. 
Cil  jugierent  a  lor  talent 
lor  voisins  et  la  povre  geiit, 
niais  lores,  quant  il  resordront, 
iie  bien  ne  mal  ne  jugeront, 
perdn  avront  lor  poeste 
dont  il  jngoient  contre  de. 

Aus  gleichem  Grunde  erläutert  er  die  in  Kap.  XVIIl  zur 
Erklärung  der  vierzehn  Tugenden  angegebenen  Beispiele,  wird 
aber  breit,  indem  er  Dinge  erzählt,  die  seinem  Zwecke  gar 
nicht  entsprechen,  vergl.  Schi.  S.  20—21.  Wie  er  seiner 
Phantasie  die  Zügel  schiefsen  lafst,  zeigt  die  Schilderung  von 
Joabs  Auszug,  wo  so  recht  das  ritterliche  Element  des  Mittel- 
alters durchbricht.     Der  Dichter  ruft  v.  2697 — 702  aus: 

„La  vei'ssies  espiels  brandir, 
escus  a  fin  or  resplendir, 
healmes  luire  et  estinceler 
et  ces  ensegnes  venteler 
et  ces  cskieles  aprochior, 
l'une  vers  lautre  cevalchier!" 

und  als  Joab  kämpft  v.  2725 — 8: 

„One  puis  n'i  ot  resnc  tenuc. 
La  ot  tante  lance  esnioluc 
brisie  et  tant  escu  perchie 
et  tant  bon  hauberc  desmaillie!'' 

Davids  Klage  über  seinen  Sohn  Absolom  vergl.  Schi.  S.  59. 
Eigentlich  alles  vom  Dichter  über  Absolom  Gesagte,  aufser  was 
dessen  Schönheit  betrifft,  gehört  streng  genommen  nicht  zur 
Sache  und  läfst  sich  nur  insofern  rechtfertigen,  als  es  die  Strafe 
für  die  Versündioun2:  eines  Sohnes  an  dem  Vater  veranschau- 
licht  und  so  dem  Leser  zur  Warnung  dient. 

Der  Tendenz  des  Lucidaire  gemäfs  streut  Gillebert  ge- 
legentlich ernste  Ermahnungen  ein,   die   nicht   durch    den  latei- 


Der  Lucidaire  Gilleberts.  155 

nischen  Text  gestützt  sind,  so  in  Kap.  II,  wo  von  den  Qualen 
der  Nichtvollkommenen  die  Rede  ist,  dafs  wir  schleunigst  unsere 
Sünden  bereuen  möchten.  In  Kap.  III  im  Anschlufs  an  die 
Geschichte  vom  reichen  Manne  und  armen  Lazarus  rät  er  uns, 
den  Armen  reichlich  zu  2;eben  und  uns  des  Schicksals  des 
Reichen  zu  erinnern.  In  Kap.  XIII  veranlafst  ihn  die  Wahr- 
nehmuno^,  dafs  wir  hier  in  unserem  Urteil  manchem  Irrtum 
unterworfen  sind,  zu  der  Mahnung,  uns  jedes  Urteils  über 
andere  zu  enthalten  und  dasselbe  Gott  zu  überlassen.  Im  An- 
schlufs an  die  Schrecknisse  nach  dem  Gericht  redet  er  in 
Kap.  XV  in  den  Versen  2220—5  seinen  Lesern  eindringlich 
ins  Gewissen,  ihr  Leben  so  zu  regeln,  dafs  sie  einst  der  Hölle 
entgehen  könnten,  und  nach  dem  Tode  Absoloms  in  Kap.  XVIII, 
unsere  Eltern  zu  achten  und  zu  lieben,  damit  wir  geistig  in 
der  Hölle  nicht  noch  schrecklicher  leiden  als  körperlich  hier  der 
Sohn  Davids.  Eigentum  des  Dichters  ist  in  Kap.  XIX  noch 
die  Betrachtung  über  die  Vergänglichkeit  alles  irdischen  Ver- 
onüofens  v.  3543 — 9. 

Wenn  Schi.  S.  19  den  Sturz  der  zehnten  Engellegion 
v.  382 — 409  (v.  365  —  92)  als  „ganz  frisch  hinzugefügt,  durch 
keine  Andeutung;  im  Oricrinal  motiviert"  hinstellt,  so  ist  er  im 
Irrtum,  denn  Honorius  behandelt  diese  Stelle  im  siebenten  Ka- 
pitel „De  casu  diaboli  et  satellitum  ejus"  des  ersten  Buches 
seines  Elucidarius,  das,  wie  Schi.  S.  11  richtig  angiebt,  un- 
serem Dichter  bekannt  war. 

Da<reo[en  bezeichnet  Schi,  ebenda  die  ..siOTification"  des 
Namens  Antichrist  richti"f  als  im  Elucidarius  nicht  motiviert, 
läfst  jedoch  die  Frage  offen,  was  dem  Dichter  bei  dieser  Partie 
als  Quelle  gedient  hat.  Ich  beantworte  diese  Frage  dahin,  dafs 
mit  dem  zehnten  Kapitel  „De  Antichristo  et  adventu  Enochae 
Eliae"  [v.  110(3  —  1575]  unser  Dichter  den  Elucidarius  verlassen 
und  für  seinen  Lucidaire  den  Libellus  de  Antichristo  benutzt 
hat,  welchen  Adso,  Abt  von  Mendier-en-Der,  im  zehnten  Jahr- 
hundert verfafste  (hrsgb.  von  Frohen  in  Beati  Flacci  Albini  seu 
Alcuini  abbatis  opera,  Tom.  II,  vol.  I,  p.  527;  vergl.  H.  Suchier, 
Denkmäler  proven^alischer  Litteratur  und  Sprache  S.  490). 
Welche  Quellen  Gillebert  sonst  noch  benutzt  hat,  sagt  er  uns 
v.  4326 — 9,   vergl.  Schi.  S.  22.     In   diesem   Kapitel    zeigt   uns 


156  Der  Lucidaire  Gillebcrts. 

Gillebert  ein  neues  Verfahren  bei  der  Bearbeitung  seines  Stoffes. 
Er  stellt  verschiedentlich  um. 

Von  V.  1106  —  1303  hält  sich  der  Dichter  in  der  Anordnung 
der  Gedanken  genau  an  den  Libellus,  nimmt  jedoch  in  v.  1262 — 7 
noch  einmal  seine  Zuflucht  zu  Kap.  X,  E  des  Elucidarius;  es 
heiföt  dort:  Diabolus  ejus  maleficiis  corpus  alicujus  (V  ali- 
cujus  damnati)  intrabit,  et  illud  apportabit,  et  in  illo  loquetur, 
welche  Stelle  im  Adso  nicht  zu  belegen  ist.  Erst  von  v.  1304 
an  erlaubt  er  sich  grofse  Freiheiten  mit  seiner  Vorlage.  Wir 
finden  abweichende  Reihenfolge  der  Gedanken,  die  ganze  Situa- 
tionen ändern  und  Wiederholunsjen  zur  Folgte  haben,  ferner 
Erweiteruno^en,  Zusätze  und  umfanc^reiche  Unterdrückuno;en. 

Gleich  nach  v.  1307  übergeht  der  Verfasser  unseres 
Gedichtes  das  Verkürzen  der  Zeit  ,.Tunc  abbreviabuntur 
dies  propter  electos  (Matth.  24,  22) ;  nisi  enim  dominus  ab- 
brevlasset  dies,  vix  salva  esset  omnis  caro  (V  non  fuisset 
salva  omnis  caro),"  um  es  erst  nach  der  grausamen  Verfol- 
frunc;  des  Enoch  und  Elias  durch  den  Antichrist  v.  1496  bis 
1503  zu  erwähnen.  Entschieden  gereicht  es  seinem  Gedicht 
zum  Vorteil,  dafs  er  allen  Umschweif  vermeidet,  wenn  er 
die  alliremeinen  Bemerkunfren  über  die  Herrschaft  der  Perser, 
Griechen  und  Römer  übergeht.  Der  Dichter  hebt  nur  das 
Wichtiffste  vom  Erscheinen  des  xA^ntichrists  hervor.  Derselbe 
kommt,  wenn  die  Oberherrschaft  von  den  Römern  gewichen  ist. 
Dieselbe  dauert  noch  fort  in  den  FranQois,  Alemant  und  Englois. 
Adso  erwähnt  nur  die  Franzosen,  er  sagt:  „Tamen  quamdiu 
reges  Francorum  duraverint,  qui  Romanum  Imperium  teuere 
debent,  dignitas  Romani  imperii  ex  tote  non  peribit,  quia  stabit 
in  regibus  suis."  Aus  ihnen  geht  ein  König  Namens  Konstantin 
hervor,  der  das  jjanze  römische  Reich  beherrschen  und  nach 
langjähriger  Regierung  auf  dem  Ölberge  seine  Krone  nieder- 
legen wird.  Das  sich  hier  unmittelbar  anschliefsende  „Hie  erit 
finis  et  consummatio  Romanorum  et  Christianorum  imperii"  läfst 
der  Dichter  vorsichtig  aus,  da  er  noch  eine  eingehendere  Be- 
schreibung des  Königs  jenes  Imperiums  und  eine  Schilderung 
seiner  Thätigkeit  bis  zu  seinem  Ende  folgen  läfst,  und  bringt 
obijzen  Gedanken  vom  Ende  des  Römerreiches  mit  einer  Wieder- 
holung,  nämlich  der  Rückkehr  Konstantins  nach  Jerusalem  und 


Der  Lucidaire  Gllleberts.  157 

einem  zweiten  Besteigen  des  Ölberges  in  v.  142(3 — 33  nach 
der  Besiegung  der  Völker  von  Got  und  Magot.  Über  das 
Überheben  des  Antichrlsts  vergl.  S.  149.  Den  König  Konstantin 
schildert  der  Dichter  als  von  schönem  Wuchs  und  Ansehen, 
am  Ende  seiner  Regierung  als  im  Alter  von  hundertundzwölf 
Jahren,  welche  Angabe  zufolge  des  lateinischen  Textes  erst  nach 
v.  1396  nach  der  Rettung  der  Juden  hätte  eingefügt  werden 
dürfen,  und  sein  Land  als  fruchtbar,    blühend    und  im  Frieden. 

Im  Libellus  wird  dieses  Glück  gestört  durch  die  Erhebun<T 
der  Völker  auf  den  Inseln  Goch  und  Magoch.  Der  Könio- 
wirft  den  Aufstand  nieder,  angespornt  durch  den  Zuruf  der 
Schrift:  „Rex  Komanorum  omne  sibi  vindicet  regnum  terrarum." 
Es  folgt  die  Unterjochung  aller  Inseln  und  Staaten,  der  Ver- 
such, die  Heiden  zu  taufen  und  die  Bekehrung  der  Juden.  So 
im   Libellus.     Hier  heifst  es : 

Tunc  exurgent  ab  aquilone  spurcissimae  gentes,  quas 
Alexander  rex  inclusit  in  Goch  et  Mao-och.  Haec  sunt  viofinti 
duo  (V.  duodecim)  regna,  quorum  numerus  est  sicut  arena 
maris.  Quod  cum  audierit  Romanorum  rex,  convocato  exercitu 
debellavit  eos,  et  prosternet  eos  usque  ad  internecionem.  Hie 
semper  habebit  prae  oculis  scripturam  itadicentem:  „Rex  Roma- 
norum omne  sibi  vindicet  reojnum  terrarum."  Omnes  erg^o  in- 
sulas  et  civitates  devastabit,  et  universa  idolorum  templa  destruet, 
et  omnes  paganos  ad  baptismum  convocabit,  et  per  omnia 
templa  crux  Christi  erigetur.  In  diebus  illis  salvabltur  Juda,  et 
Israel  habitabit  confidenter  (Jerem.  33,  16). 

Ganz    unnatürlich    ist    die    Anordnung    der    Gedanken    im 

Gedichte.     Hier  stört  die  heihge  Schrift  jenes  Erdenglück.    Sie 

ruft  dem  König  zu  v.  1354: 

„Rois  des  Romains, 
venge  le  roi  des  crestiains!" 

Daran  schliefst  sich  der  Passus  von  der  Eroberung  aller 
Länder  bis  zur  Bekehrung  der  Juden  von  v.  1356 — 95,  und 
dann  erst  folgt  der  Aufstand  der  Völker  auf  Goch  und  Magoch 
und  ihre  Unterwerfung.  Stellen  wir  v.  1396 — 1424  vor 
V.  1353 — 95,  so  haben  wir  die  logische  Aufeinanderfolge  der 
Gedanken  des  lateinischen  Textes.  Warum  weicht  hier  der 
Dichter,  der  sonst  bei  der  Bearbeitung  des  Stoffes  immer  grofse 


158  Der  Lueidalre  Gllleberts. 

Gewandtheit  zeigt  und  die  Gedanken  logisch  zu  verknüpfen 
versteht,  von  der  khiren  lateinischen  Disposition  ab?  Ein  trif- 
tiger Grund  läfst  sich  nach  unserem  Dafürhalten  nicht  geltend 
machen. 

Mit  der  Rückkehr  des  Königs  nach  Jerusalem  und  der 
Niederlesfuno;    seines    Renjiments     auf    dem    Ölberjje    folgt    der 

OD  O  OD 

Dichter  wieder  dem  Libellus  und  bezeichnet  hier  mit  dem  vorher 
unterdrückten  Satze  „Ilic  erit  finis  et  consuramatio  Romanorum 
imperii"  die  Aufgabe  des  Königs  von  Rom  als  gelöst.  Dann 
macht  Gillebert  einen  Zusatz  und  sich  damit  einer  Wiederholung 
schuldifj.    Er  läfst  nämlich  fye2:en  den  lateinischen  Text  v.  1434 — 9 

O  DO 

den  Antichrist  nochmals  in  Jerusalem  einziehen,  In  den  Tempel 
gehen  und  seine  Macht  verkünden,  alles  Gedanken,  die  er  schon 
v.  1218 — 29  weiter  ausgeführt  hat.  Über  das  Erscheinen  des 
Elias  und  Enoch  vergl.  S.  153.  Sie  predigen  dreiundeinhalb  Jahre, 
bekehren  alle  Juden  und  werden  dann  unter  den  grausamsten 
Martern  getötet.  Hier  erst,  wo  die  Trübsal  am  gröfsten  ist, 
fügt  der  Dichter  in  unverkennbar  künstlerischer  Absicht  das 
Verkürzen  der  Zeit  ein  v.  1496 — 9,  das  zufolge  des  lateinischen 
Textes  schon  nach  v.  1307  hätte  erwähnt  werden  müssen, 
vergl.  S.  156. 

Über  die  Freude  des  Antichrists  und  der  Seinigen  auf  dem 
Olberge,  seinen  Tod  und  das  Erstaunen  seiner  Anhänger  über 
den  jähen  Sturz  ihres  Herrn  vergl.  S.   153. 

In  den  Schlufsversen  der  Abhandlung  über  den  Antlclirlst 
hält  sich  der  Dichter  dem  Sinne  nach  Gicnau  an  Adso  und  er- 
zählt,  dafs  die  aus  Schwachheit  dem  Antichrist  Anheimgefallenen 
bis  zum  jüngsten  Gericht  noch  vierzig  Tage  haben,  während 
welcher  sie  bereuen  und   zu   Gott  zurückkehren  können. 

VV^ir  sehen  also,  wie  Gillebert  sichtet  und  sondert.  Sehen 
wir  von  der  uno^lücklichen  Umstellung:  S.  157  ab,  so  dürfen  wir 

O  D  ' 

doch  alle  übrioen    als    n;e8chickt    und    \vohl2;elun<Ten  bezeichnen. 

OD  DO 

Neben  diesen  Umstellungen  erlaubt  sich  der  Dichter  Unter- 
drückungen von  Stellen,  die  für  das  ungebildete  Volk  zu  spitz 
gehalten,  selbstverständlich  oder  schon  erwähnt  waren.  Dann 
übergeht  er  alles,    was    den  Charakter    des  Absurden  trägt  und 

O  '  D 

gegen  die  Tendenz  seines  Werkes  war.  Endlich  läfst  er  Partien 
aus,  um  andere  um  so  stärker  hervortreten  zu  lassen.    Anderer- 


Der  Lucidaire  Gilleberts.  159 

seits  führt  er  im  lateinischen  Texte  nur  angedeutete  Stellen,  wenn 
sie  zur  Belehrung  des  Volkes  dienten,  weiter  aus,  versieht  sie 
mit  Produkten  eigener  Phantasie,  ja  streut  kleine  Episoden  von 
allgemeinem  Interesse  ein,  wie  Joabs  und  Abners  Kampfe,  Sim- 
sons  Streiche  und  Liebesabenteuer,  und  llifst  es  an  eigenen  Be- 
trachtungen, Belehrungen  und  Ermahnungen  nicht  fehlen. 

Aufser  den  im  Laufe  der  Untersuchuno;  ofemachten  Bemer- 
kunojen  über  die  Dissertation  Schladebachs  füoje  ich  noch  fol- 
Spende  hinzu: 

S.  1  schreibt  der  Verfasser  Prole2:ommena  statt  Proleo^omena  ; 
gleich  sei  hier  auch  erwähnt  auf  S.  52  DIphtong  statt  Diphthong 
und  auf  S.  53  Triphtong  statt  Triphthong. 

S.  5  rechnet  Schi,  den  proven9alischen  Elucldarius  unter 
die  Klasse  der  Bestialres,  während  das  Werk  eine  'Encyklo- 
pädie  ist. 

S.  7  löst  der  Verfasser  in  der  Überschrift  des  Lucidaire, 
ebenso  auf  S.  24  und  41  die  Abkürzuns;  ml't  durch  mult  anstatt 
durch  mout  auf,  was  jedoch  nur  für  sehr  alte  Denkmäler  statt- 
haft ist. 

S.  27  wirft  Schi,  betreffs  der  orthographischen  Differenzen 
in  Eio;ennamen  die  überflüssige  Frage  auf,  ob  diese  Differenzen 
auf  Kosten  der  Kopisten  zu  setzen  seien.  Auf  wessen  Kosten 
sonst? 

S.  28  wird  scheinbar  A,  B  (C)  ein  gemeinschaftlicher  Fehler 
nachgewiesen.  Schi,  sagt:  „A,  C  irren  v.  1870,  wenn  sie  schrei- 
ben; et  les  .III.  ordres  jugeront  anstatt  .IUI.,  wie  B  richtig 
aufweist."  Doch  eine  o^enauere  Einsicht  in  den  lateinischen 
Text  zeigt,  dafs  .IIIL  eine  falsche  und  .IIL  die  einzig  richtige 
Lesart  bietet.  In  L.  Kap.  XIII,  C  helfst  es :  Tunc  ab  angells 
boni  a  malls  ut  grana  a  palels  secernentur,  et  in  qiiatuor  ordlnes 
dividentur.     Dem  entsprechen  v.  2014 — 2019: 

Car  li  angle  departlront 
les  bons  des  max  quis  conistront, 
si  con  de  la  pailie  est  sevre 
li  grains,   quant  il  est  esniere. 
.iiii.  ordres  apres  en  feront, 
qnant  il  devise  les  aront. 


160  Der  Lucidaire  Gilleberts. 

Jetzt  foli^t  die  Aufzählun2:  der  vier  Ordnunircn  und  ihr 
Schicksal.  Von  der  ersten  sagt  lionorius :  „Unus  ordo  est 
perfectorum  cum  deo  judicantium",  und  Gillebert  v.  2020 — 3: 

„Li  uns  crt  des  esperitals 
ki  hai'rent  viecs  et  mals 
ki  o  dieu  es  sieges  seront 
et  les  .iii.  ordres  jugeront." 

Auf  wen  anders  als  die  drei  fol^jenden  Ordnungen  soll  les  .iii. 
ordres  bezogen  werden?  Würde  man  mit  Schi.  .iiii.  lesen,  so 
müfste  die  erste  Ordnung  sich  selbst  richten.  Und  etwa  das 
voraufgehende  angle  in  v.  2014  als  Subjekt  zu  jugeront  in 
V.  2023  anzunehmen,  verbietet  sowohl  die  Satzkonstruktion,  als 
auch  der  Sinn.  Denn  auf  die  Frage  des  Schülers,  wer  die 
Richter  seien,  antwortet  der  Lehrer:  „Apostoli,  martyres,  mo- 
nachi,  virgines",  die  also  mit  dem  „judicantium"  der  ersten  Ord- 
nunor  identisch  sind.  Es  folojen  dann  die  drei  übrioren  Ordnun- 
gen,  die  ganz  im  Anschlufs  an  L  in  v.  2024 — 9  aufgeführt 
werden. 

S.  29.  Von  gemeinschaftlichen  Zusätzen  von  A,  C  (B) 
gegenüber  B  (C)  kann  nicht  die  Rede  sein,  nur  von  Lücken  in 
B  (C).  A,  C  (B)  haben  nicht  zugesetzt,  sondern  B  (C)  hat 
ausgelassen.  Was  nun  den  Sachverhalt  im  einzelnen  anlangt, 
80  irrt  Schi.,  wenn  er  v.  264—5  (269—70)  B  (C)  abspricht. 
Sie  stehen  auf  Bl.   ISO^',  Spalte  a,  v.  16 — 17  und  lauten: 

Li  autres  par  leur  granz  doulors 
et  par  leur  corporeuz  langours. 

Dasselbe  gilt  auf  S.  31  von  v.  3593—4  (3391—2),  sie  befinden 
sich  auf  Bl.  203'-,  Spalte  a,  15-16: 

Cele  que  li  patriarche  ont 
et  cele  ou  li  prophete  sont. 

S.  33.  Wenn  Schi,  bei  dem  Plus  von  A,B  (C)  über  C  (B) 
3698 — 701  (3495 — 8),  also  nur  vier  Verse,  als  fehlend  und  die 
V.  3702—3: 

envers  cele  qn'il  porseront 

en  deu  qu'il  devant  eis  verront 


Der  Lucidaire  Gilloberts.  161 

unerwähnt  läfsf,  so  begeht  er  einen  Fehler,  denn  in  C  (B)  fehlen 
auf  Bl.  75i"  jene  sechs  Verse  zwischen  folgenden: 

Sans  fin  vivront  saln  et  haitie 
und  piain  ierent  de  tote  science, 

die  in  meinem  Texte  v.  3(59 7  und  3704  entsprechen. 

S.  34.    Die  in  B,  C  fehlende  und  sich  eng  an  „diaboliis  ejus 

maleficiis  corpus  alicujus  intrabit,    et  illud  apportabit,    et  in  illo 

loquetur"   des  Kap.  X,  E    im  Elucidarius  anlehnende  Stelle   ist 

nicht  vollständio;  o^eo^eben.    Es  fehlen  die  Ein^ano-sverse  1262 — 3 

(1199—1200): 

Et  la  QU  trovera  les  mors, 
fera  diable  entrer  el  cors. 

S.  38.  Hinter  v.  2081  (1924)  fehlen  in  A  noch  folgende 
Verse  von  B,  C : 

En  paradiz  le  glorieuz 

en  serez  mes  toz  jors  joieus. 

S.  39.  Mit  dem  Verse  „Ne  en  euer  d'ome  ne  monter"  ist 
die  A  fehlende  Stelle  noch  nicht  zu  Ende,  es  schliefsen  sich 
noch  an  v.  2442 — 3: 

la  grant  joie  que  diex  dorra 
a  toz  ceuz  que  il  amera. 

S.  41.  Dafs  bei  einer  Ausgabe  des  französischen  Werkes 
auf  Zusammenstellung  eines  ausreichenden  kritischen  Varianten- 
apparates Bedacht  genommen  werden  mufs,  ist  wohl  nur  für 
Herrn  Schi,  nicht  selbstverständlich. 

S.  42  nennt  der  Verfasser  die  Handschriften  von  x^,B,  C, 
warum  nicht  einfach  A,B,  C? 

S.  49,  Anm.  1.  Man  wird,  wenn  gloire  zu  glore  wird, 
im  Pikardischen  nicht  von  einem  Ubergano:e  des  oi  zu  o  reden 
dürfen,  da  glore  nicht  aus  gloire,  sondern  aus  glorie  entstan- 
den ist. 

S.  55.  Dafs  aus  lat.  e  oder  i  in  «[edeckter  Silbe  ie  ^e- 
worden  wäre,  ist  im  Reime  nirgends  zu  belegen. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    LXXIII.  1 1 


162  Öer  Lucidaire  Gilleberis. 

Zum  Schlufs  sei  mir  noch  vergönnt,  den  Verwaltungen 
der  Arsenal-  und  Nationalbibliothek  zu  Paris  und  des  britischen 
Museums,  vor  allem  aber  meinem  hochverehrten  Lehrer,  Herrn 
Prof.  Dr.  H.  Suchier,  der  mir  stets  mit  Rat  zur  Seite  stand, 
sowie  Herrn  C.  Kohler  für  die  mir  erwiesene  Freundlichkeit 
in  der  Vergleichunff  mir  zweifelhafter  Lesarten,  meinen  herz- 
liebsten  Dank  auszusprechen. 


Die  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben. 


Von 

Hermann  Isaac. 


I.     Kritische    Einführung. 

Die  Neuheit  der  in  der  folgenden  Untersuchung  anzuwen- 
denden Methode  mas:  es  entschuldigen,  wenn  ich  in  diesen  ein- 
leitenden  Erörterungen  weiter  aushole,  als  es  für  die  vorliegende 
philologische  Aufgabe  unbedingt  erforderlich  ist.  Zwar  ist 
diese  Methode  nicht  so  neu,  dafs  sie  nicht  bereits  —  das  darf 
ich  objektiv  behaupten  —  einen  praktischen  Erfolg  aufzuweisen 
hätte.  Da  aber  die  engere  Shakspere-Gemeinde  in  Deutsch- 
land verhältnismäfsig  klein  ist  und  keineswegs  alle  diejenigen 
umfafst,  welche  ein  mehr  als  ästhetisches  Interesse  an  dem 
gröfsesten  Dramatiker  nehmen,  so  darf  ich  meinen  Aufsatz  im 
vorjährigen  Shakspere-Jahrbuch  —  „die  Sonett-Periode  in  Shak- 
speres Leben"  —  wohl  nicht  als  allen  Fachgenossen  bekannt 
voraussetzen  und  die  Berechtigung  des  darin  eingeschlagenen 
kritischen  Verfahrens,  mich  zum  Teil  wiederholend,  vor  einem 
gröfseren  Leserkreise  entwickeln. 

Als  ich  im  Jahre  1877  für  die  in  den  beiden  fols^enden 
Jahren  veröffentlichte  Arbeit  über  Shaksperes  Liebes-Sonette* 
seine  lyrischen  Gedichte  einem  eingehenden  Studium  unterzog, 
fiel  mir  auf  die  Übereinstimmung  zahlreicher  Bilder  und  Ge- 
danken, ja  ganzer  Sonette  mit  gewissen  Stellen  in  den  Dramen. 
Ohne  einen  bestimmten  praktischen  Zweck  vor  Augen  zu  haben, 


*  „Zu  den  Sonetten  Shaksperes":  Herrigs  Archiv  Bd.  LIX,  S.  155—204, 
241—272;  LX,  33—64;  LXI,  177—200,  393—426;   LXII,  1—30,  129—172. 

11* 


164  Die  Hamlet-I'eriorle  in  Shakspcres  Leben. 

schien  es  mir  interessant,  die  Dramen  nach  solchen  ParalleHsmen 
zu  durchforschen'.  Die  Ausbeute  dieser  Arbeit  war  eine  un- 
erwartet, staunensNvert  reiche:  es  fand  sich,  dafs  es  in  den  So- 
netten verhähnismäfsig'  wenige  Bilder,  Gedanken,  Empfindungen 
gab,  die  nicht  in  den  Dramen  ihre  mitunter  mehrfache,  ja  viel- 
fache Wiederholuns:  fänden.  Wäre  wohl  eine  ähnliche  Erschei- 
nuno;  bei  unseren  Klassikern  nachzuweisen?  —  Sicher  nicht. 
Shakspere  hatte  nach  dieser  Richtung  hin  einen  anderen  Stand- 
punkt seinen  Produktionen  gegenüber  als  heutige  Dichter;  was 
heute  den  Vorwurf  beschränkter  Fruchtbarkeit  begründen  würde: 
sich  selbst  zu  lüiederholen  —  hielt  Shakspere  für  erlaubt.  Ein 
Dichter  von  so  unermefslicher  Schöpferkraft  durfte  das  freilich, 
ohne  seinen  Ruhm  zu  schädigen,  thun. 

An  diese  Beobachtung  knüpfte  sich  als  selbstverständlich 
die  Frage  nach  dem  synchronistischen  Verhältnis  dieser  Wieder- 
holungen: kehrten  sie  in  den  Stücken  der  verschiedensten 
Perioden  wieder?  fand  sich  z.  B.  ein  Sonett-Gedanke  im  Tit."^ 
und  Temp.,  ein  anderer  in  Gentl.  und  Lear^  oder  auch  nur  in 
R.  III  und  H.  VIII  zusjleich?  —  Nein.  Die  überwiec]jende 
Mehrzahl  der  spätesten  Dramen  stand  mit  den  Sonetten  in 
keinem  gedanklichen  oder  poetischen  Zusammenhang.  Dagegen 
fanden  sich  die  Parallelen  zu  sämtlichen  Liebes-  und  dem 
gröfseren  Teile  der  Freundschafts-Sonette  mit  unerheblichen 
Ausnahmen  nur  in  den  Jugenddramen.  Zu  dem  anderen  Teile 
der  Freundschafts-Sonette  —  offenbar  der  reiferen,  klassischen 
Produkte  —  fanden  sich  eine  beträchtliche  Reihe  zum  Teil  auf- 
fallendster Übereinstimmungen  in  den  Dramen  der  letzten  neun- 
ziger Jahre  des  16.  und  der  ersten  des  17.  Jahrhunderts.  Das  war 
eine  erfreuliche  Entdeckung.  Ohne  dafs  ich  die  Parallelismen 
im  einzelnen  gesichtet,  nach  Sonett-Gruppen  zusammengestellt 
hatte,  war  mir  klar,  dafs  die  Abfassungszeit  der  Sonette  sich 
von  den  letzten  Achtzigern  bis  in  den  Anfang  des  neuen  Jahr- 
himderts  erstrecke;  dafs  man  zwei  Sonett-Perioden,  eine  jugend- 
liche und  eine  reifere,  zu  unterscheiden  habe. 


*  Die  Titel  der  einzelnen  Dichtungen  gebe  ich  —  mit  geringfügigen 
Abweichungen  —  in  den  allen  Shakspere-Kundigen  geläufigen  Abkürzungen 
des  Shakspere-Lexikons. 


Die  Ilamlet-Penüde  in  Shaksperes  Lehen.  165 

Weiter  aufkläreod  wirkten  die  massenhaften  Parallelen,  die 
ich  in  den  zeitgenössischen  Sonettisten  und  schlierslicli  auch  in 
den  italienischen  Muster-Lyrikern  —  Dante,  Petrark  und  Tasso  — 
ja,  sobald  von  Liebe  die  Rede  war,  selbst  in  den  Epen  jener 
Zeit  —  im  „Befreiten  Jerusalem",  im  „Rasenden  Roland",  im 
„Don  Quixote"  —  entdeckte.  Überall  dieselben  Gedanken  — 
d.  h.  die  aus  den  betreffenden  beiden  Dialogen  Piatos  ent- 
wickelten italienischen  Liebestheorien  —  überall  dieselbe  Ein- 
kleidung im  Ausdruck,  Bild,  Konzept,  in  der  Antithese,  Hy- 
perbel —  d.  h.  die  von  Petrark  kultivierten  Formalien,  die 
wohl  zum  gröfsten  Teile  proven^alischen  Ursprungs  sind.  Wes- 
halb sollte  also  wohl  der  einzelne  Dichter  sich  nicht  selbst 
wiederholen,  wenn  er  ohne  Bedenken  alles^  luas  er  in  anderen 
Ulditern  fand,  zu  seinem  Eigentume  machte'^  Die  Unselbständig- 
keit der  damaligen  Lyriker  geht  so  weit,  dafs  sich  eine  Reihe 
von  Petrarkischen  Sonetten  mit  unbedeutenden  Abweichungen 
bei  verschiedenen  anderen  Dichtern  wiederfinden;  das  traurig 
berühmte  Sonett: 

Mich  floh  der  Friede,  floh  die  Kraft  zum  Kriege; 
Ich  lodre,  bin  ein  Eis,  frohlock  und  bange  ..... 

hat  jeder  mir  bekannte  Sonettist  nachgeahmt,  d.  h.  zum  Teil 
nahezu  übersetzt,  Shakspere  im  75.  Sonett  mit  der  ihm  eigenen 
selbstherrlichen  Art. 

In  der  genannten  Arbeit  des  Shakspere-Jahrbuches,  die 
mir  erst  sechs  Jahre  später  möglich  wurde,  machte  ich  den 
Versuch,  die  Abfassungszeit  der  Sonette  nach  diesen  Parallelis- 
men zu  bestimmen ;  was  mir  durch  die  auffallende  Beobachtung 
erleichtert  wurde,  dafs  gewisse  Sonett-Gruppen  sich  an  gewisse 
andere  Dichtungen  hervorragend  anlehnten.  So  liefs  sich  der  Ge- 
dankengehalt der  ersten  siebzehn  sogenannten  FrokreationsSonetie 
fast  vollständia;  in  Ven.  nachweisen.  Dafs  also  Ven.  womöglich 
schon  in  Stratford  gedichtet,  die  Prokreations-Sonette  etwa  ums 
Jahr  1599  entstanden  und  an  Pembroke  gerichtet  sein  sollten,  war 
unmöoflich:  beide  Dichtungen  o-ehörten  offenbar  in  eine  sehr  frühe 
Zeit  des  Shakspereschen  Schaffens.  Wenn  nach  Ven.  Rom.  die 
merkwürdigsten  Übereinstimmungen  mit  diesen  Sonetten  und 
noch  auffallendere   mit  den  Reiseliedern  aufwies,    so   war   damit 


166  Di©  Ilaiulet-Periode  in  Sliaksperes  Leben. 

angedeutet,  dafs  Freundschaft  und  Liebe  nicht  zu  verschiedenen 
Zeiten  seines  Lebens  das  Herz  unseres  Dichters  erfüllt  haben 
können.  Die  Sonett-Reihe,  der  ich  den  Namen  „Liebeslust  und 
-leid'^  beilegte,  schlofs  sich  unzweifelhaft  an  LL.^  an  —  unter 
anderem  ist  ein  Sonett  fast  wortgetreu  in  dem  Drama  wieder- 
holt. Wenn  ich  nun  auch  zugeben  will,  dafs  einzelne  Sonette 
von  mir  für  jugendliche  angesehen  sein  mögen,  die  in  eine  spä- 
tere Zeit  gehören,**  so  halte  ich  doch  die  Entstehung  von 
ca.  120  Sonetten  in  den  ersten  neunziger  Jahren  (und  früher) 
80  lange  für  fest  bewiesen,  als  mir  nicht  neben  meinen  ca.  350 
Parallelismen  mit  den  Jugeuddichtungen  ebenso  viele  in  spä- 
teren Dramen  nachgewiesen  werden.  Eine  solche  Widerlegung 
meiner  Theorie  wird  nie  gelingen.  Neben  diesem  litterarhisto- 
rischen  hat  meine  Untersuchung  noch  einen  anderen  Erfolg  ge- 
habt, der  mir  zu  grofser  Genugthuung  gereicht:  die  abenteuer- 
liche Masseysche  Sonett-Interpretation,  von  der  ich  lebhaft  be- 
dauere, dafs  sie  jemals  in  Deutschland  irgend  welchen  Anklang 
gefunden  hat,  ist  endgültig  aus  dem  Felde  geschlagen.  Wenn 
jetzt  noch  jemand  für  möglich  halten  sollte,  dafs  Shakspere  bis 
zum  Ende  des  Jahrhunderts  im  Interesse  des  Earl  of  South- 
ampton  und  seiner  Miss  Vernon  Liebesgedichte  geschrieben  oder 
gar  dem  eigens  von  Massey  erfundenen  unsittlichen  Verhält- 
nisse ZAvischen  dem  jungen  W^  Herbert,  späteren  Earl  of  Pem- 
broke,  und  der  doppelt  so  alten  Lady  Penelope  Rieh  poetischen 
Vorschub  geleistet  habe,  so  kann  man  nur  annehmen,  dafs  er 
die  einschlägige  Litteratur  nicht  kennt. 

Aus  dem  Vorstehenden  ergiebt  sich  die  Möglichkeit  als 
solche,  Parallelismen  zwischen  den  einzelnen  Dichtungen  Shak- 
speres  für  die  Bestimmung  ihrer  Abfassungszeit  zu  verwerten. 
Und  obgleich  ich  mich  nicht  der  überschwenglichen  Hoffnung 
hingebe,  dafs  auf  diesem  Wege  die  Chronologie  aller  Dramen 
mit  annähernder  Gewifsheit  festzustellen  sein  wird,  so  glaube 
ich  doch  bestimmt,    dafs    eine   eingehende  Betrachtung   der   ge- 


*  Love's  Labour's  Lost. 
**  Auf  jedes    Sonett    kommen    durchschnittlich    drei   Parallelstellen   in 
den  Dramen;  aber  nicht  jedes  Sonett  hat  Parallelstellen.    Und  aus  sechzehn 
Zeilen    einen    bestimmten    poetischen    Stil    zu    erkennen,    ist    mitunter    un- 
möglich. 


Die  Ilamlet-Puriode  in  Shüksperes  Leben.  167 

danklichen  Übereinstimmungen  für  dieses  Gebiet  der  Shakspere- 
Forschung  vielfach  nützlich  zu  verwenden  sein  wird.  Vor  zu 
weit  gehenden  Erwartungen  mufs  uns  schon  die  eine  Thatsache 
bewahren,  dafs  die  Parallelstellen  in  den  späteren  Dichtungen 
(von  der  Mitte  der  Neunziger  ab)  bei  weitem  nicht  so  zahlreich 
sind  als  in  den  Jugenddichtungen:  der  männliche  Dichter  mit 
seiner  unendlichen  Gedankenfülle  hat  naturo-emäfs  viel  grerinorere 
Veranlassung,  sich  zu  wiederholen,  als  der  jugendliche  An- 
fänger, der  wenigstens  auf  dem  Gebiete  der  Liebe  in  einer 
konventionellen  Form  des  Denkens  und  des  poetischen  Aus- 
drucks befangen  ist. 

Was  aber  können  einzelne  oder  in  geringer  Anzahl  vertretene 
Parallelismen  beweisen'^  Weshalb  sollte  der  Dichter  nicht  einen 
im  Jahre  1595  glücklich  gefundenen  prägnanten  Ausdruck,  ein 
sprechendes  Bild  im  Jahre  1605  wiederholen?  Waren  ihm  doch 
solche  Reminiscenzen  nur  zu  nahe  o;eleo;t,  da  er  seine  früheren 
und  frühesten  Erzeugnisse  immer  wieder  auf  der  Bühne  an 
seinem  Geiste  vorüberziehen  sah.  Und  konnte  nicht  zu  noch 
weiter  auseinander  liegenden  Zeitpunkten  —  auch  ohne  diese 
mnemonische  Anregung  —  die  gleiche  Situation  den  gleichen 
Gedanken  in  ihm  erwecken? 

Gewifs.  Und  so  finden  wir  wirklich  Übereinstimmungen 
zwischen  sehr  frühen  und  sehr  späten  Dramen,  die  sich  vor- 
zuo^sweise  freilich  mehr  auf  äufserliche  Darstelluno^smittel  als 
auf  den  geistigen  Gehalt  erstrecken.  Darum  können  auch  solche 
formalen  Wiederholungen  niemals  an  sich  beweisend  sein,  son- 
dern höchstens  anderweitig  erbrachte  Beweise  stützen  helfen.  — 
Diese  Beobachtung  trifft  aber  doch  nur  die  eine  Seite  der  Sache : 
sie  für  die  Bedeutung  der  Parallelstellen  als  allein  mafserebend 
zu  halten  und  die  letzteren  als  kritisches  Material  gänzlich  zu 
verwerfen,  hiefse  oberflächlich  verfahren.  Ich  stelle  ihr  eine 
andere  Beobachtung  gegenüber,  die  jeder  ohne  besonders  tiefe 
Kenntnis  Shaksperes  zu  machen  im  stände  ist.  Man  stelle  die 
Liebesverhältnisse  in  Rom.  und  in  Wint.  in  Gedanken  neben- 
einander: es  ist  wahr,  sie  sind  ihrem  Wesen  nach  nicht  iden- 
tisch, in  Juliet  ist  die  heifs  begehrende,  in  Perdita  die  keusch 
beherrschte  Liebe  verkörpert;  aber  Florizel  stürmt,  wie  Romeo, 
über    alle   äufseren  Hinderpisse,    die   vor   der   Erfüllung   seiner 


168  Die  llamlet-Periocle  in  Slulk^;pelcs  Leben. 

Leidenschaft  liegen,  hinweg;  er  verzichtet  lieber  auf  den 
Königsthron  als  auf  sein  Sch'aferniädchen.  Die  Leidenschaft 
der  Liebe  ist  in  Rom.^  wie  bekannt,  mit  unerreichter  Kraft 
geschildert,  und  dennoch  sind  nur  w^enige  Töne  aus  den  Er- 
güssen Romeos  in  das  „Wintermärchen"  hinübergedrungen.  — 
Wenn  nun  doch  einmal  Shakspere  so  wenig  Bedenken  trägt, 
altes  Material  noch  einmal  zu  verwerten  —  weshalb  denn  hat 
er  es  hier  nicht  gethan?  —  Als  Shakspere  Rom.  dichtete,  kam 
es  ihm  darauf  an,  die  Glut  der  Leidenschaft,  die  in  ihm  selbst 
wogte,  aus  sich  herauszugestalten,  objektiv  zu  machen,  um  sich 
innerlich  zu  befreien;  er  wollte  alles  sagen,  was  er  litt,  ohne 
Verhalten,  ohne  Verhüllen,  mit  aller  Entfaltung  seiner  poetischen 
Mittel;  daher  die  üppige,  hinreifsende,  und  die  fremdartige 
Pracht  der  Einkleidung,  die  der  damals  italianisierende  Dichter 
wollte.  Rom.  ist  eine  höchst  persönliche  Dichtung.  Als  Shak- 
spere das  „Wintermärchen"  schrieb,  wufste  er,_dafs  die  wahr- 
haft tiefe  Liebe  zu  voll  von  sich  ist,  um  auch  nur  einen  Ge- 
danken an  prunkvolles  Erscheinen  übrig  zu  haben;  dafs  sie 
nicht  „im  Verkünden  donnert",  sondern  mehr  ahnen  läfst  als 
ausspricht,  mehr  handelt  als  redet.  Damals  stand  er  über  seinen 
Stoffen.  Die  Darstellung  der  Liebe  im  „Wintermärchen"  zeigt 
eine  ganz  andere,  eine  viel  höhere  Kunstübung,  für  welche  der 
Dichter  den  glänzenden  —  Tand  seiner  Jugendwerke  nicht  mehr 
verwenden  konnte. 

Diese  Beobachtung  kann  man  leicht  dahin  verallgemeinern, 
dafs  Shakspere  überhaupt  sehr  wenig  aus  seiner  ersten  SchafFens- 
Periode  in  seiner  dritten  wird  haben  gebrauchen  können.  Und 
ebenso  leicht  wird  man  aus  ihr  das^eio'entliche,  für  diese  ^e- 
samten  Wiederholungen  mafsgebende  Princip  ableiten  können: 
der  Dichter  wird  doch  immer  nur  diejenigen  Gedanken  aus 
früheren  Schöpfungen  wiederholt  haben,  die  auch  noch  seinem 
späteren  geistigen  Standpunkte  nahe  lagen,  von  ihm  nicht  über- 
wunden waren.  Und  so  werden  in  der  dritten  Periode  die 
Anklänore  an  die  Dichtuno-en  der  ersten  notwendis:  weniffer 
zahlreich  sein  müssen  als  an  die  der  zweiten;  und  diese 
werden  wieder  numerisch  zurücktreten  müssen  vor  den  Pa- 
rallelismen, welche  die  Dichtungen  der  dritten  Periode  unter- 
einander haben. 


Die  Ilanik't-Pcriodc  in  Sliakspcres  leben.  IGO 

Und  SO  ist  es  in  der  That.  Die  Parallelstellen  der  Dramen 
der  mittleren  Periode,  d.  h.  aus  der  zweiten  Hälfte  der  Neunziger 
und  dem  Beginn  des  neuen  Jahrhunderts  liegen  mir  geordnet  vor.* 
Ich  nehme  nur  diejenigen  Stücke,  welche  allgemein  der  zweiten 
Periode  zuerkannt  werden;  Ado,  As,  1,211.  IV,  H.  V,  Merch., 
IlamL,  Tic,  Wiv.,  Cces.;  andere,  die  meiner  Ansicht  nach  hier- 
her gehören,  aber  von  anderen  Forschern  zum  Teil  sehr  viel 
später  gesetzt  werden,  lasse  ich  fort.  Für  diese  Stücke  habe 
ich  in  den  folgenden  Jugenddramen :  1  IL  F/,  Err.,  Mids.,  Gent!., 
2H.  VI,  Compl,  Shreic,  John,  KU  15  Parallelstellen  gefun- 
den ;  in  den  spätesten  Dramen :  Ant,,  Tim.,  H.  VIII,  Wint., 
Temp.  22;  untereinander  haben  sie  95  mehr  oder  weniger 
auffallende  Übereinstimmunoren.  Und  nun  noch  eine  im  Hin- 
blick  auf  die  Jugenddramen  äufserst  bezeichnende  Thatsache; 
in  den  folgenden  vier  Stücken :  Rom.,  LL.,  AWs,  R.  III,  habe 
ich  40  Parallelen  entdeckt,  d.  h.  diese  Dramen  stehen  hin- 
sichtlich ihrer  Übereinstimmungen  in  demselben  Verhältnis  zu 
den  zuerst  genannten,  in  welchem  diese  zueinander  stehen. 
Und  nun  ist  LL.  mit  13  Parallelstellen  nach  dem  Titel  der 
Quarto:  von  1598  („newly  corrected  and  augmented")  sicher, 
Rom.  mit  18  Parallelstellen  höchst  wahrscheinlich  in  der  zweiten 
Hälfte  der  Neunzio-er  vom  Dichter  überarbeitet  worden ;  dasselbe 
hat  man  verschiedentlich  von  R.  III  (5  Parallelstellen)  und  .4//'^ 
(4  Parallelstellen)  angenommen.  Sollte  es  wirklich  blofser  Zu- 
fall sein,  dafs  Rom.  und  LL.,  welche  die  zahlreichsten  und 
auffallendsten  Anklänge  an  die  Jugendsonette  enthalten  (39,  33), 
also  sicher  zu  einer  frühen  Zeit  entstanden  sind,  sich  gleich- 
zeitig an  die  Dramen  der  mittleren  Periode  so  nahe  anschliefsen  ? 
AVer  könnte  das  glauben  I  Hier  haben  vielmehr  die  Parallel- 
stellen den  untrüglichen  Beweis  einer  zweiten  Bearbeitung  er- 
bracht.** 

So  ist  es  wohl  nicht  als  eine   optimistische  Einbildung   zu 


*  Sie  sind  nach  einmaliger  Lektüre  zusammengestellt;  es  ist  also  sehr 
wahrscheinlich,  dafs  die  folgenden  Zahlen  sich  später  einmal  vergröfsern 
werden;  ihr  gegenseitiges  Verhältnis  dagegen  wird  schwerhch  erhebliche 
Veränderung  erleiden. 

**  Ich  kann  vorläufig,  da  ich  auf  die  Vorführung  meines  umfangreichen 
Materials  verzichten  mufs,  nur  ai>  den  Glauben  der  Leser  appellieren;   aber 


170  l^iü  Hamlet-Periode  in  Shakspcres  Leben. 

betrachten,  dai's  die  Gedanken -Übereinstimiiuingen  zwischen 
den  einzehien  Dichtungen  als  Schlufsmaterial  für  Altersbestim- 
mungen verwertet  werden  können;  das  Abfassungs-JaAr  können 
sie  zwar  nicht  ergeben,  aber  in  vielen  Fällen , die  ungefähre  Ab- 
fassungszeit. Das  wird  niemand  bestreiten  können,  der  die 
looische  V^orauseetzunof  für  diese  oranze  Art  der  Untersuchuno^ 
zugiebt,  welche  lautet :  Das  Bedenken  moderner  Dichter  und 
selbst  moderner  Schriftsteller,  lieute  nicht  zu  sagen,  ivas  man 
(jestevji,  vor  einem  oder  mehreren  Jahren  schon  einmal  gesagt  hatte, 
dieses  Bedenken  kannte  Shakspere  nicht.  Er  iviederholte,  2cas  ihm 
nach  seinem  augenblicklichen  geistigen  Standpunkte  der  Wieder- 
holung icert  schien,  vorzugsweise  also  Gedanken,  deren  Entstehimg 
in  eine  nahe  Vergangenheit  fiel.  Und  dieses  Fundament  der  vor- 
liegenden Arbeit  wird  schwerlich  jemand  angreifen  können,  der 
gesehen  hat,  wie  sich  ganze  Sonette  in  den  Dramen  wieder- 
finden :  der  erfahren  w^ird,  dafs  nicht  blofs  einzelne  Gedanken, 
sondern  ganze  Gedankenm/i^?i  in  mehreren  Dramen  zugleich 
auftreten.  Eine  plausible  Erklärung  für  eine  solche  Erschei- 
nung ist  doch  nur  zu  finden  in  dem  hervorragenden  Interesse, 
welches  diese  Gedanken  zu  einer  bestimmten  Zeit  seines  Lebens 
für  den  Dichter  hatten. 


Es  giebt  eine  Anzahl  von  Stücken,  bei  denen  uns  die 
sonst  für  Altersbestimmungen  gebrauchten  Indicien  im  Stiche 
lassen;  eines  von  ihnen  ist  Cymheline.  An  ihm  wollen  wir 
ein  Beispiel  geben  für  die  Bedeutung,  welche  Parallelstellen 
unter  Umständen  für  chronologische  Bestimmungen  haben 
können. 

Das  Stück  wird  von  den  meisten  Kritikern  entweder  in 
das  Jahr  1609  (Malone,  Skottowe,  Dowden)  oder  1610  (Delius, 
Fleay,  Stokes)  gesetzt ;  nur  Drake  —  wie  auch  ursprünglich 
Malone  —  meint,  dafs  es  1605,  Chalmers,*   dafs   es  1606  ver- 


leb hoffe,    dafs  mir  in  einem   der   nächsten  Jahre  die   detaillierte  Entwicke- 
lung  dieser  Theorie  möglieh  sein  wird. 

*  Fleay    verteilte    anfangs    die    Abfassung    des  Stückes    auf    die    Jahre 
1606-1608. 


Die  Hamlet-Periode  in  Sliakspeic?  Leben.  171 

fafst  sei.     Welche  Gründe  werden  für  diese  späte  Abiiiesungs- 
zeit  angeführt? 

1)  Im  Jahre  1610  oder  1611  führte  ein  Dr.  Simon  Forman 
ein  Tagebuch,  in  welchem  er  eine  Aufführung  von  Cymb.  be- 
schrieb. Er  fügte  weder  hinzu,  wann  er  der  Aufführung  bei- 
gewohnt, noch  ob  das  Stück  alt  oder  neu  sei:  dennoch  aber 
meint  man,  dafs  er  es  wahrscheinlich  kurz  vorher  gesehen 
habe  und  dafs  es  ein  ziemlich  neues  Stück  gewesen  sei. 
Wenn  andere  nun  anzunehmen  ofeneigt  sind,  dafs  es  schon 
ein  altes  Stück  w^ar,  das  er  schon  lange  kannte,  so  ist  in  der 
Notiz  nichts  zu  entdecken,  welches  dieser  Annahme  wider- 
spräche. Sie  beweist  nur,  dafs  Cymb.  nicht  nach  1610  oder 
1611  verfafst  ist,  sondern  in  irgend  einem  beliebigen  früheren 
Jahre. 

2)  In  ßeaumonts  und  Fletschers  „Philaster"  soll  nach  Fleay 
der  Charakter  der  Euphrasia  dem  Imogens  nachgebildet  sein; 
auch  „andere  Ähnlichkeiten"  will  man  entdeckt  haben,  die  mir 
unbekannt  sind,  und  schliefslich  —  hierauf  wird  von  den  ver- 
schiedenen Kritikern  ein  grofses  Gewicht  gelegt  —  soll  eine 
Stelle  im  „Fhilaster"  eine  Reminiscenz  an  eine  Stelle  in  Cymb. 
enthalten ;  die  Stellen  lauten : 

and  the  air  oft  (this  country) 
Revengingly  enfeebles  rae;  coulcl  this  carte, 
A  very  drudge  of  nature's,  have  suhdued  me 
In  my  profession  ?  Cymb.  IV,  2,  3. 

The  gods  take  part  against  me;  coidd  this  boor 
Have  held  me  thus  eise?  Phil.  IV,  1. 

Offenbar  hat  hier  eine  ähnliche  Situation  eine  ähnliche 
Wendunor  hervorojebracht;  aber  eine  iro^end  etwas  beweisende 
Parallelstelle  ist  das  nicht.  Ich  wenigstens,  wenn  ich  dem 
Leser  -weiter  nichts  als  so  schwache  und  scheinbar  zufällige 
Anklänge  zu  bieten  hätte,  würde  die  vorliegende  Arbeit  nicht 
unternommen  haben.  —  Nehmen  wir  nun,  da  wir  den  „Phi- 
laster" nicht  kennen,  immerhin  als  richtig  an,  dafs  ihm  Cymb. 
mehrfach  als  Muster  gedient  habe,  so  fragt  sich:  wann  wurde 
er  verfafst?     Nach  Dyce  1'608,  nach  Malone  1608—1609,  nach 


172  Die  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben. 

Fleav  1610 — 1611.  Also  seine  Abfassunorszeit  scheint  ebenso 
unsicher  zu  sein  wie  die  Cymb.s.  Nehmen  wir  an,  dafs 
das  eine  oder  das  andere  Datum  richtis:  sei,  so  würde  das 
immer  nur  beweisen,  dafs  Cymb.  entweder  1608  oder  1609 
oder  1610  schon  existiert  habe;  verfafst  mochte  es  einige  Jahre 
früher  sein. 

3)  Dowden  findet  in  Cymb.  dieselbe  versöhnte  Lebens- 
anschauung wie  in  Wird,  und  Temji. ;  und  Furnivall  will  wahr- 
scheinlich machen,  dafs  Cvmb.  Wint.  näher  stehe  als  irgend 
ein  anderes  Stück:  „es  handelt  von  einem  Vater,  der  durch 
eigene  Ungerechtigkeit  die  Familienbande  bricht  und  dann 
wieder  knüpft"  —  das  sollte  das  Hauptinteresse  in  Cymb. 
sein?  —  ..und  weist  auf  Shaksperes  erneutes  Familienleben  in 
Stratford,  nachdem  er  London  verlassen  hatte,  und  auf  den 
Gegensatz  hin,  den  er  zwischen  Land-  und  Hofleben  empfunden 
haben  mufs."  —  Vielleicht  könnte  die  erstere  Behauptung 
einen  bereits  vorhandenen  Beweis  stützen.  In  der  zweiten 
giebt  es  keinerlei  logische  Nötigung;  denn  niemand  kann 
ihre  Prämisse  zugeben,  dafs  ein  Dichter  ähnliche  Handlun- 
gen auch  in  derselben  Zeit  seines  Lebens  bearbeitet  haben 
müsse. 

4)  Die  sogenannte  ..Metrical  Test"  führt  zu  keinem  ein- 
heitlichen Resultat  für  die  Abfassungszeit  von  Cymb.  Sie 
steht,  wie  mir  scheint,  überhaupt  auf  schwachen  Füfsen.  Be- 
hauptungen der  Kritiker,  wie:  der  Versbau  dieses  oder  jenes 
Stückes  verweise  es  in  eine  späte  oder  frühe  Zeit,  beruhen  in 
der  That  häufig  auf  einem  ganz  allgemeinen,  sehr  subjektiven 
und  darum  leicht  fehlbaren  Eindruck.  Beweis  dieses  Stück, 
dem  Malone  und  Fleay  —  doch  auch  zum  Teil  auf  Grund 
solcher  Kriterien  —  anfangs  eine  frühere,  dann  eine  spätere 
Entstehungszeit  gegeben  haben ;  Beweis  vor  allem  AlVs,  das 
Knight  alle  Anzeichen  der  unreifsten  Periode  (1590),  Hertzberg 
alle  Anzeichen  der  reifsten  Periode  (1603)  zu  tragen  scheint, 
und  beide  gehören  zu  den  tiefsten  Shakspere-Kennern.  Man 
sollte  meinen,  dafs  die  Metrical  Tests  auf  genauen  Angaben 
über  den  inneren  Bau  der  Verse  beruhten,  sich  auf  den  Ge- 
brauch irregulärer  Cäsuren,  überzähliger  Silben  vor  der  Cäsur, 
des    Anapäst    an    Stelle    des    Jambus     und    vorzugsweise    des 


Die  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben.  173 

Trochäus  an  anderen  Stellen  als  im  Besinn  und  nach  der 
Cäsiir  der  Verse,  auf  die  Zahl  der  Versunseheuer  "^  erstreck- 
ten;  denn  darin  besteht  doch  vor  allem  die  mit  den  Jahren 
wachsende  Nachlässigkeit  des  Shakspereschen  Versbaus.  Das 
ist  nicht  der  Fall.  Sie  setzen  sich  aus  äufserlicheren  Wahr- 
nehmungen zusammen:  dem  weiblichen  Versschlufs  (Double 
Ending),  dem  tonlosen  Versschlufs  (Weak  Ending,  z.  B.  of, 
if,  and  etc.),  dem  schwach  betonten  (Light  Ending),  abge- 
brochenen und  sechsfüfsigen  Versen  (Alexandrinern).  Von  diesen 
sind  die  abgebrochenen  (ein-,  zwei-,  drei-,  vierfüfsigen)  Verse 
ein  vollkommen  unbrauchbares  Kriterium,  wie  ein  Blick  auf 
die  Tafeln  bei  Fleay  lehrt;  eine  zeitweise  principielle  Neigung 
oder  Abneigung  des  Dichters  solchen  Versen  gegenüber  läfst 
sich  schwerlich  entdecken.  Die  Zahl  der  Alexandriner  und  der 
Double  Endings  nimmt  allerdings  stetig  zu;  aber  daran,  dafs 
man  nach  dem  prozentualen  Verhältnis  derselben  einfach  die 
Reihenfolge  der  Dramen  bestimmen  könnte,  ist  nicht  zu  denken. 
Ein  flagrantes  Beispiel  der  Unzuverlässigkeit  des  letzteren  Kri- 
teriums für  genauere  Zeitbestimmungen  bilden  die  beiden  IL  IV; 
sie  sind  nach  allgemeiner  Annahme  mit  höchster  Wahrschein- 
lichkeit in  wenigen  aufeinander  folgenden  Jahren  verfafst,  und 
doch  haben  von  1  H.  IV  nur  3  bis  4  Prozent  der  Verse,  von 
2  H.  IV  12  bis  13  Prozent  Double  Endings.  Wenn  also  Cyrab. 
ebenso  zahlreiche  weibliche  Ausgänge  hat  wie  Co7\,  Oth.^  Lear^ 
so  ist  damit  mit  nichten  gesagt,  dafs  es  mit  diesen  Stücken 
gleichzeitig  ist ;  sondern  nur,  dafs  es  ziemlich  sicher  nicht  mehr 
im  16.  Jahrhundert  verfafst  ist.  Und  dafs  solche  äufseren  An- 
zeichen niemals  den  Zeitpunkt,  sondern  höchstens  die  unge- 
fähre Periode  der  Abfassung  angeben  können,  ist  ja  im  Grunde, 
wenn  man  sich  das  poetische  Schaffen  vergegenwärtigt,  das  mit 
einem  Rechenexempel  absolut  nichts  gemein  hat,  auch  selbst- 
verständlich. Noch  unzuverlässiger  erscheint  die  Weak  Endins 
Test ;  wenn  wir  sehen,  dafs  hier  die  Zahlen  nur  bis  52  reichen, 
und    dafs    z.  B.    Otli.   0,   Lear  1,   Mach.  2    und   Ant.   28  Weak 


*  So  möchte  ich  die  schon  in  mittleren  Dramen  sich  zeigenden  Verse 
nennen,  deren  bunt  durcheinander  gewürfelte  Metren  keinen  rhythmischen 
Eindruck  im  Gehör  zurücklassen. 


174  Die  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben. 

Kndings  hat,  so  werden  wir  nicht  ohne  weiteres  glauben  kön- 
nen, dafs  Cymh.  und  Cor.  und  Temp.  alle  in  eine  Zeit  gehören, 
weil  sie  den  grleichen  Prozentsatz  von  tonlosen  Versschlüssen 
haben.  Die  Tafel  der  Light  Endings  giebt  ein  ziemlich  buntes 
Bild:  ^4//'.^  hat  ca.  1  Prozent,  John  und  1  H.  IV  1/3  Prozent, 
Lear  Y3,  Oth.  gar  ^/jg  Prozent  und  Mach,  wieder  l^/g  Prozent. 
Was  will  es  da  sagen,  wenn  Cymh.  mit  Wint.  und  Temp. 
cirka  3  Prozent  hat  und  Cor.  und  Ant.  mit  2^/2  Prozent 
ihnen  am  nächsten  steht?  Daher  ist  es  denn  auch  durchaus 
nicht  widersinnig,  dafs  die  Alexandriner-Test  diesen  Krite- 
rien widerspricht  und  Cymb.  mit  Meas.^  Haml.,  Troil.,  Cor.  zu- 
eammenbrinst.  Die  Alexandriner-Test  ist  aber,  wenn  wir  das 
ziemlich  beharrliche  Fortschreiten  der  Zahlen  von  0  {Err.^ 
Mids.)  auf  78  (Oth.)  verfolgen,  von  den  vieren  das  beste  Be- 
weismittel. 

5)  Die  Rhym.e-Test  ist  entschieden  schlufsfähiger  als  die 
bisher  beliebten  Metrical  Tests;  die  Differenz  der  Anfangs-  und 
Endzahlen  ist  eine  sehr  grofse  (1028  LL.  —  2  Temp.)  und  die 
Abnahme  eine  ziemlich  regelmäfsige.  Dafs  sie  ein  untrügliches 
Bild  von  der  Reihenfolge  der  Dramen  gäbe,  daran  ist  freilich 
auch  bei  ihr  nicht  zu  denken.  Cymbeline  hat  44  Reime  in 
den  dramatischen  Reden,  von  denen  zwei  oder  drei  zw^eifelhaft 
sein  mögen,  also  88  Reimverse.*  Danach  gehört  Cymb.  genau 
mit  Haml.  zusammen  (Verhältnis  der  Blankverse  zu  den  Reim- 
versen  30  :  1);  sehr  nahe  kommen  ihm  Otlt.  und  Lear. 

Resümieren  wir  das  bisherige  Resultat  unserer  Unter- 
suchung, 80  werden  wir  —  unter  der  zwar  sehr  verbreiteten,  aber 
noch  unerwiesenen  Voraussetzung,  dafs  Shaksperes  dramatische 
Thätigkeit  sich  etwa  bis  zum  Jahre  1610  erstreckt  habe  — 
sagen    können :    Cymb.    wurde   irgemlwann  im   ersten   Jalirzehnt 


*  Fleay  giebt  107  an.  Ich  habe  schon  vor  Jahren  zu  meiner  Arbeit 
über  Shaksperes  Aussprache  die  Dramen  nach  Keimen  genau  durchsucht, 
und  jetzt  Cymb.  einer  nochmaligen  Durchsicht  unterzogen;  ich  mufs  daher 
die  Angabe  Fleays  als  unrichtig  bezeichnen.  —  Auch  seine  Angabe  über 
die  (lesamtzeilenzahl  von  Mach.  (1993)  ist  falsch;  sie  beträgt  2108.  Ant. 
hat  bei  Fleay  den  Umfang  von  3964  Versen  erhalten;  es  hat  nur  2989. 
HoHentlich  sind  das  die  einzigen  Fehler,  die  den  Gebrauch  der  sehr  wert- 
vollen Zusammenstellung  erschweren. 


Die  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben.  175 

des  17.  Jahrhunderts  verfafst.  Geben  wir  den  Alexandriner- 
und  Reim-Tests  den  Vorzug,  wie  sie  es  allerdings  verdienen, 
so  wurde  Cymb.  in  der  Zeit  der  HamL,  Meas.^  Troil.^  Oth.,  Cor., 
Lear,  also  praeter  propter  in  den  ersten  beiden  Dritteln  dieses 
Jahrzehnts  verfafst.  Da  es  aber  nach  beiden  Tests  Tlaml.  am 
nächsten  steht,  so  ist  es  am  wahrscheinlichsten  in  das  erste 
Drittel  des  Jahrzehnts  zu  verlegen. 

Wie  kommen  wir  nun  aus  diesem  Dilemma?  —  Durch 
das  Kriterium  der  Gedanken- Parallelismen.  Cymb.  hat  mit 
R.  III,  1,  2 H.  IV  und  Tic.  7  Parallelstellen;  es  neigt  also  be- 
deutend ins  16.  Jahrhundert.  Mit  den  spätesten  Stücken  — 
Ant.,  Tim.,  H.  VIII,  Wint.,  Temp.  —  hat  es  nur  11  Paral- 
lelen; in  den  anderen  Dramen  des  17.  Jahrhunderts  —  Ca's., 
Meas.,  Troil.f  Mach.,  Lear,  Oth.,  Cor.  —  finden  sich  deren  20. 
Es  steht  also  hinsichtlich  seiner  Parallelstellen  fast  genau  auf 
der  Stufe  von  Troil.,  Mach,  und  Lear.  Was  nun  für  das 
Alter  von  Cymb.  entscheidend  ist ,  sind  die  auffallend  zahl- 
reichen und  bedeutsamen  Parallelen ,  die  es  mit  Haml.  auf- 
weist —  ein  Punkt,  in  welchem  ihm  die  genannten  Stücke 
sehr  nahe  kommen.  Cymb.  hat  9  Parallelstellen  mit  Hamlet. 
Es  giebt  in  den  späteren  Perioden  nicht  wieder  zwei  Stücke, 
die  so  merkwürdige,  ausgeführte  Wiederholungen  aufweisen 
wie  Cymbeline  und  Hamlet,  wie  sich  im  Verlaufe  dieser 
Arbeit  zeigen  wird.  Wie  wäre  es  nun  w^ohl  denkbar,  dafs 
ein  Stück  aus  dem  Jahre  1610  so  viele  Anklänge  an 
Hamlet  haben  sollte,  während  Wint.  und  Temp.  so  gut  wie 
keine  zeigen?  Es  ist  eben  undenkbar;  Cymbeline  ge- 
hört nicht  in  die  Periode  dieser  Dramen ,  es  gehört  in 
die  ersten  Jahre  des  11.  Jahrhunderts  und  wurde  entweder 
kurz  vor,  oder  gleichzeitig  mit,  oder  bald  nach  dem  Haml. 
von  1604  verfafst.  Ein  noch  genaueres  Datum  könnte 
nur  eine  eingehende  Betrachtung  der  etwa  gleichzeitigen 
Dramen  ergeben,  die  wir  an  dieser  Stelle  nicht  vornehmen 
könnten. 

Könnte  nun  nicht  Fleays  Ansicht  die  richtige  sein,  welcher 
meint,  dafs  die  auf  Imogens  Flucht  und  Bellario  bezüglichen 
Scenen  des  dritten  und  vierten  Aktes,  in  denen  die  zahlreichsten 
Keime  vorkommen,  früher  gedichtet,    der  Rest    des  Stückes  um 


17G  Die  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben. 

li)10  vollendet  sei?  —  Das  ist  eine  kleinliche  Verwendung  der 
llhynie  Test.  Die  ersten  Akte  sind  keineswegs  von  Reimen 
so  entblöfst,  dafs  sie  mit  Temp.  und  Wint.  verglichen  werden 
könnten;  im  dritten  und  vierten  Akte  werden  sie  nur  darum 
zahlreicher,  weil  das  lyrische  Element  bedeutender  hervortritt. 
Nichts  aber  kann  die  UnUhnlichkeit  des  dichterischen  Schaffens 
in  Cymb.  und  Wint.  deutlicher  beweisen  als  ein  Vergleich  des 
Wald-Idylls  im  ersteren  mit  dem  Dorf-Idyll  im  letzteren  Stücke: 
dort  bedarf  der  Dichter  zu  lyrischen  Wirkungen  der  Reime, 
hier  ver-scliinäht  er  sie.  —  Und  die  Parallelstellen  mit  Haml. 
leoen  oresfen  Fleavs  Ansicht  das  entschiedenste  Veto  ein:  gerade 
im  ersten  Akt,  dann  im  fünften,  also  in  Teilen,  die  so  viel 
später  entstanden  sein  sollen,  sind  sie  am  stärksten  vertreten. 


Als  ich  die  Dramen  der  mittleren  Periode  nach  Parallelen 
mit  den  Sonetten  durchsuchte,  fand  ich,  dafs  ^.Hamlet''^  zu  denen 
(gehörte,  welche  die  zahlreichsten  und  bedeutsamsten  Überein- 
Stimmungen  aufzuweisen  hatten;  u.  a.  ist  das  QQ.  Sonett  in 
dem  Monologe  ,,To  be  or  not  to  be"  wiederholt.  Aber  nicht 
blofs  in  den  Sonetten,  sondern  in  fast  allen  Dramen  dieser  Zeit 
fanden  sich  Wiederholungen  Hamletscher  Gedanken  so  zahlreich, 
dafs  sie  jeden  aufmerksamen  Leser  in  Erstaunen  setzen  müssen. 
Wenn  die  Durchschnittszahl  der  Parallelstellen  jedes  einzelnen 
Dramas  mit  den  verschiedenen  nahezu  gleichalterigen  Dramen 
einio-e  zwanziof  nicht  übersteiiijt,  so  wurde  sie  hier  um  das  Vier- 
fache  übertroffen  —  ein  sicheres  Zeichen  für  die  lebhafte,  an- 
haltende Beweguncr,  in  welche  das  Hamlet-Problem  die  Seele 
des  Dichtere  versetzt,  für  das  tiefe,  persönliche  Interesse,  das 
ihn  bei  der  Schöpfung  seines  gröfsten  Kunstwerkes  beherrscht 
hat.  Es  war  noch  immer  die  Zeit,  in  der  der  Mund  des  Dich- 
ters überorinor  von  dem,  dessen  sein  Herz  voll  war.  —  Aber  ist 
das  die  einzige  Folgerunor,  die  aus  dieser  Erscheinung  zu 
ziehen  ist?  —  Eine  nähere  Betrachtung  der  Parallelstellen  legt 
weitere  Mutmafsungen  nahe.  Zunächst  unterscheiden  sie  sich 
durch  die  grofse  Anzahl  wortgetreuer  oder  längerer  Wieder- 
holuno-en,  die  eine  Reihe  von   Stücken  dieser  Zeit  aufweist,  und 


Die  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben.  177 

die  zwischen  den  übrigen  Dramen  sehr  sporadisch  auftreten ; 
dann  —  eine  Erscheinung,  die  kein  anderes  Drama  zeigt  — 
dadurch,  dafs  diese  auffallenden  Wiederliolungen  in  Stücken 
vorkommen,  deren  Abfassungszeit  sicherlich  ein  Lustrum  oder 
noch  weiter  auseinander  liegt,  während  in  einigen  Stücken,  die 
zwischen  diesen  äufsersten  Endpunkten  der  Hamlet-iVnklänge 
liegen,  d.  h.  gewöhnlich  an  das  Ende  des  16.  Jahrhunderts  ge- 
setzt werden,  nur  sehr  geringe  oder  keine  Beziehungen  zu 
Hamlet  haben.  Merkwürdisj  zahlreiche  Ubereinstimmuno:en  finden 
sich  in  den  Stücken,  die  man  in  die  Jahre  1596 — 1598  und 
in  den  Beginn  des  17.  Jahrhunderts  zu  versetzen  pflegt:  in 
Ado,  As,  1,  2  H,  IVj  Merch.  einerseits  und  Ccus.,^  Meas.,  7roil., 
Cijmh.,  Mach.,  Lear,  Oth.  und  selbst  Cor.  andererseits,  die 
bei  weitem  hervorragendsten  jedoch  in  dem  letzteren.**  Da- 
zwischen liefen  drei  Stücke,  die  sehr  gerino-e  Ankläno;e,  wie 
//.  F,  Wii\,  oder  gar  keine,  wie  Tiv.  aufweisen.  Was  in  den 
späteren  Stücken  auf  Haml.  hinweist,  ist  nicht  der  Erwäh- 
nung wert. 

Diese  Erscheinung  ist  zu  auffallend,  zu  einzig,  als  dafs 
wir  sie  mit  Gleichgültigkeit  betrachten  könnten;  Der  „Hamlet''- 
Jommiert  eine  ganze  Periode  hindurch,  die  sich  etwa  von  1596 
bis  1604  erstrecld;  wir  können  sie  mit  Fug  und  Recht  die 
Hamlet- Periode  nennen.  Dieser  Zeitraum  wird  unterbrochen  und 
in  zwei  Teile  geteilt  durch  drei  Stücke,  d.  h.  etwa  ein  bis 
zwei  Jahre,  in  denen  die  Hamlet-Einflüsterungen  nicht  ver- 
nehmbar sind.  Nun  wissen  wir  aus  der  Angabe  Gabriel  Har- 
veys,  die  ich  von  fast  allen  Shakspere-Forschern  in  das  Jahr 
1598  verlegt  finde,  dafs  um  diese  Zeit  Shaksperes  Hamlet  ein 
beliebtes  Stück  war;  wir  wissen,  dafs  Shakspere  1604  eine  be- 
deutend erweiterte  authentische  Quart-Ausgabe  veranstaltete. 
Scheint  diese  Erscheinung  nun  nicht  die  von  einem  grofsen 
Teile  der  Kritiker  vertretene  Annahme  einer  doppelten  Re- 
daktion   „Hamlets"    zu    unterstützen?      Sollte    eine    eingehende 


*  In  Bezug  auf  dieses  Drama   bin   ich   zweifelhaft,   ob    es   nicht  noch 
in  das  16.  Jahrhundert  gehört. 

**  Von  den  späteren  Stücken  zeigt  Tim.  die  meisten  Anklänge  an 
Haml. :  vielleicht  gehört  er  ebenfalls  noch  in  den  Beginn  des  Jahr- 
hunderts. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  LXXIII.  12 


17S  Die  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben. 

Betrachtung  der  Parallelstellen  unter  vergleichender  Berücksich- 
tigung der  beiden  Quartos,  deren  erstere  vielfach  für  eine  Ver- 
stümmelung der  ersten  Redaktion  gehalten  wird,  nicht  einiges 
Licht  auf  die  bisher  dunkele,  vielumstrittene  Entstehungsart 
und  -zeit  des  Dramas  werfen  können? 

Sehen  wir  einmal,  wie  weit  wir  auf  diesem  Wege  kommen! 


KyflFhäuser,  Tannhäuser,  Rattenfänger.* 


Von 

Adalbert  Rudolf. 


Ein  seltsames  Kleeblatt!  —  wird  mancher  ausrufen  —  wie 
soll  da  eine  Verbindungskette  sich  herstellen  lassen?  —  Und 
dennoch  hoffe  ich  dies  zuwege  zu  bringen,  wenn  man  ruhig  meinem 
Gedankengang  zu  folgen  sich  bequemen  wird.  Ich  knüpfe  zu 
diesem  Zwecke  an  die  letzten  Todeszuckungeu  des  germanischen 
Heidentums  an. 

Der  Sieg  der  schwer  verdaulichen  christlich-paulinischen 
Lehre  gegen  die  zwar  derbe,  aber  dabei  schlichte,  handgreif- 
liche heidnische  war  besonders  in  dem  unzuo^äno^lichen  Inneren 
Deutschlands  kein  leichter  und  schneller;  ein  Hauptgrund  dafür 
war  auch  der,  dafs  der  aufgedrängte  neue  Glaube  seine  Wur- 
zeln in  völlig  fremdem  Boden  hatte  und  daher  mit  der  Ver- 
änderung zugleich  dem  gesamten  teuren  Volkstum  Gefahr  drohte. 
Jakob  Grimm  sagt:  „Das  Christentum  war  nicht  volksmäfsig. 
Es  kam  aus  der  Fremde  und  wollte  althergebrachte,  einheimische 
Götter    verdrängen,    die    das    Land    ehrte    und    liebte.      Diese 


Götter  und  ihr  Dienst  hino^en  zusammen  mit  Überlieferunoren, 
Verfassung  und  Gebräuchen  des  Volkes.  Ihre  Namen  waren 
in  der  Landessprache  entsprungen  und  altertümlich  geheiligt, 
Könige  und  Fürsten  führten  Stamm  und  Abkunft  auf  einzelne 
Götter  zurück ;  Wälder,  Berge,  Seen  hatten  durch  ihre  Nähe 
lebendige  Weihe  empfangen.  Allem  dem  sollte  das  Volk  ent- 
sagen,   und    was   sonst  als  Treue  und  Anhänglichkeit  gepriesen 


Vergl.  Archiv  LXVIir,  S.  43  ff'.:  Tannhäuser. 

12* 


180  Kyfi'bäuser,  Tannhäuser.  Rattenfänger. 

wird,  wurde  von  Verkündigeru  des  neuen  Glaubens  als  Sünde 
und  Verbrechen  dars^estellt  und  verfolo^t",  o;leIchwie  Chlodowis: 
dem  Franken  bei  der  Taufe  gesagt  ward:  „Verbrenn,  was  du 
angebetet,  und  bet  an,  was  du  verbrannt  hast!"  Durch  solches 
Auf-den-Kopf- stellen  kam  es  denn,  dafs  das  Christentum  nur 
ganz  allmählich  in  die  Stämme  des  inneren  Deutschlund  einzu- 
drinscen  vermochte.  Bis  zum  Ende  des  sechsten  Jahrhunderts 
waren  Alemannen,  Bojoarier,  Therwinger,  Sachsen  und  Friesen 
noch  Heiden.  Besonders  in  Friesland  hatte  das  Christentum 
einen  schweren  Stand ;  Fürst  und  Volk  hielten  sogar  noch  zu 
Beo:inn  des  achten  Jahrhunderts  beharrlich  an  dem  mit  ihrem  Volks- 
tum  verknüpften  Glauben  fest.  Der  Herzog  Ratbot  verjagte  den 
heiligen  Willibrod  und  enthauptete  den  heiligen  Wipert,  welcher 
die  Götterbilder  zu  zerschlao-en  gewao^t  hatte.  Endlich  aber 
schien  er  zur  Annahme  des  Christentums  gewillt ;  er  hatte  sich 
durch  den  Eifer  des  heiligen  Wolfram  dazu  bestimmen  lassen 
und  bereits  den  Fufs  in  das  Wasser  der  Taufkufe  gesetzt,  als 
ihm  während  der  Weihungsrede  die  Frage  einfiel,  ob  denn  seine 
Vorfahren  auch  in  dem  Himmel  seien;  auf  die  Antwort  des 
Geistlichen,  dafs  sie  in  der  Hölle  büfsen  müfsten,  weil  sie 
Heiden  grewesen,  zoo^  der  wilde  Täuflinor  hurtio^  den  Fufs  aus 
dem  Wasser  zurück,  indem  er  versicherte,  lieber  zu  seinen 
tapferen  Ahnen,  sei's  auch  in  die  Hölle,  kommen,  als  mit  dem 
gemeinen  Christenvolke  selig  werden  zu  wollen.  Dazu  erzählt 
die  Kirchensage,  dafs  dem  Friesenfürsten,  als  er  sich  zur  Taufe 
anschickte,  ein  Mann  in  kriegerischer  Rüstung  erschienen  sei, 
welcher  ihm  Wiiotaiis,  des  Götterkonigs,  goldhlinJcende  Säle  und 
den  für  Ratbot  geschmücJäen  Sitz  gezeigt  und  ihn  gewarnt  habe, 
von  dem  alten  Gotte  abzulassen;  der  Diakonus  aber  habe,  als 
sein  Auge  gleichfalls  auf  die  teuflische  Erscheinung  gefallen 
sei,  schnell  das  Zeichen  des  Kreuzes  darüber  gemacht,  und 
sogleich  habe  sich  alles  in  öden  Sumpf  und  Moor  verwandelt. 
Der  starre  Herzoor  blieb  unerschütterlich  dem  Glauben  der 
Väter  getreu  und  verfolgte  die  Christen  eifrig  bis  zu  seinem 
Tode  (719). 

Aus  dieser  kurzen  Darlegunor  erhellt  so  recht  die  Sinnesart 
in  der  Übergangszeit  des  Glaubens;  man  fühlt  mit,  wie  schmerz- 
lich-schwer unseren  Altvorderen  werden  mufste,  sich  von  den 
Volkstumoöttern  loszureifsen.     Endlich    war   in    j^anz    Deutsch- 


Kyff'häuser,  Taniihäiiser,  Kattenfänger.  181 

land  der  Sieg  des  Christentums  entschieden,  wenigstens  äufser- 
lich:  unmöMich  konnte  die  innere  Wandlung  sich  schnell  voll- 
ziehen,  indem  die  neue,  fremde  Lehre  nicht  durch  milde  Be- 
kehruno; und  Überzeu2:uno:,  sondern  meistens  durch  alle  Schrecken 
des  Zwanges  eingeführt  ward.  Da  zogen  im  Volksglauben  die 
alten  Götter  sich  in  ihre  irdischen  Behausungen,  in  die  Berge  zu- 
rüch^'^  während  sie  die  schönen,  gedankenüppigen  Himmelsitzc 
dem  sieijreichen  Christengrotte  mit  seinem  iVnhange  lassen 
mufsten.  Diese  Berg  entrückung  ist  deutlich  in  der  herrlichen 
Sage  vom  Odenherg  bei  dem  Städtchen  Gudensberg**  (Nieder- 
hessen) geschildert,  zwar  jetzt  auf  Karl  den  Fünften  bezogen, 
wie  früher  nachgewiesen  auf  Karl  den  Grofsen,  aber  offenbar 
ursprünglich  dem  alten  Gotte  Charal  (d.  i.  Herr)  =^  Wuotan  zu- 
ojehörio;.     Sie  lautet  also  : 

Karl  war  mit  seinem  Heer  in  die  Gebirge  der  Gudens- 
berger  Landschaft  gerückt,  siegreich,  wie  einige  erzählen,  nach 
anderen  fliehend,  von  Morgen  her  (aus  \Ye8tfalen).  Die  Krieger 
schmachteten  vor  Durst,  der  König  safs  auf  schneeweif sem 
Schimmel]  da  trat  das  Pferd  mit  dem  Huf  auf  den  Boden  und 
schlug  einen  Stein  vom  Felsen,  aus  der  Öffnung  sprudelte  die 
Quelle  mächtig.  Das  ganze  Heer  ward  getränkt.  Diese  Quelle 
heifst  Glisborn,  ihrer  kühlen  hellen  Flut  mifst  das  Landvolk 
fjröfsere  Reiniguno-skraft  bei  als  orewöhnlichem  Wasser  etc.  Der 
Stein  mit  dem  Huftritt,  in  die  Gudensbero^er  Kirchhofmauer 
eino;esetzt,  ist  noch  heute  zu  sehen.  Nachher  schlug  Könio- 
Karl  eine  grofse  Schlacht  am  Fufse  des  Odenberges.  Das  strö- 
mende Blut  rifs  tiefe  Furchen  in  den  Boden  (oft  sind  sie  zu- 
gedämmt worden,  der  Regen  spült  sie  immer  wieder  auf),  die 
Fluten  „wulchen"  zusammen  und  ergossen  sich  bis  Bessa  hinab; 
Karl  erfocht  den  Sieg:  Abends  that  sich  der  Fels  auf,  nahm  ihn 
und  das  ermattete  Kriegsvolk  ein  und  schlofs  seine  Wände.  In 
diesem  Odenbers;  ruht  der  Könio;  von  seinen  Heldenthaten  aus. 


*  Dieser  Gedanke  liegt  um  so  näher,  wenn  man  bedenkt,  dafs  im 
alten  Glauben  der  Germanen,  besonders  in  der  älteren  und  reineren  An- 
schauung der  Deutschen,  die  Göttt  r  anstatt  der  luftigen  Himmelsitze  Erden- 
sitze, namentlich  Berge,  innehatten,  wie  das  auch  noch  vereinzelt  aus  der 
nordischen  Götterlehre  erhellt.  Die  sogenannten  Säle  oder  Hallen  der 
Götter  in  der  Edda  sind  eigentlich  Bergräume. 

**  Odenberg  und  Gudensberg  —  seltsames  Zusammentreffen  verschie- 
dener Gestaltungen  des  Namen  Wuotan:  alemannisch  Otan.  fränkisch  Godan, 
was  auf  eine  Mischung  oder  Berührung  dieser  beiden  Stämme  hinweist. 


182  Kyrt'häuser,  Tannhäuser,  Rattenfänger. 

Er  hat  verheilsen,  ;ille  sieben  oder  alle  hundert  Jahre  hervor- 
zukommen; tritt  eine  solche  Zeit  ein,  so  vernimmt  man  Waffen 
durch  die  Lüfte  rasseln,  Pferdegewieher  und  Hufschlag;  der 
Zuo-  sreht  an  den  Glisborn,  wo  die  Rosse  getränkt  werden,  und 
verfolgt  dann  seinen  Lauf,  bis  er  nach  vollbrachter  Runde 
endlich  wieder  in  den  Berg  zurückkehrt.  Einmal  gingen  Leute 
am  Odenberg  und  vernahmen  Trommelschlag,  ohne  etwas  zu 
sehen.  Da  hiefs  sie  ein  weiser  Mann  nacheinander  durch  den 
Ring  schauen,  welchen  er  mit  seinem  in  die  Seite  gebogenen 
Arm  bildete:  alsbald  erblickten  sie  eine  Menge  Kriegsvolk,  in 
WafFenübungen  begriffen,  den  Odenberg  aus-  und  eingehen. 

Dafs  in  dem  zweiten  Teile  der  Odenbergsage  von  einem 
Siege  Karls  die  Rede  ist,  mufs  mifsverstandlich  sein,  jedenfalls 
durch  die  Mengung  der  Sage  mit  der  Geschichte  herbeigeführt; 
anderenfalls  leuchtete  nicht  ein,  warum  jener  zu  fliehen  und 
sich  zu  bergen  genötigt  ist.  Karl  ist  seinem  mächtigen  Feinde 
unterlegen  und  weifs  keinen  anderen  Ausweg,  als  sich  mit  dem 
Heere  seiner  Getreuen  in  den  Berg  zurückzuziehen.  Es  ist 
zweifelsohne  der  grofse  Heidengott,  welcher,  In  dem  Nieder- 
schlage der  alten  Sage  zu  Kaiser  Karl  geworden,  dem  Christen- 
gotte  weichen  mufs.  —  Das  Sagengebilde  spielt  weiter,  wie 
schon  eben  das  Beispiel  mit  dem  Armringe  beweist.  An  ge- 
wissen Tagen  soll  der  Odenberg  den  Menschen,  besonders  den 
Sonntagskindern,  offen  stehen.  Wer  dann  durch  die  Öffnung 
In  den  Berg  hineintritt,  erblickt  da  die  entrückten  Männer^  her- 
vorragend unter  Ihnen  einen  alten  langbärtigen  Mann,  welcher 
einen  blinkenden  Becher  in  der  Hand  hält,  und  wird  reich  be- 
schenkt. Alle  sieben  Jahre  hält  Karl  seinen  Umziig^  um  nach 
dem  Stande  der  Dinge  zu  schauen;  es  heifst,  dafs  er  dereinst  für 
immer  wieder  aus  dem  Odenberge  hervorgehen  werde  zu  neuem 
Kriege  und  Siege.  Das  deutsche  Volk  konnte  sich  dem  Ge- 
danken  nicht  verschliefsen,  dafs  seinen  geliebten,  sonst  so 
mächtig  gewesenen  Göttern  wieder  einmal  in  Zukunft  die  Welt- 
herrschaft zufallen  müsse.  —  Bei  Fränkisch- Gemünden  wird 
erzählt,  dafs  im  Guckenherge  (Berg  des  Altvaters  Guogo?)  vor 
Zeiten  ein  Kaiser  mit  seinem  ganzen  Heere  versunken  sei;  er 
werde  aber,  wenn  sein  Bart  dreimal  um  den  Tisch,  an  welchem 
er  sitze,  gewachsen  sei,  mit  seinen  Leuten  wieder  herauskommen. 
Vortrefflich  drückt  hier  das   Wachsen  des  Barthaares  die  lange 


KyfFhäuser,  Tannhäuscr,  Rattenfänger.  183 

Spanne  der  Vergangenheit  und  das  ganz  alluülhliche,  aber 
sichere  Rücken  der  sehnlich  erwarteten  Zukunft  aus.  —  Wesent- 
lich einklingend  mit  der  Odenbergsage,  zugleich  den  Gipfel  des 
ganzen,  äufserst  reichhaltigen  Sagenkreises  bildend,  ist  die  Sage 
vom  Berge  Kyffhäuser  in  der  Goldenen  Aue,  und  damit  erst  be- 
treten wir  den  festen  Boden  beabsichtigter  Abhandlung: 

Kaiser  Friedrich  —  halb  der  Erste,  dessen  Tod  in  Klein- 
asien nicht  vom  Volke  geglaubt  ward,  halb  der  Zweite  —  war 
vom  Papste  in  den  Bann  gethan,  und  die  Fürsten  waren  der 
Treue  und  der  Eide  gegen  ihren  Oberherrn  ledig  gemacht. 
Deshalb  wurden  dem  Kaiser  alle  Kirchen  und  Kapellen  ver- 
schlossen; kein  Gottesdienst  ward  ihm  mehr  gehalten  und  keine 
Messe  mehr  oresun^en.  Da  ritt  nun  der  Kaiser  einmal  vor  dem 
Osterfeste  —  damit  die  Christenheit  durch  ihn  nicht  gehindert 
würde,  die  heilige  Zeit  zu  begehen  —  hinaus  auf  die  Jagd. 
Niemand  von  seiner  Begleitung  wufste  des  Kaisers  Sinn  und 
Gedanken.  Er  hatte  aber  sein  gutes  Gewand  angelegt,  welches 
ihm  aus  dem  Laude  Indien  gesandt  war,  nahm  ein  Fläschlein 
mit  schmackhaftem  Brunnen  zu  sich,  bestieg  sein  edles  Rofs 
und  ritt  hinaus  in  den  fernen  Wald;  nur  wenige  Herren  folgten 
ihm  dahin.  Im  Walde  steckte  er  ein  immder  kräftig  es  Ringlein 
an  den  Finger  und  sogleich  war  er  vor  den  Augen  aller  ver- 
schivunden,  dafs  niemand  ihn  mehr  gesehen  hat,  und  man  nicht 
weifs,  ob  er  noch  lebendig  sei.  So  ging  der  hochgeborene 
Kaiser  dort  verloren.  eTedoch  sagen  die  Bauern,  dafs  er  sich 
oft  als  Waller  habe  sehen  lassen,  auch  öffentlich  ihnen  gesagt 
habe,  dafs  er  bestimmt  sei,  auf  römischer  Erde  noch  gewaltig 
zu  werden  und  die  Pfaffen  zu  stören,  und  dafs  er  nicht  auf- 
hören noch  ablassen  werde,  bis  er  das  heihge  Grab  wieder  in 
der  Christen  Hand  gebracht  habe. 

Weiterhin  wird  dann  der  Kaiser  nach  seiner  Verzauberung 
in  Beziehung  zu  dem  Kyffhäuser  gesetzt.  Man  glaubte:  der 
„Ketzer-Kaiser"  Friedrich  lebe  noch  und  solle  lebend  bleiben 
bis  an  den  jüngsten  Tag ;  auf  dem  wüsten  Schlosse  Kyff  hausen 
in  Thüringen  (und  auch  auf  anderen  wüsten  Burgen,  welche 
zum  Reiche  gehörten)  wandere  er  um  und  lasse  sich  zu  Zeiten 
sehen  und  rede  auch  mit  den  Leuten,  und  der  Glaube  ver- 
knüpfte sich  damit:  Vor  dem  jüngsten  Tage  werde  ein  mäch- 
tiger Kaiser   der  Christenheit  kommen,    um  Frieden   unter   den 


181  KylVhäuser,  Tannhäu^cr.  Kattcnfänger. 

Fürsten  zu  machen.     Auch    ward    viellach    erzählt,    dix^ä    dieser 
Kaiser  mit  grofscm  Hofgesinde  im   Berge  von  Kyffhausen  ver- 
zaubert wohne,  und  dafs  dieser  verzauberte  Kaiser  kein  anderer 
als  Friedrich  Rotbart  sei.     Er    sitze    auf  einer  Bank  vor  einem 
runden  Steintische  —  nach  anderen   auf  einem   goldenen  Herr- 
schersessel, die  goldene  Krone  auf  dem  Haupte,    in    der   vollen 
Pracht  und  HerrHchkeit,  welche  ihn  im  Leben  umgab.   Er  halte 
den  Kopf  in  die  Hand    gestützt    und   ruhe   oder    schlafe;   dabei 
nicke    er    aber    stets    mit    dem  Haupte    und    zwinkere    mit    den 
Augen,   indem    er    sie  bald  etwas  öffne  und  dann  seine  grofsen 
Brauen  wieder  senke  und  zusammenziehe,  als  ob  er  nicht  recht 
schlafe   oder   bald  wieder  erwachen  wolle.     Sein   roter  Bart    sei 
ihm  durch    den  Tisch  hindurch    bis    auf  die   Füfse   gewachsen. 
Er  werde  vor  dem  jüngsten  Tage   wieder   aufwachen   und    sein 
verlassenes  Kaisertum  aufs  neue  antreten;  wenn  er  dann  hervor- 
komme,   werde   er  „seines  Schildes  Last  hängen  an  den  dürren 
Ast^^    —   davon   loerde   der   Baum  grünen   und   eine   bessere   Zeit 
werden.    Von  dem  dürren  Baume  wird  in  der  Sage  vom  Walser- 
felde erweiternd  gesagt:  Er  sei  schon  dreimal  umgehauen  worden, 
seine    Wurzel   aber   immer    wieder   ausgeschlagen,    so    dafs    ein 
neuer  vollkommener  Baum  daraus  erwachsen  sei;  wann  er  wieder 
zu  grünen  beginne,    dann    nahe  die  grofse  Schlacht,    und  wann 
er  Früchte  trage,  werde  sie  anheben,  und  dann  werde  ein  solches 
Blutbad  sein,  dafs  den  Kriegern  das  Blut  in  die  Schuhe  rinne. 
Auch   wird   in    der    Sage    berichtet:    des   Kaisers  Bart    sei   um 
den  Tisch  gewachsen,  dergestalt,    dafs  er  dreimal  um  die  Run- 
dung des  Tisches  reichen  mufs    bis  zum  Erwachen ;  jetzt   aber 
gehe  er  erst  zweimal  darum.    In  den  späteren  Kyffhäusersagen 
begegnet  wiederholt  der  Zug,    dafs  Rahen  um  den  Berg  fliegen, 
welche    vor    dem    Erwachen    des    Kaisers    verscheucht    werden 
müfsten.     Auch   wird    gesagt,   dafs    der  Kaiser    wiederholt   Be- 
sucher   des    Berges    gefragt    habe,    wie    es    auf   der    Oberwelt 
aussehe. 

Wir  wollen  hier  eine  kleine  Pause  machen  zur  Anstellung 
einiger  Betrachtungen.  Der  Name  des  Berges  „Kyffhausen, 
Kyffhäuser,  Kifhäuser",  nach  welchem  die  Burg  den  Namen 
erhielt,  scheint  sehr  alt  zu  sein;  aber  die  Deutung  ist  zweifel- 
haft. Ganz  unzulässig  ist  die  geschehene  Ableitung  von  Kopf, 
Koppe,  Kuppe.     Vielleicht    läfst   sich  an  Kipicho,  Gibich  (d.  i. 


Kyfi'liäiiscr,  Tanuliäuser,  Kattenfiin<^cr.  185 

Geber),  Beiname  Wiiotans  denken  —  der  Übergang  des  p,  b 
in  f  wäre  sehr  einfach.  Hätte  man  nur  eine  ältere  Namenform! 
Die  Gegend  um  den  Kyffhäuser  (Kipichhäuser?)  hiefs  vom 
8.  bis  12.  Jahrhundert  „Nabelgau"  oder  „Nebegau",  was  an 
Nebelheirn  (die  Totenwelt)  und  Nibelunge  gemahnen  könnte.  — 
Wenn  wir  nun  an  eine  Deutung  der  KyfFhäusersage  gehen,  so 
mufs  zunächst  alles  in  das  politische  Gebiet  Streifende  ausge- 
schieden werden,  wenn  man  den  echten,  alten  Urgrund  erhalten 
will.  Sehr  vorteilhaft  läfst  die  Sage  durch  die  engvervvandte 
Odenbergsage  sich  ergänzen;  in  beiden  haben  wir  deutlich  und 
bestimmt  den  alten  Wuotan,  Charal,  Geermann  vor  uns,  welcher 
schon  im  unerschütterten  Heidentum  ,^der  Alte  vom  Berge''''  hiefs; 
nur  der  rote  Bart  könnte  auf  Donar  hinweisen,  ist  aber  wahr- 
scheinlich als  eine  Entlehnung  von  dem  geschichtlichen  Herr- 
scher zu  nehmen.  V"om  christlichen  Standpunkte  aus  ward  das 
Wiederkehren  des  Kaisers  und  das  Schlaojen  der  ofrofsen 
Schlacht,  leicht  erklärlich  und  im  voraus  richtend,  mit  dem 
letzten  Weltkampfe,  dem  jüngsten  Tage,  dem  Weltuntergange 
verknüpft,  wie  dies  besonders  in  den  Sagen  vom  Untersberg 
(Undersberg  =  Schlummerberg?)  bei  Salzburg  und  vom  Walser- 
felde deutlich  ausgesprochen  ist.  Die  Raben,  welche  um  den 
Berg  fliegen,  sind  Wuotans  zwei  Raben,  seine  steten  Begleiter 
Huginn  und  Muninn,  welche  ihm  Kunde  von  allen  Dingen  zu- 
tragen, die  Allwissenheit  Gottes  versinnlichend.  Wenn  es  heifst, 
dafs  sie  verscheucht  werden  müfsten,  bevor  der  Kaiser  erlöst 
sei,  so  ist  dies  späteres  Mifsverständnis :  Die  Raben  sind  hier 
in  ihrer  alten  Bedeutung,  indem  sie  ausgeflogen  sind,  um 
auszuspähen  und  die  Neige  der  Zeit  der  Verbannung  zu  er- 
gattern; der  Gott,  welcher  nach  einer  Fassung  der  Sage  alle 
hundert  Jahre  einmal  erwacht,  ersehnt,  dafs  sie  wieder  in  den 
Berg  einfliegen  und  sich  ihm  auf  den  Schultern  niederlassen, 
um  die  Kunde  der  endlichen  Erlösung  in  seine  Ohren  zu  flüstern. 
Noch  manche  Sagen  spinnen  sich  um  den  Kyflfhäuser; 
besondere  Beachtuno^  verdienen  die  Hirtensagen:  Ein  Schäfer 
trieb  einmal  seine  Herde  ziemlich  weit  hinauf  an  das  alte  Kyflf- 
häuserschlofs  und  blies  fröhlich  auf  seiner  Schalmei,  dafs  es  weit- 
hin scholl  und  hallte.  Plötzlich  stand  ein  ganz  kleines  Männlein 
neben  ihm,  grüfste  ihn  arti^  und  züchtiglich  und  frug:  „Möch- 
test   du  wohl   den  alten  Kaiser  Friedrich  sehen   und    ihm    auch 


1S6  Kyfl'liäiiser,  Tunnhäa^er,  Rattenfänger. 

solcli  ein  iVölilichesü  Stücklein  auföpielen  ?•'  —  ..Warum  denn 
nicht?"  Der  Schäfer  folgte  dem  JMännlein  oretrost  in  den  Felsen- 
gang-,  welcher  eich  mit  einemmal  vor  ihm  aufgethan  hatte.  Nach 
ziemlich  langer  Wanderung  kamen  sie  in  eine  weite  Halle,  wo 
der  Rotbart  mit  geneigtem  Haupte  und  geschlossenen  Augen 
schlummerte.  Beherzt  ergriff  der  Schäfer  nun  seine  Schalmei 
und  blies.  Da  hub  der  alte  Kaiser  sein  Haupt  mit  dem  roten 
Barte  empor,  welcher  durch  den  Tisch  gewachsen  war,  und 
frug:  „Fliegen  die  Raben  noch  um  die  Burg?"  —  „Sie  fliegen 
noch!-'  erwiderte  der  Schäfer.  Da  seufzte  der  Kaiser  tief  und 
schwer  und  sprach  kummervoll:  ..So  mufs  ich  aufs  neue  hun- 
dert Jahre  schlafen!"  neigte  sein  Haupt  und  schien  zu  ent- 
schlummern. Der  Zwerg  führte  hierauf  den  Schäfer  an  das 
Tao-eslicht  zurück  und  verschwand.  Die  Belohnunf]^  für  den 
dem  Kaiser  erwiesenen  Dienst  war  grofser  Herdenreichtum.  — 
Eine  andere  Hirten  sage  knüpft  an  die  Wunderblume  an,  welche 
nur  alle  hundert  Jahre  einmal  blühen  und  die  Kraft  haben  soll, 
den  ßero^  zu  erschliefsen  und  zur  Hebuno^  der  Schätze  und 
Reichtümer,  welche  im  Kyffhäuser  ruhen,  zu  verhelfen:  Ein 
Hirte  hatte  die  AVunderblume,  ohne  ihre  Bedeutung  zu  kennen, 
an  den  Hut  sjesteckt  und  ffelanote  durch  die  Berojtrümmer  in 
den  Berg,  fand  viele  kleine  glänzende  Steine  auf  der  Erde, 
steckte  so  viel  er  konnte  in  seine  Tasche  und  wollte  wieder  das 
Gewölbe  verlassen.  Da  rief  ihm  eine  dumpfe  Stimme  zu: 
„Vergifs  das  Beste  nicht!"  Vor  Furcht  flüchtete  er  hastig  aus 
dem  Gewölbe,  dafs  er  selber  nicht  wufste,  wie  er  wieder  ans 
Tageslicht  kam.  Kaum  sah  er  wieder  die  Sonne  und  seine 
Herde,  so  schlug  die  Thüre,  welche  er  vorher  gar  nicht  gesehen 
hatte,  mit  grofsem  Geräusch  hinter  ihn.  zu.  Er  griff  nach  seinem 
Hut,  und  die  wunderschöne  Blume  war  fort;  sie  war  beim  Stol- 
pern entfallen.  Plötzlich  stand  ein  Zwerg  vor  ihm  und  frug : 
„Wo  hast  du  die  Wunderblume,  welche  du  fandest?"  —  „Ver- 
loren!" sagte  traurig  der  Hirte.  „Dir  war  sie  bestimmt,"  sprach 
wieder  der  Zwerg,  „und  sie  ist  mehr  wert  als  die  ganze  Roten- 
burg." Traurig  ging  der  Hirte;  die  Steine  aber  waren  lauter 
Goldstücke.  —  Der  Zvverij  kommt  häufio;  vor:  Eine  Schar  mun- 
terer  Bauernbursche  kam  auf  den  Einfall,  Kaiser  Friedrich 
einen  Ehrentrunk  zu  bringen.  Da  stand  plötzlich  ein  Zwerg 
mitten  unter  ihnen,  welcher  einen  goldenen  Becher  in  der  einen 


Kyffhäuser,  Tunnliaiiser,  llattenlanger.  187 

und  zwei  Jblaechen  vorzüglichen  VV^eines  in  der  anderen  Hand 
hielt  u.  s.  vv.  Das  kleine  Männlein,  der  Zwerg,  tritt  in  manchen 
Sagen  nicht  nur  als  Thürhüter  auf,  sondern  auch,  wie  eben, 
als  Kellermeister  und  aufserdem  als  Hausmeister,  welcher  Korn 
einkauft,  und  als  Schatzmeister.  —  Zuweilen  begegnet  der  Zug, 
dafs  Leute,  welche  nur  kurze  Zeit  im  KyffhUuser  gewesen  zu 
sein  wähnen,  thatsächlich  nach  20  oder  gar  200  Jahren  zurück- 
kehren ;  den  Göttern  sind  Jahre  Augenblicke. 

Der  Sagen  von  Bererentrückunoren  und  Verwünschuno-en 
sind  so  viele  wie  in  keiner  anderen  Richtung;*  wir  können 
hier  nur  flüchtig  diejenigen  zusammenstellen,  w^elche  Bezug  auf 
die  Götter  gewähren:  Hakelberend,  Hakolberand  (althochdeutsch: 
Hachulpirant),  der  ManteltrUger,  was  ein  Beiname  Wuotans  ist, 
weilt  in  seinem  grofsen  Grabberge  auf  iceifsem  Rosse  bei  seinen 
Schätzen.  Karl  der  Grofse  oder  der  Fünfte  sitzt  im  Odenberge, 
im  Desenberge  (Disenberg  =  Götterberg?)  bei  Warburg,  im 
Untersberge  bei  Salzburg,  auf  der  Burg  bei  Nürnberg  (ältere 
Form:  Nornberg?),  in  der  Burg  Herstall  (Heristal),  im  Trifels 
bei  Anweiler,  und  zwischen  Nürnberg  und  Fürth  liegt  ein 
Kaiser-Karls-Berg  —  immer,  wie  wir  gesehen  haben,  Wuotan. 
Otto  der  Grofse,  auch  rotbärtig  wie  Kaiser  Friedrich,  weilt 
nach  älteren  Sagen  im  Kyffhäuser;  er  ist  schon  dem  Namen- 
anklange  nach  Wuotan,  Otan,  wie  auch  sein  Speerwurf  im  jüt- 
ländischen  Ottensunde  auf  den  Gott  sich  bezieht.  Friedrich 
Kotbart  oder  der  Zweite  (auch  Herzog  Friedrich)  haust  im  Kyff- 
häuser,  im  Üntersberge,  im  Trifels  und  in  einer  Höhle  bei 
Kaiserslautern.  Wir  sehen,  daf:?  in  den  Sagen  überall  der  alte 
Wuotan  uns  entgegentritt;  neben  dem  Hauptgotte  verschwinden 
die  anderen  Götter.  Einigemal  liefse  sich  vielleicht  an  den  rot- 
bärtigen Donar  denken.  An  dem  Südwestende  des  KyfFhäuser- 
gebirges  befindet  sich  die  Falkenburg  mit  einer  eigentümlichen, 
auf  Donar  zu  beziehenden  Sage:  Im  17.  Jahrhundert  (?)  sei 
ein  Herzog  aus  Schlesien  in  der  Heimat  von  einem  gespenstigen 
Bocke  aufgenommen,   in   gar   kurzer  Zeit   durch    die  Lüfte   ge- 


*  Die  Volkstümlichkeit  der  Bergentrückung  erhellt  aus  der  geläufigen 
Redart  „Ich  möchte  in  die  Erde  versinken,  schliefen  (schlüpfen)"  in  dem 
Sinne  von  „aus  der  Haut  fahren".  Nach  dem  Liede  von  der  „Klage"  weifs 
man  von  König  Etzel  nicht,  „ob  er  sich  verslüffe  in  Löcher  der  Stein- 
wände", was  zu  sagen  scheint,  dafs  er  vielleicht  in  den  Berg,  Felsen  ge- 
gangen sei. 


188  Kyfl'häuser,  Taiinhäuier,  Rattenfänger. 

iiihrt  und  in  den  Trümaiern  der  Falkenburg  abgesetzt  worden; 
lialbtut  und  elendiglich  zucrerichtet  sei  er  dann  bei  Nacht  in  die 
nahelieirende  Falkenmühle  orekommen  und  habe  um  Obdach  ge- 
beten.  Bedauerlich  ist,  dafs  diese  Sage  so  lückenhaft  erhalten. 
Entweder  führte  Donar  auf  seinem  Bocke  den  Herzog  durch 
die  Lüfte,  wie  \yuotan  seinen  Schützling  Härtung  (Hadding), 
etwa  um  ihn  Verfolgern  zu  entziehen,  oder  der  Herzog  war 
Donar  selber,  welcher  die  Gastlichkeit  der  Menschen  versuchen 
wollte.  Der  Schmied  Boldermann,  welcher  bei  Kaiser  Friedrich 
im  Kjffhäuser  sitzen  soll,  wird  Gott  Faltarj  Balder  sein,  wie 
in  der  Edda  die  Ansen  (Äsen)  als  Schmiede  (Glücksschmiede?) 
hinorestellt  werden.  Unter  den  bekannten  Siebenschläfern  sind 
eigentlich  und  ursprünglich  sieben  Hauptgottheiten  (ungerade 
Zahl  heilig!)  zu  verstehen.  Auch  Helden,  Niederschläge  von 
Gottheiten,  werden  vielfach  in  Berge  entrückt  gedacht,  wie 
Dietrich  (Diotarich,  d.  i.  Volkreich)  =  Donar,  Rüdiger  (Ruo- 
diger,  d.  i.  Ruhmgeer)  =  Wuotan,  Sigfrid  (Sigufrit,  d.  i,  Sieg- 
freier) =  Wuotan,  Teil  (Tellingar)  =  Heimdall  =:  Wuotan* 
u.  a.  —  Mit  der  Bert^entrückuncj  ist  oft  ein  vericünschter.  heb- 
liehe?'  Sehatz  verknüpft;  da  wo  der  alte  Gott  oder  Held  in  der 
Berghöhle  sitzt  und  schlummert,  liegt  ein  unendlicher  Hort  (der 
zu  ..hütende"  Schatz)  geborgen,  zuweilen,  wie  beim  Nibelungen- 
schatz, welcher  in  einer  deutschen  Sage  aus  einem  hohlen  Berge 
setrairen  ward,  mit  Gewinnuno;  einer  zauberhaften  flacht,  die 
Herrschaft  über  das  Totenreich  gewährend,  oder  sonstiger  ge- 
heimnisvoller Einwirkung  verbunden.  —  Der  verschiedenen 
hierher    ""ehörio^en    Volksmärchen    —    wie    die    Geschichte    des 

o  o 

„Königs  vom  goldenen  Berge"  (Grimm  Nr.  92)  und  das  Mär- 
chen ..Der  Rabe"  mit  dem  goldenen  Schlosse  von  Stromberg 
(Nr.  93)  —  sei  nur  andeutungsweise  Erwähnung  gethan. 

Überall  in  dem  Sagenbereiche  der  Bergentrückung  findet 
sich  mit  fferino:en  Unterschieden  derselbe  Gedanke:  In  höhlen- 
artigen  Bergwohnungen  schlafen  die  Götter  und  Helden,  nur 
von  Zeit  zu  Zeit  erwachend.  WafFengetöse  und  kriegerische 
Weisen  sind  zuweilen  vernehmbar,  den  vorübereilenden  Menschen 
ein  Schrecken;  dann  rüstet  das  verschlossene  Geisterheer  sich 
zum  Aufbruche,  und  die  E^ntrückten,  Verwunschenen  ziehen  zur 


Archiv  LXIII,  .S.  13  il.:  Neues  zur  Tellsage. 


Kyfi'liäuser,  Tannhäuser,  Rattenfänger.  1.89 

Nachtzeit,  besonders  Mitternacht  hinaus,  wie  Karl  Langbart  aus 
dem  Odenberge,  als  wütendes  Heer  und  wilde  Ja^^d  —  bald 
sichtbar  in  dahinjagenden  Wolkengebilden,  wohl  auch  als  Männer 
auf  feuri2:en  Rossen,  mit  leuchtenden  Waffen  die  Gescend  durch- 
stürmend  —  bald  unsiclitig  durch  die  Lüfte  schwebend,  nur 
im  Gebrause  und  Heulen  des  Windes  vernehmbar.  Der  Zweck 
solcher  Auszüge  ist,  teils  um  den  alten  Lieblino'sbeschäftifjuno^en, 
Jagd  und  Kampf,  wenn  auch  nur  zur  Zeit  der  Gespenster,  zu 
huldigen,  andernteils  um  zu  splihen,  ob  die  Stunde  der  Wieder- 
kehr ihres  Reiches  noch  nicht  gekommen  sei,  teils  auch  um 
durch  List  oder  Gewalt  neue  Anhänger  für  den  zu  erwartenden 
grofsen  Kampf  zu  gewinnen^  allerdings  hier  nicht  immer  mit 
günstigem  Erfolg,  wie  einige  Volksmärchen  beweisen,  und  wie 
vor  allem   aus  folo;ender  kerniojen  mecklenburgischen  Sao;e  her- 

OD  DO 

vorofeht: 

Ein  Bauer  kam  einst  trunken  in  der  Nacht  von  der  Stadt, 


o 


sein  Weg  führt  ihn  durch  einen  Wald;  da  hört  er  die  wilde 
Jagd  und  das  Getümmel  der  Hunde  und  den  Zuruf  des  Jaspers 

o  o 

in  hoher  Luft.  „Mitten  in  den  Weg!  mitten  in  den  Weg!" 
ruft  eine  Stimme,  allein  er  achtet  ihrer  nicht.  Plötzlich  stürzt 
aus  den  Wolken  nahe  vor  ihm  hin  ein  langer  Mann  auf  einem 
Schimmel.  „Hast  Kräfte?"  spricht  er,  „wir  wollen  uns  beide 
versuchen,  hier  die  Kette,  fafs  sie  an  —  wer  kann  am  stärksten 
ziehen?"  Der  Bauer  fafste  beherzt  die  schwere  Kette,  und 
hoch  auf  schwanjT  sich   der  wilde  Jäger.     Der  Bauer    hatte    sie 

D  O 

um    eine    nahe    Eiche    geschlungen,    und    vergeblich    zerrte   der 

O  O         '  o 

Jäger.  „Hast  gewifs  das  Ende  um  die  Eiche  geschlungen?" 
frug  der  herabsteigende  Wod.  „Nein,"  versetzte  der  Bauer, 
„sieh,  so  halte  ich's  in  meinen  Händen".  —  ^,Nun  so  bist  du 
mein  in  den  Wolken,"  rief  der  Jäger  und  schwang  sich  empor. 
Wieder  schürzte  schnell  der  Bauer  die  Kette  um  die  Eiche,  und 
es  gelang  dem  Wod  nicht.  „Hast  doch  die  Kette  um  die  Eiche 
geschlagen!"  sprach  der  niederstürzende  Wod.  „Nein,"  er- 
widerte der  Bauer,  der  sich  eiligst  losgewickelt  hatte,  „sieh,  so 
halte  ich  sie  in  meinen  Händen."  —  „Und  wärst  du  schwerer 
als  Blei,  so  mufst  du  hinauf  zu  mir  in  die  Wolken!"  Blitz- 
schnell ritt  er  aufwärts,  aber  der  Bauer  half  sich  auf  die  alte 
Weise.  Die  Hunde  bollen,  die  Wagen  rollten,  die  Rosse 
wieherten    dort    oben,    die  Eiche    krachte    an    den  W^irzeln    und 


190  Kyffhäuser,  Tannhäuser,  Rattenfänger. 

schien  sich  zu  drehen.  Dem  Bauer  bangte,  aber  die  Eiche 
stand.  „Hast  wacker  gezogen,"  sprach  der  Jäger,  ^^rnein  lourden 
schon  viele  Männei\  du  bist  der  erste,  der  mir  widerstand!  Ich 
werde  dir's  lohnen."  Laut  ging  die  Jagd  an:  hallo,  holla!  wol! 
wol!  Der  Bauer  schlich  seines  Weges,  da  stürzt  aus  unge- 
sehenen Höhen  ein  Hirsch  ächzend  vor  ihn  hin,  und  Wod  ist 
da,  springt  vom  weifsen  Rosse  und  zerlegt  das  Wild.  „Blut 
sollst  du  haben  und  ein  Hinterteil  dazu!"  —  „Herr,"  sagt  der 
Bauer,  „dein  Knecht  hat  nicht  Eimer  noch  Topf."  —  „Zieh 
den  Stiefel  aus!"  ruft  Wod.  Er  that's.  „Nun  wandere  mit 
Blut  und  Fleisch  zu  Weib  und  Kind!"  Die  Angst  erleichterte 
anfangs  die  Last,  aber  allmählich  ward  sie  schwerer  und  s.chwe- 
rer,  kaum  vermochte  er  sie  zu  tragen.  Mit  krummem  Rücken, 
von  Schweifs  triefend  erreichte  er  endlich  seine  Hütte  und  siehe 
da  —  der  Stiefel  war  voll  Gold  und  das  Hinterstück  ein  lederner 
Beutel  voll  Silber. 

Diese  Menschenjagd,  Seelenfängerei^  ist  sehr  bedeutsam  und 
bereits  in  den  alten  echt  heidnischen  Sagen  enthalten,  beson- 
ders indem  Wuotan  durch  seine  Walküren  die  Seelen  der 
Helden  nach  Walahalla  führen  läfst;  der  Gedanke  liegt  da  unter, 
ein  starkes  Heer  zu  schaffen,  um  für  den  grofsen  Kampf  zur 
Muspillizeit,  am  jüngsten  Tage,  gerüstet  zu  sein  und  dem  dro- 
henden Schicksale  widerstehen  zu  können,  wie  es  in  der  jüngeren 
Edda  heifst:  „Es  ist  wahr,  eine  grofse  Menge  ist  da  (in  Walahalla), 
und  noch  viel  mehr  müssen  ihrer  werden ;  aber  dennoch  wird 
scheinen,  ihrer  seien  viel  zu  wenig,  wenn  der  Wolf  (der  Ver- 
nichtung) kommt."  So  sucht  denn  Wuotan  auch  durch  besondere 
Schutzverhältnisse  starke  Helden  an  sich  zu  fesseln,  und  mehrfach 
tritt  der  Gedanke  hervor,  sich  Wuotan  sesen  Gewähruns;  irdi- 
scher  Vorteile,  Ruhm,  Reichtum  u.  s.  w.  zu  weihen,  d.  h.  ur- 
sprünglich, zu  geloben,  nach  Ablauf  einer  bestimmten  Frist 
sich  zu  töten,  wenn  der  Gott  für  die  Dauer  der  Zwischenzeit 
gnädig  sei  und  beistehe.  Auch  Kinder,  sogar  ungeborene,  läfst 
er  sich  versprechen,  wie  bei  der  bierbrauenden  Geierhild  (Geer- 
hild),  welche  dem  Höttr  (d.  i.  der  Hut,  Beiname  Wuotans)  für 
seinen  Beistand,  indem  dieser  seinen  Speichel  zur  Hefe  giebt, 
verheifsen  mufste,  was  zwischen  ihr  und  dem  Fasse  sei;  sie 
wufste  nicht,  dafs  sie  damit  ihren  Sohn  Wikar  dem  Wuotan 
gelobt  hatte. 


Kyflhäuscr,  Tannhäuser,  Rattenf^^nger.  191 

Wenn  in  der  späteren  Volkssage  der  Tod  Gevatterschaft 
bei  Menschen  steht,  so  ist  das  wieder  ganz  Wuotan,  wie 
er  unter  der  stillschweio-enden  Bedinofunff  der  Weihe  Schutz- 
Verhältnisse  eingeht.  Nie  vergifst  der  Gott  sein  Recht  geltend 
zu  machen;  sein  todbringender  Ger,  welchen  er  dem  Schütz- 
ling leiht,  wird  schliefslich  diesem  selber  verhängnisvoll.  In 
den  Sagen  und  jNIärchen  tritt  für  den  Gott  auch  zuweilen  ein 
Riese  ein,  wie  unter  dem  christlichen  Einflüsse  schliefslich,  als 
Gipfel  der  Sagenrichtung,  der  seelenhaschende  Teufel  sich  ent- 
wickelt. Hier  hat  die  Bedeutung  der  Seelenfänorerei  eine  schär- 
fere,  auf  dem  Geo:en8atze  der  Relio-ionen  fufsende  Beo-ründuno; 
gefunden.  Die  Bündnisse  mit  dem  Teufel,  welche  in  der  Faust- 
sage ihren  grofsartigen  Abschlufs  gefunden  haben,  wurzeln  in 
heidnischen  Gedanken. 

Während  in  der  obiojen  mecklenburgischen  Sage  die  Scheu 
vor  dem  alten  Gotte,  welcher  dort  als  riesenhaftes  Gespenst 
auftritt,  schon  ganz  hinfällig  geworden  ist,  so  läfst  uns  eine 
Erzähluno;  der  Ynglingasage  von  Könio;  Svegdir  noch  mit 
Leichtigkeit  das  alte  ungetrübte  Verhältnis  erkennen:  Svegdir 
that  das  Gelübde,  Godheim  (die  Götterwelt)  und  den  alten 
Odhinn  (Wuotan)  aufzusuchen ;  mit  zwölf  Begleitern  fuhr  er 
weit  herum  auf  der  Erde  u.  s.  w.  Im  Osten  von  Svithjod 
(Schweden)  liegt  ein  grofser  Hof,  Stein  genannt,  da  ist  ein 
Stein  (Felsberg)  hoch  wie  ein  grofses  Haus.  Abends  nach 
Sonnenuntergang,  als  Svegdir  vom  Zechgelage  in  sein  Schlaf- 
zimmer ging,  sah  er  hin  nach  dem  Stein,  und  ein  Zwerg  safs 
unten  bei  dem  Stein ;  Svegdir  und  seine  Leute  waren  sehr 
trunken  von  Met  und  liefen  hin  zu  dem  Stein.  Der  Zwerg 
stund  in  der  Thüre  und  redete  Svegdir  an  und  bat  ihn,  hin- 
einzugehen, falls  er  Odhinn  finden  icolle.  Svegdir  lief  hinein  in 
den  Stein:  aber  der  Stein  schlofs  sich  alsbald  zu,  und  Svegdir 
kam  nicht  wieder.  Thjodolf  der  W^eise  von  Hvin  (norwegisches 
Eiland),  Skalte  Haralds  des  Schönhaarigen,  singt: 

Doch  der  lichtfliehende        Felsenhüter 
Täuschte  Svegdirn        mit  schlauem  Truge, 
Als  des  Erhabnen        hoher  Spröfsling 
Tief  in  den  Felsen        folgte  dem  Zwerge 
Und  der  helle  Stein        des  Herrschers  der  Tiefe 
In  der  Riesenkammer        den  Könis;  umschlofs. 


192  Kyffhäuser,  Tannhäuser,  Rattenfänger. 

Der  „lichtfliehende  Feleenhüter"  ist  der  Zwerg,  „des  Er- 
habenen (des  Gottes  Njord)  hoher  Spröfsling"  ist  König  Svegdir, 
und  der  „Herrscher  der  Tiefe"  ist  Odhinn,  AVuotan,  welcher  in 
einem  Liede  der  Edda  (Sigurdhakvidha,  Reginsmal)  sich  selber 
den  „Alten  vom  Berge"  nennt.  Wenn  hier  die  Aufforderung 
des  Zwerges,  Wuotan  in  dem  Steine  zu  suchen,  als  Trug  auf- 
gefafst  wird,  so  ist  dies  doch  nur  unverstandene,  spätere  Auf- 
fassung oder  sonstige  Verstümmelung:  In  der  echten  Sage  weist 
der  Zwers  an  dem  Zugano^e  des  Berf^es  die  Anhänj2fer  Wuotans 

O  OD  O  D 

in  erhaben-ernstem  Sinne  in  die  unterirdische  Gütterbehausung. 
In  vielen  Sagen  lockt  ein  Zwerg  als  Bote  der  Unterweltgöttin 
(Hella,  Hölle)  in  den  Berg;  auch  den  Dietrich  von  Bern  holt 
nach  einer  Sage  ein  Zwero^  dahin  ab  —  das  ist  überall  der- 
selbe  Gedanke.  Die  Zwerge,  ein  unterweltliches  Geschlecht, 
nähern  sich  leicht  dem  Totenreiche,  wie  auch  die  Niblunge 
(Niflinge)  anfangs  nur  das  Dunkle,  Nächtige  besagen,  aber 
dann  zu  Totengeistern  werden,  deren  stilles  Wirken  die  ]\Ien- 
schen  unabwendbar  in  ihr  Reich  führt.  —  Einige  Ähnlich- 
keit mit  der  Svegdirsage  zeigt  auch  die  Gylfisage,  welche 
in  der  jüngeren  Edda  überliefert  worden  ist:*  König  Gylfi  (ein 
finnischer  König?)  war  ein  weiser  Mann  und  zauberkundig. 
Er  wunderte  sich  sehr,  dafs  der  Äsen  (Ansen)  Volk  (d.  i.  die 
Germanen)  so  vielkundig  sei,  dafs  alles  nach  ihrem  Willen  er- 
ginge. Er  dachte  nach,  ob  dies  von  ihrer  eigenen  Kraft  ge- 
schehe  oder   ob    da   die   Macht    der  Götter   walte,    welchen    sie 


'j 


opferten.  Er  unternahm  eine  Reise  nach  Asgard  (Ansgart,  d.  i. 
Gütterburg),  fuhr  aber  heimlich,  indem  er  die  Gestalt  eines 
alten  ^Mannes  annahm  und  so  sich  hehlte.  Als  er  in  die  Burg 
kam,  sah  er  eine  hohe  Halle,  dafs  er  kaum  darüber  wegsehen 
konnte;  das  Dach  war  mit  goldenen  Schilden  belegt  wie  mit 
Schindeln.  Am  Thor  der  Halle  sah  Gjlfi  einen  Mann  (Zwerg?) ; 
dieser  fru^j  ihn  nach  dem  Namen.  Er  nannte  sich  Gansjleri 
(d.  i.  Wanderer)  und  sagte;    er   komme  aus  unwegsamer  Ferne 


*  Diese  ursprünglich  alte  Sage  ist  erst  in  christlicher  Zeit  nieder- 
geschrieben worden  und  hat  daher  manche  Willkürlichkeit  an  sich  ergehen 
la-^sen  müssen.  Dementsprechend  lautet  auch  die  Überschrift  der  Sage 
Gylf'aiiinning,  d.  i.  Gylfis  Verblendung.  Ich  gebe  hier  nur  die  riiirch  die 
Abänderung  nicht  getrübten  Hauptzüge. 


Kyffhäuser,  Tannhäuser,  Rattenfänger.  193 

und  bitte  um  Nachtherberoje.  Alsbald  gin^r  der  Mann  ihm 
vorauf  in  die  Halle  und  er  folgte  ihm  nach,  und  diclit  hinter 
seinen  Fersen  schlug  die  Thäre  zu.  Da  sah  er  viele  Gemächer 
und  eine  Menge  Volkes:  einige  spielten,  einige  zechten,  andere 
übten  sich  in  Waffen.  Er  sah  drei  Hochsitze,  und  auf  jedem 
safs  ein  Mann.  Er  ward  nun  auf  seine  Fragen  weitschweifig 
über  die  Erschaffung  der  Welt,  über  die  Götter  und  Göttinnen, 
über  Göttero^eschichten  und  dereinstio:en  Weltuntero-ano;  unter- 
richtet.  Als  er  aber  mit  Frasren  o-ar  nicht  ermüden  zu  wollen  • 
schien,  ward  ihm  zuletzt  der  Bescheid;  „Wenn  du  aber  nun 
weiter  fragen  willst,  so  weifs  ich  nicht,  woher  dir  das  kommt; 
denn  nie  hörte  ich  jemand  mehr  von  den  Schicksalen  der  Welt 
berichten.  Nimm  also  hiermit  fürlieb!"  Darauf  hörte  Gangleri 
ein  grofses  Getöse  um  sich  her.  Und  als  er  sich  wandte  und 
recht  um  sich  blickte,  fand  er  sich  allein  stehen  auf  einer  weiten 
Ebene  und  sah  weder  Halle  noch  Büro;  mehr.  Da  gino;  er 
seines  Weges  fort  und  kam  zurück  in  sein  Reich  und  erzählte 
die  Zeitungen,  welche  er  o-ehört  und  o:esehen  hatte,  und  nach 
ihm  erzählte  einer  dem  anderen  diese  Geschichten.  —  Man 
sollte  infolge  von  Vergleichung  mit  anderen  Sagen  annehmen, 
dafs  das  Zuschlagen  der  Thüre  dicht  hinter  den  Fersen  erst 
beim  Hinausgehen  hätte  geschehen  müssen. 

Auch  iceihliche  Wesen,  Göttinnen,  weilen  mit  den  Göttern 
in  den  Bergen.  In  der  bekannten  Kyffhäusersage  vom  „Braut- 
])aare  aus  Tilleda"  (Tjdeda,  d.  i.  Hügelort,  am  Ostende  unter- 
halb des  Kyffhäuser),  welches  in  den  Berg  gegangen  und,  wie 
sich  schliefslich  herausstellt,  200  Jahre  darin  gewesen  ist,  sowie 
in  der  Sage  von  den  Musikern,  welche  an  dem  Kyffhäuser  vor- 
überziehend dem  alten  Kaiser  ein  Ständchen  bringen  und  dafür 
belohnt  werden,  kommt  die  Prinzessin  vor,  welche  als  Schaff- 
nerin, Ausgeberin  beim  Kaiser  weilt,  wohl  als  Tochter  des- 
selben gedacht  —  in  Wirklichkeit  unfehlbar  die  herrliche  Göttin 
Fria  (Frea,  Frikka,  d.  i.  die  Freie)  mit  ihren  Beinamen  Perachta 
(Perchta,  .Berta,  d.  i.  die  Leuchtende,  Prächtige)  und  Holeda 
(Holda,  Hulda,  Frau  Holle,  d.  i.  die  Holde),  also  die  Gemahlin 
Wuotans.  Am  Kyffhäuser  haften  auch  Sagen,  ohne  Verhüllung 
des  Namens,  von  der  Frau  Hidle,  welche  auf  dem  Berge  zum 
Trocknen  Flachsknoten  ausbreitet;  diese  verwandeln  sich  guten 

Archiv  f.  n.  Sprachen.   LXXIII.  .  13 


194  Kyffhäuser,  Tannhäuser,  Rattenfänger. 

Menschen,  rechtschafFenen  Armen  in  Gold.  —  In  verschiedenen 
Gegenden  Deutschlands  gab  es  Berge,  welche  besonders  nach 
Holda  benannt  waren.  Späterhin  —  vermutlich  etwa  im  13.  oder 
14.  Jahrhundert,  vielleicht  auch  teilweise  schon  früher  —  sind 
diese  altheimischen  Ilolda-  oder  Hollenherge  latinisiert  in  Venus- 
herge  umgewandelt  worden.  Am  berühmtesten  ist  der  thürin- 
Sfische  Venusberof,  für  welchen  man  gewöhnt  ist  den  Hörsei- 
herg"^  an  dem  Flüfschen  Hörsei  bei  Eisenach  anzusehen.  Dieser 
gilt  als  Hexenberor:  die  nachtfahrenden  Frauen  sollen  im  Venus- 
berge  zusammengekommen  sein,  und  gutes  Leben,  Tanzen  und 
Springen  habe  dort  geherrscht.  Viele  bedeutsame  Sagen  sind 
vom  Hörselbero^e  im  Schwansfe.  Eine  daselbst,  am  Nordwest- 
ende  des  Berges,  an  einer  steilen  und  schwer  zugängigen  P'elsen- 
w^and  befindliche  unheimliche  Schlucht,  Hörseiloch  genannt,  wird 
im  Volksglauben  für  den  Eingang  der  Hölle  gehalten,  wie  auch 
die  Götter  von  den  ßekehrern  zu  Teufeln  gemacht  worden 
waren.  Aus  diesem  Loche  ist  oft  der  Schall  sonderbarer  Tone, 
wie  wenn  unterirdische  Gewässer  von  hohen  Klippen  herab- 
stürzten, oder  eine  empörte  Brandung  an  ein  mächtiges  Felsen- 
gestade  schlüo^e,  Stimmengewirr  und  Getöse,  wie  wenn  Eisen 
gegeneinander  geschlagen  würde,  vernommen  worden;  zu  der 
düsteren  Stimmung  des  Gemütes  mag  beigetragen  haben,  dafd 
in  der  Nähe  des  Hörseiberges  eine  Wetterscheide  ist,  wo  sich 
oft  die  furchtbarsten  Gewitter  mit  schrecklichen  Blitzen  und 
Donnern  entladen. 

In  den  unterirdischen  Höhlen  des  Berges  wohnt  die  „  Teufelin 
Venus'^  die  gestürzte  Himmelskönigin,  Wuotans  schöne  Ge- 
mahlin, die  heidnische  „Unsere  liebe  Fraue",  das  Urbild  der 
christlichen  Maria.  Sie,  welche  in  der  guten  alten  Zeit  unserem 
Volke  den  Kindersegen  verlieh,  zieht  nun  die  Seelen  der  Kinder 
wieder  zu  sich;  die  lebenspendende  Seite  ist  ihr  genommen, 
nur  die  unheimliche  Todesgöttin  ist  geblieben.  Zugleich  waltet 
hier  in  milderer  Gestalt  derselbe  Gedanke  der  Seelen<T^ewinnunn^, 
wie  wir  ihn  scharf  ausgesprochen  bei  Wuotan  angetroffen  haben. 


*  Horsel-,  Hoselberg  —  vlelleiclit  Oselberg,  Osberg  =  A?en-,  Ansen- 
berg,  Berg  der  Götter.  Oder  etwa  entstanden  aus  Mons  ilorrisonus,  der 
schaurig   tönende  Berg,   wie   lateinische    Chronisten    ihn    nennen?    oder   um- 


gekehrt? 


Kyff'häuser,  Tannhäuser,  Rattenfänger.  195 


Das  besagt  wöhl  auch  die  im  östlichen  Thüringen  begegnende 
Sage,  dafs  Frau  BercJtta  mit  der  Schar  der  Heimchen  (Heinchen?) 
umherzieht.  In  dem  benaclibarten  Franken  liifst  Frau  Hulli  lieb- 
liche Klänofe  vernehmen,  welche  einem  Menschen  das  Herz  im 
Leibe  schmelzen  möchten ;  Kinder  werden  gewarnt,  darauf  zu 
lauschen,  sonst  müfsten  sie  mit  Frau  Hulli  bis  zum  jüngsten 
Tage  im  Walde  herumfahren.  Auch  die  nordische  Hiddra,  die 
Herrin  des  Huldrevolkes,  der  Huldumänner,  der  Holden,  wie  in 
Deutschhind  die  Zwero;e  auch  f]^enannt  werden,  liebt  Musik  und 
Gesang;  ihr  Lied,  Huldreslat,  hat  traurige  Weise.  Von  der- 
selben wird  gesagt,  dafs  sie  den  Menschen  ungetaufte  Kinder 
forttrage.  —  Frau  Holda  zieht  auch  mitunter  als  Waldfrau, 
„wilde  Waldin"'  der  wilden  Jagd  voraus,  welche  dann  im  Venus- 
berge verschwindet.  Zu  Eisleben  und  im  ganzen  Mansfelder 
Lande  fuhr  das  wütende  Heer  im  Geleite  der  Frau  Holla  all- 
jährlich auf  Fastnacht-Donnerstag*  vorüber.  Das  Volk  ver- 
sammelte sich  und  sah  der  Ankunft  des  Heeres  entgegen,  nicht 
anders  als  sollte  ein  mächtifcer  Köni<]:  einziehen.  Vor  dem 
Haufen  trat  ein  alter  Manu  einher  mit  iceifsem  Stabe,  der  treue 
Eckhart,  welcher  die  Leute  aus  dem  Wege  weichen,  einige 
auch  heimorehen  hiefs :  sie  würden  sonst  Schaden  nehmen. 
Hinter  ihm  kamen  etliche  geritten,  etliche  gegangen,  man  sah 
darunter  neulich  verstorbene  Menschen.  Ein  trunkener  Bauer, 
welcher  dem  Heere  nicht  ausweichen  wollte,  ward  ergriffen  und 
auf  einen  hohen  Felsen  gesetzt,  wo  er  tagelang  harren  mufste, 
bis  man  ihm  wieder  herunterhelfen  konnte.  In  dieser  Darstel- 
lung ist  Frau  Holda  fast  unverkürzt  die  altheidnische  Göttin, 
welcher  bei  ihrem  Einzüge  in  das  Land  das  Volk  entgegen- 
strömt; sie  nimmt  die  Huldigungen  der  Getreuen  entgegen  und 
belohnt  und  bestraft  nach  ihrem  Urteil.  Nur  ist  alles  dies  Er- 
haben-Göttliche von  dem  Christentum  in  die  Spukzeit  der  Nacht 
verwiesen  worden. 

Der  Frau  Holda  Hofhaltung  in  den  grofsartigen  Bergräumen 
ist  von  der  Phantasie  auf  das  herrlichste  ausoreschmückt  worden. 


*  Von  „vasen,  fasen"  =  umherschweifen^  (daher  auch  „faseln,  Fasel- 
hans" für  geistige  Verwirrtheit).  Die  Umänderunsr  in  Fa.<f/nacht  ist  kirch- 
hihe  Neuerun<j;.  Dafür  sprechen  die  Ausdrücke  in  fast  sämtlichen  deutschen 
Mnnd:irten,  sowie  das  englische  fashing. 

13* 


196  Kyffhäuser,  Tannhäuser,  Rattenfänger. 

Die  schönlieltstralilende  Göttin  oder  „Teufelin"  haust  da  statt- 
lich und  prächtig,  von  den  Zicergen  bedient,  wie  auch  noch  in 
den  allefrorischen  Gedichten  des  15.  Jahrhunderts  ein  Zwerg  zu 
Frau  Venus  führt.  Vereinzelte  Menschen,  welche  sich  bei  ihr 
einfinden,  leben  da  in  Freude  und  Wonne.  Wer  kennte  nicht 
die  wunderliebliche  Märe  von  Tannhäuser,  eine  der  anziehendsten 
Sagen  des  Mittelalters?  wie  den  edlen  fränkischen  Eitter  die 
Begierde  trieb,  in  den  Venusberg  zu  gehen,  um  die  Wunder 
der  dort  hausenden  herrlichen  Göttin  zu  schauen?  Als  Tann- 
häuser in  der  Abenddämmeruno;  an  dem  Berge  anlangte,  er- 
blickte  er  eine  Höhle  und  an  derselben  ein  weibliches  Wesen 
stehen,  so  schön,  wie  er  noch  nie  eins  gesehen  hatte,  und  das 
war  Frau  Venus  selber,  die  schönste  der  Göttinnen.  Sie  rief 
ihn  mit  einer  bezaubernden  Stimme  an  und  forderte  ihn  auf, 
mit  in  den  Berg  zu  kommen.  Tannhäuser  folgte  ihr  entzückt 
durch  die  Höhle,    und    der  verhängnisvolle  Zugang  schlofs  sich 

'  O  DO 

hinter  ihm.  Sieben  Jahre  brachte  er  da  zu,  schwelgend  an 
dem  Freudentische  der  göttlichen  Bergfürstin,  den  Becher  der 
Wonne  bis  auf  die  Neige  leerend.  Da  endlich  sehnte  der  ßltter 
eich  wieder  hinaus  in  die  blaue  Luft  und  unter  die  Menschen, 
und  er  wollte  wieder  ein  Hofs  besteigen  und  ritterlich  kämpfen 
und  des  edlen  Weidwerkes  pflegen.  Zugleich  auch  regten  sich 
Gewissensbisse  in  ihm,  und  er  trachte  danach,  sich  mit  seinem 
Gotte  zu  versöhnen ;  sogar  in  den  AVollustarmen  der  Herrin 
der  Liebe  fand  er  nicht  Ruhe  mehr.  Aber  seine  flehentlichen 
Bitten  vermochten  nicht,  ihm  Urlaub  zu  verschafi^en.  Da  gelang 
ihm,  durch  ein  Ritzlein  des  Berges  schlüpfend,  nach  der  Ober- 
welt zu  entfliehen,  und  nun  wandte  er  sich  von  einem  Geist- 
lichen zum  anderen,  um  Vergebung  für  sein  unheiliges  Leben 
zu  erlangen;  aber  keiner  wollte  ihm  solche  gewähren.  So  blieb 
dem  Unglücklichen  nichts  übrig  als  nach  Rom  zu  wallen,  um 
von  dem  heiligen  Vater  Sühne  und  Ablafs  zu  empfangen.  Mit 
blutigen  Füfsen  kam  er  endlich  in  Rom  an.  Von  Reue  zer- 
knirscht warf  er  sich  dem  Papst  zu  Füfsen.  Als  dieser  aber 
die  Beichte  des  Sünders  vernommen,  wies  er  denselben  ent- 
setzt von  sich,  nachdem  er  ihm  den  Pilgerstab  entrissen  und 
in  die  Frde  gestofsen  hatte,  den  gräf!«lichen  Fluch  sprechend: 
,.  Wie  dieser  dürre  Stab  nie  icieder  sprosse?!  und  grünen  irird,  so 
u'irst  rnirli  du  niemals  Vergehung  erhalten!''-     Tannhäuser  schied 


Kyfi'häuser,  Tannhauser,  RattcnHinger.  197 

in  Verzweiflung,  ohne  zu  wissen,  wohin  er  die  Schritte  lenken 
solle.  Aber  nach  dreien  Tagen  sah  der  Papst  mit  Staunen, 
dafs  der  dürre  Stecken  sprofs  und  Blätter  und  Blüten  trieb. 
Erschrocken  sandte  er  Eilboten  nach  Tannhäuser,  um  ihm  das 
Wunder  der  göttlichen  Gnade  zu  künden.  Aber  es  wav  zu 
spät  —  wie  sie  auch  nach  allen  Winden  suchten,  sie  fanden 
den  Ritter  nicht  mehr :  der  Ritter  war  in  den  Bero:  zurück- 
sjekehrt  und  wird  da  weilen  bis  zum  jüno-sten  Tao-e. 

Zwar  bieten  nur  verhältnismäfsig  jüngere  Quellen  uas  diese 
bedeutende,  tiefsinnige  Sage;  aber  trotzdem  kann  ihr  ein  Irohes 
Alter  nicht  abgesprochen  werden.  Sie  mufs  sogar,  wie  wir 
noch  zur  vollen  Genüge  erkennen  werden,  in  die  graue  Vorzeit 
zurückreichen.  Auffallend  ähnlich  ist  die  Sage  vom  „Schneio- 
bicrger'',*  welcher  in  den  Venusberg  bei  Uf hausen,  unweit  Frei- 
burg, einkehrt;  die  Verwünschung  lautet  daselbst:  „Eher  soll 
der  Stab,  welchen  ich  in  der  Hand  halte,  Rosen  tragen,  als  du 
bei  dem  Herrn  Verzeihuno;  finden  wirst!"  Die  Tannhäusersao;e 
mufs  in  ihrem  Urkerne  also  verstanden  werden:  Den  edlen 
Ritter,  welcher  schon  zum  Christentum  übergetreten  war,  ergriff 
mächtige  Sehnsucht  nach  dem  Glauben  der  Altvorderen,  nach 
seinen  Göttern,  und  trieb  ihn  —  sagenhaft  bildlich  —  in  den 
Berg,  wo  „der  Frau  Hollen  Hofhaltung"  ist,  in  den  „Venus- 
berg", und  die  Sage  spinnt  sich  dann,  wie  geschildert,  weiter 
und  zeigt  uns  in  rührender  Weise,  wie  ento-eoren  der  Unbe- 
grenztheit  der  göttlichen  Gnade  die  Geistlichen  der  Lehre  der 
Liebe  durch  Härte  und  Grausamkeit  die  halbgewonnenen  Herzen 
sich  abwendio;  zu  machen  verstanden.  Einen  wohlthuenderen 
Schlufs  giebt  eine  verwandte  schwedische  Sage:  Wie  der  Papst 
dem  Tannhäuser  und  Schnewburo-er  durch  den  dürren  Stecken 
die  Hoffnung  abschneidet,  sagt  auch  da  der  Geistliche  zu  dem 
harfespielenden  Wassergeiste  (Neck,  Nix):  „Eher  wird  dieser 
Rohrstab,  welchen  ich  in  der  Hand  halte,  grünen  und  blühen, 
als  du  Erlösunor  erlano^st!"  Trauernd  wirft  der  Neck  die  Harfe 
hin  und. weint.  Der  Priester  reitet  fort.  Bald  danach  aber 
beginnt  der  Stab  in  Laub  und  Blüten  auszuschlagen.  Schnell 
kehrt   der   Reiter  um,    das   Wunder    dem    Neck   zu    verkünden. 


*  Ob  dieser  Name  an  den  ScJinecJchäuserberr/  bei  Göttingen  gemahnen 
darf,  wo  die  schöne  Bei-ta  (Fria,  Holda)  300  Jahre  wandelte,  bis  sie  erlöst 
ward? 


198  KylThäuser,  Tannhäuser,  Rattenfänger, 

welcher  uun  die  ganze  Nacht  hindurch  frohe  Weisen  erschallen 
läfst.     Auch   an   viele  andere  Sagen   klingt    die  Erzählung  von 
Tannhäuser    an.      Das    Kindermärchen    berichtet    dasselbe    von 
Frau  Fortuna  (welche   der  deutschen  Salida,  Saide    entsprechen 
würde),    die  schwedische  Sage  ebenso  von  der  Eibkönigstochter ; 
Oqier  (Otger,  Olger,    ursprünglich    dänisch    und    niederländisch) 
bringt    200   Jahre    bei    der    Fata   Morgana    (Fee    Seeweib)    zu, 
welche  ihn  durch  einen    auf  das  Haupt  gedrückten  Kranz  alles 
versessen    machte.     Nicht    allzu    weit    ab    steht   auch    die    Saoje 
\oi\  .Odysseus  (Odhinn,  Wuotan),  *    welcher   acht  Jahre    bei    der 
holden  Nymphe  Kalypso  (Halja,  Hellia,  Hei  —  Krimhilde)  und  ein 
Jahr  lang  bei  der  halbgöttlichen  Zauberin  Kirke  (Herka,  Zisa?**) 
zubrinot,    ähnlich  wie  etwa  Wuotan    bei  der  schönen  Gunnlödh 
11.  s.  w.    Aus  alledem  erhellt,  dafs  die  Sage  nicht  nur  deutsch, 
germanisch  ist,    sondern    sie  ist  indogermanisch ;    sie    ist    später 
treffend  auf  den  Kampf  des  Christentums   mit    dem  Heidentum 
angewandt  worden.  —  Der  Begriff  von    „in   den    Berg   (Grab- 
hügel) gehen"  =  „sterben"  rührt  nicht  unmittelbar  an  das  Bereich 
der  Tannhäusersage,   wenn  auch  einige  Verwandtschaft  besteht. 
Hinoeo-en  bietet  jenen  Gedanken  voll  und  ganz  die  anklingende 
Sage  vom  Schwanenritter :    Dieser,  längst  von  der  Oberwelt  ge- 
schieden,   wird    von  dem  bergentrückten  König  Artur  (Arturus, 
Artus)   aus    dem    hohlen   Berge   gesandt,    wo   er    bei   Juno    und 
Felicia  lebte ;    der   keltische  Artus    ist   in    allen   auf  ihn  bezüg- 
lichen   Sagen    leicht    als    völlig    unserem    Wuotan    entsprechend 
zu  erkennen,  Juno  ist  gleich  der  Venus  unsere  Fria  =.  Holda, 
und    Felicia    wiederum    Fortuna,    Salida    (Saide).      Im    Parcival 
wird  der  Eitter  von  dem  geheimnisvollen   Graal**'^   ausgesandt, 
und   hier   begegnet   für    den   unheimlichen   Kämpfer    der   Name 
Lohengiin    (Loherangrin;    d.   i.    Flammenhelm    oder    Flammen- 


*  Der  Name  Odhinn,  Otan,  Wuotan  bezeichnet  den  „  Wilddurclidrin- 
ffenden,  Wütenden^,  und  ganz  ebenso  Odysseus  den  „Zi/rnendoi*',  letzteres 
in  der  Odyssee  insbesondere  mit  Bezug  auf  die  heftige  Gemütserregung 
gegen  die  unverschämten  Freier  aufgefafst.     Ulysses? 

**  Herka  oder  Zisa  ist  die  Gattin  des  Schwertgottes  Ziso  (Zio)  = 
Heru  =  Saxnot.  In  ihrem  Berge  oder  Steine  (Harkenstein  oder  Hirken- 
stein  im  Ilavellande)  wohnen  die  Unterirdischen,  d.  i.  Zwerge.  Diese 
Göttin  scheint  sowohl  dem  Namen  als  dem  Wesen  nach  ganz  obiger  Kirke 
zu  entsprechen. 

***  Darf  dieses  sachliche  Wort  an  eine  Person,  den  wisterhlicU  lebenden 
Grcdent,  gemahnen  V  Welcher  Ausdruck  würde  von  dem  anderen  ent- 
lehnt sein? 


KyOhäuser,  TaniiLäuser,  Rattenfänger.  199 

geeicht?).    80  spinnen   sich  Faden  auf  Faden  unendlich  fort  in 
Menschen-,  Helden-  und  Göttergeschichte. 

Aber  alle  diese  angeführten  Beispiele  der  Ähnlichkeit  müssen 
zurücktreten  gegen  die  bedeutsame  Berührung  der  Tcuüihäuser- 
sage  mit  obiger  Sveglirsage.  König  Svegdir  hat  so  grofse  Ähn- 
lichkeit mit  Tannhäuser,  welcher  der  Venus  Wunder  zu  schauen 
trachtet,  dafs  man  geneigt  ist,  ihn  als  Urbild  für  diesen  zu 
nehmen;  denn  seine  Sage  scheint  wirklich  nur  eine  plumpere 
Darstellung  des  Ur-Tannhäuser  zu  sein.  Die  Ähnlichkeit  ist 
so  grofs,  dafs  sogar  der  Zwerg  der  Svegdirsage  sein  P^benbild 
in  der  Tannhäusersage  hat:  Es  ist  Eckhart  (Eginhart)  der  Ge- 
treue, welcher  nicht  nur  dem  wütenden  Heere  voranschreitet, 
sondern  auch  als  Hüter  an  dem  Venusherge  sitzt;  er  ist  gleich- 
falls als  Zwero"  aufzufassen.  Wenn  es  allerdino^s  in  der  Sao-e 
von  ihm  heifst:  er  sitze  vor  dem  Venusberge,  um  die  Leute 
zu  warnen,  hineinzugehen,  so  ist  das  lediglich  christliche  Ände- 
runo: des  alten  Zuges. 

Nun  noch  einige  betrachtende  Worte  über  den  Namen 
Tannhäuser,  welcher  in  mannigfachen  Abweichungen  vorkommt, 
als:  Tanhuser,  Tanhauser,  Tanheuser,  Tannhäuser,  Danhuser, 
Dannhuser,  Dannhauser,  Danhewser,  Danhäuser;  dänisch:  Da- 
nyser;  im  holländischen  Liede  wird  der  Name  zu  Danielken 
verstümmelt  (was  wohl  entlehnt  ist  von  einem  am  Hofe  des 
Königs  Artus  vorkommenden  Daniel).  Die  erste  Silbe  des 
Wortes  hat  schwerlich  etwas  mit  Tanne,  Tann  zu  schaffen, 
wenngleich  einige  Orts-  und  Familiennamen  dahinweisen  könnten. 
Walter  Scott  bietet  uns  ein  schottisches  Volkslied  von  des  Tam- 
lane  Aufenthalt  bei  den  Elfen  (Eiben)  und  seiner  späteren  Er- 
lösunoj.  Ob  dieser  keltisch  klinojende  Name  selbständig:  oder 
dem  deutschen  nachgebildet  isti^  An  König  Dan  (Danr), 
den  Ahnherrn  der  Dänen,  welcher  bei  seiner  Bers^entrückun": 
das  Rofs  gesattelt  bei  sich  behalten  wollte,  darf  wohl  kaum  ge- 
dacht werden  (?),  noch  weniger  jedenfalls  an  die  rätselhafte 
deutsche  Göttin  Tanfana  (Tamfana?),  welche  der  germanisch- 
skythischen  Tahiti  (Tambiti?)  zu  entsprechen  scheint.  Versuchen 
wir  eine  andere  Deutuno;: 

Aus  der  Ähnlichkeit,  besser  Gleichheit  der  Svegdir-  und 
Tannhäusersage  geht  hervor,  dafs  der  Zwerg  Eginhart  das  Amt 
eines  Heroldes  sowohl  hei  Wuotan  versieht,   indem    er    die  Thüre 


200  Kyffhäuser,  Tannbäuser,  Rattenfänger. 

zum  Steine  vor  Unberufenen  hütet  und  die  GUuibigen  hinein 
weist,  als  auch  bei  Frau  Holda,  indem  er  in  gleicher  Eigenschaft 
vor  ihrem  Berge  sitzt  und  aufserdem  noch  dem  von  der  hohen 
Göttin  geführten  Zuge  mit  weifsem  Stabe  vorausgeht.  Aus  dem 
o-emeinsamen  Herolde  ist  man  auf  einen  gemeinsamen  Aufenthalt 
des  göttlichen  Ehepaares  im  sogenannten  Venusherge  zu  schliefsen 
berechtigt.  Was  ist  auch  natürlicher,  als  diese  beiden  waltenden 
Urwesen  der  deutschen  Göttersage  vereint  zu  denken?  Wie, 
wenn  der  Berg,  in  welchem  der  „Alte  vom  Berge,  Herrscher 
der  Tiefe"  mit  seiner  schönen  Gemahlin  Fria  haust,  den  Namen 
Wuotanshäuser  geführt  hätte  als  Brudernamen  des  KyfFhäuser? 
Nach  dem  Breviarium  des  Lullus  hat  es  einen  alten  thürin- 
o-lschen  Ort  Wiidaneshusun^  Woteneshusun*  gegeben,  und  merk- 
würdiorerweise  heifst  noch  heutzutao;e  ein  Ort  in  der  Nähe  des 
Hörselbergea  Wutha,  was  an  jenen  erinnern  mufs,  wenngleich 
mir  keine  ältere  Namengestalt  aus  der  Zwischenzeit  vorliegt. 
Aufser  diesem  thüringischen  Wotaneshusun  scheint  es  noch 
andere  süddeutsche  Orte  des  Namens  Wotanhusen,  Otanhusen 
oder  sonstwie  gegeben  zu  haben,  wo  dann  unter  Verschluckung 
der  ersten  Silbe  eine  Umwandlung  in  Tanhausen^  oder  mifs- 
verstanden:  Tannhausen,  stattgefunden;  so  liegt  ein  Thannhausen 
in  Bayeriech-Schwaben.**     Auf  diese    Weise    würde    auch   der 


*  Ein  Ort  im  Triererlande  läfst  sich  vergleichen :  OtzenJiausen,  welchen 
ich  als  Wuotan-Stätte  nachgewiesen  habe;  er  entspricht  als  Olaneshusun 
genau  dem  thüringischen  Wotaneshusun.  Der  sonst  ungewöhnliche  Wegfall 
des  W  gleich  dem  Nordischen  (Odhinu),  wie  er  auch  schon  oben  beim 
Odenberg  begegnete,  mufs  trotz  vielfachen  AViderspruches  einem  deutschen 
Stamme,  und  zwar  einem  Teile  der  Alemannen,  eigen  gewesen  sein.  Ein 
Otzherg  (=  Otanesperac)  liegt  im  Darnistädtischen,  ein  Üttenhausen  hei 
Saarbrücken,  Ottweiler  bei  JSt.  Wendel,  Odenbach  in  der  Pfalz  u.  s.  w., 
des  Odenwaldes  nur  flüchtig  zu  gedenken. 

*  Die  süddeutsch-österreichischen  (fränkisch-schwäbischen)  Adelsfamilien 
von  Tanliusen  können  sich  nach  solchen  Orten  benannt  haben.  Aber  nicht 
anzunehmen  ist,  dafs  der  sagenhafte  Tannhäuser  in  irgend  welcher  Beziehung 
zu  diesen  Familien  steht.  —  Das  Geschlecht  des  grofsen  bayerischen  Feld- 
herru,  die  Freiherren  von  und  zu  der  Tann  gehören  einem  altadeligen  Ge- 
schlechte Frankens  an;  Stammsitz  ist  das  Schlofs  Tann  an  der  Rhön,  beim 
Städtchen  gleichen  Namens  gelegen.'  Der  Familienname,  welcher  bis  etwa 
zur  Reformationszeit  Than  geschrieben  ward,  kommt  schon  viel  früher  in 
der  deutschen  Geschichte  und  sogar  in  der  Sagengeschichte  vor.  Ein  Than 
soll  unter  Karls  des  Grofsen  berühmtem  Paladin  Roland  (Rutland)  gekämpft 
haben,  ein  anderer  Than  hat  in  der  Schlacht  auf  dem  Lechfelde  gegen  die 
Ungarn  gestritten.  Ilaben  wir  vielleicht  auch  hier  eine  Kürzung  des 
Namens  Wuotan  —  aus  heiliger  Scheu,  weil  sich  vollständig  nach  Götter- 
nameu  zu  benennen  für  einen  Frevel  erachtet  ward? 


Kyffhäuser,  Tannhauser,  Rattenfänger.  201 

Name  Tanhäuser  als  Wotanhäiiser  gefafst  werden  können,  also 
eigentlich  Tanhäuser  auszusprechen  sein. 

Der  edle  fränkische  Ritter,  dessen  Name  nicht  erhalten  zu 
sein  scheint,  kehrte  von  dem  unvolkstümlichen  fremden  Chrlsten- 
gotte  zum  alten  Götterreiche,  zu  seinem  altgeliebten  AVuotan 
und  dessen  schöner  Gemahlin  zurück  und  erhielt  im  Volks- 
munde, als  die  Thatsache  zur  Sage  umgebildet  war,  den  Bei- 
namen „der  Wuotanhäuser",  d.  i.  der  Abtrünnling,  welcher  im 
Wuotanhäuser  Berge  orewesen  ist. 

Und  wo  bleibt  der  Rattenfäno;er  von  Hameln?  wie  wäre 
dieser  zu  deuten  und  in  Verbindung  mit  dem  Bisherigen  zu 
bringen?  Stellen  wir  die  Hauptzüge  dieser  seltsamen  Sage  zu- 
sammen: Im  Jahre  1284  am  Tage  Johannes  und  Paulus, 
26.  Juni,  war  es  nach  urkundlicher  und  inschriftlicher  Über- 
lieferung, dafs  ein  buntgekleideter  Sjyielmann  130  Hamelnsche 
Kinder  in  den  Calvarien-  oder  Coggenherg  geführt  hat.  Das 
kam  aber  so:  Die  Stadt  war  von  Ratten  und  Mäusen  schwer 
heimgesucht.  Da  erschien  ein  fremder  Pfeifer  und  erbot  sich, 
die  immer  ernster  werdende  Plage  zu  beseitigen.  Er  blies  so 
wunderbare  Welsen  auf  seiner  Pfeife,  dafs  alle  Ratten  und 
Mäuse  hinter  ihm  herliefen  und  ihm  bis  in  die  Weser  nach- 
folgten, wo  sie  ertranken.  Als  man  nun  aber  dem  Fremdling 
den  bedungenen  Lohn  nicht  auszahlte,  erschien  er  am  nächsten 
Sonntag,  als  gerade  alle  Erwachsenen  in  der  Kirche  waren, 
wieder,  in  Jägertracht  mit  rotem  Hute  und  schrecklichem  An- 
gesichte. Er  blies  so  herzbewegend  in  den  Gassen,  dafs  alle 
Kinder  ihn  folgten.  JEr  führte  sie  zum  Osterthor  hinaus  an  den 
Fufs  eines  Berges,  icelcher  sich  aufthat,  und  In  welchem  er  mit 
ihnen    verschwand.      Nach    anderer,    etwas    älterer   Fassung    der 


Sage  hatte  der  Rattenfänger  auch  die  Ratten  und  Mäuse  in 
den  Berg  geführt.  —  Dies  ist  die  Sage  in  abgerundeter  Voll- 
eudung,  wie  sie  etwa  gegen  Ende  des  16.  Jahrhunderts  ihre 
Gestalt  erlangt  haben  mag,  während  die  älteste  überlieferte 
Nachricht,  welche  nur  ganz  kurz  in  lateinischer  Sprache  die 
nackte  Thatsache  ohne  jede  Erwähnung  des  Unglücksfiilles  be- 
richtet, frühestens  aus  dem  14.  Jahrhundert  stammt.  Was  auf- 
fällig erscheint  und  ein  höheres  Alter  der  Sage  in  Frage  stellen 
könnte,  Ist  der  Umstand,  dafs  diese  an  eine  bestimmte,  im 
Verhältnis    jüngere    Zeit,    spgar   an   Jahr    und    Tag     gebunden 


202  Kvd'häuser,  Tunnhüuser,  Rattenfänger. 

scheint.*  Aber  man  bedenke,  bei  wie  vielen  uralten  Sagen  wir 
dasselbe  haben ;  man  erwäge  nur  die  Tellsage,  Winkelriedsage 
und  viele  andere,  man  denke  auch  an  die  Übertragung  nebel- 
hafter Göttersagen  auf  Menschen,  sogar  neuerer  Zeit,  vor  allem 
an  unsere  besprochenen  Wuotan-Karl-Friedrich- Sagen.  Was 
aber  offenbar  und  unzweifelhaft  der  Rattenfänorersaiie  den  Be- 
weis  des  Alters  liefert,  ist  der  Umstand,  dafs  dieselbe  ganz 
oder  teilweise  auch  in  anderen  Gegenden  vorkommt,  ohne  dafs 
eine  Entlehnung  angenommen  werden  kann.  So  treffen  wir  den 
Pfeifer,  welcher  die  Kinder  entführt,  auch  im  Harze  an  unter 
der  Gestalt  eines  Dudelsackbläsers,  welcher  von  Haus  zu  Haus 
zieht ;  in  jedem  Hause,  vor  welchem  er  pfeift,  stirbt  ein  junges 
Mädchen  und  folfj:t  ihm,  bis  er  fünfzio;  Mädchenseelen  im  Ge- 
foloje  hat.  Ahnliches  erzählt  man  an  vielen  Orten  Mittel-  und 
Süddeutschlands.  In  der  Wormser  Sage  vom  Lorscher  See 
werden  nach  manchen  anderen  Plao^en  zuletzt  die  Seelen  der 
Kinder  von  dem  Spielmanne,  welcher  als  Bergmännchen,  Zwerg, 
auftritt,  entführt.  Auffallend  gleich  ist  auch  eine  keltische  Sage, 
wenn  gestattet  ist,  solche  hier  anzuwenden :  Zu  Belfast  in  Irland 
erzählt  man  von  einem  Dudelsackpfeifer,  welcher  die  Kinder  in 
einen  sich  von  selber  öffnenden  Berg  lockt.  Man  sieht,  wie  der 
Hauptzug  sich  überall  gleich  bleibt,  bedeutsam  für  die  Behaup- 
tung sprechend,  dafs  die  Erzählung  dem  grauen  Alter  der 
Saorenzeit  angehört. 

Wir  wollen  nunmehr  die  Sas^e  zerfrliedern:  Der  der  heu- 
tigen  Fassung  derselben  unentbehrliche  erste  Teil,  die  Ratten 
und  ihre  Beseitio^uno*  fehlt  in  den  älteren  Berichten  voUständio; 
und  taucht  erst  später  ganz  plötzlich  als  eigenartiger  Zusatz 
auf.  Noch  ein  Hamelner  Stadtbuch,  die  jüngere  „Brade"  ge- 
nannt, welche,  für  die  Vergangenheit  auf  der  „älteren  Brade" 
fufsend,  gegen  Ende  des  16.  Jahrhunderts  niedergeschrieben 
worden  ist,  erzählt  in  einfacher  Weise  also:  „Anno  1284  am 
dage  Joannis  et  Pauli,  ist  der  26te  dach  des  mantes  jünii  ge- 
wesen, sint  durch  einen  Piper,  so  mit  allerleige  varve  bekledett, 
einhundert  und  drittich  kinder,  in  Hamelen  geborn,  uth  der 
stadtt  gebracht    unde    up    den    koppen    by  Calvarie  buthen  dem 


*  Haben  wir  doch  erst  kürzlich  gesehen,  wie  in  Hameln  das  GOOjährige 
Erinnerungsfest  grofsartig  begangen  worden  ist. 


Kyffbäuser,  Tannhäuser,  Rattenfänger.  203 

oisterdore  verbracht  unde  verloren."  Man  sieht,  dafs  von  Ratten 
keine  Spur  ist.  Nun  begegnen  in  der  Volkssage  unter  der 
Gestalt  der  Mause,  vielleicht  auch  der  nahestehenden  Ratten,* 
vielfach  die  Seelen  der  IMenschen,  wie  u.  a.  die  bekannte  Hatto- 
sage,  sowie  die  zahlreichen  Ilexensagen  beweisen.  In  der 
Hamelner  Märe  könnte  uns  also  ein  Zug  unter  zwei  verschie- 
denen Bildern  vorliegen,  welche  späterhin  deutelnd  verknüpft 
wurden ;  die  ältere  Fassung  der  Sage  würde  dann  dahin  lauten, 
dafs  die  Kinder  unter  der  Gestalt  der  Mäuse  oder  auch  Ratten 
entführt  wurden. 

Der  Name  des  Hamelner  Berges  Coggenhergy  wofür  auch 
Kockenberg,  dürfte  an  den  vorerwähnten  sagenhaften  Gucken- 
berg  erinnern ;  jedoch  begegnet  auch  Koppenberg  und  sogar 
Kopffelberg,  Köpffenberg.  Er  ist  zweifelsohne  ein  Götterberg 
und  geht  daneben  in  den  Begriff  eines  Totenberges,  der  Unter- 
welt über,  wie  denn  die  Rattenfängersage,  entgegen  den  meisten 
bisherigen  Sagen,  nahe  an  die  Totensagen  rührt.  Wer  ist  nun 
der  Spielmann,  Pfeifer,  Dudelsackbläser,  Rattenfänger?  Ent- 
weder ein  seelenhaschender  Abgesandter  eines  Gottes,  einer 
Göttin,  Wuotans,  der  Fria,  wie  das  Bergmännchen,  der  Zwerg 
in  der  Wormser  Sage  —  oder  vielleicht  der  o-rofse  Wuotan 
selber,  welcher,  wie  wir  gesehen,  eifrig  trachtet,  sein  Reich 
durch  immer  neue  Seelengewinnung  zu  stärken.  Manches  dieser 
Anschauung  ist  auf  den  jüngeren  Tod  übergegangen,  welcher 
gleich  Wuotan  zu  Rosse  erscheint  und  die  Seelen  auf  dasselbe  setzt. 

Wesentlich  ist  in  der  Rattenfängersage  die  zauberhafte, 
wunderbar-mächtige  Wirkung  der  Musik,  durch  welche  die 
Seelen  in  das  geheimnisvolle  Reich  gelockt  werden.  Schon  bei 
Holda    trafen    wir    denselben   Zug.     Von    Wuotan   heifst   es    in 


o' 


der  „Heimskringla":  „Odhinn  wufste  auch  von  allen  in  der 
Erde  verborgenen  Schätzen,  und  er  verstand  die  Lieder^  durch 
icelche  die  Erde,  die  Berge  und  Steine  und  Grabhügel  sich  öffneten;'^ 
auch  das  wunderkräftige  Hörn  des  Alps  oder  Zwerges  Alberich 
=  Oberon,  icelches  alles  tanzen  macht,  gehörte  ursprünglich  dem 
obersten"  Gotte  an.  Bekanntlich  begegnet  der  Tod  gleichfalls 
als     munterer    Spiehnann    und     führt     einen    einnum  wirbelnden 


*  Vielleicht  sind  die  Ratten  nur  durch  Mifsverständnis,  vielleicht  auch 
durch  die  Verstümmelung  des  Eigennamens  des  Trägers  der  Sage  zu  „Ratten- 
fänger" in  die  Sage  gekommen? 


204  KyÖ'häuser,  Taunhäuser,  Rattenfänger. 

Reigen,  den  Totentanz^  auf,  um  sich  durch  Pfeifen  und  Geigen 
Gefolgschaft  zu  werben.  Die  Redart  „auf  dem  letzten  Loche 
pfeifen"  für  „sterben"  ist  entstanden  aus  dem  Gedanken,  dafs 
der  Tod,  oder  umschreibend  der  Sterbende  selber,  die  Töne 
auf  der  Flöte  herunterspielt,  bis  mit  dem  letzten  Loche  der 
letzte  Klang  verhallt,  und  der  Mensch  dem  Tode  anheim- 
gefallen ist. 

In  dem  Büchlein  „Der  historische  Kern  der  Rattenfänger- 
sage, von  Dr.  Otto  Meinardus"  sucht  der  Verfasser  die  Sage 
herzuleiten  aus  der  Tanzwut,  dem  Veitstanze  (St.  Vitus?), 
welche  zu  grofsarti^en  Wandertänzen  ausartete  und  zahlreiche 
Opfer  kostete.  Das  hat  eine  grofse  Wahrscheinlichkeit  für  sich 
und  kann  leichtlich  der  Ursprung  der  Rattenfängersage  sein. 
Aber  auch  dies  angenommen  —  als  die  Sage,  an  eine  be- 
stimmte geschichtliche  Thatsache  anknüpfend,  ausgebildet  ward, 
verschmelzte  man  sie  mit  den  älteren  volkstümlichen  An- 
schauungen, welche  im  unverwüstlichen  Heidentum  wurzelten. 
Der  Grundzug  der  Sage  ist  uralt;  dagegen  ist  nicht  anzu- 
kämpfen. 

Und  nun  zum  Schlüsse:  Man  sieht,  dafs  allen  drei  grofsen 
Sagen,  der  mit  der  Odenbergsage  zusammenfallenden  Kyffliäuser- 
sage^  sowie  der  Tannlülusersage  imd  der  Rattenfänger  sage  ein 
einziger  grofsartiger  Gedanke  innewohnt:  die  Hoffnung  auf 
Wiederkehr  des  zurücJcgedrängten  Heidenreiches!  Wenn  wir  nun 
dieses  auch  trotz  aller  christlichen  Konfessionswirren  jetzt  nicht 
mehr  herbeisehnen  wollen  und  können,  so  dürfen  wir  doch  ge- 
trost ausrufen :  O  käme  die  Zeit  des  alten,  ungetrübten  deut- 
schen Volkstums  wieder  und  machte  der  Kläglichkeit  des  zer- 
setzenden politisch-religiösen   Welschtums   für   immer  ein  Ende! 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 


Internationale  Zeitschrift  für  allgemeine  Sprachwissenschaft. 
Herausgegeben  von  Dr.  F.  Techmer,  Dozent  der  allgem. 
Sprachwissenschaft  an  der  Universität  Leipzig.  I.  Band. 
Leipzig,  Joh.  Ambr.  Barth. 

Über  die  Entwickelung  dieses  höchst  beachtenswerten  Unternehmens 
berichtet  Herausgeber  S.  XII:  Durch  seinen  eigenartigen  Studiengang  wurde 
er  von  der  Philosophie  und  Naturwissenschaft  zu  der  Sprachwissenschaft 
geführt.  Zunächst  widmete  er  sich  den  neueren  Sprachen,  namentlich  wäh- 
rend eines  fünfjährigen  Aufenthaltes  in  Frankreich,  England  und  Italien ; 
später  der  historisch-vergleichenden  Sprachwissenschaft  und  der  Sprachen- 
kunde. So  entwickelte  sich  das  folgende  Programm  für  seine  sprach- 
wissenschaftliche Thätigkeit: 

Begriff  (weiterer  der    Ausdrucksbewegungen,    engerer   der   artikulierten 

Sprache),  Geschichte,  Methode  (induktive)  der  Sprachwissenschaft.  Einteilung: 

I.  Naturwissenschaftliche    Seite  (Beziehungen  zur  Anthropologie). 

1.  Akustische  Ausdrucksbewegungen  {Phonetik).    Physikalisches.    Ana- 

tomie, Physiologie,  Pathologie  des  gesamten  Sprachorgans  und 
Ohres.  Artikulationsstörungen.  Taubstummheit.  Physiologische 
Erklärung  des  Laut-  oder  vielmehr  Artikulationswandels  und  der 
Lautgesetze  in  ihrem  steten  Wirken. 

2.  Optische    Ausdrucksbewegungen    {Graphik).     Physikalisches.     Ana- 

tomisches. Physiologie  der  Mimik,  der  Gesten  (besonders  der  der 
Taubstummen),  der  Schrift.  Pathologie  der  Schrift.  Tastbare  Aus- 
drucksbewegungen.    Blindenschrift.     Laura  Bridgmans    Fall   u.  ä. 

3.  Gegenseitiges  Verhalten    der  akustischen   und  optischen  Ausdrucks- 

bewegungen.    Methodik  des  Taubstummenunterrichts.    Die  Schrift 
unabhängig  vom  Laut   und  im  Dienste  desselben.     Orthoepie   und 
Orthographie.     Principien  der  Transskription.     Psychologisches. 
II.  Psychologische    Seite    {Psychik) .      Beziehungen  zur  Psycholotjie. 
AVechselwirkungen  zwischen  Sprache  und  Seele.    Die  psychologischen 
Vorbedingungen  und  Gesetze  der  Entwickelung  (Erzeugung  und  Ver- 
änderung) von: 

1.  Artikulation  (Artikulationssymbolik  und  -Verschiebung), 

2.  Laut  (Lautpsychologie  und  -Verschiebung), 

3.  Wurzel  (Definition  derselben), 

4.  Wort  (Semasiologie  und  Bedeutungswandel), 

3.  Satz  (vergleichende  Syntax  inkl.  der  der  Taubstummensprache). 


206  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Dem     entsprechend    die    Psychologie    der   optischen    Ausdrucks- 
bewegungen. 

Analogie.  Wichtigkeit  der  Psychik  für  die  etymologische  For- 
schung. Ideologische  Beiträge  um  so  mehr  wünschenswert,  als  diese 
Seite  gegenüber  der  naturwissenschafi liehen  und  historischen  bisher 
zu  sehr  vernachlässigt  oder  vorwiegend  a  priori  behandelt  worden, 
und  die  Resultate  letzterer  Methode  sich  bei  den  aufsenstehenden 
Kreisen  einzubürgern  anfangen. 
IlL  Historische  Seite  (Iflstorit). 

1.  Plii/lof/enetische  Entwickelung  der  Sprache. 

TJrsprung  und  vorhistorische  Entwickelung.  Sprachwissenschaft 
und  Darwinismus.  Beziehungen  zur  Mythologie.  Historische  Ent- 
wickelung. Historisch- vergleichende  Methode.  Beziehungen  zur 
Ethnographie.  Begriff  der  Tochter-  und  Mischsprache,  der  Mund- 
art und  Schriftsprache,  der  Sprachfamilie  und  (\'olks-)Sprache. 
Charakteristik  der  Sprachen  in  ihren  verschiedenen  Entwickelungs- 
phasen.  Grammatik  und  Wörterbuch.  Merkmale  der  relativen 
Vollkommenheit:  Einheit  und  Gliederung  (funktioneller  Wert  der 
Glieder  in  Rede,  Satz,  Wort  und  Laut). 
Sj)racJienl'unde. 

Einteilung  der  Sprachen;  naturwissenschaftliches  (phonetisches), 
psychologisches,  historisches  Princip.  Ungebildete  und  gebildete, 
lebende  und  tote  Sprachen.  Sprachwissenschaft  und  Philologie; 
Paläontologie.  Die  ungebildeten  und  lebenden  Sprachen  hier  be- 
sonders zu  berücksichtigen.  Die  Missionare  und  Sprachlehrer  zu 
überzeugen,  dafs  sie  in  vieler  Beziehung  gemeinsame  Interessen 
mit  den  Sprachforschern  haben.  Nach  jeder  Seite  Erweiterung 
der  induktiven  Grundlage  zu  erstreben. 
•2.   Ontologische  Entwickelung  der  Sprache. 

Kindersprachen.     Erlernung   der   Muttersprache    (\'ergleicliung 
mit  den  verwandten  Mundarten)  und  fremder  Sprachen.    Metho'lik 
des    Sprachunterrichts.      Streben    des     Individuums    zum    Ganzen 
(Genus).    Sprache  und  Menschheit.    Ideen  einer  Universalsprache 
und  -Schrift. 
Zur  Ausführung  dieses  Programms  begann  der  geschätzte  Herausgeber 
mit  dtr  naturwissenschaftlichen  Seite    und    veröffentlichte   als  I.  Band   einer 
„Einleitung    in    die    Sprachwissenschaft:     Die     akustischen    Aus- 
drucksbewegungen"  (Phonetik)  in  zwei  Teilen,  1880,  ein  treffliches  Werk, 
welches   im   Archiv  LXVI,  107    besprochen   und    als    vollständigstes    Reper- 
torium  zur  vergleichenden  Physiologie    der  Stimme   und  Sprache   anerkannt 
worden  ist.     Bei  weiterer  Arbeit  sah  Herausgeber,  dafs  zur  Ausführung  des 
obigen  Programms   die   Kraft    eines    einzelnen   ni(dit   ausreichend    sei,    „dafs 
es  des  Zusammenthuns  vieler  Forscher,    womöglich   aller  Nationen    bedürfe, 
dafs  Teilung;    der  Arbeit    und    doch   wieder   Einheit   des    Planes   notwendig 
seien".     So    entwickelte   sich   der  Gedanke   der  Internationalen   Zeit- 
schrift    für     allgemeine    Sprachwissenschaft    und    der    folgende 
Plan  dazu : 

„Die  Internationale  Zeitschrift  für  allgemeine  Sprachwissenschaft  er- 
scheint in  Heften  von  je  ca.  l.ö  Bogen  Roy.-S*^  zum  Abonnementspreise  von 
12  Mark  für  den  Band  von  zwei  Heften,  welche  letztere,  soweit  als  thun- 
lich,  je  halbjährlich  ausgegeben  werden  sollen.  Aufser  Originalarheiten  in 
deutscher,  englischer,  französischer,  italienischer,  lateinischer  (fjanz  aus- 
nahmsweise auch  in  anderer)  Sprache  werden  Abdrücke  oder  Übersetzungen 
wichtiger,  aber  schwer  zugänglicher  Abhandlungen,  Auszüge,  Besprechungen, 
Bibliographie,  Mitteilungen  und  buchhändlerischo  Anzeigen,  aufserdem  in 
jedem  Bande  das  Bild  eines  der  Hauptvertreter  der  Sprachwissenschaft,  zu- 
nächst das  von  W.  v.  Humboldt,  geboten  werden." 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  207 

„Die  Zeitschrift  soll  rein  der  Wissenschaft  dienen  ohne  Rücksicht  auf 
Nationalität,  Partei  oder  Schule.  Gegensätze  in  den  Ansichten  werden  nie 
ganz  zu  vermeiden  sein ;  sind  sie  ja  doch  ein  Zeichen  des  Lebens  in  der 
Wissenschaft  und  eine  Bedingung  ihres  Fortschritts.  Doch  sollte  in  jeder 
wissenschaftlichen  Kritik  Urbanität  herrschen  und  im  internationalen  Verkehr 
mehr  als  das;  hier  ist  Humanität  notwendig." 

Auf  Grund  dieses  Plans  und  des  obigen  Programms  haben  die  berühm- 
testen Sprachforscher  ihre  Mitarbeit  zugesagt,  die  Uauptvertreter  der  aU- 
gemeinen  Sprachwissenschaft,  der  einzelnen  Teile  derselben  und  der  nächst 
verwandten  Wissenschaften. 

Des  ersten  Bandes  erste  Hälfte  erschien  mit  Anfang  1884.  Das  neue 
Unternehmen  ist  vielerseits  besprochen  worden  und  hat  nach  dem  vom  Ver- 
leger versandten  Auszug  der  Besprechungen   reiche  Anerkennung  gefunden. 

Die  zweite  Hälfte  des  ersten  Bandes  ist  Ende  1884  herausgekommen. 
So  sind  wir  nunmehr  im  stände  zu  prüfen,  wie  weit  der  abgeschlossene 
erste  Band  dem  Programm  entspricht.  Wir  halten  uns  dabei  Schritt  für 
Schritt  an  die  Disposition  des  Herausgebers. 

Zur  Geschichte  der  Sprachwissenschaft  hat  Pott  Beiträge  geliefert  mit 
seiner  „F^inleitung  in  die  allgemeine  Sprachwissenschaft"  S.  1 — 6S,  329 — 354. 
I.  Über  die  naturwissenschaftliche  Seite,  und  zwar 

1.  Über     die     akustischen    Ausdrucksbewegungen     handelt     Techmer: 

„Naturwissenschaftliche     Analyse     und     Svnthese      der     hörbaren 
Sprachen"  S.  69—170. 

2.  Über  die  optischen  Ausdrucksbewegungen  Mallery :    Sign  Langua<ye 

S.   193  —  210. 

3.  Über   das   gegenseitige  Verhalten  beider,    besonders  über  die  Prin- 

cipien    der    Transskription   Techmer:    „Transskription   mittels    der 
lateinischen  Kursivschrift.     Vorschlag  zum  möglichst  einheitlichen 
Gebrauch  in  der  internationalen  Zeitschrift"  S.   171  —  192. 
n.  Die     psychologische     Seite,     namentlich     des    Wortes,    erörtert 
W^  V.  Humboldt:  „Grundzüge  des  allgemeinen  Sprachtypus.    Wörter- 
vorrat"    S.    383—411.      Die    Analogie    Kraszewski:    „Principien    der 
Sprachentwickelung"  S.  295 — 307. 
ni.  Historische  Seite. 

1.  Phylogenetische  Entwickelung  der  Sprachen. 

\  orhistorische  Entwickelung,  Sayce :  The  Person-endings  of 
the  Indo-european  verb  S.  222—225.  Beziehungen  zur  Älytho- 
logie:  Max  Müller,  „Zephyros  und  Gahusha"  S.  215—217.  Mund- 
art: Lundell,  „Sur  Tetude  des  patois"  S.  308—328. 

Sprachenkuncle:  v.  d.  Gabelentz,  „Zur  grammatischen  Beurtei- 
lung des  Chinesischen"  S.  272 — 280.  Himly,  „Über  die  einsilbigen 
Sprachen  des  südöstlichen  Asiens"  S.  281  —  294.  RadlofF,  „Zur 
Sprache  der  Komanen"  S.  377  —  382.  Donner,  „Über  den  Einflufs 
des  Litauischen  auf  die  finnischen  Spraclien"  S.  257  —  271.  Bruo-- 
mann,  „Zur  Frage  nach  den  Verwandtschaftsverhältnissen  der 
indogermanischen  Sprachen"  S.  226  —  256. 

Einteilung  der  Sprachen:  Adam,  „De  la  categorie  du  genre« 
S.  218-221. 

2.  Ontologische   Entwickelung    der    Sprache.      Methodik   der   Sprach-, 

specieller  des  Leseunterrichts:  RadlofF,  „Lesen  und  Lesen  lernen" 
S.  355  —  376. 
W^ir  erkennen  somit,  dafs  der  erste  Band  den  einzelnen  Teilen  des 
Programms  in  voller  Weise  gerecht  wird;  niemand  könnte  verlangen,  dafs 
er  es  erschöpfen  sollte.  Das  ist  ein  Ideal,  welchem  sich  die  Zeitschrift 
erst  in  weiterer  Folge  nähern  kann,  wozu  wir  ihr  gedeihlichen  Fortgang 
wünschen. 

Die  Beiträge  des  ersten  Bandes  sind  zumeist  in  deutscher,  zum  Teil  in 


208  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

englisclier  und  französisclier  Sprache  verfafst;  von  den  A'erfassern  sind  bel- 
gische Unterthänen  1,  deutsche  6,  englische  2,  französische  1,  österreichische  1, 
russische  3,  schwedische  1,  amerikanische  der  Vereinigten  Staaten  2.  Die 
Zeitschrift  ist  also  in  Wirklichkeit  eine  internationale.  Wir  zählen  15  Ori- 
(/inalarbeiten.,  1  Abdruck  eines  Huniboldtschen  Manuskripts,  1  Uehersetznng 
aus  dem  Schwedischen  ins  Französische  und  3  Besprechungen.  Hoffentlich 
werden  die  Mitarbeiter  der  Bitte  des  Herausgebers  um  periodische  Berichte 
und  gruppenweise  Besprechungen  (S.  416)  Gehör  geben.  In  seiner  Biblio- 
graphie des  Jahres  1883  berichtet  Herausgeber  zuerst  über  Sammelwerke, 
Zeitschriften  u.  dergl.;  er  bespricht  dann  93  Einzelwerke  nach  der  alpha- 
betischen Reihenfolge  der  Verfasser.  Aus  dem  Rückblick,  in  welchem 
diese  Werke  nach  dem  Inhalt  übersichtlich  geordnet  werden  (S.  499  f.), 
ersehen  wir,  dafs  Herausgeber  auch  in  der  Bibliographie  den  verschiedenen 
Seiten  des  Programms  seine  Aufmerksamkeit  möglichst  gleichraäfsig  zu- 
gewandt hat.  Was  die  Art  und  Weise  der  Besprechung  betrifft,  so  wird 
man  allerseits  zugestehen  müssen,  dafs  er  den  Grundsatz  seines  Prospekts 
stets  vor  Augen  gehabt  hat:  „Die  Zeitschrift  soll  rein  der  AVissenschaft 
dienen,  ohne  Rücksicht  auf  Nationalität,  Partei  oder  Schule.  Gegensätze  in 
den  Ansichten  werden  nie  ganz  zu  vermeiden  sein  . . .  Doch  sollte  in  jeder 
wissenschaftlichen  Kritik  Urbanität  herrschen  und  im  internationalen  Ver- 
kehr mehr  als  das:  hier  ist  Humanität  notwendig." 

Der  Band  schliefst  mit  Mitteilungen,  einem  Personen-  und  Sachregister. 
Er  ist  dem  Andenken  W.  v.  Humboldts  gewidmet.  Ein  wohlgelungeuer 
Stahlstich  von  dem  neuen  Denkmal  desselben  vor  der  Berliner  Universität 
ist  beigegeben. 

Die  Ausstattung  verdient  volle  Anerkennung;  dabei  ist  der  Preis  so 
gering,  dafs  nicht  blols  alle  Anstalten,  an  welchen  die  Sprachwissenschaft 
und  der  Sprachunterricht  gepflegt  wird,  sondern  auch  Sprachforscher  und 
Sprachlehrer  für  sich  im  allgemeinen  im  stände  sein  werden,  auf  die  Zeit- 
schrift zu  abonnieren. 


J.    Stürzinger,    Orthograpliia    Gallica.      Ältester    Traktat    über 

französische    Aussprache    und     Orthographie.       Heilbronn, 

Henninger,  1884.     XLVl  u.  52  S. 

Der  achte  Band  der  von  W.  Förster  herausgegebenen  altfranzösischen 
Bibliothek  enthält  den  kritischen  Text  der  Orthographia  Gallica,  des  ältesten 
Traktats  über  französische  Aussprache  und  Orthographie.  Die  vier  Hand- 
schriften, in  denen  der  Traktat  vorhegt,  sind  in  Parallelkolumnen  neben- 
einander abgedruckt  p.  1 — 29;  es  folgen  die  Varianten  p.  30  —  37,  und  An- 
merkungen p  38-52.  In  der  Einleitung  bespricht  der  Verfasser  aufs  ein- 
gehendste den  Stand  der  französischen  Grammatik  in  England  vor  dem 
16.  Jahrhundert,  indem  er  alles  nicht  nur  namhaft  macht,  sondern  auch 
genau  beschreibt,  was  er  von  einschlägigen  Abhandlungen  in  den  Biblio- 
theken von  London,  Oxford  und  Cambridge  hat  finden  können.  Wenn  er 
hierbei  der  besseren  Übersichtlichkeit  wegen  eine  Dreiteilung  der  vorhan- 
denen Werke  in  solche,  die  von  Aussprache  und  Orthographie,  in  solche, 
die  von  Deklination  und  Konjugation,  und  in  solche,  die  von  Syntax  und 
Komposition  handeln,  vornimmt,  so  darf  man  nicht  annehmen,  dafs  die  alten 
Grammatiker  selbst  eine  solche  Scheidung  streng  durchgeführt  o<ier  auch 
nur  angebahnt  hätten.  Sie  stellen  die  verschiedenartigsten  Dinge  unver- 
mittelt nebeneinander,  indem  sie  es  dem  Leser  überlassen,  das  Zusammen- 
gehörige zusammenzutragen,  was  Stürzinf^er  für  die  Orthographia  Gallica 
denn  auch  gethan  hat.  Die  von  Syntax  und  Komposition  handelnden  Werke 
sind  entweder  Manieres  de  langage   (Musterdialoge)   oder  Epistolaries   und 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  209 

Chartuaries,  die  Vorläufer  der  modernen  Briefsteller.  Aus  allen  in  Rede 
stehenden  Werken,  gleichviel  welcher  Art,  teilt  der  Verfasser  gröfsere  oder 
kleinere  Stücke  mit,  was  dem  Leser  gestattet,  sich  eine  Vorstellung  von 
der  Art  ihrer  Abfassung  zu  machen. 

Der  zweite  Teil  der  Einleitung  von  p.  24—46  behandelt  die  Ortho- 
graphia  Gallica.  Nach  einer  genauen  Beschreibung  der  vier  vorhandenen 
Handschriften,  des  Towerdokuments  (T),  des  Harleyandokuments  (H),  des 
Cambridger  (C)  und  des  Oxforder  (O)  Dokuments,  stellt  der  Verfasser  ihr 
Verhältnis  untereinander  fest.  Es  ergiebt  sich,  dafs  auch  die  älteste  Hand- 
schrift, das  Towerdokument,  nicht  das  Originalmanuskript  sein  kann,  weil 
sie  neben  groben  Fehlern  auch  deutliche  Spuren  von  Auslassungen  zeigt, 
wie  sie  nur  ein  Abschreiber  sieh  konnte  zu  Schulden  kommen  lass^en. 
T  kann  aber  auch  nicht  das  Original  für  H,  C,  O  gewesen  sein,  weil  es 
neun  Regeln  enthält,  die  in  H,C,  O  fehlen,  während  diese  sechzig  andere 
Regeln  bringen,  die  in  T  nicht  stehen.  H  steht  wiederum  für  sich  allein 
da,  indem  es  alle  Regeln  aufser  dreizehn  in  französischer  Fassung  bringt, 
während  sie  in  T,  C  und  O  durchweg  lateinisch  abgefafst  sind;  ferner  ist 
die  Reihenfolge  der  Regeln  in  H  eine  ganz  andere  als  in  C  und  O,  und 
schliefslich  hat  H  vierzehn  nur  ihm  eigentümliche  Regeln.  —  C  und  O 
unterscheiden  sich  ihrerseits  durch  Umstellung  und  verschiedenartige  Fassung 
einzelner  Regeln  so  sehr,  dafs  man  auch  bei  ihnen  annehmen  mufs,  dafs 
sie  nicht  von  demselben  Original  abgeschrieben  worden  sind.  Wenn  nun 
auch  die  in  C  und  O  enthaltenen  Regeln  durchweg  lateinisch  abgefafst  sind, 
so  zeigen  doch  gewisse  bezeichnende  Mifsverständnisse,  die  beiden  gemein- 
sam sind,  dafs  die  ursprünglichere  Redaktion,  auf  die  beide,  wenn  auch  auf 
verschiedenen  Stufen  der  Abhängigkeit,  zurückgehen,  ii-anzösisch  geschrieben 
gewesen  sein  mufs. 

Inhaltlich  lassen  sich  sämtliche  in  H,C,  O  enthaltene  Regeln  in  den 
ersten  siebzehn  und  dem  zwanzigsten  Paragraphen  von  T  unterbringen,  zu 
denen  sie  also  nur  einen  etwas  weitschweifigen  Kommentar  bilden.  Da 
nun  T  neun  besondere  Regeln  enthält,  die  den  drei  anderen  Hss.  fehlen, 
da  die  Hs.,  in  der  es  steht,  die  älteste  unter  den  vier  vorhandenen  ist,  und 
da  es  bezüglich  einer  vernünftigen  Reihenfolge  der  einzelnen  Regeln  die 
anderen  Hss.  bei  weitem  übertrifi't,  so  steht  es  dem  Original  am  nächsten 
und  darf  daher  für  die  Feststellung  des  kritischen  Textes  das  gröfste  Ge- 
wicht beanspruchen. 

Mit  nicht  geringerem  Scharfsinn,  als  das  Verhältnis  der  Hss.  unterein- 
ander, stellt  der  Verfasser  die  Zeit  der  Abfassung  fest.  Da  andere  An- 
haltspunkte fehlen,  schöpft  er  seine  Beweise  aus  dem  Texte  der  Regeln 
selbst,  der  ihm  grammatische  und  lautliche  Erscheinungen  bietet,  welche 
er  mit  Hilfe  von  anglonormannischen  Hss,  und  Urkunden  zeitlich  fixiert. 

Das  Ergebnis,  welches  sich  auf  das  Auftreten  des  Feminins  grande 
neben  grant,  von  aun  4-  cons.  für  an  -j-  cons.,  von  qui  und  que  mit  q  statt 
mit  k,  von  y  für  i,  und  von  rundem  s  in  den  einsilbigen  Wörtern  sum,  set, 
si,  se  statt  langem  f  stützt,  ist,  dafs  der  Traktat  von  einem  Engländer  gegen 
Ende  des  13.  oder  Anfang  des  14.  Jahrhunderts  verfafst  worden  sein  mufs, 
mit  der  Absicht,  „die  Orthographie  des  Anglonormannischen,  die  mehr  und 
mehr  der  volkstümlichen  Aussprache  nachfolgte,  und  daher  in  starkes 
Schwanken  geriet,  nach  französischem  Vorbilde  zu  regeln." 

Durch  Umstellung  der  Regeln  X  und  XX  in  T  gelingt  es  dem  Ver- 
fasser, den  Inhalt  so  zu  gliedern,  dafs  der  erste  Abschnitt  (von  I — V^HI)  nur 
die  Differenzen  von  anglonormannischer  Aussprache  und  französischer  Ortho- 
graphie behandelt,  im  zweiten  (von  IX  bis  XVTI)  nur  Fälle  von  schwan- 
kender Orthographie  im  Französischen  aufgezählt  werden,  während  der 
dritte  (von  XVIII  bis  XXVI)  nur  Fälle  der  lateinischen  Orthographie  be- 
rührt und  allgemeinere  Schreibregeln  enthält.  Die  Regeln  des  in  H,C,  O 
vorliegenden  Kommentars  werden  ohne  Rücksicht  auf  die  Reihenfolge,  welche 
Archiv  f.  n.  Sprachen.    LXXIÜ.  14 


210  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen, 

sie  in    den    einzelnen  Hss.  haben,   neben  diejenigen  Regeln    von  T   gesetzt, 
zu  denen  sie  dem  Inhalte  nach  gehören. 

Was  nun  diesen  Inhalt  betrifft,  so  ist  er  ziemlich  dürftig.  Die  Regeln 
handeln  in  der  bei  T  beobachteten  Reihenfolge  über  ie  und  e,  über  ee  und  e, 
über  die  Aussprache  von  oe,  über  z  am  Wortausgange,  über  die  Aussprache 
von  s  vor  t,  über  die  Apostrophierung  einiger  vokalisch  auslautender  ein- 
silbiger Wörter  vor  vokalischem  Anlaut,  über  die  vokalische  Aussprache 
von  1  nach  a,  e,  o  und  vor  Konsonanten,  über  das  Verstummen  von  End- 
konsonanten vor  konsonantischem  Anlaut,  über  die  Diphthonge  oi  und  oe, 
über  die  Schreibung  mit  q  oder  k,  über  die  Schreibung  mit  grofsen  An- 
fangsbuchstaben, über  gn  statt  ngn  in  busoigner,  über  y  statt  i  vor  oder 
hinter  m,  n,  u;  über  rundes  s  statt  langes  f  im  Anlaut  einsilbiger  Wörter, 
über  die  Einschiebung  von  p  zwischen  ???  und  t  (Beispiel:  dampnum).  Dazu 
kommen  Schreibregeln:  über  den  Zwischenraum  zwischen  den  einzelnen 
AVörtern  in  der  Zeile,  über  den  Längenunterschied  zwischen  den  grofsen 
und  den  kleinen  Buchstaben;  schliefslich  über  die  Erhaltung  des  latei- 
nischen l  in  französischen  Wörtern. 

Wie  man  sieht,  handeln  die  Regeln   fast  ausschliefslich   von  bekannten 
Eigentümlichkeiten    der   anglonormannischen   Aussprache   und  Orthographie. 
Bemerkenswert  scheint,  aufser   der  Regel   über  das  runde  s  (Quando  diccio 
monosvllaba  incipit  per  s,  solet  rotundari,   exempli   gracia:   sum,    si,    se,  set 
et  similia),  besonders  die  über  die  aspirierte  Aussprache  von  s  vor  ?,  worüber 
T   sagt:    Item   quedam    sillabe   pronunciate    quasi   cum    aspiracione   possunt 
scribi   cum  s  et  t,   verbi  gracia   est,   cest,  plest.     Ebenso    lautet   H  '29.     In 
H  91,  C,0  18  heifst  es:  Item  quando  aliqua  sillaba  pronunciatur  quasi  cum 
aspiracione,   illa   sillaba   debet  scribi   cum  p  et  t  in  loco  aspiracionis,    verbi 
gracia  est,  cest,  plest,  und  H  .35:   Et   quant  s  est  joynt  [a  la  ^],    ele   avera 
le  soun  de  h,    come    est,   plest   serront   sonez   eght,   pleght.     Über    dieselbe 
Lautverbindung  bemerkt  das  vom  Verfasser  in   der  Einleitung  p.  III  u.  IV 
besprochene    Bruchstück    der    Orthographia    aus    dem    15.   Jahrhundert:   Et 
nota  quod,   quando    due  consonantes  eveniunt   in   una  sillaba   in  Gallico   vel 
in  diversis  diccionibus,   prima  consonans  non  sonabitur  communiter  ut :    est, 
cest,  prest  et  similia  in  una  sillaba,   in  diversis  sillabis  et  diccionibus  ut:    il 
est  prest  pur  aler  ove  nos,    qu'est   la?   estez   vous  la?   et  similia.     Hier  ist 
also  das  .<?  als  stumm  bezeichnet,  während  es  die  bei  Stürzinger  abgedruckten 
Hss.  des  Traktats,  wenigstens  in  den  Wörtern  est,  cest,  plest    weich    tönen 
lassen.     Aus    den    anderen   auf  s  vor  Konsonanz   bezüglichen  Regeln   geht 
teils  direkt,   teils  indirekt   hervor,    dafs   es   stumm   war.     So  C,  ü  67:    Item 
aliquando  s  scribitur   et  k    sonabitur,  come    ascun  sonabitur   aucun;    ebenso 
H  35,  8,61.    C,0  21:  Item  quandocunque  hec  littera  5  scribitur  post  voca- 
lens  si  m  immediate  subsequitur,   s  non  debet  sonari   ut  mandasmes,  fismes, 
duresme.    C,  O  93 :  Item  quandocumque  m  sequitur  e  vel  i  in  diversis  sillabis 
et  in  una  diccione,  s  debet  interponi  ut  duresme,  fismes,  feismes.    Dasselbe 
besagt  C,  O  94.    H  34:  Et  a  la  foithe  escriverez  .<?  pur  bele  escripture  come 
mesme   pur   meme,    treschier  pur   trechier.      Während    in    den    angeführten 
acht    Regeln    s    direkt    als    tonlos    bezeichnet   wird,    schreiben    vier    andere 
Regeln  vor,   dafs  es  geschrieben  werden  solle,   ohne   von   seiner  Hörbarkeit 
etwas  zu  erwähnen.     Diese  sind  H  30:   Et  saches   qu'en   verbes   de  present 
temps  et  pretert  escriverez  ft  come  batist.    H  31 :  Mes  entendez  quant  escri- 
verez s  et  quant  ne  mie.    A  deprimes  sachetz  qe  par  entra  t  et  e,  i,  o  et  u 
escriverez  en  verbes  de  present  temps  et  pretert   come   batist  etc.,    e   come 
est,    i  come  fist,    o  come  tost,    ti  come   lust  etc.     C, O  73:    Item  in   verbis 
presentis  et  preteriti   temporis   scribetis  st  apres  /,  e,  o,  n  come  batist,   fist, 
est,  tost,  lust  etc.     C,  O  96:    Item  in  presenti  et  in  preterito  tempore  inter 
2,  e,  0,  w  et  /  debet  s  scribi  ut  est,  fist,  tost,  lust  etc.    et   in  preterito  inter 
a  et  t  ut  amast. 

Daraus,   dafs   hier   die   Schreibung   von   s   verlangt   wird,    ergiebt   sich, 


Beurteilungen   und  kurze  Anzeicren.  211 


.j^„„  .XV..    ,.^  .^W^^.j^ 


dafs  man  es  nicht  sprach,  ebenso  wie  aus  der  Forderung  in  T  1,  Hl,  C,0  1, 
es  solle  bien,  dieu,  mieuz  etc.  mit  ie  geschrieben  werden,  folgt,  dafs  man 
ben,  deu,  meuz  etc.  sprach.  Da  nun  das  Wort  est,  von  dem  H  35  sagt,  es 
solle  eght  gesprochen  werden,  in  den  zuletzt  genannten  Regeln  H  31, 
C,  O  73,  C,  O  96  dreimal  mit  Wörtern,  in  denen  .9  nicht  gesprochen  wurde, 
zusammen  genannt  wird,  so  läfst  sich  doch  nichts  anderes  annehmen,  als 
dafs  es  ebenfalls  stummes  s  hatte.  Der  Widerspruch  zwischen  H  31,  C,0  73, 
C,  O  96,  wonach  est  stummes  s  hatte,  und  H  35,  wonach  es  aspiriert  =  eght 
gesprochen  werden  soll,  läfst  sich  vielleicht  dadurch  erklaren,  dafs  man  an- 
nimmt, s  war  zur  Zeit  der  Abfassung  des  verloren  gegangenen  Originals 
noch  hörbar,  allerdings  nicht  mehr  als  .s,  aber  doch  so,  dafs  es  der  ur- 
sprüngliche Verfasser  als  eine  Art  Aspiration  bezeichnen  konnte.  Diese 
Bezeichnung  und  die  von  ihm  gewählten  Beispiele  übernahmen  die  späteren 
Abschreiber.  Dafs  s  wirklich  einmal,  aber  lange  vor  der  Abfassung  der 
Orthographia,  den  Klang  einer  .Aspirata  hatte,  beweist  einerseits  die  von 
Diez,  Gr.^  I,  457  besprochene  Behandlung  französischer  Wörter  im  Mhd., 
wo  föreht  (neben  forest)  mit  sieht  reimt,  andererseits  der  Umstand,  dafs 
in  mengl.  Hss.,  wie  Herr  Prof.  Zupitza  mir  mitteilte,  umgekehrt  mitunter  s 
für  h  =  gh  (nist  für  niht)  geschrieben  wird. 

iSo  deutlich  wie  die  angeführten  Regeln  sind  übrigens  bei  weitem  nicht 
alle  in  der  Orthographia  gegebenen  abgefafst.  Gewöhnlich  lauten  sie  so 
wie  die  folgenden,  welche  als  Musterbeispiele  hier  Platz  finden  mögen. 
C,  O  79:  Item  del,  al  (vel  au  loco  al)  quando  tue  sequitur  et  consonanz  sequitur, 
nt  predictum  est,  1  de  del  non  debet  mutari  in  u,  sed  1  de  al  bene  potest; 
sed  du  tantum  signiücat  sicut  de  le  vel  del,  verbi  gracia:  du  dit  portour 
pro  de  le  dit  portour.  H  55  :  Et  altrefoithe  escriveretz  devant  adjectifs  de 
et  altrefoithe  du,  de  come  de  ceste  chose,  du  come  du  dit  portour,  et 
similia.  H  50:  Auxint  altrefoithe  escriveretz  del,  de,  des,  al,  au,  a,  as, 
iS'un  weifs  der  Schüler,  denn  für  solche  sind  die  Regeln  doch  bestimmt, 
ganz  genau,  was  er  in  jedem  einzelnen  Falle  zu  setzen  hat. 

Was  den  Regeln  indessen  inhaltlich  abgeht,  wird  durch  die  gediegenen 
Anmerkungen  des  gelehrten  Herausgebers  reichlich  ersetzt,  unter  denen  be- 
sonders die  über  ie,  über  ee,  über  oe  und  eo,  über  z,  über  x  als  Plural- 
zeichen, über  die  Vokalisierung  des  1,  durch  die  Masse  des  beigebrachten 
Quellenmaterials  fast  erdrückend  wirken.  Fr.  Bise  hoff. 


Dr.  Hubert  H.  Wingerath,  Direktor  der  Realschule  bei  St.  Johann 
in  Strafsburg  i.  Eis.:  1)  Choix  de  lectures  frangaises  I, 
3.  Aufl.;  2)  Lectures  enfantines  d'apres  la  methode  intui- 
tive ;  3)  Petit  Vocabulaire  fran9ais.  Köln,  DuMont-Schau- 
berg,  1884. 

Die  Wingerathschen  Choix  de  lectures  francaises,  erster  und  zweiter 
Teil,  sind  in  dieser  Zeitschrift  schon  mehrmals  besprochen  und  dabei  die 
leitenden  Gedanken  dieser  Sammelwerke  des  näheren  in  empfehlender  Weise 
hervorgehoben  worden.  Die  dritte  Auflage  des  ersten  Teiles  (classes  in- 
ferieures)  enthält  indes  eine  Neuerung,  welche  eines  besonderen  Hinweises 
wohl  wert  ist.  Dem  eigentlichen  Lesebuche  ist  eine  nach  der  Anschauungs- 
methode bearbeitete,  auf  den  ersten  sprachlichen  Unterricht  berechnete 
Introduktion  vorausgeschickt.  Durch  diese  Einleitung  hat  der  Verfasser 
versucht,  das,  was  im  nächsten  Anschauungs-  und  Vorstellungskreise  des 
Schülers  liegt,  vollständig  zu  erfassen  und  in  ausschliefslich  einfachen 
Sätzen  anschaulich  darzustellen,  zugleich  aber,  da  es  sich  um  eine  fremde 
Sprache  handelt,  den  formalen  grammatischen  Unterricht  in  derselben  nach 

14* 


212  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Möglichkeit  anzubahnen  und  vorzubereiten.  Und  dieser  keineswegs  leichte 
Versuch  ist  "NVingerath  ausgezeichnet  gelungen  und  hat  der  Verfasser  damit 
ein  pädagogisches  Meisterstück  geliefert,  das  seinesgleichen  sucht. 

Diese  Introduktion  ist  nun  auf  mehrfachen  Wunsch  in  verändertem, 
recht  handlichem  Formate  besonders  abgedruckt  worden  (nach  Fibelart 
zeigen  die  ersten  20  Seiten  verschiedene  Typen)  und  unter  dem  Titel  Lec- 
tures  enfantines  neu  erschienen.  In  diesem  Sonderdruck  sind  mehrere  irr- 
tümliche oder  doch  nicht  ganz  passende  Ausdrücke  richtig  gestellt,  ein  Um- 
stand, der  besonders  hervorgehoben  sein  mag.  Introd.  pag.  8:  Nous  y  re- 
tournons  avec  joie  apres  la  classe  ou  apres  Veglise  (Lect.  enf.  p.  25: 
apres  Vofßce)\  Intr.  p.  8:  Cette  porte  donne  dans  la  cour  (L.  enf.  p.  26: 
sur  la  cour);  Intr.  p.  9:  Le  paratonnerre  garantit  contre  la  foudre  (L.  enf. 
p.  27:  de  la  foudre).  Aufserdem  sind  folgende,  in  der  Introduction  des 
Choix  de  1.  fr.  I  vorkommende,  unter  den  Errata  nicht  angeführte  Druck- 
fehler in  den  Lectures  enfantines  verbessert:  p.  6,  Z.  13  v.  u.  ä  (al;  p.  7, 
Z.  17  V.  u.  une  orgue  (un  orgue);  p.  9,  Z.  2  v.  u.  arroches  (accrocbes); 
p.  19,  Z.  6  V.  u.  on  (ou). 

Von  der  Einleitung;  unterscheidet  sich  das  Werkchen  übrigens  auch  noch 
dadurch,  dafs  zwischen  den  einzelnen  Abschnitten  eine  Reihe  von  sehr  hüb- 
schen kleineren  Gedichten  eingeschoben  ist,  die  sämtlich  in  kindlichem  Tone 
gehalten  sind  und  deren  Zusammenstellung  gewifs  kein  Leichtes  war.  Den 
Gedichtchen  ist  die  erforderliche  Fräparation  unmittelbar  nachgesetzt,  wäh- 
rend die  in  den  Frosastücken  vorkommenden  Wörter  in  dem  in  demselben 
Verlage  von  Wingerath  herausgegebenen  Fetit  Vocabulaire  fran(j:ais  pour 
servir  aux  Lectures  enfantines  nach  der  Reihenfolge  ihres  Vorkommens  ge- 
ordnet sind.  Dieses  treff'lich  bearbeitete  Wörterbüchlein  veranlafst  indes 
den  Ref.  zu  folgenden  Bemerkungen.  Zunächst  wäre  statt  des  1'  vor  Sub- 
stantiven zur  deutlichen  Bezeichnung  des  Genus  der  unbestimmte  Artikel 
un,  une  anzuwenden.  Pag.  5,  Spalte  2  un  catechisme,  ein  K. ;  p.  10,  Sp.  2 
le  temple  heifst  an  dieser  Stelle  nicht  Tempel,  sondern  (protestantische) 
Kirche;  p.  12,  Sp.  1  bei  crucitix  sollte  die  Aussprache  — fi  angegeben  sein; 
p.  14,  Sp.  1  statt  \e  liqueur  lies  la  liqueur;  p.  20,  Sp.  1  statt  meche  lies 
meche;  p.  31,  Sp.  2  hennir,  neben  der  Aussprache  anir  ist  die  vielleicht 
gebräuchlichere  enir  zu  verzeichnen  oder  allein  zu  empfehlen;  p.  26,  Sp.  1 
aigu,  aigue,  Aussprache  des  feminin  hinzuzufügen  (cf.  p.  40,  Sp.  2  la  eigne); 
Alsace  spricht  man  Alzace  (cf.  p.  46,  Sp.  2  Strasbourg  =  Strazbourg,  Metz 
=  Mass). 

Trotz  dieser  geringfügigen  Aussetzungen  kann  Ref.  sein  Urteil  über 
die  früher  erschienenen  Werke  Wingeraths  auch  auf  diese  vortrefflichen 
Leistungen  vollinhaltlich  übertragen,  und  somit  das  neue  Lehrbuch  auf  das 
beste  allen  Lehrern  empfehlen. 

Altkirch  i.  Eis.  Th.  Krafft. 


A  Spanish  Grammar  of  the  modern  Spanish  language  as  now 
written  and  spoken  in  the  capital  of  Spain.  By  William 
Knapp,  Prof.  in  Yale-College.  Boston  1882.  —  Modern 
Spanish  Readinga,  embracing  text,  notes  and  an  etymo- 
logical  'vocabulary,  by  W.  Knapp.     Boston  1883. 

Die  Grammatik  zerfällt  in  Fhonology,  Form  and  inflection,  Essentials  of 
Syntax  mit  einem  Appendix  über  Diminutives  and  augmentatives,  und  Drill- 
book. Der  Verf.  hat  eine  genaue  Kenntnis  der  modernen  wie  der  älteren 
Sprache  und  zieht  auch  die  Vulgärsprache  mit  in  den  Bereich  seiner  Dar- 
stellung.    Er    hat  auch    umfassende   Beobachtungen  in    der   Litteratur    ge- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  213 

macht;  er  ist  wissenschaftlich  gebildet  und  zeigt  in  Ausdruck  und  Wahl 
der  Beispiele  und  Lesestücke  Geschmack  und  Umsicht.  Demnach  ist  seine 
Grammatik  ein  wohlbrauchbares  Hilfsmittel,  welches  sich  auch  durch  den 
schönen  Druck  empfiehlt.  Die  peinliche  Genauigkeit  der  Angabe,  woher 
das  Beispiel  genommen  sei,  würden  wir  ihm  überall  erlassen,  wo  es  sich 
nicht  um  ganz  besondere  Fälle  handelt.  Die  wissenschaftliche  Erklärung 
der  Formen  ist  in  den  meisten  Fällen  richtig,  wenngleich  einige  Irrtümer 
vorkommen.  Bei  der  Erklärung  paralleler  Formen,  z.  B.  hübe  (huve),  alt- 
span.  sove,  estuve,  anduve,  tuve  legt  er  zu  wenig  Gewicht  auf  das  mäch- 
tige Gesetz  der  Analogie.  Die  Kegeln  könnten  manchmal  weniger  um- 
ständlich sein.  Mit  dem  Worte  „elliptisch"  wird  ein  gewisser  Mifsbrauch 
getrieben,  wie  in  einem  Satze:  „dijo  que  vendria"  =  franz.  il  dit  qu'il 
viendrait,  wo  ein  Vordersatz  nicht  zu  ergänzen  ist.  Für  die  Phonologie 
ist  von  dem  Englischen  auszugehen  gerade  nicht  besonders  ratsam ;  sonst 
aber  kann  das  Buch  auch  Deutseben  empfohlen  werden.  Nicht  genügend 
behandelt  ist  die  Diphthonglehre,  der  schwache  Punkt  aller  Grammatiken. 
Auch  sonst  fehlt  dies  und  jenes,  z.  B.  der  Gebrauch  von  Substantiven  im 
Sinne  der  unbestimmten  Pronomina;  die  Unterscheidung  der  Verbaladjektiva 
und  Participia;  die  Erklärung  der  Adverbia  auf -s,  wie  äntes,  altspan.  aines 
u.  a. ;  si  =  lat.  si  und  si  =  lat.  sie  und  se  wird  nicht  unterschieden.  Der 
Gebrauch  der  Präpositionen  wird  nicht  logisch  entwickelt,  es  werden  nur 
die  empirischen  Thatsachen  zusammengestellt.  Es  fehlt  die  Angabe  über  die 
Betonung  von  porque  und  aunque;  es  fehlt  die  Angabe  über  die  Bedeutung 
des  Konj.  Präter.  auf  -ra,  z.  B.  leyera,  welches  bekanntlich  zugleich  als 
Konjunktiv  wie  als  Konditional  gebraucht  wird,  u.  a.  m.  Das  Fehlerhafte 
betrifft  vornehmlich  das  Gebiet  der  Etymologie,  auf  welchem  sich  Knapp 
mit  grofser  Freiheit  ergeht.  Das  ist  die  Schattenseite  des  Werkes.  Man 
vermifst  hier  alle  Methode,  alle  Vorsicht  und  Disciplin;  und  so  begegnet 
man  geradezu  abenteuerlichen  Angaben.  Der  Verfasser  hält  sich  für  durch- 
aus kompetent,  Diez  und  andere  Gelehrte  zu  verbessern  und  zu  ergänzen, 
jedoch  nicht  auf  Grund  einer  begründeten  Beweisführung,  sondern  indem  er 
sein  „car  tel  est  mon  plaisir"  zum  Gesetze  macht.  Um  nur  ein  paar  Bei- 
spiele zu  geben,  so  soll  span.  asgo  (=  lat.  äpiscor)  das  lat.  adscio  mit  ein- 
geschobenem g  sein;  feligres  (=  filius  gregis)  wird  als  filius  ecclesiae  er- 
klärt. Chico  als  plicus,  cbarlar  (ital.  ciarlare)  als  parabolare;  don  ist  ihm 
nicht  dominus,  sondern  phönicisch  Adon  =  Gott.  Chasco  wird  vom  griech. 
TTÄagcj,  esquina  von  o-//t,co^  loco  von  yXavxog  abgeleitet.  Genug!  Wir 
machen  auch  hier  die  Erfahrung,  dafs  d9r  Mensch  gern  mit  seiner  Achilles- 
ferse am  meisten  Staat  macht.  Diese  etymologische  Willkür  thut  dem 
sonst  empfehlenswerten  Buche  leider  erheblichen  Eintrag. 

J.  Schillings  spanische  Grammatik  habe  ich  in  Band  LXXI, 
Heft  3  u.  4  des  Archivs  angezeigt ;  leider  war  die  Besprechung  durch  eine 
Reihe  erschwerender  Druckfehler  entstellt.  Es  ist  seitdem  im  Jahre  1884 
eine  zweite  Auflage  erschienen.  Dieselbe  ist  um  22  Seiten  reicher  als  die 
erste,  ein  erfreuliches  Zeichen,  dafs  der  Verf.  an  dem  praktisch  brauch- 
baren Buche  fleifsig  weitergearbeitet  hat.  AVir  wollen  hoffen,  dafs  es  ihm 
vergönnt  sei,  bald  eine  dritte  Ausgabe  zu  bearbeiten,  damit  das  Buch  auch 
vom  sprachwissenschaftlichen  Standpunkte  aus  weniger  Ausstellungen  nötig 
mache.  Mehrere  Fehler  und  bedenkliche  Ausdrücke  enthält  auch  die  zweite 
Ausgabe  noch,  und  es  fehlt  auch  in  ihr  noch  dies  und  jenes,  was  nicht  zu 
entbehren  ist.  Ein  Widerstreit  zwischen  Wissenschaft  und  Praxis  existiert 
nicht;  praktischer  Wert  und  wissenschaftliche  Richtigkeit,  Brauchbarkeit  und 
Geschmack  sind  sehr  wohl  vereinbar;  dies  letztere  gilt  auch  von  der  Samm- 
lung von  Übungsbcispielen,  welche  weder  in  zu  grofser  Menge  noch  von 
einem  zusammenhängenden  Lesestücke  losgelöst   zu  geben   rätlich  ist.     Die 


214  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

wissenschaftliche  Erklärung  aber  ist  als  Erleichterung  des  Verständnisses 
überall  heranzuziehen,  wo  sie  sich  wie  von  selbst  darbietet;  das  meiste  frei- 
lich mag  dem  Lehrer  je  nach  dem  Stande  des  Schülers  überlassen  bleiben. 

Dr.  Paul  Förster. 

Booch-Arkossy,  Praktisch-theoretischer  Lehrgang  der  französi- 
schen Schrift-  und  Umgangssprache.  Leipzig,  Violet.  — 
H.  ßreitinger,  Elementarbuch  der  französischen  Sprache 
für  Mittelschulen.  1.  und  2.  Heft.  Zürich.  —  W.  Fr.  Eisen- 
mann, Schulgrammatik  der  französischen  Sprache.  9.  Aufl. 
Stuttgart.    —    J.   Hunziker,    Französisches   Elementarbuch. 

1.  Teil.  Aarau.  —  F.  W.  Körbitz,  Lehr-  und  Übungs- 
buch der  französischen  Sprache  für  Real-  und  Bürger- 
schulen. Eine  vollständiore  SchuWrammatik  zur  Beförde- 
rung  einer  rationellen  ünterrichtsweise.    1.  Kursus,  7.  Aufl. 

2.  Kursus,  4.  Aufl.  Dresden.  —  Dr.  G.  F.  Pflüger, 
Grammatik  der  französischen  Sprache  für  höhere  Schulen. 
1.  Teil,  2.  Aufl.  Dresden.  —  Dr.  K.  Brandt,  Kurzgefafste 
französische  Grammatik  für  die  Tertia  und  Sekunda  eines 
Gymnasiums.     Salzwedel. 

Die  vorstehend  genannten  grammatischen  Lehrbücher  gedachten  wir  zu- 
sammen und  vergleichend  zu  besprechen,  fanden  aber,  dafs  zwei  derselben 
aus  dieser  vergleichenden  Betrachtung  von   vornherein   auszuscheiden  seien. 

Und  zwar  diese  zwei  aus  verschiedenen  Gründen.  Das  Lehrbuch  von 
Booch-Arkossy  seines  besonderen  Zweckes  und  der  dadurch  bedingten 
Einrichtung  wegen,  das  Pflüg  ersehe  Buch  aber,  weil  es  so  schlecht 
ist,  dafs  die  anderen  Arbeiten  es  nicht  verdienen,  mit  demselben  in  Ver- 
gleich gestellt  zu  werden. 

Die  Grammatik  von  Booch-Arkossy  ist  für  den  Selbstunterricht  be- 
stimmt und  enthält  mehrere  der  Elemente,  welche  wir  in  den  Toussaint- 
Langenscheidtschen  Unterrichtsbriefen  wiederfinden.  Es  ist  eine  gründliche, 
inhaltreiche  Arbeit,  methodisch  so  eingerichtet,  dafs  sie  jedem  zu  empfehlen 
ist,  der  —  der  Mann  dazu  ist.  Denn  Energie,  Gedächtnis  und  wohl  auch 
specielles  Spracherlernungstalent  sind  Bedin^ngen,  ohne  welche  niemand 
es  mit  Toussaint-Langenscheidt  oder  Booch-Arkossy  versuchen  möge. 

Unser  abfälliges  Urteil  über  die  Pflüg  er  sehe  Grammatik  wollen  wir 
pflichtgemäfs  begründen.  Über  Aussprache  lehrt  das  Buch  z.  B.  Folgendes. 
„Am,  an,  em,  en  haben  denselben  Nasenlaut  etwa  wie  im  Worte  Jean." 
(S.  7.)  In  hache  wird  h  „als  Konsonant  gehört"  (S.  11);  ebendort  wird 
die  Aussprache  von  oui  durch  „wui"  bezeichnet.  S.  13  wird  longue  mit 
lenk  figuriert,  S.  14  paille  mit  pabje.  S.  20  heifst  es :  „Re  und  le  mit  vor- 
ausgehenden Konsonanten  lautet  wie  er,  el  (e  sehr  kurz)."  Fils  soll  „fies 
oder  fie"  lauten  (S.  22).  Inhalt  und  Ausdruck  der  deutschen  Übungssätze 
sind  oft  monströs.  „Wer  hat  gezählt  zwei  Mark  in  der  Geldtasche?"  (S.  23). 
„März  ist  oft  kalt"  (S.  22).  Ebenso  in  den  Regeln.  Z.  B.  in  der  Anmer- 
kung S.  9  (Bindung):  „Nasales  m  bleibt  stumm  . . .,  stumm  r  hörbar  ..., 
stumm  r  bleibt  stumm  beim  ..."  Unter  den  unmittelbar  folgenden  Vokabeln 
finden  wir  „amere,  bitter,  dure,  hart";  in  den  Übungssätzen  kommt  nämlich 
gerade  das  Femininum  vor.  Ich  füge  noch  zwei  Pröbchen  von  des  Ver- 
fassers Kenntnis  in  der  historischen  Grammatik  an:  „doit  statt  devoit,  lat. : 
debtt"  und  „seront  statt  etront."  Damit  genug!  Leider  hat  das  Buch 
sogar  eine  zweite  Autlage  erlebt. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  215 

Wenden  wir  uns  nun  den  übrigen,  wenn  auch  nicht  absolut  guten,  so 
doch  immerhin  im  Vergleiche  zu  dem  letzteren  bedeutend  besseren  Lehr- 
büchern zu. 

Das  Eisenmannsche  Buch  ist  eine  wesentlich  systematische  Gram- 
matik. Wenn  ich  kürzlich  in  einer  Recension  in  der  Ztschr.  f.  nfrz.  Spr. 
u.  Litt,  las,  dafs  eine  sj^stematische  Grammatik  des  Französischen  für  das 
Gymnasium  zu  wünschen  sei,  für  die  Oberrealschule  dagegen  die  Plötzsehen 
Biicher  sich  immer  noch  empföhlen,  so  bin  ich  stets  der  gerade  umgekehr- 
ten Meinung  gewesen.  Der  Gymnasialschüler  möge  den  französischen  Lern- 
stoff* selbst  dem  ihm  aus  dem  Lateinunterricht  bekannten  System  einordnen. 
Woher  soll  aber  dem  Oberrealschüler  der  Einblick  in  Gang,  Ende  und  Teile 
der  Grammatik  kommen.  Allein  welches  System  soll  nun  den  Weg  be- 
stimmen? Dafs  dies  kaum,  wie  beim  Lateinischen,  das  System  der  Rede- 
teile sein  kann,  zeigt  z.  B.  die  systematische  Grammatik  von  Plötz.  Das 
Verbum  ist  hier  an  die  Spitze  gestellt,  dagegen  setzt  das  begleitende 
Übungsbuch  gleich  zu  Anfang  die  Substantivdeklination  voraus.  Wir  be- 
greifen gar  nicht,  wie  Plötz  sich  den  Gebrauch  des  Buches  gedacht  haben 
mag,  müssen  aber  zugestehen,  dafs  ein  Ausweg  sehr  schwer  zu  finden  ist. 
Eisenmann  hat  den  Versuch  mit  mehr  Glück  unternommen.  Die  übrigen 
Bücher  sind  „methodische"  und  haben  weiter  den  Zweck  miteinander  ge- 
mein, dafs  sie  vorzugsweise  dem  Bedürfnisse  der  Mittelschule  dienen  wollen. 

Die  Aussprache  wird  von  Eisenmann,  ßreitinger,  Körbitz  nicht  metho- 
disch behandelt ;  die  beiden  ersten  stellen  die  hauptsächlichsten  Aussprache- 
regeln kurz  systematisch  zusammen,  Körbitz  giebt  nur  gelegentliche  Andeu- 
tungen. Eine  durchgehende  phonetische  Aussprachebezeichnung,  wie  sie 
Hunziker  bietet  (und  es  mufs  anerkannt  werden,  dafs  dieselbe  durchaus 
richtig  und  genau  ist),  gehört  nach  unserer  Meinung  nicht  in  das  Lehrbuch 
für  die  Unterstufe.  Hier  bleibt  der  Schüler  ja  doch  in  vollster  Abhängig- 
keit von  der  Berichtigung  seiner  Fehler  durch  den  Lehrer.  Sich  selbst  kon- 
trollieren kann  er  noch  nicht.  Der  bei  dem  Plötz  sehen  Elementarbuche 
leicht  zu  beobachtende  Übelstand,  dafs  der  Schüler  die  übliche  französische 
Orthographie  und  die  daneben  stehende  phonetische  Notierung  konfundiert 
und  infolge  davon  falsch  schreibt,  wird  allerdings  bei  Hunziker  wohl  da- 
durch mindestens  gemildert  sein,  dafs  seine  Zeichen  nicht  alle  den  Schrift- 
alphabeten angehören,  der  Schüler  also  in  diesem  Falle  nicht  zu  ihrer  Re- 
produktion verleitet  wird.  Bei  Eisenmann  findet  sich  S.  2  (§  3,  6)  die 
Angabe:  „E  ohne  Accent,  das  nicht  am  Ende  einer  Silbe  steht,  ist  geschlos- 
sen und  wird  wie  das  deutsche  e  in  ,wehe'  ausgesprochen:  aimer,  lieben, 
l'es-poir,  die  Hoffnung,  le  nez,  die  iSIase."  Ende  der  Silbe  ist  hier  die 
Schriftsilbe;  die  Regel  ist  aber  materiell  falsch,  ebenso  das  Beispiel  espoir, 
dessen  e  offen  ist.  Hunziker  spricht  S.  4  von  einer  stummen  Silbe  in  vare; 
es  mufs  Silbe  mit  stummem  e  heifsen.  S.  13  ist  Suetone  durch  ßue-  statt 
durch  ßü-e-  figuriert.  S.  21:  „ont^ete  wird  gesprochen  ont'ete,  nicht  on- 
tete"  (!).  Die  phonetischen  Bemerkqngen  im  Anfang  verraten  Studium^ 
enthalten  aber  einige  Irrtümer,  deren  Erörterung  hier  zu  weit  führen  würde. 

Aus  dem  grammatischen  Teil  hebe  ich  folgendes  hervor:  1.  Breitinger. 
Der  zweite  Teil  ist  nach  dem  ersten  zu  schwierig;  ich  bezweifle,  dafs  er 
sich  unmittelbar  an  denselben  anreihen  lassen  wird.  Im  1.  Hefte,  S.  25, 
heifst  es:  „Substantive  auf  al  und  ail  (statt:  und  einige  auf  ail)  bilden  den 
Plural  auf  aux."  Im  2.  Hefte  lautet  ein  deutscher  Übungssatz  auf  S.  57: 
„Meine  arme  Mutter  ist  ohne  Schmerzen  erloschen  (sie)."  2.  Eisenmann. 
S.  28  ist  die  Regel  über  das  Genus  von  les  gens  materiell  nicht  ganz  rich- 
tig, auch  ist  der  Ausdruck  falsch:  „Das  Feminin  hat  eine  besondere,  hör- 
bare Form.  S.  29  wird  irrtümhch  angegeben,  dafs  enfant  weibliches  Ge- 
schlecht nur  im  Singular  haben  könne.  Der  Ausdruck  ist  schlecht  in  der 
Regel  S.  94:  „Plusieurs  wird,  jedoch  nur  mit  dem  ausgelassenen  subst. 
hommes,  auch   substantivisch   gebraucht."     S.    144   wird   coucher  unter   den 


216  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Verben,  welche  ihr  Perfekt  mit  avoir  und  etre  bilden,  aufgeführt;  so  auch 
bei  Plötz.  Aber  etre  couche  Rac,  Plaideurs  I,  1  ist  ganz  vereinzelt.  S.  206 
wird  gesagt,  de  (en)  sorte  que,  de  facon  que,  de  maniere  que  ständen  mit 
dem  Indicatif  oder  Subjonetif;  der  Unterschied  wäre  anzugeben  gewesen. 
S.  292  ist  die  Angabe  über  den  Unterschied  zwischen  dans  und  en  wenig 
klar.  Ne  iu  je  u'ai  garde  soll  nach  S.  298  die  Negation  sein;  es  ist  aber 
Scheideform  von  en  (afrz.  ene  erzielt  einmal  ne,  das  andere  mal  en)  und 
hat  mit  der  Negation  ne  gar  nichts  zu  thun.  Der  Schüler  braucht  darüber 
vielleicht  nicht  belehrt  zu  werden;  jedenfalls  aber  darf  ihm  nichts  Falsches 
gesagt  werden.  3.  Hunziker.  Der  allzu  kleine  Druck  bei  C.  (Fragen)  ist  zu 
rügen.  Nach  S.  20-  sollen  sich  an  und  annee  so  unterscheiden,  dafs  ersteres 
das  Jahr  als  Zeitpunkt,  annee  das  Jahr  als  Zeitdauer  bezeichnet.  In  den 
Beispielen  heifst  es  mon  frere  a  trois  ans,  und  hier  soll  an  einen  Zeitpunkt 
bedeuten.  S.  80  ist  die  Unterscheidung  von  faute  und  defaut  („le  defaut, 
Fehler,  der  im  Charakter,  in  der  Sache  liegt")  schlecht;  „im  Charakter"  ist 
zu  eng,  „in  der  Sache"  ist  nicht  deutHch.  4.  Körbitz.  1.  Kursus:  S.  31 
heifst  es  ungenau:  „Wenn  tous  nach  seinem  Substantiv  steht,  so  sprich 
touce."  Man  nehme  etwa  die  Sätze:  Nous  sommes  tous  venus  und  Tous 
viennent.  S.  72,  Z.  10  v.  o.  embrassas  Druckfehler  für  embrassa.  2.  Kursus. 
S.  28  wäre  der  geistreiche  Satz:  „Der  Genetiv  des  Teilungsartikels  müfste 
zwar  eigentlich  de  du  pain  heifsen,  derselbe  wird  aber  ..."  besser  fortgefal- 
len. Auch  ist  der  Ausdruck  nicht  korrekt,  da  gemeint  ist  „der  Genetiv  des 
mit  dem  Teilungsartikel  versehenen  Substantivs".  Die  Behandlung  der 
Modus-  und  Tempuslehre  kann  auf  strenge  theoretische  Richtigkeit  keinen 
Anspruch  machen.  Das  gilt  freilich  im  ganzen  von  dem  Körbitzschen  und 
auch  dem  Breitingerschen  Buche,  dafs  sie  in  Inhalt  und  Methode  sich  ledig- 
lich das  praktische  Ziel  stecken,  die  Aneignung  eines  bestimmten  sprach- 
lichen Stoffes  in  kürzerer  Zeit  zu  bewältigen;  wir  halten  das  Elementarbuch 
von  Hunziker  gleichwohl  auch  praktisch  für  wesentlich  besser. 

Das  Br  an  d  tsche  Büchlein  ist  eine  kurze  Zusammenstellung  der  Regeln 
der  Formenlehre  und  Syntax  auf  dem  Räume  von*  51  Seiten.  Es  entspricht 
seinem  Zwecke  durchaus,  doch  finden  sich  einige  Ungenauigkeiten.  S,  10: 
„Bleu  bildet  (im  Plur.)  ausnahmsweise  bleus,"  und  die  Regel  ist?  S.  11 
poeme  statt  poeme.  S.  29  Bretagne  irrig  mit  Accent  aigu.  S.  35:  „Die 
Adjektiva  nu,  nackt,  demi,  halb  und  feu,  verstorben,  sind  unveränderlich, 
wenn  sie  vor  dem  Hauptworte  stehen,  veränderlich  dagegen,  wenn  sie  dem 
Hauptworte  nachgesetzt  sind."  Diese  Regel  ist  für  feu  falsch.  S.  50:  „Im 
allgemeinen  kann  man  die  Verse  mit  gerader  Silbenzabl  dem  jambischen, 
die  mit  ungerader  Silbenzahl  dem  trochäischen  Rhythmus  zuerteilen,  nur 
darf  derselbe  beim  Lesen  nicht^  dominieren."  Nur  wenige  lesen:  Oui,  je 
viens  däns  son  t^mple  adörer  l'Eternel.  Auf  derselben  Seite  wird  von  einer 
„stummen  Silbe"  (statt:  einer  Silbe  mit  stummem  e)  geredet  und  gesagt, 
das  e  in  tuerai  sei  im  Verse  stumm.     Nur  im  Verse?  — t — . 


Dr.  J.  W.  Zimmermann,  Schulgrammatik  der  englischen  Sprache 

für    Realgymnasien    und    andere    höhere    Schulen.      Erster 

Lehrgang.     Naumburg  a.  d.  S.,  Alb.  Schirmer. 

Wer  die  Entwicklung  der  englischen  Schulgramuiatik  in  den 
letzten  Jahrzehnten  genauer  verfolgt  und  Gelegenheit  gehabt  hat,  einige 
der  am  meisten  verbreiteten  unter  den  betreffenden  Lehrbüchern  selbst 
beim  praktischen  Unterrichte  zu  prüfen,  der  v/ird  bei  unbefangenem  Urteil 
anerkennen  müssen,  dafs  Dr.  J.  W.  Zimmermann  als  Verfasser  eines 
„Lehrbuch  der  engl.  Sprache"  und  einer  gröfseren  „Grammatik"  mit  zwei 
Stufen  von  „Übungsstücken"    in   verdienstlicher  Weise   für  eine  Gestaltung 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  217 

des  Unterrichts  gewirkt  hat,  welche  für  die  untere  Stufe  ebensowohl  ver- 
nünftig didaktischen  Anforderungen  entspricht,  wie  bei  der  oberen  Stufe 
die  Bedürfnisse  strengerer  Wissenschaftlichkeit  anstrebt.  In  dem  Lehr- 
buch, das  vor  kurzem  in  34.  Auflage  erschienen  ist,  war  z.  B.  zuerst  die 
Einrichtung  getroffen,  den  Schüler  in  ganz  methodischer  Weise  in  die 
schwierige  englische  Aussprache  einzuführen  und  diese  zugleich  mit  den 
Elementen  der  Formenlehre  zu  verarbeiten.  Wenn  man  aus  eigenen  prak- 
tischen Erfahrungen  weifs,  zu  welcher  Sicherheit  in  Lesen  und  Aussprache 
die  Schüler  bei  einem  solchen  Verfahren  gelangen,  wie  traurige  Resultate 
dagegen  mit  Büchern  erzielt  werden,  die  nicht  so  angelegt  sind,  so  wird 
man  am  besten  den  Fortschritt  zu  schätzen  wissen,  welcher  durch  die  ge- 
nannte Einrichtung  erzielt  wurde;  es  ist  deshalb  auch  begreiflich,  dafs  die- 
selbe seither  vielfach  nachgeahmt  worden  ist. 

Die  englische  „Grammatik*'  hinwieder,  für  obere  Klassen,  Studierende 
und  Lehrer  berechnet,  enthält  ein  reiches  Material  an  guten  und  schönen 
Beispielsätzen  ;  die  Regeln  sind  zwar  nicht  ganz  in  encyklopädischer  Voll- 
ständigkeit aufgeführt,  dafür  aber  in  fafsliche  Form  gebracht,  wie  auch  die 
ganze  Anordnung  des  Stoffes  als  klar  und  übersichtlich  zu  bezeichnen  ist. 
Während  nun  die  genannten  Schulbücher  vom  Standpunkt  der  Schulpraxis 
aus  (ganz  besonders  z.  B.  in  einer  westfälischen  Direktorenkonferenz)  volle 
Anerkennung  gefunden  haben,  hat  sich  die  theoretische  Kritik  nicht  immer 
in  gleich  günstiger  Weise  über  sie  ausgesprochen.  Die  verschiedenen  Aus- 
stellungen, die  da  und  dort  gemacht  wurden,  bezogen  sich  aber  meistens 
nur  auf  Einzelheiten,  wie  z.  B.  mehr  oder  weniger  anfechtbare  englische 
Ausdrücke  und  Sätze;  sehr  oft  auch  waren  dieselben  ungerechtfertigt,  so 
dafs  sie  wiederholt  in  der  Antikritik  zurückgewiesen  worden  sind,  während 
begründete  Ausstellungen  in  späteren  Ausgaben  gebührend  berücksichtigt 
wurden.  Sicher  ist,  dafs  keines  der  noch  mehr  verbreiteten  Schulbücher 
von  Plate,  Degenhardt  u.  a.  einer  gleich  scharfen  Kritik  standhalten  würde; 
besonders  in  Behandlung  der  Aussprache  können  sich  dieselben  mit  Zimmer- 
mann nicht  messen. 

Der  jetzt  erschienene  „Erste  Lehrgang"  des  oben  genannten  Buches 
enthält  die  Grundzüge  der  Aussprache  mit  phonetisch  geordneten  Lese- 
Übungen,  sowie  die  Wort-  und  Formenlehre  mit  den  Elementen  der  Syntax 
nebst  Übungsstücken,  während  in  dem  zweiten  Teile  die  Wortbildung  und 
Syntax  in  Verbindung  mit  Ergänzungen  zur  Formenlehre  zur  Behandlung 
kommen  wird.  Die  Schulgrammatik  nimmt  also  eine  mittlere  Stelle  zwi- 
schen dem  englischen  „Lehrbuche"  und  der  ausführlichen  „Grammatik"  ein; 
sie  ist  in  strengem  Anschlufs  an  die  Erläuterungen  zu  den  neuen  preufsischen 
Lehrplänen  bearbeitet  und  besonders  für  Realgymnasien  und  andere  höhere 
Schulen  bestimmt.  Die  Behandlung  der  Aussprache  geht  von  dem 
Grundsatze  aus,  dafs  sich  auch  hierüber  einzelne  durchgreifende  Regeln 
feststellen  lassen,  welche  bei  methodischer  Anordnung  selbst  für  den  An- 
fänger leicht  lehrbar  seien.  Befreit  von  den  Fesseln  einer  planlosen  und 
rein  empirischen  Behandlungsweise,  sei  der  Schüler  nicht  mehr  dem  bunten 
Wirrwarr  des  blinden  Zufalls  überliefert  und  es  werde  so  die  mit  dem 
ewigen  Vor-  und  Nachsprechen  verbundene  Zeitvergeudung  vermieden.  Der 
erste  Abschnitt  des  Buches  bietet  demnach  eine  Reihe  einfacher,  aber  fester 
Regeln  über  die  Aussprache,  verbunden  mit  phonetisch  geordneten 
Leseübungen;  er  ist  jedoch  bedeutend  kürzer  als  im  Lehrbuch,  weil  die 
deutschen  Übungsstücke  fehlen.  Zudem  ist  es  nicht  nötig,  alle  diese  Regeln 
fortlaufend  durchzunehmen ;  es  ist  vielmehr  dem  Lehrer  überlassen,  auf 
manche  derselben  je  nach  "\'eranlassung  und  Bedürfnis  im  Laufe  der  Formen- 
lehre zurückzukommen.  Der  ganze  Abschnitt  ist  äufserst  lehrreich,  und  es 
ist  darin  auch  den  neueren  phonetischen  Forschungen  in  mafsvoller  Weise 
Rechnung  getragen;  besonders  beachtenswert  sind  die  Regeln  über  die  Aus- 
sprache des  r,  des  scharfen  und  sanften  s  und  th,  wie  auch  über  die  Wortbetonung. 


218  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Wie  in  der  Aussprache,  ist  auch  in  der  Formenlehre  durch  Gliede- 
rung Einfachheit  und  Klarheit,  durch  Konzentration  Kürze,  durch  Zusammen- 
ordnung Übersichtlichkeit  angestrebt.  Da  zugleich  mit  der  englischen  For- 
menlehre die  Elemente  der  Syntax  verbunden  sind,  so  ist  schon  in  diesem 
ersten  Lehrgang  etwas  relativ  Vollständiges  geboten.  Die  Regeln  sind  viel 
weniger  verteilt  als  im  Lehrbuch,  und  so  ist  der  Fortschritt  ein  sehr  rascher, 
wie  denn  z.  B.  im  zweiten  Kapitel  gleich  das  ganze  Hilfszeitwort  to  have 
und  so  nachher  to  be  zur  Behandlung  kommt.  Die  unregelmäfsigen  Zeit- 
wörter kommen  leider  erst  ganz  am  Schlüsse  des  Buches,  während  sie, 
wenn  auch  vielleicht  zunächst  in  etwas  einfacherer  Form,  recht  passend 
nach  Kapitel  9  eingeschoben  werden  könnten  und  dann  etwa  nochmals  in 
einem  „alphabetischen  Verzeichnis"  am  Schlüsse.  Die  Übersetzungsübungen 
sind  nicht  zusammenhängende  Stücke,  sondern  einzelne,  ziemlich  gehalt- 
volle Sätze;  diese  bilden  ja  für  den  Anfangsunterricht  das  einzig  geeignete 
Sprachmaterial,  wie  dies  im  Vorwort  in  trefi'ender  AVeise  begründet  wird. 
Das  entgegengesetzte  Verfahren  ist  psychologisch  ebenso  unrichtig,  wie 
wenn  man  im  muttersprachlichen  Unterricht  den  jungen  Schüler  mit  kleinen 
Erzählungen  beginnen  lassen  wollte,  bevor  er  auch  nur  die  Buchstaben  an 
Silben  und  einzelnen  Wörtern  erlernt  hätte.  In  dem  Schlufsabschnitt  da- 
gegen, wo  die  Schüler  bereits  die  Elemente  der  Grammatik  kennen,  findet 
sich  eine  schöne  Zahl  zusammenhängender  Stücke,  teils  in  englischer,  teils 
in  deutscher  Sprache.  Die  Fassung  der  Regeln  ist  ebenso  genau  als  klar 
und  deutlich;  eine  so  starke  Anhäufung  derselben,  wie  wir  sie  z.  B.  in  den 
Lehrbüchern  von  Imm.  Schmidt  und  Gesenius  treffen,  ist  glücklicherweise 
vermieden:  nichts  ist  in  der  That  für  einen  gedeihlichen,  auf  Selbstthätig- 
eit  des  Schülers  beruhenden  Unterricht  so  hemmend  als  eine  solche  Ein- 
richtung. 

Wenn  somit  das  Buch  in  didaktischer  Beziehung  unbestreitbar  An- 
erkennung verdient  und  dem  bewährten  pädagogischen  Takt  und  Talent  des 
Verfassers  nur  Ehre  macht,  so  ist  es  dagegen  durch  eine  Recension  (vom 
Centralorgan  für  die  Interessen  des  Realschulwesens  1884,  Oktober)  in 
fachwissenschaftlicher  Beziehung  scharf  angegriffen  worden.  „Wenn 
auch  überwiegend  nach  Regeln  und  Übungsmaterial  empfehlenswert,"  so 
lautet  das  Haupturteil,  „sei  diese  Schulgrammatik  jedenfalls  nur  mit  Vor- 
sicht und  unter  Kritik  eines  kundigen  Lehrers  zu  benutzen.'-  In  einer 
Antikritik  (ib.  1885,  Nr.  1)  sind  aber  eine  gröfsere  Zahl  der  Ausstellungen 
als  unbegründet  oder  zweifelhafter  Art  abgewiesen,  einige  andere  auf  das 
richtige  Mafs  blofser  Druckfehler  zurückgeführt  worden,  und  der  ursprüng- 
liche Recensent  gesteht  dann  in  einer  Schlufshemerkung  zu,  „dafs  die 
(weiter  unten  zu  erwähnenden)  guten  Seiten  des  Buches  eine  ausdrückliche 
Erwähnung  verdient  hätten,  während  die  Einschränkung  des  empfehlenden 
Urteils  eine  zu  scharfe  Form  erhalten  habe."  Dazu  fällt  nun  noch  in  Be- 
tracht, dafs  auf  Veranlassung  der  genannten  Besprechung  mehrere  Bogen 
<les  Buches  vollständig  um  gedruckt  worden  sind,  wodurch  den  meisten 
begründeten  Einwendungen  Rechnung  getragen  ist.  wie  Schreiber  dieser 
Zeilen  aus  den  ihm  zugekommenen  Abzügen  sich  selbst  überzeugt  hat.  Aus 
diesen  Gründen  wird  man  wohl  sagen  können,  dafs  bei  der  Sorgfalt  und 
Zuverlässigkeit,  wie  sie  in  den  Zimmermannschen  Lehrmitteln  meistens  sich 
kundgiebt,  auch  diese  Schulgrammatik  ohne  Bedenken  im  Unterricht  ver- 
wendet werden  darf  und  dafs  sicherlich  Lehrer  wie  Schüler  an  dem  überdies 
sehr  schön  ausgestatteten  Buche  ihre  Freude  haben  werden.  „Zweckmäfsige 
Behandlung^der  Aussprache,  Fafslichkeit  und  nicht  zu  grofser  Umfang  der 
Regeln,  angemessener  Inhalt  der  Übungsstücke"  (v.  Centralorgan)  sind 
in  der  That  Eigenschaften,  welche  ein  englisches  Schulbuch  in  hohem  Grade 
zieren  .und  welche  allein  es  zu  einem  im  wahren  Sinne  guten  und  brauch- 
baren Lehrmittel  machen,  sollte  sogar  immer  noch  da  und  dort  ein  etwas 
zweifelhafter  Satz  oder  Ausdruck  stehen  geblieben  sein. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  219 

Es  bleibt  nun  nur  noch  eine  Frnge  zu  besprechen,  die  bei  der  Schul- 
bücherkritik  unseres  Erachtens  nicht  immer  mit  der  wünschenswerten 
Schärfe  und  Sicherheit  klar  gestellt,  oft  sogar  ganz  übersehen  wird,  obgleich 
sie  für  die  Unterrichtspraxis  von  höchster  Bedeutung  ist.  Die  gröfsten 
Mifserfolge  des  Lehrers  rühren  nämlich  sehr  häufig  nur  daher,  dafs  er  es 
nicht  verstanden  hat,  ein  für  die  betreffende  Altersstufe  passendes  Lehr- 
mittel auszuwählen.  Auf  die  blofsen  Titelangaben  ist  eben  oft  kein  Ver- 
lafs ;  oder  es  kommt  auch  vor,  dafs  dieselben  nicht  recht  beachtet  werden. 
Was  Zimmermanns  Schulgrammatik  betriff't,  so  läfst  sich  mit  Bestimmtheit 
sagen,  dafs  dieselbe  wegen  des  darin  eingeschlagenen  raschen  Ganges  durch- 
aus nur  für  Schulen  pafst,  wo  der  englische  Unterricht  bei  schon  ziemlich 
vorgeschrittenem  Alter  und  verhältnismäfsiger  geistiger  Reife  der  Schüler 
begonnen  wird ;  Realgymnasien  und  ganz  besonders  auch  Gymnasien  sind 
also  die  Anstalten,  wo  das  Buch  mit  grofsem  Vorteil  gebraucht  werden 
kann.  Viele  Lehrer  werden  es  für  vollkommen  genügend  erachten,  diesen 
ersten  Lehrgang  durchzunehmen,  um  nachher  der  Lektüre  um  so  mehr 
Zeit  widmen  zu  können ;  wer  nicht  dieser  Ansicht  ist,  wird  in  dem  bald 
erscheinenden  zweiten  Lehrgange  zweifellos  eine  entsprechende  Fort- 
setzung finden. 

Noch  eine  andere  Art  der  Verwendung  dieses  Buches  dürfte  sich  aber 
als  sehr  zweckmäfsig  erweisen;  wir  meinen  nämlich,  dafs  es  auch  treff'liche 
Dienste  leisten  würde  als  Fortsetzung  irgend  eines  ganz  einfach  gehaltenen 
Vorkursus  oder  Elementarbuches,  wie  die  von  Berg-Herrig,  Westly- Albrecht 
u.  a.  Wer  genügend  praktische  Erfahrung  hat,  wird  zugeben  müssen,  dafs 
es  doch  immer  wieder  die  Elemente  sind,  gewisse  Punkte  der  Formenlehre, 
worüber  auch  bei  vorgeschritteneren  Schülern  noch  Verstöfse  und  Unsicher- 
heiten bemerkbar  werden.  Mit  einer  Wiederholung  der  Hauptsachen  aus 
der  Formenlehre,  zugleich  mit  den  Elementen  der  Syntax,  in  neuer,  an- 
sprechender Form  und  rascherem  Gang  (wie  gerade  an  der  Hand  dieses 
Buches  möglich  ist)  könnte  wohl  in  den  meisten  Schulen  viel  mehr  erreicht 
werden,  als  mit  den  jetzt  gebräuchlichen,  weitläufigen  Mittel-  und  Ober- 
stufen von  Plate,  Degenhardt  etc.  So  ist  denn  nur  zu  wünschen,  dafs  mög- 
lichst bald  mit  dieser  Schulgrammatik  zahlreiche  praktische  Versuche  der 
einen  oder  anderen  Art  gemacht  werden;  sicherlich  wird  es  kein  Lehrer 
bereuen,  der  dies  thut.  Der  gute  P>folg  wird  nicht  ausbleiben,  weil  auf 
sicherer,  längst  durch  die  Erfahrung  bewährter  Bahn  vorwärts  geschritten  wird. 

Karlsruhe.  Prof.  J.  Guter  söhn. 


J.-B.  Bossuet,  Ausgewählte  oralsons  funebres,  für  den  Schul- 
gebrauch erklärt  von  Dr.  Völcker.  Leipzig,  B.  G.  Teubner. 
115  8. 

Man  braucht  hinsichtlich  der  Wertschätzung  Bossuets  nicht  auf  dem 
Standpunkte  der  Franzosen  zu  stehen,  in  deren  Colleges  fast  sämtliche 
oraisons  des  Bischofs  von  Meaux  den  Memorierstoff  bilden,  und  kann  diesem 
Schriftsteller  doch  eine  mafsvolle  Verwendung  im  Rahmen  unserer  Schul- 
lektüre zuweisen,  wäre  es  auch  nur  der  klassischen  Prosa  halber,  die  er 
bietet,  und  die  der  Schüler  kennen  lernen  mufs.  (Si  des  auteurs  ont  per- 
fectionne  notre  langue  avant  l'Eveque  de  Meaux,  celui-ci  y  a  porte  une 
empreinte  de  grandeur  inconnue.  d'Alembert,  Eloge  de  Bossuet.)  Die 
oben  genannte  Auswahl  aus  den  sechs  von  Bossuet  überhaupt  veröffent- 
lichten Reden  bietet  das  für  unsere  höheren  Lehranstalten  etwa  Wünschens- 
werte, nämlich  die  drei  nach  Inhalt  und  Form  bedeutendsten :  de  Henriette 
de  France,    de  Henriette  d'Angleterre,    de  Louis  de  Bourbon.     Einer  jeden 


220  Benrtoilungen  und  kurze  Anzeigen. 

geht  ein  Lebensabrifs  der  Person,  die  den  Gegenstand  derselben  bildet, 
und  dem  Ganzen  eine  treffliche  Skizze  über  Bossuet  und  die  oraison  fu- 
nebre  überhaupt  voran. 

Die  Anmerkungen  halten  sich  frei  von  den  Fehlern,  die  Münch  in 
seiner  Schrift  „Zur  Förderung  des  französischen  Unterrichts"  so  drastisch 
rüo-t.  Sie  sind  dem  Standpunkte  der  Schüler  oberer  Klassen  angepafst,  und 
der  Interpretation  des  Lehrers  bleibt  voller  Spielraum  gewahrt.  Die 
musterhafte  Sprache  Bossuets  bringt  es  mit  sich,  dafs  sie  meist  sachlicher 
Natur  sind.  Grammatische  Anmerkungen  finden  sich  nur  da,  wo  auffällige 
Abweichungen  vom  gewöhnlichen  Sprachgebrauche  vorliegen,  oder  wo  ein 
kurzer  Hinweis  auf  einen  besonders  instruktiven  Fall  angezeigt  erscheint 
(z.  B.  S.  64,  S.  25:  „Ces  royales  mains;  man  beachte  die  Stellung  des  Ad- 
jektivs." Das  ist  doch  wohl  noch  nicht  mit  der  berülimten  Anmerkung  zu 
vergleichen:   Man  beachte  die  Wortstellung  nach  dont!). 

Nur  einige  Bemerkungen  dazu  mögen  hier  Platz  finden.  Zu  den  Worten 
S.  77,  §  72:  La  Providence  divine  pouvait-elle  nous  mettre  en  vue,  ni  de 
plus  pres,  ni  plus  fortement,  la  vanite  des  choses  humaines?  sagt  Völcker: 
„Ni  de  plus  pres,  ni  plus  fortement  statt:  ou  de  plus  pres,  oü  pl.  f.,  eine 
nicht  blofs  bei  B.  vorkommende  Ungenauigkeit."  Da  der  Sinn  des  Satzes 
negativ  ist,  so  erscheint  der  Ausdruck  „Ungenauigkeit"  ein  bischen  riskiert. 
Cf.  über  ni  Schmitz  S.  342,  dessen  Beispielen  ich  noch  folgendes  aus  Mas- 
caron,  Or.  de  Turenne  hinzufügen  möchte :  Je  suis  bien  eloigne  de  croire 
que  j'aie  ni  la  saintete  ni  la  gravite  du  grand  Ambroise.  —  Das  jetzt  nicht 
mehr  gebräuchliche  plutot  für  plus  tot  (S.  92,  §  18)  hätte  eine  Anmerkung 
verdient.  —  Die  Fassung  der  S.  108  zu  §  67  gegebenen  Note  ist  keine 
glückliche:  „Puis-je  ne  m'arreter  pas ;  eine  abweichende  Stellung  der  Nega- 
tion." Der  Schüler  kommt  zunächst  auf  den  Gedanken,  das  Abweichende 
liege  darin,  dafs  nicht  puis,  sondern  arreter  verneint  worden  sei,  während 
die  dem  Sinne  nach  zu  arreter  gehörige  Negation  diesem  richtig  hinzugefügt 
Avorden  ist  (=  je  ne  peux  pas  ne  pas  m'arreter).  Es  wäre  daher  deutlicher 
zu  sagen:  „Abweichende  Stellung  der  Negation  pas"  oder  statt  „abweichende" 
lieber  „seltenere";  denn  dafs  pas  hinter  einem  einfachen  Infinitiv  steht,  ist 
nichts  Vereinzeltes  (Mätz.  S.  628).  Vergl.  übrigens  dagegen  S.  58,  §  8: 
Nous  ne  pouvons  un  moment  arreter  les  yeux  sur  la  gloire  de  la  princesse, 
sans  que  ...  —  S.  72,  §  51  hätte  noch  perseverance  finale  =  „das  Be- 
harren im  Glauben  bis  ans  Ende"  in  einer  Anmerkung  angegeben  werden 
können. 

Von  Druckfehlern  seien  erwähnt:  S.  41  etaient  statt  etait;  S.  64  ces 
statt  ses ;  S.  70  le  statt  la;  S.  73  empressement  statt  compressement ; 
S.  49  tous  statt  tout;  S.  53  ihrer  statt  ihre;  S.  60  lä  statt  la,  epanchant 
statt  epenchant;  S.  62  rappelleront  statt  rappeleront ;  S.  85  reparer  statt 
reparer;  S.  93  de  statt  des;  S.  94  eclat  statt  eclat;  S.  95  repetait  statt 
repetait;  S.  97  est-ce  lä  statt  est-ce-lä,  S.  38  ist  kurz  hintereinander 
dreimal  ä  statt  a  zu  lesen.  S.  91  (Anfang  von  §  17)  ist  der  Satz  arg 
durcheinander  geraten.  S.  111,  Anm.  zu  §  79  soll  es  doch  wohl  heifsen : 
Wörter  statt  Worte,  Beim  Brechen  der  Wörter  gn  zu  trennen,  ist  wohl 
nicht  zu  billigen  (S.  7,  77,  109).  Ebenso  mufs  S.  43  abgeteilt  werden: 
des-tinee. 

Die  Paragrapheneinteilung  innerhalb  jeder  Rede  erscheint  recht  nach- 
ahmenswert. Auch  dieser  äufsere  \'orzug  bestärkt  in  dem  Gefühle,  dafs 
der  Herausgeber  sich  unsere  Ausgaben  der  alten  Klassiker  zum  Vorbild 
genommen  habe. 

Zittau.  R.  Scherffig. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  221 

Lamprechts  Alexander,  herausgegeben  von  Karl  Klnzel.  — 
Germanistische  Handbibliothek,  herausgegeben  von  Julius 
Zacher.  VI.  Halle,  Waisenhaus,  1885.  LXXX  und 
543  S.    8. 

Die  älteren  Ausgaben  des  Alexander  entsprechen  den  heutigen  An- 
forderungen nicht  mehr;  eine  neuere  enthält  nur  eine,  freilich  interessante 
Redaktion.  So  ist  Kinzels  Arbeit  durchaus  gerechtfertigt.  Sie  bietet  hinter 
einer  umfangreichen  Einleitung,  die  sich  über  die  Handschriften,  die  Historia 
de  preliis,  das  Verhältnis  der  deutschen  Dichtung  zu  ihren  Quellen,  ihre 
Sprache  und  Metrik,  über  Abfassungszeit  u.  a.  ausspricht,  zunächst  die  dem 
Baseler  Texte  eigentümliche  Einleitung  (S.  3 — 24),  dann  soweit  der  Vorauer 
erhalten  ist,  diesen  neben  dem  Strafsburger  (S.  26—17  2),  endlich  diesen 
allein  (S.  173—385).  Unter  dem  Text  sind  die  entsprechenden  Stellen  der 
Hist.  de  preliis  angeführt,  wie  denn  auch  an  geeignetem  Orte  das  roma- 
nische Alexanderfragment  zwischen  den  beiden  deutschen  Redaktionen  Platz 
fand.  So  wird  ein  klares  Bild  der  Überlieferung  gegeben,  um  so  klarer, 
als  der  Herausgeber  allen  textkritischen  Gelüsten  widerstand  und  nur  da 
am  handschriftlichen  Texte  änderte,  wo  grobe  und  offenbare  Verstöfse  vor- 
lagen. Einen  eigenen  Weg  geht  er  in  den  Anmerkungen,  die,  anerkennens- 
wert kurz  gefafst,  dem  Sprachgebrauch  des  Denkmals  in  der  poetischen 
Litteratur  des  11.  und  12.  Jahrhunderts  nachgehen  und  dadurch  dem  mhd. 
Wörterbuche  eine  ansehnliche  Bereicherung  schaffen. 


Dr.  R.  Sonnenburg,  Grammatisches  Übungsbuch  der  französi- 
schen Sprache.  Methodische  Anleitung  zur  Einübung  der 
syntaktischen  Regeln.     Berlin,  J.  Springer,  1884. 

Der  Verfasser,  als  Autor  mehrerer  tüchtiger  Schulbücher  vorteilhaft  be- 
kannt, bezeichnet  das  vorliegende  grammatische  Übungsbuch  als  eine  not- 
wendige Ergänzung  zu  jeder  systematischen  Grammatik.  Dasselbe  giebt  über 
alle  Teile  der  Grammatik  eine  Reihe  von  deutsch-französischen,  und  zwar 
ausschliefslich  deutsch-französischen  Beispielen,  was  im  Vorwort  gerecht- 
fertigt wird.  Ein  zutreff"endes  Urteil  über  das  Buch  im  ganzen  wie  im  ein- 
zelnen wird  unseres  Erachtens  nur  die  Erfahrung  abgeben  können;  und 
dafs  dasselbe  an  manchen  Schulen  eingeführt  werden  wird,  ist  ja  bei  der 
pädagogischen  Bedeutung  des  \erfassers  nicht  zweifelhaft.  L. 

i 


M  i  s  c  e  1 1  e  n. 


Erörteruno;  einer  grammatischen  Frao;e. 

über  die  Frage,  ob  es  richtiger  heifse  z.  B. :  Die  Redaktion  des  „Klavier- 
lehrer" oder:  Die  Redaktion  des  Klavierlehrers,  und  ferner:  Lied  aus  „die 
Meistersinger"  oder:  Lied  aus  den  Meistersinge?'/i  schreibt  Prof.  Dr.  Sanders 
in  Altstrelitz  an  den  Redacteur  des  „Klavier-Lehrer": 

Ihrem  Wunsche  komme  ich  um  so  lieber  nach,  als  eine  fast  gleichzeitig 
an  mich  ergangene  ähnliche  Anfrage  einer  anderen  Redaktion  mir  schlagend 
beweist,  wie  gerade  über  die  vorgelegte  Frage  in  den  gebildeten  Kreisen 
noch  Schwanken  und  Zweifel  herrscht  und  wie  die  Beantwortung  eine  Lücke 
in  meinem  „Wörterbuch  der  Hauptschwierigkeiten  in  der  deut- 
schen Sprache"  ausfüllt. 

Sie  erlauben  mir,  dafs  ich  für  diejenigen  Ihrer  I^eser,  denen  das  ge- 
nannte Buch  nicht  zur  Hand  ist,  eine  Stelle  aus  dem  Vorwort  anführe. 

„Es  giebt,"  habe  ich  dort  gesagt,  „im  Deutschen,  wie  in  jeder  noch  in 
lebendiger  Fortentwickelung  begriffenen  Sprache,  unberührt  von  den  allge- 
mein anerkannten  Regeln,  die  allen  Gebildeten  geläufig  und  vertraut  sind 
und  gegen  die  sie  deshalb  niemals  verstofsen  werden,  eine  nicht  geringe 
Anzahl  von  Fällen,  in  denen  sich  der  Sprachgebrauch  noch  nicht  —  oder 
doch  mindestens  noch  nicht  ganz  entschieden  und  zweifellos  —  festgestellt 
hat  und  in  denen  das  Schwanken  bei  Gebildeten  und  selbst  bei  Schrift- 
stellern eine  Unsicherheit  erzeugt,  ob  die  in  einem  bestimmten  iFalle  neben- 
einander vorkommenden  verschiedenen  Formen  und  Ausdrucksweisen  gleich- 
berechtigt sind  oder  welche  die  richtigere  oder  vielleicht  allein  richtige  sein 
dürfte. 

Diese  Zweifelfälle  sind  nicht  blofs  zahlreicher,  sondern  es  ist  auch  die 
Unsicherheit  in  denselben  gröfser,  als  man  im  allgemeinen  glaubt  und  an- 
erkennt. Um  sich  von  diesem  letzteren  zu  überzeugen  und  die  verschie- 
denen Ansichten  aufeinander  platzen  zu  sehen,  versuche  man  es  nur  einmal 
und  werfe  in  eine  gröfsere  Gesellschaft  Gebildeter  plötzlich  Fragen  über 
derartige  Zweifelfälle  hinein,  wie  wir  beispielsweise  einige  folgen  lassen." 

Die  dort  als  Beispiel  angeführten  Fragen  übergehe  ich  hier,  indem  ich 
mich  sofort  zu  der  hier  zu  erörternden  wende,  nachdem  ich  nur  noch  die 
darauf  folgende  kurze  Stelle  aus  dem  Vorwort  hergesetzt: 

„In  derartigen  Zweifelfällen  und  überall  da,  wo  für  gebildete  Deutsche 
in  dem  Gebrauch  ihrer  Muttersprache  sich  grammatische  Schwierigkeiten 
herausstellen  dürften,  soll  das  vorliegende  Buch  schnelle  und  sichere  Aus- 
kunft erteilen." 

Man  wird  nach  dem  Vorstehenden  —  und  zwar  mit  Recht  —  wohl  ver- 
muten,   dafs   die  hier  zu   erörternde  Frage   auch   in    dem  genannten  Buche 


Miscellen.  223 

nicht  ganz  unbesprochen  geblieben  ist,  und  so  werde  ich  mir  denn  erlauben, 
daraus  im  folgenden  die  betrefFenden  Stellen  zu  entlehnen  und  zu  benutzen. 
So  findet  sich  dort  auf  S.  214a  angegeben: 

Ein  Märchen  —  aus  tausend  und  einer  Nacht   oder  (als   unflektierter 
Buchtitel):  —  aus  „Tausend  und  eine  Nacht". 

Ich  füge  dafür  und  für  einige  andere  Formen  noch  mehrere  (buchstäb- 
lich genau  mitgeteilte)  Belege  hinzu,  vgl.  mein  „Wörterbuch  der  deutschen 
Sprache«  Bd.  1,  S.  353b  s.  v.  Ein  und  Bd.  11,  S.  371b  s.  v.  Nadit: 

Nach  einer  Erzählung  im  ersten  Teile  von  Tausend  und  Einer  Nacht. 

Wieland  (Stereotyp.  Ausg.,  Leipzig  1855)  IV,  1. 
Das  Märchen  von  „Tausend  und  eine  Nacht". 

Heine,  Romanzero  7. 
Wie  ein  Märchen  aus  tausend  und  einer  Nacht. 

National-Zeitung,  27.  Jahrg.,  Nr.  463  (H.  Prutz). 
Ein  Garten  aus  tausend  und  eine  Nacht. 

(Maxim. V.Mexiko)  Aus  meinem  Leben,  2.  Aufl.  (Lelpz.  1867),  III,  48. 
Was  sicherhch    nicht  zu  dem  Original  von    Tausend  und  eine  Nacht 
gehört.  Konvers. -Lexikon  (v.  ßrockhaus),   12.  Aufl  ,  XIV,  399. 

Welch  gut  Geschick  hat  dich  hierher  gebracht? 
Unmittelbar  aus  Tausend  Einer  Nacht? 

Goethe  (40 band.  Ausg.)  XII,  58  etc.; 
ferner  mit  vortretendem  Artikel: 

Ein  Märchen  aus  der  tausend  und  einen  Nacht. 
Ein  Märchen  aus  der  „Tausend  und  eine  Nacht". 
Gallands  Übersetzung  der  „Tausend  und  eine  Nacht", 

Konvers.-Lex.  (Brockhaus),  12.  Aufl.,  X,  120. 
Auch : 

All  die  Wunder   der  Mythologie,   der   Mönchslegenden,   der  Tausend 
und  einer  Nacht.  Wieland  a.  a.  O.  XXXI,  398  etc.; 

ferner : 

Aus  (In)  den  tausend  und  eine?z  Nacht. 

Lichtenberg,  Vermischte  Schriften  II,  383  u.  IV,  366  etc. 
Man  sieht,  dafs  sich  hier  manche  andere  Fragen  anreihen,  wie  z.  B. 
über  die  richtige  Abwandlung  des  „eine",  über  die  Verbindung  des  „tausend 
und  ein"  mit  der  Einzahl  oder  mit  der  Mehrzahl  etc. ;  aber  diese  in  meinem 
„Wörterb.  der  Hauptschw."  erörterten  Fragen  lasse  ich  hier,  um  mich  nicht 
zu  weit  von  dem  zu  behandelnden  Gegenstande  zu  entfernen,  beiseite,  und 
bemerke  nur  noch  in  Bezug  auf  die  Rechtschreibung,  dafs  man  dem  Titel 
da,  wo  man  ihn  als  unveränderlich  anführt,  auch  füglich  das  Geleit  der 
Anführungszeichen  nicht  versagen  darf,  wie  man  richtig  auch  setzen  wird 
und  mufs: 

Aus  der  Märchensammlung  —  oder:   Aus   dem  Werke  etc.  —  „Tau- 
send und  eine  Nacht"  etc. 
In  diesem  Falle  handelt   es   sich   um   einen   Titel,   der   als   solcher   den 
bestimmten  Artikel   nicht  vor  sich  hat;    vergl.  z.  B.  auch  aus  der  National- 
Zeitung,  37.  Jahrg.,  Nr.  66: 

Ein  Marschhymnus  aus  „Bilder  aus  dem  Norden"  von  H.  Hofmann. 
Hier  wird  schwerlich  ein  Deutscher  in  die  Versuchung  geraten,  in  dem 
angeführten  Titel  statt  des  unveränderten  „Bilder"  nach  der  allerdings  den 
Dativ  regierenden  Präposition  „aus"  den  flektierten  Dativ  „Bildern"  zu 
setzen  (s.,u.);  dagegen  wird  er,  wenn  er  seinem  natürlichen  Sprachgefühl 
folgt,  diese  Form  bei  Hinzufügung  des  bestimmten  Artikels  (allein  oder 
mit  einem  Begleitwort)  nicht  nur  unbedenklich  anwenden,  sondern  vor  der 
unverändert  gelassenen  Form  des  Hauptwortes  zurückschrecken.  Er  wird 
sprechen  und  schreiben: 

Ein    Marschhymnus    aus    den    —    oder:    aus    den    bekannten    etc.  — 
„Bildern  (nicht  Bilder)  aus  dem  Norden"  von  H.  Hofmann. 


•224  Miscellen. 

Lautete  aber  der  Titel  z.  B.  eines  Ton-  oder  eines  Dichtwerks  nicht: 
„Bilder  aus  dem  Norden"  (ein  Hauptwort  mit  einem  nachfolgenden  adnomi- 
nalen  Zusatz),  sondern  wäre  statt  dessen  ein  einziges  artikelloses  Hauptwort 
(in  der  Mehrheit)  gewählt,  etwa  „Nordbilder",  vergl.  „Nordlandsbilder", 
^Nordseebilder"  oder  auch  ein  solches  Hauptwort  mit  davorstehendem  attri- 
butivem Eigenschaftswort,  z.  B.  ^Nordische  Bilder",  so  würde  ein  Deut- 
scher, der  unbefangen  seinem  Sprachgefühl  folgt,  doch  mit  Hinzufügung 
des  Artikels  etwa  sagen: 

Eine  Probe  aus  den  „Nord-  od.  Nordlands-,  Nordsee-Bilde?-n",  wie 
auch:  aus  den  „Nordischen  Bilder?!"  von  N.  N. 

Sollte  der  Titel  unverändert  (ohne  das  Dativ-n)  bleiben  so  würde  die 
Einschaltung  eines  dem  Titel  vorangehenden,  die  Gattung  bezeichnenden 
Hauptwortes  sich  empfehlen,  z.  B. 

Eine  Probe  aus  der  Dichtung  od.  aus  der  Tondichtung  od.  aus  dem 
Buche  etc.:  „Nordbilder"  etc.  od.  „Nordische  Bilder"  von  N.  N. 

AVollte  man  hier  das  die  Gattung  bezeichnende  Hauptwort  einfach  weg- 
lassen, also  z.  B. 

Eine  Probe  aus  „Nordbilder"  oder:  aus  „Nordische  Bilder"  von  N.  N., 
so  würde  daran  sicherlich  jedes  unbefangene  deutsche  Ohr  als  an  einer 
Härte  und  etwas  Ungefügem  Anstofs  nehmen. 

Es  versteht  sich  jedoch  wohl  von  selbst,  dafs  statt  des  dem  flektierten 
Titel  vorzusetzenden  Artikels  z.  B.  auch  ein  besitzanzeigendes  Fürwort  oder 
ein  besitzanzeigender  vorangestellter  (sogenannter  „sächsischer")  Genitiv 
eintreten  kann,  z.   B.: 

Herr  N.  N.  hat  in  seinen  „Nordlandsbildern"  (oder:   in  seinen  „Nor- 
dischen Bildern")  eine  grofse  Begabung  an  den  Tag  gelegt, 
oder: 

In  Herrn   N.  N.s   „Nordlandsbildern"    (oder:    „Nordischen    Bildern") 
zeigt  sich  eine  bedeutende  Begabung  etc. 
\'ergl.  z.  B.  auch: 

Lessing  hat  seinen  Epigrammen  den  Titel  „Sinngedichte"  gegeben. 
In  Lessings  (oder:  In  seinen)  „Sinngedichten"  —  wie:  In  den  „Sinn- 
gedichten" Lessings  —  begegnen  wir  überall  dem  treffendsten  Witze. 

Von  den  angeführten  \'ersen  steht  der  eine  in  Uhlands  „Gedichten", 
der  andere  in  Heines  „Letzten  Gedichten". 

Die  dabei  den  Titel  einschliefsenden  Anführungszeichen  heben  hervor, 
dafs  das  Eingeschlossene  eben  als  Titel  eines  Werkes,  nicht  als  Gattungs- 
name zu  fassen  ist.  Es  ist  offenbar  nicht  gleichgeltend  und  gleichgültig, 
ob  gesetzt  wird: 

In  Heines  „Letzten  Gedichten"  —  oder:  In  Heines  letzten  Gedichten 
(wobei  man  auch  auf  den  grofsen  und  den  kleinen  Anfangsbuchstaben  in 
dem  attributiven  ^Eigenschaftswort  achte).  Natürlich  kann  der  Titel  als 
solcher  auch  auf  andere  Weise  hervorgehoben  werden,  z.  B.  in  der  Schrift 
durch  Unterstreichen,  im  Druck  durch  Sperren  oder  durch  eine  abstechende 
Schriftgattung  etc. 

Dagegen  widerstrebt  es,  wie  gesagt,  dem  unbefangenen  deutschen 
Sprachgefühl  und  Ohr,  hier  den  Titel  ohne  Artikel  oder  besitzanzeigenden 
Ersatz  desselben  flexionslos  zu  setzen,  also  etwa  —  ohne  das  in  eckige 
Klammern  Eingeschlossene  — 

Der  Vers  steht  in  [dem  Buch]  „Letzte  Gedichte"  von  Heine,  oder: 
in  Heines  [Buch]  „Letzte  Gedichte", 
ganz  abgesehen   davon,   dafs   solche   erkünstelte   Unterscheidung   in  anderen 
Fällen  auch  ihren  vermeinten  Wert  verliert,  wie  in  dem  folgenden: 

Der  V^ers   steht  in    [der  Gedichtabteilung]  „Balladen  und  Romanzen" 
von  Uhland, 
vergl.  (unter  Hinzufügung  des  Artikels) : 

in  den  „Balladen  und  Romanzen"  von  Uhland  etc. 


Miscellen.  225 


Jü 


Ist  der  Titel  eines  Werkes  ein  artikelloser  Kigennanie,  so  kann  oder 
mufs  innt^rhalb  des  Satzgefüges  doch  oft  der  Artikel  hinzutreten.  Um  die 
Grenzen  dieses  Aufsatzes  nicht  allzu  weit  auszudehnen,  verweise  i(h  hier 
auf  das  in  meinem  „Wörterb.  der  Hauptschw."  (auf  8.  73  ff.  unter  dem 
Abschnitt:  „Bezeichnung  von  Abhängigkeitsverhältnissen  durch  Artikel  und 
Präpositionen  statt  Kasus"  und  auf  S.  225  ff",  unter  dem  Abschnitt  „Per- 
sonennamen") Gesagte,  das  im  allgemeinen  unter  Berücksichtigung  des  im 
vorstehenden  Auseinandergesetzten  genügen  dürfte.  Ich  beschränke  mich 
absichtlich  hier  auf  weniges,  zum  geringeren  Teil  von  dort  Entlehntes,  zum 
gröfseren  es  Erweiterndes. 

Sehr  bezeichnend  ist  es,  dafs  es  z.  B.  bei  Goethe  a.  a.  O.  XXVII,  S.  6  heifst: 
Die  Anfänge  des   Wilhelm  Meister   wird   man   in   dieser  Epoche  auch 
schon  gewahr 
und  gleich  auf  der  folgenden  Seite  ohne  Artikel,  mit  dem  Genitiv-s: 

Die  Anfänge  Wilhelm  Meisters  [od.  Meister'' s^  hatten  lange  geruht. 
In  dem.  Titel  „Wilhelm  Meister"  ist  Meister  ein  Eigenname;  hiel'se 
aber  der  Titel  z.  B.  einer  Erzähhmg  in  umgekehrter  Reihenfolge:  Mt-istrr 
Wilhelm,  so  wäre  hier  Meister  ein  Gattungsname,  der  jedoch  in  solcher 
Verschmelzung  (s.  a.  a.  O.)  im  Genitiv  auch  unverändert  bleiben  würde 
(und  zwar  nicht  blofs,  wo  es  sich  um  einen  Büchertitel  etc.  handelt),  z.B.: 
Meister  Wilhelms  Gesellen  oder:  Die  Gesellen  des  Meister  Wilhelm  etc., 
also  z.  B.  auch : 

Der  Schlufs   des  „Meister  Martin  und  seine  Gesellen''  von  E.  T.  A. 
Hoff  mann. 
Man  beachte  dabei,  dafs  hier  natürlich  auch  der  mit  und  hinzugefügte  Teil 
des  Buchtitels  unflektiert  bleibt,    weil   er  eben  mit  dem  Vorangehenden  zu- 
sammen ein  unverändert   zu   lassendes  Ganze  bildet  (s.  u.),   vergl.  dagegen, 
wo  es  sich  nicht  um  den  Titel  der  Erzählung  handelt: 

Die  Küferthätigkeit   des  Meister  Martin  [oder:  Meister  Martins]  und 
seiner  Gesellen. 

Wir  führen  hier  zum  Abschlufs  nur  noch  an: 
Vater  Homers  Gedichte  oder:  Die  Gedichte  Vater  Homers,  auch:  Die 
Gedichte   des  Vater  Homer,   aber  nicht  füglich:    Die  Gedichte   des  Vater 
Homers  etc.,  vergl. :  In  der  Anfangsstrophe  des  „Ritter  Toggenburg"  von 
Schiller. 

Bisher  haben  wir  Fälle  betrachtet,  in  denen  dem  Titel  eines  Schrift- 
werkes der  Artikel  hinzugefügt  wurde;  anders  verhält  es  sich,  wo  der  Ar- 
tikel bereits  im  Titel  als  zugehöriger  Bestandteil  desselben  sich  findet. 

Wir  beginnen  hier  mit  dem  einfachsten  Falle,  wo  der  Titel  eben  nur 
aus  einem  einzigen  Hauptwort  mit  zugehörigem  Artikel  besteht,  z.  B.  als 
Titel  von  Zeitschriften : 

„Der  Hausfreund",    „Der  Westbote",    „Der   Freisinnige"   etc.;    „Die 
Gegenwart"  etc.;  „Das  Ausland"  etc.;  „Die  Grenzboten"  etc. 

Ganz   unverändert   bleibt    ein   solcher   Titel  nur   da,   wo   ihm   der  ent- 
sprechende Gattungsname,  hier  also  „Die  Zeitschrift"  etc.  vorangestellt  ist,  z.B.: 
In  der  Zeitschrift  „Z)«s  Inland"'  etc. 

Siebenpfeiffer  als  Herausgeber  des  Blattes:  ^Der   Westbote^^. 
Rotteck  und  Welcker   waren   die  Herausgeber   der  Zeitschrift:  „Der 
Freisinnige'' . 

Schottländer    ist    der    Verleger    des    Familienblattes:     „Der    HattS" 
freund^^  etc. 

Sonst"  unterliegt  im  Satzgefüge  wenigstens  der  Artikel  regelmäfsig  der 
Flexion  und  die  Folgerichtigkeit  gebietet  dann  wohl  unabweislich  auch  die 
entsprechende  Flexion  des  zugehörigen  Hauptwortes.  Wer  —  wie  man  das 
allerdings  nicht  selten  findet  —  z.  B.  setzt: 

Der  Verleger  —  Der   Herausgeber   —  In  den   Spalten  etc.   des  „In- 
land'', —  des  „Hausfreund", 
Archiv  f.  n.  Sprachen.  LXXIII.  15 


226  ■  Miscellen. 

weil  er  den  Titel  als  unveränderlich  betrachtet,  übersieht  zuerst,  dafs 
gerade  er  den  Titel  nicht  unverändert  lafst.  Er  mülste,  wollte  er  seinen 
Grundsatz  durchführen,  vielmehr  setzen : 

In  den  Spalten  des  „das  Inland''^ 

Der  Herausgeber  des  „der  Hausfreund'*. 

Die  von  ihm  angewandte  Ausdrucksweise  würde  selbst  nach  seinem 
Grundsatz  nur  dann  richtig  sein,  wenn  der  Titel  des  zu  bezeichnenden 
Blattes  ohne  Artikel  lautete:  Inland,  Hausfreund. 

Zweitens  müfste  er  folgerecht  seine  Ausdrucksweise  auch  da  durch- 
führen, wo  das  Hauptwort  schwache  Abwandlung  hat,  d.  h.  im  Genitiv 
nicht  auf  -s,  sondern  auf  -n  ausgeht. 

Welche  deutsche  Zunge  und  welches  deutsche  Ohr  aber  sträubt  sich 
nicht  aufs  entschiedenste  gegen  Ausdrucksweisen  wie: 

In  dem  „Freisinnige"  —  In  den  Spalten  des  „Freisinnige". 
Die  Herausgeber  des  „Freisinnige",  des  „Westbote". 

Einzig  richtig  erscheint  demnach,  wie  gesagt,  die  Flexion  des  Haupt- 
wortes in  Übereinstimmung  mit  dem  zugehörigen  Artikel,  wobei  man  füg- 
lich das  Hauptwort,  um  es  als  Titel  hervorzuheben  und  somit  von  dem 
gleichlautenden  Gattungsnamen  zu  unterscheiden,  in  Anführungszeichen  ein- 
zuschliefsen  oder  (s.  o.)  sonst  irgendwie  besonders  bemerklich  zu  machen 
hat,  also  z.  ß. : 

Jean  Paul  in  den  „Flegeljahren",  in  dem  Roman  „Die  Flegeljahre". 
Im  „Inland".  In  den  Spalten  des  „Inlands".  Im  „Freisinnigen".  Die 
Herausgeber  des  „Freisinnigen".  Das  Verbot  des  Siebenpfeillerschen 
„Westboten".  Der  Absatz  des  bei  Schottländer  erscheinenden  „Haus- 
freundes" etc.  etc. 

Wollte  man  aber  z.  B.  genau  zwei  Zeitschriften  unterscheiden,  von 
denen  die  eine  blofs  (ohne  Artikel)  „Hausfreund",  die  andere  „Der  Haus- 
freund" heifst,  so  würde  man  den  entsprechenden  Gattungsnamen  (Zeit- 
schrift, Familienblatt  etc.)  hinzufügen  müssen: 

Der    Absatz    der    bei    Schottländer    erscheinenden    Zeitschrift    „Der 
Hausfreund"  u,  s.  w. 

Danach  heifst  es  auch,  um  auf  die  an  die  Spitze  gestellte  Frage  zu- 
rückzukommen, richtig: 

Die  Redaktion  des  „Klavierlehrers", 
vergl.  ferner  z.  B. : 

Lortzing  ist  der  Komponist  des  j, Wildschützen"  und  des  „Waffen- 
schmieds". 

Die  Ouvertüre  des  „Freischütze?!"  von  Weber  etc. 
Dafs  die  Fortlassung  der  Fiexionsenduno;  hier  nicht  von  allen  als  störend 
empfunden  wird,  habe  ich  gesagt,  aber  es  darf  dies  nicht  befremden,  da 
—  abgesehen  von  dem  Titel  —  sich  derartige  Nachlässigkeiten  auch  sonst 
finden,  siehe  in  meinem  „Wörterb.  der  Hauptschw."  etc.  S.  104  a,  wo  ich 
z.  ß.  aus  einem  Werke  der  Gräfin  Ida  Hahn-Hahn  angeführt  habe: 

Den  kurzen  anstofsenden  Tritt  meines  Langohr  [statt  Langohrs]  u.  a.  m. 
und  ebenda  S.  10')b  über  die  Formen   des    Dativs   und    des    Accusativs    der 
Einzahl:  dem  und  den  Schütz  statt  Schützen,  siehe  z.  ß.: 
Sie  wendete  sich  zum  Schütz. 

Auerbach,  Neue  Dorfgeschichten  I,  45,  171  etc. 
Eine  neue  Bestätigung  und  Verstärkung  aber  erhält  die  aufgestellte 
Regel  durch  die  Betrachtung  des  Falles,  wo  der  Titel  aufser  dem  Haupt- 
wort und  dem  dazu  gehörigen  Artikel  noch  ein  dazwischen  stehendes  Eigen- 
schaftswort (oder  mehrere)  enthält.  Hier  fügen  sich  unbedingt  Artikel  und 
Eigenschaftswort  der  durch  das  Verhältnis  im  Satzgefüge  erheischten  Flexion, 
die  somit  auch  für  das  verbundene  Substantiv  eintreten  mufs.  Wenige  Bei- 
spiele werden  genügen : 


Miscellen.  227 

Die  Redaktion  —  der  Zeitschrift:  „Das  Neue  Blatt"  oder:  —  des 
„Neue/i  Blattes". 

Hebel  als  Herausgeber  —  der  Volksschrift  „Der  Rheinländische  Haus- 
freund" oder:  als  Herausgeber  des  „Rheinlandischen  Hausfreund(e)s"  etc. 
In    dem  Roman:    „Der   Deutsche    Krieg"   oder:    In   dem    „Deutschen 
Krieg(e)"  von  H.  Laube. 

In  den  „Neuen  Beiträgen". 
Der  Komponist  des  „Fliegenden  Holländers". 
Die  Geschichte  des  „Ewigen  Juden"  etc. 
Hierbei  macht  es  keinen  Unterschied,  ob  der  Artikel  wirklich  zum  Titel 
gehört  oder  (s.  o.)   nur   zur  Bezeichnung   des  Kasusverhältnisses   vorgesetzt 
ist,  so  z.  B. : 

In  dem  Feuilleton  des  „Stuttgarter  Neuen  Tageblatt(e).s*'  etc. 
Noten  und  Abhandlungen  zu  besserem  Verständnis  des  ^West-östlichen 
Divans".  Goethe  a.  a.  O.  IV,  155, 

wo  ich  nur  die  verdeutlichenden  Anführungszeichen  hinzugefügt  habe  etc. 

Tritt  in  dem  Titel  zu  dem  Hauptwort  noch  ein  nachfolgender  adnomi- 
naler  Zusatz,  so  wird  dadurch  in  dem  Verhältnis  nichts  Wesentliches  ge- 
ändert und  das  Gesagte  bleibt  bei  Bestand;  es  genügt  daher  hier  die  An- 
führung einiger  Beispiele: 

Wir  finden  das  bei  Schiller  in  seinem  „Ring  des  Polykrates",  in  den 
„Kranichen  des  Ibykus",  in  dem  „Kampf  mit  dem  Drachen",  dem  „Gang 
nach  dem  Eisenhammer",  dem  Grafen  von  Habsburg",  dem  „Verschleierte/i 
Bild  zu  Sais",  dem  „Mädchen  aus  der  Fremde",  der  „Antike  an  den 
nordischen  Wanderer"  etc. 

Vergl.:  in  seinen  Gedichten:  „Der  Ring  des  Polykrates",  „Die  Kra- 
niche des  Ibykus"  etc. 

Heine  in  den  „Bädern  von  Lucca",  vergl.:  in  der  Schrift:  „Die  Bäder 
von  Lucca"  etc. 
auch  im  Genitiv,  z.  ß. : 

Schiller  hat  den  Stoff  des  „Kampfes  mit  dem  Drachen"  —  vergl.: 
den  Stoff  der  Ballade:  „Der  Kampf  mit  dem  Drachen"  —  dem  Abbe 
Vertot  entlehnt.  Woher  hat  er  den  Stoff  des  „Verschleierten  Bildes  zu 
Sais"  —  vergl.:  des  Gedichtes:  „Das  verschleierte  Bild  zu  Sais"  —  ge- 
nommen? 

Das    Textbuch    —    der   „Meistersinger    in   Nürnberg"   oder:    zu    den 
„Meistersingern  in  Nürnberg",  auch  (s.  u.)  verkürzt:  zu  den  „Meistersinorern", 
siehe  ferner,    wo   der  Artikel   nicht   Bestandteil  des   Titels,    sondern   hinzu- 
gefügt ist,  z.  B.: 

Lessing  in  den  „Zerstreuten  Anmerkungen  über  die  Epigramme  und 
einige  der  vornehmsten  Epigrammatisten". 

Die  Mitarbeiter  der  „Neuen  Beiträge  zum  Vergnügen  des  Verstandes 
und  Witzes"  —  oder:  an  den  „Neuen  Beiträgen  zum  \'ergnügen  etc." 
nannten  sich  auch  „Bremer  Beiträger". 

In  der  letzten  Nummer  des  „Magazins  für  die  Litteratur  des  In-  und 
Auslandes". 

In  dem  50.  Bande  des  „Archivs  für  das  Studium  der  neueren  Sprachen 
und  Litteraturen"  etc. 

Derartige  langatmige  Titel  werden  bekanntlich,  wo  man  kein  Mifsver- 
ständnis  zu  befürchten  hat,  gern  verkürzt,  z.  B. : 

Die  Mitarbeiter  an  den  „Bremer  Beiträgen".  Die  Nummer  des  „Maga- 
zins".    Im  50.  Bande  des  „Archivs"  etc. 

Das  erste  Beispiel,  in  welchem  niemand  die  Dativendung  an  dem  Haupt- 
wort unterdrücken  wird,  zeigt  wohl,  dafs  man,  wie  schon  oben  bemerkt, 
füglich  nicht  setzen  sollte:  des  „Magazin",  des  „Archiv",  wie  man  ja  auch 
im  Genitiv  nicht  sagt:  Die  letzte  Nummer  des  „Wendischen  Bote",  —  des 
„Reichsbote",  sondern:  des  „..Boten"  etc. 

15* 


228  Miscellen. 

Eine  besondere  Beachtung  verdient  nun  noch  der  Fall,  wo  der  Titel 
aus  mehreren  durch  nebenordnende  Rindewörter  (wie  und,  oder)  verknüpften 
Hauptwörtern  besteht;  aber  es  scheint  angemessen,  vor  der  Erörterung 
dieses  Falles  den  zu  betrachten,  in  welchem  der  Titel  eine  Flexion  anzu- 
nehmen unfähig  oder  weniirstens  unireeignet  ist. 

Gehen  wir  dabei  von  folgenden  Beispielen  aus: 

Goethe  hat  in  dem  achten  Buche  seines  Werkes  —  vergl. :  in  seinem 
Werke  — -.  „Aus  meinem  Leben.  Wahrheit  und  Dichtung"  die  mächtige 
Wirkung  der  Lessingscben  Abhandlung:  „Wie  die  Alten  den  Tod  ge- 
bildet" hervorgehoben. 

In  der  akademischen  Antrittsrede :  „Was  heifst  und  zu  welchem  Zweck 
studiert  man  Universalgeschichte?"  führt  Schiller  diesen  Gedanken  aus. 

Tn  dem  Lustspiel:  „Was  ihr  wollt"  von  Shakespeare.  In  dem  zweiten 
Akt  des  Lustspiels:   „Was  ihr  wollt". 

Dies  geflügelte  Wort  stammt  —  aus  dem  Lied:  „An  die  Freude" 
von  Schiller  —  aus  der  letzten  Strophe  des  Liedes:  „An  die  Freude"  von 
Schiller. 

Der  Arie  —  oder:  Dem  Vortrag  der  sogenannten  Buchbinderarie: 
„Ein  Band  der  Freundschaft"  folgte  ein  Da-capo-Ruf  etc. 

Hier  sind  überall  die  .in  Anführungszeichen  eingeschlossenen  Titel  ganz 
unverändert  geblieben,  während  das  Kasusverhältnis  durch  Flexion  an  den 
ihnen  vorangeschickten  Gattungsnamen  bezeichnet  ist.  Versucht  man  nun, 
diese  Gattungsnamen  mit  ihren  attributiven  Begleitwörtern  einfach  weg- 
zulassen, so  überzeugt  man  sich  sofort,  dafs  dies  —  mit  mehr  oder  minder 
Härte  —  ohne  weitere  Veränderung  überhauot  nur  da  anseht,  wo  das  Ab- 
hängigkeitsverhältnis  durch  eine  Präposition  bezeichnet  ist.  So  kann  das 
Eingeklammerte  z.  B.  fortgelassen  werden,  wo  es  heifst: 

In  (dem  Lustspiel):  „Was  ihr  wollt"  von  Shakespeare, 
aber  nicht,  wo  der  Gattungsname  im  blofsen  Genitiv  steht: 

In  dem  zweiten  Akt  (des  Lustspiels)  „Was  ihr  wollt"  etc. 
Hier  müfste,  um  das  Abhängigkeitsverhältnis  erkennen  zu  lassen,  wenig- 
stens der  Artikel  beibehalten  werden  oder  als  Ersatz   dafür  die  Präposition 
von  eintreten : 

In  dem  zweiten  Akt  des  (oder:  von):  „Was  ihr  wollt"  von  Sh. 
Ahnlich   mufs  dem  blofsen  Titel   im   reinen  (d.  h.  nicht  von  einer  Prä- 
position   abhängigen)    Dativverhältnis   zur   Bezeichnung   dieses    Verhältnisses 
der  Dativ  des  sächlichen  Artikels  vorgesetzt  werden,  vergl.: 

Der  Arie:   „Ein   Band  der   Freundschaft"   —   und:    Dem    „Ein    Band 
der  Freundschaft"  folgte  der  Da-capo-Ruf. 
wie  auch  (s.  o.): 

Dem  Vortrag  des  (oder:  von):  „Ein  Band  der  Freundschaft"  folgte 
der  Da-capo-Ruf  etc. 

Sorgfältige  Stilisten  vermeiden  im  allgemeinen  hier  die  Fortlassung  des 
den  Titel  einleitenden  Gattungsnamens,  weil  ihr  eine  bald  minder,  bald 
mehr  hervortretende  Härte  anhaftet,  wie  man  klar  erkennen  wird,  wenn  man 
die  Fortlassung  in  den  obigen  Beispielen  durchzuführen  versucht.  Die  Härte 
tritt  nur  da  sehr  zurück  oder,  man  kann  fast  sagen:  sie  verschwindet  da, 
wo  der  Titel  einer  fremden  Sprache  angehört  oder  sonst  in  seiner  all- 
bekannten Fassung  und  Zusammenfassung  sich  doch  gleichsam  als  ein  ein- 
ziger zusammengehöriger  Ausdruck  auffassen  und  behandeln  läfst,  wie  z.  ß. 
(s.  o.)  in  dem  fast  sprichwörtlichen  „Was  ihr  wollt",  vergl.  ferner: 

Die  Aufführung  von  [=  des  Lustspiels]  „Viel  Lärm  um  nichts"  von 
Shakespeare. 

Malkolmi  spielte  den  „Vater  Märten"  in  [dem  Vorspiel]:  „Was  wir 
bringen". 

Der  erste  Akt  von  —  eine  Arie  aus  —  [der  Oper]:  „Cosi  fan  tutte" 
von  Mozart. 


Miscellen.  229 

Die  Feier  schlofs  mit  dem  [Lied]:  —  mit  der  Absingung  des  [Liedes]:  — 
„Gaudeamus  ifjitur"  etc. 

Auf  solche  Beispiele  indeklinabler  Titel  darf  man  sich  aber  natür- 
lich nicht,  wie  dies  von  manchem  geschieht,  berufen,  um  auch  für  ab- 
wandln ngs  fähige  Titel  die  Nichtabwandlung  als  Regel  zu  begründen. 
Wer  in  vermeinter  Korrektheit  z.  B.  schreibt  und  geschrieben  wissen  will  ( s.  o.) : 

Aus  „Die  Meistersinger" 
müfste   folgerichtig   auch   den  Titel   im  Genitiv    unverändert    bewahren   und 
dürfte  also  nicht  setzen: 

Die  Aufführung  der  „Meistersinger", 
sondern  etwa : 

Die  Aufführung  des  „Die  Meistersinger" 
oder  wenigstens,  wenn  er  den  Artikel  nicht  vorsetzen  will: 
Die  Aufführung  von  „Die  Meistersinger"  etc. 
Ein  Titel,  der  aus  einem  Plauptwort   mit  attributiven  oder  adnominalen 
Bestimmungswörtern  besteht,  ist  deklinabel  und  demgemäfs  dem  Satzgefüge 
durch    die   gehörige   Abwandlung    einzuordnen;    besteht   dagegen   der   Titel 
aus  einem  Satz,  so  ist  er  indeklinabel  und  es  darf  natürlich  nicht  etwa  ein 
an    der    Spitze    stehendes    Hauptwort    darin    der    Abwandlung    unterworfen 
werden,  z.B.:  » 

Die  AVorte  des  [Liedes]:  „Der  Ritter  mufs  zu  blut'gem  Kampf  hinaus" 
sind  von  Theodor  Körner. 

Karl  Schall  hat  zu  dem  [Liede]:  „Der  Ritter  mufs  zu  blut'gem  Kampf 
hinaus"  eine  auf  Körner  bezügliche  Schlufsstrophe  hinzugedichtet,  — 
wobei  —  wenn  auch,  wie  gesagt,    nicht  ganz  ohne  stilistische  Härte  —  der 
dem  .Titel  vorangehende  eingeklammerte  Gattungsname  fortbleiben  kann. 
Ähnlich  auch  z.  B.,  wo  der  Titel  ein  unvollständiger  Satz  ist,  wie: 
In  Calderon,  dem  Dichter  von  „Das  Leben  ein  Traum". 

Konvers.-Lex.  XIII,  912. 
=  dem  Dichter   des  Dramas  (oder:    Schauspiels,    Stücks  etc.):    „Das 
Leben  ein  Traum". 
Siehe  ferner  z.  B. : 
Die   Aufführung    des    [Lustspiels]:    „Der   Neffe    als    Onkel".    —    Als 
Champagne  In  [dem  Lustspiel]:  „Der  Neffe  als  Onkel". 

Nach  dieser  Vorbereitung  komme  ich  nun  auf  den  schon  oben  er- 
wähnten, für  den  Schlufs  aufbewahrten  Fall  zurück,  dafs  der  Titel  aus 
mehreren  durch  nebenordnende  Bindewörter  verknüpften  Substantiven  be- 
stellt. Stehen  dabei  diese  Hauptwörter  ohne  Artikel  oder  andere  attributive 
Begleitwörter,  so  ist  nur  sehr  wenig  zu  bemerken,     ^'ergl. : 

Die  Aufführung  des  Ballets :  „Flick  und  Flock"  und  dafür:  Die  Auf- 
führung —  des  „Flick  und  Flock"  oder  häufiger:  von  „Flick  und  Flock", 
und  so  auch  z.  B. : 

Die  Aufführung  etc.  —  von  „Robert  und  Bertram",  von  „Zar  und 
Zimmermann",  von  Lorbeerbaum  und  Bettelstab",  von  „Kabale  und  Liebe" 
etc ,  auch : 

Die  zehnzeilige  Strophe  in  Schillers  [Ballade] :  „Hero  und  Leander" 
zerfällt  in  zwei  Hälften  von  je  sechs  und  vier  Versen. 

Ich  glaube  hier  nur  auf  das  eine  besonders  aufmerksam  machen  zu 
müssen,  dafs  eine  solche  indeklinable  Zusammenfassung,  unabhängig  von 
dem  Geschlecht  der  verbundenen  Flauptwörter,  richtig  als  Neutrum  auf- 
zufassen und  zu  behandeln  ist. 

Allerdings  ist  Wahrheit  sowohl  wie  Dichtung  ein  weibliches  Hauptwort ; 
aber  man  nehme  z.  B.  den  Satz  (s.  o.): 

Goethe  hat  In  „Wahrheit  und  Dichtung"  die  mächtige  Wirkung  der 
Lessingschen  Abhandlung  hervorgehoben  etc.  = 

in  seiner  Lebensbeschreibung  (oder:  in  seinem  Buche,  Werke):  „Wahr- 
heit und  Dichtung". 


•230  Miscelleii. 

Will  man  hier  dem  Titel  das  besitzanzeigende  Fürwort  hinzutügeu,  so 
müfste  es  nicht  heifsen: 

In  seine?"  „Wahrheit  und  Dichtung", 
sondern: 

In  seinem  „Wahrheit  und  Dichtung", 
und  so  beruht   es   auch  nur   auf  einem  —  durch   einen   übereifrigen  Druck- 
berichtiger verursachten   —    Setzfehler,   wenn  es    in  meiner    ,.Geschichte 
der  deutschen  Litte ratur"  (2.  Aufi.)  §  157,  Nr.  16  von  der  in  Lessings 
„Emilia  Galotti"  wehenden  Luft  heifst: 

Es  war  dieselbe  wie  . . .  die  Atmosphäre  von  Schillers  späterer  „Kabale 
und  Liebe"  statt:  späterem. 

Die  grammatische  Schwierigkeit  wäre  (s.  o.)  vermieden  durch  die  (im 
allgemeinen  in  allen  ähnlichen  Fällen  zu  empfehlende)  Hinzufügung  des 
dem  Titel  voranzustellenden  Gattunssnamens: 

Die    Atmosphäre    von    Schillers    späterem    bürgerlichen    Trauerspiel : 
„Kabale  und  Liebe*'  etc. 
Aber  auch,    wo   die  in   dem  Titel   verbundenen  Substantiva    (oder  auch 
nur  eins  davon)  den  bestimmten  Artikel  oder  sonst  ein  deklinierbares  attri- 
butives Begleitwort  vor  sich  haben,  dürfen  dieselben  doch  hier  füglich  nicht 
flektiert  werden.  ^ 

Goethe  schreibt  (Bd.  VI,  S.  408)  mit  der,  wie  gesagt,  zu  empfehlenden 
Voranstellung  des  Gattungsnamens: 

Prolog  zum  Lustspiel:  „Alte  und  neue  Zeit"  von  Iff'land. 
Aber,    auch   wenn  man  minder  gut  den  Titel   unmittelbar   von  der  Prä- 
position „zu"  abhängen  läfst,  so  dürfte  es  doch  nur  heifsen: 

Prolog  zu  „Alte  und  neue  Zeit",  nicht:  zu  alter  und  neuer  Zeit. 
Vergl. :  In  Lortzings  [Oper]:  „Der  Pole  und  sein  Kind",  mit  dem  ein- 
geklammerten Worte  und  ohne  dasselbe;  ferner  (s.  o.): 

Der  Schlufs  des  [wie:  der  Erzählung]:  „Meister  Martin  und  seine 
Gesellen"  von  E.  T.  A.  Hoffmann. 

Schiller  hat  in  seinem  [Gedicht]:  ..Das  Ideal  und  das  Leben"  später 
einige  Strophen  getilgt. 

Mit  [den  beiden  Gedichten]:  „Der  Edelknabe  und  die  Müllerin"  und 
„Der  Junggesell  und  der  Mühlbach"  machen  [die  darauf  folgenden]:  „Der 
Müllerin  Verrat"  und  „Der  Müllerin  Reue"  einen  kleinen  Roman  aus. 

Der  in    [der  Ballade]:    „Der  Gott   und   die   Bajadere"    vorkommende 
indische    Name    „Mahadö"     oder    eigentlich    „Mahadewa"    entspricht    dem 
lateinischen  „Magnus  dcus"  (grofser  Gott)  etc. 
auch  z.  B. : 

Die    erste  Aufführung  des    [oder:   der   Oper]:    „Don   Juan   oder   der 
steinerne  Gast"  etc., 
vergl.    auch,    wo    der   mit    dem   gleichsetzenden    oder   angeknüpfte   Teil    des 
Titels  eine  indeklinable  Wortverbindung  ist: 

Die  erste  Ausgabe  des  „Laokoon  oder  über  die  Grenzen  der  Malerei 
und  Poesie"  erschien  1766. 


Zu  Goethes  Faust. 

Im  zweiten  Teil  von  Goethes  Faust  (Akt  I,  Vers  1695  ff.)  finden  wir 
eine  mit  ^.Hell  erleuchtete  Säle"  überschriebene  Scene,  welche  uns  den 
Mephisto  als  W^underdoktor  vorführt.  Zuerst  bittet  ihn  eine  Blondine  um 
ein  Mittel  gegen  Sommersprossen.     Mephisto  antwortet: 

Nehmt  Froschlaich,  Krötenzungeu,  kohobiert, 
Im  vollsten  Mondlicht  sorglich  destilliert 
Und,  wenn  er  abnimmt,  reinlich  aufgestrichen. 


Miscellen.  231 

Dann  kommt  eine  Braune,  die  au  einem  erfrorenen  Fulse  leidet: 

Älephisto :    Erlaubet  einen  Tritt  von  meinem  Fufs. 
Braune:       Nun,  das  geschieht  wohl  unter  Liebesleuten. 
Mephisto:   Mein  Fulstritt,  Kind,  hat  Grölsres  zu  bedeuten. 

Zu  Gleichem  Gleiches,  was  auch  einer  litt' ; 

Fufs  heilet  Fufs,  so  ists  mit  allen  Gliedern. 

Er  tritt  die  Leidende  auf  den  Fufs,  sie  geht  —  nach  seiner  Versicherung: 
geheilt  —  von  dannen,  um  einer  Dame  Platz  zu  maciien,  die  ein  Mittel 
gegen  die  Untreue  ihres  Mannes  verlangt.  Mephisto  giebt  ihr  eine  Kohle, 
mit  dieser  soll  sie  dem  Ungetreuen  einen  Strich  auf  das  Gewand  machen 
und  dann  die  Kohle  trocken  verscbhngen.  Die  Kohle  „kommt  von  einem 
Scheiterhaufen,  den  wir  sonst  emsiger  angeschürt". 

Während  nun  die  letzte  Kur  als  auf  Aberglauben  beruhend,  als 
„sympathetisch"  gar  nicht  zu  verkennen  ist,  haben  Faust-Erklarer  aus  den 
bei  der  zweiten  Heilung  vorkommenden  Worten  „Gleiches  zu  Gleichem" 
auf  eine  Persiflage  oder  dergl.  des  Hahnemannschen  Similia  similibus  curantur 
geschlossen,  auch  wohl  die  erste  Kur  für  allopathisch,  die  Allopathie  ver- 
spottend etc.  ausgegeben.  Dies  ist  jedoch  ein  Irrtum:  alle  drei  Kuren 
beruhen  auf  dem  Grundsatz  „Gleiches  zu  Gleichem",  einem  Grundsatz,  der 
im  Volksaberglauben,  namentlich  bei  Krankenheilungen  eine  grofse  Rolle 
spielt,  und  alle  drei  Kuren  sind  demnach  in  eine  Kategorie  zu  stellen. 
Bezüglich  der  erwähnten  Gleichheit  des  Leidens  oder  des  kranken  GHedes 
mit  dem  angewandten  Gegenmittel  weifs  sich  der  Aberglaube  wunderbar  zu 
helfen:  bald  ist  es  die  Form,  bald  die  Farbe,  bald  der  Name  oder  sonstige 
Eigenschaften,  welche  Gleichheit  aufweisen.  So  wendet  man  gegen  die 
unter  dem  Namen  Ziegenpeter  bekannte  Halskrankheit  einen  Ziegenstrick 
an,  den  der  Kranke  um  den  Hals  schlingt  (man  kann  ihm  doch  nicht  eine 
Ziege  selbst  und  daneben  auch  noch  einen  Peter  aufhalsen  !) ;  „gegen  Ohren- 
klang (Ohrenläuteu)  hilft  Glockenstrang",  den  man  ausriefelt  und  in  die 
Ohren  stopft;  gegen  Wasserschneiden  (Blasenschraerzen)  kocht  man  Thee 
aus  einer  Pflanze,  die  eine  blasenförmige  Blüte  hat.  Ja,  dieses  Similia 
similibus  curantur  ist  selbst  bei  dem  rein  abstrakten  Wunderglauben  zu 
finden:  siehe  deshalb  „die  Wallfahrt  nach  Kevlaer"  von  H.  Heine. 

Die  Gleichheit  zwischen  Leiden  und  Mittel  auch  für  die  erste  und  die 
dritte  Kur  Mephistos  nachzuweisen,  ist  leicht.  Sommersprossen  und  Frosch- 
laich haben  ziemlich  gleiche  Form  und  Farbe;  und  die  Zunge  der  für  giftig 
gehaltenen  Kröten  galt  vielleicht  als  Urheberin  von  Sommersprossen;  jeden- 
falls hat  man  sie  für  fähig  gehalten,  Flecke  auf  der  Haut  zu  erzeugen  und 
der  letzteren  ein  gelbes,  schuppiges  Aussehen  zu  verleihen,  wie  solches 
ähnlich  die  Kröten  haben.  —  In  der  dritten  Kur  liegt  die  Gleichheit  etwas 
versteckter,  immerhin  ist  sie  nicht  schwer  herauszufinden:  eine  Hexe  wird 
durch  die  andere  lahm  gelegt.  Die  Dame  sucht  Abhilfe  für  die  Untreue 
ihres  Mannes  bei  einem  völlig  Fremden,  der  auf  den  Mann  nicht  direkt  ein- 
Avirken  kann,  dem  sie  Wunderkraft,  Zauberkraft  zutraut;  dafs  sie  die  Ur- 
sache ihres  Leidens  nicht  bei  sich  selbst  sucht,  liegt  auf  der  Hand,  der 
Mann  ist  nach  den  Begriffen  seiner  Frau  nicht  blofs  verführt,  wie  wir  sagen 
würden,  —  nein,  er  ist  behext.  Der  Scheiterhaufen,  von  welchem  die  Kohle 
herrührt,  ist  (wie  Löper  richtig  vermutet)  der  Scheiterhaufen  einer  Hexe, 
die  Kohle  vielleicht  ein  Knochen  von  dieser  (der  Scheiterhaufen  wäre  „sonst 
[wenn  Mephisto  nicht  gerade  einen  solchen  verkohlten  Knochen  hätte  er- 
langen wollen?]  emsiger  angeschürt";  zum  wenigsten  sind  in  der  Kohle 
Teile  von  der  Hexe,  weil  diese  darauf  gebraten  wurde.  Die  Dame  soll  zu- 
nächst das  Gewand  des  Ungetreuen  mit  der  Kohle  bestreichen  und  dann 
diese  selbst  ti^ocken  verschlucken,  damit  sich  die  Hexenteile  dauernd  mit 
ihrem  Körper  verbinden  und  ihren  Mann  dauernd  an  sie  fesseln.  Die  Künste 
der  verführerischen  Hexe  werden  dadurch  unwirksam  gemacht.. 


232  Miscellen, 

Läfst  sich  somit  nachweisen,    dafs  alle  drei  Heilungen    auf  dem  Grund- 
satz „Gleiches    zu    Gleicheui'*   beruhen   und    dafs   die   erste    und   dritte   eine 
Schilderung  des  Aberglaubens  enthalten,   so   läfst   sich  kaum  noch  zweifeln, 
d;ifs  Goethe  auch  bei  der  zweiten  Kur  lediglich  den  Aberglauben  vor  Augen 
gehabt  hat.    Es  sei  gestattet,  deshalb  folgende  Vermutung  auszusprechen. 
Für  Fuf>leiden   wurden   Mittel   verwendet,   welche   mit   „Fuls"    dem   Namen 
oder  der  Form  nach  verwandt  sind.     Eine  besondere  Rolle   spielten  hierbei 
Pflanzen  mit  Namen  wie  Teufels-  oder  Satans-Fufs,  -Klaue,  -Zehe  u.  dergl. 
Bei    Abfassung    der    betreifenden    Faust-Scene    kam    Goethe,    der   sich    für 
Volksgebräuche  etc.  ungemein  interessierte,    auf  den  Gedanken,  den  Teufel 
als  Mittel   gegen   Fufsleiden    nicht   die   Pflanze   Teufelsfufs  etc.   anraten   zu 
lassen,  sondern  dieses  Mittel  zu  personifizieren ;  damit  hat  der  Dichter  zu- 
nächst   eine   dramatisch  lebhafte  AVirkung   erzielt,    dann    aber    auch   wieder 
etwas  in  die  Dichtung  „hineingeheimnist".  —  Auch  aus  dem  Umstand,  dafs 
Mephisto  der  Dame  sagt,   sie   solle    die  Kohle   trocken  verschlingen,  „nicht 
AVein,    nicht    Wasser    an    die    Lippen    bringen",    geht    des    Dichters    tiefe 
Kenntnis  vom  Aberglauben  hervor.     Wasser  ist  dem  Fürsten  der  trockenen 
Hölle    und   seinen    Dienern    und   Werken    zuwider.     Der   Glaube    ist   heute 
noch    nicht    ausgestorben,    dafs    es    Leute    giebt,    die    mit    dem    Teufel    im 
Bunde    stehen ;    wenn    man   von    solchen   Teufelsbündnern    Geld    bekommt, 
dann  kehrt   es   wohl   zu   diesen  zurück ;   um   nun    aber   zu   wissen,    ob   man 
einfach   bestohlen    wird    oder   ob    man   behextes  Geld   bekommt,   mufs   man 
das    Geld   in   ein    Glas    Wasser   werfen:    ist    es    behext,    dann   wogt   es   im 
Glase   auf  nieder,    es    will   heraus  aus    dem   feindlichen  Element,  aber  ver- 
geblich. — 

Bei  dieser  Gelegenheit  sei  zugleich  erwähnt,  dafs  sich  von  dem  bei 
Shakespeare  (Romeo  und  Julia)  vorkommenden  „to  show  the  fig"  und  dem 
damit  in  X'erbindung  stehenden  Aberglauben  ein  ziemlich  kräftiges  Über- 
bleibsel bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten  hat.  „To  show  the  fig"  be- 
deutet, wie  bekannt,  ursprünglich  eine  unanständige  Gebärde  (sagen  wir: 
eine  „entgegengesetzte  \'erbeugung"),  mittels  welcher  man  einen  Zauber 
brechen  zu  können  vermeinte ;  die  Verbeugung  und  die  sie  begleitende 
Erscheinung  des  unter  „fig"  zu  verstehenden  Körperteiles  wurden  aber  so 
zu  sagen  imitiert  mittels  dreier  Finger.  Natürlich  fühlte  sich  der  durch 
solche  Gebärde  Abgewiesene  stark  beleidigt,  herausgefordert;  darum  ist  die 
betr.  Shakespeare-Stelle  etwa  zu  verdeutschen:  „Soll  ich  ihn  anrempeln?'" 
—  Ebenso  ist  bekannt,  dafs  abergläubische  Mütter  oder  W^ärterinnen,  wenn 
mau  das  gesunde  Aussehen  ihrer  Kinder  oder  Pfleglinge  lobt,  in  diesem 
Lobe  eine  „Beschreiung"  des  Kindes,  ein  „Berufen"  von  Unheil  erblicken, 
sobald  mit  dem  Lobe  nicht  zugleich  der  Schutz  Gottes  erfleht  wird  („be- 
hüte es  Gott!").  Manche  Mütter  etc.  brechen  nun  den  gefürchteten  Zauber, 
indem  sie  selbst  die  Schutzformel  schleunig  aussprechen ;  andere  aber  glauben 
ihr  Kind  nur  dadurch  vor  Unheil  schützen  zu  können,  dafs  sie  an  den  „Be- 
schreier"  eine  nicht  mifszuverstehende  Aufforderung  ergehen  lassen,  die 
diesen  und  das  Kind  betrifft,  und  dals  sie  mit  dieser  Aufforderung  auch 
wohl  eine  Entblöfsung  des  Kindes  verbinden.  L.  I. 


Zur  deutschen  Orthographie. 

Dafs  gewisse  Substantiva,  wenn  sie  den  Charakter  von  Adverbien, 
Präpositionen  oder  Konjunktionen  angenommen  haben,  auch  in  ortho- 
graphischer Hinsicht  als  solche  zu  behandeln,  d.  h.  klein  zu  schreiben  sind 
—  darüber  herrscht  im  allgemeinen  wohl  kaum  noch  eine  Meinungsver- 
schiedenheit :   vergl.  teils^   anfangs,   seitens,   meinerseits,   abends,  nachts,  vor- 


Miscellcn.  '  233 

oder  nachmiltags^  beizeiten,  jedenfalls,  keinesfalls,  jederzeit,  zeitlebens,  heut- 
zutage, lurderhand,  hierzulande  etc.  Dagegen :  von  einem  grofsen  Teile,  von 
meiner  Seite,  iii  der  Nacht,  an  jenem  Tage,  zu  allen  Zeiten,  in  keinem  Falle, 
im  Anfange  des  Krieges,  zu  seiner  rechten  Hand,  in  unserem  Lande  etc. 
Von  diesen  Dingen  soll  also  hier  nicht  weiter  die  Rede  sein,  obwohl  auch 
hierüber  noch  manches  zu  sagen  wäre.  Es  handelt  sich  vielmehr  jetzt  um 
ein  Gebiet  in  der  deutschen  Orthographie,  auf  welchem  gerade  in  unseren 
Tapen  eine  fast  schrankenlose  Willkür  um  sich  gegriffen  hat  und 
auf  dem  eine  A'erständigung  über  die  richtige  Schreibweise 
ebenso  wünschenswert  wie  schwierig  ist.  Übrigens  wird  man  bald 
erkennen,  dafs  das  Folgende  mit  dem  oben  Erwähnten  nahe  zusammen- 
hängt. 

Indem  wir  zur  Sache  übergehen,  schicken  wir  zunächst  einen  Satz 
voran,  der,  wie  er  die  Grundlage  und  den  Kern  aller  folgenden  Betrach- 
tungen bildet,  so  auch  der  allgemeinen  Zustimmung  sicher  sein  darf.  Wenn 
ein  Substantiv  mit  einem  anderen  Worte,  namentlich  einem 
Verb  um,  zu  einem  Begriffe  verschmolzen  und  gleichsam  be- 
grifflich mit  ihm  zusammengewachsen  ist,  so  hat  man  diesem 
Umstände  auch  in  der  Schreibweise  (durch  Anwendung  der  kleinen 
Anfangsbuchstaben)  Rechnung  zu  tragen.  Demgemäfs  schreibt  man 
jetzt  allgemein  teilnehmen,  zuteil  werden,  zu  gründe  gehen,  zu  gründe  richten, 
stattfinden,  statthaben,  stattgeben,  zu  statten  kommen,  von  statten  gehen,  im 
Stande  sein,  zu  stände  kommen,  zu  stände  bringen,  standhalten,  zu  gute  kom- 
men, zu  ivege  bringen,  zu  nutze  machen,  bei  seite  setzen,  bei  seite  bringen,  zu 
tage  kommen,  zu  tage  bringen,  anstand  nehmen  (=  Bedenken  tragen),  acht 
geben,  sich  in  acht  nehmen,  aufser  acht  lassen,  zu  geböte  stehen,  preisgeben, 
schuld  geben,  schuld  sein,  willens  sein,  icunder  nehmen  u.  a.  d.  A.  Über  die 
Grenze  aber,  bis  zu  welcher  man  in  der  angegebenen  Rich- 
tung gehen  dürfe  oder  gehen  müsse,  ist  in  der  Praxis  durch- 
aus noch  keine  Verständigung  oder  Übereinstimmung  zu  be- 
merken. Ganz  abgesehen  von  geringen  Abweichungen  (vergl.  zu  gründe 
gehen,  zugrunde  gehen,  zugrundegehen:  teil  zu  nehmen  und  teilzunehmen; 
statt  finden  und  stattfinden  etc.)  ist  man  auch  in  der  Hauptsache,  d.  h.  in 
der  Wahl  der  grofsen  oder  kleinen  Anfangsbuchstaben  noch  keineswegs  zu 
einer  gleichmäfsigen  Schreibweise  gelangt.  Man  findet  oft  das  Verschie- 
denste bunt  durcheinander:  zu  Kate  (Rathe)  halten  und  zu  rate  halten  oder 
zurate  halten  (auch  in  ein  Wort  geschrieben,*  ebenso  bei  zu  Rate  ziehen'); 
zu  Liebe  thun  urfd  zu  liebe  (resp  zuliebe)  thun ;  zu  Bette  gehen  und  zu  bette 
(resp.  zubette)  gehen;  zu  Kreuze  kriechen  und  zu  kreuze  (resp.  zukreuze) 
kriechen;  zur  Last  legen  und  zur  last  legen;  zu  Fiifsen  fallen  und  zu  fiifsen 
fallen;  zu  Kräften  kommen  und  zu  kräften  kommen;  zu  Willen  sein  und  zu 
willen  sein;  Hecht  oder  Unrecht  haben  (thun)  und  recht  oder  tmrecht  haben 
(thun);  zu  Hilfe  kommen  (resp.  nehmen,  rufen)  und  zu  hilfe  kommen;  zu 
Wasser  werden  und  zu  wasser  werden ;  im  Stiche  lassen  und  im  stiche  lassen; 
Folge  leisten  und  folge  leisten ;  den  Kürzeren  ziehen  und  den  kürzeren  ziehen ; 
zu  Schanden  werden  und  zu  schänden  werden ;  Trotz  bieten  und  trotz  bieten  etc. 
Es  würde  nicht  schwer  sein,  die  Zahl  solcher  Beispiele  zu  verdoppeln  oder 
zu  verdreifachen,  die  angeführten  werden  aber  genügen,  um  ein  Bild  von 
den  betreffenden  Schwankungen  zu  geben.  Von  einer  definitiven  Fest- 
stellung der  Schreibweise  in  jedem  einzelnen  Falle  kann  wohl  zum  teil  des- 
halb noch- nicht  die  Rede  sein,  weil  die  Sprache  selbst  noch  in 
einer  fortschreitenden  Entwickelung  begri f f e n  i s t  —  allerdings 
(wie  wir  gleich  hinzusetzen  können)  in  einer  Entwickelung  nach  der  Seite 
der  oben  besprochenen  Verschmelzung  der  Begriffe.    Wo  nun  diese  Ver- 


*  So  auch  bei  den  folgenden  Wortverbindungen. 


234  Miscellen. 

Schmelzung  der  Begriffe  vollständig  durchgeführt  und  zum 
ßewufstsein  des  Schreibenden  gekommen  ist,  da  wird  sich 
dieselbe  auch  in  der  Schrift  alsbald  zur  Geltung  bringen;* 
wo  dagegen  der  substantivische  Charakter  eines  Wortes  noch 
zu  d  e  utlic  h  h  er  vortritt  (z.  B.  durch  Hinzufügung  des  Artikels  oder  eines 
Adjektivs),  wird  er  sich  auch  in  der  Schreibweise  nicht  so  leicht 
verwischen  lassen:  vergl.  in  den  Grund  bohren,  auf  den  Grund  gehen 
neben  zu  gründe  gehen,  zu  gründe  richten;  in  das  Grab  legen  neben  zu 
grabe  tragen;  in  den  Besitz  einer  Sache  gelangen  neben  in  besitz  nehmen;  zu 
deinem  Besten  neben  zum  besten  geben  oder  zum  besten  haben;  in  das  Schiff, 
in  den  Wagen,  auf  das  Pferd  steigen  neben  zu  schiff'e  gehen,  eine  Keise 
zu  wagen,  zu  pferde  oder  zu  fufse  machen;  ein  grofses  Haus  machen  neben 
sparsam  haushalten*'*  u.  s.  w.  Je  häufiger  ein  Substantiv  auch  sonst  als 
unabhänciges  und  selbständiges  Wort  vorkommt,  desto  schwerer  ent- 
schliefst sich  im  allgemeinen  die  Sprache,  ihm  seine  sub- 
stantivische Würde,  resp,  den  grofsen  Anfangsbuchstaben  als 
das  äufsere  Zeichen  derselben  zu  rauben.  Übrigens  ist  nicht  zu 
verkennen,  dafs  auch  die  Gewöhnung  der  Schreibenden  hier  eine  srofse 
Rolle  spielt.  \\'ährend  die  älteren  Generationen,  geleitet  durch  die  Erinne- 
rung an  ihre  Jugendzeit  und  die  damals  geltenden  Regeln,  vielfach  an  dem 
(gebrauch  der  grofsen  Anfangsbuchstaben  festhalten,  werden  die  Kinder 
jetzt  schon  in  der  Schule  gewöhnt,  in  allen  Fällen,  wo  es  sich  nur  irgend 
rechtfertigen  läfst,  die  kleinen  Initialen  anzuwenden.***  Dafs 
dabei  statt  der  bestimmten  Regel  oft  das  individuelle  Gefühl  des  ein- 
zelnen die  letzte  Entscheidung  giebt,  bedarf  kaum  einer  besonderen  Er- 
wähnung. 

Es  würde  vorläufig  noch  ein  ziemlich  undankbares  und  wahrscheinlich 
auch  ein  vergebliches  Unternehmen  sein,  wenn  man  in  jeder  ein- 
zelnen derartigen  "Wortverbindung  vollständige  und  unbe- 
dingte Gleich mäfsigkeit  der  Schreibweise  fordern  oder  er- 
zwingen wollte.  Eine  andere  Frage  ist  die,  ob  man  sich  nicht  über 
gewisse  allgemein  zu  befolgende  Grundsätze  verständigen  könne,  und 
das  ist  unserer  Meinung  nach  nicht  blofs  möglich,  sondern  auch 
notwendig. 

Den  Hauptgrundsatz,  von  dem  die  Entscheidung  vorzugsweise, 
ja  fast  ausschliefslich  abhängt,  haben  wir  bereits  oben  ausgesprochen.  Wo 
dieser  Hauptgrundsatz  nicht  ausreicht,  wird  man  nach  Analogieen  suchen 
und  sich  nach  diesen  richten  müssen.  Wenn  ich  z.  B.  schreibe  zu  tvasser 
und  zu  lande,  so  werde  ich  auch  schreiben  müssen  zu  fusse,  zu.  icagen  und 
zu  pferde;  wenn  anstatt,  so  auch  anstelle  (dagegen  an  meiner  Stelle  etc.); 
wenn  im  stände  sein,  so  auch  zu  stände  bringen,  wenn  dieses,  dann  auch 
zu  wege  bringen,  zu  ende  bringen,  wenn  zu  bette  gehen^  dann  auch  zu  tische, 
zu  gaste,  zu  hofe,  zu  leibe  gehen  etc.  Sollte  aber  auch  dieser  Gesichtspunkt 
zur  Beseitigung  des  Zweifels  nicht  ausreichen,  sollte  man  in  einem  be- 
stimmten Falle  über  die  Wahl  des  kleinen  oder  des  grofsen  Anfangsbuch- 
stabens durchaus  nicht  mit  sich  einig  werden  können,  so  wird  man  mit 
Rücksicht    auf   die  jetzige  Zeitströmung    (wo   man  ja   vielfach    die   grofsen 


*  Ein    sicheres  Merkmal  der  vollendeten  Verschmelzung  sind  u.  a.   die  aus  der 
Verbindung   hervorgegangenen    Ableitungen :    vergl.  Teilnahme,    Teilnehmer,    teilneh- 
mend etc.   (von   teil  nehmen). 
j      **  Dazu  vergl.  die  Ableitungen  Haushalter,   Haushaltung,  haushälterisch. 

***  Man  kann  deshalb  an  der  Behandlung  dieser  Dinge  ziemlich  deutlich  er- 
kennen, ob  der  Schreibende  einer  jüngeren  oder  älteren  Generation  angehört.  Wenn 
jemand  schreibt  zu  u-osser  und  zu  lande,  zu  fuß  vnd  zu  rofs,  so  stammt  seine 
Weisheit  sicherlich  aus  neuerer  oder  neuester  Zeit. 


Miscollen.  235 

Anfangsbuchstaben  —  etwa  mit  Ausnahme  der  Eigennamen  —  ganz  besei- 
tigen möchte)  am  besten  thun,  wenn  man  sich  für  das  sogenannte  Kloin- 
schreiben  entscheidet. 

Ldsb.  a.  W.  A.  W. 

Die  auch  Band  LXXII,  Heft  2  des  Archivs  im  Abrifs  mitgeteilte  Rede, 
welche  Herr  Prof.  du  Bois-Reymond  anläfslich  des  Centenariums  Diderots 
in  Berlin  gehalten  hat,  weist  u.  a.  folgenden  Passus  auf: 

„Efi  ist  kein  Ziceifel^  da/s  er  (Diderot)  aus  der  englischen  Litteratur 
starke  Eindrücke  erhielt^  icälirend  weder  seine  geistige  Eigenart  etwas  Deut- 
sches bietet,  noch^  avfser  dem  Umgang  mit  Grimm,  deutsche  Einwirkungen 
hei  ihm  nachiceishar  sind."' 

Ist  nun  die  Bemerkung  du  Bols-Reymonds,  dafs  die  geistige  Eigenart 
Diderots  etwas  Deutsches  nicht  biete,  nicht  gut  anfechtbar,  so  möchte  ich 
andererseits  nicht  ohne  weiteres  zugeben,  dafs  deutsche  Einwirkungen  bei 
Diderot  nicht  nachweisbar  seien.  Einige,  wenn  auch  nur  kleine,  so  doch 
ganz  beachtenswerte  Arbeiten  des  berühmten  Encyklopädisten  stellen  viel- 
mehr deutschen  Einflufs  aufser  allen  Zweifel.  Dieser  Einflufs  ist  zwar  nicht 
bedeutend,  immerhin  aber  erwähnenswert. 

Der    Züricher    Dichter    Sal.   Gefsner    (1730  —  87)    nämlich    war    es, 
welcher   in    der  Mitte    des  18.  Jahrh.  durch  seine  Idyllen  und  Schäferspiele 
grofses  Aufsehen  erregte   und  gerade  in  Frankreich,    welches  sich  bis  dahin 
der    deutschen    Litteratur    möglichst    verschlossen    hatte,    grofsen    Anklang 
fand.     Einem  gewissen  Hub  er,    Deutschen    von  Geburt,    der   sich   in  Paris 
niedergelassen  hatte   und  mit  den  Koryphäen  jener  Zeit,  Rousseau,  Diderot 
u.  a.,    in  Verbindung   stand,   war   es  vorbehalten,    Gefsner   einzuführen.     Er 
übertrug   zunächst   den  „Tod  Abels"    und    hierauf  die   ersten  „Idyllen"    des 
Züricher  Dichters  ins  Französische.     Der  „Tod  Abels"  nun  war  es,  der  aus 
Diderot  einen  „enthusiastischen  Bewunderer  und  warmen  Lobredner"  Gefsners 
machte.     Konnte   der   französische    Dichter   die  Werke  Gefsners    auch   nicht 
in  der  Ursprache  lesen,  so  trug  er  doch  zu  einer  exakten  Übersetzung  der- 
selben das  Seinige  bei,    denn  „sein  tiefer  Blick  und  sein  leises  Gefühl,  ver- 
eint mit   dem  festen  Glauben  an  Gefsners  geläuterten  Geschmack,   liefs  ihn 
manche   feinere,   aber   nicht  minder  wichtige  Sinnesverfälschung   ahnen    und 
veranlafste   nicht   selten    den  Übersetzer,    in    den  Geist   der  Urschrift   tiefer 
einzudringen"  (cf.  J.  J.  Hottinger  [Sal.  Gefsner],  Zürich  1796,  pag.  98  iL). 
H.  Meister,  ein  Mitbürger  Gefsners  und  der  gemeinschaftliche  Freund 
Diderots  und  des  Züricher  Dichters,  der  auch  des  letzteren  „Neuere  Idyllen" 
ins  Französische  übertrug,  schreibt  hierüber  an  (lefsner:  „Je  viens  de  passer 
trois  heures   avec  Diderot:    et  Dieu  merci,   nous  n'avons  presque  cause  que 
de   vous    et   de   vos    ouvrajzes.     II   m"a    dit   un   raillion  de  choses  pour  vous. 
Mais  qu'est-ce  qu'une  lettre,   pour  rendre  un  seul  eclair  de  sa  conversation ! 
11   vous   supplie,    Monsieur,    d'etre   bien   persuade    qu'il   n'y  a  peut  etre  pas 
un   seul  homme  en  Europe  qui  vous  admire  aussi  profondement  que  lui.     11 
est    tres    vrai    qu'il    a    plus    de    droit    qu'un    autre   a   cette  preference.     La 
France    lui   doit   en   grande   partle   le    bonheur    de   connaitre   vos   ouvrages. 
C'est  lui  qui  non  seulement  a  encourage  M.  Huber  a  les  traduire,   mais  qui 
a  encore  contribue  beaucoup  au  merite  de  ses  traductions.    Quand  M.  Huber 
venait    lui   montrer   ce    qu'il   avait   fait,  il   lui    disait   souvent:    Mon   ami,   le 
Poete   n'a.  point   dit   comme  ca  .  .  .  Et  le  traducteur  regardant  son  original, 
etait   tout   etonne   de   ce   que  Diderot   devinait   mieux  votre  genie   que  lui- 
meme  n'entendait  sa  langue." 

Welch  grofses  Interesse  Diderot  an  Gefsner  genommen,  beweist  ferner- 
hin der  Umstand,  dafs  er  den  deutschen  Dichter  veranlafste,  das  Idyll 
„Palemon"  umzuändern.  Diderot  hatte  Huber  einen  Entwurf  gegeben  — 
erzählt  Hottinger  —  nach  welchem  sich  das  Gedicht  abändern  liefse. 


236  Miscellen. 

Einen  auffallenden  Beweis  seiner  zärtlichen  Freundschaft  und  Hoch- 
schat zung  für  Gefsner  —  berichtet  Hottinger  (pag.  105)  —  hat  Diderot 
auch  dadurch  gegeben,  dafs  er  ihm  durch  ihren  gemeinschaftlichen  Freund 
Meister  in  den  verbimllichsten  Ausdrücken  den  Vorschlag  machen  liefs, 
ein  paar  von  ihm  verfertigte  Erzählungen  zugleich  mit  seinen  Idyllen  her- 
auszugeben.    Hören  wir  Meistei  s  eigene  Worte : 

„Monsieur  Diderot  m'a  charge  de  vous  faire  une  proposition  qui,  s'il 
vous  convenait  de  l'accepter,  ajouterait  encore,  sil  est  possible,  a  l'interet 
(|u'il  prend  ä  tout  ce  qui  vient  de  vous.  II  a  fait  deux  petits  contes 
moraux,  qui  me  paraissent  charmants,  et  qui,  ce  me  semble,  prouvent  sin- 
gulierement  toute  la  magie  d'une  simplicite  vraie.  II  voudrait  les  joindre 
ä  vos  nouvelles  Idylles.  enchante,  c'est  son  mot,  de  se  trouver  accolle  avec 
vous  dans  le  meme  volume." 

Gefsner  nahm  diesen  Vorschlag  mit  eben  den  Empfindungen  auf,  mit 
welchen  er  gemacht  war,  und  die  Idyllen  und  Erzählungen  begleiteten  ein- 
ander in  beiden  Sprachen  und  erschienen  im  Jahre  1772. 

Den  deutlichsten  Beweis  aber  dafür,  dafs  bei  Diderot  recht  wohl  deutsche 
Einwirkungen  nachweisbar  sind,  liefert  das  Faktum,  dafs  Diderot  ein  Schäfer- 
spiel Gefsners,  „Eraste*'  betitelt,  französisch  bearbeitet  hat  und  zwar  im 
Jahre  1770  unter  dem  Titel:  „Les  Peres  malheureux." 

Herausgegeben  hat  er  dieses  Stück  allerdings  nicht,  es  findet  sich  aber 
in  der  besten  Ausgabe  der  Diderotschen  Werke  von  Assezat  tCEuvres 
completes  de  Diderot,  Paris  1875,  tome  8e).  Diderot  äufsert  sich  im  Pro- 
loge zu  den  „Peres  malheureux"  wie  folgt: 

-Salomon  Gefsner,  si  connu  par  son  poeme  d'Abel,  et  si  justement 
celebre  par  ses  idylles  pleines  de  sensibilite  et  de  delicatesse,  a  compose 
dans  sa  langue  un  petit  drame  en  un  acte  et  en  prose,  qu'il  a  intitule  Eraste. 

—  J'ai  laisse  le  sujet  tel  que  Gefsner  la  con9u;  ce  c^ue  j'ai  change  a  la 
conduite  ne  vaut  pas  la  peine  d'en  parier,  quoique  le  drame  de  Gefsner 
n"ait  que  dix  scenes  et  que  le  mien  en  ait  vingt.  Mais  le  ton  de  la  poesie 
dramatique  et  celui  de  la  poesie  pastorale  ou  elegiaque  etant  fort  diff'erents, 
jai  recrit  et  dialogue  le  tout  ä  ma  maniere.  Cest  Tamusement  de  quel- 
ques matinees  dont  je  ne  pretends  pas  le  moindre  eloge.  Si  Ton  jouait  ce 
drame  en  famille,  je  ne  doute  point  que  l'interet  des  auditeurs  pour  les 
personnages  qui  seraient  en  scene  ne  füt  tres  vif.  Peut-etre  n'en  serait-il 
pas  de  meme  sur  un  theätre  public." 

Endlich  ist  deutsche  Einwirkung  bei  Diderot  auch  darin  nicht  zu  ver- 
kennen, dafs  er,  wie  aus  seinem  Briefwechsel  mit  Mlle.  Voland  hervorgeht, 
sich  einige  Zeit  mit  dem  Gedanken  trug,  Lessings   ..Miss  Sara  Sampson'* 

—  wahrscheinlich  aber  mit  Hilfe  Grimms  —  in  das  Französische  zu  über- 
setzen (cf.  Hettner:  Gesch.  d.  französ.  Litt,  im  18.  Jahrb.,  pag.  345). 

Zittau.  E.  E.  Schirlitz. 

Zum  Naaien  „Canada*^. 

Über  die  Fontaine-qui-bout,  welche  Longfellow  in  der  Evangeline  v.  1085 
erwähnt,  habe  ich  seiner  Zeit  im  Centralorgan  für  Realschulwesen  nach 
E.  V.  Hesse- Wartegg  (Nordamerika  II,  202)  berichtet.  Bei  der  Bearbeitung 
der  dritten  Auflage  meiner  Ausgabe  des  oben  genannten  Gedichtes,  welche 
demnächst  im  Verlage  der  Weidmannschen  Buchh.andlung  erscheint,  habe 
ich  mir  angelegen  sein  lassen,  dem  Ursprünge  des  Wortes  „Canada"  nach- 
zugehen. Dafs  Canada  mit  dem  spanischen  „cabo  de  nata"  (ödes  Land) 
oder  mit  -aca  nada*-  (hier,  d.  h.  im  Norden,  ist  nichts)  oder  mit  „canadoe'* 
Kanal,  oder  mit  dem  tschippewäischen  „canata",  grofses  Dorf,  zusammen, 
hängt  —  wie  auch  ich  in  der  zweiten  Auflage  angegeben  — ,  ist  falsch. 
Das  obige  \\'ort  „canata-  existiert   in  der  Sprache  der  Tschippewäer  nicht. 


Miscellen.  237 

Der  Jesuit  Charlerois  schieibt  (Ilist.  Nouv.  de  France  1,  9):  „Quelques  uns 
d^rivent  ce  nom  du  mot  Iroquois  ,kannata',  qui  se  prononce  ,canada',  et 
signifie  un  amas  de  cabannes."  Heckewalder  ist  derselben  Ansicht,  denn 
in  einem  Gebetbuch,  das  in  der  Mobawk-Sprache  abgefafst  ist.  heifst  es: 
Ne  Kanada-gough  Konwayatsk  Nazareth",  was  mit  „in  einer  Stadt  Namens 
Nazareth"  übersetzt  wird.  Die  Mohawks  bildeten  früher  den  Hauptstamin 
der  Iroquesen.  In  dem  Werke  ,.  Radical  words,  of  the  Mohawk  Language" 
von  dem  französischen  Jesuiten  Bruyas,  p.  68,  steht:  „Gannata"  mit  der 
Bedeutung  „village".  Dr.  Otto  Dickmann, 


Auf  S.  293  f.  des  71.  Bandes  des  Archivs  für  das  Studium  der  neueren 
Sprachen  bespricht  Herr  Nolting  in  Wismar  die  Kernsche  Erklärung  einer 
Stelle  in  Goethes  Iphigenia  (I,  3  fi.).  So  gern  ich  Herrn  Nölting  in  dem 
zustimme,  was  er  über  jene  Erklärung  sagt,  so  wenig  kann  ich  seine  eigene 
Auffassung  teilen.  Ich  vermisse  bei  dieser  Auffassung  den  Zusammenhang 
zwischen  Iphigeniens  Ansprache  und  der  Antwort  des  Königs.  Dazu  kommt 
noch  die  sprachliche  Schwierigkeit,  auf  die  Herr  Nölting  selbst  hinweist 
(S.  297).  Iphigenie  wünscht  Thoas,  dafs  ihn  die  Göttin  mit  königlichen 
(jütern  segne,  und  sie  erwähnt  dabei  erstens  Sieg  und  Ruhm,  zweitens 
Reichtum  und  drittens  Glück  in  seinem  Hause.  Auf  diese  drei  besonderen 
Wünsche  erwidert  der  König,  Ruhm  im  allgemeinen  achte  er  gering,  er  sei 
zufrieden,  wenn  sein  Volk  ihn  rühme.  Auch  an  einer  Vermehrung  des 
Reichtums  liegt  ihm  nichts,  denn  schon  jetzt  geniefsen  andere  seinen  Reich- 
tum mehr  als  er  selbst.  Das  einzige,  wonach  er  sich  sehnt,  ist  häusliches 
Glück. 

Die  hergebrachte  Interpunktion  steht  dieser  Auffassung  nicht  entgegen; 
denn  wie  unsere  Klassiker  in  der  Zeichensetzung  überhaupt  nicht  allzu 
strenge  waren,  so  setzten  sie  auch  wohl  das  Kolon,  wo  wir  jetzt  ein  Komma 
setzen.  Für  wahrscheinlicher  halte  ich  es  allerdings,  dafs  das  Kolon  ein 
von  Ausgabe  zu  Ausgabe  übernommener  Druckfehler  ist  und  statt  eines 
Punktes  steht. 

Breslau.  Reinhard  Jurisch. 


Berichtigungen. 

In  Bd.  LXX,  S.  364  dieser  Zeitschrift  habe  ich  irrtümlich  auch  den 
Flufsnamen  Indus  zu  sskr.  indu  Tropfen  gezogen.  Der  Indus  heifst  aber 
im  Sskr.  Sindhu ;  dies  Wort  bedeutet  nach  Ficks  vergleichendem 
Wörterbuche  der  idg.  Sprachen  (P,  448)   Ocean,  Flu/s. 

Altena  (Westf.).  Lohmeyer. 

Band  LXXIII,  Seite  8,  Zeile  9  und  10  v.  o.  lies  statt  „der  ersten  Aus- 
gabe des  , Mönch  vom  Libanon',  die  irti  Jahre  1782  in  Dessau  erschien"  — 
der  zweiten  Ausgabe  des  , Mönch  vom  Libanon',  die  im  Jahre  1785  in  Dessau 
erschien. 


Bibliographischer  Anzeiger. 


Allgemeines. 

A.  E.  Schönbach,  Die  Brüder  Grimm.  Ein  Gedenkblatt  zum  4.  Jan.  1885. 
(Berlin,  Dümmler.)  75  Pf. 

H.  Lösch  hörn,  Rede  auf  Jakob  Grimm,  zu  seiner  Säkularfeier  1885  in 
der  Gesellschaft  für  deutsche  Philologie  zu  Berlin  gehalten.  (Berlin, 
Weber.)  75  Pf. 

G.  Meyer,  Essays  und  Studien  zur  Sprachgeschichte  und  Volkskunde. 
(Berlin,  Oppenheim.)  7  Mk. 

Reform,  Zeitschrift  des  allgemeinen  Vereins  für  vereinfachte  deutsche 
Rechischreibung,  hrsgb.  von  Dr.  F.  W.  Fr  icke.  9.  Jahrg.  (Norden, 
Soltau.)     12  Nrn.  2  AJk.  40  Pf. 

E.  Walter,  Französische  Studien  für  die  oberen  Kurse  höherer  weib- 
licher Bildungsanstalten.     (Erlangen,  Deichert.)  40  Pf. 

E.  Walter,  Französische  Studien  für  Lehrerinnenprüfung  und  die  oberen 
Kurse  höherer  weiblicher  Bildungsanstalten.  (Erlangen,  Deichert.)    40  Pf. 

Grammatik. 

A.  Bezzenberger,  Lettische  Dialektstudien.  (Göttingen,  Vandenhoeck 
und  Ruprecht.)  4  Mk. 

K.  Brekke,  Etüde  sur  la  flexion  dans  le  voyage  de  S.  Brandan,  poeme 
anglo-normand  du  XII«  siecle.      (Paris,  Vieweg )  3  fr. 

Saint  Bernart,  Li  sermon.  Älteste  französische  Übersetzung  der  lateinischen 
Predigten  Bernhards  von  Clairvaux,  nach  der  Feuillantiner  Hdsehft.  in 
Paris,  zum  erstenmal  vollständig  herausgegeben  von  Wendelin  Förster. 
(Erlangen,  Deichert.)  6_Mk. 

A.  Raumair,  Über  die  Svntax  des  Robert  v.  Clarv.    (Erlangen,  Deichert.) 

'  "  1  Mk.  80  Pf. 

F.  Pfützner,  Über  die  Aussprache  des   Proven9alischen.    (Halle,  Dissert.) 
R.  Pape,  Die  Wortstellung  in  der  proven9alischen  Prosa-Litteratur.    (Jena, 

Deistung.)  1  Mk.  40  Pf. 

L.  Cledat,    Grammaire   elementaire  de  la  vieille  langue  fran9aise.     (Paris, 

Garnier.) 
F.   Corfsen,    Lautlehre    der    altfranzösischen    Übersetzung    der  Predigten 

Gregors  über  Ezechiel.     (Bonn,  Dissert.)  1  Mk.  20  Pf. 

J.  Ellenbeck,   Die  Vortonvokale   in   französ.  Texten    bis   zum  Ende  des 

12.  Jahrh.    (Strafsburg,  Dissert.) 
T.  Eng  wer.   Über  die  Anwendung  der  Tempora  perfectae  statt  der  Tempora 

imperfectte  actionis  im  Altfranzösischen.    (Berlin,  Müller.)      1  Mk.  20  Pf. 
H.  Schlutter,    Beitrag   zur  Geschichte   des    syntaktischen  Gebrauchs    des 

Passe  detini  und  des  Imparfait  im  Französischen.  (Jena,  Deistung.)     80  Pf. 


BibliographisclRT  Anzeiger.  239 

Fr.  Brinkmann,  Syntax  der  französischen  und  englischen  Spraclie  in 
vergleichender  Darstellung.  IL  Band,  1.  Lieferung.  (Braunschwelg, 
Vieweg.)  kompl.   10  Mk.  50  Pf. 

L.  Kellner,  Zur  Syntax  des  englischen  Verbums,^  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung Shakespeares.     (Wien,  Holder.) 

H.  Schuchard,  Slawo-Deutsches  und  Slawo-Italienisches.  (Graz,  Leuscher 
u.  Lubensky.)  10  Mk. 

Lexikographie. 

J.  u.  W.   Grimm,    Deutsches    Wörterbuch.     IV.  Band,    1.  Abtlg.,   2.  Hälfte, 

6.  Lfrg.  Bearbeitet  von  R.  Hildebrand.  (Leipzig,  Hirzel.)  2  M. 
Dasselbe,    VIL  Band,    6.  Lfrg,,    bearbeitet   von    Dr.   M.   Lex  er.     (Leipzig, 

Hirzel.)  2  M. 

J.   ten   Doornkaat-Koolman,   Wörterbuch   der   ostfriesischen   Sprache. 

22.  Schlufsheft.     (Norden,  Braams.)  2  AJk. 

A.  M  ah  n ,  Etymologische  Untersuchungen  über  geographische  Namen.    9.  Lfrg. 

(Berlin,  Dümmler.)  60  Pf. 

Litteratur. 

Lieder  der  alten  Edda.  Deutsch  durch  die  Brüder  Grimm.  Neu  heraus- 
gegeben von  Jul.  Hoffory.     (Berlin,  Reimer.)  1  Mk.  50  Pf. 

\'.  Beranek,  Martin  Opitz  in  seinem  Verhältnis  zu  Skaliger  und  Ronsard. 
Progr.  der  Staatsrealschule  zu  AVien. 

Aus  Th.  Körners  Nachlafs,  Liebesgrüfse  an  Antonie  Adamberger.  Heraus- 
gegeben V.  F.  Latendorf.     (Leipzig,  Schlicke.)  3  Mk. 

Felix  Soleil,  Les  heures  gotliiques  et  la  litterature  aux  XV^  etXVIe  siecles. 
(Paris,  Labitte.) 

La  vie  de  Saint  Alexis,  poeme  du  Xle  siecle.  Texte  critique  public  par 
Gaston  Paris.     (Pfiris,  Vieweg.)  1  Mk.  50  Pf. 

Rustebeufs  Gedichte,  nach  den  Handschriften  der  Pariser  Nationalbibliothek 
herausgegeben  von  A.  Krefsner.     (Wolfenbüttel,  Zwifsler.)  10  Mk. 

O.  ßcErner,  Raoul  de  Houdenc.  Eine  stilistische  Untersuchung  über 
seine  \Verke  und  seine  Identität  mit  dem  Verf.  des  Messire  Gauvain. 
(Leipzig,  Fock.)  2  Mk.  40  Pf. 

R.  Mahrenholtz,  Voltaires  Leben  und  Werke.  I.  Teil:  Voltaire  in 
seinem  Vaterlande.     (Oppeln,  Franck.)  5  Mk. 

W.  Ricken,  Untersuchungen  über  die  metrische  Technik  Corneilles  und 
ihr  Verhältnis  zu  den  Regeln  der  französischen  Verskunst.  (Berlin, 
Weidmann.)  2  Mk.  60  Pf. 

G.  Desnoires terres,  La  Comödie  satirique  au  XVIIIe  siecle.  (Paris, 
Perrin.)  3  fr. 

P.  Langenscheidt,  Die  Jugenddramen  von  P.  Corneille.  Ein  Beitrag 
zur  Würdigung  des  Dichters.     (Berlin,  Langenscheidt.)       1  Mk.  50  Pf. 

E.  Engel,  Psychologie  der  französischen  Litteratur.    (Teschen,  Prochaska.) 

1  Mk.  50  Pf. 

H.  Sweet,  First  Middle  English  Primer.  Extracts  from  the  Ancren  Riwle 
and  Ormulum.     With  grammar  and  glossary.     (London,  Frowde.) 

Hilfs  bücher. 

C.  Eng  eibrecht,  Reineke  Fuchs  für  Schule  und  Privatstudium.  (Köln, 
Mermet.)  1  Mk.  50  Pf. 

A.  Wich  mann  u.  G.  Zipler,  Deutsche  Aufsätze.  Methodisch  bearbeitet 
und  zusammengestellt.     (Berlin,  Stubenrauch.)  60  Pt. 

Über  naive  und  sentimentale  Dichtung  von  Schiller.  Mit  Einleitung  und 
Anmerkungen  von  P.  Egg  er  u.  K.  Rieger.    (W'ien,  Gräser.)        1   Mk. 


240  Bibliographischer  Anzeiger. 

Lessing,    Antiquarische   und    epigrammatische   Abhandlungen.     Schulausgabe 

mit  Anmerkungen  von  Wert  her.     (Stuttgart,  Göschen.)  80  Pf. 

Lessing,  Litteransche  und  dramaturgische  Abhandlungen,  mit  Anmerkungen 

von  Werther.     (Stuttgart,  Göschen.)  60  Pf. 

Lessing,    Fabeln.     Drei    Bücher.     Nebst    Abhdlgn,   mit    Anmerkungen    von 

K.  Gödeke.     (Stuttgart,  Göschen.)  80  Pf. 

H.    Vietor,     German    pronunciation :     practice    and    theory.      (Heilbronn, 

I-Ienninger.)  1  Mk.  50  Pf. 

J.  G.  liosch,   Beiträge   zum    Orthographie-Unterricht.     (Nürnberg,    Korn.) 

1  Mk. 
E.  Fi  leck,  Französische  Schulgrammatik,  dem  Normal-Lehrplane  für  Real- 
schulen  und    der  dazu  gehörigen  Instruktion  angepafst.     (Wien,  Holder.) 

2  Mk.  12  Pf. 

H.  Spelthahn,  Französisches  Vokabular  mit  Anschlufs  an  die  Formen 
und  Gesetze  der  Grammatik,  nebst  einer  kurzgefafsten  Syntax  der  fran- 
zösischen Sprache.     (München,  Seitz.)  2  Mk. 

A.  Kemnitz,  Französische  Schulgrammatik.  LTeil:  Formenlehre  mit  dem 
Notwendigsten  aus  der  Syntax.      (Leipzig,  Neumann.)  3  Mk.  20  Pf. 

G.  Erzgräber,  Enghsche  Dichtungen  zum  Auswendiglernen  in  stufen- 
mäfsiger  Folge.     (Güstrow,  Opitz.)  50  Pf. 

O'Clarus  Hiebsiar,  Englische  Sprachschnitzer.  Ein  humoristischer 
Vortrag,  gehalten  in  London  im  deutschen  Athenäum.    (Strafsburg,  Trübner.) 

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E.  Beckmann,   Kurzgefafstes  Lehrbuch   der  englischen  Sprache.     (Altona, 

Schlüter.)  2  Mk. 

Spanische  Bibliothek,  mit  deutschen  Anmerkungen  für  Anfänger  von 
J.  Fesemair.     2  Bändchen.     (München,  Lindauer.) 


über  Karl  Wilhelm  Ramlers 

Änderungen    H  a  g  e  cl  o  r  n  s  c  h  e  r    Fabeln. 


Ramlers  neuester  Biograph,  Hermann  Petrich,*  fällt  über 
das  kritische  Verfahren,  dessen  sich  der  „Sänger  Friedrichs 
des  Grofsen"  bei  der  Durchfeilung  fremder  Schriften  bediente, 
ein  wenig  günstiges  Urteil.  Er  sagt  darüber  (a.  a.  0.  S.  220  ff.) : 
„Sie  —  die  Kritik  unseres  Ramler  —  war  eine  Zettelkritik, 
die  einzelne  bedenkliche  Worte  und  Wendungen,  grammatische 
und  orthographische  Unebenheiten,  sechsfüfsige  Verse  in  fünf- 
füfsio'er  Umgebunc^  und  derorleichen  Sächelchen  mehr  mit  auf- 
merksamem  Blick  entdecken,  mit  strengem  Urteil  notieren  und 
oft  mit  geschicktem  Griff  aus  der  Welt  schaffen  konnte.  In 
diesen  Grenzen  verdient  sie  volle  Anerkennung,  und  jeder 
Schriftsteller,  der  einen  Ramler  zur  Seite  hat,  kann  sich  glück- 
lich schätzen.  —  Es  liegt  freilich  in  aller  Kritik,  in  Ramler 
aber  besonders,  die  Neigung  zur  Selbstüberschätzung.  Es  war 
ihm  nicht  genug,  nur  die  Lampen  anderer  zu  putzen,  er  wollte 
sein  eigenes  Licht  an  ihrer  Statt  leuchten  lassen.  Und  das  ist 
die  Achillesverse  (sie!),  an  der  Ernst  und  Spott  der  Gegner 
ihn  von  jeher  am  tödlichsten  getroffen  haben."  —  Im  Folgenden 
spricht  der  Verfasser  von  Ramlers  „Sucht,  sich  selbst  in  fremde 
Gedichte  hinein  zu  korrigieren",  von  „Massengräbern",  die  jener 
den  Dichtern  in  seinen  zahlreichen  Anthologien  bereitet  habe, 
vom  „gemeinschädlichen  Treiben  der  Ramlerschen  Kritik".    Doch 


*  Hermann  Petrich,  Archidiakonus  an  St.  Marien  zu  Treptow  a.  R., 
Pommersche  Lebens-  und  Landesbilder.  Erster  Teil:  Aus  dem  Jahrhundert 
Friedrichs  des  Grofsen.  Hamburg  1880.  S.  195—236:  Karl  Wilhelm 
Ramler. 

Archiv  f.  n.  >5pvaclieii.  LXXÜf.  *  IC 


242  Über  K.   W.  Ramlers  Änderungen  Hagedornscher  Fabeln. 

nicht  mit  einem  „einfachen  Verdammungsurteil",  sondern  mit 
einer  „begründenden  Erklärung"  wird  diese  „sonderbare  Er- 
scheinung" von  unserem  Litterarhistoriker  abgefunden.  „Die 
Gründe  dieser  Thatsachen  lieo^en  in  einem  der  o:anzen  Auf- 
klärungsperiode  eigenen,  bei  Ramler  aber  hervorragenden  Mangel 
an  geschichtlichem  Sinn  und  individuellem  Zartgefühl.  Wie 
der  untüchtige  Lehrer  jeden  Schüler  über  denselben  Leisten 
schlägt,  so  wollte  Ramler  jedes  Gedicht  zu  demselben  Ideal 
erträumter  Fehlerlosigkeit  hinaufnivellieren,  unbekümmert  auf 
dem  Grunde  welcher  geschichtlichen  und  persönlichen  Vor- 
bedingungen es  erwachsen  war.  Dieselbe  Gartenschere  des 
Rationalismus,  die  den  vom  göttlichen  Geist  beseelten  Glauben 
an  das  Übernatürliche  zur  bürgerlich  ehrbaren  Korrektheit 
zustutzte,  w^ollte  das  Standesvorrecht  des  dichterischen  Genius 
zur  litterarisch  ehrbaren  Gleichheit  beschneiden."  Die  Mifs- 
billigung  der  Thätigkeit  unseres  preufsischen  Aristarch,  welcher 
in  den  ano-eführten  Stellen  unverhohlen  Ausdruck  ofeojeben  wird, 
ist  an  und  für  sich  nicht  neu,  w^ie  auch  die  ßlumenlese  von 
Urteilen  bei  Petrich  S.  221 — 222  beweist.  Ja,  dieselbe  scheint 
in  der  deutschen  Litteraturgeschichte  typisch  geworden  zu  sein, 
seitdem  A.  W.  v.  Schlegel  in  einem  Aufsatze  über  „Bürger" 
vom  Jahre  1800,  Athenäum  2,  57  —  Werke,  herausgegeben 
von  Ed.  Böcking  8,  123  —  bei  einer  Bekämpfung  der  „kor- 
rekten Kritiker,  die  an  lauter  Einzelnheiten  hängen  bleiben",  die 
weojwerfende  Aufserunor  aethan  hat:  „Erbarmuno^swürdior  ist 
es,  wenn  Ramler  immer  noch  als  der  Held  der  Korrektheit 
aufgestellt  wird,  ...  der  den  Gedichten  anderer  immerfort  die  un- 
passendsten, mattesten  und  übellautendsten  Veränderungen  auf- 
gedrungen hat,  dem  man  endlich  in  seinen  eigenen  Sachen 
wahre  Schülerhaftigkeit  in  der  Technik,  wenn  man  damit  nicht 
bei  dem  nächsten  Herkommen  stehen  bleibt,  nachweisen  könnte." 
In  etwas  weniger  herber  Weise  spricht  sich  K.  L.  von  Knebel 
in  einem  Aufsatze  der  „Adrastea"  5.  Bd.,  2.  St.,  1803,  welchen 
J.  H.  Vofs  in  seinen  „Kritischen  Briefen"  über  Götz  und 
Ramler,  Mannheim  1809,  S.  7 — 20  uns  überliefert  hat,  tadelnd 
über   die  Ramlerschen  Änderungen   aus,    und   zwar   mit   beson- 


o 


derem  Hinblick  auf  die  Ramlersche  Ausgrabe  der  „Vermischten 


5? 


Gedichte"  von  J.  N.  Götz  (3  Teile,  Mannheim   1785):    „Es  ist 


über  K.   W.  Ramlers  Änderungen  Hagedornscher  Fabeln.  243 


'ö 


nicht  zu  leugnen,   dafs    dieser   sorgsame  Kritiker   zuweilen    das 
Mangelhafte   einer    Stelle,    eines    Ausdrucks    oder    Wortes    sehr 
richtig  beurtheilt  hat ;  und  eben  dieses  mag  auch  unseren  Götz 
veranlafst  haben,    ihm   anfänglich   die  Aufsicht   über   seine  Ge- 
dichte  anzuvertrauen.      Aber   die   Änderungen    selbst   sind   ihm 
öfters  mifj-lungen,    und   indem   er   der  Poesie   eine   kalte  gram- 
matikalische Bestimmtheit  aufdringen  wollte,  so  hat  er  den  Reiz 
und  den  Nachdruck  derselben  vermindert  und  entstellt.     Es  ist 
kaum   zu   glauben,    wie   ein   Mann    von    seinem  Geist    und  Ge- 
schmack sich  so,  zumal  in  der  letzten  Zeit,    hierin   versündigen 
konnte,    und    es    scheint,     dafs    selbst    seine    eigenen    Gedichte 
durchaus    Avieder    aus    den    älteren    Lesarten    herzustellen    sind. 
Die  Herausgeber  von  „K.  L.  von  Knebels  litterarischem  Nach- 
lafs   und   Briefwechsel«   (Leipzig,    2  Bde.,  1835—1836),  K.  A. 
Varnhagen   von   Ense   und   Th.  Mundt,    springen   mit    unserem 
kritischen  Dichter   auch  nicht  besser  um.     Bei   ihnen    heifst   es 
(S.  XVIII  fF.    aus   Knebels    Leben):    „Ramler,    der   sich    schon 
wie  eine  Art  Jupiter   auf  dem   litterarischen  Olymp   gebärdete, 
und  alles,    was   ihm    von   anderen  Dichtern    zu   nahe    kam,    mit 
der  Gartenschere    seiner   regelrechten  Rhetorik   und  Grammatik 
zurecht  stutzte"  ...     In    dasselbe   Hörn    stöfst  Wilhelm  Körte, 
der   zweite  Herausgeber   von  Chr.  E.  von  Kleists   Werken ;    er 
sagt  in  der  Vorrede  zum  ersten  Bande  derselben  (1803)  S.  VIII, 
mit  einem  bösen  Seitenblick  auf  die  früher  erschienene  Ramler- 
sche    Ausgabe    von    Christian    Ewald    von    Kleists     sämtlichen 
Werken  (Berlin  1761,  2  Teile):  „Sprachfehler  zu  berichtigen  und 
Schreibfehler,   steht  Jedermann  frey,    und   nur   was   Jedermann 
freystehen  darf  zu  berichtigen,  darf  in  der  Poesie  zu  berichtigen 
irgend  Einem  oder  jedem  erlaubt  seyn.    An  das  Heilige  des  Ge- 
dichtes aber,  an  seine  geistige  individuelle  Natur  die  irdische  Hand 
anlegen,  und  daran  wetzen  und  schneiden,  wie  an  irdischem  Mach- 
werke, das  ist  eine  ewige  Sünde  und  unverzeihliche  Anmafsung." 
Die  ärgsten  Keulenschläg^e  mufste  Ramler  —  wenn  wir  von 
dem   ihm  durch  Schlesrels  Feder  und   durch  Chodowieckis  Stift 
erteilten  Epitheton  eines  „poetischen  Bartputzers"  absehen  (Cha- 
rakteristiken   und    Kritiken    Bd.    II,     S.    357—359*)    —    von 


*  Cit.  bei  Jördens,  Lexikon  deutscher  Dichter  u.  Pros.  Bd.  II,  S.  652  ff. 

16* 


244  Über  K.  W.  Raiulers  Änderungen  Hagedornsclier  Fabeln. 

M.  G.  Lichtwer  hinnehmen,  dessen  „auserlesene,  verbesserte 
Fabeln  und  Erzählungen  in  zwei  Büchern"  jener  ohne  Vor- 
wissen des  Autors  1761  bei  Weitbrecht  zu  Greifswalde  heraus- 
gegeben hatte.  Der  erzürnte  Dichter  nennt  ihn  in  der  Vorrede 
zur  dritten  (Original-) Ausgabe  seiner  Fabeln  (1762)  einen  „Ver- 
fälscher" und  „gelehrten  Dieb",  und  fährt  dann  fort:  „Es 
würde  also  die  Handlung  des  Herrn  Verbesserers  jederzeit 
niederträchtig  und  strafbar  bleiben,  wenn  auch  dasjenige,  was 
er  an  meinen  Fabeln  o-eändert,  noch  so  ffut  oferaten  wäre.  Es 
fehlt  aber  auch  hieran  so  viel,  dafs  er  vielmehr  mir  ganz 
falsche  Gedanken  angedichtet,  den  Sinn  meiner  Fabeln  gar 
nicht  eingesehen,  sondern  denselben  eine  ganz  unrichtige  Deu- 
tung gegeben,  verschiedene  untadelhafte  Ausdrücke  ohne  allen 
Grund  geändert,  auch  wohl  mit  schlechteren  Ausdrücken  und 
bisweilen  Flickwörtern  ersetzt  hat.  Er  hat  bisweilen  Fehler 
gesehen,  solche  verbessern  wollen  und  neue  be2;anoen,  einige 
Stellen  auf  eine  läppische  Art  verändert,  anderer  Vergehungen 
zu  geschweio-en." 

Wir  glauben  das  Echo  dieser  Worte  zu  vernehmen,  wenn 
wir  Karl  Gödekes  Grundrifs  zur  Geschichte  der  deutschen 
Dichtung  Bd.  11,  §  217,  Nr.  255,  S.  601—602  aufschlagen  und 
über  die  eben  erwähnte  Ramlersche  Bearbeituno;  von  Lichtwers 
Fabeln  das  kurze  Urteil  ausgesprochen  finden:  von  Ramler  ver- 
stümmelter und  elend  verunstalteter  Nachdruck.  Mit  derselben 
Unversöhnlichkeit  bricht  Gödeke  über  die  anderen  Sammluno^en 
Ramlers  den  Stab:  „Von  den  Sammlunoren,  die  Ramler  ver- 
anstaltete  (Sinngedichte,  Riga  1766,  8;  Lieder  der  Deutschen, 
Berlin  1766,  8;  Lyrische  Blumenlese,  Leipzig  1774,  8;  Fabel- 
lese, Berlin  1783 — 90,  111,  8)  hat  keine  persönlichen  oder  ge- 
schichtlichen Wert,  da  sie,  ein  Mischmasch  von  fremden  Ge- 
danken und  ramlerlschen  Flickerelen,  weder  ihm  noch  anderen 
gehören." 

Diese  weniojen  Stimmen  der  Verurteilung:  Ramlers  möo^en 
genügen.  Rechtfertigen  konnte  ein  so  willkürliches  \^er- 
fahren  selbst  nicht  der  wärmste  Verehrer  des  „preufsischen 
Horaz",  aber  die  beredtesten  Männer  seiner  Zeit  haben  nicht 
ohne  Erfols:  alles  das  hervorsrehoben,  was  sich  zu  ijunsten  der 
Ramlerschcn  Interpolationen  anführen   lä/st. 


über  K.  W.  Rnmlcis  Anderungrn  Hagedornschcr  Fiibcln.  245 

Schon  Mendelssohn  hat  in  einer  an  Licht  wer  oerichteten 
Erwiderung,  der,  wie  wir  sahen,  an  dem  eigenmächtigen  Be- 
arbeiter und  Herausgeber  seiner  Fabeln  kein  Fleckchen  heil 
gelassen  hatte,  diesem  gekränkten  Poeten  ein  warnendes  Haiti 
zugerufen.  In  den  „Briefen,  die  deutsche  Litteratur  betreffend'' 
Bd.  XIV,  S.  268  ff.  (233.  Brief  vom  13.  Mai  1762)  erklärt  er 
den  Schritt  des  ungenannten  Herausgebers  allerdings  für  ebenso 
unbillig  als  unerhört,  und  gesteht  frei  und  offen  dem  Original- 
dichter das  Recht  zu,  sich  durch  den  ihm  mit  Gewalt  auf<>-e- 
drungenen  Dienst  für  beleidigt  zu  halten.  Aber  auf  der  an- 
deren Seite  fordert  Mendelssohn  jenen  auf,  grofsmütig  einzu- 
gestehen, dafs  er  bei  der  Veranstaltung  seiner  neuen  Original- 
ausgabe der  Fabeln  sich  die  meisten  Stellen  gemerkt  habe,  wo 
dem  feinfühlio;en  Kritiker  Ramler  eine  Verbesseruns:  nötio*  sfc- 
schienen.  —  Ja,  er  schaltet  soo-ar  zur  Entschuldio^uno:  des  Un- 
genannten  einige  Bemerkungen  seines  Freundes  G.  ein,  unter 
welcher  Bezeichnung  Lessing  gemeint  ist.  (Vergl.  Lessings 
Werke.  Hempelsche  Ausg.  Bd.  IX,  hrsgb.  v.  C.  Chr.  Redlich, 
8.  343 — 344.)  In  ähnlicher  Weise  wägt  Friedrich  Nicolai  das 
Für  und  Wider  hinsichtlich  der  Ramlerschen  Textveränderunoen 
gelegentlich  einer  dem  Manne  der  Feile  wohlwollenden  Recen- 
sion  in  der  ,,  Allgemeinen  deutschen  Bibliothek"  ab  (Bd.  IX, 
St.  1,  Berlin  und  Stettin  1769,  S.  205  ff.). 

Es  handelt  sich  dort  um  eine  Besprechung  der  von  Ramler 
veranstalteten  Lieder  der  Deutschen  (Berlin  1766;  Ausg.  mit 
Melodien  1767 — 68),  einer  Anthologie,  in  der  der  Herausgeber 
mit  gewohnter  Freiheit  bei  Wiedergabe  der  Lieder  verfahren 
war,  ohne  doch  die  Namen  ihrer  Dichter  zu  nennen.  Auch  N. 
sagt:  „Wir  können  uns  nicht  überreden,  dafs  es  erlaubt  sey, 
dergleichen  Veränderungen  ohne'  Vorwissen  der  Verfasser  vor- 
zunehmen. Wir  glauben,  der  Verfasser  habe  Recht,  sich  zu 
beschweren,  wenn  man  seine  Werke  verändert  heraussfiebt,  ohne 
ihn  zu  fragen,   zu  einer  Zeit,    da    er    vielleicht    beschäftigt    seyn 

kann,  selbst  seine  Werke  verbessert  herauszugeben Hätte 

Herr  Ramler  die  Absicht  gehabt,  den  Lesern  die  Werke 
unserer  besten  Dichter  aus  den  Händen  zu  winden,  so  könnte 
man  mit  ihm  unzufrieden  seyn;  da  aber  dies  seine  Absicht  gar 
nicht  seyn  kann,    sondern  er  vielmehr  nur  die  höhere  Vollkom- 


216  Über  K.  W.  Ranilers  Änderungen  Hageflornscher  Fabeln. 

raenheit  der  "Werke  des  Genies  zur  offenbaren  Absicht  hat,  so 
glauben  wir,  dafs  das,  was  sich  Kunstrichter  hin  und  wieder 
von  Tyranney  u.  dergl.  verlauten  lassen,  ganz  am  unrechten 
Orte  angebracht  ist.  Es  fehlte  nur  an  einer  Kleinigkeit,  dafs 
man  Herrn  R.  bey  diesen  Veränderungen  auch  nicht  mit  einem 
Schein  des  Rechts  etwas  vorwerfen  könnte.  Hätte  er  sie  als 
Vorschläge,  als  Kritiken  bekannt  gemacht,  so  hätte  er 
sich  blofö  des  Rechts  bedient,  das  jeder  Leser  und  jeder  Kunst- 
richter hat.  Man  betrachte  diese  Veränderungen  oder 
Verbesserungen,  wie  man  sie  nun  nennen  will,  auch  nur 
als  Vorschläge  zur  Verbesserung,  als  Kritiken  eines 
feinen  Kunstrichters,  und  man  wird  finden,  dafs  diese  Arbeit 
einen  grofsen  Nutzen  haben  kann." 

In    versöhnlicher    \Yeise    alle   Entschuldigungsgründe,    die 
man  für  Ramlers  Manier  anführen  kann,  zusammenfassend  und 
zugleich  das  Entstehen  dieser  Neigung  beleuchtend,  spricht  sich     i 
derselbe   Nicolai    im    „Ehrengedächtniss    Ramlers"    aus,    das   in 
der   Könio-lichen  Akademie   der  Wissenschaften    den  8.  August 
1799  von  Herrn  Kirchenrat  Meierotto  in  Abwesenheit  des  Ver- 
fassers vorgelesen  wurde.     (Sammlung    der   deutschen  Abhand- 
lungen, welche  in  der  Kgl.  Akad.  d.  Wissensch.  zu  Berlin  vor- 
o-elesen    wurden    in  den  Jahren  1798—1800.     Berlin  1803.     4.) 
Dort  heifst  es  bei  Erwähnung  der  Verdienste,   die  sich  Ramler 
durch  die  1757    vollständig   herausgekommene  Übersetzung  von 
Batteux    cours    de    belies    lettres    („Einleitung    in    die    schönen 
Wissenschaften."      Leipzig    1756   ff.,    5.   Aufl.,    1802)    für    die 
damalige  Zeit    erworben,   dafs    dieses    Werk   auch    viel   gelesen 
wurde  „wegen    der    so   gut   gewählten  Beispiele    aus    deutschen 
Dichtern  und  Prosaikern".     N.  fährt  fort:  „Um  diese  Beispiele 
aufzusuchen,  las  Ramler  alle  deutschen  Dichter    mit  beurteilen- 
dem Nachdenken  durch    und  kam  dadurch  auf  ein   Unternehmen, 
das   einzig  in  seiner  Art  ist.     Er  wollte,  dafs  die  anzuführenden 
Beispiele   in    einem  Lehrbuche,    welches    zur   richtigen    Bildung 
des  Geschmacks  besonders  bestimmt  war,  ganz  vollkommen  seyn 
sollten.      Wenn    er   also,    selbst   bey   den    besten    Dichtern,    zu- 
weilen   Nachlässigkeiten    im    Ausdruck    oder    in    den    Gedanken 
fand,  verbesserte  er  sie  mit  derselben  Sorgfalt,  die  er  bey  seinen 
eichenen    Arbeiten    anwendete,    und    rückte    ihn    so    in    seinen 


über  K,  W.  Ramlers  Änderungen  Hfigedornscher  Fabeln.  247 

Batteux  ein.*  Er  o^ab  im  Jahre  1759  mit  Lessing  Lofifaus 
Sinngedichte  auf  diese  Art  heraus,  mit  trefflichen,  die 
Sprache  erläuternden  Anmerkungen ;  in  der  Folge  gab  er  allein 
Licht wers  Fabeln  heraus  (im  Jahre  1761),  und  hernach 
besondere  Sammlungen  der  besten  Lieder,  Fabeln 
und  Sinngedichte,    worin  er  nicht  wenige  Stellen  geändert 

hatte Ramler   kam  auf  diese  Umänderunoren  orewifs  nur 

aus  Liebe  zu  gröfserer  Vollkommenheit  der  Poesie  und  zur  Er- 
höhung ihres  Genusses ;  aber  die  Urtheile  über  dieses  Unter- 
nehmen, wovon  man  in  keiner  Sprache  ein  Beispiel  hat,  fielen 
freylich  sehr  verschieden  aus.  . . .  Einige  meinten,  er  wolle  sich 
dadurch  über  alle  anderen  Dichter  erheben,  wovon  der  beschei- 
dene Mann  doch  sehr  entfernt  war.  Andere  tadelten  mit  meh- 
rerem  Rechte,  dafs  er  alle  anderen  Dichter  auf  seine  Art  ver- 
änderte, wodurch  jedem  seine  Eigenthümlichkeit  geraubt,  und 
viele  geänderte  Stellen,  wenn  auch  korrekter,  zugleich  schwächer 
würden. 

Zu  Ramlers  Entschuldigung  ist  zu  sagen,  dafs  Lessing, 
Kleist,  Götz,  Weifse,  v.  Nicolay  und  andere  ihn  zur 
Verbesserung  ihrer  Gedichte  freundschaftlich  aufforderten,  dafs 
Götz,  Weifse  und  v.  Nicolay  den  gröfsten  Theil  dieser  Ver- 
besserungen mit  Dank  in  die  Ausgabe  ihrer  Gedichte  aufnah- 
men, welches  Uz  that,  welcher  ihn  eigentlich  nicht  um  Ver- 
besseruno^en  ersucht  hatte.  . . .  Die  Vergleichung  mit  den  Origi- 
nalen  wird  immer  lehrreich  sein,  selbst  da,  wo  durch  die  er- 
langte Korrektheit  der  feine  Dichtergeist  verflog." 

Betrachten  wir  die  mannigfachen  Widersprüche  in  den 
einander  gegenüberstehenden  Urteilen  über  Ramlers  Korrekturen, 
80  können  wir  einstweilen  nur  den  Schlufs  daraus  ziehen,  dafs 
der  Geschmack  der  verschiedenen  Beurteiler,  sowie  ihr  persön- 
licher   Standpunkt    Ramler    gegenüber    ein    verschiedener    war; 


*  Gegen  die  Heranziehung  von  Ramlers  Bearbeitung  des  Batteux  als 
einer  Entschuldigung  für  die  gerügten  Textänderungen  wendet  sich  VV.  Körte 
a.  a.  O.  mit  folgenden  scharfen  Worten:  „Man  hat  die  Ramlersche  Ver- 
besserungssucht auch  mit  seiner  Batteuxschen  Notdurft  beschönigen  wollen! 
—  Immer  besser!  —  ^Vir  müssen  also  noch  Gott  danken,  dafs  Ramler 
nicht  Gottscheds  oder  ein  noch  schlechteres  Mafs  und  Gewicht  in  Deutsch- 
land bat  verbreiten  wollen,  weil  es  sonst  den  armen  deutschen  Klassikern 
noch  ärger  ergangen  wäre." 


248  Über  K.  W.  Kamlers  Änderungen  Hagedornscher  Fabeln. 

sodann  liegt  es  aber  auch  nahe,  anzunehmen,  dafs  die  Ramler- 
fechen  Veränderungen    von    Originalgedichten    nicht    alle   gleich- 
artig seien,    dafs  vieles    ihm    gut    gelungen,    einiges    auch   mifs- 
lung-en  sei.     Dieser  Schlufs  wird  durch  J.  H.  Vofs'   Urteil  be- 
stätigt,  der  in  seinen  „Kritischen  Briefen  über  Götz  und  Ramler'' 
(Mannheim    1801))    an    K.  L.    von    Knebel    schreibt    (S.  98  fF.): 
„Verstehen    Sie    mich,    lieber    Freund.      Nicht    Ramlers    Ände- 
rungen   überall    und   durchaus    übernehme    ich    zu    rechtfertio;en. 
Wer  darf  leugnen,  dafs  er  in  einigen  Tonarten,  vornehmlich  in 
den  zarten  Abstufungen  des  Launigen  und  Naiven,  nicht  immer 
das  Zustimmende  traf?  .  . .  Worin  Götz   aber    am   glücklichsten 
war,    die  sanften  Töne    der    Rührung,    der    gemütlichen    Behag- 
lichkeit,   der    einfach    geschmückten    Anmut,    des    leichten,    oft 
schalkhaften    \V^itzes,    der    bald    mit    griechischer  Feinheit,    bald 
mit  französischer  Artio-keit  sich  hineinschmeichelte:  diese  o-erade 
stimmten  zu  Ramlers  eigensten  Naturlauten;  hier  war  Ramler 
einheimisch,  hier  empfand  er  ganz  wie  sein  Geistesgenofs,  hier 
wufste    er   das    Mishällige    der    Empfindung,    das  Verfehlte    des 
Ausdrucks  in  Wort  und  Melodie  mit  leisem  Gefühl  anzuoeben." 
Gestützt  auf  diese  Überzeuojunor  hat  Vofs  in  seinem  Buche 
nachgewiesen,  dafs  die  von  Ramler  besorgte  posthume  Ausgabe 
der   ..Vermischten   Gedichte*'    von    J.  N.   Götz  (Mannheim   1785, 
3  Teile),  gegenüber  den  Vofs  zugänglichen,  handschriftlich  vor- 
handenen Originalgedichten,  zumeist  wesentliche  V^erbesserungen 
und  Verschönerungen  bietet.     Nicht    ohne    Nutzen   ist   für  Vofs 
die  Beschäftio^uno*    mit   Ramlers    kritischer  Thätiorkeit    o-ewesen: 
was    Ramler    ihm    und    durch    ihn    der    deutschen    Metrik    ge- 
worden,    das    deutet    R.    E.    Prutz     an    in    seinem    „Göttinger 
Dichterbund*'   S.   140  fF. :  „Über  diese  Feile,  welche  vorher  von 
Prutz  „Ramlers   verrufene  Feile"  genannt  war,    zu    spotten,   ist 
freilich  leicht,  es  ist  auch  leicht,  ihn  jetzt  der  Gewaltthätigkeit, 
der  Pedanterie  und  des  Eigensinns   zu  beschuldigen:    aber  dafs 
wir  gegenwärtig  über  dergleichen   Bemühungen  spotten  können, 
dafs    unsere    Sprache    diese    Gewandtheit,    das    Gefühl    für    die 
richtige  und  strenge  Form  diese  Verbreitung  hat,  die  sie  haben 
und  hoffentlich    trotz    mancher  Reaktionen    auch    behalten    wird, 
daran    hat   eben    Ramler   keinen    geringen   Anteil,    und    es  wird 
gut    sein,   dies    einmal    wieder   auszusprechen.     Er  war  an  den 


über   K.  W.  Kamlers  Änderungen  lJagedorn?cher  Fabeln.  249 

Alten  grofs  geworden,  hatte  ein  feines  Ohr  und  eine  unermüd- 
liche Geduld,  ja  eine  wahre  Begier  und  Leidenschaft  zu  bessern 
und  zu  feilen;  unsere  Poeten  haben  Aufserordentllches  durch 
ihn  gelernt."* 

Nach  den  vorstehenden  Urteilen  dürfte  es  kein  aussichts- 
loses Unternehmen  sein,  einen  Besuch  zu  wagen  in  des  kri- 
tischen  Dichters  Werkstatt  und  unter  Gejjenüberstellunir  von 
Originalgedichten  und  Ramlerschen  Überarbeitungen,  soweit  uns 
erstere  noch  zugänglich  sind,  nach  etwaigen  Grundsätzen  zu 
forschen,  welche  für  die  von  Ramler  Seemächten  Umorestaltunoren 
mafsgebend  gewesen  sind.  Vielleicht  gewinnen  wir  dadurch 
einige  Resultate,  welche  der  „Ramlerschen  Felle"  freundlichere 
Beurteiler  in  dem  Sinne  von  Prutz  und  anderen  Litterarhisto- 
rikern  (z.  B.  Vilmar,  Gesch.  d.  deutschen  Nat.-Litt.,  16.  Aufl., 
S.  524)  zu  erwecken  geeignet  sind.  Greifen  wir  einmal  aus 
der  Zahl  der  Dichter,  deren  Produkten  Ramler  eine  gröfsere 
Aufmerksamkeit  gewidmet  hat,  Friedrich  von  Hagedorn  heraus. 
Es  knüpft  sich  nämlich  an  diesen  Hamburger  Dichter  eine  Be- 
merkung Lessings,  welche  beweist,  wie  sehr  dieser  grofse 
Kritiker  mit  den  Veränderuno;en,  welche  Ramler  an  Hagedorn- 
sehen  Gedichten  vornahm,  einverstanden  war.  In  einem  Briefe 
aus  Wolfenbüttel  vom  18.  Dezbr.  1778  schreibt  Lessing  an 
Ramler:  „Für  den  zweyten  Teil  der  Blumenlese  recht  vielen 
Dank!  Dafs  ich  Ihre  Verbesserungen  meiner  Dingerchen  blind- 
lings  unterschreibe,  das  wissen  Sie  schon,  und  icli  habe  mich 
weidlich  vor  einigen  Wochen  über  das  dumme  Altonaer  Post^jferd 
geärgert^  icelclies  noch  immer  den  Hagedornischen  Lesarten  die 
Stange  halten  loill.^^  Zu  diesen  Worten,  die  wohl  nicht  ein 
blofses  Kompliment  für  den  Freund  enthalten  sollten  —  dafür 
war  Lessing  zu  aufrichtig  — ,  -macht  C.  Chr.  Redlich  (in  der 
Hempelschen  Ausgabe  von  Lessings  Werken  Teil  XX,  Abt.  1, 
Briefe  Nr.  484,  S.  769)  die  Anmerkung:'  „Vgl.  Wittenbergs 
Recension  im  ,Beytrag  zum  Reichs-Postreuter',  92.  Stück  vom 
26.  Novbr.  1778."  .  .  .  Leider  war  es  dem  Schreiber  dieser 
Zeilen  nicht  möglich,  die  erwähnte  Recension  einzusehen;  um 
so  mehr  erfreut  es  ihn,  über  die  andere  hierher  gehörende  Schrift, 

*  V.  Prutz:  Knebels  Briefe,  Vofs'  Briefe. 


250  Über  K.  W.  Ranilers  Änderungen  Hagedornsclier  Fabeln. 

welche  Redlich  a.  a.  O.  erwähnt,  berichten  zu  können.  Der- 
selbe fährt  nämlich  fort:  „Über  Ramlers  Verbesserungen  des 
Hagedornischen  Textes  hatte  schon  Gerstenberg  gespottet:  , Briefe 
über    ^lerkwürdigkeiten    der    Litteratur,    3.    Samml.,    Schleswig 

1767,  S.  351  ff.'" 

Es  ist  eine  feine  Art  der  Satire,  welche  der  schleswig- 
holsteinische Dichter  und  Kritiker  im  zwanzigsten  der  genannten 
Briefe  (dritte  Samml.  S.  351 — 364)  zur  Anwendung  bringt.  Die 
Situation  ist  die,  dafs  ein  „Bibliothekar  von  Belvedere"  sich 
auf  dem  Gute  eines  Herrn  von  S**  d**len  aufhält  und  dort 
von  dem  Herausgeber  der  Briefe  nach  seinem  Urteil  über  litte- 
rarische Erscheinungen  befragt  wird.  „Ich  bin  zweifelhaft," 
sagte  der  Bibliothekar,  „was  ich  mit  diesen  Liedern  der 
Deutschen  anfangen  soll.  Es  sind  mir  deren  einige  so  rei- 
zende   in    die   Augen    gefallen ,    andere    sind    in    einzelnen 

Stellen  mit  so  vielem  Geschmack  verbessert  . . .,  dafs  ich  nicht 
satt    werden   konnte,   dieses    feine    ,Gebund*   der   Kritik    ...    zu 

lesen  und    zu  bewundern   Doch    stille!    ...  Lassen  Sie 

uns  einige  Kleinigkeiten  untersuchen,  die  selbst  der  Aufmerk- 
samkeit  des  Herausgebers  entwischt  zu  sein  scheinen." 

Der  Bibliothekar. 
Lassen  Sie  uns  gleich  bey  dem  ersten  Liede  stehen  bleiben. 

Freude,  Göttin  muntrer  Jugend. 

Höre  mich ! 

Lafs   —  —  —  — 

Ihr  Freund. 

Eine  Minute,    wenn    ich    bitten    darf.     Dafs  die  Freude  die 

Göttin  muntrer  Jugend    seyn    soll,    ist,    wo    nicht   in  der  Sache, 

doch  in   den   Worten  eine  Tautologie.     Überdem  ist.  der  Begriff 

zu  eingeschränkt,  denn  die  Freude  ist  auch  die  Göttin  muntrer 

Alten. 

Der  Bibliothekar. 

^^'ie  wäre  es,  wenn  wir  statt  muntrer  Jugend:  edler  Herzen 

setzten? 

Ihr  Freund. 

Vortrefflich!    Nur  ein  edles,  lasterfreyes  Herz  ist  im  Stande, 


über  K.  W.  Ramlers  Änderungen  Hagedornscher  Fabeln.  251 

sich    zu    freuen,    und    befugt,    die  Freude   als    eine   wohlthätige 
Göttin  anzurufen.    Geschwind,  streichen  Sie  muntrer  Jugend  aus. 

Der  Bibliothekar. 

Überdem  werden  Sie  aus  der  Folge  sehen,  dafs  der  Be- 
srifF,  den  ich  eingeschoben  habe,  unentbehrlich  ist. 

Lafs  die  Lieder,  die  hier  schallen, 
Deinen  Kindern  Wohlgefallen. 

Ihr  Freund. 

Wie?  Sie  scherzen!  Steht  das  da?  —  Von  welchen 
Kindern  ist  hier  die  Rede?  Von  ihren  mythologischen  und 
alleirorischen  Kindern?  von  der  Juorend?  von  ihren  Anbetern? 
Und  Kinder^    Warum  nicht  gar  Säuglinge^  —   —  —  —  — 

Der  Bibliothekar. 

Ich  mache  also  einen  Strich  über 

Deinen  Kindern  Wohlgefallen 

und  setze  auf  Ihre  Veranlassung 

Dich  vergröfsern,  dir  gefallen. 

Aber  weiter! 

Holde  Schwester  süfser  Liebe, 
Glück  der  Welt! 

Ich  weifs  gegen  diese  Zeilen  nichts  weiter  einzuwenden,  als 
dafs  das  Wort  Hold  hier  den  Charakter  der  Freude  nicht  recht 
bezeichne,  und  möchte  daher  Muntre  oder  sonst  ein  ähnliches 
Wort  setzen.  Tochter  des  Himmels^  oder  im  Hagedornischen 
Geschmack,  UimmelsJcind  würde  mir  gleichfalls  lieber  sein  als 
Glück  der  Welt^  wenn  nicht  dies  letztere  ausdrücklich  dastünde.  — 
In  diesem  Plaudertone  wird  die  Besprechung  bezw.  Emen- 
dation  des  ersten  Liedes  der  „lyrischen  Blumenlese"  zu  Ende 
geführt,  woran  sich  eine  kurze  Kritik  von  Versen  aus  anderen 
Hagedornschen  Liedern  der  genannten  Sammlung,  wieder  unter 
Beifügung  positiver  Vorschläge,  ergänzend  anschliefst.  Wir 
merken  schon,  dafs  —  doch  lassen  wir  den  Herausgeber  der 
„Briefe  über  Merkwürdigkeiten  der  Litteratur"  wieder  selbst 
reden:  —  „Alle  diese  Stellen,  und  noch  viel  mehrere  von  ge- 
ringerer Erheblichkeit,    sind    aus  dem   einzigen  Hagedorn, 


.)nO 


Über  K.  AV.  Kamlers  Anderuntren  Hapedornsther  Fabtln. 


^v  »^  ULT    l\.     >>  .    I\inimci5    ^viivici  uiij;cii    *Joj^ 


Icli  wunderte  mich,  und  Sie  haben  Ursache  über  mich  zu  lachen, 
duls  der  wegen  seiner  Korrektion  so  gepriesene  Hagedorn 
so  schwache  Verse  hatte  können  stehen  lassen,  die  wir  doch 
auf  der  Stelle  und  mit  der  grölsten  Leichtigkeit  zu  verbessern 
oewulst,  —  als  unser  Bibliothekar  seinen  Muthwillen  nicht  länger 
aufhalten  konnte  und  laut  zu  eklatieren  anfing:  , Merken  Sie 
denn  noch  nicht,'  sagte  er,  .dafs  alle  Ihre  vermeynten  Verbesse- 
lunoen  blofs  wiederheroe^tellte  Lesarten  aus  dem  Hagedorn 
sind,  die  wir  den  unbefugten  der  Berlinischen  Ausgabe 
untergeschoben  haben?'" 

Ein  Blick  in  die  Originalausgabe  von  Hagedorns  poetischen 
Werken  belehrte  den  „Freund",  belehrt  auch  uns,  dafs  es  dem 
Bibliothekar  wirklich  gelungen  ist,  uns  auf. die  angegebene 
Weise  ..anzuführen".  Wie  aber?  Werden  wir  der  Gerstenberg- 
schen  Kritik  beistimmen?  —  Es  ist  dies  dem  unbefangenen 
Beurteiler,  der  nicht  gewaltsam  Gründe  für  oder  gegen  eine 
Lesart  heraussucht,  nur  in  sehr  beschränktem  Umfange  mög- 
lich: sind  ja  selbst  von  den  wenigen  oben  angeführten  „Rück- 
Verbesserungen"  manche  von  recht  zweifelhaftem  Werte.  Auch 
kommt  uns  der  „Bibliothekar"  selbst  auf  halbem  Wege  ent- 
oreoren.  „Ich  will  Sie  nicht  überreden,"  fuhr  er  fort,  „dafs  die 
neuen  Änderungen  und  Zusätze  alle  so  bequem  aus  ihren  Ori- 
frinalen  verbessert  werden  können.  Selbst  in  den  Hao;edorni- 
sehen  Liedern,  die  sonst  so  fleifsig  gefeilt  und  mit  der  äufser- 
sten  Feinheit  des  Geschmacks  ausgearbeitet  sind,  finden  sich 
Stellen,  wo  die  lima  des  Berlini:?chen  Herausgebers  nicht  ohne 
Erfolo;  thätio^  o-ewesen  ist."   —   —   — 

Vielleicht  ist  Leasings  oben  angeführtes  Urteil  doch  nicht 
blofs  aus  persönlichem  Wohlwollen  für  Ramler  abzuleiten.  — 
Friedrich  von  Hao-edorn  orehört  nicht  zu  den  deutschen  Klassikern 
ersten  Ranges.  Wer  liest  heute  noch  die  Lehrgedichte,  die 
Epigramme  oder  die  Gesellschaftslieder  dieses  „deutschen 
Horaz"?*     Nur    seine   Fabeln    haben    sich   in    gröfserer  Anzahl 


*  Schon  Bodmer  sagt  von  ihm  (in  dem  Gedichte:  Untergang  der  be- 
rühmten Namen,  vergl.  v.  Hagedorns  Foet.  Werke,  hrsgb.  von  Eschenburg, 
Hamburg  1800,  I,  S.  VH  — VHI):  ^.Oottl  wer  h'est  den  v.  Hagedorn  noch? 
wer  ist's,  der  von  ihm  sf)ri(dity  —  —  Vir  war,  da  er  auftrat,  Deutschlands 
Bewundrung:  jetzt  macht  man  freilich  aus  ihm  nicht  gar  wenig,  und  man 
erkennt  ihn  für  einen  der  Bessern,  nicht  einen  der  Besten!'' 


über  K.  W.  Ramlers  Änderungen  Ilagedornscher  Fabeln.  'lö'd 

in  Anthologien  und  Schul-Lesebüchern  erhalten,  und  sie  bilden 
auch  den  wertvollen  Kern  seiner  Dichtungen.  Gleichwohl  pal'ät 
auch  auf  diese  nicht  durchgehend s  das  Loh,  welches  Wilhelm 
Scherer  (Gesch.  d.  deutschen  Litt.,  Berlin  1883,  S.  374 — 375) 
dem  Autor  spendet:  „Er  war  der  erste  neuere  deutsche  Dichter, 
welcher  den  Geschmack  und  die  Korrektheit  der  Minnesänger 
wieder  erreichte  und  dadurch  für  unsere  Litteratur  zurück- 
gewann. Aber  er  wufste  seinen  Vortrag  nicht  blofs  elegant, 
sondern  auch  2:emeinverstündlich  einzurichten" 

\\  enn  diese  hohe  Korrektheit,  Eleiianz  und  Gemeinverständ- 
lichkeit,  welche  allerdings  den  meisten  Gedichten  Hagedorns 
innewohnt,  sich  auf  alle  seine  Schöpfungen  erstreckte,  so  w^are 
es  ein  frevles  und  ganz  überflüssiges  Beginnen  Ramlers  ge- 
wesen, in  seinen  Anthologien,  besonders  in  der  Fabellese,  so 
vieles  an  den  Produkten  dieses  Hamburger  Poeten  zu  ändern. 
Betrachten  wir  deshalb  eine  Anzahl  hervorragender  Abände- 
rungen des  kritischen  Sammlers  im  Hinblick  auf  die  Theorien, 
die  in  ihnen  etwa  verkörpert  sind,  und  mit  Rücksicht  auf  ihre 
ästhetische  Berechti^uno;. 

Eine  der  bekanntesten  Fabeln  ist  die  von  Johann  dem 
Seifensieder.  (Sämtl.  Poet.  Werke  von  Friedr.  v.  Hagedorn. 
Leipzig  bei  Ph.  Reclam  jun.,  S.  142 — 145.  Die  Citate  sollen 
nach  dieser  Ausgabe  gemacht  werden.  Dieselbe  ist  nach  der  „Vor- 
erinnerung" ein  bis  auf  orthographische  Kleinigkeiten  genauer  Abdruck 
der  Hamburger  Ausgabe  von  1757  und  stimmt  auch,  mit  der  ge- 
nannten Einschränkung  und  mit  Ausnahme  der  Interpunktion,  soweit 
wir  verglichen  haben,  mit  der  Ausgabe  von  1764  überein.) '^  Die  Fabel 
ist  abgedruckt  in  Karl  Wilhelm  Ramlers  Fabellese,  Leipzig  1783, 
Buch  I,  Nr.  XLIX  (S.  105  —  111).    Dieselbe  lautet  im  Original 

(V.  5  ff.):  ^      • 

Sein  Tagwerk  konnt^  ihm  Nahrung  bringen: 
Und  wann  er  afs,  so  mufaf  er  singen^ 
Und  wann  er  sansr,  so  wai's  mit  Lust 
Aus  vollem  Hals  und  freier  Brubt. 
Beim  Moj'genbrot,  beim  Abendessen 
Blieb  Ton  und  Triller  unvergessen; 

*  Die  Eschenburgsche  Ausgabe  von  1800  bietet  moderne  Wortformen, 
z.  Vi.  zwey  statt  zween,  beschliefst  st.  beschleufst.  (Vergl.  das  Gedicht: 
Der  Sultan  und  sein  Vezier  Azeni.) 


254  Über  K.  W.  Ramlers  Änderungen  Ilagedornscher  Fabeln. 

Das  schallte  recht;  und  seine  Kraft 
Durchdrang  die  halbe  Nachbarschaft. 
Man  horcht,  man  fragt:  Wer  singt  schon  wieder? 
Wer  ist's?    Der  muntre  Seifensieder. 

Für  diese  Zeilen  bietet  die  Fabellese  folgenden  Text : 

Früh,  mit  den  Lerchen  um  die  Wette, 
Spät,  schon  mit  einem  Fufs  im  Bette; 
Und  wenn  er  sang,  so  war's  mit  Lust, 
Aus  vollem  Hals,  aus  freyer  Brust. 
Man  horcht,  man  fragt  etc. 

Im  Vorstehenden  sind  Zeile  5  u.  6  („Sein  Tagwerk  .  .  . 
singen")  geändert  und  Zeile  9 — 12  (Beim  Morgenbrot  . .  .  Nach- 
barschaft") gestrichen  worden,  beides  mit  Fug  und  Recht.  Denn 
wem  erscheint  es  nicht  auffällig,  dafs  der  muntere  Seifensieder 
stets  gerade  während  des  Essens  gesungen  haben  soll?  —  Dürfte 
einem  san^eslusti^en  Handwerker  nicht  jede  beliebige  Zeit  des 
Tajjes  zu  einem  Liede,  dem  Ausdrucke  eines  zufriedenen  Sinnes, 
Veranlassung  bieten?  Und  nicht  jede  Stunde  eher  als  die  zur 
körperlichen  Sättigung  bestimmte?  —  Wenn  ferner  Zeile  8  uns 
den  Gesang  als  „aus  vollem  Hals  und  freier  Brust"  kommend 
schildert,  so  ist  die  in  Z.  11  u.  12  gegebene  Versicherung  „Das 
schallte  recht"  u.  s.  w.  vollständig  überflüssig.    Z.  15  flf.  lauten  bei 

V.  Hagedorn.  Ramler. 

Im  Lesen  war  er  anfangs  schwach,      Im  Lesen  war  er  etwas  schwach, 

Er  las  nichts  als  den  Almanach,         Er  las  nichts  als  den  Almanach, 

Doch  lernt''  er  auch    nach   Jahren       Und  Hausgebetlein  und  Postillen  ^ 

beten ^  Die   Winterstunden  auszufüllen^ 

Die  Ordnung  nicht  zu  übertreten,  Und  schlief,    die   Schuld   war    oft 

Und   schlief,    dem  Nachbar  gleich  nicht  sein, 

zu  sein,  Beim  Lesen  seiner  Bücher  ein. 

Oft  singend,  öfter  lesend  ein. 

Er  schien  fast  glücklicher  zu  prei- 
sen 

Als  die  berufnen  sieben  Weisen, 

Als  manches  Haupt  gelehrter  Welt, 

Das  sich  schon  für  den  achten  hält. 

Was  bedeutet  wohl  bei  v.  Hagedorn  Z.  18:  „Die  Ordnung 
nicht  zu  übertreten"?  Ist  dies  der  Inhalt  seines  Gebets,  oder 
ist  es  das  zweite,    was    er  nächst  dem  Beten  lernt?     Der  Sinn 


über  K.  W.  Ramlers  Änderuujien  Iluaedornscher  Fabeln.  255 


o^ 


dieser  Worte  ist  auch  dem  aufmerksamsten  Leser  nicht  klar! 
In  Z.  21—24  wird  den  sieben  Weisen  Griechenlands  und  son- 
stio^en  orelehrten  Männern  eine  besondere  GlückseH2:keit  zuo^e- 
schrieben,  gewifs  nicht  nach  dem  Geschmack  des  weisen  Solon. 
In  einem  naiven  Gedichte  erscheint  vielmehr  eine  Anspielung 
auf  die  „berufnen  sieben  Weisen"  als  störend.  Ungeschickt 
ist  endlich  die  Erwähnuno;  des  Nachbars,  obg-leich  von  einem 
solchen  noch  nicht  die  Rede  gewesen  ist.  Wie  frei  und  leicht 
und  ohne  Anstofs  lesen  sich  doch  die  Verse,  zu  welchen  Ramler 
nach  StreichuntT  der  vier  letzten  Zeilen  die  übrio-en  sechs  oben 
ano^eführten  umo^eschmiedet  hat. 

Z.  91 — 96  haben  nachstehenden  Wortlaut   bei 

V.  Hagedorn.  Ramler. 

Er  lernt  zuletzt,  je  mehr  er  spart,  Er  lernt  zuletzt,  dafs  Gut  und  Geld 

Wie  oft  sich  Sorg'  und  Relchthum  Nicht    für    die    Freuden    schadlos 

paart,  hält. 

Und  manches  Zärtlings  dunkle  Freu-  Die  der  Zufriedene  geniefst, 

den  Dem  Arbeit  Kost  und  Schlaf  ver- 
Lhn  ewig  von  der  Freiheit  scheiden^  süfst, 

Die  nur  in  reinen  Seelen  strahlt.  Der  braucht,  was  ihm  sein  Fleii's 
Und   deren  Glück   kein   Gold   be-  beschert, 

zahlt.        •  Und  nie  vermifst,  was  er  entbehrt. 

Im  Original  sind  die  beiden  mittelsten  Zeilen  Proben  einer 

öfter  bei  v.  Hagedorn  vorkommenden  Schwerfällio^keit  des  Aus- 

drucks: 

Und  manches  Zärtlings  dunkle  Freuden 
Ihn  ewig  von  der  Freiheit  scheiden,  .  .  . 

Ein  reicher  Mann,  der  sein  Geld  ängstlich  behütet,  ist  noch 
kein  Zärtling.  Die  „dunklen  Freuden"  desselben  sind  auch 
uns,  wie  wir  frei  gestehen,  dunkel.  Die  Beziehung  von  „ihn" 
auf  den  Zärtling  ist  dem  Sprachgefühl  zuwider ;  man  erwartete 
wenigstens  „diesen".  Somit  können  wir  der  durch  Ramler 
vorgenommenen  Umarbeitung  dieses  Gedichtes,  vom  formalen 
Standpunkte  aus,  unbedingt  den  Vorzug  vor  dem  Originale  ein- 
räumen. 

Sehr  wesentliche  Umgestaltungen  hat  Hagedorns  Fabel : 
„Jupiter,  die  Tiere  und  der  Mensch"  (Recl.  Ausg.  S.  186  —  188; 
Fabellese  Buch  I,  Nr.  XIX,  S.  32 — 35)  erfahren.  Gleich  der 
Anfang  setzte  die  feilende  Hand  in  Thätigkeit: 


256 


Über  K.   \V.  Ramlers  Anderuno-en  Hasredornscher  Fabeln. 


V.  Hagedorn. 

Als  Jupiter  der  unbewohnten  Erde 
Die  Menschen  und  die  Thiere  schuj\ 
Bestimmt'  er  jeglichem  den  künf- 
tigen Beruf, 
Des  Lehens  Art  und  Ziel  und  Arbeit 

und  Beschwerde. 


Ramler. 

Als  Jupiter  der  unbewohnten  Erde 

Zu  Bürgern  l^hicr    und   Menschen 

schuf, 

Bestimmt'  er  jeglichem  den  künf- 
tigen Beruf, 

Sein  Lebensziel,  sein  Theil  Vergnügen 


und  Beschwerde. 
Die  Konstruktion:  „Jupiter  schuf  der  Erde  Menschen  und 
Thiere"  erscheint  hart:  fiefällityer  ist  der  durch  Ano^abe  des 
Zwecks  („schuf  zu  Bürgern")  vervollständigte  Ausdruck.  In 
der  vierten  Zeile  ist  der  Pleonasmus  „Arbeit  und  Beschwerde" 
durch  die  beiden  Gegensätze  „Vergnügen  und  Beschwerde" 
—  Dichter  und  Verbesserer  fahren  fort : 

v.  Hagedorn.  Ramler. 

Zum  Esel  spricht  der  Gott: 


beseitigt. 


Zum  Esel  sagte  Zeus:  — 


Dies   ist   dein    Loos:    Wohlan!   so      Dies   ist   dein    Los;    erfüU's !   und 


dien''  und  lebe 


lebe  vierzig  Jahre ! 


So  viele  Jahr\   als   ich  dem  Monat      Der  Esel  Erstling  schreit :  Zu  viel 


Tage  gebe. 


verleihest  du ! 


Der  Esel  Erstling  schreit:  Zu  viel  Wie?  vierzig  Jahre,   Zeus?    Ach! 
legst  du  mir  bei.  '     nimm  mir  zwanzig  Jahre, 

Wie?    dreifsig    Jahre!    Zeus,    ach  —  — —  —  —  —  — 

nimm    mir  zwanzig  Jahre.  —  —  — ■  —    —  — -  —  —  — 

Der  grofse  Zeus  erhört  sein  flehen- 
des Geschrei. 

Weiter  läfst  der  Dichter  den  Hund  sprechen,  der  35  »Jahre 
als  Lebensdauer  erhalten  soll: 


Zeus  winket  ihm  Erhöruno:  zu. 


V.  Hagedorn. 


Ramler ; 


Das   Wächteramt    ist   schwer,   ich      Das  Wächteramt   ist   schwer:    ich 


bitte.   Herr,  von  dir. 
Die  Dauer  meiner  Pflicht  aus  Mit- 
leid einzuschränken, 


bitte,  Herr,  von  dir, 
Die  Dauer  meiner  Pflicht  aus  Mit- 
leid einzuschränken. 


Und  fünfundzwanzig  mir  zu  sehen-      Und  fünfundzwanzig  mir  daran  zu 


len. 


schenken. 


Zum  AflPen  sagt  er  drauf: 


Zum  Affen  sagt  er  drauf:  —  — 


„Sei    nackt,    gefesselt,    arm,    der      Sey  nackt,  gefesselt,  5e^  i^^r  Ä'wecÄ?' 
Kinder  Lust  und  Spott,  tind  Kinder  Spott 


über  K.  W.  Ramlers  Änderungen  Hagedornscher  Fabeln.  257 

Und  der  Bedienten  Spiel  auf  sechs  So  viele  Jahr,  als  ich  dem  Monat 
Olympiaden.  Tage  gebe. 

Sechs !  spricht  der  Aff\  o  gieb  mir  So  viele  ?  ruft  der  Affen  Ahnherr, 
doch  aus  Gnaden  überhebe 

Nur  vier;  die  sind  genug.  —  —  Mich  doch  der  Hälfte!  — •  —  — 

Zu  eini2:en    der  vorstehenden  Anderuno^en    o;aben    sachliche 
Irrtümer  des  Autors   Veranlassung.     Hagedorn  hat  nämlich  dem 
P^sel  eine  zu  kurze  Lebensdauer  (statt  dreifsig  ursprünglich  an- 
gesetzter Jahre  nur  zehn)  eingeräumt.     So    sagt    Brehm    (Tier- 
leben, Gr.  Ausg.,    2.  Aufl.,    I,    Abt.  Säugetiere,  3.  ßd ,  S.  44) 
vom  Esel:   „Er  kann,  auch  wenn  er  tüchtig  arbeiten  mufs,    ein 
ziemlich  hohes  Alter  erreichen :  man  kennt  Beispiele,  dafs  P^sel 
vierzio:    bis    fünfzis;   Jahre    alt   wurden."      Dieser   Beobachtunsj 
kommt  ßamler  mit  den  auf  zwanzig  herabgeminderten  ursprüng- 
lichen  vierzifj  Jahren  näher.     Hierher  o;ehören  auch  die  Worte: 
,^  Und  fünfundzwanzig  Jahre  mir  zu  schenken.^''     Da  nämlich  der 
Hund  nicht  viel  älter  wird  als  zehn  Jahre  (vergl.  Brehm  a.  a.  O. 
1.   Bd.,  S.  588:    „Der  Hund    tritt  schon  im  zwölften  Jahre  ins 
(jreisenalter  ein"),  so  liefs  Ramler  den  Hund  die  Bitte  um  den 
Erlafs  von  25  Jahren  an  den  ursprünglich  bestimmten  35  Jahren 
aussprechen:  „Und  fünfundzwanzig  mir  6?ara?i  zu  schenken."*  — 
Die  Zeile:   „Zeus  winket  ihm  Erhörung  zu"  ist  aus  dem  etwas 
längeren  Originalverse  („Der  grofse  Zeus    erhört  sein  flehendes 
Geschrei")     aus    Gründen     des     Wohlklangs    verkürzt    worden. 
Über  eine  Ramlersche  Strophe,  deren  „ganze  Zusammensetzung 
zum  Wohllaut  ein2:erlchtet  ist  und  deren  Zeilen  schmal  zusammen- 
laufen"  vergl.   „Kritische  Nachrichten  aus  dem  Reiche  der  Ge- 
lehrsamkeit auf  das  Jahr  1750",  hrsgb.  von  Ramler  und  Sulzer, 
St.  VI.  —  Die  breite  Ausdrucksweise  Hagedorns:  „Der  Kinder 
Lust  und  Spott  und  der  Bedienten  Spiel"  ist  unter  Beschränkung 
der  drei  Synonyma  auf  eins  (sey  der  Knecht'  und  Kinder  Spott) 
verbessert  worden;    dadurch    wurde    freilich    eine  Änderung  der 
nächsten   Worte   nötig.     Ramlers    Text  Veränderung:    „der  Affen 
Ahnherr"    statt    des    ursprünglichen    „der    AfF' "    bringt    etwas 
Possierliches    in    die    Erzählung,    wohl    gemäfs    dem    über    die 
„äsopische  Fabel"   in    der    Batteux-Ramlerschen    „Einleitung   in 


*  Ramler,  der  sich  sehr  viel  auf  dem  Lande  aufhielt,   konnte  über  die 
wirkliche  Lebensdauer  der  Haustiere  wohl  unterrichtet  sein. 

Archiv  f.  n.  Spraclien.   LXXIII.  17 


258 


Über  K.  W.  Ramlcrs  Änderungen  Hagedornscher  Fabeln. 


die  schönen  Wissenschaften"  (2.  Teil,  I.  Abschn.,  S.  249 — 252) 
ausgesprochenen  Grundsatze:  —  „Zierrathe  der  Erzählung"  — 
„Oft  mahlt  ein  eintziges  Wort:  Der  Schmetterling  heifst  der 
kleine  Harlekin^  der  Frosch  orgelt  mit  der  Kehle,  die  Ente 
wackelt  u.  s.  w." 

Fahren  wir  in  der  Fabel  fort.  „Es  nähert  sich  der  Mensch." 
Derselbe  erhält  zum  Leben  dreifsig  Sommer  zugesichert.  Diese 
Zeit  ist  ihm  aber  zu  kurz: 


V.  Hagedorn. 

—  —  Dafern  ich  wählen  mag, 
So  währ  ich  mir  zu  meinem  läng  er  n 

Lehen  ^ 
Was  Esel,  Hund  und  Aff^  an  ihrem 

aufgegeben. 
Es  sei,  spricht  Jupiter,   doch   dies 

bleibt  festgestellt: 
Dein  längres  Alter  soll,  nach  jenen 

dreifsig  Jahren, 
Auch  jedes  Tieres  Stand  erfahren, 
Dem  ich  die  Zeit  erliefs,  die  jetzt 

der  Mensch  erhält. 


Ramler. 

0  !  Wenn  ich  wünschen  mag, 

Wünsch  ich,  du  wollest  mir  zu  mei- 
nem längern  Leben, 

Was  du  dem  Esel,  Hund  und  Affen 
abnahmst,  geben. 

Es  sey!  spricht  Jupiter  etc.  etc. 


Uns     w^ollte    Jupiter    nur    dieses 

Alter  geben. 
Ach  hätte  doch   die/s  Flehen  nichts 

erreicht. 


Uns  wollte  Jupiter  nur  dieses 
Alter  geben. 

Ach  !  hätte  doch  der  Mensch  nie  sei- 
nen  Wunsch  erreicht ! 


Im  Vorstehenden  ist  an  zwei  Stellen,  der  Entsprechung 
wegen,  aus  je  einem  jambischen  Fünffüfsler  ein  Alexandriner 
hergestellt  worden.  —  Indem  nun  der  Dichter  „der  Menschen 
Lenz,  die  Zeit  der  Lust"  für  die  dem  Menschen  ursprünglich 
allein  bestimmte  Lebenszeit  erklärt,  sagt  er,  dafs  die  Bürden 
des  ehelichen,  amtlichen  und  geschäftlichen  Lebens  ihn  so  sehr 
niederdrücken,  dafs  er  schliefslich  dem  trägen  Lasttiere  gleiche. 
Ferner  wird  dem  Fünfzigjährigen,  der  sich  ein  Vermögen  er- 
worben hat,  eine  aus  Geiz  und  Mifstrauen  entspringende  Wach- 
samkeit zugeschrieben,  die  als  tertium  comparationis  zum  Zwecke 
seiner  Vergleichung  mit  dem  Hunde  dient.  —  In  den  Versen, 
welche  diese  Gedanken  enthalten,  ist  —  im  Gegensatz  zu  den 
zwei    vorhin    angeführten    Zeilen    —    einmal    die    Entsprechung 


über  K.  W.  Ramlers  Änderungen  Hacredornschor  Fabeln.  259 

vom  Verbesserer  zerstört    und  ein  Alexandriner  zu  einem  jam- 
bischen Fünffüfsler  umgeschaflPen  worden; 

V.  Hagedorn.  Ramler. 

DerHaus- und  Ehestand,  Geschäfte,      Der   Ehstand,   Hausstand,  Ämter, 
Pflichten,  Würden.  Pflichten,  Würden. 

Wie  es  scheint,  soll  durch  diese  Beseitigung  der  Diärese 
das  Atemlose  der  in  dem  Verse  genannten,  auf  den  Menschen 
einstürmenden  neuen  Lasten  ausgedrückt  werden.  Vielleicht  ist 
für  dieses  Verfahren  das  Vorbild  Virgils  mafsgebend  gewesen, 
der  so  oft  den  Gang  des  Verses  dem  Inhalte  entsprechend  ein- 
gerichtet hat,  und  dessen  Hexameter  die  „Kritischen  Nach- 
richten" vom  Jahre  1750,  Ramlers  Organ,  den  deutschen  Dich- 
tern als  Musterverse  empfehlen  (Stück  IV  und  V).  —  Endlich 
hat  Ramler  eine  in  den  letzten  Zeilen  des  Gedichtes  enthaltene 
Pietätlosiojkeit  sehr  abojeschwächt.  Has^edorn  saort  nämlich,  dafs 
„der  ganz  verlähmte  Greis"  von  „Kind  und  Knecht  und  Magd" 
verspottet  zu  w^erden  pflege.  Ramler  hat  diesem  Spotte  eine 
Begründung  gegeben,  und  zwar  dadurch,  dafs  er  sagt:  Der 
ganz  verlähmte,  den  sein  Alter  kindisch  macht,  —  dieser  wird 
von  allen  verlacht.  So  erscheint  der  Spott  über  den  alten 
Mann,  wenn  auch  nicht  als  gerechtfertigt,  so  doch  als  eine  viel 
ö'erinojere  Roheit.  —  In  ähnlicher  oder  noch  strenoferer  Weise 
verfährt  Ramler  jeder  Taktlosigkeit  gegenüber;  so  sagt  schon 
Nicolai  (Allgem.  deutsche  Bibliothek  Bd.  IX,  St.  1,  S.^  205  flP., 
Berlin  und  Stettin  1769)  in  einer  Besprechung  der  von  Ramler 
herausgegebenen  „Lieder  der  Deutschen":  „Herr  Ramler  ist 
überhaupt  in  allen  nur  etw^as  freyen  Stellen  ein  sehr  strenger 
Verbesserer.  Wir  können  ihn  nicht  tadeln."  —  So  ist  es  denn 
auch  erklärlich,  dafs  er  in  dem  Hagedornschen  Gedichte  „Adel- 
heid und  Heinrich  oder  die  neue  Eva  und  der  neue  Adam", 
Erste  Erzählung  (Fabellese  Buch  I,  Nr.  XLVI,  S.  87—95; 
Recl.  Ausg.  S.  220 — 224)  den  nachstehenden,  auf  das  w^eibliche 
Geschlecht  gemünzten  Spottvers  gestrichen  hat: 

Z.  78  —  81:  Des  Menschen  Herz  wird  stets  ein  Räthsel  sein; 
Grofs  ist  sein  Mut,  noch  gröfser  seine  »Schwäche. 
Ich  schlie/se  hier  mit  Recht  die   Weiber  ein, 
Zum  mindsten  halb,  wenn  ich  von  Menschen  spreche, 

17* 


260  Ü(»er  K.  W.  Kamlers  Änderungen  Ilagedornschcr  Fabeln. 

Wir  gehen  zu  der  Fabel  über,  welche  bei  Hagedorn  „Der 
Sultan  und  sein  Vezier  Azem"  (Recl.  Ausg.  S.  97  —  99),  bei 
Ramler  „Der  Sultan  Suliman  und  sein  Vezier  Ibrahim"  betitelt 
ist.  (Fabellese  Buch  I,  Nr.  XXIV,  S.  48—50.)  \Yoher,  fragen 
wir,  stammt  diese  Verschiedenheit  im  Namen  des  Veziers  ?  — 
Einfach  aus  einer  Nachlässigkeit  Hagedorns !  Denn  bei  ihm 
heifst  jener  bald  Azem,  bald  Ibrahim.  In  der  Überschrift  steht, 
wie  wir  sahen,  „Azem";  dieser  Name  findet  sich  auch  in  V.  58; 
aber  in  V.  42  und  51  heifst  ebenderselbe:  Ibrahim.  Ramler 
dao:eo:en,  welcher  in  der  Überschrift:  Der  Sultan  Suliman  und 
sein  Vezier  Ibrahim  gesagt  hatte,  braucht  für  den  Vezier  folge- 
richtig nur  den  zuletzt  genannten  Namen.  —  Z.  4  giebt  uns  zu 
einer  metrischen  Bemerkung  Anlafs : 

V.  Hagedorn.  Ramler. 

O  lernten  Helden  doch   die  leichte      0 !  lernten  Helden  doch  das  leichte 
Wohlfahrt  lieben  1  Wohlthun  liehen  1 

Dazu  nehmen  wir  Z.   15 — 16: 

Es  hatte  Suliman  die  Beyen,  Agas,  Es  hatte  Suliman  die  Beyen,  Aga, 
Bässen,  Bässen, 

Des  ganzen  Hofstaat^  Zug^  in  schnei-  Des  Hofes  ganzen  Zug,  in  schnellem 
lern  Ritt  verlassen.  Ritt  verlassen. 

Weshalb  hat  Ramler  die  Wortverbindungen  Wohlfahrt  lieben 
und  des  oder  de7'  ganzen  Hofstaat  Zug  zu  ändern  sich  veranlafst 
gefunden?  Warum  sind  nach  seinem  Urteil  die  dafür  einge- 
setzten Wendungen  WoMthnn  lieben  und  des  Hofes  ganzen  Zug 
jenen  vorzuziehen?  —  Den  Schlüssel  hierzu  geben  uns  die 
schon  einmal  erwähnten  „Kritischen  Nachrichten  aus  dem  Reiche 
der  Gelehrsamkeit  auf  das  Jahr  1750",  in  einem  entweder  aus 
Ramlers  Feder  selbst  stammenden  oder  unter  seinem  Einflufs 
geschriebenen  Aufsatze:  „Gedanken  über  die  neuen  (d.  h.  reim- 
losen) Versarten"  (St.  IV  u.  V,  S.  29  fF.).  Dort  ist  folgende 
Vorschrift  für  den  Dichter  gegeben:  „Er  mufs  die  Worte  gern 
gebrauchen,  wo  der  Vokalen  und  der  Konsonanten  ohngefehr 
gleich  viel  sind:    er  mufs,  wenn  ein  Wort  mit  zwey  oder  drey 


*  Die  Ausg.  von  1^00:  „Der  ganzen  Hofstaat  Zug." 


über  K.  W.  Rainlers  Änderungen  llagedornscher  Fabeln.  261 

Konsonanten  schliefst,  nicht  gleich  das  folgende  mit  einem  oder 
zwey  Konsonanten  anfangen.  Es  ist  schwer  bey  unserer  harten 
nordischen  Sprache,  aber  es  ist  einem  arbeitsamen  Dichter,  oder 
einem  Schüler  des  Virojil  oder  Horaz  nicht  unmöo'lich."  — 
Hiermit  ist  eine  Stelle  in  J.  H.  Vofs,  Zeitmessung  der  deutschen 
Sprache,  Königsberg  1802,  S.  37 — 38  zu  vergleichen:  „Weniger 
als  der  Begriffe  Gehalt  und  Nachdruck,  aber  doch  etwas,  wirket 
auf  die  Länge  (seil,  der  Silben)  auch  die  Beschaffenheit  der 
Buchstaben  ...  je  runder  zwischen  sondernden  Mitlautern,  und 
je  anhaltender  der  Klang,  desto  schöner.  Ein  stummer  Nachtrah 
fügt  der  Dauer  nur  eine  Pause  hinzu,  die,  zumal  mit  lautlosem 
Hauch  oder  Gezisch^  nicht  Freude  an  Kraft,  sondern  Mifsfallen 
erregt,'''' 

Hat  man  demnach  nicht  das  Recht,  Ramler  in  gewisser 
Beziehung  als  Vorläufer  von  Vofs  zu  bezeichnen?  —  Aus  dem 
obigen  Gesichtspunkte  erklären  sich  nun  auch  folgende  Ver- 
änderungen, oder  sagen  wir  dreist  Verbesserungen  Ramlers: 

Der  Hase  und  viele  Freunde. 
V.  Hagedorns  Poet.  W.,  Recl.  A.  Fabellese  Buch  H,  Nr.  XXI 

S.  115—117.  (S.  177—181). 

Str.  7,  V.  1  u.  2:  Wie  oft  vergällt      Doch    ach!     des     heitern    Tages 

erwünschte   Stunden  Stunden 

Verhafster  Stunden  Ungemach.  Trübt  eines  Stündleins  Ungemach. 

Aurelius  und  Beelzebub. 

V.  Hagedorns  Poet.  Werke  Fabellese  Buch  IV,  Nr.  XLII 

S.  145—148.  (S.  513— 519). 

Z.  17:   Ein    viel   zu   mildes  Jahr,      Ein  viel  zu  mildes  Jahr,    der  all- 
der  zu  fürwitz'ge  Zoll.  zuschlaue  Zoll. 

Doch  kehren  wir  zur  Fabel  vom  „Sultan  und  seinem  Vezier 
Azem"  zurück.     Dort  heifst  es  Z.   17  ff*.: 

(v.  Hagedorn.) 

Ihm  folgte  der  Vezier,  weil  es  sein  Herr  befahl. 

Und  beide  kamen  bald  in  ein  geweihtes  Thal, 

Wo  noch  zu  Ofsmanns  (1764  :  Othmanns)  Zeit  ein  alter  Santon  wohnte, 

Abdallah^  der  Prophet,  in  dem  die  Weisheit  thronte, 

Des  Omars  grofser  Sohn,  ein  Haubt  der  frommen  Schaar,  | 

Der  Todesengel  Freund,  Azraels  Liebling  war,  |  Fehlen  bei 

Der  fast,  wie  Mahomet,  die  sieben  Himmel  kannte,  i     Ramler, 

Und  den  ganz  Asien  vor  vielen  heilig  nannte.  j 


262  Über  K.   W.  Ranilers  Änderungen  llage  lornschcr  Fabeln. 

Die  vier  von  Ramler  weggelassenen  Zeilen  bringen  zum 
Namen  Abdallah  so  viele  Bestimmungen  von  dunkler  Gelehr- 
samkeit, dafs  wir  die  Streichung  derselben  als  eines  unpassenden 
Elementes  der  Fabel  vollkommen  billigen  müssen.  Auch  sonst 
zeicrt  sich  das  Streben  unseres  Kritikers  nach  Verständlichkeit 
des  Ausdrucks,  zuweilen  sogar  in  unnötigen  Änderungen;  z.B. 
in  'Z.  49  desselben  Gedichtes,  wo  er  „Dianens  Schein"  in  „des 
Mondes  Schein"  verbesserte.  Hingegen  müssen  wir  ihm  in 
den  folgenden  ümdichtungen  recht  geben : 

Der  Bär  und  der  Liebhaber  seines  Gartens. 
V.  Hagedorns  Poet.  W.,   Recl.  A.         Fabellese  Buch  II,  Nr.  LVIII 

S.  118—120.  (S.  275—279). 

Str.  8:  Nicht  wahr?  die  Einsamkeit  Nicht  wahr?  kein  Paradies  bleibt 

ist  nicht  auf  ewig  schön.  einsam  immer  schön, 

Ünmitgeteilte  Lnst  wird  Überdriifs  Unmitgeteilte  Lust  nnifs  Überdrufs 

erwecken ;  erwecken. 

Der  bringt  den  Greis  ins  Feld,  um  Auch   unser  Greis   geht  aus,   um 

Menschen  zu  entdecken.  Menschen  zu  entdecken, 

Mein  Tirnon  ivird  zum  Diogen.  Und   sieht  —  den  Bären  vor  sich 

stehn. 

Str.  9  :  Er  wandert  nach  dem  Forst;  hier  irrt  er  hin  und  herl 

Und  mifst  und  sucht  die  Bahn  auf  unhehanntem  Stege.  \  Fehlen  bei 
Zuletzt  begegnet  ihm  in  einem  hohlen  Wege  [    Ramler. 

Ein  andrer  Eremit,  der  Bär.  I 


Strophe  8  und  9  sind  von  Ramler  zu  einer  verschmolzen 
worden,  und  wiederum  hat  er  unseren  Beifall.  Denn  die  ge- 
lehrten Anspielungen  an  den  die  Menschen  fliehenden  Timon 
und  den  sie  suchenden  Diogenes  gehören  nicht  in  diese  Fabel; 
auch  war  eine  Kürzung  in  der  neunten  Strophe,  von  der  be- 
sonders Zeile  2  mifslungen  ist,  recht  wünschenswert.  Dieses 
Aufgeben  einer  unnötigen  Gelehrsamkeit  begegnet  uns  auch  in 
der  Fabel:  „Der  \Yolf  und  der  Hund",  Recl.  Ausg.  S.  108-109, 
Fabellese  B.  V,  Nr.  XLIII,  Z.  13,  wo  der  von  Hagedorn  einem 
Hunde  beigelegte  Name  „Melamp"  vom  Sammler  der  Fabellese 

verschmäht  wird : 

v.  Hagedorn. 

Melamp  erwidert  drauf:  Freund,  wir  beklagen  dich ; 

Ramler. 
Der  Hund  erwidert  ihm  etc. 


über  K.  W.  Ramltirs  Änderungen  Hagedornscher  Fabeln.  263 

Doch  auch  in  anderer  Hinsicht  zeigt  die  Fabel;   „Der  Bär 

und    der    Liebhaber    seines    Gartens"    manches    Unfertige,    und 

Raniler    fand    in    den    folgenden    Strophen    des    Hagedornschen 

Gedichtes    verschiedene    sprachliche    Ungeschicklichkeiten    und 

auch  eine  rhythmische  Sünde  (Str.   16,  3),  die  er  nach  Kräften 

verbessert   hat: 

V.  Hagedorn. 

Str.  10:  Er  stutzt.     Was  soll  er  thun  ?    Zur  Flucht  ist  lcei7ie  Spur. 


Besuche  mich,  und  eile  nur. 

Ramler. 
— —  Zur  Flucht  ist  nicht  mehr  Zeit. 


Der  Weg  zu  mir  ist  ffar  nicht  weit. 

V.  Hagedorn. 

Sir.  16:  Petz  kehret  einmal  heim;  da  schlummert  sein  Orest 
Zur  schwülen  Mittagszeit.    Fr  gehet  bei  ihm  liegen^ 
Bewacht  den  Schlafenden ,  zerstreut  den  Schwärm  der  Fliegen, 

Ramler. 

Einst  kehrt  Petz  heim  und  sieht  den  zärtlichen  Orest 

Zur  schwülen  Mittagszeit  in  sanftem  Schlummer  liegen. 

Er  legt  sich  neben  ihn,  zerstreut  den  Schwärm  der  Fliegen, 

V.  Hagedorn.    Str.  17,  4:  Ramler. 

Geschmeifse,  wifst  ihr.,  wer  ich  bin?      Geschmeifs,  erfahre,  wer  ich  bin. 

Wir  wenden  uns  zur  Fabel:  „Der  Löwe  und  die  Mücke" 
(Recl.  Ausgabe  S.  106—108;  Fabellese  Buch  U,  Nr.  XXIH, 
S.  185 — 188).  Dieselbe  beginnt  bei  Hagedorn  folgender- 
mafsen: 

Ein  kluger  Heiliger,  selbst  Augustinus,  spricht : 

„Dem  Sonnenkörper  ist  die  Fliege  vorzuziehen; 

Denn  ihr,  nicht  jenem,  ward  ein  Lebensgeist  verliehen." 

-Vielleicht  ist  dieses  wahr,  ich  aber  glaub  es  nicht. 

Doch  denk  ich  keinen  Ruhm  den  Fliegen  abzusprechen; 

Die  Fliegen  wissen  sich  zu  rächen : 

Auch  Mücken  fehlt  es  nicht  an  Keckheit  noch  an  Macht. 

Wer  ist  der  Heldin  zu  vergleichen, 


2G4  Über  K.   W.  Ramlers  Änderungen  Ilagedornsclier  Fabtln. 

Die  jenes  starke  Tier  aufs  äufserste  gebracht, 

Dem  alle  Tiere  zitternd  weichen? 

Der  Tiere  Regiment  in  Monomotapa  u.  s.  w. 

Vom  heiligen  Augustinus  auf  die  Fliegen,  von  den  Fliegen 
auf  die  Mücken  im  allgemeinen,  und  von  diesen  auf  jene  helden- 
hafte Mücke  zu  kommen,  welche  einst  den  Löwen  herausgefor- 
dert hat,  —  das  heifst  doch  wahrlich  bellum  Troianum  gemino 
ab  ovo  ordiri!  Diese  wimderliche  Einleitung  konnte  nicht  nach 
dem  Geschmack  eines  Ramler  sein,  der  in  seiner  mit  Erläute- 
runof-en  versehenen  Übersetzun«:  der  ..Dichtkunst  des  Horaz" 
(Basel  1777)  S.  59—60  folgendes  lehrt:  „Man  kann  bis  zur 
ersten  Quelle  der  Begebenheit  hinaufsteigen,  bis  zu  den  beyden 
Eyern,  die  Leda  von  dem  Jupiter  gebar,  als  er  sich  in  einen 
Schwan  verwandelt  hatte:  weil  aus  einem  derselben  die  schone 
Helena  hervorgekommen  ist,  deren  Entführung  den  trojanischen 
Krie"-  verursacht  hat.  Die  Historie  kann  so  weit  s^ehn.  Allein 
die  Poesie  hat  einen  andern  Gang.  Sie  wirft  sich  plötzlich 
mitten  unter  die  Begebenheit  hinein" So  ist  es  erklär- 
lich, dafs  in  der  Fabellese  die  Fabel  vom  ..Löwen  und  der 
Mücke"  gleich  mit  den   AYorten   beginnt: 

Der  Tiere  Regiment  in  Monomotapa  u.  s.  w. 

Bei  Hagedorn  lautet  Str.  4  folo;endermafsen : 

Das  Lob  nährt  seinen  Stolz,  so  wie  sein  Grimm  die  Not. 
Mit  beiden  durfte  nur  die  kühne  Mücke  scherzen, 
Die  ihm  aus  edlem  Ha/s,  mit  freiheitvollem  Herzen, 
Des  scharfen  Stachels  Spitze  bot. 

Ramler  ändert  dieselbe  in  eigentümlicher  Art: 

Das  Lob  nährt  seinen  Stolz  und  mindert  nicht  die  Not: 
Ein  jeder  zitterte;  nur  nicht  die  kühne  Mücke, 
Die  ihm  aus  Böm'schem  Ha/s  mit  unerschrock'nem  Blicke 
Des  scharfen  Stachels  Spitze  bot.  • 

Abgesehen  von  anderen  Änderungen  ist  wohl  die  E^rage 
erlaubt:  Wie  kommt  Ramler  dazu,  für  „edlem  Hafs"  „Röm- 
echem  Hafs"  zu  sagen?  —  Darüber  belehrt  uns  sein  Batteux 
(Einleitung  in  die  Schönen  Wissensch.,  Leipzig  1756,  Bd.  I, 
Teil  n,  1.  Abschn.,  1.  Art.  „von  der  äsopischen  Fabel": 
Schreibart  der  Fabel,  S.  255 — 256):  „Die  Quellen  des  Mun- 
teren   in    der    Fabel    sind:    wenn    man   den  Tieren  Namen    und 


über  K.  W.  Ramlers  Änderungen  Hsigedornsclier  Fabeln.  2G5 

Eigenschaften  beylegt,  die  sich  nur  für  die  Menschen  schicken. 
Der  Bär  heifst  alsdann  ein  Scythe,  der  Löwe  eine  rauche 
Majestät,  die  Mücke  sticht  aus  römischem  Hafs.'"'' 

Zu  einer  anderen  Bemerkung  giebt  uns  die  Fabel:  „Die 
Fledermaus  und  die  zwo  Wiesel"  (Fabellese  VI,  25;  v.  Hage- 
dorns Poet.  Werke,  Recl.  Ausg.  S.  103 — 104)  Veranlassung. 
Anspielungen  nämlich  auf  Personen,  die  wieder  typisch  noch 
allgemein  bekannt  sind,  dürften  wohl  den  Wert  einer  Fabel 
vermindern.  Da  nun  aber  die  Gegnerschaft,  welche  zwischen 
den  Hallischen  Professoren  Christian  AVolfF  und  Lans^e  —  dem 
Vater  des  bekannten  Sam.  Gotth.  Lange  —  herrschte,*  selbst 
den  gebildeteren  Laien  seiner  Zeit,  aufserhalb  der  Saale-Stadt, 
schwerlich  bekannt  war,  so  hat  R.  die  den  Schlufs  der  er- 
wähnten Fabel  bildende  Moral,  welche  durch  eine  Anspielung 
auf  jenes  Verhältnis  ungeniefsbar  gemacht  war,  weggeschnitten 
und  eine  allgemeine  Nutzanwendung  dafür  an  die  Spitze  des 
Gedichtes  gesetzt: 

V.  Hagedorn.  Ramler. 

Ein  Kluger  sieht  auf  Art  und  Zeit,  Zur  eignen  Sicherheit  den  Gegner 

Aus  Vorsicht,  dafs  man  ihn  nicht  zu  berücken, 

fange.  Ist   nicht  gefrevelt,   heifst   nur   in 

Er  ruft  mit  gleicher  Fertigkeit :  die  Zeit  sich  schicken. 
Es  lebe  WolfF!    Es  lebe  Lange! 

Die  schwindende  Bedeutung  eines  alten  deutschen  Wortes 
sucht  Ramler  —  fast  nach  der  Art  philologischer  Konjektural- 
Krltiker  —  In  der  Fabel;  „Die  Nachbarschaft  der  Buhlerei" 
zu  Ehren  zu  bringen.  (Fabellese  V,  Nr.  11 ;  v.  Hagedorn, 
Poet.  Werke,  Recl.  Ausg.  S.  207.) 

Dort  spricht  die  personifizierte  Buhlerei: 

Z.  17  u.  18:  Zwar  leb'  ich  weit  von  der  verlassenen  Treue: 
Matronen  nur  ist,  wo  sie  seufzt,  bekannt; 

hierfür  schreibt  Ramler: 

Zwar  leb'  ich  weit  von  der  langweil'gen  Treue 
Und  ihrem  alten  Ehgemahl  Bestand. 

Dazu  macht  er  folgende  Bemerkung:  „Der  Bestand  statt  die 
Beständigkeit   fängt    an    zu    veralten,    sein    Gegensatz,    der    Un- 

•  Vergl.  Wilh.  Scherer,  Gesch.  der  deutschen  Litteratur  S.  419. 


266  Über  K.  W.  Ramlers  Änderungen  Hageclornscher  Fabeln. 

hestand^    ist    noch    im    Gebrauch    geblieben.      Hagedorn    bedient 
sich  des  ersten  Wortes  mehr  als  einmal."* 

Dieser  altertümelnde  Zug  läfst  sich ,  nebenbei  bemerkt, 
auch  in  seiner  Übersetzung  horazischer  Oden  erkennen,  in  der 
die  altväterlichen  Worte  „Afterwelt"  (Od.  II,  19,  1)  und  „Bieder- 
lob" (ebenda  IV,  8,  14)  vorkommen.  —  Des  Korrektors  Ge- 
lehrsamkeit verrät  auch  folgende  Änderung  in  der  Fabel:  „Der 
Kanarienvogel  und  der  Häher"  (Recl.  Ausg.  S.  206,  Z.  5  u.  6): 

Ein  Flacciis^  ein  Virgil 
Zieht  nicht  den  Bav  zu  Rat. 

Ramler  sah  ein,    dafs   „Flaccus"    als    cognomen   nicht   dem 

nomen    gentilicium  „Virgil"    parallel   gesetzt   werden    darf,    und 

deshalb  schrieb  er  (Fabellese  B.  HI,  Nr.  LVH,  S.  416): 

—  —  —  Horaz  und  sein  Virgil 
Ziehn  nicht  den  Bav  zu  Rat. 

Dennoch  bekämpft  der  gelehrte  Verfasser  einer  Mythologie, 
welche  heute  noch  wessen  eio^entümlicher  Vorzüge  geschätzt 
wird,  V.  Hagedorns  mythologische  Anspielungen,  sobald  die- 
selben schwer  verständlich  und  geschmacklos  sind,  wie  in  der 
eben  erwähnten  Fabel  („Der  Kanarienvogel  und  der  Häher"). 
Dort  heifst  es  weiter  Z.  6  ft'. : 

—  —  Sie  fragen  den  Quintil, 

Den  ganz  gelehrten  Freund.     Warum  ?    Ein  halber  Kenner 
Verdient^  zum  höchsten,  nur  das  Mitleid  Huger  Männer, 
Wenn  er  voll  Meisterschaft,  voll  Eochmut,  Neid  und  Zwist, 
\        An   Witz  ein  Polyphem,  an   Wahn  ein  Argus  ist. 

Dafür    schrieb  Ramler   mit    einer   kühnen  Verkürzung,    die    wir 

beim  Original-Dichter  sehr  gern  gesehen  hätten: 

—  sie  fragen  den  Quintil, 

Den  ganz  gelehrten  Freund, 

Der   Wissenschaft,   Geschmack  und  Redlichkeit  vereint. 

Dasselbe  Streben  nach  Einfachheit  und  Natürlichkeit  des 
Ausdrucks,  welches  uns  hier  so  angenehm  berührt,  tritt  am 
Schlufs  der  Fabel  „Der  Wolf  und  der  Hund"  hervor  (Recl. 
Ausg.  S.   109).     Dort   läfst  v.  Hagedorn   den  Wolf  in  ein  rhe- 

*  Ramler  führt  an:    „Die   alte   und   die    neue   Liebe"   Str.  4,  Z.  1  u.  2 
(Recl.  Ausg.  S.  '256): 

Durch  mehr  als  jährigen  Bestand 
Verehren,  was  man  artig  fand. 


über  K,  W.  Ramlers  Än'lernngen  Hagedorn.'clier  Fabeln.  267 

torisches  Pathos  verfallen,    welches    das    einfache  Raubtier,    das 
seine  Freiheit  liebt,  einem  Seneka  gleichstellt  (V.  31  ff.): 

Der  Wolf,  der  weiter  nicht  den  Hund  begleiten  will, 
Sucht  seinen  Rückweg  bald  und  dankt  ihm  für  die  Reise, 
Nein!  ruft  er,  auf  der  Welt  ist  nichts  der  Freiheit  gleich. 
Sollt  ich  mir  einen  Stand,  den  sie  nicht  schmückt,  erwählen? 
Dem  Weisen  gilt  sie  mehr  als  Thron  und  Königreich : 
Wenn  ihm  die  Freiheit  fehlt,  so  wird  ihm  alles  fehlen. 

Hierojeojen  läfst  Ramler  den  Wolf  in  der  ungezwunorensten 

~      O  DO 

Weise  reden  und  handeln  (Fabellese  V,  XLIII): 

„Ey",  ruft  der  Wolf,  „Glück  auf  die  Reise! 

Wenn  ich  nicht  thun  kann,  was  ich  will. 

So  bleib'  ich  bei  der  Väter  Weise: 

Bald  wenig,  bald  vollauf;  und  danke  für  den  Koch." 

Er  sagt's,  läuft  fort  und  läuft  wohl  noch. 

In  derselben  Fabel  ist  auch,  nebenbei  bemerkt,  eine  sprach- 
liche Nachlässigkeit  des  Dichters  vom  Verbesserer  beseitigt 
worden.     Dort  spricht  Z.  13  und  14  der  Hund  zum  Wolfe: 

—  Freund,  wir  beklagen  dich; 

Wir  ghmbens^  dort  im  Wald  ist  oft  nicht  viel  zu  fressen. 

Der  pluralis  maiestaticus  ist  bei  einem  Gönner,  als  welcher 
der  Hund  erscheint,  recht  wohl  angewandt,  durfte  aber  in  der 
Folge  nicht  aufgegeben  werden,  während  doch  v.  Hagedorn  in 
V.  15  fortfährt:  „Doch  willst  du  mit  mii'  gehn."  Daher  ist 
Ramler,  welcher  nur  den  Singularis  anwendet,  konsequenter: 
„Der  Hund  erwidert  ihm:  Freund,  icli  beklage  dich."  Von 
sprachlichem  Interesse  dürfte  auch  folgende  Änderung  sein:  In 
der  schon  oben  erwähnten  Fabel  „Adelheid  und  Heinrich"  oder 
„die  neue  Eva  und  der  neue  Adam"  (Erste  Erzählung,  V.  13 — 16, 
Recl.  Ausg.  S.  220)  schrieb  v.  Hagedorn : 

So  sprach  ein  Mann,  als,  aus  vermeinter  Pflicht , 
Sein  junges  Weib  in  strengem  Zorn  entbrannte, 
Und  Evens  Fall  und  blinde  Zuversicht, 
Voll  Spötterei^  ich  weifs  nicht  wie,  benannte. 

Diesen  Versen  gehen  andere  voraus,  in  welchen  ein  Gatte 
seiner  Frau  gegenüber  behauptet,  dafs  die  Lust,  sich  gerade 
an  verbotenen  Dingen  zu  erfreuen,  von  Eva,  der  viel  geschmähten, 
auf   deren    Kinder    übergegangen    sei.     Der    Ausdruck    in    den 


268  Über  K.  W.  Ramlers  Änderungen  Hagedornscher  Fabeln. 

vorstehenden  Versen    ist    durch  Ramler  viel  kräftiger  geworden 

(Fabellese  I,  XLVI,  S.  87-88): 

So  sprach  ein  kluger  Mann  nicht  ohne  Glimj^f, 
Als  einst  sein  junges  Weib  in  Zoin  entbrannte, 
Und  Evens  Fall,  mit  vielem  Spott  und  Schimpfe 
Bald  Blödsinn  hie/s,  bald  tolle  Gaumsucht  nannte. 

Bedenklich  bleibt  hierbei  nur  das  Wort  „Gaumsucht",  wel- 
ches anderwärts  kaum  vorkommen  dürfte.  Zur  Erklärung^  des- 
selben  reicht  die  Bedeutung  von  „Sucht"  =  „krankhafte  Be- 
gierde" (Sanders  Handwörterbuch)  nicht  aus;  wir  müssen  das 
Wort  als  synonym  dem  stammverwandten  Nomen  „Seuche"  an- 
sehen (vergl.  „Maul-  und  Klauenseuche"). 

Weitschweifis^keiten  und   Längen    im  Ausdruck   finden  sich 

in    den  Hagedornschen  Fabeln    nicht    selten.     Hier    war    wieder 

eine  Geleo-enheit  für  den  litterarischen  Ziersärtner,  Gleichmäfsio;- 

keit  der  Form,  sowie  Luft  und  Licht  dem  poetischen  Wildling 

zu  schaffen.     So    z.  B.    findet    sich   folo^ende    Schilderunoj    einer 

Öden    Gegend   in   der    Fabel    „Aurelius    und   Beelzebub"   (Recl. 

Ausg.  S.  147)  V.  57  ff.: 

Sein  Führer  bringet  ihn  in  einen  öden  Wald 

Von  heiligen,  bemoosten  alten  Eichen, 

Der  Sitz  des  Czernebocks,  der  Gnomen  Aufenthalt, 

Die  Schlachtbank  vieler  Opferleichen. 

Hier  herrscht,  fast  tausend  Jahr,  ein  schwarzer,  wilder  Schrecken 

In  grauser  Finsternis.     Den  wiwirthharen  Sitz 

Verklärt,  doch  selten  nur,  ein  roter,  schneller  Blitz. 

Hier  sollte  sich  der  Trost  Aureis  entdecken. 

Hier  blieb  der  Fliegenfürst  und  sein  Gefährte  stehn. 

Dagegen  schllefsen  sich  an  die  Worte  „Die  Schlachtbank 
vieler  Opferleichen"  in  der  Fabellese  B.  IV,  Nr.  XLH,  S.  517, 
mit  Hinweglassung  der  in  den  nächsten  vier  Zeilen  gegebenen, 
ganz  überflüssigen  Beschreibung,  die  Worte:  „Hier  bleibt  der 
Fliegenfürst  und  sein  Gefährte  stehn." 

In    dem    wiederholt    angeführten    Gedichte    „Adelheid   und 

Heinrich"    oder    „die    neue    Eva    und    der   neue   Adam"   (ßecl. 

Ausg.  S.  220—224)  findet  sich  folgende  Stelle  (V.  41  ff.): 

Beschäme  denn  die  Even  unsrer  Zeit, 
Die  Probe  soll  nichts  Schweres  in  sich  fassen. 
Was  heute  dir  dein  Heinrich  hart  verbeut, 
Das  hast  du  stets  freiwillig  unterlassen. 


über  K.  W.  Ramlers  Änderungen  Hagedornsclier  Fabeln.  269 

Wem  ist  nicht  hier  der  Entenpfuhl  bekannt, 
Die  dir  wie  mir  so  sehr  verhafste  Lache, 

Wovon  du  sonst  die  Äugen  abgewandt  ? 
Ich  glaube  nicht,  da/s  ich  dich  lüstern  mache. 
Nur  diesen  Pfulil  verwehrt  dir  mein  Gebot: 
Gehst  du  ins  Bad,  wie  sonst,  dich  abzukühlen, 
So  hüte  dich,  in  seinem  Schlamm  und  Kot, 
Von  morgen  an,  mit  blofsem  Fufs  zu  wühlen. 

Dafür  brinort  die  „Fabellese"  folgende  Fassunor: 

Beschäme  denn  die  Even  unsrer  Zeit! 

Die  Piobe  soll  nichts  Schweres  in  sich  fassen. 

"Was  heute  dir  dein  Heinrich  hart  verbeut, 

Das  hast  du  stets  freiwillig  unterlassen. 

Wenn  du,  wie  sonst,  den  Weg  durchs  Nufsgesträuch 

In  unser  Bad  nimmst,  dich  dort  abzukühlen, 

So  hüte  dich,  im  nahen  Ententeich 

Von  morgen  an  mit  blofsem  Fufs  zu  wühlen. 

Vier  Hagedornsche  Zeilen  sind  wiederum  bei  Ramler  aue- 
gefallen:   „Wem    ist    nicht   hier    der   Entenpfuhl    bekannt 

lüstern  mache."  Die  letzte  derselben:  „Ich  glaube  nicht,  dafd 
ich  dich  lüstern  mache",  ist  offenbar  nur  aus  Versnot  hinein- 
gesetzt worden,  hat  aber  vor  der  Mitteilung  des  Verbotes  nur 
den  Wert  einer  höchst  überflüssioren  Parenthese.  Hierher  o^ehört 
auch  die  kleine  Fabel:  „Der  Hirsch  und  der  Eber"  (Recl. 
Ausg.  S.  204),  von  der  die  sieben  ersten  Zeilen  lauten : 

■  Ein  Eber  fragt  den  Hirsch:  was  macht  dich  hundescheu? 
Eür  mich  gesteh  ich  gern,  dafs  ich  es  nicht  hegreife. 
Du  hörst  so  scharf  als  sie.     Wie  schnell  sind  deine  Läufe  ? 
Wie  fürchterlich  ist  dein  Geweih  ? 
Und  da  du  gröfser  bist,  so  solltest  du  dich  schämen, 
Vor  Kleinern  stets  die  Flucht  zu  nehmen. 
Was  ist  es  immermehr,  das  dich  so  schrecken  kann? 

Vergleichen  wir  damit  die  Fabellese  B.  II,  Nr.  IX,  S.  155 : 

Ein  Eber  fragt  den  Hirsch:   was  macht  dich  hundescheu? 

Du  bist  so  grofs!  und  dein  Geweih 

So  furchtbar !     Solltest  du  dich  nicht  im  Herzen  schämen. 

Vor  Kleinern  stets  die  Flucht  zu  nehmen? 

Ich  weifs  wahrhaftig  nicht,  was  dich  so  schrecken  kann. 

Von  Ramler  sind  zwei  Zeilen  ausgelassen,  um  die  behagliche 
Breite  der  Rede  einzudämmen  und  um  einen  schlechten  Reim  (be- 
greife :  Läufe)  zu  tilgen.    Das  altertümliche  „immermehr"  in  der 


270  Über  K.  W.  Ramlers  Änderungen  Hagedornscher  Fabeln. 

Frage:  „Was  ist  es  immermehr,  das  dich  so  schrecken  kann?" 
(mhd.  iemer  mere  =  stets  von  neuem)  ist  ersetzt  durch  die  ver- 
ständlichere Phrase :  „Ich  vveifs  wahrhaftig  nicht,  was"  u.  s.  vv. 
Wie  durch  solche  Streichungen,  besonders  wenn  sie  sich 
anf  überflüssige  Strophen  erstrecken,  ein  Gedicht  nur  gewinnen 
kann,  zeigt  v.  Hagedorns  Fabel:  „Der  Hase  und  viele  Freunde" 
(Recl.  Ausg.  S.  115 — 117).  Vor  dem  Beginne  der  Erzählung 
steht  eine  zwei  Strophen  umfassende  Moral,  die  Ramler,  einem 
richtigen  Grundsätze  huldio-end,  weggelassen  hat.  Für  uns  ist 
aber  die  Ausmerzung  der  vierten  Strophe  wichtiger,  die  wir 
wohl  nicht  vermissen,  wenn  wir  in  der  Fabellese  folgendes 
hintereinander  lesen  (B.  H,  Nr.  XXT,  S.  177—178): 

(Str.  4  bei  v.  Hagedorn  =  Str.  2  bei  Ramler.) 

Einst  wandt'  er  sich  zu  seinen  Freunden, 

Um  Rath  und  Beistand  sie  zu  flehn, 

Den  Hunden,  seinen  ärgsten  Feinden, 

Zu  steuern  oder  zu  entgehn. 

Man  sprach :  Dein  Leben  zu  erhalten, 

Soll  unser  Eifer  nie  erkalten ; 

Wer  deinem  Balg  ein  Härchen  krümmt, 

Dem  ist  von  uns  der  Tod  bestimmt. 

(Str.  6  bei  v.  Hagedorn  =  Str.  3  bei  Ramler.) 

Nun  lebet  Hansel  ohne  Sorgen, 

Stets  unverzagt  und  ungestört. 

Er  sieht,  wie  sich  an  jedem  Morgen 

Bey  jedem  Thau  sein  Frühstück  mehrt. 

Sein  rascher  Fufs  verläfst  die  Wälder, 

Schweift  durch  die  Gärten,  durch  die  Felder, 

Wo  ihn  in  stolzer  Sicherheit 

Laub,  Kraut  und  junge  Saat  erfreut. 

Bedarf  es  wohl  noch  einer  anderen  Strophe  als  der  zuletzt 
angeführten  —  die  übrigens  einige  geringe  Abweichungen  vom 
Original  aufweist  — ,  um  das  Stillleben  des  vertrauensseligen 
Hasen  zu  schildern?  Bei  v.  Hagedorn  findet  sich  freilich  zwi- 
sehen  jene  beiden  die  folgende  (fünfte)  Strophe  eingefügt: 

Der  muntre  Hansel  ist  zufrieden, 
Und  schätzt  sich  o-rofsen  Hansen  gleich. 
Die  Sicherheit,  die  ihm  beschieden. 
Vertauscht  er  um  kein  Königreich. 
Ihn  will  60  mancher  Beistand  schützen; 
Was  darf  er  nun  in  Ängsten  sitzen  ? 


über  K.  W.  Ramlers  An(lerun<T;en  Hao-edornsclier  Fabeln.  271 

Nein,  unter  vieler  Starken  Hut 
Fehlt  es  auch  Hasen  nicht  an  Muth. 

Der  Kritiker  hatte  vom  ästhetischen  Standpunkte  aus  voll- 
ständig recht,  als  er  diese  Strophe  entfernte.  Betrachten  wir 
schliefslich  noch  den  Anfang  der  schon  einmal  erwähnten  Fabel: 
„Der  Bär  und  die  Liebhaber  seines  Gartens"  (Recl.  Ausg.  S.  118) : 

1.  Ein  unerfalirner  Bär  voll  wilder  Traurigkeit, 

Den  in  den  dicksten  Wald  sein  Eigensinn  verstecket, 
Vertrieb,  unausgeforscht,  durch  Klipp'  und  Berg  gedecket, 
Wie  ein  Bellerophon  die  Zeit. 

2.  Hier  sträubet  sich  der  Petz;  er  liebt  nur  diese  Kluft, 
Und  meidet  stets  die  Spur  der  Bären,  seiner  Brüder. 
Mit  Brummen  wälzt  er  sich  im  Felsen  auf  und  nieder; 

Sein  schwaches  Hauht  scheut  freie  Luft. 

3.  Dies  macht  ihn  ganz  verwirrt.     Ihm  gleicht  vielleicht  die  Zunft 
Der  Weisen  dunkler  Art.,  der  schweren  Sonderlinge ; 

Die  fliehen  Licht  und  Welt  und  haschen   Wunderdinge ; 
Nur  nicht  die  Gabe  der   Vernunft. 

Zunächst  hat  Ramler  in  Str.  1  eine  mythologische  Anspie- 
lung auf  das  hilflose  Umherirren  des  geblendeten  ßellerophon, 
welche  erst  durch  eine  gelehrte  Anmerkung  verständlich  vynrd, 
aufgegeben  (Fabellese  B.  II,  Nr.  LVIII,  S.  275): 

Ein  ungeschlachter  Bär  voll  finstrer  Traurigkeit, 
Im  ödesten  Gebirg'  aus  Eigensinn  verstecket, 
Vertrieb,  unausgeforscht,  durch  Klipp'  und  Wald  gedecket, 
Einsiedlermäfsig  sich  die  Zeit. 

Warum,  wird  man  beim  Lesen  der  zweiten  Strophe  fragen, 
ist  das  Haupt  des  Bären  schwach?  Und  ist  es  nicht  vielmehr 
die  Geselligkeit  als  die  freie  Luft,  welcher  der  Einsiedler  sich 
entzieht?  Es  scheint  also  Str.  2,  Z.  4  von  Haf^edorn  lediglich 
aus  Not  hineingesetzt  zu  sein,  damit  das  Endwort  von  Z.  1 
(Kluft)  eine  Entsprechung  (Luft)  habe.  Was  ßamler  dafür  setzt, 
läfst  sich  wenigstens  verstehen : 

Er  wählt  sich  eine  Gruft,  die  fast  sein  Körper  füllt. 
Schläft  hier  und  dehnet  sich  und  wälzt  sich  auf  und  nieder. 
Und  meidet  stets  die  Spur  der  Bären,  seiner  Brüder, 
Li  eigne  Dummheit  eingehüllt. 

Endlich  liefs  das  Lehrhafte  der  in  Str.  3  enthaltenen  s^e- 
danklichen  Abschweifuno^,  durch  welche  die  Erzählung:  unter- 
brochen  wird,  dem  Kritiker  die  ganze  Strophe  störend  erschei- 


272  Über  K.  W.  Ramlers  Änderungen  Hagedorns  eher  Fabeln 


h" 


nen,  so  dafs  er  sie  wegstrich,  —  und  wer  möchte  ihn  für  diesen 
Censorstrich  tadeln? 

Hiermit  schliefsen  wir  unsere  Wanderung  durch  die  von 
Ramler  zuo^estutzten  Hao:edornschen  Fabeln,  obgleich  wir  noch 
manche  beachtenswerte  Abänderungen  und  V^erbesserungen  des 
Original-Textes  anführen  könnten.  Das  Resultat  unserer  Be- 
trachtung  dürfte  wohl  darin  bestehen,  dafs  wir  im  Verfahren 
Ramlers  vielfach  bestimmte  Grundsätze  aufgefunden  haben,  die 
wir  zwar  nicht  alle  billigen  können,  deren  Befolgung  aber  im 
grofsen  und  ganzen  den  erzählenden  Dichtungen  Friedrich  von 
Hagedorns  zum  Vorteil  gereicht.  So  urteilend  finden  wir  uns 
sogar  mit  einem  Gegner  der  Ramlerschen  Verbesserungskunst 
in  Übereinstimmung.  Eschenburg  nämlich,  der  im  Jahre  1800 
die  schöne  Oktav-Ausgabe  von  Hagedorns  Werken  besorgt  hat 
(Hamburg,  bei  Karl  Ernst  Bohn),  sagt  im  vierten  Bande  der- 
selben, nach  einer  mifsbilligenden  Kritik  derjenigen  Ramler- 
schen Änderungen,  welche  an  den  in  den  „Liedern  der  Deut- 
schen" und  der  „Lyrischen  Blumenlese"  stehenden  Hagedorn- 
öchen  Liedern  vorgenommen  sind,  folgendes  (S.  102 — 104): 
„Übrigens  ist  es  bekannt,  dafs  die  von  Ramler  in  seine 
Fabellese  aufgenommenen  Hagedornschen  Fabeln  auf  gleiche 
Weise  behandelt  sind.  Meistens  aber  doch  mit  rnehrerem  Glück, 
weil  sie  minder  eigentümliclien  Tons  und  der  Korrektioji  empfäng- 
licher icaren.'-''  Jedenfalls  aber,  mochte  auch  so  mancher  Ande- 
rungsversuch  Ramlers  als  mifsglückt  zu  bezeichnen  sein,  gab 
das  eifrige  Durcharbeiten,  welches  jener  fleifsige  Mann  fremden 
Dichtungen  zu  teil  werden  liefs,  unseren  Dichtern  eine  ernste 
Lehre,  wie  sie  es  mit  ihren  eigenen  Schöpfungen  anzufangen 
hätten,  um  dieselben  zur  Reife  zu  bringen,  und  bot  eine  treflP- 
liche  Illustration  zu  dem  Horazischen  „nonum  prematur  in 
annum".  Andererseits  liegt  darin  ein  Zurückweisen  der  An- 
schauung, welche  eine  gekrönte  Dichterin  unserer  Zeit  (Carmen 
Sylva)  an  den  Tag  legt  in  den  Worten : 

Sag  nie  zur  trägen  Stunde:  Eile  doch! 
Der  fröhlichen  Sekunde:  Weile  doch! 
Dem  frischen  Dichtermunde :  Feile  doch  ! 

Schwerin  a.  d.  Warthe.  Dr.  Albert  Pick. 


Xavier    de   Maistre. 


Von 

Adolf  Ey. 


Es  herrscht  die  Ansicht,  dafs  jedes  Erzeugnis  der  Poesie, 
welches  in  Frankreich  gedeihen  will,  mit  dem  Kot  der  Lutetia 
gedüngt  sein  müsse.  Die  Früchte  entsprechen  ja  nur  zu  häufig 
einem  solchen  Untergrund.  Die  Poesie,  die  Xavier  de  Maistre 
gepflegt  hat,  ist  nicht  in  Paris  erwachsen,  hat  nie  Pariser  Stick- 
luft geatmet,  sondern  die  Alpen  sind  ihre  Pflanzstätte,  und  rein 
lind  duftig  wie  die  Alpenluft  sind  auch  die  Blüten,  die  sie  uns 
bietet. 

In  der  ojanzen  französischen  Litteratur  ojiebt  es  kaum  eine 
zweite  Erscheinung,  die  so  einfach,  so  rein,  so  kindlich,  so 
rührend  ist  wie  die  des  Piemontesen. 

Zwei  Brüder  haben  den  Namen  Maistre  berühmt  gemacht: 
Joseph  und  Xavier.  Es  sind  zwei  gewaltige  Gegensätze. 
.Joseph  erschien  den  Zeitgenossen  als  ein  mächtiges  Gestirn 
erster  Gröfse,  welches  das  Licht  Xaviers  weit  überstrahlte,  und 
doch  hat  es  nicht  lange  gedauert,  und  das  grofse  Gestirn  erlischt 
allmählich  im  Weltenraume,  während  sich  an  dem  geringeren 
immer  und  immer  wieder  gefühlvolle  und  einfache  Seelen  aus 
allen  Nationen  gern  erfreuen.  Xaviers  Opuscules  gehören  der 
Weltlitteratur  an.  ^ 

Joseph  war  ein  leidenschaftlicher  Philosoph.  Nach  den 
Greueln  der  Revolution  verzweifelte  er  an  der  Kraft  der  Ver- 
nunft und  des  Gedankens  und  warf  sich  rückhaltlos  der  Auto- 
rität in  die  Arme.  Der  Scharfrichter  ist  für  ihn  die  Grund- 
lage,  auf  der  die  gesellschaftliche   und    staatliche  Ordnung  sich 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  LXX III.  *  18 


274  Xavier  de  Maistre. 

auferbaut.  ,.Alle  Gröfse,  alle  Macht,  alle  vSiibordination,"  ruft 
er  aus,  „beruht  auf  dem  Henker.  Er  ist  der  Schrecken  und 
das  Band  der  menschlichen  Gesellschaft.  Nehmt  diese  unbegreif- 
liche Kraft  aus  der  Welt  und  sofort  macht  die  Ordnung  den 
Naturkräften  Platz.  Die  Throne  stürzen  und  die  Gesellschaft 
geht  unter.  Gott,  der  die  Souveränetät  einsetzte,  hat  auch  die 
Züchtiofun2  verordnet.  Er  hat  die  Erde  auf  die  beiden  Pole 
geworfen,  denn  Gott  ist  der  Herr  der  Pole,  und  auf  ihnen  läfst 
er  die   Welt  sich  bewegen." 

Das  ist  Joseph,  und  daneben  Xavier?  Er  entwirft  keine 
Weltordnungen,  er  trägt  sich  nicht  mit  grofsen  philosophischen 
Problemen ,  obgleich  er  seine  kleinen  Spekulationen  wohl  zu 
ordnen  versteht ;  er  macht  sich  klein  und  steht  bescheiden  neben 
dem    frewaltio'en    Bruder.     Er    unterwirft    sich    demselben    "fanz, 

DO  O  ' 

giebt  ihm  sein  Manuskript  und  erwartet  geduldig  seine  Ent- 
scheidung. 

Sonst  haben  die  jüngeren  Brüder  etwas  durch  den  Zufall 
der  Geburt  gelitten.  Oft  verdunkelt  sie  der  ältere  mehr  als 
billio".  Wären  sie  die  einzig-en  o-ewesen,  man  würde  sie  hoher 
schätzen  als  jetzt,  wo  sie  immer  mit  dem  Gleichnamigen  in 
Vergleich  gesetzt  werden.  Quintus  Cicero,  Thomas  Corneille, 
Seofur  sans  ceremonies  —  so  nannte  er  sich  scherzweise  zum 
Unterschiede  von  seinem  Bruder,  der  Maitre  des  Ceremonies 
unter  Napoleon  war  —  auch  Paul  de  Musset,  alle  diese  sind 
mehr  oder  weniger  Opfer  ihrer  älteren   Brüder  geworden. 

Xavier  ist  vielleicht  deshalb  eine  Ausnahme,  weil  er  aufser 
dem  Namen  nichts  mit  dem  Bruder  auf  dem  Schriftstellergebiete 
gemein  hat.  Das  Naive,  das  Anmutige,  das  Empfindsame,  der 
sanfte  Humor  sind  sein  Feld;  wie  sehr  verschieden  von  dem, 
welches  Joseph  bebaut  hat! 

Einfach  wie  seine  Werke  ist  auch  sein  Leben.  An  dem 
Südabhange  der  savojischen  Alpen  an  einem  Nebenflusse  der 
Rhone  liegt  die  kleine  Hauptstadt  des  früheren  Herzogtums 
Savoyen,  das  aus  Rousseaus  Confession  so  bekannte  Cham- 
bery;  dort  ist  unser  Dichter  im  Jahre  1760,  02,  63  oder  64 
—  die  Frage  ist  noch  immer  nicht  entschieden  —  geboren,  und 
dort  hat  er  auch  seine  Jugendjahre  verbracht.  Er  stammte  aus 
einer   edlen    Familie.      V^on    seinem    Vater,    einem    Senatspräsi- 


Xavlor  de  Malst re.  275 

dcnten,  der  noch  vor  der  Einnahme  Savoyens  durch  die  Fran- 
zosen starb,  spricht  er  in  seiner  Reise  um  mein  Zimmer  mit 
der  innio^sten  Liebe  und  Verehruno-;  von  seiner  Mutter  saj^t 
Joseph,  sie  sei  ein  Engel  gewesen,  dem  Gott  einen  Körper  ge- 
liehen habe.  Aufser  Joseph  hatte  Xavier  drei  Brüder  und  vier 
Schwestern.  Während  jener  eine  parlamentarische  und  sena- 
torische Laufbahn  einschlug,  trat  Xavier  ins  Heer.  Er  ver- 
brachte seine  Juo-end  in  den  verschiedenen  Garnisonen  von 
Piemont  und  wahrscheinlich  in  der  Art  wie  alle  Offiziere:  die 
Liebe  zu  Madame  de  Hautcastel,  ein  Duell,  das  sind  die  be- 
zeichnenden  Momente. 

Als  Ste.  Beuve  ihn  über  seine  Ori":ine3  ausfrao^en  wollte, 
antwortete  er  lächelnd:  „Ich  mufs  der  Wahrheit  gemäfs  ge- 
stehen, dafs  ich  in  diesem  Zeiträume  gewissenhaft  das  Garnison- 
leben geführt  habe,  ohne  ans  Schreiben  und  auch  nur  selten 
ans  Lesen  zu  denken;  wahrscheinlich  würden  Sie  nie  von  mir 
haben  sprechen  hören  ohne  den  in  meiner  Reise  um  mein  Zimmer 
angedeuteten  Umstand,  um  dessenwillen  ich  eine  Zeit  lang  Stuben- 
arrest erhielt." 

Ehe  Xavier  diese  geistreiche  Reise  unternahm,  hatte  er 
eine  noch  kühnere  unternommen,  eine  Reise  im  Luftballon ; 
nahe  bei  Chambery  stieg  er  auf,  und  etwa  zwei  bis  drei  Stunden 
davon  liefs  er  sich  wieder  zur  Erde  nieder.  Das  ist  sein 
Jugendleben,  das  sind  seine  Abenteuer. 

Er  war  26  oder  27  Jahre  alt  und  stand  als  Offizier  des 
Marineregiments  zu  Alexandria  in  Garnison,  als  er  „die  Reise 
um  niein  Zimmer"*  schrieb;  einige  Anspielungen  beziehen  sich 
jedoch  auf  eine  spätere  Zeit,  so  das  32.  Kapitel,  wo  er  seinen 
Athalie-Traum  von  den  Greuelthaten  der  Schreckenszeit  erzählt. 
Er  behielt  das  Stück  mehrere  Jahre  in  seiner  Schublade  und 
fügte  von  Zeit  zu  Zeit  ein  Kapitel  hinzu.  Bei  einem  Besuch, 
den  er  um  1793  oder  1794  seinem  auf  der  Flucht  befindlichen 
Bruder  Joseph  in  Lausanne  abstattete,  brachte  er  ihm  das 
Manuskript,  „Mein  Bruder,"  sagte  er,  „war  mein  Pate  und 
mein  Beschützer;  er  lobte  mich  wegen  der  Beschäftigung,  der 
ich    mich   hingegeben    hatte,    und    behielt    das    Konzept,    das    er 


Deutsch  von  A.  Ey  bei  Reclam. 

18* 


276  Xavier  de  Maistre. 

nach  meiner  Abreise  ordnete.  Bald  erhielt  ich  ein  gedrucktes 
Exemplar,  und  ich  empfand  die  Überraschung,  die  ein  Vater 
wohl  empfinden  mag,  wenn  er  einen  Sohn,  den  er  noch  an  der 
Mutterbrust  verlassen  hat,  als  Jüngling  wiedersieht.  Ich  freute 
mich  sehr  darüber,  und  ich  fing  sogleich  ,die  nächtliche  Ent- 
deckungsreise' an ;  aber  mein  Bruder,  dem  ich  meine  Absicht 
mitteilte,  brachte  mich  davon  ab.  Er  schrieb  mir,  den  Wert,- 
den  das  Werkchen  habe,  würde  ich  nur  vernichten,  wenn  ich 
eine  Fortsetzung  dazu  verfasse.  Er  sagte  mir  ein  spanisches 
Sprichwort,  welches  behauptet,  dafe  alle  zweiten  Teile  schlecht 
wären,  und  riet  mir,  einen  anderen  Gegenstand  zu  suchen ;  ich 
dachte  nicht  mehr  daran."  , 

Das  ist  nun  nicht  richtig,  denn  „die  nächtliche  Entdeckungs- 
reise um  mein  Zimmer"  ist  vorhanden.  Sie  hat  aber  nicht  zum 
Ruhme  des  Autors  beigetragen,  ohne  deshalb  den  Wert  der 
Reise  um  mein  Zimmer  zu  vernichten.  Wenn  man  diese  Reise 
liest,  lernt  man  den  Verfasser  besser  kennen,  als  wenn  er  uns 
seine  Beichte  direkt  abstattete;  auch  hier  beichtet  er,  aber  nicht 
ernst  und  lanoweilior  sondern  halb  scherzend  und  immer  unter- 
haltend. 

Matrer  sag-t  in  seiner  Geschichte  der  französischen  National- 
litteratur:  „Man  mufs  den  Titel  recht  verstehen;  er  sollte 
heifsen :  Reisen  ins  Blaue,  in  Gedanken  auf  dem  Zimmer  ge- 
macht. Es  ist  schwer,  eine  Vorstellung  von  diesem  hübschen 
Buche  zu  geben ;  ich  möchte  ihm  den  Namen  , philosophische 
Memoiren*  geben.  Der  Verfasser  hatte  als  junger  Mann  wahr- 
scheinlich das  Bedürfnis,  oft  allein  zu  sein  und  sich  in  allerlei 
wünschenswerte,  möi^liche  und  unmögrliche  Lebenslag^en  hinein- 
zuträumen.  Wer  hat  nicht  als  junger  Mann  tagelang  wachend 
geträumt?  Die  Seele  ist  in  solchem  Zustande  wie  ein  Nachen 
auf  einem  grofsen  See,  ohne  Steuer  und  Ruder,  bald  hierhin, 
bald  dorthin  getrieben.  Rein  passiv  giebt  sie  sich  allen  Ein- 
drücken hin  in  den  Erwartungen  und  HoflPnungen.  Dieser  Um- 
stand hat  in  der  That  Ähnlichkeit  mit  einer  zweck-  und  ziel- 
losen Reise,  und  de  Maistre  hat  ihn  so  aufgefafst.  Da  ist! 
kein  Plan  und  keine  Ordnung.  Der  Zufall  ist  Herr.  Ist  es 
ein  schönes  und  frommes  Gemüt,  das  uns  so  seine  Träume- 
reien, die  Memoiren  seines  Herzens  giebt,    so    haben    wir  aller- 


Xavier  de  Maistre.  277 

dings  dankbar  zu  sein,  und  de  Maistre  hat  uns  ein  wertvolles 
Geschenk  gemacht." 

Einige  Andeutungen  zur  Charakterisierung  des  Büchleins 
will  ich  trotz  alledem  versuchen. 

\A'eshalb  unternimmt  er  die  Reise?  Er  hat  sich  duelliert 
und  erhält  dafür  Stubenarrest,  man  zwingt  ihn  also  dazu,  in 
seinem  Zimmer  zu  reisen.  Bei  dieser  Gelegenheit  giebt  er  die 
Logik  des  Duells. 

„Nichts  ist  doch  natürlicher  und  richtiger,"  sagt  er,  „als 
dafs  ich  mich  mit  einem  auf  Leben  und  Tod  schlage,  der  mich 
aus  Versehen  auf  den  Fufs  tritt,  oder  der  sich  im  Arger,  den 
ich  ihm  vielleicht  aus  Unvorsichtigkeit  verursacht  habe,  ein 
beifsendes  Wort  gegen  mich  entschlüpfen  läfst,  oder  der  auch 
wohl  das  Unglück  hat,  der  Dame  meines  Herzens  zu  gefallen." 

Dann  spricht  er  über  die  Konsequenz,  die  darin  liegt,  dafs 
dieselben  Leute,  die  das  Duell  im  Gericht  bestrafen,  noch  viel 
härter  gegen  den  Offizier  verfahren,  der  das  Duell  verweigert. 
Er  schlägt  deshalb  auch  vor,  dafs  die  Richter  ja  durch  Würfel 
entscheiden  könnten,    ob    einer    bestraft  werden  solle  oder  nicht. 

Nach  der  Veranlassuno;  o-iebt  er  eine  Beschreibuno;  des  zu 

DO  O 

durchwandernden  Gebietes,  der  Lage  und  Gröfse  seines  Zim- 
mers, das  er  aber  nicht  allein  an  den  Wänden  hin  und  in  der 
Diagonale  durchziehen  will,  sondern  auch  im  Zickzack,  wie  es 
gerade  seinem  abspringenden  Geiste  gemäfs  sei. 

Auf  seiner  Reise  macht  er  Stationen  bei  dem  Bilde  der 
Frau  von  Hautcastel,  bei  seinem  Bett,  bei  seinem  Schreibtisch 
und  dessen  mit  Briefen  und  einer  verwelkten  Rose  angefüllten 
Schublade,  bei  mehreren  Genrebildern,  beim  Kamin,  beim  Spie- 
gel, bei  seiner  Bibliothek,  bei  der  Büste  seines  Vater?.  Er 
führt  uns  damit  auf  die  liebenswürdigste  Weise  in  sein  intimstes 
Leben  und  Denken  ein. 

Frau  von  Hautcastel  ist  die  Geliebte  seines  Herzens;  ein 
Bild  aus  Werthers  Leiden,  eins  von  Ugolino,  eins  von  Raphael 
und  dessen  Geliebten  bezeichnen  seinen  Geschmack  in  der 
Malerei,  Clarissa  und  Werthers  Leiden,  Homer,  Virgil,  Milton, 
Ossian,  dann  noch  besonders  die  Elektra  bezeichnen  seinen  Ge- 
schmack in  der  Dichtkunst.  Dafs  er  in  der  Musik  etwas  ge- 
leistet,   wehrt   er   eifrig   von    sich  ab,    aber   die  Malerei    hat   er 


278 


Xavier  de  Maistre. 


betrieben,    über    die  Malerei    bat    er  viel  nacbgeclacbt,    über    sie 
auch  Geschrieben. 

Dante  hat  gemalt,  Goethe,  Andre  Chenier,  Washington 
Irvinof,  Thackerav.  Mehrere  unter  ihnen  haben  eine  Zeit  lanor 
oeschwankt,  ob  Poesie  oder  Malerei  ihr  Beruf  sei;  auch  Xavier 
de  Maistre  hat  über  diese  Kunst  offenbar  mehr  nachgedacht 
als  über  die,  durch  welche  er  seinen  Kuhm  erlangen  sollte.  Im 
Schreiben  hat  er  sich  ah  keinen  Meister  angelehnt,  sondern,, 
ein  echtes  Kind  der  Neuzeit,  auf  eigene  Füfse  sich  stellend,' 
nur  den  Stimmen  gelauscht,  die  ihn  in  seinem  Innern  zum 
Schaffen  antrieben. 

Wir  werden  aber  auch  mit  denen  bekannt,  die  ihn  um-: 
nreben,  mit  seinem  Hund  und  mit  seinem  Diener  Joannetti.  Ein 
sanfter  Humor  schwebt  über  den  Zeilen,  wo  er  eine  Thräne; 
vergiefst,  weil  er  den  treuen  Joannetti  ungerecht  ausgescholten | 
hat.  Joannetti  hat  sich  schelten  lassen  und  hat  nichts  gesagt, > 
obo^leich  er  wohl  wufste,  wie  sehr  sein  Herr  unrecht  hatte.  Und] 
noch  eine  Thräne  vers^iefst  er,  als  er  den  armen  Jakob  aus; 
Chambery  hart  angefahren  hat  und  sehen  mufs,  w^ie  sein  Diener 
und  Rosine,  seine  Hündin,  sich  des  Armen  annehmen  und  ihmj 
eine  Lektion  in  der  ^Menschlichkeit  geben. 

Doch  weit  öfter  als  diese  Gefühlsseligkeit  zeigt  er  einj 
schalkhaft  lächelndes  Antlitz.  Wenn  Josephs  und  Xaviers  Seelenj 
sich  hätten  vermählen  können,  so  wäre  die  des  Jüngeren  das] 
weibliche  Element  bei  dieser  Ehe  gewesen. 

Das  Oriorinellste  auf  seiner  Reise  sind  die  Entdeckungen] 
über  sein  Doppehvesen.  Mit  erstaunter  Miene  wie  ein  Kindl 
bemerkt  er,  dafs  er  aus  l'äme  und  la  bete  oder  l'autre  bestehe.! 
„La  bete,"  sagt  er,  „ist  ein  vollständig  von  der  Seele  unter-j 
schiedenes  Wesen,  ein  wirkliches  Individuum,  das  sein  beson- 
deres Leben,  seine  Neigungen,  seinen  W^illen  hat,  und  das 
über  anderen  Tieren  nur  deshalb  steht,  weil  es  besser  erzogen] 
und  mit  vollkommneren  Organen  versehen  ist." 

„kleine  Herren    und   Damen,"    ruft  Xavier   schalkhaft    au; 
„seien  Sie  stolz  auf  Ihren  Geist,  so  viel  Sie  wollen,  aber  mifs- 
trauen  Sie  dem  anderen,  besonders  wenn  Sie  zusammen  sind!' 

Nach  ihm  besteht  die  grofse  Kunst  eines  geistreichen  Mannes 
darin,  sa  bete  so  zu  erziehen,  dafs  sie  ganz  allein  gehen  kann. 


Xavier  de  Maistre.  279 

während  die  Seele,  von  diesem  peinlichen  Anhängsel  befreit, 
sich  zum  Himmel  aufschwingt.  Um  die  Sache  versländlich  zu 
machen,  erinnert  er  daran,  dafs  „der  andere"  oft  eine  ganze 
Seite  herunterliest,  ohne  dafs  die  Seele  sich  dabei  beteiliot:  der 
andere  hat  einmal  von  der  Seele  den  Auftras;  bekommen  und 
thut  auch  seine  Schuldigkeit,  während  jene  abwesend  ist. 

Einmal  giebt  seine  Seele  „dem  anderen"  die  Weisung,  nach 
dem  königlichen  Hof  zu  gehen;  sie  selbst  aber  erhebt  sich  als- 
bald ins  Reich  der  Gedanken.  Der  andere  «jeht  seinen  Weof, 
und  als  die  Seele  ihn  wieder  einholt,  steht  er,  eine  halbe  Meile 
vom  Königsschlofs  entfernt,  vor  der  Thür  der  Frau  von  Haut- 
castel. 

„Der  Leser  möge  sich  denken,"  fügt  Xavier  hinzu,  „was 
wohl  geschehen  sei,  wenn  der  andere  ganz  allein  bei  einer 
so  schönen  Dame  eingetreten  wäre." 

,  Welches  Vergnügen  empfindet  der  andere  bei  dem  An- 
blick des  Bildes  dieser  schönen  Dame,  in  welcher  Verzückung 
trifft  ihn  die  Seele,  als  sie  aus  ihrem  Phantasiereich  zurück- 
kommt, und  wie  warm  teilt  sie  den  Genufs  des  anderen ! 

Und  dieses  Bild  —  es  ist  wie  alle  solche  Porträts,  es 
lächelt  alle  auf  einmal  an,  die  es  betrachten,  und  es  scheint 
doch  nur  einem  einzigen  zuzulächeln.  Armer  Geliebter,  der  du 
glaubst,  dafs  sie  dich  allein  ansehe!" 

Doch  fjanz  ohne  Gefahr    ist   das  ßeiscn    Im  Zimmer    auch 

Cr 

nicht;  fast  wäre  Xavier  durch  die  Unbesonnenheit  des  anderen 
dabei  ums  Leben  gekommen.  Der  arme  Jakob  steckte  den 
Kopf  zur  Thür  herein,  und  la  bete  drehte,  ohne  daran  zu 
denken,  dafs  ein  Backstein  hinter  ihr  im  Fufsboden  fehle,  den 
Lehnstuhl  so  rasch  herum,  dafs  de  Maistre  um-  und  aus  seiner 
Kalesche  herausgeschleudert  wurde. 

Den  anderen  darf  aber  niemand  einfältig  nennen.  Bei 
einem  Wortstrelt  mit  der  Seele  —  ein  Wortstreit,  eine  Tren- 
nung Ist  bei  ihnen  gar  nicht  selten  —  mufs  die  erstere  bald 
zum  Rückzug  blasen ,  den  sie  denn  auch  glücklich  dadurch 
bewerkstelligt,  dafs  sie  dem  anderen  mit  Kaffee  unter  die 
Nase  geht. 

Die  Gedanken  sind  Immer  fein  und  humoristisch,  oft  auch 
enthalten    sie    in    ihrer    leichten    naiven    Form    tiefsinnig   philo- 


280  Xavier  de  Maistre. 

sophische  Wahrheiten.  Nur  dann  verläfst  Xavier  auf  einen 
Ausrenblick  der  Humor,  wenn  er  an  die  Revolution,  die  er  so 
ZU  saoren  geschwänzt  hatte,    an    die  Knechtschaft   seines  Vater- 

OD  ' 

landes,  an  das  Elend  der  Armut  und  an  den  Tod  seines  Freundes 
denkt.  Da  beherrschen  ihn  Zorn  und  Rührung.  Über  alles 
tröstet  ihn  sein  Glaube  an  die  Unsterblichkeit,  dem  das  schönste 
Kapitel  gewidmet  ist. 

Im  Grunde  seines  Herzens  ruht  eine  milde  Traurigkeit,  die 
sein  freundlicher  Geist  hinwegscherzen  will.  Im  lächelnden 
Auge  steht  die  Thräne  sanfter  Rührung.  Dabei  ist  nichts  ge- 
macht, nichts  anspruchsvoll,  alles  einfach,  bescheiden  und  natur- 
wahr, wie  Xaviers  eigener  Charakter. 

Als  Savoyen  im  Jahre  1796  durch  den  Separatfrieden  von 
Turin  mit  Frankreich  vereinigt  wurde,  glaubte  der  Graf  Xavier, 
der  in  Piemont  diente,  dafs  er  seinem  Vaterland  entsagen  müsse, 
dessen  eine  Hälfte,  wie  er  sagte,  ihn  selbst  verlassen  habe. 
Die  Kriege  der  Franzosen  trieben  ihn  aus  Italien  hinweg.  Er 
wanderte  aus  nach  Rufsland,  nur  mit  leichtem  litterarischen 
Gepäck,  vielleicht  mit  den  ersten  Kapiteln  der  „nächtlichen 
Entdeckungsreise",  aber  sicherlich  nicht  mit  „der  Gefangenen 
von  Piornerol",  von  der  er  in  seiner  Reise  um  mein  Zimmer 
spricht,  noch  auch  mit  dem  Gedichte  in  24  Gesängen,  das  er 
im  11.  Kapitel  der  Entdeckungsreise  erwähnt,  denn  er  hatte 
diese  Sachen  gar  nicht  geschrieben  und  sprach  nur  aus  Scherz 
davon.  Im  Norden  angekommen,  hatte  er  zuerst  die  Absicht, 
sich  mit  seinem  Pinsel  zu  ernähren,  aber  das  Glück  war  ihm 
günstig:  er  konnte  den  Degen  behalten;  er  stand  als  Hauptmann 
unter  Suworow,  dem  er  in  Petersburg  1801  die  Augen  schlofs, 
und  stieg  allmählich  bis  zu  dem  Rang  eines  Generals  empor. 
Dafs  er  bei  gefährlichen  Kämpfen  gewesen,  beweist  die  schwere 
Wunde  am  rechten  Arm,  die  er  bei  der  Belagerung  der  Festung 
Achalzi«:  in  Georo^ien  im  Dezember  1810  erhielt. 

Sein  Glück  vollendete  sich,  als  er  im  Jahre  1812  Fräulein 
Zagriatzky,  eine  Ehrendame  der  kaiserlichen  Majestäten,  hei- 
ratete. Ste.  Beuve  rühmt  ihre  edle  Seele  und  ihre  hohe  slavische 
Schönheit  und  erzählt,  wie  Xavier  de  Maistre  selbst,  als  er  im 
Jahre  1839  bei  seinem  Aufenthalt  in  Paris  seine  Frau  einmal 
ins  Zimmer  treten  sah,  über  ihre  Schönheit  entzückt  gewesen  sei. 


Xavier  de  Maistre.  281 

Zwanzig  Jahre  waren  vergangen,  seit  er  die  Keise  um 
mein  Zimmer  geschrieben  hatte,  da  befand  er  sich  eines  Tages 
—  es  war  im  Jahre  1810  —  in  Petersburg  in  einer  Gesell- 
Schaft,  in  der  sein  Bruder  auch  war.  Die  Unterhaltung  kam 
auf  den  Aussatz  der  Hebräer,  und  einer  sagte,  diese  Krankheit 
gäbe  es  nicht  mehr;  dem  konnte  nun  Xavier  widersprechen, 
denn  er  hatte  den  Aussätzigen  von  Aosta  gekannt.  Er  sprach 
davon  mit  solchem  Eifer,  dafs  es  alle  Anwesenden  mächtis: 
interessierte,  und  er  selbst  fafste  den  Gedanken,  die  Geschichte 
jenes  Unglücklichen  zu  schreiben ;  sein  Bruder  ermutigte  ihn 
und  lobte  auch  den  ersten  Entwurf,  der  auf  seinen  Rat  nachher 
etwas  verkürzt  wurde.  Joseph  übernahm  auch  zum  zweitenmal 
Patenstelle  und  liefs  die  Schrift  in  St.  Petersburg  um  1811 
drucken,  indem  er  „die  Eeise"  dazufügte;  in  Frankreich  aber 
sind  „die  Reise"  und  „der  Aussätzige"  erst  etwa  um  1817  be- 
kannt geworden. 

Die  Geschichte  des  Aussätzigen  ist  wahr,  ebenso  wie  die 
der  jungen  Sibirierin,  die  der  Schriftsteller  teilweise  von  ihr  selbst 
gehört  hatte.  Alles  ist  wahr  bei  ihm,  nichts  Romanhaftes;  er 
schreibt  die  Wirklichkeit  ab,  aber  er  ist  deshalb  kein  Zola. 
Das  Ideale  bei  ihm  liest  in  der  Wahl,  die  er  in  Bezuo-  auf 
seinen  Gegenstand  trifft,  und  vorzüglich  in  einem  gewissen 
menschlich  warmen  und  religiösen  Ton,  den  er  über  denselben 
ausbreitet.  Die  Natur  sitzt  bei  ihm  Modell,  aber  er  nimmt  die 
Erscheinungen  der  Natur,  die  erheben,  und  nicht  die,  welche 
herabziehen.  Er  sucht  nicht  das  Häfsliche  und  Schreckliche, 
sondern  besonders  das  Naive  und  das  Menschliche. 

Der  arme  Aussätzige  wohnte,  ehe  er  nach  Aosta  kam,  in 
Oneille.  Als  die  Franzosen  nach  der  Besetzung  Savoyens  und 
Nizzas  bis  Oneille  kamen,  wo  di,eser  Unglückliche  lebte,  da  er- 
schrak derselbe,  er  hielt  sich  auch  für  bedroht  und  wollte  nun 
auswandern  wie  die  anderen.  Eines  Tao;es  kam  er  zu  Fufs 
nach  Turin.  Die  Schildw'ache  hielt  ihn  am  Thore  an,  und  als 
man  sein  Gesicht  gesehen  hatte,  liefs  man  ihn  zwischen  zwei 
Soldaten'  zum  Gouverneur  führen,  der  ihn  ins  Krankenhaus 
schickte.  \''on  da  brachte  man  ihn  nach  Aosta,  wo  er  auf  Be- 
fehl wohnen  mufste.  Dort  hat  ihn  de  Maistre  oft  gesehen.  Wie 
man  sich  denken  kann,  hatte  der  Aussätzioje  einen  ziemlich  be- 


282  Xavior  de  Maistre. 

schränkten  Ideenkreis;  der  Autor  hat  denselben  etwas  erweitert, 
indem  er  ihm  alle  die  Gedanken  beilegte,  welche  aus  seiner 
La^re  sich  von  selbst  erspähen.  Die  Wohnunoj  des  Armen  war 
vollständig  einsam;  ein  junger  Offizier,  vielleicht  der  der  Frau 
von  Hautcastel,  hatte  dort  gern  mit  der  Dame,  die  er  liebte, 
Zusammenkünfte  hinter  den  Eosenbüschcn  dieses  Gartens;  dort 
waren  sie  jranz  sicher.  Das  höchste  Glück  lebte  unter  dem 
Schutz  der  höchsten  Verzweiflung. 

Noch  schwieriger  als  die  Reise  läfst  sich  der  Aussätzige 
analysieren.  Nach  einer  Beschreibung  des  Turmes,  in  welchem 
der  Arme  lebt,  erzählt  de  Maistre,  wie  im  Jahre  1797  ein 
junger  Offizier  in  den  Garten  desselben  eintritt  und  so  plötzlich 
dem  Aussätziiren  fregenübersteht.  Das  Schicksal  des  Mannes 
ergreift  ihn ;  er  hört,  wie  derselbe  sich  beschäftigt,  welche  grau- 
san:sen  Qualen  er  empfindet,  wie  er  seinen  Hund  und  dann  wie 
er,  was  für  ihn  das  Schrecklichste  gewesen  ist,  seine  Schwester 
verloren  hat.  Es  ist  ein  Abgrund  des  Elends,  der  sich  vor  uns 
eröffnet,  aber  immer  gemildert  durch  den  freundlichen  Schein 
einer  echt  religiösen  Lebensanschauung.  Man  höre  nur  folgende 
Stelle: 

„Das  öde  Leben,  zu  dem  ich  verurteilt  bin,  fliefst  viel 
rascher  dahin,  als  man  sich  denken  sollte;  und  das  will  viel 
sagen,"  fuhr  der  Aussätzige  mit  einem  leichten  Seufzer  fort, 
„denn  ich  gehöre  zu  denen,  die  nur  reisen,  um  anzukommen. 
Mein  Leben  ist  ohne  Abwechselung,  meine  Tage  ohne  Unter- 
schiede, und  durch  diese  Eintönigkeit  erscheint  die  Zeit  kürzer, 
ähnlich  wie  ein  Land  durch  seine  Nacktheit  weniger  ausgedehnt 
erscheint." 

Die  Wirkung,  welche  „der  Aussätzige"  auf  einfache  Gemüter 
hervorbringt,  hat  vielleicht  niemand  besser  ausgedrückt  als 
Töpflfer  in  seiner  reizenden  Novelle  „der  grofse  St.  Bernhard". 
Ein  junges  Mädchen,  das  er  auf  dem  St.  Bernhard  getroffen 
hat,  führt  er  unter  die  Bäume  des  Turmes,  unter  denen  viel- 
leicht der  Aussätzige  gesehen  hatte,  wie  die  junge  Frau 
ihr  Köpfchen  an  die  Brust  des  Gatten  drückte,  ein 
Anblick,  der  dem  Unglücklichen  fast  das  Herz  abprefste  und 
ihn  der  Verzweiflung  nahe  brachte.  Dort  liest  er  ihr  die  Ge- 
schichte   vor:    zuerst    ist    sie    zerstreut,    dann    überrascht,    ihre 


i 


Xavler  de  Maistre.  283 

Seele,  die  vorher  nichts  von  Poesie  kannte,  öffnet  sich  derselben, 
ihr  Antlitz  glänzt  vor  Freude,  aber  die  Seiten  werden  düsterer 
und  düsterer,  ThrUnen  treten  ihr  in  die  Augen,  und  als  dem 
Unglücklichen  die  Schwester  sterben  will,  da  bricht  sie  in  lautes 
Weinen  aus.  Sie  bittet  aufzuhören.  In  ihr  aber  ist  ein  neues 
Gefühlsleben  aufgegangen,  das  Töpffer  jedoch,  der  Redliche, 
nicht  zu  seinem  Vorteile  benutzt. 

Der  Aussätzige  ist  eine  schöne  Lektüre,  sie  hat  etwas  Be- 
ruhigendes in  sich  wie  ein  Gebet. 

In  der  Litteratur  hat  das  Büchlein  ordentlich  Schule  ge- 
macht, es  giebt  eine  ganze  Anzahl  von  kleinen  Romanen,  in 
denen  das  Interesse  erweckt  wird  durch  den  Gegensatz,  in  den 
ein  physisches  Leiden  zu  den  Empfindungen  der  Seele  tritt; 
aber  „der  Aussätzio-e"  ist  kein  Roman  und  will  auch  keiner  sein. 
Zu  den  Vorfahren  des  Aussätzigen  können  wir  „den  armen 
Heinrich"  rechnen. 

Während  „die  Reise"  ein  Monolog,  „der  Aussätzige"  ein 
Dialog  ist,  sind  „die  junge  Sibirierin"  und  „die  Gefangenen 
des  Kaukasus"  Erzählungen.  Er  schrieb  sie  um  das  Jahr  1820 
auf  die  Bitte  einiger  Freunde  und  einer  nahen  Verwandten  zulieb, 
der  er  sie  als  Eigentum  übermachte;  er  gab  sie  ihnen,  damit 
sie  in  Paris  veröffentlicht  würden.  Auch  diese  beiden  Ge- 
schichten zeigten,  dafs  seine  feine  Art  zu  schreiben  nicht  zu- 
fällig, sondern  eine  Gabe  war,  die  ihn  auch  wohl  noch  zu 
anderen   Werken  hätte  befähigen  können. 

Die  junge  Sibirierin  ist  vielleicht  am  besten  charakterisiert 
durch  die  wenigen  Worte,  die  Xavier  de  Maistre  als  Einleitung 
giebt.  „Der  Mut  eines  jungen  Mädchens,  das  gegen  Ende  der 
Reffieruno;  Pauls  I.  aus  Sibirien  zu  Fufs  los  wanderte,  um  in 
St.  Petersburg  Gnade  für  ihren  Vater  zu  erflehen,  hat  seiner 
Zeit  ein  so  grofses  Aufsehen  erregt,  dafs  eine  berühmte  Schrift- 
stellerin —  es  ist  Madame  Göttin  —  aus  dieser  interessanten 
Reisenden  eine  Romanheldin  gemacht  hat.  Die  aber,  welche  sie 
gekannt  haben,  bedauern,  dafs  Liebesabenteuer  und  romanhafte 
Ideen  einer  edlen  Jungfrau  angedichtet  sind,  die  niemals  eine 
andere  Leidenschaft  kannte  als  die  reinste  Kindesliebe,  und  die 
ohne  Stütze,  ohne  Rat,  in  ihrem  eigenen  Herzen  den  Gedanken 
zu  der  edelsten  That  und   die  Kraft    zur  Ausführung  derselben 


284  r^avier  de  Maistre. 

fand.  Wenn  der  Bericht  von  ihren  Erlebnissen  nicht  jenes 
Überraschende  bietet,  das  ein  Romanschreiber  für  erfundene 
Personen  zu  erwecken  versteht,  so  wird  man  doch  vielleicht  mit 
einio-eni  Versnüiren  die  einfache  Geschichte  ihres  Lebens  lesen, 
die  an  sich  schon  interessant  genug  ist,  ohne  anderen  Schmuck 
als  die  Wahrheit." 

Es  ist  die  Wahrheit,  aber  die  anmutige  Wahrheit,  wie 
Xavier  de  Maistre  die  Wanderung  des  iNIädchens  erzählt  von 
den  Grenzen  des  Regierungsbezirks  Tobolsk  bis  zu  den  Stufen 
des  Kaiserthrons  in  Petersburg,  wie  er  die  Fährlichkeiten  be- 
schreibt, die  sie  zu  besiegen  hatte,  die  Personen,  die  freundlich 
oder  feindlich  mit  ihr  zusammentrafen,  und  besonders  wie  er 
ihren  einfachen  und  rührenden  Charakter  voll  alles  überwindender 
Kindesliebe  und  felsenferten  Vertrauens  zu  Gott  schildert. 

Als  Prascovia  —  so  heifst  die  Sibirierin  —  einmal  ein 
frrofses  Bild  sieht,  auf  dem  Silen  orestützt  von  Bacchantinnen 
dargestellt  ist,  ruft  sie  erstaunt  aus :  Das  ist  also  alles  nicht 
wahr?  Diese  Menschen  da  mit  Ziegenbeinen?  Welche  Thorheit 
Dinge  zu  malen,  die  nie  dagewesen  sind,  als  ob  es  an  wirk- 
lichen Dingen  fehlte!"  —  Derselben  Meinung  ist  de  Maistre, 
und  seine  wirklichen  Dinge  sind  nicht  einseitig.  Er  weifs  die 
verschiedenen  Seiten  des  menschlichen  Lebens  zu  einem  schönen 
Ganzen  zu  vereinen.  Er  stellt  nicht  allein  den  glühenden 
Glauben  und  den  Heldenmut  des  Mädchens  dar,  sondern  er 
weifs  auch  heitere  Züge,  er  weifs  auch  die  kleinen  Schwächen 
des  Plerzens  mit  hineinzubringen,  und  unter  einer  Thräne  der 
Rühruno^  schaut  bisweilen  der  schalkhafte  Beobachter,  den  wir 
aus  der  Reise  um  mein  Zimmer  kennen,  wieder  hervor.  Den 
Frauen  ist  das  Buch  geweiht,  besonders  Frauen  werden  Pras- 
covia immer  o-ern  auf  ihrer  Wanderung^  begrleiten. 

AVie  die  junge  Sibirierin,  so  spielen  auch  „die  Gefangenen 
des  Kaukasus"  in  russische  Verhältnisse  hinein,  und  hier  zeigt 
sich,  dafs  der  sonst  so  sanfte  und  liebensw^ürdige  Schriftsteller, 
wenn  es  die  Wahrheit  verlangt,  auch  nicht  vor  den  furchtbarsten 
Scenen  zurückschreckt. 

Der  russische  Major  Kaskambo  hat  sich,  um  seine  Kosacken 
vor  Vernichtung  zu  retten ,  dem  wilden  Stamme  der  Tscha- 
tschenzen  als  Gefangener   ausf{eliefert.     Sein    Bursche,    der   das 


Xavier  de  Maistre.  285 

Geschick  seines  Herrn  erfährt,  folgt  ihm  und  teilt  sein  Los. 
Der  Major  erliegt  beinahe  der  schlechten  Behandlung,  während 
Iwan,  sein  Bursche,  täglich  auf  Rettung  sinnt.  Anfangs  spielt 
dieser  den  Possenreifser,  dann  wird  er  Mohammedaner,  und  end- 
lich ist  der  Tag  der  Befreiung  gekommen.  Die  Männer  des 
Stammes  sind  auf  einen  Raubzug  ausgeritten,  nur  der  alte 
Wächter  mit  seiner  Tochter  und  deren  kleinem  Sohn  sind  in 
der  Hütte.  Dieser  Kleine  ist  der  einzige  gewesen,  der  sich 
gegen  den  Major  freundlich  erwiesen  hat,  er  hat  ihm  heimlich 
Kartoffeln  aus  der  Asche  geholt,  wenn  der  Arme  nahe  am  Ver- 
hungern war,  er  hat  mit  ihm  gespielt,  er  hat  ihn  seinen  Koniak, 
seinen  Freund,  genannt. 

Um  sich,  ohne  Verdacht  zu  erregen,  verständigen  zu  können, 
haben  die  beiden  Gefangenen  oft  in  russischer  Sprache  Lieder 
zur  Laute  gesungen,  deren  Text  ihre  vertraulichen  Mitteilungen 
waren.  Iwan  fordert  Kaskambo  auf,  die  Laute  zu  schlagen, 
und  nach  den  Weisen  eines  Liebesliedes  mit  dem  Refrain  von 
hai  luli,  hai  luli  teilt  er  ihm  den  furchtbaren  Plan  mit,  dafs  er 
ihren  Wächter  mit  einer  Axt  erschlagen  will. 

Der  Major  mufs  spielen,  damit  sich  der  Bursche  unbemerkt 
im  Tanze  der  Axt  nähern  kann ;  endlich  ergreift  er  sie  auch, 
aber  der  Major  verliert  in  dem  Augenblicke  die  Besinnung  und 
hört  auf  zu  spielen.  Kaltblütig  lehnt  Iwan  das  Werkzeug  des 
Todes  hinter  sein  Opfer  an  den  Holz  block  und  tanzt  weiter, 
bis  er  wieder  an  die  Stelle  kommt  und  unter  hai  luli,  hai  luli 
den  Alten  über  den  Kopf  schlägt,  dafs  er  tot  in  das  Herdfeuer 
stürz,t,  welches  er  eben  schüren  will.  Ebenso  erschlägt  er  die 
Tochter,  die  ins  Zimmer  hereinschaut,  ebenso  trotz  aller  Bitten, 
trotz  aller  Drohungen  des  Majors  den  kleinen  Knaben. 

„Bis  wir  frei  sind,"  sagt  der  Schreckliche,  „ist  jeder  Mensch, 
den  ich  treflfe,  ein  Kind  des  Todes  oder  ich  falle  von  seiner 
Hand." 

Nach  ungeheuren  Mühseligkeiten,  die  bis  zuletzt  die  Span- 
nuns:  wie  in  einem  wohlangeleo^ten  Roman  erhalten,  erreichen 
beide  ihr  Vaterland. 

In  einem  fein  scherzenden  Tone  nach  Xavier  de  Maistres 
Art  verklingt  zuletzt  das  Ganze.  De  Maistre  selbst  hat  eine 
unbesonnene    Frage   an    Iwan,    ohne   ihn    zu    kennen,    gerichtet; 


286  Xavier  de  Maistre. 

Iwan  sieht  ihn  schief  an  und  brummt  hai  luli,  hai  luli  zwischen 
den   Zähnen. 

Der  Schriftsteller  schliefst:  „Der  Neugierige  stieg  wieder 
in  seinen  Schlitten,  ganz  glücklich  darüber,  dafs  er  keinen  Axt- 
hieb über  den  Kopf  bekommen  habe." 

Als  diese  beiden  Werke  in  Paris  im  ^Manuskript  ankamen, 
erregten  sie  bei  einigen  Kennern  zuerst  Anstofs.  Man  fand 
an  Prascovias  Ungeschicklichkeit  im  Betreiben  ihrer  Angelegen- 
heit in  Petersburg  und  an  diesem  entsetzlichen  Menschen, 
diesem  Iwan,  der  eine  Frau  und  ein  unschuldiges  Kind  er- 
schlägt, viel  auszusetzen.  Herr  Valery  aber,  dem  die  Hand- 
schrift anvertraut  war,  hatte  eine  entgegengesetzte  Meinung;  er 
fühlte  das  Wahre,  das  realistisch  Berechtigte  in  diesen  Dar- 
stellungen, und  ihm  verdanken  wir  es,  dafs  die  beiden  Werk- 
chen  in  der  ihnen  von  Xavier  de  Maistre  gegebenen  Gestalt 
erschienen. 

Bald  darauf  kam  der  Schriftsteller  selbst  nach  Paris  zu- 
rück. Lamartine,  der  mit  ihm  verwandt  war,  hat  diese  Rück- 
kehr in  einer  seiner  „Harmonien"  auf  rührende  Weise  gefeiert. 

De    Maistre    hat    selbst    manche    Verse    geschrieben,    aber 

wenn  man  in  ihn  drang,  dieselben  zu  veröffentlichen,    lehnte  er 

mit     den    Worten    ab:     die    Mode    hat    sich    geändert.      Einige 

Fabeln    des    russischen    Dichters    Kriloff   hat   er    übersetzt    und 

nachgeahmt,  auch  einige  geistreiche  Epigramme  verfafst.    Seine 

Grabschrift  erinnert  etwas  an  die  Lafontaines.    Die  ersten  Verse 

davon  lauten: 

Ci-git  sous  cette  pierre  grise 
Xavier  qui  de  tout  s'etonnait, 
Demandant  d'oü  venait  la  bise 
Et  pourquoi  Jupiter  tonnait. 

Ein  längeres  Gedicht,  der  Schmetterling,  ist  von  Ste.  Beuve 
mitgeteilt.  Ein  Gefangener  hatte  dem  Dichter  erzählt,  dafs  in 
Sibirien  eines  Tages  ein  Schmetterling  in  sein  Gefängnis  hin- 
eingeflogen sei.  Byron  hat  ähnliches  in  seinem  Prisoner  of 
Chillon  gesungen.  Beide  Gefangene  sind  erstaunt  darüber,  wie 
der  geflügelte  Gast  in  die  Kerkergruft  gekommen  sei,  beide 
glauben,  es  sei  aus  Freundschaft  zu  ihnen,  beide  wollen  nicht, 
dafs  die  zutraulichen  Tierchen  die  trostlose  Gefangenschaft  mit 


Xavier  de  Maistre.  287 

ihnen  teilen.  Während  bei  de  Maistre  die  Gedanken  sich 
so  anmutig  und  rührend  bis  ans  Ende  fortspinnen,  erheben  sie 
sich  bei  Byron  mit  Macht  aufwärts.  Bonivard  hält  den  Vogel 
für  seines  Bruders  Seele,  der  aus  dem  Paradies  zu  ihm  herab- 
gekommen sei,  und  als  derselbe  ihn  endlich  verläfst,  da  fühlt 
er  sich  doppelt  allein,  allein  wie  der  Leichnam  im  Leichentuch, 
allein  wie  eine  einsame  Wolke,  eine  einzio;e  Wolke  an  einem 
sonnigen  Tage,  wenn  der  ganze  Himmel  sonst  rein  ist.  —  Bei 
de  Maistre  erwacht  der  Gefangene  auch  aus  seinem  Traume, 
der  ihm  unter  der  Leitung  des  Schmetterlings  seine  Gattin, 
seine  beiden  Kinder,  ja  die  Freiheit  zeigte ;  er  hört  die  Ketten 
klirren,  und  der  Schmetterlino[  entflieo:t. 

'  CO 

Xavier  ist  einmal  kein  Vulkan  wie  Byron,  er  streut  nur 
Blumen  aus,  während  jener  Blitze  schleudert. 

Sein  Gedicht  ist  ins  Russische  übersetzt  und  von  einem 
Sekretär  der  französischen  Gesandtschaft  in  Petersburg,  der  das 
Original  nicht  kannte,  wieder  zurück  ins  Französische. 

Xavier  scherzt  in  seiner  feinen,  etwas  malltiösen  Weise 
über  seine  geringe  Begabung  zum  lyrischen  Dichter;  er  macht 
sich  dabei  unbedeutender  als  er  ist.  Er  schreibt:  „Da  ich  die 
Gabe  des  Dichters  nicht  begreifen  kann,  und  da  ich  diese  her- 
vorragende Eio;enschaft  an  anderen  nicht  ofern  zugestehen  möchte, 
so  denke  ich,  dafs  die  Dichter  etwas  im  Handgelenk  haben, 
w-as  die  Prosa  auf  ihrem  Wege  vom  Kopf  zum  Papier  in  Verse 
verwandelt,  so  dafs  ein  Dichter  nur  eine  mehr  oder  weniger 
vollkommene  Drechselmaschine  wäre.  Ich  war  von  diesem  für 
Prosaschreiber  so  tröstlichen  System  dermafsen  überzeugt,  dafa 
ich  eines  Tages  versuchte,  mit  der  Linken  zu  schreiben,  in  der 
Hoffnung,  dafs  ich  diesen  günstigen  Mechanismus  vielleicht 
herausfände,  aber  meine  linke  Hand  war  nicht  glücklicher  als 
meine  rechte,  und  ich  bin  seitdem  überzeugt,  dafs  ich  keine 
Versedrechselmaschine  bin.  Ich  mufs  sogar  gestehen,  dafs 
dieser  Mifserfols:  mir  einige  Zweifel  über  mein  Svstem  einge- 
geben  hat." 

An  wichti oberen  Schriften  ist  noch  ein  Brief  vorhanden,  der 
für  die  Geschichte  des  Rückzugs  aus  Rufsland  im  Jahre  1812 
gewisse  Bedeutung  hat. 

1813  machte  er  den  Krieg  in  Deutschland  mit  als  Quartier- 


288  Xavier  de  Maistre. 

raeister  bei  dem  Corps  des  Feldmarschall-Lieutenant  Walmoden 
und  wurde,  zum  Generalmajor  befördert,  im  August  nach  Danzig 
ixeschickt.     Bald  darauf  nahm  er  seinen  Abschied. 

Er  lebte  dann  in  Moskau  und  Petersburg;  als  ihm  aber 
hier  zwei  seiner  Kinder  durch  den  Tod  entrissen  und  die  beiden 
anderen  von  einer  hartnäckioren  Krankheit  befallen  wurden,  da 
reiste  er  um  1825  in  die  Heimat  und  hielt  sich  nun  abwechselnd 
in  Pisa,  Lucca,  Livorno,  Rom,  Neapel  und  Castellamare  auf. 
Aber  seine  Hoffnung,  die  er  auf  die  Einwirkung  des  milden 
Klimas  Italiens  gesetzt  hatte,  ging  nicht  in  Erfüllung;  seine 
Tochter  verlor  er  in  Livorno,  seinen  Sohn  in  Neapel,  und  fast 
gebrochenen  Herzens  verliefs  er  auf  Nimmerwiedersehen  den 
vaterländischen  Boden.  Er  wollte  seiner  Gattin  den  Wunsch 
erfüllen,  in  ihrer  Heimat  den  Kest  ihrer  Tage  beschliefsen  zu 
können. 

Auf  der  Rückreise  nach  Petersburg  im  Jahre  1839  hielt 
er  sich  mehrere  Monate  in  Paris  auf,  und  diesem  Aufenthalt 
verdanken  wir  die  schöne  Skizze,  die  Sainte  Beuve  von  Xavier 
de  Maistre  entworfen  hat,  und  die  auch  dieser  Arbeit  zu 
Grunde  liegt. 

Wenn  der  Graf  sein  eigenstes  Wesen  schon  in  seiner  Reise 
um  mein  Zimmer  offen  dargelegt  hat,  so  wird  diese  Schilderung 
noch  in  voller  Übereinstimmung  damit  durch  den  Pariser  Litterar- 
historiker  ergänzt. 

Die  neueren  Schriftsteller  hatte  Xavier  kaum  gelesen,  und 
als  er  die  Werke,  die  gerade  in  der  Mode  waren,  durchblätterte, 
erschrak  er  zuerst  darüber,  weil  er  glaubte,  dafs  sich  in  seiner 
langen  Abwesenheit  die  Sprache  ganz  geändert  hätte. 

„Doch  das  tröstet  mich  etwas,"  fügte  er  hinzu,  „dafs, 
wenn  man  auch  anders  schreibt,  die  Leute,  mit  denen  ich 
zusammenkomme,  doch  noch  dieselbe  Sprache  sprechen 
wie  ich." 

Als  er  in  die  Kammer  der  Abgeordneten  geführt  wurde, 
wufste  er  zuerst  gar  nicht,  was  er  zu  den  langen  und  vielen 
Reden  sagen  sollte.  Er  war  an  das  Schweigen  der  unum- 
schränkten Monarchie  gewöhnt,  er  begriff  nicht  recht,  wozu  der 
viele  Wortlärm  nützen  solle.  Jedesmal  wenn  er  an  dem  Hause 
der  Abgeordneten  vorüberging,    erinnerte   er   sich    unwillkürlich 


Xavier  de  Maistre.  289 

an  den  Vesuv.  Ebensowenig  Hebte  er  den  Quai  Voltaire. 
Wenn  er  ihn  überschreiten  mufste,  senkte  er  das  Haupt  und 
wandte'  seine  Blicke  nach  der  Seine. 

Das  läfst  sich  alles  leicht  begreifen  nach  dem,  was  wir 
aus  seiner  Reise  wissen  und  wenn  wir  die  srofse  Bewunderuno; 
in  Betracht  ziehen,  die  er  den  Werken  seines  Bruders  entgegen- 
brachte. Die  Ideen  Josephs  erschienen  ihm  als  die  einfachsten, 
als  die  von  selbst  oreo^ebenen. 

Charakteristisch  ist  noch,  wie  stark  er  in  Töpffer  seinen 
Wahlverwandten  fühlte.  Wenn  ihn  jemand  nach  seinem  letzten 
Werke  fragte,  pflegte  er  wohl  zu  antworten;  es  sei  „das  Pres- 
byterium"  oder  „die  Bibliothek  meines  Onkels''  oder  „der  Col 
von  Anterne"  oder  „der  See  von  Gers",  lauter  Werke  von 
Töpffer.  Er  wünschte,  dafs  dieser  Genfer  Dichter  in  Frank- 
reich bekannt  würde.  Nachdem  Töpffer  im  Stil  und  im  Ton 
einige  Veränderungen  vorgenommen,  wurde  er  in  Frankreich, 
besonders  mit  auf  de  Maistres  Bemühungen  hin,  naturalisiert. 

Xavier  de  Maistre  war  eine  Erscheinung,  die  mit  der 
menschlichen  Natur  versöhnen  raufs.  Als  er  in  Petersburg  kurz 
nach  dem  Tode  seiner  treuen  Sophie  am  12.  Juni  1852  die 
Augen  schlofs,  hatte  die  Welt  einen  der  liebenswürdigsten 
Menschen  und  Schriftsteller  nicht  allein  französischer,  sondern 
aller  Sprachen  zu  beklagen. 

Moore  bei  dem  Tao^esgebrause  der  naturalistischen  Wort- 
führer  in  Paris  nie  ganz  die  sanfte  Stimme  echter  und  edler 
Sentimentalität  übertönt  werden! 


Aicliiv  f.  n.  Sprachen.    LXXltl.  «  19 


Das    Leben    des    heiligen    Alexis. 

Mit  Beifügung  des  altfranzösischen  Originals  (aus  dem  11.  Jahrhundert), 
nach  der  Ausgabe  von  Graston   Paris, 

übersetzt  von 
Theodor  Vatke. 


1  Gut  war  die  Welt  dereinst  in  alter  Zeit, 
Da  Lieb  und  Treu  es  gab,  Gerechtigkeit, 

Da  war  auch  Glaube  da,  der  heut  nichts  gilt; 
Verwandelt  alles  ist,  entfärbet  ist  das  Bild, 
Nie  wieder  kehret  die  Vergangenheit. 

2  Zu  Noahs  Zeit,  zur  Zeit  des  Abraham, 
Davids,  die  Gott  in  seine  Liebe  nahm, 

War  gut  die  Welt:  nie  wird  so  brav  sie  sein. 
Alt  ist  sie,   gehet  zur  Verderbnis  ein, 
Weil  alles  stets  zu  schlimmrem  Ende  kam. 

3  Nach  jener  Zeit,  da  uns  erlöst  der  Herr, 
Und  unsre  Väter  nahmen  Christi  Lehr, 

Da  war  ein  hoher  Herr  zu  Rom,  der  Stadt, 
Mächtig,  der  manchen  Ahn  zu  rühmen  hatt' : 
Von  seinem  Sohne  nun  vernehmt  die  Mär. 

4  Eufemius  —  dies  des  Vaters  Name  war  — 
War  Graf  zu  Rom  und  von  den  Besten  gar : 
Der  Kaiser  liebte  keinen  so  wie  ihn. 

Ein  edles  Weib  auch  wählete  sein  Sinn, 
Der  besten  eins,  die  jenes  Land  gebar. 

ö  So  lebten  sie  beisammen  manchen  Tag, 
Doch  ohne  Kind,  das  war  stets  ihre  Klag'. 
Und  Gott  anrufen  sie  von  Herzensgrund: 
„0  Himmelskönig,  segne  unsern  Bund, 
Gieb  uns  ein  Kind,  das  dir  gefallen  mag." 


La    Vie    Saint    Alexis. 


1  Bons  fut  li  siecles  al  tens  ancienor, 
Quer  feit  i  ert  e  justice  et  amor, 

Si  ert  credance,  dont  or  n'i  at  nnl  prot:* 
Tot  est  mudez,  perdude  at  sa  color; 
Ja  mais  n'iert  tels  com  fut  as  anceisors. 

2  AI  tens  Noe  et  al  tens  Abraham, 

Et  al  David  que  Dens  par  amat  tant, 
Bons  fut  li  siecles:  ja  mais  n'iert  si  vailanz. 
Vielz  est  e  frailes,  tot  s'en  vait  declinant, 
Si'st  empeiriez  tot  bien  vait  remanant. 

3  Pois  icel  tens  que  Deus  nos  vint  salver, 
Nostre  anceisor  ovrent  cristientet, 

Si  fut  uns  sire  de  Rome  la  citet; 

Riches  hom  fut  de  grant  nobilitet: 

Por  90  l'vos  di,  d'un  son  fil  voil  parier. 

4  Eufemiens  —  ensi  out  nom  li  pedre  — 
Cons  fut  de  Rome  del  mielz  qui  donc  i  eret ; 
Sor  toz  ses  pers  l'amat  li,  emperedre. 

Donc  prist  muilier  vailant  et  honorede, 
Des  mielz  gentils  de  tote  la  contrede. 

5  Pois  converserent  ensemble  longement; 
Que  enfant  n'ovrent  peiset  lor  en  forment. 

-    Den  en  apelent  andoi  parfitement: 
„E  reis  Celestes,  par  ton  comandement 
Enfant  nos  done  qui  seit  a  ton  talent." 


*  Cfr.  Chans     de  Roland  (ed,  Gautier)   v.  2905    nen  i  ad  nul  si  prud. 
V.  3-459  mult  graut  prud  i  avreiz. 

19* 


292  Das  Leben  des  heiligen  Alexis. 

6  So  baten  sie  in  grofser  Demut  ihn, 

Es  sei  doch  Friichtbarkoit  dem  Weib  verliehn. 

Es  kommt  ein  Sohn,  man   weifs  viel  Dank  dem  Herrn, 

Bringt  in  der  heil'gen  Taufe  dar  ihn  gern, 

Dafs  er  mit  frommem  Namen  Christo  dien. 

7  Er  ward  getauft,  ward  Alexis  genannt; 

Die  ihn  getragen  gern  ihm  Nahrung  fand;        ^ 
Der  gute  Vater  drauf  zur  Schul  ihn  schickt. 
Wo  er  gar  bald  des  Wissens  Licht  erblickt ; 
Zu  Dienst  wird  er  zum  Kaiser  drauf  gesandt. 

8  Der  Vater  sieht,  es  bleibt  sein  einzig  Kind, 
Das  seine  Liebe  immer  mehr  gewinnt; 
Und  er  erwägt  die  Zukunft  drauf  bei  sich, 
Dafs  er  ein  Weib  nehm,  wünscht  er  inniglich : 
Kauft  ihm  ein  edles  Frankenkind  geschwind. 

9  Das  Mädchen  nun  gar  hohe  Abkunft  hat, 
Ist  Grafentochter  traun  in  Rom  der  Stadt, 
Das  einz'ge  Kind,  das  er  in  Ehren  hält. 
Die  Väter  nun,  sie  haben's  beid'  erwählt. 
Die  Lieben  zu  vermählen  hält  man  Rat. 

10  Den  Zeitpunkt  der  Verein'gung  man  bespricht, 
Wie  sich's  geziemt  wird  alles  zugericht'. 
Herr  Alexis  hat  lieblich  sie  gefreit; 

Doch  seinem  Sinn  liegt  Ehebund  sehr  weit; 
Denn  immerdar  läfst  er  von  Gotte  nicht. 

11  Als  nun  der  Tag  vorbei,  als  kam  die  Nacht, 
Der  Vater  spricht:  „Nun  sei  zur  Ruh  gebracht 
Mit  deinem  Weib,  wie  Gott  vom  Himmelsthron 
Befiehlt."     Nicht  will  des  Vaters  Zorn  der  Sohn, 
Er  geht  zur  Kammer,  wo  sein  Weibchen  wacht. 

12  Er  sieht  das  Bett,  das  Mädchen  sieht  er  drin. 
Doch  kommt  des  Himmels  Herr  ihm  in  den  Sinn, 
Der  teurer  ihm  als  alles  ird'sche  Gut ; 

,,0  Gott,*'  sagt  er,    „wie  Sünde  fafst  mein  Blut! 
Entflieh  ich  nicht,  ich  los  von  Gotte  bin." 

13  Wie  in  der  Kammer  sie  so  ganz  allein, 
Läfst  sich  Alexis  nun  in  Rede  ein ; 

Des  Menschen  Leben  er  zu  schmähn  beginnt, 
Auf  das  zu  weisen,  das  niemals  verrinnt. 
Doch  möchte  er  gar  bald  gegangen  sein. 


Das  Leben  des  hoilioren  Alexis.  293 


o 


6  Tant  li  preierent  par  grant  hiimilitct 
Qne  la  muilier  donat  feconditet : 

ün  fil  lor  donet,  si  Ten  sovrent  bon  gret ; 
De  Saint  batesme  l'ont  fait  regenerer: 
Bei  nom  li  metent  snlonc  cristientet. 

7  Fut  batiziez,  si  out  nom  Alexis. 
Qui  l'out  poltet  volentiers  le  nodrit ; 
Pois  li  bons  pedre  ad  escole  le  mist: 
Tant  aprist  letres  que  bien  en  fut  guarniz; 
Pois  vait  li  enfes  l'emperedor  servir. 

8  Quant  veit  li  pedre  que  mais  n'avrat  enfant 
Mais  que  eel  sol  que  il  par  amat  tant, 
Donc  se  porpenset  del  siecle  a  en  avant : 
Or  voll  que  prenget  muilier  a  son  vivant, 
Donc  li  achatet  filie  d'un  noble  franc. 

9  Fut  la  pulcele  de  molt  halt  parentet, 
Filie  ad  un  comte  de  Rome  la  citet: 
N'at  plus  enfant,  lei  volt  molt  honorer. 
Ensemble  en  vont  li  dui  pedre  parier, 
Lor  dous  enfanz  volent  fair  asembler. 

10  Noraent  le  terme  de  lor  asemblement ; 
Quant  vint  al  faire,  donc  le  fönt  gentement, 
Danz  Alexis  l'esposct  belement; 

Mais  de  cel  plait  ne  volsist  il  nient: 
De  tot  en  tot  ad  a  Deu  son  talent, 

11  Quant  li  jorz  passet  et  il  fut  anoitiet, 

Co  dist  li  pedre:  ..Filz,  quer  t'en  vai  colchier 
Avoc  ta  'spose,  al  comand  Deu  del  ciel." 
Ne  volst-li  enfes  son  pedre  corocier, 
Vint  en  la  chambre  od  sa  gentil  muilier. 

12  Com  veit  le  lit,  esguardat  la  pulcele, 
Donc  li  remembret  de  son  seinor  Celeste 
Que  plus  at  chier  que  tot  aveir  terrestre : 

„E  Deus,"  dist  il,  „com  forz  pechiez  m'apresset! 
S'or  ne  m'en  fui,  molt  criem  que  ne  t'en  perde." 

13  Quant  en  la  chambre  furent  tot  sol  remes, 
Danz  Alexis  la  prist  ad  apeler; 

La  mortel  vide  li  prist  molt  a  blasmer, 

De  la  Celeste  li  mostret  veritet, 

Mais  lui  ert  tart  qued  il  s'en  fust  alez. 


294  Das  Leben  iles  heiligen  Alexis. 

14  „Älein  Mädchen,"  sagt  er,    „den  nimm  zum  Gemahl, 
Des  kostbar  Blut  erlöst'  uns  allzumal ; 
In  dieser  Welt  giebt's  wahre  Liebe  nicht ; 
Sie  ist  gar  hohl  und  ihre  Ehre  bricht, 
In  Trauer  löst  sich  ihre  Freude  all. 

lö  Als  er  nun  seinen  Sinn  ihr  ganz  gezeigt, 
Das  Schwert  sie  ihm  und  das  Gehänge  reicht. 
Und  einen  Ring,  der  sie  mit  ihm  vermählt. 
Drauf  eilt  er  aus  des  Vaters  Haus,  das  Freie  wählt 
Er  und  bei  Nacht  er  schnell  dem  Land  entweicht. 

16  Drauf  w^andert  er  gradwegs  zum  jNIeeresstrand, 
Wo  er  ein  Schiff  bereit  zur  Reise  fand; 

Er  zahlt  sein  Geld,  betritt  des  Schiffes  Bord, 
Man  reflft  die  Segel  und  bald  geht  es  fort; 
Dort,  wo  es  Gott  gefällt,  steigt  man  ans  Land. 

17  Vor  Lalic,  einem  schönen  Orte,  nun 

Sieht  wohlbehalten  man  das  SchifJ'chen  ruhn. 
Und  Herr  Alexis  drauf  zu  Lande  eilt, 
Doch  weifs  ich  nicht,   wie  lang  er  dort  verweilt: 
Wo  er  auch  ist,  Gott  dienet  all  sein  Thun. 


'1 


18  Drauf  geht  nach  Alsis  er,  dem  schönen  Ort, 
Ein  Bild  zu  schaun,  von  dem  er  hörte  dort, 
Das  Engel  schufen,  wie's  befohlen  Gott, 

Im  Namen  der  Jungfrau,  die  Heil  uns  bot, 
Die  Ihn  getragen  nach  des  Herren  Wort. 

19  All  den  Besitz,  den  er  noch  bei  sich  trug, 
Verteilet  er,  er  hat  mit  nichts  genug; 
Almosen  giebt  er  reichlich  in  der  Stadt, 
Wo  immer  Arme  er  gefunden  hat: 

Denn  nach  Besitz  Alexis  nimmer  frug. 

20  All  sein  Besitz  hat  er  verteilet  jetzt, 
Alexis  nun  sich  zu  den  Armen  setzt, 
Nimmt  den  Almosen,  den  ihm  Gott  beschert. 
So  viel,  dafs  er  des  Leibes  Notdurft  wehrt ; 
Mit  dem,  was  mehr,  die  Armut  er  ergötzt. 

21  Vom  Vater  und  der  Mutter  hört  nun  dies, 
Und  von  dem  Weib,  das  er  zurücke  liefs: 
Als  man,  dafs  er  entflohen  sei,  vernahm. 

Da  waren  grofs  die  Schmerzen  und  der  Gram, 
Und  grofs  im  ganzen  Land  die  Kümmernis. 


Das  Leben  des  heiligen  Alexis.  295 


o 


14  ,,0z  mei,  piilcele :  celui  tien  ad  espos 
Qui  nos  redenst  de  son  sanc  precios. 
En  icest  sieele  nen  at  parfite  amor ; 
La  vide  est  fraile,  n'iat  durable  honor, 
Ceste  ledice  revert  a  grant  tristor." 

15  Quant  sa  raison  li  at  tote  mostrede, 
Pois  li  comandet  les  renges  de  s'espede 
Et  nn  anel  dont  il  l'ont  esposede. 

Donc  en  eist  fors  de  la  chambre  son  pedre, 
En  niie  nuit  s'en  fuit  de  la  contrede. 

16  Donc  vint  edrant  dreitement  a  la  mer; 
La  nef  est  preste  ou  il  deveit  entrer: 
Donet  son  pris  et  enz  est  aloez. 
Drecent  lor  sigle,  laisent  corre  par  mer, 
La  pristrent  terre  ou  Deus  lor  volst  doner. 

17  Dreit  a  Laiice,  iine  citet  molt  bele, 
Hoc  arivet  sainement  la  nacele. 
Donc  en  eisit  danz  Alexis  a  terra; 
Mais  jo  ne  sai  com  longes  i  converset; 
Ou  que  il  seit  de  Deu  servir  ne  cesset. 

18  D'iloc  alat  en  Alsis  la  citet, 

Por  une  imagene  dont  il  odit  parier, 
Qued  angele  firent  par  comandement  Deu, 
El  nom  la  virgene  qui  portal  salvetet, 
Sainte  Marie  qui  portat  damne  Deu. 

19  Tot  son  aveir  qu'od  sei  en  out  portet, 
Tot  le  depart  que  giens  ne  l'en  remest: 
Larges  almosnes  par  Alsis  la  citet 
Donet  as  povres  ou  qu'il  les  pot  irover: 
Par  nul  aveir  ne  volt  estre  encombrez. 

20  Quant  son  aveir  lor  at  tot  departit, 
Entre  les  povres  s'asist  danz  Alexis, 
Receut  l'almosne  quant  Deus  la  li  tramist; 
Tant  en  retint  dont  son  cors  pot  guarir, 
Se  lui  'n  remaint,  si  l'rent  as  poverins. 

21  Or  reviendrai  al  pedre  et  a  la  medre, 
Et  a  la  'spose  qui  sole  fut  remese : 
Quant  il  90  sovrent  qued  il  fuiz  s'en  eret, 
(po  fut  granz  dols  qued  il  en  demenerent, 
Et  granz  deplainz  par  tote  la  contrede. 


296  Das  Leben  des  heiligen  Alexis 


o' 


22  Der  Vater  sprach:  „0  Sohn,  den  ich  verlor." 
Die  Mutter  drauf:  „0  wehe,  was  ging  vor?" 

Es  sprach  das  Weib:    ..Das  Unglück  wirkte  das! 
Freund,  edler  Herr,  wie  kurz  ich  Euch  besafs! 
Kein  giölser  Leid  als  das,  das  mich  erkor." 

23  Der  Vater  dann,  von  Dienern  treugesinnt 
In  vielen  Ländern  suchen  läfst  sein  Kind : 
Bis  hin  nach  Alsis  kommen  ihrer  zween, 
Wo  sie  den  Herrn  Alexis  sitzen  sehn. 
Doch  sie  erkennen  nicht,  bei  wem  sie  sind. 

24  So  hat  verwandelt  er  sein  zart  Gebein, 
Nicht  konnte  er  den  Dienern  kenntlich  sein: 
Ihm  selber  gaben  sie  Almosen  hin, 

Die  er  annahm  mit  demutvollem  Sinn. 
Die  Diener  schifften  nun  alsbald  sich  ein. 

25  So  also  hatten  sie  ihn  nicht  erkannt; 
Alexis  dankt  dafür,  zu  Gott  gewandt, 
Dafs  er  den  Dienern  sein  ein  Bettler  ward, 
Und,  als  ihr  Herr,  verkehrt  nach  Bettlers  Art. 
Wie's  ihn  erfreute  hätt  ich  schwer  bekannt. 

26  Die  Diener  kehren  drauf  nach  Rom  der  Stadt, 
Und  melden,  dafs  sich  nichts  gefunden  hat: 
Ob  er  betrübt  war,  danach  fragt  mich  nicht, 
Der  guten  Mutter  schier  das  Herze  bricht, 
Sie  jammert  um  den  Sohn  nun  früh  und  spat. 

27  „Alexis,  Sohn,  weshalb  gebar  ich  dich? 

Du  bist  entflohn  und  läfst  im  Kummer  mich; 
Ich  w^eifs  den  Ort  nicht,  ich  weifs  nicht  das  Land, 
Wo  du  zu  suchen  und  wo  du  bekannt. 
Nie  freut  dein  Vater,  nie  die  Mutter  sich." 

28  Zur  Kammer  geht  sie  ganz  voll  Kümmernis, 
Wo  in  Verzw^eifhing  sie  nichts  übrig  liefs ; 
Nicht  Seide  bleibet  da,  nicht  Schmuck  und  Zier, 
So  voller  Schmerzen  ist  das  Herze  ihr, 

Und  alle  Freude  sie  von  dannen  wies. 

29  „Dich,  Kammer,"  sagt  sie,  „schmück  ich  nimmerdar, 
Auf  immer  seist  du  aller  Freude  bar." 


Das  Leben  des  heiligen  Alexis.  297 


22  (^0  dist  li  pedre:  „Chiers  filz,  com  t'ai  perdut!" 
Respont  la  medre:  „Lasse,  qu'est  devenuz?" 
^o  dist  la  'spose:  „Pechiez  le  m'at  tolut. 
Amis,  bels  sire,  si  poi  vos  ai  out! 

Or  sui  si  graime  que  ne  pois  estre  plus." 

23  Donc  prent  li  pedre  de  ses  raeilors  serjanz ; 
Par  moltes  lerres  fait  querre  son  enfant. 
Jusqu'en  Alsis  en  vindrent  dui  edrant; 
Hoc  troverent  dan  Alexis  sedant, 

Mais  n'en  conurent  son  vis  ne  son  semblant. 

24  Si  at  li  enfes  sa  tendre  charn  mudede, 
Ne  Treconurent  li  dui  serjant  son  pedre. 
A  lui  medisme  ont  l'almosne  donede; 

II  la  receut  come  li  altre  fredre. 

Ne  l'reconurent,  senipres  s'en  retornerent. 

25  Ne  l'reconurent  ne  ne  l'ont  enterciet. 
Danz  Alexis  en  lodet  Deu  del  ciel 
D'icez  son  sers  cui  il  est  almosniers. 
II  fut  lor  sire,  or  est  lor  provendiers; 
Ne  vos  sai  dire  com  il  s'en  firet  liez. 

26  Cil  s'en  repairent  a  Rome  la  citet, 
Noncent  al  pedre  que  ne  l'povrent  trover; 
S'il  fut  dolenz  ne  l'estot  demander; 

La  bone  medre  s'en  prist  a  dementer, 
E  son  chier  fil  sovent  a  refjjreter: 


27  „Filz  Alexis,  por  quei  t'portat  ta  medre? 
Tu  m'ies  fuiz,  dolente  en  sui  remese. 

Ne  sai  le  leu  ne  nen  sai  la  contrede 

Ou  t'alge  querre;  tote  en  sui  esguarde. 

Ja  mais  n'ierc  liede,  chiers  filz,  ne  n'iert  tes  pedre." 

28  Vint  en  la  chambre,  pleine  de  marrement. 
Si  la  despeiret  que  n'i  remest  nient; 

N'i  laissat  palie*  ne  neul  ornement. 

A  tel  tristor  atornat  son  talent, 

One  pois  cel  di  nes  contint  liedement. 

29  „Chambre,"  dist  ele,  ,.ja  mais  n'estras  parede, 
Ne  ja  ledice  n'iert  en  tei  demenede." 


*  Cfr.  Koland  v.  408  Un  faldestoel  .  .  .  Envolupet  d'un  palie  alexandrin 
(soie  d'Alexandrie).     2973  palie  galazin  (soie  de  Galaza), 


298  Das  Leben  des  heiliircn  Alexis 


ö' 


Zerstört,  als  hätten  Räuber  es  gethan; 

Und  Säcke  hängt,  zerriTsnes  Zeug  sie  an, 

Nach  grofser  Freude  grofs  der  Schmerz  nun  war. 

30  Voll  Schmerz  setzt  sich  zur  Erd'  die  Mutter  hin, 
Alexis'  Weib  zu  ihr  mit  gleichem  Sinn. 

Sie  sprach:  „Grofser  Verlust  uns,  Dame,  ward: 
Nun  lebe  ich  nach  Turteltauben-Art, 
Gewähre  mir,  dafs  ich  bei  dir  nun  bin." 

31  Die  Mutter  sagt  darauf:  „bleibst  du  bei  mir, 
Geb  um  Alexis  ich  gern  alles  dir: 

Nie  hast  du  Leid,  des  ich  dich  heilen  kann, 

Beklagen  lasse  uns  den  teuren  Mann ; 

Um  den  Gemahl  und  Sohn  so  klaoren  wir." 

32  So  schickt  man  sich  in  dieses  Unglück  nun, 
Doch  läfst  der  Schmerz  die  beiden  nimmer  ruhn; 
Alexis  dann  zu  Alsis  in  der  IStadt 

Stets  treuen  Sinns  dem  Herrn  gedienet  hat, 
Und  nie  berückt  die  Seele  solches  Thun. 

33  Zehn  Jahre  lang  und  sieben,  nichts  fehlt  dran, 
Hat  er  in  Not  des  Herren  Dienst  gethan, 

Aus  Freundschaft,  nicht  für  Freundin  oder  Freund, 
Noch  weil  ihm  Ehre  zu  erstreben  scheint ; 
Sein  Lebtag  wendet  ganz  für  Gott  er  an. 

34  Als  er  sein  Herz  so  ganz  dem  Herrn  geweiht, 
Dafs  von  der  Stadt  er  weicht  zu  keiner  Zeit, 
Dem  Bilde  Gott  in  Liebe  Sprache  schenkt, 
Zum  Diener,  der  es  am  Altar  bedenkt: 
„Den  Gottesmann  rufe!"  es  ihm  gebeut. 

35  „Hole,"  so  spricht  das  Bild,  „den  Gottesmann 
'  Hier  in  das  Kloster,  wo  er  Dienst  gethan. 

Wert  ist  er  einzugehn  ins  Paradies." 

Er  geht,  doch  jener  nicht  sich  finden  liefs, 

Der  heil'ge  Mann,  von  dem  das  Bild  hub  an. 

36  Zurück  zum  Klosterbild  der  Küster  kehrt; 
Den  Mann  zu  finden  war  ihm  nicht  beschert; 
Das  Bild  darauf:  „Er  sitzet  an  der  Thür, 
Nah  ist  er  Gott  und  seinem  Himmel  schier; 
Von  dort  vertreibt  ihn  nichts  und  nichts  ihm  wehrt." 

37  Er  geht,  man  holt  ins  Kloster  ihn  sofort, 
Man  hört  das  Wunder  bald  an  jedem  Ort, 


Das  Leben  des  heiligen  Alexis.  '299 

Si  Tat  destruite  com  s'hom  l'oust  predede : 
Sas  i  fait  prendre  e  cinces  deiamedes, 
Sa  grant  honor  a  grant  dol  at  tornede. 

30  Del  dol  s'asist  la  medre  jus  a  terre, 
Si  fist  la  'spose  dan  Alexis  acertes : 
..Dame,"  dist  ele,  ,,jo  ai  fait  si  grant  parte! 
Ore  vivrai  en  gnise  de  tortrele: 

Quant  n'ai  ton  fil,  ensembl'  od  tei  voil  estre." 

31  Respont  la  medre:  „S'od  mei  te  vols  tenir, 
Si  t'^uarderai  por  amor  Alexis, 

Ja  n'avras  mal  dont  te  poisse  guarir. 
Plainons  ensemble  le  dol  de  nostre  ami, 
Tu  del  seinor,  jo  l'ferai  por  mon  fil." 

32  Ne  pot  estre  altre,  metent  Tel  consirrer; 
Mais  la  dolor  ne  podent  oblider. 

Danz  Alexis  en  Alsis  la  citet 
Sert  son  seinor  par  bone  volentet: 
Ses  enemis  ne  l'pot  onc  enganer. 

33  Dis  e  set  anz,  n'en  fut  nient  a  dire, 
Penat  son  cors  el  damne  Deu  servise. 
Por  amistet  ne  d'ami  ne  d'amie, 

Ne  por  honors  qui  lui  fussent  tramises, 
N'en  volt  torner  tant  com  il  ad  a  vivre. 

34  Quant  tot  son  cor  en  at  ßi  atornet 
Que  ja  son  voil  n'istrat  de  la  citet, 
Dens  fist  l'imagene  por  soe  amor  parier 
AI  servitor  qui  serveit  al  alter; 

(^o  li  comandet:  „Apele  l'home  Deu." 

35  Qo  dist  l'imagene:  „Fai  l'home  Deu  venir 
En  cest  monstier,  quer  il  Tat  deservit, 

Et  il  est  dignes  d'entreren  paradis." 

Cil  vait,  si  l'quiert,  mais  il  ne  l'set  choisir, 

Icel  Saint  home  de  cui  l'imagene  dist. 

36  Revint  li  costre  a  l'imagene  el  mostier: 
..Certes,"  dist  il,  „ne  sai  cui  entercier." 
Respont  l'imagene :  „(^o'st  eil  qui  lez  l'us  siet ; 
Pres  est  de  Deu  e  del  regne  del  ciel ; 

Par  nule  guise  ne  s'en  volt  esloinier." 

37  Cil  vait,  si  l'quiert,   fait  l'el  mostier  venir. 
Es  vos  l'esemple  par  trestot  le  pais 


300  Das  Leben  des  heiligen  Alexis 


Dafs  jenes  Bildnis  für  Alexis  sprach  ; 

Nun  ehrt  ihn  grofs  und  klein  den  ganzen  Tag, 

Und  bitten,  dafs  er  ihnen  helfe  hier  und  dort. 

38  Und  als  er  sieht,  wie  sie  ihn  ehren  schier, 
Sagt  er:  „Fürwahr,  nicht  will  ich  bleiben  hier, 
Dafs  nicht  erdrücket  mich  die  Ehre  hat." 

In  einer  Nacht  entflieht  er  aus  der  Stadt, 
Nach  Lalis  wandert  er  aus  dem  Revier. 

39  Alexis  drauf  sich  in  ein  Schiff  begab : 
Der  Wind  war  kräftig  und  man  segelt  ab. 
Gradwegs  nach  Tarsus  er  zu  kommen  denkt, 
Doch  kanns  nicht  sein,  der  Herr  es  anders  lenkt. 
So  segelt  er  denn  orrad  nach  Rom  hinab. 

40  In  einen  Hafen,  der  von  Rom  nicht  fern, 
Bringet  das  Schiff  den  Mann  des  Herrn; 
Als  er  daheim,  ist  er  des  Wunsches  voll, 
Dafs  ihn  der  Seinen  keiner  kennen  soll, 
Die  ihn  mit  Ehren  überhäuften  gern. 

41  .,0  Gott,"  sagt  er,  „du  hoher  Himmelsherr, 
Wenn's  dir  gefällt,  bleib  ich  hier  nimmermehr. 
Wenn  mich  erkennten  meine  Eltern  bald, 
Nähmen  sie  mich  mit  Bitten  und  Gewalt; 
Ich  fürchte,  dafs  es  mein  Verderben  war. 

42  Und  doch,  mein  Vater  sehnet  mich  herbei, 
Die  Mutter  wünschet,  dafs  ich  bei  ihr  sei ; 
Die  Gattin  auch,  die  ich  verlassen  thät. 
Nicht  lafs  ich's  zu,  dafs  man  mich  hier  errät. 
Die  Zeit,  dafs  man  mich  kannt',  ist  wohl  vorbei." 

43  Vom  Schiffe  hat  er  sich  nach  Rom  gewandt, 
Geht  durch  die  Strafsen,  wo  er  wohlbekannt; 
Gar  bald  wird  seines  Vaters  er  gewahr. 
Umgeben  von  der  Diener  grofser  Schar; 

Er  hat  beim  Namen  ihn  sogleich  genannt. 

44  ,,Eufemius,  edler  Herre,  mächt'ger  Mann ; 
Nimm  mich  in  deinem  Haus  aus  Mitleid  an. 
unter  der  Treppe  mach  ein  Bette  mir, 

Um  deinen  Sohn,  der  so  viel  Kummer  dir; 
Dort  schliefs  mich  ein,  doch  nähre  mich  auch  dann." 


Das  Leben  des  heilio-cn  Alexis.  301 


o 


Que  cele  imagene  parlat  por  Alexis. 
Trestoit  l'honorent,  IJ  grant  e  li  petit, 
E  toit  le  preient  que  d'els  aiet  mercit. 

38  Quant  il  90  veit  que  l'volent  honorer: 
„Certes,"  dist  il,  „n'i  ai  mais  ad  ester; 
D'iceste  honor  ne  m'revoil  encombrer." 
En  mie  nuit  s'en  fuit  de  la  citet, 
Dreit  a  Laiice  rejoint  li  sons  edrers. 

39  Danz  Alexis  entrat  en  une  nef: 
Ovrent  lor  vent,  laisent  corre  par  mer. 
Dreit  a  Tarson  espeiret  ariver, 

Mais  ne  pot  estre :  ailors  l'estot  aler. 
Tot  dreit  a  Rome  les  portet  li  orez. 

40  Ad  un  des  porz  qui  plus  est  pres  de  Rome, 
Hoc  arivet  la  nef  a  cel  saint  home. 

Quant  veit  son  regne,  dnrement  se  redotet 
De  ses  parenz,  qued  il  ne  l'reconoissent 
E  de  l'honor  del  siecle  ne  l'encombrent. 

41  „E  Deus,"  dist  il,  „bels  reis  qui  tot  governes, 
8e  tei  ploust  ici  ne  volsisse  estre. 

S'or  me  conoissent  mi  parent  d'este  terre, 
II  me  prendront  par  pri  ou  par  podeste ; 
Se  jo  'sen  creid  il  me  trairont  a  perte. 

42  Mais  ne  por  hoc  mes  pedre  me  desirret, 

Si  fait  ma  medre  plus  que  femme  qui  vivet, 

Avoc  ma  'spose  que  jo  lor  ai  guerpide. 

Or  ne  lairai  ne  m'mete  en  lor  bailie. 

Ne  m'conoistront,  tanz  jors  at  que  ne  mVirent." 

43  Eist  de  la  nef  e  vait  edrant  a  Rome. 

Vait  par  les  rues  dont  il  ja  bien  fut  cointes, 
Altre  pois  altre,  mais  son  pedre  i  encontret, 
Ensembl'  od  lui  grant  masse  de  ses  homes ; 
Si  l'reconut,  par  son  dreit  nom  le  nomet: 

44  „Eufemiens,  bels  sire,  riches  hom, 

Quer  me  herberge  por  Deu  en  ta  maison ; 
Soz  ton  degret  me  fai  un  grabaton:* 
"  Empor  ton  fil  dont  tu  as  tel  dolor. 
Tot  soi  enferms,  si  m'pais  por  soe  amor." 


*  Grabaton.  Cfr.  Passow,  Gr.  Lex.  y.oäßaxooov^  xoaßß^  o,  grabatus, 
Makedon.  Wort.  —  Auch  im  Neuen  Testament  bezeichnet  x^dßaros  das 
(ärmliche)  Ruhebett. 


302  Das  Leben  des  heiligen  Alexis. 

45  Als  seines  Sohnes  Ruf  der  Vater  hört, 
Weinet  sein  Aug,  dem  hat  er  nicht  gewehrt: 
„Um  Gottes  Lieb  und  um  mein  teures  Kind 
Gewähr  ich  gern,  dir  wohlgesinnt, 

Ein  Bett,   und  dafs  Wein,  Fleisch  und  Brot  dich  nährt. 

46  „O,"  spricht  er,  „hätt  nur  einen  Diener  ich 
Für  ihn;  den  machte  frei*  ich  sicherlich." 
Der  Sklaven  einer  tritt  sogleich  herbei: 
„Erlaube,"  sagt  er,  „Herr,  dafs  ich  es  sei; 
Um  deine  Liebe  quäle  gern  ich  mich." 

47  Unter  die  Treppe  führet  er  ihn  nun, 
Macht  ihm  das  Bett  bereit,  darauf  zu  ruhn; 
Besorget  ihm,  wes  er  benötigt  ist; 

Damit  der  Herr  nicht  zürnt,  zu  keiner  Frist; 
Nicht  ist  zu  tadeln  jenes  Dieners  Thun. 

48  Oft  sahen  ihn  die  guten  Eltern  beid'. 
Und  jenes  Mädchen  auch,  das  er  gefreit; 
In  keiner  Weise  spricht  er  jene  an. 
Noch  haben  sie  die  Frage  je  gethan. 
Wer  er  doch  sei,  ob  seine  Heimat  weit. 

49  Oft  sieht  er  sie  gar  grofses  Leid  bestehn, 
Aus  ihren  Augen  viele  Thränen  gehn, 
Alles  für  ihn,  für  sich  nicht,  nimmermehr. 
Er  blickt  sie  an,  verfällt  in  Trauer  sehr. 
Er  hofft  auf  Gott,  so  bleibt  es  ungesehn. 

50  Unter  der  Treppe  ist  er  jeder  Frist, 
Bekommt,  was  von  der  Tafel  übrig  ist ; 
Zu  grofser  Armut  kam  sein  hoher  Stand, 
Er  will  nicht,  dafs  der  Mutter  es  bekannt; 
Mehr  ist  als  Menschen  Gott  ihm,  wie  ihr  wifst. 

51  Vom  Fleische  und  des  Hauses  Überflufs 
Behält  er,  was  sein  Körper  haben  mufs; 
Was  übrig,  hat  der  Arme,  Mann  und  Weib ; 
Nicht  häuft  er's  auf,  noch  mästet  er  den  Leib, 
Den  Ärmsten  immer  giebt  er's  zum  Genufs. 

52  Die  heil'ge  Kirche  er  besuchet  gern, 
Von  keinem  ihrer  Feste  bleibt  er  fern; 

*  Die  Freilassung  des  hörigen  Mannes  ist  im  Mittelalter  die  stehende 
höchste  Belohnung:  die  christliche  Kirche  suchte  dieselbe  zu  fördern  (cfr, 
Macaulay,  Hist.  of  Engl.  I,  auch  Mactatio  Abel,  Townely  Myster.  XIV  saBc). 


Das  Leben  des  heiligen  Alexis.  303 

45  Quant  ot  li  pedre  la  clamor  de  son  fil, 
Plorent  si  oil,  ne  s'en  pot  astenir: 
„Por  amor  Deu  e  por  mon  chier  ami, 

Tot  de  dovrai,  bons  hom,  quantque  m'as  quis, 
Lit  et  hostel  e  pain  e  charn  e  vin. 

46  j^E  Deus,"  dist  il,  „quer  ousse  un  serjant 
Qiii  l'me  guardast:  jo  Ten  fereie  franc." 
Un  en  i  out  qui  senipres  vint  avant: 

„Es  me,"4dist  il,  „qui  l'guard  par  ton  comand ; 
Por  toe  amor  en  soferrai  l'ahan." 

47  Cil  le  menat  endreit  soz  le  degret ; 
Fait  li  son  lit  ou  il  pot  reposer; 

Tot  li  araanvet  quantque  besoinz  li  ert. 
Vers  son  seinor  ne  s'en  volt  mesaler; 
Par  nule  guise  ne  Ten  pot  hom  blasmer. 

48  Sovent  le  virent  e  li  pedre  e  la  medre, 
E  la  pulcele  qued  il  out  esposede : 
Par  nule  guise  onques  ne  l'aviserent; 
N'il  ne  lor  dist,  n'il  ne  li  demanderent 
Quels  hom  esteit  ne  de  quel  terre  il  eret. 

49  Soventes  feiz  lor  veit  grant  dol  mener, 
E  de  lor  oilz  molt  tendrement  plorer, 
E  tot  por  lui,  onques  nient  por  el. 

II  les  esguardet,  si  l'met  el  consirrer; 
N'at  soin  que  l'veiet,  si  est  a  Deu  tornez. 

50  Soz  le  degret  ou  gist  sor  une  nate 

La  le  paist  l'hom  del  relief  de  la  table ; 
A  grant  poverte  deduit  son  grant  barnage, 
(po  ne  volt  il  que  sa  medre  le  Sachet : 
Plus  airaet  Deu  que  trestot  son  lignage. 

51  De  la  viande  qui  del  herbere  li  vient 
Tant  en  retient  dont  soncors  en  sostient; 
Se  lui  'n  remaint  si  l'rent  as  almosniers ; 
N'en  fait  musgode  por  son  cors  engraissier, 
Mais  as  plus  povres  le  donet  a  mangier. 

52  En  sainte  eglise  converset  volentiers; 
Chascune  feste  se  fait  acomungier. 


304  Das  Leben  des  heiligen  Alexis. 

Die  heil'ge  Schrift  ist  Führer  seinem  Sinn, 
Im  Gottesdienst,  wünscht  er,  sie  stärke  ihn ; 
In  keiner  Art  läfst  er  vom  Wort  des  Herrn. 

53  Unter  der  Treppe  ist  er  allezeit, 
Trägt  seine  Armut  er  mit  Freudigkeit ; 
Des  Vaters  Sklaven  haben  sich  erlaubt, 
Schmutz  Wasser  ihm  zu  giefsen  übers  Haupt; 

Nicht  spricht  er  drum,  er  bleibt  vom  Zorne  weit. 

• 

54  Man  peinigt  ihn,  gehöhnet  man  ihn  hat, 
Man  oriefst  ihm  Wasser  auf  die  Laojerstatt. 
Nicht  zürnt  der  heil'ge  Mann,  wie  es  auch  sei, 
Er  bittet  Gott,  dafs  jenen  er  verzeih, 

Da  keiner  weifs,  was  er  begangen  hat. 

55  Also  verweilt  er  dort  bei  siebzehn  Jahr, 
Und  nicht  erkannt  er  von  den  Seinen  war; 
Noch  vvufst'  ein  Mensch  die  Schmerzen,  die  er  trug, 
Als  nur  sein  Bett,  wo  er  ja  lag  genug: 

Er  ändert's  nicht,  dafs  es  nicht  völlig  klar. 

56  Schier  vierunddreifsig  Jahr  er  sich  kasteit. 
Vergelten  will  ihm  Gott  des  Dienens  Zeit ; 
Und  seine  Krankheit  drücket  ihn  gar  sehr, 
Er  weifs,  er  hat  viel  nicht  zu  leben  mehr; 
Und  jenen  Diener  ruft  er  sich  beiseit. 

57  „Hol'  Pergament  und  Tinte,  Bruder,  mir, 
Und  eine  Feder,  dies  bitt  ich  von  dir." 
ICr  giebt's  sogleich  Alexis  in  die  Hand ; 

Der  schreibt  sein  Leben  drauf  bis  an  den  Rand, 
Wie  er  gewandert,  wie  er  ging  von  hier. 

58  Behält's  für  sich,  kein  Mensch  es  jemals  sah, 
Man  soll's  erst  wissen,  wenn  er  nicht  mehr  da. 
Er  hat  sich  Gott  befohlen  ganz  und  gar : 
Sein  Ende  naht,  und  siech  sein  Körper  war; 
Kaum  seinen  Laut  vernimmt  mehr  fern  und  nah. 

59  In  jener  Woche,  da  er  sterben  soll, 

'ne  Stimme  dreimal  in  der  Stadt  erscholl, 
Draufsen  beim  Heiligtum  nach  Gottes  Wort, 
Der  seine  Gläub'gen  alle  rief  nach  dort; 
Nah  ist  die  Glorie  und  das  Leid  ist  voll. 

60  Die  zweite  Stimme  laut  man  hören  kann ; 
Zu  Rom  soll  suchen  man  den  Gottesmann; 


Das  Leben  des  heiligen  Alexis.  305 


o 


Sainte  escriture  90  ert  ses  conseiliers ; 
Del  Deu  servise  le  rovet  esforcier; 
Par  nnle  guise  ne  s'en  volt  esloinier. 

ö3  Soz  le  degret  ou  il  gist  e  converset, 
Hoc  deduit  liedement  sa  poverte. 
Li  seif  son  pedre  qui  la  maisniede  servent 
Lor  lavediires  li  getent  sor  la  teste: 
Ne  s'en  corocet  ned  il  ne's  en  apelet. 

54  Toit  l'escharnissent,  si  l'tienent  por  bricon, 
L'egue  li  getent,  si  moilent  son  lin^ol. 

Ne  s'en  corocet  giens  eil  saintisme  hom, 
Ainz  preiet  Deu  qued  il  le  lor  pardoinst 
Par  sa  mercit,  quer  ne  sevent  que  fönt. 

55  Hoc  converset  eisi  dis  e  set  ans. 
Ne  l'reconut  nuls  sons  apartenanz, 
Ne  neuls  hom  ne  sout  les  sons  ahanz, 
Fors  sol  li  liz  ou  il  at  get  tant : 

Ne  pot  müder  ne  seit  aparissant. 

56  Trente  quatre  anz  at  si  son  cors  penet. 
Deus  son  servise  li  volt  gueredoner : 
Molt  li  engrieget  la  soe  enfermetet. 

Or  set  il  bien  qued  il  s'en  deit  aler; 
Gel  son  serjant  ad  a  sei  apelet. 

57  „Quier  mei,  bels  fredre,  et  enque  e  parchamin 
Et  une  penne,  90  pri  toe  mercit." 

Cil  li  aportet ;  receit  les  Alexis  : 

De  sei  raedisme  tote  la  chartre  escrist, 

Com  s'en  alat  e  com  il  s'en  revint, 

58  Tres  sei  la  tent,  ne  la  volt  demostrer, 
Ne  l'reconoissent  usqu'il  s'en  seit  alez. 
Parfitement  s'ad  a  Deu  comandet: 

Sa  fin  aproismet,  ses  cörs  est  agravez; 
De  tot  en  recesset  del  parier. 

59  En  la  samaine  qued  il  s'en  dut  aler, 
1  Vint  une  voiz  treis  feiz  en  la  citet 

Hors  del  sacrarie  par  comandement  Deu, 

Qui  ses  fideilz  li  at  toz  envidez. 

Prest  est  la  glorie  qued  il  li  volt  doner. 

CO  A  l'altre  voiz  lor  vint  altre  somonse 

Que  l'home  Deu  quiergent  qui  gist  en  Rome, 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    LXXIII.  20 


506  Das  Leben  des  heiligen  Alexis. 

Sie  bitten  ihn  um  Gnade  für  die  Stadt, 
Dafs  nicht  umkomme,  wer  drin  Leben  hat. 
Wer  es  gehöret,  den  hält  Furcht  in  Bann. 

61  Sankt  Innocenz  war  Papst,  ein  heil'ger  Mann, 
Zu  ihm  kommt  arm  und  reich  und  fragt  sodann 
Um  seinen  Rat  in  jener  Sache  ihn, 

Die  sie  gehört  und  die  verwirrt  den  Sinn ; 
Sie  warten  nicht  bis  ihn  die  Erd'  gewann. 

62  Der  Kaiser  und  der  Papst  noch  überdies, 
Honorius  er,  der  andr'  Arcadius  hiefs. 
Und  alles  Volk,  sie  beten  insgemein, 

Es  gäbe  ihrem  Rate  Gott  Gedeihn 

Mit  diesem  Heil'gen,  der  sie  löst  gewifs. 

63  Dies  bitten  sie  von  seinem  Herzen  weich, 
Dafs  er,   wo  man  ihn  finde,  ihnen  zeig ; 
Und  eine  Stimme  kommt,  die  ihnen  sagt. 
Im  Hause  des  Eufemius  nach  ihm  fragt; 
Dort  werdet  ihr  ihn  finden  alsogleich. 

64  Zu  Herrn  Eufemius  kehren  sie  sodann, 
Und  heben  sehr  ihn  drum  zu  schelten  an: 
„Dies  konntest  du  uns  wohl  zu  wissen  thun. 
Das  ganze  Volk  ist  trost-  und  ratlos  nun; 
Du  hast's  verhehlt,  hast  grofse  Sund  gethan." 

65  Er  flüchtet,   thut  als  hätt  er  nichts  gewufst. 
Zur  Täuschung  haben  jene  wenig  Lust. 

Das  Haus  zu  schmücken  dieser  vorwärts  eilt, 
Und  er  erforscht  die  Diener  unverweilt, 
Doch  unbelehrt  er  allzeit  bleiben  mufst'. 

66  Der  Kaiser  und  der  Papst  ebensowohl 

Auf  Bänken  sitzen  schmerz-  und  trauervoll; 
Und  sie  erblicken  diesen  hohen  Herrn, 
Und  sie  vernähmen  Gottes  Ratschlufs  gern 
Von  jenem  Heiligen,  der  helfen  soll. 

67  Indes  sie  sitzen,  nur  Gebet  im  Sinn, 
Schwebt  körperlos  Alexis'  Seele  hin; 
Gradweges  geht  zum  Paradies  sie  ein. 

Zu  Gott,  dem  er  gedient  so  treu  und  rein, 
0  Himmelsherr,  empfang  auch  uns  darin  I 

68  Der  Diener,  der  ihn  stets  so  gern  bedacht, 
Hat  Nachricht  gleich  Eufemius  gebracht; 


Das  Leben  des  heiligen  Alexis.  307 


'o 


Si  li  depreient  quo  la  citet  ne  fondet, 

Ne  ne  perissent  la  gent  qui  enz  fregondent. 

Qui  Tont  odit  remainent  en  grant  dote. 

61  Sainz  Innocenz  ert  idonc  apostolies : 
A  Uli  en  vindrent  e  li  riebe  e  li  povre, 
Si  li  requierent  conseil  d'icele  chose 
Qu'il  ont  odide,  qui  molt  les  desconfortet: 
Ne  guardent  l'hore  qua  terre  les  enclodet. 

62  Li  apostolies  e  li  emperedor 

—  Li  uns  Arcadie,  li  altre  Honorie  out  nom  - 
E  toz  li  poples  par  commune  oraison 
Depreient  Deu  que  conseil  lor  en  doinst 
D'icel  Saint  home  par  qui  il  guariront. 

63  Qo  li  depreient,  la  soe  pietet, 

Que  lor  enseint  ou  l'poissent  recovrer. 
Vint  une  voiz  qui  lor  ad  enditet: 
„En  la  maison  Eufemien  quereiz, 
Quer  iloc  est,  e  la  le  trovereiz." 

64  Toit  s'en  retornent  sor  dan  Eufemien ; 
Alquant  le  prenent  fortment  a  blastengier: 
„Iceste  chose  nos  douses  noncier 

A  tot  le  pople  qui  est  desconseiliez : 
Tant  l'as  celet  molt  i  as  grant  pechiet." 

65  II  s'escondit  com  li  hom  qui  nel  set; 
Mais  ne  l'en  creient,  al  herbere  sont  alet. 
II  vait  avant  la  maison  aprester; 
Fortment  l'enquiert  a  toz  ses  menestrels : 
Icil  respondent  que  neuls  d'els  ne  l'set. 

66  Li  apostolies  e  li  emperedor 
Siedent  es  bans  e  pensif  e  ploros; 
Iloc  esguardent  toit  eil  altre  seinor, 
Depreient  Deu  que  conseil  lor  en  doinst 
D'icel  Saint  home  par  qui  il  guariront. 

67  En  tant  dementres  com  il  iloc  ont  sis 
Deseivret  l'aneme  del  cors  saint  Alexis; 

.   Tot  dreitement  en  vait  en  paradis 
A  son  seinor  qu'il  aveit  tant  servit. 
E  reis  Celestes,  tu  nos  i  fai  venir! 

68  Li  bons  serjanz  qui  l'serveit  volentiers 
II  le  non^at  son  pedre  Eufemien: 

20  = 


308  Dns  Leben  des  heiligf^n  Alexis 


Sanft  hebt  er  an  und  milde  redet  er  : 

„Tot  ist  der  ]\[ann,  den  du  gepflegt,  o  Herr! 

Ein  guter  Christi    Das  sag  ich  unverzagt. 

69  Lang  war  ich  bei  ihm,  stets  und  immerdar, 
Wufst  nicht  zu  tadeln  an  ihm  nur  ein  Haar, 
Dafs  er  ein  Gottesmann,  hab  ich  erkannt." 
Eufemius  hat  sich  gleich  von  ihm  gewandt 
Zum  Sohn,  der  unter  jener  Treppe  war. 

'^'0  Die  Decken  über  ihm  hinweg  er  zieht, 
Des  heil'gen  Mannes  klar  Gesicht  er  sieht; 
In  Händen  hält  der  Gottesknecht  das  Blatt, 
Darauf  sein  Leben  er  beschrieben  hat ; 
Was  es  bedeut',  Eufemius  gern  erriet. 

71  Er  will  es  nehmen,  jener  läfst  es  nicht, 

Und  zu  dem  Papste  ganz  verwirrt  er  spricht: 
„Ich  fand,  was  wir  gesucht  mit  so  viel  Not, 
Unter  der  Treppe  liegt  ein  Pilger  tot. 
Hält  fest  ein  Blatt,  obwohl  er  leblos  liegt." 

72  Der  Kaiser  und  der  Papst  auch  gleicherweis 
Erscheinen,  bringen  dar  Gebete  heifs, 
Kastein  den  Leib  und  laut  sie  heben  an: 
„Erbarmen,  ach  Erbarmen,  heil'ger  Mann! 
Wer  bist  du?    Nicht  man  dich  zu  nennen  Aveifs. 

73  Zwei  Sünder,  siehe,  stehen  da  vor  dir, 
Durch  Gottes  Gnade  heifsen  Kaiser  wir; 
Durch  sein  Verdienst  die  Ehre  auf  uns  fällt, 
Wir  sind  die  Richter  über  alle  Welt, 

Doch  deines  Rats  bedürftisr  stehn  wir  hier. 


o 


74  Die  Seelen  wahrt  der  Priester  allbereit, 
Es  ist  sein  Amt,  das  hegt  er  allezeit; 
Gieb  ihm  nach  deiner  Müdigkeit  das  Blatt, 
Er  sag  uns,  was  er  drauf  gefunden  hat, 

O  gäbe  Gott  uns  draus  die  Seligkeit." 

75  Der  Priester  nun  nach  jenem  Blatte  reicht, 
Alexis  drauf  der  seinen  fügsam  weicht,  * 
Er  reicht  es  dem,  der  Papst  zu  Rome  war, 
Doch  liest  er's  nicht  sobald  er  des  gewahr; 
Zuvor  er's  einem  Hochgelahrten  zeigt. 


*  Die  Hand  des  Toten  hält  das  Blatt  fest,  bis  derjenige  kommt,  in 
dessen  Hand  es  zu  kommen  bestimmt  ist.  Ganz  dasselbe  haben  wir  im 
Rolandsliede. 


Das  Leben  des  heiligen  Alexis.  309 


Soef  l'apelet,  si  li  at  conseiliet: 

„vSire,"  dist  il,  „morz  est  tes  provendiers, 

E  90  sai  dire  qu'il  fut  bons  cristiens. 

69  Molt  longement  ai  od  lui  converset: 
De  nule  chose  certes  ne  l'sai  blasrner, 

E  90  ni'est  vis  que  co  est  li  hom  Den." 
Toz  sols  s'en  est  Eufemiens  tornez, 
Vint  a  son  fil  on  gist  soz  son  degret. 

70  Les  dras  sozlievet  dont  il  esteit  coverz, 
Vit  del  Saint  home  le  vis  e  der  e  bei; 
En  son  poing  tient  sa  chartre  li  Den  sers 
Ou  ad  escrit  trestot  le  son  conversj 
Eufemiens  volt  saveir  qued  espelt, 

71  II  la  volt  prendre,  eil  ne  li  volt  guerpir; 
A  l'apostolie  revint  toz  esmariz: 

„Ore  ai  trovet  90  que  tant  avons  quis: 
Soz  mon  degret  gist  uns  morz  pelerins; 
Tient  une  chartre,  mais  ne  li  pois  tolir." 

72  Li  apostolies  e  li  emperedor 
Vienent  devant,  getent  s'en  oraisons, 
Metent  lor  cors  en  granz  aflictions ; 
„Mereit,  mercit,  mercit,  saintismes  hom ! 
Ne  t'conouraes  n'uncor  ne  t'conoissons. 

73  Ci  devant  tei  estont  dui  pechedor: 
Par  la  Deu  grace  vochiet  emperedor: 
(^o'st  sa  mercit  qu'il  nos  consent  l'honor; 
De  tot  est  mond  somes  nos  jugedor, 

Del  ton  conseil  somes  tot  bosoinos. 

74  Cist  apostolies  deit  les  anemes  baillir, 
^o'st  ses  mestiers  dont  il  ad  a  servir: 
Rent  li  la  chartre  par  la  toe  mercit; 
(^o  nos  dirat  qu'enz  troverat  escrit, 

E  90  doinst  Deus  qu'or  en  poissons  guarir." 

75  Li  apostolies  tent  sa  main  a  la  chartre, 
Sainz  Alexis  la  soe  li  alaschet : 

Lui  la  consent  qui  de  Rome  esteit  pape, 
II  ne  la  list  ned  il  dedenz  n'esguardet ; 
Avant  la  tent  ad  un  bon  clerc  e  savie. 


310  Das  Leben  des  heiligen  Alexis. 


o* 


76  Des  Kaisers  Kanzler,  der  sein  Amt  wohl  kennt, 
Liest  nun  den  andern  vor  das  Pergament: 
Wie  man  gefunden  dort  den  heil'gen  ^lann, 
Er  sagt  der  Eltern  Namen  ihnen  an. 
Und  Herkunft  und  Geschlecht  er  ihnen  nennt. 

7"  Wie  er  zur  See  sich  dann  entfernet  hat, 
Und  wie  er  dann  zu  Alsis  war,  der  Stadt, 
Wie  Gott  für  ihn  das  Bildnis  sprechen  hiefs, 
Doch  er  mit  Ruhm  sich  nicht  bedecken  liei's. 
Wie  er  nach  Kom  sodann  entfliehen  that. 

78  Der  Vater  höret,  was  das  Blatt  bewahrt, 
Und  rauft  mit  beiden  Händen  seinen  Bart: 
„O  Sohn,"  sagt  er,  „wie  trauervolle  Mär! 
Ich  hoffte  lebend  deine  Wiederkehr, 

Dafs  mir  ein  Trost  durch  Gottes  Gnade  ward." 

79  Und  laut  der  Vater  hebt  zu  rufen  an: 

„O  Sohn,  welch  Kummer  ist  mir  angethan! 
Ein  schlechtes  Obdach  bot  mein  Haus  dir  dar, 
O,  wie  ich  Sünder  doch  verblendet  war! 
Ich  sah  dich,  doch  nicht  Einsicht  ich  gewann. 

80  Alexis,  Sohn,  o  deiner  Mutter  Schmerz! 
So  vielen  Kummer  trug  um  dich  ihr  Herz. 
Und  so  viel  Hunger  litt  sie,  Durst  so  viel, 
Und  heifs  die  Thräne  ihrem  Aug  entfiel; 
Der  neue  Kummer  beugt  sie  grabeswärts. 

81  O  Sohn,  wem  bringe  ich  mein  Erbe  dar, 
Die  weiten  Ländereien  ganz  und  g-ar. 

Den  grofsen  Palast  auch  in  Rom  der  Stadt? 
Um  dich,  o  Sohn,  mein  Herz  gesorget  hat: 
Nach  meinem  Tode  all  das  dein'ge  war. 

82  Weifs  ist  mein  Haupt  und  gänzlich  grau  mein  Bart; 
All  mein  Besitz  hatt  ich  um  dich  gespart, 

Mein  Sohn,  doch  trugst  du  darum  Sorge  nicht. 
Welch  grofser  Schmerz   auf  mich  herniederbricht! 
Sei  deine  Seel  im  Himmel  aufbew^ahrt! 


Djis  Leben  des  heiligen  Alexis.  311 


'b 


i 


76  Li  chancelicrs  cui  11  niestiers  en  eret 
Cil  list  la  chartre,  li  altre  l'escolterent. 
D'Icele  gemme  qued  iloc  ont  Irovede 
Lor  dist  le  nom  del  pedre  e  de  la  medre. 
E  90  lor  dist  de  quels  parenz  il  eret. 

77  E  90  lor  dist  com  s'en  fuit  par  mer, 
E  com  il  fut  en  Alsis  la  citet, 

E  com  l'imagene  Dens  fist  por  lui  parier, 
E  por  l'honor  dont  ne  s'volt  encombrer 
b'en  refuit  en  Rome  la  citet. 

78  Quant  ot  li  pedre  90  que  dit  at  la  chartre, 
Ad  ambes*  mains  derompt  sa  blanche  barbe. 
„E  filz,"  dist  il,  „com  dolores  message ! 
Vifs  atendeie  qued  a  mei  repairasses, 

Par  Deu  mercit  que  tu  m'reconfortasses." 

79  A  halte  vois  prist  li  pedre  a  crider : 
„Filz  Alexis,  quels  dols  m'est  presentez! 
Malvaise  guarde  t'ai  fait  soz  mon  degret. 
A  las  pechables,  com  par  fui  avoglez ! 
Tant  Tai  vedut,  si  ne  l'poi  aviser. 

80  Filz  Alexis,  de  ta  dolente  medre! 
Tantes  dolors  at  por  tei  enduredes, 

E  tantes  fains  e  tantes  seiz  passedes, 

E  tantes  lairraes  por  le  ton  cors  ploredes! 

Cist  dols  l'avrat  enquoi  par  acorede. 

81  0  filz,  cui  ierent  mes  granz  hereditez, 
Mes  larges  terres  dont  jo  aveie  asez, 
Mi  granz  palais  en  Rome  la  citet? 
Empor  tei,  filz,  m'en  esteie  penez: 
Pois  mon  deces  en  fusses  honorez. 

82  Blanc  ai  le  chief  e  la  barbe  chanude; 
Ma  grant  honor  aveie  retenude 
Empor  tei,  filz,  raais  n  en  aveies  eure. 
Si  grant  dolor  oi  m'est  apareude! 

Filz,  la  tue  aneme  seit  el  ciel  absolude.** 


*  Ebenso  rauft  Charlemagne  beim  Anblick  von  Rolands  Leiche  (Ch. 
de  R.  2906)  ses  Crignels  pleines  ses  mains  ambsdous.  —  Überhaupt  haben 
die  dortigen  Klageergüsse  Karls  d.  Gr.  mit  den  unserigen  im  Alexisliede 
überraschende  Ähnlichkeit. 

**  Rol.  2934:  L'anme  de  tei  en  pareis  soit  mise! 


312  Das  Leben  des  heiligen  Alexis. 

83  Den  Helm,  den  Harnisch  tragen  kam  dir  zu, 
Das  Schwert  der  Edlen  führen  mufstest  du, 
Ein  grofses  Haus  dir  zu  verwalten  war, 
Des  Kaisers  Banner  auch  zu  tragen  gar. 
Wie  deinen  Vätern,  sonder  Rast  und  Ruh. 

84  Zu  solchem  Schmerz,  zu  grofser  Armut  schier, 
Begabst  du  dich,  mein  Sohn,  in  fremd  Revier. 
Das  Gut,  das  ganz  das  deine  sollte  sein, 

Das  biifstest  du  auf  armem  Lager  ein ; 
Wenn's  Gott  gefiel,  ward  es  zu  eigen  dir." 

85  Der  Vater  rast,  laut  ist  sein  Schmerzensschrei, 
Es  kommt  die  Mutter  auf  den  Lärm  herbei, 
Sie  stürzt  voll  Schreck  herzu,  wie  sinnberaubt, 
Schlägt  ihre  Brüste  und  zerrauft  das  Haupt; 
Und  sie  sinkt  um,  als  ob  sie  leblos  sei. 

86  Wer  sie  so  grofse  Trübsal  leiden  sah, 

Die  Brüste  schlagen,  wie  ihr  Weh  geschah, 
Das  Haar  zerzaust,  das  Angesicht  entstellt, 
Wie  um  den  Hals  dem  toten  Sohn  sie  fällt, 
Blieb  nimmer  hart  und  stand  voll  Thränen  da. 

87  Sie  ranft  das  Haar  und  macht  sich  grofse  Pein, 
Erfüllt  mit  grofsen  Schmerzen  ihr  Gebein: 

„0  Sohn,  du  hast  von  uns  gewendet  dich, 
Und  ich  voll  Schmerz,  wie  war  verblendet  ich ! 
Nicht  kannt'  ich  dich,  als  warst  du  niemals  mein." 

88  Ihr  Auge  weint,  in  lautes  Weh  bricht  sie; 
Sie  ruft:  „0  hätt  ich  dich  geboren  nie! 
Mit  deiner  Mutter  hattst  du  kein  Mitleid? 
Zu  sterben  war  ich  gern  für  dich  bereit ; 
Du  aber  sprachest  zum  Erbarmen:  Flieh! 

89  Ich  Unglücksmutter,  welcher  Schmerz  war  mir! 
Tot  seh  ich  den,  den  ich  getragen  hier: 

Mein  grofses  Harrn  zu  grofsem  Kummer  kam; 

Was  thu  ich,  da  das  Unglück  nahm  ? 

Ein  W^under  ist's,  dafs  ich's  noch  trage  schier." 

90  Alexis,  vSohn,  wie  war  dein  Sinn  so  hart, 
Als  du  verlassen  unsre  Gegenwart! 


Das  Leben  des  heilicien  Alexis.  313 

83  Tei  covenist  helme  e  bronie  a  porter, 
Espede  ceindre  come  tui  altre  per, 

E  orrant  maisniede  doiises  governer, 
Le  gonfanon*  l'emperedor  porter, 
Com  fist  tes  pedre  e  li  tons  parentez. 

84  A  tel  dolor  et  a  si  grant  poverte, 
Filz,  t'ies  deduiz  par  alienes  terres, 
E  d'icel  bien  qui  toz  doust  tons  estre 
Poi  en  perneies  en  ta  povre  Herberge: 
8e  Deu  ploust  sire  en  dousses  estre." 

85  De  la  dolor  que  demenat  li  pedre 
Grant  fut  la  noise,  si  l'entendit  la  medrc. 
La  vint  corant  com  femme  forsenede, 
Batant  ses  palmes,  cridant,  eschevelede : 
Veit  mort  son  fil,  a  terre  chiet  pasmede. 

86  Qtii  donc  li  vit  son  grant  dol  demener, 
Son  piz  debatre  e  son  cors  degeter, 
Ses  crins  derompre,  son  vis  demaiseler, 
E  son  mort  fil  detraire  et  acoler, 

N'i  ont  si  dur  cui  n'estoust  plorer. 

87  Trait  ses  chevels  e  debat  sa  peitrine; 
A  grant  dol  met  la  soe  charn  medisme: 
„E  filz,"  dist  ele,  „com  m'ous  enhadide! 
E  jo  dolente,  com  par  fui  avoglide! 

Ne  l'conoisseie  plus  qu'onques  ne  l'redisse." 

88  Plorent  si  oil  e  si  getet  granz  criz ; 
Sempres  regretet:  „Mar  te  portai,  bels  fils! 
E  de  ta  medre  que  n'aveies  mercit? 

Por  tei  m'redeies  desirrer  a  morir: 

^o'st  grant  merveile  que  pitet  ne  t'en  prist. 

89  A  lasse  mesre,  com   oi  fort  aventure ! 
Ci  veo  jo  morte  tote  ma  portedure. 

Ma  longe  atente  a  grant  dol  est  venude. 

Que  porrai  faire,  dolente,  malfedude? 

(^o'st  grant  merveile  que  li  miens  cors  tant  duret. 

90  Filz  Alexis,  molt  ous  dur  corage. 
Com  adosas'tot  ton  gentil  linage? 


*  Cfr.    Gautier,    Ch.    de    Roland   p.  404:    „Au    haut   de  la   lance   est 
attache,  est  ,fernie'  le  gonfanon  ou  l'enseigne." 


314  Das  Leben  des  heiligen  Alexis 


o 


Hältst  du  zu  mir  gesprochen  nur  einmal, 

Du  hättst  mir  Trost  gebracht  in  meiner  Qual; 

Der  Mutter,  teurer  Sohn,  war  viel  erspart. 

91  Alexis,  Sohn,  ach  um  dein  zart  Gebein! 

Zu  welchem  Schmerz  ging  deine  Jugend  ein! 
Du  flohst  vor  mir,  ach,  deren  Leib  dich  trug; 
Wie  ich  voll  Schmerz!  Gott  weifs  es,  ach  genug. 
Bei  Mann  und  Weib,  nie  werd  ich  fröhlich  sein. 

92  0  Sohn,  was  habe  ich  nach  dir  verlangt! 
Als  ich  dich  trug,  wie  habe  ich  gebangt! 
Als  ich  dich  sah,  da  war  ich  voller  Freud'; 
Nun  bist  du  tot,  des  hab  ich  Herzeleid ; 

O  kam  der  Tod,  wie  hätt  ich  Gott  gedankt! 

93  Ihr  Herren  Roms,  stimmt  an  den  Klageton, 
Helft  mir  beklagen  ihn,  der  uns  entflohn. 
Viel  Kummer  hat  betroffen  mich  und  Schmerz, 
Nicht  sättigt  sich  an  Klagen  je  mein  Herz. 
Zuviel!     Nicht  Tochter  habe  ich  noch  Sohn." 

94  Während  der  Eltern  grofser  Traurigkeit 
Erscheint  das  Mädchen,  das  er  einst  gefreit. 
„Herr,  grofse  Schmerzen,"  spricht  sie,  „hielt  ich  aus, 
Erwartend  dich  in  deines  Vaters  Haus, 

Wo  du  mich  liefsest  voller  Herzeleid. 

95  Alexis,  lange  sehnt  ich  mich  nach  dir, 
Und  viele  Thränen  hat's  gekostet  mir; 
Nach  dir  geschauet  habe  ich  so  oft ; 

Und  dafs  du  wieder  kämst,  hab  ich  gehofft; 
Nicht  that  aus  Trägheit  ich's  noch  Ungebühr. 

96  0  teurer  Freund,  um  deine  Jugend  schön, 
Die  bald  nun  soll  die  Erde  decken  gehn; 

O  edler  Mensch,   du   hast  uns  Schmerz  gebracht; 

Gutes  zu  hören  hatte  ich  gedacht; 

Nun  mufs  ich,  ach,  so  Schlimm'  und  Hartes  sehn. 

97  O  schöner  Mund,  o  schönes  Angesicht, 
Wiedererkenn  ich  deine  Schönheit  nicht! 
Mehr  liebt  ich  euch  als  jede  Kreatur, 

Nun  aber  hab  ich  nichts  als  Schmerzen  nur, 
Wie  gern  entbehrte  ich  des  Lebens  Licht. 

98  Hätt  ich  gekannt  dich  unter  unserm  Dach, 
Wo  du  so  lang  gelegen  krank  und  schwach, 


I 


Das  Leben  des  heiligen  Alexis.  315 


'ö 


Sed  a  mei  sole  vels  une  feiz  parlasses, 

Ta  lasse  medre  si  la  reconfortasses 

Qiii  si'st  dolente,  chiers  filz,  bor  i  alasses. 

91  Filz  Alexis,  de  la  toe  charn  tendre ! 
A  quel  dolor  deduit  as  ta  jovente! 

Por  quei  m'fiiiz  ?  ja  t'portai  en  mon  ventre; 

E  Deus  le  set  qiie  tote  sni  dolente: 

Ja  mais  n'ierc  liede  por  home  ne  por  femme. 

92  Ainz  qne  t'ousse  si'n  fui  molt  desirrose; 
Ainz  que  nez  fusses  si'n  fui  molt  anguissose  ; 
Quant  jo  t'vid  net  si'n  fui,  liede  e  goiose; 
Or  te  vei  mort,  tote  en  sui  coro^ose : 

Qo  peiset  mei  que  ma  fin  tant  demoret. 

93  Seinors  de  Rome,  por  amor  Deu,  mercit : 
Aidiez  m'a  plaindre  le  dol  de  mon  ami. 
Granz  est  li  dols  qui  sor  mei  est  vertiz; 
Ne  pois  tant  faire  que  mes  cors  s'en  sazit; 
II  n'est  merveile:  n'ai  mais  filie  ne  fil." 

94  Entre  le  dol  del  pedre  e  de  la  medre 
Vint  la  pulcele  qued  il  out  esposede: 
„Sire,"  dist  ele,  „com  long  demorede 
Ai  atendude  en  la  maison  ton  pedre, 
Ou  tu  m'laisas  dolente  et  esguarede ! 

95  Sire  Alexis,  tanz  jorz  t'ai  desirret, 

E  tantes  lairmes  por  le  ton  cors  ploret, 
E  tantes  feiz  por  tei  en  loinz  guardet, 
Se  revenisses  ta  'spose  conforter, 
Por  felonie  nient  ne  por  lastet. 

96  0  chiers  amis,  de  ta  jovente  bele !  * 
^o  peiset  mei  qne  tei  podrirat  terre ! 

E  gentils  hom,  com  dolente  pois  estre! 
Jo  atendeie  de  tei  bones  noveles, 
Mais  or  les  vei  si  dures  et  si  pesmesi 

97  Obele  boche,  bels  vis,  bele  faiture, 
Com  est  mudede  vostre  bele  figure! 
Plus  vos  amai  qne  nule  creature. 
Si  grant  dolor  oi  m'est  aparende, 
Mielz  me  venist,  amis,  que  morte  fusse. 

98  ,,Se  jo  t'sousse  la  jus  soz  le  degret, 
Ou  as  geut  de  longe  enfermetet, 


•  Cfr.  Rol.  2916. 


316  Das  Leben  des  heiligen  Alexis. 


Das  ganze  Volk  nicht  hätte  mir  gewehrt, 
Dafs  ich  mit  dir  zusammen  dort  verkehrt, 
Ich  hätte  dich  gepfleget  alle  Tag'." 

99  „Nun,"  sprach  das  junge  Weib,  „bin  Witwe  ich, 
Und  nimmer  hab  ich  Freude  sicherlich; 
Ein  andrer  Man"n  zu  teil  mir  nimmer  wird, 
Gott  werd  ich  dienen,  der  die  Welt  regiert; 
Wenn  ich  ihm  diene,  trifft  kein  Mangel  mich." 

100  So  jammerte  das  arme  Elternpaar, 
Das  Weib,  bis  alles  fortgegangen  war; 
Indes  den  heil'gen  Leib  sie  schmücken  gern, 
Und  köstlich  rüsten  ihn  die  hohen  Herrn. 
Beslückt,  wem  man  bringt  Glaubens  Ehre  dar! 

101  „Ihr  Herrn,"  der  Priester  spricht,  „was  treibet  ihr? 
Welch  Schreien  ?     Endet  dieses  Lärmen  hier. 
In  unsei-m  Aug  ist's  Freud,  was  es  auch  sei; 
Sein  Fürsprach  machet  uns  der  Sünde  frei ; 
Dafs  er  die  Übel  löse,  bitten  wir." 

102  Alles  ergreift  ihn,  was  herzu  nur  kann, 
Und  singend  tragen  sie  den  heil'gen  Mann ; 
Und  alles  bittet  um  Erbarmen  ihn. 

Nicht  Mahnung  braucht's,  andre  herbeizuziehn, 
Denn  Klein'  und  Grofse  drängen  sich  heran. 


o 


103  So  ist  das  ganze  Volk  von  Rom  erregt, 

Ein  jeder  kommt  so  schnell  der  Fufs  ihn  trägt; 
In  allen  Strafsen  eilen  sie  zuhauf, 
Nicht  Graf  und  König  stören  ihren  Lauf; 
Nichts  hat  sie  über  ihn  hinaus  bewegt. 

104  So  haben  unter  sich  die  hohen  Herrn  geredt: 
„Grofs  ist  das  Drängen,  keiner  vorwärts  geht, 
Um  diesen  Heil'gen,  den  gesandt  der  Herr, 
Ist  froh  das  Volk,  das  ihn  ersehnte  sehr; 
Und  unbeweglich  alles  bei  ihm  steht." 

105  Es  sprechen  die,  die  übers  Reich  Gewalt: 
„Geduld,  ihr  Herrn,  das  bessern  wir  wohl  bald; 
Wir  teilen  reichlich  Geld  und  Geldeswert, 
Was  ja  die  Hand  des  Armen  stets  begehrt: 
Leicht  findet  Platz,  wer  nur  recht  reichlich  zahlt." 

106  So  holt  man  Silber  denn  hervor  und  Gold, 
Das  bald  auch  vor  der  Armen  Füfsen  rollt; 


Das  Leben  des  heiligen  Alexis.  317 

Ja  tote  gent  ne  m'soussent  torner 
Qu'ensembl'  od  tei  n'ousse  converset; 
Se  me  leust  si  t'onsse  guardet." 

99  „Or  par  sui  vedve,  sire,"  dist  la  pulcele, 
„Ja  mais  ledice  n'avrai,  quer  ne  pot  estre, 
Ne  ja  mais  home  n'avrai  charnel  en  terra. 
Deu  servirai,  li  rei  qui  tot  governet: 
II  ne  m'faldrat  s'il  veit  que  jo  lui  serve." 

100  Tant  i  plorerent  e  11  pedre  e  la  medre 
E  la  pulcele,  que  toit  s'en  alasserent. 

En  tant  dementres  le  saint  cors  conreerent 
Toit  eil  seinor  e  bei  l'acostumerent. 
.  Com  felix  cel  qui  par  feit  l'honorerent ! 

101  „Seinors,  que  faites?"  90  dist  li  apostolies, 
„Que  valt  eist  criz,  eist  dols  ne  cesta  noise? 
Cui  que  seit  dols,  a  nostre  os  est  il  goie; 
Quer  par  cestui  avrons  bone  adjutorie. 

Si  li  preions  que  de  toz  mais  nos  tolget." 

102  Trestoit  le  prenent  qui  povrent  avenir; 
Chantant  en  portent  le  cors  saint  Alexis, 
E  toit  li  preient  que  d'els  aiet  mercit. 
N'estot  somondre  icels  qui  l'ont  odit : 
Toit  i  acorent  li  grant  e  li  petit. 

103  Si  s'en  commovrent  tote  la  gent  de  Roma 
Plus  tost  i  vint  qui  plus  tost  i  pout  corre : 
Parmi  les  rues  en  vienent  si  granz  torbes 
Ne  reis  ne  cons  n'i  pot  faire  entrerote, 
Ne  le  saint  cors  ne  povrent  passer  oltre. 

104  Entr'  eis  en  prenent  eil  seinor  a  parier: 
„Grant  est  la  presse,  nos  n'i  podrons  passer; 
Por  cest  saint  cors  que  Deus  nos  at  donet 
Liaz  est  li  poples,  qui  tant  l'at  desirret: 

Joit  i  acorentj  nuls  ne  s'en  volt  torner." 

105  Cil  en  respondent  qui  l'empirie  bailissent: 
„Mercit,  seinors,  nos  enquerrons  mecine: 
De  noz  aveirs  ferons  granz  departides 
La  main  menude  qui  l'almosne  desirret: 

S'il  nos  fönt  presse  donc  en  ierraes  delivre." 

106  De  lor  tresor  prenent  l'or  e  l'argent, 
Si  rfont  geter  devant  la  povre  gent; 


318  Das  Leben  des  heiH<^en  Alexis. 


So,  glauben  jene,  ist  es  leicht  gethan  ; 
Doch  diese  rühren  nichts  vom  Gelde  an, 
Denn  keiner  hat  vom  Heil'gen  losgewollt. 

107  Die  armen  Leute  rufen  insgemein: 
„Von  dieser  Habe  soll  nichts  unser  sein ; 
vSo  grofse  Freude  ist  uns  jetzt  beschert 

In  diesem  Heil'gen,  andres  hat  nicht  Wert, 
Und  seine  Fürsprach  ist  dereinst  nicht  klein." 

108  Niemals  war  Rom,  die  Stadt,  so  freudevoll 
Wie  jenen  Tag  bei  Reich  und  Armen  wohl 
um  diesen  heil'gen  Leib,  der  jetzt  der  ihre  war; 
Es  schien,  als  hätten  sie  Gott  selber  gar; 

Von  allem  Volke  Gottes  Lob  erscholl. 

109  Alexis  jedes  Böse  immer  mied, 
Darum  ist  ihm  so  hohe  Ehr  erblüht. 

Der  Körper  sein  ruhet  zu  Rom  der  Stadt, 

Die  Seele  Gott  im  Paradiese  hat. 

Wohl  kann  voll  Freude  sein,  wer  also  schied. 

110  Wer  Sünde  that,  sich  dessen  wohl  entsinnt, 
Durch  Bufse  er  Verofebung  stets  gewinnt. 
Ein  befsres  Leben  kommt,  wenn  dies  vergeht; 
Dies  bitten  wir  die  heil'ge  Trinität, 

Dafs  Herrscher  wir  mit  ihr  im  Himmel  sind. 

Hl  Kein  Blinder  geht  hinweg,  keiner  der  lahm. 
Aussätzig,  krank,  umsonst  zur  Heilung  kam: 
Ja,  wer  bedruckt  von  Krankheit  irgendwie, 
Er  ist  hinwefjgeo^angen  ohne  sie : 
Und  keiner  mit  sein  Leiden  nahm. 

112  Und  jeder,  der  von  Krankheit  war  bedrückt. 
Wird  von  Gesundheit  alsogleich  beglückt: 
Der  eine  geht,  den  andern  trägt  man  schwer, 
Ein  Wunder  bietet  ihnen  Gott  der  Herr: 
Der  weinend  kam,  geht  singend  und  entzückt. 

113  Die  beiden  Herren,  die  das  Reich  versehn, 
Erstaunet  sehr  ob  solcher  Wirkung  stehn ; 
Sie  tragen,  hegen,  pflegen  ihn  mit  Fleifs, 
Durch  Bitten  bald  man  vorzudringen  weifs. 
Und  manchmal  ist  es  durch  Gewalt  geschehn. 

114  Sankt  Bonifaz,  der  Märtyrer  genannt, 
Zu  Rom  hatt  eine  Kirche,  wie  bekannt: 


Das  Leben  des  heiligen  Alexis.  319 


ö 


Par  190  cuident  aveir  descombrement. 
Mais  ne  pot  estre,  eil  n'en  rovent  nient: 
A  cel  Saint  home  tornet  ont  lor  talent. 

107  Ad  une  voiz  crident  la  gent  menude : 
„De  cest  aveir  certes  nos  n'avons  eure; 
Si  grant  ledice  nos  est  apareude 

D'ieest  saint  eors ;  n'avons  soin  d'altre  mune, 
Quer  par  cestui  avrons  nos  bona  ajude. " 

108  Onques  en  Roma  nen  out  si  grant  ledice 
Com  out  le  jorn  as  povres  et  as  riches 
Por  cel  Saint  cors  qu'il  ont  en  lor  balide: 
Qo  lor  est  vis  que  tiengent  Deu  medisme ; 
Trestoz  11  poples  lodet  Deu  e  graciet. 

109  Sainz  Alexis  out  bone  volentet: 
Por  hoc  en  est  oi  cest  jorn  honorez. 
Li  cors  en  gist  en  Rome  la  citet, 

E  l'aneme  en  est  enz  el  paradis  Deu. 
Bien  pot  liez  estre  qui  si  est  aloez. 

110  Qui  at  pechiet  bien  s'en  pot  recorder: 
Par  penitence  s'en  pot  tres  bien  salver. 
Bries  est  eist  siecles,  plus  durable  atendeiz. 
Qo  preions  Deu,  la  sainte  trinitet, 

Qu'od  lui  ensemble  poissons  el  ciel  regner. 

111  Sorz  ne  avogles  ne  contraiz  ne  le  pros 
Ne  muz  ne  orbs  ne  nuls  palazinos, 
Ensorquetot  ne  neuls  langoros, 

Nul  n'en  i  at  qu'in  alget  malendos, 
Cel  n'en  i  at  qui'n  report  sa  dolor. 

112  N'i  vint  enferms  de  nule  enfermetet, 
Quant  11  l'apelet  sempres  n'aiet  santet. 
Alquant  i  vont,  alquant  se  fönt  porter; 
Si  veirs  miracles  lor  i  at  Dens  mostrez, 
Qui  vint  plorant  chantant  Ten  fait  raler. 

113  Cil  dui  seinor  qui  Tempirie  governent, 
Quant  il  en  veient  les  vertuz  si  apertes, 

,     II  le  receivent,  si  l'portent  e  si  Tservent. 
Alqnes  par  pri  e  le  plus  par  podeste 
Vont  en  avant,  si  derorapent  la  presse. 

114  Sainz  Boneface,  que  l'hom  martir  apelet, 
Aveit  en  Rome  une  eglise  molt  bele: 


320  Das  Leben  des  heiligen  Alexis. 


o 


Dorthin  trug  man  Alexis  säuberlich, 
Und  bettet  ihn  zur  Erde  sicherlich. 
Glücklich  der  Ort,  wohin  man  ihn  gesandt. 

115  Das  Volk  von  Rom,  das  ihn  ersehnt  so  lang, 
Hält  mit  Gewalt  ihn  sieben  Tage  lan«:. 
Nun  fraget  nicht,  ob  grofs  das  Drängen  sei, 
Von  allen  Seiten  strömte  man  herbei, 

Dal's  dort  zu  wohnen  kaum  jemand  gelang. 

116  Am  siebten  Ta^-e  geht  zur  Ruhe  ein 

Der  lieil'ge  Leib,  zum  himmlischen  Verein: 
Man  hebet  ihn  empor,  die  Menge  weicht, 
Wohl  oder  übel  er  zur  Erde  steigt; 
Es  drückt  sie  sehr,  doch  kann's  nicht  anders  sein.* 

117  Bei  goldnen  Kandelabern  —  welch  ein  Bild  — 
Die  Geistlichen  in  weifs  Gewand  gehüllt 
Legen  den  Leib  in  einen  Marmorsarg, 

Und  singen  teils,  teils  fliefsen  Thränen  arg: 
Nicht  waren  ihn  zu  lassen  sie  gewillt. 

118  Von  Gold  und  Edelstein  der  Sarg  war  voll. 
In  dem  der  heil'ge  Leichnam  ruhen  soll; 
Zur  Erde  läfst  man  ihn  fast  mit  Gewalt, 

Des  Volkes  Jammer  durch  ganz  Rom  erschallt ; 
Und  keinen  giebt's,  der  sie  getröstet  wohl. 

119  Nicht  von  den  Eltern  sei  hier  nun  erzählt. 
Noch  von  der  Gattin,  welches  Leid  sie  quält ; 
Denn  ihre  Stimme  klaget  ohne  Mafs, 

Um  ihn  nur  jammernd  ohne  Unterlafs: 
Den  Tag  flössen  die  Thränen  ungezählt. 

120  Über  der  Erd'  bleibt  er  nicht  länger  mehr, 
Man  läfst  ihn  sinken,  wird's  auch  noch  so  schwer; 
Sie  nehmen  Abschied  von  dem  heil'gen  Leib, 
Und  bitten,  dafs  er  ihnen  gnädig  bleib', 

Bei  seinem  Herren  spreche  günstig  er. 

121  Es  geht  das  Volk.    Indes  das  Elternpaar, 
Das  junge  Weib  ihn  lassen  nimmerdar; 
Bis  Gott  sie  rief,  sie  blieben  ungetrennt, 
Und  ihren  Namen  man  mit  Ehren  nennt: 
Der  Heil'ge  ihrer  Seele  Rettung  war. 


*  Ebenso  trennen  sich  die  Leidtragenden   nur   schwer  von  der  Leiche 
Rolands;  cfr.  Ch.  de  R.  2961. 


I 


Das  Leben  des  heilio;en  Alexis.  321 


'O 


Hoc  en  portent  dan  Alexis  acertes, 

Et  attement  le  posent  a  la  terre. 

Felix  li  lius  ou  ses  sainz  cors  herberget! 

115  La  gent  de  Rome,  qui  tant  l'ont  desirret 
Set  jors  le  tienent  sor  terre  a  podestet. 
Grant  est  la  presse,  ne  l'estot  demander. 
De  totes  parz  l'ont  si  avironet 

Que  a  vis  onques  i  pot  hom  habiter. 

116  AI  sedme  jorn  fut  faite  la  herberge 
A  cel  Saint  cors,  a  la  gemme  Celeste. 

En  sus  s'en  traient,  si  alaschet  la  presse: 
Voillent  ou  non,  si  l'laissent  metre  en  terre; 
Co  peiset  eis,  mais  altre  ne  pot  estre. 

ll«^  Ad  encensiers,  ad  ories  chandelabres 
Clerc  revestut  en  albes  et  en  chapes 
Metent  le  cors  enz  el  sarcou  de  marbre,  * 
Alquant  i  chantent,  li  pluisor  getent  lairmes : 
Ja  le  lor  voil  de  lui  ne  desevrassent. 

118  D'or  e  de  gemmes  fut  li  sarcous  parez 
Por  al  Saint  cors  qu'il  i  deivent  poser ; 
En  terre  l'metent  par  vive  podestet; 
Ploret  li  poples  de  Roma  la  citet, 

!Soz  ciel  n'at  honie  qui's  poisset  conforter. 

119  Or  n'estot  dire  del  pedre  e  de  la  medre 
E  de  la  'spose  com  il  le  regreterent, 
Quer  toit  en  ont  lor  voiz  si  atempredes 
Que  toit  le  piain  streut  et  toit  le  doloserent: 
Cel  jorn  i  out  cent  mil  lairmes  ploredes. 

120  Desor  la  terre  ne  l'povrent  mais  tenir: 
Voillent  ou  non  si  l'laissent  enfodir, 
Prenent  congiet  al  cors  saint  Alexis : 
E  si  li  preient  que  d'elsaiet  mercit; 
AI  son  seinor  il  lor  seit  bons  plaidiz. 

121  Vait  s'en  li  poples.    E  li  pedre  e  la  medre 
E  la  pulcele  onques  ne  desevrerent ; 
Ensemble  furent  jusqu'a  Deu  s'en  ralerent. 
Lor  compainie  fut  bone  et  honorede: 

Par  cel  saint  home  sont  lor  anemes  salvedes. 


*  Ch.  de  R.  2966:    En  blancs  sarcous  de  marbre;   v.  392G:  En  blancs 
sarcous. 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    LXXIII.  21 


322  Das  Lt'ben  des  helligen  Alexis. 

1"22  Alexis  ist  im  Himmel  zweifellos 

Mit  Gott  zusammen  und  den  Engeln  blofs ; 
Und  mit  dem  Weib,  dem  er  entfremdet  war, 
Vereinet  ist  die  Seele  immerdar: 
Nicht  kann  ich  sagen,  Avie  die  Freude  grofs. 

1"23  Wie  guten  Dienst  hat  doch  dem  Herrn  geweiht 
Der  heil'ge  Mann  in  kurzer  Lebenszeit ! 
Und  nun  ist  seine  Seele  ruhmesvoll; 
Das  hätt'  ohn  Zweifel  mancher  gerne  wohl; 
Er  schaut  fiirwahr  nun  Gottes  Herrlichkeit. 

124  Von  Unglück,  Elend  sind  bedränget  wir. 
Seht  es  nur  ein,  wir  sind  verloren  schier: 
Die  Sünde  uns  gar  sehr  verblendet  macht, 
Des  rechten  Weges  hat  man  nimmer  acht; 
Doch  dieser  Heil'ge  wird  zur  Leuchte  hier. 

155  Denkt,  Herren,  dieses  Heil'gen  allezeit, 
Bittet,  dafs  er  vom  Übel  uns  befreit, 
In  diesem  Leben  Freude  uns  beschert 
Und  Glorie  in  dem,  das  länger  währt, 
Hilf,  Pater  noster,  uns  in  Ewigkeit. 

Amen ! 


Anmerkungen. 

Über  die  Sprache    unseres    Gedichtes  bemerkt  Gaston    Paris,   der 

dasselbe  in  die  Mitte   des  11.  Jahrhunderts    setzt,  p.  42:    ce  n'est  qu'a 

une  epoque  qui  n'est  pas  anterieure  au  Xll^  siele  que  se  sont  manifestees 
entre  le  langage  des  Francais  et  celui  des  Nornian<ls  certaines  differences, 
et  elles  se  sont  produiles  de  teile  fa^on  que  c'est  tantot  le  dialecte  fran- 
9ais,  tantot  le  dialecte  normand  quia  conserve  l'usage  ancien.  Ainsi,  pour 
n'en  donner  que  deux  exemples,  ai  s'est  confondu  avec  ei  en  normand 
tandis  qu'en  francals  11  est  reste  distlnct  beaucoup  plus  longtemps;  —  au 
rebours  ei  et  oi  se  sont  confondus  en  francals,  tandis  qu'en  normand  il 
sont  restes  separes  jusqu'a  nos  jours.  Ür  on  ne  trouve  trace  dans  le  texte 
«•'Alexis,  restitue  par  le  crltique,  d'aucune  de  ces  partioulariles  dialectales, 
soit  normandes,  soit  fran9aises,  et  par  consequent  il  est  anterieur  a  la  Sepa- 
ration des  dialectes  normand  et  francals."  —  Die  decasyllabcs  assonants  des 
Originals  sind  durch  Reime  —  und  zwar  weil  dies  dem  Charakter  des 
Gedichtes  entsprechender  schien  —  durchgängig  durch  männliche  Reime 
ersetzt  worden. 

Str.  1.  Die  Klagen  über  die  Verderbtheit  des  Zeitalters  kehren  auch  in  den 
anderen  Redaktionen  (saec,  XII,  XIll  und  XIV)  des  Alexis-Liedes  wieder, 
und  zwar,  dem  Charakter  jener  späteren  Bearbeitungen  entsprechend,  in 
erweiterter  Gestalt.  Dergleichen  Klapen  dürften  zu  den  konventionellen 
und  gemeinsamen  Zügen  der  mittelalterlichen  Dichtung  (cfr.  Matzner,  Alt- 
franz. Lieder  p.   104)  zu  rechnen  sein.     Cfr.  Gautier  de  Dargies  (ib.  p.   1): 


Das  Leben  des  heiligen  Alexis.  323 


't> 


122  Sainz  Alexis  est  el  ciel  senz  dotance, 
Ensemble  od  Deu  en  la  compaigne  as  angeles, 
Od  la  pulcele  dont  se  fist  si  estranges ; 

Or  l'ad  od  sei,  ensemble  sont  lor  anemes: 
Ne  vos  sai  dire  com  lor  ledice  est  grande, 

123  Com  bone  peine,  Dens,  e  si  bon  servise 
Fist  cel  Saint  hom  en  ceste  mortel  vide ! 
Quer  or  est  s'aneme  de  glorie  replenide : 
^o  at  que  s'volt,  n'en  est  nient  a  dire: 
Ensorquetot  e  si  veit  Deu  medisme. 

124  Las,  malfedut,  com  esmes  encombret! 
Quer  90  redons  que  toit  somes  desvet: 
De  nos  pechiez  somes  si  avoglet 

La  dreite  vide  nos  fönt  tresoblider: 
Par  cest  saint  home  doussons  raluraer. 

125  Aions,  seinors,  cel  saint  home  en  memorie, 
Si  li  preions  que  de  toz  mals  nos  tolget : 
En  icest  siecle  nos  achat  pais  e  goie, 

Et  en  cel  altre  la  plus  durable  glorie 
En  ipse  verbe.     ISi'n  dimes  Pater  noster. 

Amen ! 


Humilites  et  franchise,  • 

Doncors,  cleboneretes 

Est  bien  alee  et  remise, 

Et  orgues  et  cruetes 

Est  repris  et  rancines 

Et  amours  ni  ont  emprise. 

Ferner  Chanson  de  Geste  Fierebras  v.  17: 

Mult  par  est  puis   (nach  den  Zeiten  des  Cliailemagne) 

le  siecles  empiries  et  mues : 
Se  li  peres   est  maus,   li   fix  vaut  pis  asses, 
Et  du  tout  en   tout  est  li  siecles  redonles, 
Ke  il  n'i  a  un  seul,  tant  soit  espoentes, 
Ki  tiegne  vraiement  ne  foi  ne  loiautes. 
N'en  dirai  ore  plus,  s'arai  avant  ale. 

Str.  7:  Der  junge  Alexis  lernt  in  der  Schule  die  Wissenschaften,  um 
dann,  etwa  als  Page,  dem  Kaiser  zu  dienen.  Die  Redaktion  des  12.  Jahrh. 
läfat  diese  Worte  unverändert;  in  derjenigen  des  13.  Jahrh.  aber  heifst  es  v.  56  : 

Puis  si  le  fisent  a  l'escole  mener, 

Et  Tescrlture  enseignier  et  mostrer. 

En  poi  de  tens  sot  bien  lire  et  c anter. 

Et  en  latin  mout  sagement  parier, 


Et  une  loi  gentement  visiter. 


21 


324  Das  Leben  des  heiligen  Alexis. 

Im   14.  Jahrh.  endlich,  Str.   7: 

Et  quant  l'enfez  fu   tel  qu'il  savoit  bien   parier, 
Pour  apprendre   le  lirent  a  l'escole  niener. 

8.  L'enfaut  que  Jhesu   Crist  ania  parfaitement 
A  hire  et  a  chanter  aprist  asez  breinent, 

E   si  sceut  en   latin   dire  tout  son  talent; 

En  lois  est  en   decrez  s'entendoit  fermement. 

9.  Adonc   le  fist  son   pe're   de  l'escole  partir; 
En  guize  d'escuier  le  convint  lors  vestir; 

A  la  Court  l'empereur  de  Romme  ala  servir : 
L'enfant  servi  le  roy  du  tout  a  son  plezir. 

Str.  8:  Eufemlus  kauft  seinem  Sohne  ein  Weib.  Es  ist  hiermit,  wie 
Ciaston  Paris  bemerkt,  die  Sitte  der  merowingischen  Zeit  vom  Dichter  in 
die  altchristliche  des  Alexis  übertragen  worden. 

Str.  30:  Ore  vivrai  en  guise  de  tortrele.  Liebende,  verlassene  Liebende 
und  Verlassene  überhaupt  vergleichen  sich  in  der  altfranzösischen  Dichtung 
gern  mit  der  Turteltaube.  Vergl.  Mätzner,  Altfrz.  Liederp.  96,  Chanson 
du  Chätelain  de  Coucy  (?) : 

S'onques  nus  hom  por  dure  departie 
Ot  euer  dolant,  je  l'aurai  par  raison: 
Onques   tuertre  qui  pert  son  compaignon 
Ne  fiit  un  jour  de  nioi  plus  esbabie. 

Ferner  bei  Bartsch,  Altfrz.  Chrestom. :  Fragment  d"un  poeme  devot 
f  XII«  siecle)  En  nostre  terre  no  set  eusel  canter  sainz  la  torterelet  chi  amet 
casteed  por  mon  ami. 

Vergl.  auch  die  alte  englische  Redaktion  des  Alexis-Liedes  in 
Herrigs  Archiv  für  das  Studium  der  neueren  Sprachen  und  Litteraturen 
Bd.  L\T  (1876),  S.  391  folgende  „Zwei  Alexislieder,  herausgegeben  von 
Dr.  C.  Horstmann",  v.   121: 

Nou  is  alix  dwelled  thore : 
bis  fader  atom  siketh  wel  sore 
and  seitb  alias  alias, 
bis  Moder  wepetb  nibt  and  day 
and  seitb  alias  and   weilawey 
that  evere  heo  iboren  was. 

bis  wyf  wepetb  and  maketb  hir  mone, 
and  seitb   tbat  beo  scbal   liuon   al  one 
as  turtul  on  the  treo, 
Euermore  wt  outen  Make, 
doye  and  blisse  beo  wole  forsake, 
lil  heo  bire  spouse  iseo. 

(Nach  Dr.  Horstmann  sind  die  beiden  englischen  Mss.  des  Alexisliedes 
Im  Anfange  des   15.  Jahrh.  geschrieben.) 


» 


Dickens  und  seine   Hauptwerke. 

Eine  kritische  Studie. 


I. 

Man  pflegt  die  Seelenthätigkeit  eines  Menschen  in  ein  Er- 
kenntnis-, Gefühls-  und  AVillenevermögen  zu  zerlegen.  Auch 
dem  Kritiker  kann  es  nicht  orleichorültior  sein,  ob  der  Verstand 
oder  das  Gemüt  oder  aber  die  Willenskraft  bei  einem  Schrift- 
steller vorherrschend  ist.  Hat  ein  Autor  viel  Kopf  und  wenig 
Herz,  so  wird  die  pessimistische  Ironie  in  seinen  Schriften  vor- 
wiegen;  spricht  sein  Herz  zu  laut,  so  wird  sich  Pathos  und 
Humor  in  seinen  Werken  abspiegeln.  Allerdings  w^ird  sein 
pathetischer  Humor  auch  die  Satire  wachrufen,  die,  wie  Taine 
ganz  richtig  bemerkt,  die  Kehrseite  der  Elegie  ist,  da  diese  für 
den  Unterdrückten  plaidiert,  während  jene  dessen  Bedränger 
lächerlich  macht.  Während  jedoch  in  der  Satire  des  Verstandes- 
menschen der  Ernst  über  den  Scherz  vorwiegt,  wird  bei  dem 
gemütvollen  Satiriker  der  Scherz  über  den  Ernst  triumphieren, 
als  derb-grotesker  Humor  leicht  zur  Karikatur  ausarten  und 
sich  nur  selten  zur  Höhe  der  reinen  Ironie  erheben. 

Wenn  wir  die  humoristische  Beanlao-ung"  verschiedener 
Nationen  vergleichen,  so  fällt  uns  bald  auf,  dafs  die  französische 
Litteratur  schon  seit  mehreren  Jahrhunderten,  man  könnte  sagen, 
seit  Rabelais,  keinen  bedeutenden  Humoristen  hervorgebracht 
hat;  wir  müfsten  denn  Marivaux  und  den  allerdinors  germanisch 
beanlagten  Genfer  Novellisten  Töpfer  ausnehmen.  Die  meisten 
von  ihnen  zeigen  nur  Spuren  von  Humor,  der  jedoch  nur  zu 
bald  zum  komischen  Humor,  ja  zur  reinen  Komik  wird,  indem 


326  Dickens  und  seine  Hauptwerke. 

die  vom  Gemüt  ausgehende  humoristische  Grimdstimmung  zu 
schnell  an  das  bei  den  Franzosen  so  vorherrschende  ernste  Ge- 
biet des  Verstandes  und  des  Willens  streift.  Das  über  die 
Beanlaf^unfr  eines  Schriftstellers  Gesagte  dürfte  aus  neben- 
stehender  Tabelle  noch  übersichtlicher  werden,  und  werde  ich 
auf  dieselbe  in  den  folgenden  Kapiteln  noch  öfter  zurück- 
kommen. 

Ehe  wir  uns  mit  unserem  Schriftsteller  speciell  beschäf- 
tio-en,  drängt  sich  uns  noch  die  allgemeine  Frasje  auf,  welche  Art 
Menschen  wohl  am  meisten  dem  Humor  zugänglich  sind,  und 
wir  finden  bald  heraus,  dafs  weder  ein  zu  oberflächlicher  (Holtey), 
noch  ein  zu  tiefgehender  Schriftsteller  (Macchiavelli)  humoristisch 
M-irken  könne,  und  dafs  in  der  Mitte  der  beiden  Extreme  die 
humoristische  Ader  zu  suchen  ist.  Der  Humorist  darf  also 
nicht  mit  seinem  Gegenstand  tändeln,  noch  darf  er  sich  in  den- 
selben einzubohren  suchen;  wohl  soll  er  in  denselben  eindringen, 
die  Mühe  mufs  seine  Kräfte  jedoch  nicht  dergestalt  absorbieren, 
dafs   von  ihm,   dem   Schriftsteller,  nichts   mehr  zu  sehen  ist. 

Was  die  Satire  betrifl^t,  so  drängt  sich  uns  eine  ähnliche 
Wahrnehmung  auf,  und  dumm  gemütliche,  oberflächliche  Men- 
schen   werden    ebenso    wenig    satirisch    wirken     als    doktrinäre 

Autoren. 

« 

In  Übereinstimmung  mit  Taine  und  Forster  läfst  sich 
Humor  als  die  unserem  Schriftsteller  eigentümliche  Beanlagung 
bezeichnen;  Lewes  dagegen  hat  unrecht,  wenn  er  ihm  nur 
Scherz  (fun)  zuspricht.  (In  unserer  Tabelle  haben  wir  diese 
Beanlao-uno-  als  unechten  Humor  bezeichnet  und  Holtey  als 
Beispiel  angeführt.)  Im  Gegenteil,  Dickens'  Humor  ist  so  viel- 
seitig, dafs  derselbe  bald  als  pathetischer,  bald,  und  zwar  in 
der  Hauptsache  als  derb-realistischer  und  phantastisch-grotesker, 
wohl  auch  als  komischer,  selten  als  sentimentaler  Humor  auf- 
tritt, und  dies  ist  ein  Reichtum  von  Nüancierungen,  in  dem 
Boz  nur  von  Shakespeare,  dem  König  des  echten  Humors, 
übertroflTen  wird.  —  Was  die  Satire  anbetriflPt,  so  steht  unser 
Autor,  seiner  Beanlagung  gemäfs,  tief  unter  Cervantes  und 
Swift,  die  mit  der  gröfsten  Gleichgültigkeit,  ja  mit  der  Miene 
der  Bewunderung  die  Thorheiten  ihrer  ^Mitmenschen  erzählen, 
ja  preisen  konnten;    noch   kann  es   Dickens  zu  dem  naiven  Ton 


Dickens  und  seine  Hauptwerke. 


327 


C/3 

o 


Sentimentaler    Pathos. 
(Komperts  Romane.) 

Phantastisch  -  sentimentaler 
Humor. 

(Sterne,    Goldsmith,    J.   P. 
Richter  und  die  Deutschen.)  , 


n:      c 


-  Pathos  auf  der  IJühne :     2^ 


2. 


b^ 


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Pathetischer  Humor. 
(Dickens.) 


Komi-Tragik/ 
Tragi-Komik( 

(Shakespeare.) 


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c 

Ol 


Cß 


o 


Derb -realistischer   Humor. 

Die    Englander    (Dickens), 

die    Amerikaner    und   Fritz 

Reuter. 


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o 


Phantastisch-grotesker 
Humor. 

Rabelais,   Dickens,    Shake- 
speare,   die    Karikaturisten 
(Punoh). 


Karikatur  auf  der  Bühne : 
Posse. 


Milde  Ironie. 
(Cervantes,  Ariost.) 


Milde  Ironie  auf 
der  Bühne. 


o        Po: 


.  Wi" 


Pessimistischer  Humor 
(Thackeray.) 


Pathetische     Sa- 
tire    mit     pessi- 
mistischem    An- 
fluge. 


CT)  §-  SL  3  :3  3 

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Pessimistische  Ironie. 
(Heine,   Byron,   Swift.) 


Scherzhafte    Sa- 
tire    mit     pessi- 
mistischer     Bei- 
mischung. 


3*  ^ 

3    fD 
3    p 

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o: 

Ol 


Epigrammatische  Satire 
oder  Witz. 

(Heine,  Shakespeare  als 
Schöpfer  Percys  in  Hein- 
rich IV.,  Teil  ],  Akt  1,  a.) 


Unechter    Humor,    Scherz 
(fun). 

(Holtey.) 


328  Dickens  und  seine  Hauptwerke. 

des  „Paul    Louis    Courrier,    Vigneron"    bringen.     Dazu   gehört 
ein  kühler  Verstand    und   ein    kaltes    Herz,    auch    viel   Studium 
des    Stils    der    Alten    und    der    Neueren.      Denkt    man    an   jene 
Meister  der  Ironie,  so  kann  man  Taine  wohl  zustimmen,  wenn 
er  von   unserem  Novellisten    sagt,    er    werde    zu    ärgerlich    über 
die  Thorheiten  der  Menschheit.    Ohne  weiteres  kann  man  jedoch 
dem  berühmten  Litterarhistoriker  nicht  beipflichten,  wenn  er  bei 
Geleo-enheit  Carljles  den  Humor  als  eine  specifisch  germanische 
Eif^enschaft  ansieht.     Schon  die  Römer  sagten;    Res  severa  est 
verum  o-audium ;    Don    Quixote    und    Molieres    Dorine   im  Tar- 
tuße    zei'^en    uns,    dafs    das   humoristische    Element    auch    dem 
Spanier  und  dem  Franzosen  nicht  fremd  war;   und  die  Rabelais- 
sche    Satire    ist    vor    allem    mit    derb-groteskem    Humor    unter- 
mischt. —  Es  ist  allerdings  wahr,  dafs  nur  Deutschland,  Eng- 
land und  Amerika  eine  humoristische  Litteratur  aufweisen  kön- 
nen.    Eine   Vcrglelchung    des  Humors    in    diesen    drei  Ländern 
dürfte  zum  Verständnis  der  Dickensschen  Romane  beitragen. 

Der  deutsche  Humor  hat  in  Jean  Paul  seinen  besten  Ver- 
treter, nimmt  oft  eine  sentimentale  Färbung  an,  verbindet  sich 
leicht  mit  lyrischen  Stimmungen,  und,  ähnlich  den  launenhaften 
Licht  wölken  der  bengalischen  Flamme,  giebt  er  nicht  nur  den 
Personen  der  Dichtung,  sondern  auch  der  sie  umgebenden 
Scenerie  ein  ziemlich  gleichmäfsiges  Gepräge,  so  dafs  der  Mensch, 
wie  in  der  Idylle,  mehr  der  Natur  koordiniert  erscheint.  Cha- 
rakteristisch dürfte  für  den  deutschen  Humor  der  Umstand  sein, 
dafs  die  deutschen  Pickwickier  (ein  Sportelschreiber  u.  s.  w.) 
in  Neukirchen  an  der  Werla,  einem  ganz  unbedeutenden  Orte, 
spielen.  Der  deutsche  Humorist  ist  sehr  leicht  der  Gefahr  aus- 
gesetzt, dafs  sich  infolge  der  gleichmäfsigen  Beleuchtung  die 
Peripherien  der  Figuren,  sowie  die  charakteristischen  Merkmale 
derselben  verwischen,  oder  dafs  sein  Humor  wie  ein  friedloser, 
launenhafter  Zauberer  ihn  zweck-  und  ruhelos  von  einem  epi- 
sodischen Gegenstande  zum  anderen  treibt. 

Der  en^'-liöche  Humor  unseres  Jahrhunderts  wird  am  besten 
durch  Dickens  repräsentiert.  Er  begleitet  den  Menschen  aus 
der  Familie  zu  Stätten  regen  Lebens,  nimmt  teil  an  den 
ernstesten,  wildesten  Lebenskämj)fen  und  überträgt  sich  nicht 
auf  das  Landschaftsbild,  da  der  Engländer,  im  Gegensatz  zum 


Dickens  uiul  seine  Hauptwerke.  329 

Deutschen,  den  Menschen  nicht  als  einen  Teil  der  Natur  an- 
sieht, sondern  ihn  zu  sehr  zum  Herrn  der  Schöpfung  erhebt. 
Die  Energie  seiner  Hasse  treibt  den  englischen  Humoristen 
leicht  zur  Karikatur  und  setzt  ihn  der  Gefahr  aus,  die  cha- 
rakteristischen Merkmale  seiner  Figuren  ins  Groteske  oder 
Bizarre  spielen  zu  lassen.  Dickens'  Pickvvickier  sind  Kaufleute, 
die  Weltstadt  London  und  Umo-ebuno:  bildet  die  Scenerie. 

Der  amerikanische  Humorist,  Irving  als  Beispiel,  ist,  wie 
der  Engländer,  Kealist,  und  sein  Humor  ist  wie  bei  diesem  an 
die  Scholle  gebunden.  Während  jedoch  die  brandende  Meeres- 
woge des  englischen  Humors  die  Peripherie  des  soeben  Ge- 
schaffenen auftreibt,  zerreifst  oder  willkürlich  verändert,  dient 
der  transatlantische  Humor  nur  zum  Schmucke  der  Figur,  wie 
die  Glasur  an  irdenen  Gefäfsen.  Wie  der  amerikanische  sub- 
tile und  dekorative  Humor  dem  Europäer  oft  unverständlich 
erscheint,  so  unterscheidet  sich  auch  der  amerikanische  Humo- 
rist wesentlich  von  seinen  Brüdern  jenseits  des  Oceans.  Er 
bekleidet  eine  hohe  Stellung,  ist  oft  Staatsmann,  Diplomat  u.  s.  w.; 
sein  feines  Benehmen,  seine  aristokratischen  Manieren  und  be- 
sonders seine  heitere  behasrliche  Ruhe  kontrastieren  auffallend  mit 
den  Vertretern  des  friedlosen  Humors  Deutschlands  und  Englands. 

Wir  bezeichneten  Schiller  als  den  besten  Repräsentanten 
der  pathetischen  Beanlagung.  Nach  seinen  Werken  zu  urteilen, 
ruft  die  Bezeichnung  Pathetiker  in  uns  das  Bild  eines  jungen, 
edlen,  ernsten  Mannes  und  einer  ideal  angelegten  Natur  hervor, 
die  das  wirkliche  Leben  wenig  kennt,  da  sie  das  Haupt  be- 
ständio-  in  den  Wolken  tru«:.  Diese  Klasse  von  Schriftstellern 
zählt  viele  Bewunderer,  wozu  besonders  das  weibliche  Geschlecht 
gehört. 

Der  Mann  des  unechten  Humors  und  des  Scherzes  wird 
uns  in  seinen  Werken  den  Eindruck  hinterlassen,  als  ob  er 
auch  in  Wirklichkeit  hüpfend  und  tändelnd  über  die  Oberfläche 
des  Lebens  hingleitet,  mit  einem  beständigen  Lächeln  auf  seinen 
Lippen,  vielen  Freunden  und  wenigen  Feinden  (Holtey,  Zschocke). 

Der  Satirist  scheint  seinen  Werken  nach  viel  älter  zu  sein, 
viel  erfahren  und  viel  gelitten  zu  haben.  Wir  denken  ihn  uns 
ohne  Enthusiasmus    und    erkennen    ihn    an  der  Glatze  oder  der 


330  Dickens  uml  seine  Hanptwerke. 

huhen  Stirn,  an  dem  Auije  ohne  Wärme  und  dem  mitleidiijen 
Lächeln  des    Weisen  (Cervantes^ 

Den  Mann  des  Witzes  und  der  kahen  Ironie  stellen  wir 
uns  crem  als  einen  übersätticjten,  bhisierten.  von  seinen  Freunden 
verlassenen  Egoisten  vor,  der  sich  für  nichts  melir  erwärmen  kann. 

Als  Taine  seinen  oft  erwiihnten  Essay  schrieb,  lebte  unser 
Schriftsteller  noch,  und  von  seinem  Lebensoantre  war  so  sfut 
als  gar  nichts  bekannt:  doch  meint  Taine.  dafs  man  die  näheren 
Details  über  das  Leben  eines  Schriftstellers  zur  Not  entbehren 
könne,  da  die  Werke  sich  zu  dem  geistisfen  Leben  des  Mannes 
verhalten    ^ie  der  Zeif^er  der   Uhr    zu    dem  Räderwerk.     Diese 

Cr 

Wahrheit  ist  unbestreitbar :  der  Schriftsteller  als  Mensch  steht 
wirklich  in  Wechselbeziehuu'T  zu  seiner  Beanlasunor.  die  sich 
in  seinen  ^A'erken  kundgiebt :  doch  ist  bei  dem  pathetischen, 
scherzhaften,  satirischen  und  wirzisen  Schriftsteller  diese  Wechsel- 
beziehuno-  weit  sfröiser.  aus^enscheiulicher  und  untrüglicher  als 
bei  dem  Humoristen.  —  Wir  nannten-  den  Humor  ..friedlos". 
In  der  That  weist  der  Humorist  die  grofsten  Inkonsequenzen 
in  seinen  Handlungen  auf,  bewegt  sich  in  Extremen,  und  wäh- 
rend der  Humor  seiner  Schriften  Götter  und  Menschen  fröhlich 
macht,  ist  der  vSchriftsteller,  die  Quelle  desselben,  in  Freundes- 
kreisen, bei  Weib  und  Kind  oft  launisch,  mifstrauisch  und  — 
unberechenbar:  jenem  sicilianischen  \'u]kan  nicht  unähnlich,  der 
hier  lachende  Fluren  und  herrliche  ^^'einberore,  und  dort  taubes 
Gestein  und  gähnende  Abgründe  aufweist. 

Dickens'  Leben  könnte  man  in  zwei  Abschnitte  teilen.  In 
die  erste  Lebenshälfte  fällt  seine  traurige  Jugend  im  Eltern- 
hause, seine  Lehrzeit,  seine  journalistischen  N'ersuche  als  Be- 
richterstatter, seine  ersten  litterarischen  Erfolcje  und  seine  Ver- 
heiratung.  Xach  mehreren  Jugendporträts  hatte  sein  Aussehen 
etwas  Kühnes  und  Geniales,  das  Haupthaar  ist  üppig  und  das 
Gesicht  zeugt  von  innerer  Befriediguncr. 

In  der  zweiten  Lebenshälfte  veröffentlicht  er  weitere  Haupt- 
werke, wird  wohlhabend,  berühmt  —  und  rastlos,  macht  häufige 
Reisen  in  Grofsbritannien  und  nach  dem  Kontinent,  hält  sich 
abwechselnd  in  Frankreich,  Italien  und  der  Schweiz  auf  und 
erscheint  zweimal  in  Amerika.  Nach  seiner  zweiten  Rückkehr 
trennt    er    eich    von    seiner    Gattin,    die    ihm    mehrere    Kinder 


Dickens  und  seiue  Hauptwerke.  331 

f/eboren,  hält  zahlreiche  VurlesuDf^en  in  den  verschiedensten 
Städten,  teils  zum  Besten  eines  Vereins  zur  Unterstützung 
armer  Schriftsteller,  teils  zu  seinem  eigenen  Nutzen.  In  seiner 
Biographie  finden  Geldsorten  häufige  Erwähnung  und  lassen 
Dickens  als  praktischen  Engländer  erkennen.  Schon  lange,  ehe 
Lähmung  seines  linken  Beines  einen  Nervenschlag  vorbereitete, 
war  sein  Haupthaar  grau  und  dürftig  geworden.  Auf  einem 
späteren  Bilde  hat  er  etwas  Plebejisches  an  sich  (er  erscheint 
mit  den  Händen  in  den  Hosentaschen),  und  sein  Gesicht  weist 
vulcräre  Züse  auf,  die  inneres  Unbehasjen  verraten.  Wie  Forster 
berichtet  und  wie  auch  seine  späteren  Werke  zur  Genüge  be- 
weisen, spricht  er  in  dieser  Periode  seines  Lebens  häufig  und 
sehr  absprechend  über  Parlament,  Politik  und  Staatsökonomie, 
über  Titel  und  Würden. 

Vieles,  was  hier  nur  kurz  angedeutet  worden  ist,  dürfte  in 
des  Novellisten  Beanlagung  begründet  sein.  Der  europäische 
Humorist  hafst  konventionelle  Formen;  sein  Benehmen  ist  un- 
f^ekünstelt,  und  er  folsct  in  Nebendincren  —  und  leider  oft  in 
Hauptsachen  —  der  Laune  des  Augenblickes,  daher  das  Ple- 
bejische in  Erscheinung  und  Manieren,  das  Unberechenbare  und 
Plötzliche  in  seinen  Handlungen.  Obwohl  er  oft  einheimische 
Einrichtungen  tadelt,  ist  er  doch  weit  entfernt,  das  Fremd- 
ländische vorzuziehen,  und  wenn  wir  die  amerikanische  Epi- 
sode in  Martin  Chuzzlewit  lesen,  glauben  wir  fast,  dafs 
Dickens  ..Fremde  und  Elend"  für  identisch  hielt.  Wie  würde 
vSealsfield  jene  amerikanische  AVihlnis  geschildert  haben  !  Der 
Humorist  dagegen  ist  zu  sehr  Patriot  und  kann  nie  ein 
Kosmopolit  werden.  Diesem  Gemütsmenschen  fehlt  der  Sinn 
für  das  Praktische  und  das  Gerechtigkeitsgefühl,  das  Für  und 
Wider  in  fremdländischen  Einrichtungen  abzuwägen.  —  Die- 
selbe ruhige  Besonnenheit  mangelt  seiner  Handlungsweise  im 
Privatleben.  In  Henry  Esmond,  einem  der  Hauptwerke  Thacke- 
rays,  verliert  des  Helden  AA'ohlthäter  plötzlich  die  Liebe  zu 
seiner  .durch  die  Pocken  ihrer  Schönheit  beraubten  Gattin,  und 
der  V^erfasser  sagt,  dafs  in  diesem  Falle  Reflexion  allein  einen 
Ehemann  vor  einer  ähnlichen  Thorheit  bewahren  könne.  Gerade 
diese  Reflexion  fehlt  unserem  Schriftsteller,  wie  so  vielen  Ge- 
mütsmenschen,   und    man    könnte  sich  fast  versucht  fühlen,    die 


332  Dickens  und  seine  Hauptwerke. 

geistreiche  Bemerkung  Taines,  dnCs  Dickens  und  Thnckeray  ein- 
ander ergänzen,"  in  einem  anderen  Sinne  zu  gebrauchen  und  auf 
den  Mensclien  (Boz)  selbst  anzuwenden;  denn  bei  unserem  Humo- 
risten vermissen  wir  leider  die  aus  Reflexionen  hervorsebende 
Älafsigung  und  das  satirische  Lächeln  des  wahren   Welt  weisen. 

Homer  und  die  Alten,  Goethe  und  Lessing,  George  Sand 
und  Balzac,  Jane  Austen  und  Walter  Scott,  alles  Dichter  von 
Gottes    Gnaden,    lassen    in    ihren     Werken    eine    iJflelchmäfsiffe 

'  So 

Ruhe  herrschen,  die  uns  eine  vollkommene  Befriedigung  se- 
währt,  wie  die  Betrachtuntr  der  ruhigen  Schönheit  des  Regen- 
bogens  am  Himmelsgewölbe. 

Bei  feurigen  Naturen,  inspirierten  Dichtern  und  Enthusiasten 
werden  wir  diese  ruhio^e  Schönheit  und  Re^elmäfsio^keit  ver- 
missen.  Das  Schöne  und  namentlich  das  schwache  Schöne  ist 
nicht  nach  ihrem  Sinne ;  sie  wählen  das  Erhabene,  das  starke 
Schöne,  zu  ihrem  Ausgangspunkt.  Nun  ist  es  aber  mit  dem 
Erhabenen  und  mit  dem  Pathos  wie  mit  dem  Blitz:  der  mit 
Vehemenz  geschleuderte  Strahl  stöfst  im  Reflexionswinkel  auf 
das  Komische.  So  hat  der  erschütternde  Pathos  in  Schillers 
Kabale  und  Liebe  oft  derbe  Komik  im  Gefolge.  Byrons  Aus- 
gangspunkt war  pessimistische  Satire,  welche  sich  jedoch  in 
das  herrlichste  Pathos  verwandelt,  sobald  ein  duldendes  Wesen 
an  des  Dichters  Herz  appelliert.  Dickens'  Ausgangspunkt  ist 
das  Lächerliche  und  der  phantastisch-groteske  Humor.  Wie 
aber  durch  „die  Anziehuno;  einer  Elektricität  die  entgeojen- 
gesetzte  frei  wird*',  so  tritt  in  seinen  Schriften  der  pathetische 
Humor  nur  zu  bald  als  Gegenstück  auf.  Pickwick,  dieser  alte 
Knabe,  wirkt  zuerst  auf  unsere  Lachmuskeln,  zuletzt  ist  er  die 
personifizierte  Nächstenliebe.  Diese  stofsweise  Art  des  Schaffens 
ist  dem  (lemütsmenschen  und  besonders  dem  Humoristen  eigen, 
„der,  einer  hysterischen  Frau  nicht  unähnlich,  rasch  aus  dem 
Lachen  in  das   Weinen  verfällt". 

Es  ist  jedoch  nicht  nur  die  Beanlafjune:  des  Dichters,  welche 
diese  Art  des  Schaffens  bedingt,  auch  die  Zeit,  in  welcher 
ein  Dichter  schafl^t,  trägt  das  Ihre  dazu  bei.  Gewaltige  Zeiten, 
die  Reformation  und  die  französische  Revolution,  erzeuizten 
die    Karikaturen-Litteratur,     Ein  Jahrhundert,    das  einen   Byron 


\ 


Dickens  und  seine  Hauptwerke.  333 

sieht,  wird  ebenfalls  die  gröfsten  Gegensätze  und  mtinche  Schlacht 
auf  geistio-em  Gebiete  zu  verzeichnen  haben.  Kann  es  uns 
wunder  nehmen,  dafs  Byrons  Pessimismus,  der  an  der  A\'elt- 
ordnung  verzweifelt,  den  Optimismus  Dickens'  „als  entgegen- 
gesetzten Pol  frei  macht"?  In  diesem  bewegten  Jahrhundert, 
welches  eine  wahre  Karikaturen-Litteratur  im  Punch,  Kladde- 
radatsch, ja  selbst  in  den  Fliegenden  Blättern,  aufweist,  wird 
dieser  Optimist  die  bisher  dem  Zufall  überlassene  Form  zur 
Blüte  bringen  und  in  derselben  das  Höchste  und  das  Möo-lichste 
leisten.  —  Wie  die  Melodie  von  der  Musik,  so  war  die  Karika- 
turen-Litteratur stets  vom  Bilde  begleitet ;  jetzt  kommt  ein  Schrift- 
steller, welcher  allerdings  auf  das  begleitende  Bild  noch  nicht 
verzichtet,  jedoch  innerhalb  dieses  Genres  eine  Handlung  frei 
erfindet  und  an  einem  epischen  Faden  Begebenheiten,  heitere 
wie  traurige,  sich  abwickeln  läfst,  wie  sie  unser  Jahrhundert, 
^vie  sie  jeder  Tag  mit  sich  bringt.  Dieses  Genre  der  Litteratur, 
welches  Dickens  einführte,  entwickelte  und  mit  Glück  aus- 
beutete, hat  entschieden  eine  Zukunft,  da  es  mehr  unserem  Jahr- 
hundert und  dem  wirklichen  Leben  entspricht,  welches  so  arm 
an  grofsen  Katastrophen  und  so  reich  an  kleinen  Übeln  ist,  die 
sich  die  Menschen  selbst  aus  Thorheit  und  durch  beständiire 
Reibungen  bereiten. 

Wenn  also  Taine  George  Sand  und  Balzac  mit  Dickens 
vergleiclit,  mufs  er  natürlich  auf  eine  grofse  Verscliiedenheit 
stofsen,  die  sich  jedoch  aus  dem  Unterschiede  ihrer  Dichtun^j-s- 
gebiete  erklärt.  Dickens  gehört  zu  der  Klasse  von  Schrift- 
stellern, die  sich  ihrem  dichterischen  Instinkt,  und  zwar  dem 
ersten  Impulse  überlassen;  es  ist  jedoch  nicht  nötig,  mit  Taine 
und  Lewes  anzunehmen,  dafs  seine  Schöpfungen  die  dichte- 
rischen Eingebungen  von  Hallucinationen  seien :  es  sind  nur  die 
Ergüsse  eines  warmen,  nach  Ausdruck  ringenden  Herzens.  Der 
Humorist  Dickens  steht  somit  Fieldino-  dem  humoristischen 
Komiker,  dem  Manne  des  Verstandes,  entgegen,  welcher  den 
Leser  die  Nachtlampe  und  die  Feile  erkennen  läfst,  und  der 
uns  in  einem  der  28  höchst  geistreichen  Eingangskapitel  zu 
Tom  Jones  u.  a.  auseinandersetzt,  warum  er  den  Charakter 
von  Black  George  mit  einem  schwarzen  Tüpfelchen  versehen 
habe.  —  Jene  Art    des  raschen,    ungestümen    und    unbewufsten 


334  Dickens  und  seine  H<auptwerke. 

Schaffens  it^t  dem  Humoristen  eigen  und  für  seine  Werke  wün- 
schenswert; denn  was  wäre  Humor,  wenn  er  aus  Reflexion  her- 
voro'inse?  —  Solche  Schriftsteller  werden  allerdiniijs  nicht,  wie 
Balzac  und  George  Sand,  das  allgemein  Menschliche  zum  Aus- 
druck bringen ;  denn  das  erfordert  Reflexion,  Abstraktion  und 
trrofsen  Kunstsinn ;  aber  als  Entschädigung  werden  sie  Scenen 
und  Personen  aus  ihrer  Umgebung  getreu  abzeichnen ;  sie 
pflegen  zu  lokalisieren,  und  ihre  Figuren  bedürfen  nicht  des 
Heimatsscheines,  wie  so  viele  der  beiden  genannten  französischen 
Autoren:  man  wird  sie  sofort  als  Engländer,  Londoner  und  als 
Kinder  des  19.  Jahrhunderts  erkennen. 

Dafs  einige  untergeordnete  Figuren,  wie  Mrs.  Gamp,  Mercy 
Pecksniff  u.  s.  w.  so  oft  dasselbe  sagen  oder  thun,  dürfte  Taine 
nicht  wunder  nehmen ;  denn  die  Wiederholung  gewisser  Satze, 
Gesten  oder  Handlungen  ist  eines  der  wichtigsten  Wirkungs- 
mittel der  Karikaturisten,  welches  durch  die  Plötzlichkeit  des 
Auftretens  noch  verstärkt  wird. 

Karikaturen  Zeichner  wie  Dickens  pflegen  den  Menschen 
im  Affekt  zu  beobachten  und  zu  fixieren.  Shakespeare,  G.  Sand 
und  Balzac  werden  ihn  in  der  Ruhe  darstellen,  wie  sein  Gesicht 
und  seine  Körperhaltung  nur  Gefühle,  nicht  Gefühlserhebungen 
ausdrücken.  Die  letzteren  fertigen  Porträts,  die  ersteren  sind 
Historienmaler. 

Als  weitere  Unterscheidung  erwähnen  wir  noch,  dafs  es 
der  Londoner  Feuilletonist  mehr  auf  rasche  lukrative  Erfolge 
abgesehen  hatte,  und  deshalb,  dem  Geschmack  des  Publikums 
cremäfs,  trotz  aller  Wahrheit  der  Charakterzeichnung,  sein  Haupt- 
augenmerk auf  eine  interessante  Handlung  richten  mufste,  wäh- 
rend G.  Sand  und  Balzac  diese  als  unbedingte  Folge  der  Be- 
nnlaorunir  der  Handelnden  hinstellen.  Die  Methode  der  letzteren 
ist  entschieden  künstlerisch  zu  nennen,  jedoch  auch  das  Dickens- 
sche  Verfahren  hat  etwas  für  sich,  und  besonders  den  Balzacschen 
pathologischen  Studien  gegenüber,  mufs  es  als  naturgemäfs  und 
gesund  bezeichnet  werden.  Dafs  jede  der  beiden  Methoden  ihre 
Berechtisuns:  hat,  dürfte  schon  Aristoteles  erkannt  haben,  der 
die  die  Handlun":  betonenden  Dramen  sorf^fältis;  von  den- 
ienioren  unterschied,  welche  uno^ewöhnliche  Charaktere  entwickeln 
sollten.    —    — 


Dickens  und  seine  Hauptwerke.  335 

Man  hat  den  Satz  aufgestellt,  ilafö  die  PoCfie  älter  sei  als 
die  Prosa,  indem  die  erstere  nur  einen  Naturzustand  bedinge, 
die  letztere  dai^esfen  eine  höhere  Kulturstufe  erheische.  Diese 
Behauptung  hat  entschieden  etwas  Richtiges;  denn  die  ältesten 
Spuren  der  Litteratur  sind  nur  in  einer  Art  Poesie  denkbar, 
wofern  man  unter  derselben  reimlose,  wilde  lyrische  Ergicfsungen 
verstellt,  welche  grofse  Naturereignisse,  Liebe,  Schmerz  und 
Tod  dem  halbwilden  Nomaden  entlockten  und  mit  den  Empfin- 
dunofslauten  eines  Kindes  beim  Zahnen  oder  bei  freudif2;er  Über- 
raschunsf  veroHchen  werden  können. 

Im  reiferen  Kindheits-  und  ersten  Jugendalter  der  Völker 
riefen  gemeinschaftliche  Wanderungen  oder  Kriege  die  epische 
Gattunof  hervor,  in  deren  reinsten  Produkten  ein  uno:evvöhnlicher 
Mensch  geschildert  wird,  welcher,  die  Aufgabe  des  grof^en 
Ganzen  verfechtend,  alle  Schwierigkeiten  und  Hemmnisse  über- 
windet. 

Der  Sieg  der  Subjektivität  über  die  Objektivität,  welchen 
das  Epos  verherrlicht,  konnte  die  aus  der  Bewegung  wieder  zur 
Ruhe  und  zu  einem  o-ewissen  Komfort  zurücko-ekehrten  Völker 
im  reiferen  Jünglings-  und  Mannesalter  nicht  mehr  interessieren; 
da  sie  das  Falsche  der  Gattung  erkannten,  erhoben  sie  ihren 
durch  Erfahrunof  orereiften  Blick  zu  dem  Helden,  welcher  im 
Konflikte  mit  dem  Bestehenden  trao-isch  oder  komisch  vernichtet 
wird.  Das  dramatische  Dichtungsgebiet,  in  welchem  die  Ob- 
jektivität über  die  Subjektivität  triumphiert,  ist  somit  die  höchste 
Kunstgattung,  und  trotz  gleicher  Genialität  steht  Shakespeare 
über  Cervantes. 

Es  ist  merkwürdig,  dafs  fast  bei  allen  Völkern,  welche 
sich  überhaupt  zu  dieser  letzten  und  höchsten  Entwickelungs- 
stufe  erhoben,  die  Pflege  der  .dramatischen  Kunst  von  einem 
frewaltiffen  Aufschwuno;  der  Prosa  begleitet  war.  Bacon  war 
Shakespeares  Zeitgenosse,  Pascal  schrieb  zu  Corneilles  Zeit, 
Macchiavellis  11  Principe  erstand  in  den  Tagen  Ariosts  und 
Tdssos,  und  Cervantes'  Don  Quixote  verdunkelte  Lope  di  Vegas 
Ruhm. 

Der  Protestantismus  und  sein  Einflufs  selbst  auf  katho- 
lische Länder,  die  Buchdruckerkunst,  Schulen  auf  dem  Lande, 
Fabrikwesen,  selbst  die  Beschränkung  des  patriarchalischen  Ein- 


336  Dickens  und  seine  rinuptwerke. 

flusses  des  Adels  auf  das  Volk  —  mit  einem  Worte  reale 
Momente,  trugen  direkt  oder  indirekt  zur  Hebung  der  Prosa 
bei.  —  Nun  aber  verspürt  jedes  Zeitalter  ein  Bedürfnis  nach 
einer  gewissen  Dichtungsart.  Für  die  Lyrik  und  das  Epos 
war  unsere  Zeit  zu  materiell,  und  das  Drama  konnte  nicht  allen 
gebildeten  t^lementen  zuo^äniilich  f!:emacht  werden.  So  erwuchs 
den  Trümmern  der  poetischen  Dichtüngsarten  eine  neue  pro- 
saische Form,  der  Roman.  Sein  Erscheinen  in  unserer  Zeit 
zeusrt  durchaus  nicht  von  einem  Zurücko;ehen  der  Litteratur 
und  einer  Nation,  vorausgesetzt,  dafs  Epos  und  Drama  die 
Vorgänger  des  Romanes  waren.  Das  Beispiel  der  Griechen 
wird  von  den  Geo;nern  dieser  Dichtung-sart  mit  Unrecht  heran- 
gezogen;  denn  dort  können  nur  vereinzelte  Produkte  Ansprüche 
auf  diesen  Namen  erheben,  während  sich  bei  uns  der  Roman 
als  eine  neue  Dichtungsform  schon  seit  Jahrhunderten  behauptet 
und  bereits  so  herrliche  Blüten  getrieben  hat,  dafs  er  sich  zwar 
noch  nicht  mit  dem  Trauerspiel,  w^ohl  aber  mit  der  Komödie 
messen  kann. 

In  der  Zeit  des  Feudalismus  wurden  die  Thaten  der  Ritter 
in  epischer  Form  besungen.  Den  Ritterepen  folgten  die  Ritter- 
romane. Die  Naivität  jedoch,  welche  die  Odyssee  und  die 
IHade  so  sehr  auszeichnete,  und  ohne  welche  ein  Epos  nicht 
denkbar  ist,  Sfin":  mit  dem  Verschwinden  des  Rittertums  all- 
mählich  in  die  Ironie  eines  Cervantes  und  eines  Ariost  über. 
Cervantes'  Don  Quixote  in  Prosa  trug  das  Ritterepos  und  den 
Ritterroman  zu  Grabe  und  schuf  den  modernen  Roman.  Ge- 
schichtlich ist  es  daher  ^erechtfertioft,  den  Roman  als  das  Kind 
des  Epos  zu  bezeichnen;  viele  und  zwar  die  Hauptmomente 
sind  entschieden  episch,  andere  dagegen  sind  lyrisch  oder  dra- 
matisch. Welch  ein  herrliches  Feld  der  Thätigkeit  erwartet 
hier  den  talentvollen,  ja  genialen  Schriftsteller?  Seine  Aufgabe 
wird  namentlich  die  sein,  diese  drei  Dichtungsarten  so  glücklich 
zu  verschmelzen,  dafs  auch  in  diesem  geschmähten  Genre  ein 
Kunstprodukt  entsteht. 

Und  Dickens  ist  in  der  Verschmelzung  dieser  drei  Elemente 
unübertroffen;  G.  Sand  und  Balzac  stehen  unter  ihm.  —  Wie 
das  Epos,  wenigstens  in  seiner  Reinheit,  einen  glücklichen  Aus- 
gang anstrebte,    so  läfst  Dickens  seinen  Romanhelden  über  alle 


i 


Dickens  und  seine  Hauptwerke.  337 

Schwieri«;keiten  siegen  und  sich  einen  Weg  zum  Glücke  bahnen. 
Seine  Werke  gehören  mithin  nicht  jener  Zwittergattung  an,  wo 
des  Romanhelden  ein  tragisches  Ende  wartet.  Es  liegt  dann 
allerdings  dem  Romane  die  Gefahr  nahe,  ins  Gesuchte,  Unge- 
sunde und  Falsche  zu  verfallen,  da  in  der  realen  Welt  die 
Objektivität  und  nicht  die  Subjektivität  triumphiert.  Diese  ver- 
hängnisvolle Klippe  des  Romanschriftstellers  vermeidet  Dickens 
höchst  geschickt.  Er  steckt  seinem  Helden  ein  nur  mäfsiges 
Ziel ;  läfst  beispielsweise  den  jungen  brotlosen  Verlassenen  seine 
Verwandten  (Oliver  Twist)  oder  sein  Auskommen  finden  (Nicholas 
Nickleby);  ein  pockennarbiges  Kind  gewinnt  die  Liebe  eines 
Armenarztes  (Bleak  House),  und  die  Tochter  eines  patrizischen 
stolzen  Kaufmannes  (Dombey)  erreicht  nach  den  traurigsten 
Familienereignissen  das  von  ihr  ersehnte  Ziel,  die  Frau  eines 
armen,  aber  ehrlichen  Jünglings  zu  werden.  Frühere  Schrift- 
steller  rüsteten  ihre  Kinder  der  Liebe  mit  Klugheit  und  Schön- 
heit aus,  und  eine  reiche  Heirat  entschädigte  für  die  Unbill  der 
früheren  abenteuerlichen  Fahrten ;  oder  ein  armer  ehrenwerter 
Commis  warb  um  die  Tochter  seines  reichen  Prinzipals;  jetzt 
kommt  Dickens,  welcher  für  seine  Familienromane  die  alten  ab- 
gedroschenen Motive  zwar  benutzt  und,  wegen  des  Mangels  an 
Auswahl,  benutzen  raufs,  aber  durch  die  Umkehrung  wird  das 
Alte  neu  in  seinen  Händen,  und  die  Überraschung  des  Lesers 
wird  vollständig  durch  die  geistreiche  Ausführung  dieser  ein- 
fachen Motive.  Wenn  ein  Schriftsteller  mit  den  einfachsten 
Kunstmitteln  viel  erreicht,  müssen  wir  ihn  um  so  hoher  stellen. 
In  Mauprat  (von  G.  Sand),  welches  von  Taine  Dickens'  Werken 
als  Muster  entgegengehalten  wird,  hat  sich  die  geistreiche  Ver- 
fasserin nicht  mit  so  einfiichen  Mitteln  begnügt:  ein  junger, 
aber  noch  nicht  ganz  verdorbener  Räuber  gewinnt  die  Liebe 
seiner  schönen  und  reichen  Cousine  Edmee,  die  ihn  allmählich 
von  seiner  inneren  Verworfenheit  befreit  hat.  Balzacs  Kunst- 
mittel können  erst  recht  nicht  einfach  genannt  werden. 

Wir  erwähnten  Dickens'  stark  besuchte  Lesevorträge.  Mag 
nun  die  Neugierde,  den  Schriftsteller  zu  sehen,  bei  vielen  der 
Hauptgrund  gewesen  sein,  jene  Meetings  zu  besuchen,  so  viel 
steht  fest,  dafs  die  dem  Autor  in  denselben  gebrachten  Ovationen 
zum  Teil    auf  die    in  seinen  Schriften  enthaltenen  dramatischen 

Aicliiv  f.  n.  Spracliea.   LXXUI.  22 


338  Dickens  und  seine  Hauptwerke. 

Elemente  zuriickzul'iiliren  sind.  Obwohl  er  als  Londoner  Feuille- 
tonist auf  die  Handlung  das  Hauptaugenmerk  richtete,  so  ver- 
stand es  doch  niemand  besser  als  Dickens,  die  Handlungen  der 
Personen  durch  deren  Charakter  zu  motivieren  und  denselben 
durcli  den  Dialog  so  auszudrücken,  dafs  die  Bruchrechnung 
vollständig^  aufsieht  und  das  Fehlende  nicht  erst  durch  ErkUi- 
runfren  vervollständiot  werden  mufs.  Die  ersten  trefflichen  Bei- 
spiele  dieser  Conversatlon  of  character,  welche  ein  wichtiges 
dramatisches  Moment  bildet,  finden  sich  in  Nicholas  Nickleby.  — 
Da  Dickens  nach  iVrt  der  meisten  Humoristen  ungewöhnliche 
und  originelle  Menschen  während  des  AflPekts  beobachtete, 
mufste  das  Mienenspiel  derselben  dem  I^eser  mitgeteilt  werden ; 
Einschaltungen  wie  „brummte  Kalph",  ..flüsterte  der  Nachbar", 
„stammelte  Käthchen",  „indem  Mrs.  Nickleby  ihre  Freier  an 
den  Fingern  aufzählte",  machen  die  Illusion  vollständig,  und 
man  glaubt  nicht  selten  sich  vor  der  Bühne  zu  befinden.  Die 
Anfangssätze  der  Kapitel,  welche  den  Schauplatz  der  Handlung 
schildern,  könnte  man  als  die  im  Hlntersfrunde  befindliche 
Bühnendekoration  ansehen.  Doch  sind  es  nicht  allein  diese 
dramatischen  Aufserlichkeiten ;  der  Kern  der  Dlckensschen  Ro- 
mane ist  selbst  stark  dramatisch  o^efärbt  und  brinoft  die  dem 
Drama  eigene  stofsweise  Wirkung  auf  den  Leser  hervor.  Wäh- 
rend der  Held,  in  epischer  Reinheit  mit  dem  Strome  der  Ge- 
sellschaft schwimmend,  sein  Ziel  erreicht,  finden  wir  zu  seiner 
Rechten  und  Linken  andere,  die,  gegen  den  Strom  ankämpfend, 
im  Konflikte  mit  der  Sitte,  der  Moral  und  den  Menschenrechten 
tragisch  oder  komisch  vernichtet  werden.  Das  lebhafte  Kolorit 
dieser  dramatischen  Personen  verleiht  somit  dem  schalen  Roman- 
helden im  Vordergrunde  einen  gewissen  Glanz  durch  Kontrast 
und  Reflex.  Auf  die  Ausführuno;  dieser  dramatischen  Fio;uren 
hat  der  Verfasser  grofse  Sorgfalt  verwendet  und  in  ihrem  Thun 
und  Treiben  wichtige  psychologische  Probleme  gelöst. 

Dasselbe    gilt    leider   nicht   von  der  Gruppe  von  Personen, 
die    sich    auf  dem    dritten   Grunde    befinden,    einer    Anzahl   von 
Karikaturen,    welche    zum    Teil    }2rut    getroflfen    sind,    von    denen 
aber  einige  recht  störend    in    den  Gang   des  Stückes  eingreifen.  I 
Es  sind    meist   nach    dem  Leben  gezeichnete  Originale,    welche | 
Dickens'  Bekanntenkreise  angehörten  und   zu  wirkHch  sind,   um 


Dickens  und  seine  Hauptwerke.  339 

einen  angenehmen  Eindruck  hervorzubrinsfen.  Fräulein  Mowcher 
(Copperfield)  und  die  Sniallweed-Familie  (Bleak  Housc)  sind 
ganz  besonders  hier  zu  erwähnen.  —  Doch  führen  wir  der- 
gleichen Figuren  des  lebhaften  Mienenspiels  wegen  bei  den 
dramatischen  Elementen  seiner  Komane  auf.  Während  Dickens 
in  der  vorigen  Gruppe  mehr  den  Menschen  schildert,  pflegt  er 
hier  den  Engländer  und  namentlich  den  Londoner  zu  zeichnen. 

"Wie  aber  in  der  Waldkultur  die  kräfti^isten  Stämme  durch 
zu  viel  Unterholz  leiden,  so  wird  auch  dieser  Reichtum  an 
Nebenpersonen  dem  Kunstprodukt  zuweilen  verderblich  (siehe 
Copperfield  und  Bleak  House).  Doch  gewinnen  die  meisten  der 
DIckensschen  Romane  infülo;e  der  vielen  Figuren  nur  an  Um- 
fang,  ohne  an  innerem  Gehalt  zu  verlieren;  einige  Werke 
(Chuzzlewitt  und  Dombey)  sind  von  diesem  Fehler  ganz  frei. 

Die  Werke  von  G.  Sand  und  Balzac  sind  dieser  Gefahr 
o-ar  nicht  auss^esetzt.  Beide  Autoren  beschäftl2;en  sich  vorzusfs- 
weise  mit  den  Hauptpersonen,  oft  nur  mit  zwei  Figuren 
(Mauprat  —  Elle  et  Lui  —  Jullenne),  was  zuweilen  eine  ge- 
wisse Monotonie  hervorruft;  d^nn  trotz  ihres  künstlerischen 
Talents  können  sie  es  nicht  immer  vermelden,  dafs  das  Schöne, 
und  namentlich  das  schwache  Schöne,  zuweilen  in  das  Fade 
übergeht.  Ihre  Romane  sind  jenen  klassischen  Violinduetten 
nicht  unähnlich,  in  w-elchen  das  Orchester  nur  sekundieren  darf, 
während  Dickens'  Romane  einige  Züge  mit  unserer  deutschen 
Zukunftsmusik  oremein  haben,  die  das  Fade  der  Melodie  durch 
den  herrlichsten  Unterorund  des  vollen  Orchesters  zu  verdecken 
und  zu  heben  versteht. 

Eine  bewunderuno'swürdlge  Harmonie  wird  den  Dickens- 
sehen  Romanen  noch  durch  die  bedeutenden  lyrischen  Momente 
verliehen,  welche  durch  Kontraste  und  Todesfälle,  seltener  durch 
die  Natur,  hervorgerufen  werden.  Diese  lyrischen  Elemente 
sind  um  so  rührender,  als  wir  in  ihnen  nicht  die  geringste 
Effekthascherei  erblicken,  und  sie  unterscheiden  sich  nur  da- 
durch von  den  am  Eingänge  erwähnten  reimlosen,  wilden  lyri- 
schen Erglefsungen  der  Naturvölker,  dafs  die  ursprüngliche 
Naivität  durch  pathetischen  Humor  ersetzt  wird,  der  sich  oft 
glücklich  zum  reinen  Pathos  herausarbeitet. 

überhaupt  fehlt  Dickens,  so  oft  er  das  Naive  zum  Gegen- 

22* 


340  t)ickens  und  seine  Hauptwerke. 

stunde  seines  Schaffens  macht.  (Siehe  Estlier  Sununerson  und 
besonders  David  Copperfield,  das  Kind.)  Durch  des  Schrift- 
stellers epische  Naivität  klingt  dann  Dickens'  Humor  hindurch, 
wie  das  Schnarchen  eines  in  seiner  Höhle  schlafenden  Lövven. 
Unter  den  naiven  Gestalten  dürfte  Mercy  PecksnifF  noch  am 
besten  gelungen  sein.  Die  milde  Ironie,  mit  welcher  der  epische 
und  der  Romandichter  über  ihrem  Helden  zu  schweben  pflegen, 
ist  da^esfen  Dickens  wohl  bekannt  und  zeii>;t  sich  recht  bei 
Pickwick,  Nickleby  und  Dombey.  —  Im  Humor  leistet  jedoch 
Dickens  noch  mehr  als  in  der  Ironie,  und  darin  können  wir 
durchaus  keinen  Fehler  erblicken;  denn  da  der  handelnde 
epische  Held  zu  dem  in  der  Schule  der  Erfahrung  für  das 
Wirken  erzo^^enen  Romanhelden  (geworden  ist,  steht  der  letztere 
dem  Herzen  des  Schriftstellers  näher  als  der  epische  Held,  und 
die  mildeste  Ironie  kann  in  dem  Familienromane  sehr  wohl  dem 
Humor  Platz  machen.  Der  Roman  dürfte  somit  das  geeignetste 
Dichtungsgebiet  des  humoristisch  beanlagten  Schriftstellers  sein. 

Einer  alten  Einteilung  gemäfs  zerlegten  wir  oben  das 
Seelenleben  des  Menschen  in  Intellekt,  Gemüt  und  Charakter, 
und  fanden  heraus,  dafs  das  Gemütsleben  Dickens'  ganz  beson- 
ders entwickelt  sei.  Nun  steht  aber  fest,  dafs  zwischen  jedem 
Schriftsteller  und  seinen  Lieblingsfiguren  und  Idealen  —  geistig 
wie  körperlich  —  eine  grofse  Ähnlichkeit  obwaltet.  Wenn  wir 
uns  Dickens'  Schöpfungen  näher  ansehen,  finden  wir  bald,  dafs 
Pickwick,  Nlcholas  Nickleby  und  viele  andere  seiner  Lieblinge 
ein  feuricres,  unofestümes,  aber  edles  Gemüt  besitzen,  einem  feu- 
rigen  Rosse  gleich,  welchem  das  Intellekt,  jener  Rosselenker, 
oft  verireblich  Zü^el  anzuleg;en  versucht.  Das  Herz  der  Dickens- 
sehen  Ideale  pflegt  bei  fremdem  Unglück  zu  zerschmelzen,  und 
der  bekannte,  echt  englische  Grundsatz  „Always  mind  your 
own  business"  scheint  ihnen  unbekannt  zu  sein.  Indem  sie  nun 
anderen  helfen  wollen,  werden  sie  selbst  in  allerlei  Schwierig- 
keiten und  Händel  verwickelt,  in  welchen  jedoch  der  von  der 
Vorsehung  zum  Führer  des  Gemüts  bestimmte  Verstand  sich 
nur  wenig  Rat  welfs.  Indem  sie  sich  so  an  die  Allgemeinheit 
aufopfern,  vernachlässigen  sie  ihre  eigenen  Interessen.  Wenn 
es  sich  darum  handelt,  fremdem   Elend  zu  steuern,    kennen    sie 


Dickens  und  seine  Hauptwerke.  341 

kein  Besinnen  ;  wenn  es  jedoch  gilt,  die  eigenen  Interessen  zu 
verteidioren,  wird  ihr  erfahruns^sloses  Herz  in  ein  unselisfes 
Schwanken  versetzt,  da  der  Sittlichkeitsfaktor,  jenes  Verbin- 
duno^pglied  zwischen  Gemüt  und  Charakter,  s;anz  bedeutend  aus- 
gebildet  ist,  während  ein  anderer  wichtiger  Faktor  des  Cha- 
rakters,  die  Konsequenz  im  Handeln,  ihnen  gänzlich  abgeht. 

Der  Dickenssche  Liebling  ist  daher  nicht  harmonisch  ent- 
wickelt;  denn  in  den  häufigen  Konflikten  des  Gemüts  fehlt  ihm 
ein  männlicher  und  entschlossener  Charakter,  oder,  um  zu  un- 
serem Bilde  zurückzukehren,  das  andere,  dem  ersten  beigesellte 
liofs,  welches  dessen  ungleichen  Schritt  regelt  und  mehr  auf 
den  Zügel  des  Intellekts  zu  achten   versteht. 

Doch  vergessen  wir  nicht,  dafs  diese  Dickensschen  Lieb- 
linge  ganz  herrliche  ßomanhelden  abgeben.  Kein  Mensch  ist 
mehr  geeignet,  in  Konflikte  des  Gemüts  und  des  Gewissens 
versetzt  zu  werden  und  in  der  Schule  der  Erfahrung  zu  reifen, 
als  dieser  unharmonische  Liebling  der  Dickensschen  Muse. 
Und  diese  inneren  Kämpfe  des  Gefühlslebens  mit  der  Härte  der 
äufseren  Welt  in  Verbindung  zu  bringen,  ist  ja  so  recht  Auf- 
gabe des  Romanschriftstellers. 

Nachdem  wir  aber  jene  Lieblinge  Dickens'  als  für  den 
Roman  recht  geeignet  bezeichnet  haben,  können  wir  nicht  umhin, 
ihnen  im  praktischen  Leben  Glück,  Wohlstand  und  Gelingen 
ihrer  Pläne  abzusprechen.  In  Wirklichkeit  erreicht  jener  Mensch 
viel  besser  und  schneller  sein  Ziel,  welcher,  mit  Intellekt  und 
Charakter  begabt,  das  ihn  ins  Schwanken  versetzende  Gemüt 
gar  nicht  in  Frage  zieht.  Auch  diesem  Menschen  mangelt  es 
an  innerer  Harmonie;  aus  Princip  entspringender  Egoismus  ist 
sein  Kern,  und  so  mancher  von  des  Schriftstellers  Landsleuten 
und  Zeitgenossen,  ja  die  ganze  grofse  englische  Nation  in  Poli- 
tik, Kolonisation  und  Handelssystem  repräsentiert  ein  solches 
unharmonisches  Gespann. 

Der  Umstand,  dafs  Dickens  den  Gemütsmenschen  zu  sei- 
nem Ideale  erhebt,  den  harten,  energischen  und  mechanisch  vor- 
gehenden matter  of  fact  Menschen  dagegen  lächerlich  macht, 
oder  denselben  gar  eines  gew^altsamen  Todes  sterben  läfst,  nach- 
dem  er  ihn  schon  in  der  Anschauung  des  Lesers  komisch  ver- 
nichtet hat,  mag  Taine  zu  dem  Schlüsse  veranlafst  haben,  dafs 


342  Dickens  und  seine  Hauptwerke. 

Dickens  mehr   der  angelsächsischen    und    gemütvollen  Richtung 
des  englischen  Volkes  angehöre,  die  sich  noch  von  Zeit  zu  Zeit 
an  der  Seite  der  strengen,  energischen  normannischen  Richtung 
bemerkbar  macht.     Die  Behauptung,  dafs  auf  die  normannische 
Invasion   allein  dieser,    bis    auf   unsere  Tage   reichende  Einflufs 
auf  Eno'lands  Wohlergehen    und  den  enohschen  Volkscharakter 
zurückzuführen  sei,    ist   bereits    ad  nauseam  wiederholt  worden, 
aber  trotzdem  mit  einer  o-ewissen  Vorsicht  aufzunehmen.    Schon 
in  dem  Ano;elsachsen  auf  deutschem  Boden  sind  die  Keime  des 
enorlischen    Nationalcharakters    zu    finden.      Wie    unterschieden 
sich  schon  in  der  Sprache  ihre  nledersächsischen  Vorfahren  von 
den  mehr  im  Süden  wohnenden  deutschen  Stämmen!    Der  Unter- 
schied springt  in  die  Augen,  wenn   wir  die  kernige,  energische, 
auf  gegenständliche  Erzählung   losgehende  Sprache  des  nieder- 
sächsischen   Heiland    der    sentimentalen    Auffassungsvvelse    des 
süddeutschen  Otfried  ent2[eo:enhalten.     Die  auf  Englands  Boden 
schon  vor  1066    entsprossene   angelsächsische  LItteratur   ist  ein 
weiterer  Beleg  für  die  oben  aufgestellte  Behauptung.    Man  ver- 
gleiche nur  das  angelsächsische  Lied  des  Beowulf  mit  dem  auf 
deutschem  Boden   gesungenen  Karlsliede.     Das   angelsächsische 
Gedicht  kennzeichnet  eine  kernige  Gegenständlichkeit    und  eine 
w^ilde    Energie,    während    das    innigere    Gefühlsleben    des    deut- 
schen   Sängers    mehr    der   Befriedigung    der    Ruhe    nach    dem 
Kampfe  Ausdruck  giebt  und  in  Danksagungen  gegen  Gott  zer- 
fliefst.    Dafs  die  normannische  Invasion  ohne  Einflufs  auf  Eng- 
lands Geschick  und  Volkscharakter  gewesen  Ist,   wird  wohl  nie- 
mand leugnen;  doch  60000  Mann  konnten  diesen  Einflufs  nicht 
ausüben,    wenn   nicht    schon    die  Keime    zur    Entwickelung    der 
neuen  Elemente  im  Volke  selbst  vorhanden  waren.     Wenn  nun 
Dickens'   Empfindungsweise    nicht    rein    englisch    ist,    mufs    sie 
deshalb    noch    nicht    angelsächsisch  sein.     Man    vergesse    nicht, 
dafs    vor   dem    Erscheinen    der    Angelsachsen    in    England    sich 
eine     Nation     träumerischer     Gemütsmenschen     auf     britischem 
Boden  befand.     Und  wenn  Taine   in  Dickens    etwas  von  einem 
Angelsachsen    wittert,    dürften    andere    geneigt    sein,    in    seiner 
Gemütsverfassung  und  in  der  seiner  Lieblingsfiguren    (sogar  In 
einigen     Hauptzügen     Copperfields)     wesentliche    Anklänge    an 
den    keltischen    und    namentlich    an    den    irischen    gemütvollen 


Dickens  und  seine  Hauptwerke.  343 

Charakter  zu  finden,  der  in  ßurke  seine  herrlichste  Blüte 
trieb.*  Der  Iren  Enthusiasmus  beim  Handeln,  ihr  Mitleid  mit 
dem  Duldenden,  ihre  Interesselosigkeit  an  eigenen  Angelegen- 
heiten,  verbunden  mit  der  Sucht  des  unzeitigen  Einschreitens 
zu  gunsten  Fremder,  bilden  einen  schneidenden  Gegensatz  zu 
der  kühlen  Besonnenheit  des  Engländers,  seiner  Indifferenz  für 
fremdes  Leid  und  Handeln  und  der  starken  Betonung  des  eio'enen 
„Ich"  in  allem  Thun  und  Lassen. 

Dickens'  Lieblingsfiguren  sowohl  wie  dem  ihm  so  verhafsten 
matter  of  fact  Menschen  sprachen  wir  bereits  eine  harmonische 
Entwickclung  der  Seelenkräfte  ab;  denn  bei  jedem  von  beiden 
vermissen  wir  etwas  Wesentliches.  Nun  müssen  wir  aber  wissen, 
dafs  alle  grofsen  Volksprediger,  Luther  nicht  ausgenommen,  im 
gewissen  Sinne  das  Beispiel  unseres  Heilandes  nachahmen,  der 
den  in  seiner  Zeit  so  starren  Buchstabenglauben  vernichtete, 
was  er  in  unserer  Zeit  des  Indiflferentismus  für  unnötig,  ja  für 
verderblich  gehalten  haben  würde.  Der  Reformator  wird  nur 
dann  fruchtbar  wirken,  weun  er  dem  Volke  im  grellen  Lichte 
das  zeigt,  was  ihm  fehlt.  Mögen  also  des  Dichters  Ideale  in 
Wirklichkeit  unharmonisch  sein,  er  strebt  trotzdem  die  Har- 
monie des  inneren  Menschen  an :  es  ist  eine  auf  Gemütsbildung 
beruhende  Charakterbildung,  welche  hier  dem  englischen  Volke 
in  allen  Schriften  unseres  reformatorischen  Schriftstellers  ge- 
predigt  wird. 

Die  Forderung  der  gemütvollen  Auffassung  ihrer  Pflichten 
stellt  Dickens  namentlich  an  alle  Diener  derjenigen  Institute, 
welche  die  Weltordnung  zu  Hütern  und  Vormündern  ihrer  Mit- 
brüder eingesetzt  hat.  —  Trotz  der  heftigen  Angriffe  auf  Ge- 
richts- und  PoHzeiwesen,  auf  Schule,  ja  selbst  auf  Fakultät  und 
Kirche,  ist  Dickens  ein  guter  Christ,  ein  eifriger  Protestant, 
ein  guter  Staatsbürger  und  durchaus  frei  von  utopistischen 
Ideen.  Dickens'  Angriffe  gegen  diese  Institute  erklären  sich 
nur  aus  dem  oben  näher  erörterten  Princip,  den  mechanisch 
vorgehenden    und    selbst   in  Amt    und  Würden    geschäftsmäfsig 


*  Die  Verschiedenheit  zwischen  dem  irischen  Enthusiasten  Burke  und 
Fox,  dem  englischen  Advokaten  und  kühlen  matter  of  fact  Menschen,  hat 
Macaulay  so  schön  im  Warren  Hastingsschen  Prozefs  dargethan.  Der  Cha- 
rakter Sheridans  hält  die  glückliche  Mitte. 


344  Dickens  und  seine  Hauptwerke. 

handelnden  matter  of  fact  Menschen  an  der  Spitze  seiner 
Mitbrüder  zu  beobachten  und  der  Lächerlichkeit  zu  über- 
leben. 

Da  der  Romanschriftsteller  nicht  wie  der   Dramatiker  Pro- 
bleme zu  stellen,  sondern  sich  auf  realem  Boden  zu  halten  hat, 
mufs    seine    Weltanschauung    wie    sein    Werk    prosaisch    sein. 
AVährend  Shakespeare  und  Goethe    wie  Adler   ihren  Seherblick 
von    idealen  Höhen    auf  die  Zweckmäfsigkeit    der  Weltordnung 
lenken,  kann  des  Romanschriftstellers  Auge,    der  Henne  gleich, 
nur  das  ihm  nahe  Liegende  erkennen.     Wie  Dickens  selbst  an 
die  Heilslehren  der  Offenbarung  glaubt,    thut  er  auch  in  seinen 
Werken  dar,  dafs  Gott  den  Bösen  bestraft  und  den  Guten  be- 
lohnt, wäre  es  auch  erst  in  jener  Welt ;  dafs  bei  Boz  der  Zufall 
eine  viel  gröfsere  Rolle  in  der  Weltordnung    spielt    als  bei  den 
Dramatikern,    erklärt    sich    aus    den    verschiedenen    Dichtungs- 
o-ebieten.     Und   wenn  der  Zufall    sosfar    in  Hard  Times  so  weit 
in    die    Geschicke    des    Stephen   Blackpool,    einer   Dickensschen 
Lieblinofsfi^ur,    eingreift,    dafs    er    den    besten  Mann    dem  Tode 
in  die  Arme  liefert,  geschieht  dies  nur,    um    dem    vielgeplagten 
sterbenden  Fabrikarbeiter   aus   dem  finsteren  Schachte,    in   wel- 
chen   er    durch  Zufall    geraten,  den    Stern    einer    besseren  Welt 
zu  zeigen,  der  ihm  als  Entschädigung  für  die  erfahrene  Unbill 
in  dieser  Welt  Freude  und  Seli^^keit  brinnjen  wird.     Diesen    so 
alten  und  noch  immer  hellglänzenden  Stern  der  materiellen  Welt 
gezeigt   und   von    dem  dunklen  Jammerthale  aus  herrliche  Pro- 
spekte in  die  Unendlichkeit  geschaffen  zu  haben,   ist   eines   der 
Hauptverdienste    Dickens',    aber    ganz    besonders    erkennbar    in 
Oliver   Twist    und    Hard    Times,    zwei    socialen    Romanen    von 
einer  ernsteren  Gattung,  einem  umfassenden  Horizonte  und  einer 
grofsartigen  Perspektive,  von  denen  das  erstgenannte  Werk  das 
versöhnende,  das  letztere  dagegen  mehr  das  befreiende  und  er- 
lösende Moment  zum  Ausdruck  bringt. 

Jean  Paul  hat  Homers  Odyssee  als  den  Urroman  be- 
zeichnet. In  der  That  hat  dieses  E])Os  viele  Momente  mit  dem 
modernen  Roman  gemein.  Da  nun  die  Figuren  der  Odyssee 
weni^/er  wirkliche  Personen,  sondern  meist  nur  moralische  Ab- 
strakte  sind,  Odysseus  z.  B.  nur  eine  Verkörperung  der  grie- 
chischen Nationaltugenden,  Penelope  ein  Muster  von  einer  tugend- 


¥ 


Dickens  und  seine  Hauptwerke.  345 

haften  Gattin,  Telemach  das  eines  pflichtgelreueji  Sohnes  u.  s.  \v. 
ist,  sind  sogar  geistreiche  Ästhetiker  zu  dem  wunderlichen 
Schhisse  gehingt,  dafs  die  epischen  und  Romanfiguren  samt 
und  sonders  nicht  wirkHche  Personen,  sondern  nur  Repräsen- 
tanten gewisser  Eigenschaften  sein  müfsten,  und  dafs  die  Dar- 
stelluno: wirklicher  Personen  nur  die  unerläfsliche  Aufi^abe  des 
dramatisclien  Schriftstellers  sei.  Allein  der  Umstand,  dafs  in 
dem  griechischen  Drama  sich  auch  nur  Symbole  von  Personen 
vorfinden,  nicht  aber  diese  selbst,  vernichtet  auch  das  dem 
epischen  Dichter  gemachte  Zugeständnis.  Die  Griechen,  dieses 
naturwüchsige  Naturvolk,  konnten  infolge  ihres  ausgeprägten 
Sinnes  für  plastische  Gegenständlichkeit  sehr  wohl  des  vollen 
Bildes  entraten,  und  die  Symbole  von  Figuren  in  ihren  Dich- 
tungen  riefen  in  ihrer  Anschauuno;  das  runde,  volle  Bild  der 
Person  hervor,  das  dem  Dichter  allerdings  vor  Augen  geschwebt, 
er  aber  für  unnötig  erachtet  hatte,  vollständig  abzubilden.  Doch 
da  in  unseren  Tagen  das  Auge  viel  von  seiner  ursprünglichen 
Schärfe  und  die  Einbildungskraft  viel  von  ihrer  natürlichen 
Frische  verloren  hat,  würden  moderne  Künstler  und  Autoren, 
Dramatiker  wie  Romanschriftsteller  in  den  gröfsten  Fehler  ver- 
fallen, wenn  sie  das  Beispiel  der  Griechen  bewufst  oder  unbe- 
wufst  nachahmten. 

Das  englische  Volk  sah  bis  zu  Elisabeths  Zeit  nur  Ab- 
straktionen von  Tugenden  und  Lastern  in  seinen  Theatern. 
Das  konnte  nicht  anders  sein.  Wenn  das  noch  ungeübte  Auge 
zum  erstenmal  beobachtet,  werden  sich  ihm  nur  allgemeine 
Merkmale  aufdrängen,  das  Detail  entschlüpft  ihm  ;  es  sieht  nur 
die  Umrisse  und  versteht  noch  nicht,  diese  durch  die  Wellen- 
linie zu  verbinden.  In  den  englischen  Theatern  jener  Periode 
wurden  die  Laster  (Vices)  durch  Personen  repräsentiert,  bis 
man  sie  durch  die  individuelleren  Clowns  der  Elisabethschen 
Ära  ersetzte;  die  „Rache",  durch  eine  unheimliche  Gestalt  ver- 
körpert, wohnte  beispielsweise  stillschweigend  der  Ausübung 
des  Verbrechens  bei.  Doch  während  die  „dira"  trotz  aller 
Abstraktion  in  den  Augen  des  Atheners  eine  wirkliche  Person 
repräsentierte,  war  jene  Rachegestalt  dem  Londoner  nur  der 
Ausdruck  einer  innerlich  gefühlten  ethischen  Idee.  Der  Puri- 
tanismus   entwickelte   diese  Neigung,   moralische  Ideen    zu   ver- 


346  Dickens  und  seine  Hauptwerke. 

körpern,  mehr  uiul  mehr.*  Überhaupt  waren  Verkörperungen 
von  Tugenden  und  Lastern  dem  moralischen  und  praktischen 
Engländer  zu  jeder  Zeit  willkommen,  und  ist  auch  die  Ab- 
straktion der  Tugenden  und  Laster  nur  noch  vereinzelt  zu 
finden,  so  haben  diese  seit  Fielding  nur  typischen  Vertretern 
gewisser  Gesellschaftsklassen  Platz  gemacht. 

Li  der  Glanzperiode  der  französischen  Litteratur  dürften 
Molieres  Figuren  der  ^^'irklichkeit  am  nächsten  stehen.  Wäh- 
rend jedoch  die  Franzosen  wie  die  Engländer  jener  Periode 
nur  unbewufst  in  den  Fufsstapfen  der  Griechen  wandeln,  erhebt 
Schiller  den  Fehler  des  klassischen  Volkes  zum  System,  und 
die  Braut  von  Messina  wird  die  Frucht  dieses  Irrtums.  — 
Goethes  gottgewaltige  Jdee  dagegen  sprengt  nur  zu  oft  die 
dünne  Hülle  der  Figur,  und  der  Titelheld  des  Faust  ist. nicht 
der  einzige  Beleg  dafür,  dafa  der  titanenhafte  Gedanke  „seiner 
Fessel  sich  entraffend''    auf  der  „eigenen  Spur"  einherschreitet. 

Lieferten  nun  ein  Moliere  und  ein  Schiller  mehr  oder 
weniger  moralische  Abstrakta,  so  mufs  uns  Lewes  in  Erstaunen 
setzen,  wenn  er  von  Dickens'  Figuren  sagt,  sie  seien  samt  und 
sonders  nur  Masken,  d.  h.  moralische  x^bstrakta.  Da  die 
Schöpfungen  der  gröfsten  Heroen  der  antiken  und  modernen 
Kulturvölker  nur  mehr  oder  weniger  Masken  sind,  wie  können 
wir  von  unseren  Novellisten  mehr  erwarten?  Dessenung^eachtet 
ist  Lewes'  Bemerkung  richtig;  die  unschöne  Härte  seiner  Be- 
schuldigung kann  er  jedoch  nur  dadurch  rechtfertigen,  dafs  er 
Dickens'  Fio-uren  mit  dem  höchsten  Mafsstabe  oremessen  hat. 

Unter  Hinweis  auf  die  Clowns  ward  oben  angedeutet,  dafs 
während  der  Re^ieruno-szeit  der  Königin  Elisabeth  sich  ein 
wesentlicher  Fortschritt  in  der  dramatischen  Personenzeichnuns: 
erkennen  läfst.  Die  Zeit  kam  jenen  dramatischen  Reformatoren 
entsjeoren.  In  diesen  Tagen  der  Urwüchsig-keit  fiel  der  Charakter 
noch  nicht  mit  dem  Temperament  zusammen,  wie  in  unserer 
Zeit,  wo  nivellierende  Schulsysteme,  Gesetze  und  Verordnungen 
und  besonders  der  bittere  Kampf  um  das  Dasein  in  einer  künst- 
lichen ^^'elt    das    Temperament    in    Schranken    halten    oder    von 


*  Selbst  die  Beinamen  lebender  Personen  jener  Zeit  legen  Zeugnis  von 
dieser  Geistesrichtuni^  ab.  Fand  sich  doch  ein  Major  „vSmite  them  Hip  and 
Thigh"  und  ein  Kapitän  „Fight  the  good  Faith"  unter  Cromwells  Kriegern. 


Dickens  und  teine  Hauptwerke.  347 

Geschlecht  zu  Geschlecht  zu  so  dürftigen  Spuren  reduziert 
haben,  dafs  Psychologen  nur  noch  mit  Bedenken  von  Cholerikern 
und  Sanguinikern  sprechen  oder  gar  behaupten,  dafs  ein  und 
derselbe  Mensch  in  den  verschiedenen  Lebensstadien  die  Skala 
aller  Temperamente  durchlaufe. 

In  jener  grofsen  Zeit  lebte  eine  Schar  von  Künstlern,  die 
nichts  mit  der  akademisch  gebildeten  Kunstkaste  unserer  Tage 
gemein  haben,  sondern  klarsehende  Kinder  der  Natur  waren, 
welche  an  der  Seite  jener  Heroen  das  Leben  genossen  und  in 
dem  Taumel  ihrer  Orgien  den  Menschen  zeichneten ,  dessen 
Charakter  vor  ihnen  lag. 

Die  charakterzeichnende  englische  Litteratur  hat  sich  frei 
von  jeder  sklavischen  Nachahmung  aus  sich  selbst  heraus  ent- 
wickelt, und  man  kann  drei  Perioden  in  dieser  Entwickelung 
unterscheiden.  In  dem  ersten  Abschnitte,  bis  zur  Ke^xierunor 
Elisabeths,  fallen  dem  ungeübten  Personenzeichner  nur  allge- 
meine Merkmale  auf,  und  die  Wahrnehmung,  dafs  ein  Mensch 
geizig,  heuchlerisch  oder  rachsüchtig  ist,  drängt  ihn  zu  Ab- 
straktionen von  Tugenden  und  Lastern.  Er  ist  dem  Kinde 
ähnlich,  welchem  zum  erstenmal  die  Helle  des  Feuers  oder  die 
Gestalt  der  Kinderklapper  Erstaunen  entlockt. 

Die  zweite  Periode,  Elisabeths  Reglerungszeit,  bringt  in- 
mitten einer  Gruppe  von  Schriftstellern  Shakespeare  als  den 
besten  Charakterzeichner  hervor.  Das  Individuelle  mit  Natur- 
farbe darzustellen,  scheint  er  sich  besonders  zur  Aufgabe  ge- 
macht zu  haben,  und  er  ist  der  herrlichste  Repräsentant  des 
englischen  Volkes  in  der  ersten  Mannesblüte,  das  den  Menschen 
mit  noch  o;esundem  Au^e  beobachtet. 

Nach  einem  Stillstande,  in  w^elchem  England  puritanisch 
geworden,  zeigen  Fieldings  28  Eingangskapitel  zu  Tom  Jones, 
dafs  die  charakterzeichnende  Litteratur  die  dritte  Periode, 
das  reifere,  reflektierende  und  Erfahruno^en  zusammenfassende 
Mannesalter,  erreicht  hat.  Während  die  erste  Periode  den 
groben  Umrifs  der  Person  ins  Auge  fafst,  wird  der  Schrift- 
steller der  letzten  Periode  mehr  dem  Detail  seine  Aufmerksam- 
keit zuwenden  und  sich  mehr  in  typischen  Vertretern  versuchen. 
Diese  Periode  der  ßerechnuno;  kann  in  der  Charakterzeichnunfj 
kein  Genie  zeitigen,  und  Fielding  wie  Dickens  erreichen  Shake- 


348  Dickens  und  stinc  Hauptwerke. 

?peare  nicht.  Selbst  die  plastische  Fülle  der  Scottschen  Figuren 
kommt  ihm  nicht  gleich,  da  wir  in  der  vollständig  ausgemalten 
Ficur    nur    viel    Wissenschaft,    aber    weniji;  Kunst    sehen. 

Der  Schriftsteller  ist  ein  Kind  seiner  Zeit,  so  mancher 
Fehler  mufs  auf  Kosten  seines  Jahrhunderts,  das  ihn  erzeugt 
liat,  und  des  Publikums,  welches  ihn  verstehen  soll,  geschrieben 
werden.  Das  Detailwerk  seiner  F^igurcnzeichnung,  den  Mangel 
an   genialen  Züo;en    in    der  Charakteristik    seiner  Personen,    und 

DO  ' 

vor  allen  Dingen  die  nervös  krankhafte  Phantasie  des  Humo- 
risten, finden  wir  in  Dickenb'  Zeit  nicht  nur  in  England,  son- 
dern auch  auf  dem  Kontinent;  und  Boz'  Wahnsinnige,  Elfen 
und  Gespenster  stehen  noch  hoch  über  den  humoristischen  Er- 
zeugnissen, welche  das  krankhafte  Hirn  eines  Novalis,  Brentano 
und  Hoffraann  verliefsen.  —  Wenn  unser  Novellist  von  Ab- 
straktionen Gebrauch  macht,  geschieht  es  mit  dem  gröfsten  Ge- 
schick. Die  Vertreter  der  Heuchelei  (Pecksniff)  und  des  Stolzes 
(Dombej)  haben  keineswegs  ihre  Rolle  auswendig  gelernt.  Die 
Illusion  ist  so  täuschend  als  möglich,  und  jene  Symbole  über- 
raschen den  Leser  durch  ihre  Handlungen. 

A\'ährend  jene  Abstraktionen  von  Tugenden  und  Lastern 
unseren  Novellisten  sofort  als  praktisch  moralischen  Engländer 
erkennen  lassen,  dürfte  eine  zweite  Klasse  von  Figuren,  die 
typischen  Vertreter  für  Stände  und  Gesellschaftsklassen,  unseren 
Schriftsteller  unschwer  als  einen  Nachfolger  Fieldings  und  als 
einen  Eno-länder  unseres  Jahrhunderts  kennzeichnen.  Dtr  dich- 
terische  Vagant  Skimpole  und  Bücket,  der  Detektive  (Bleak 
House),  sind  besonders  hier  zu  erwähnen. 

Doch  eine  dritte  Klasse,  Figuren  mit  individuellen  Zügen, 
vermissen  wdr  keineswegs  in  Boz'  Werken.  Sam  ^Veller  (in 
den  Pickwickiern)  und  Joe  (Bleak  House)  dürften  nicht  die 
einzigen  Beispiele  sein. 

Was  des  Dichters  Ideale  betrifft,  so  sind  sie  meistens  aus 
einer  Gesellschaftsschicht  entnommen,  die  noch  unter  dem  Mittel- 
stande steht.  Stephen  Blackpool,  der  F'abrikarbeiter,  spricht  die 
Sprache  eines  Gentleman  und  hat  die  Gefühle  eines  Nobleman; 
George  Tapley,  der  Hausknecht,  übt  die  Selbstverleugnung 
eines  VVeltweisen ;  beide  Schöpfungen  reichen  jedoch  nicht  an 
die  lebensgetreue  Zeichnung  des  Fischers  Peggotty  (Copperfield). 


Dickens  und  seine  Hauptwerke.  349 

Nach  dem  vorher  Gesandten  möije  man  nicht  annehmen, 
dafs  Dickens'  Phantasie  stets  eine  krankhafte  Richtunor  o-e- 
nommen  oder  bei  dem  Schöpfunfjsvoi^anjje  seiner  Figruren  gar 
nicht  thätif]j  gewesen  sei.  Eine  e:rofse  Anzahl  seiner  Fi<i;uren 
nmssen  wir  sogar,  trotz  aller  Kealität,  als  gelungene  Produkte 
des  Schmelzungsprozesses  seiner  Phantasie  bezeichnen.  Dieses 
gilt  namentlich  von  den  Romanen,  bei  deren  Abfassung  Dickens 
sich  in  fremden  Ländern  aufhielt,  wo  der  Londoner  Feuilletonist 
nicht  beständig  die  Eindrücke  der  realen  Welt  und  der  realsten 
City  vor  Augen  hatte. 

Nach  dem  bisher  Gesagten  könnte  vielleicht  ein  besonderes 
Kapitel  über  das  Temperament  der  Dickensschen  Figuren  un- 
nötig erscheinen.  Obwohl  die  Schöpfungen  unseres  Novellisten 
nun  zwar  selten  ein  volles,  rundes  Bild  des  Temperamentes 
entfalten,  so  ist  dasselbe,  wenn  auch  durch  wenige,  so  doch 
durch  markierte  Züge  angedeutet,  und  der  zeichnende  Rotstift 
ist  mit  so  kräftiger  Hand  und  so  weiser  Berechnung  geführt 
worden,  dafs  man  bei  der  Mannigfaltigkeit  der  Dickensschen 
Leute  und  der  Verschiedenheit  der  Altersstufe  derselben  sehr 
bald  die  scharfe  Beobachtungsgabe  des  Schriftstellers  •  heraus- 
fühlt.  —  Das  von  deutschen  Psychologen  aufgestellte  System, 
welches  ein  phlegmatisches,  sanguinisches,  cholerisches  und 
melancholisches  Temperament  unterscheidet,  ist  neuerdings  von 
ihnen  wieder  aufgegeben  worden,  da  nach  der  Meinung  der 
Neuerer  in  reiferen  eJahren  das  Temperament  mit  dem  Charakter 
zusammenfalle  und  auch  schon  in  der  Jugend  des  Menschen 
60  bestimmte  Temperamentsrichtungen  nicht  existieren  sollen. 
Diese  nunmehr  veraltete  Temperamentslehre  ist  von  dem  schärfer 
beobachtenden  Engländer  niemals  adoptiert  worden.  Und  w^enn 
er  auch  von  melancholischen  und  phlegmatischen  Menschen 
spricht,  so  ist  ihm  doch  keine  Übersetzung  des  Wortes  „San- 
guiniker" geläufig,  und  die  Bezeichnung  „choleric"  hat  im  Eng- 
lischen einen  ganz  anderen  Sinn  und  dürfte  durch  das  Beispiel 
Cedric-s  (in  Ivanhoe)  am  besten  illustriert  werden,  dem  Walter 
Scott  ein  „hasty  choleric  temper"  (ein  hitziges  Wesen)  zu- 
erteilt. —  Da  nun  der  Engländer  in  seiner  charakterzeichnenden 
Litteratur    unter    allen    Nationen    die    höchste    Stufe    einnimmt, 


350  Dickens  und  seine  Hauptwerke. 

müssen  wir  ihm  nach  dieser  Richtung  hin  ein  Urteil  zutrauen, 
welches,  unbeirrt  durch  Systeme  und  Schablonen,  auf  Beob- 
achtuno;  und  Erfahruno;  beruht,  und  könnte  uns  die  eno^lische 
Nation  keinen  besseren  Sachverständigen  stellen  als  Dickens, 
der  uns  in  seinen  AVerken  den  Menschen  in  den  verschiedensten 
Lebensstadien  zeio-t,  als  Kind  in  der  \Vieo;e,  als  J\Iann  auf  der 
Höhe  des  Lebens  im  Kampfe  um  die  Existenz,  und  als  Greis. 

Die  Erotik  nahm  in  den  Ritterepen  nur  einen  unbedeu- 
tenden Raum  ein ;  in  dem  Roman  breitete  sie  sich  allmählich 
weiter  aus  und  wurde  endlich  der  Mittelpunkt  der  Fabel  und 
der  Angelpunkt  der  Intrigue.  Da  sich  die  weiblichen  Autoren 
besonders  auf  diesem  Gebiete  heimisch  fühlen  mufsten,  wen- 
deten sie  ihm  ihre  ganze  Aufmerksamkeit  zu,  und  von  Jane 
Austens  Elisabeth  (in  Pride  and  Prejudice)  und  der  George 
Sandschen  Valentine  und  Indiana  an  war  die  Liebe  ein  nach 
allen  Seiten  hin  viel  besprochenes  Thema.  —  Wenn  nun 
Dickens*  Erotik  nur  als  das  schwache  Schöne  dazu  bestimmt 
ist,  dem  Erhabenen  und  Lächerlichen  —  oder  starken  Schönen  — 
als  Ruhepunkt  zu  dienen,  so  wird  des  Kritikers  Auge  in  dieser 
Komposition  dieselbe  Harmonie  entdecken,  die  der  verbindende 
Bogen  zwischen  zwei  gotischen  Strebepfeilern  bewirkt. 

Die  Romanschriftstellerinnen  scheinen  meist  von  dem  Grund- 
satze auszuo;ehen,  dafs  die  Frau  der  interessantere  Teil  der  Mensch- 
heit  ist.  Wenn  daher  George  Sands  Edmee  oder  Jane  Austens 
Elisabeth  geistig  über  ihre  Liebhaber  oder  spätere  Gatten  empor- 
rafTen,  so  zeist  sich  darin  schon  ein  bedenklicher  Zug;  der  Ver- 
fasserin,  für  ihr  Geschlecht  und  für  die  Frauenfrage  Propa- 
ganda zu  machen.  Nun  ist  aber  die  Tendenz,  das  Hinarbeiten 
für  bestimmte  Zwecke,  an  und  für  sich  dem  Kunstwerk  noch 
nicht  nachteilig;  das  Vordrängen  derselben  jedoch  mufs  unter 
allen  Umstanden  auf  diesem  Gebiete  vermieden  werden,  da  der 
Roman  nicht,  wie  das  Drama,  Probleme  aufstellen,  sondern  die 
prosaische  Wirkliclikeit  abbilden  soll.  In  einem  Punkte  jedoch 
übertreffen  die  Romane  jener  geistreichen  Verfasserinnen  Dickens' 
ffleichgeartete  Partner  wie  Frank  Cheerible  und  Käthchen 
Nickleby,  des  fadesten  Liebespärchens  Henry  und  Rosa  Maylie 
(in    Oliver    Twist)    gar    nicht    zu    gedenken.      Das    dem    Manne 


Dickens  und  seine  Hauptwerke.  351 

überlenrene  Weib  bildet  näiiilich  mit  iliin  den  herrlichsten  Kon- 
trast,  und  dieser  Gegensatz  ist  höchst  geeignet,  das  rechte  Mafs 
der  Dinge,  die  Verschiedenheit  der  Charaktere  und  der  Tempera- 
mente, der  Geisteskräfte  und  der  im  Kampfe  angewendeten 
Waffen  zu  veranschaulichen.  In  dem  Kampfe  der  beiden  un- 
Meichen  Partner  haben  nicht  nur  diese,  sondern  auch  die  Schrift- 
steller  die  beste  Gelegenheit,  ihre  Kraft  zu  entfalten.  Da  dann 
die  Frau,  dieser  interessantere,  stärkere  und  kämpfende  Teil 
der  Menschheit,  den  Mann  zum  leidenden  Teil  herabdrückt,  und 
der  letztere  wiederum  diese  durch  den  geleisteten  Widerstand 
zur  Dulderin  macht,  oder  gar  im  Bewufstsein  der  Überlegen- 
heit der  Gegnerin  zu  unschönen  Waffen  greift,  wird  durch  die 
Erotik  der  Romane  das  Interesse  der  Lesewelt  auf  den  höch- 
sten Punkt  gespannt.  —  Doch  dürften  Schriftstellerinnen  nicht 
allein  diesen  Gegensatz  o:eschaffen  haben,  und  wenn  Taine  von 
den  Walter  Scottschen  Liebhabern  bemerkt,  dafs  sie  alle,  der 
neuen  Mode  gemafs,  einen  sentimentalen  Anstrich  hätten,  deutet 
er  dadurch  ganz  richti«:  an,  dafs  Ivanhoe  neben  Rowena  milder 
erscheine.  Dafs  dieses  eine  neue  Mode  ist,  dürfte  jedoch  be- 
stritten werden;  denn  bei  Brunhilde  und  Günther,  Chriemhllde 
und  Siegfried,  bei  Julie  und  Romeo,  ja  bei  Dorothea  und  Her- 
mann drängt  sich  uns  dieselbe  Wahrnehmung  auf,  und  Dickens 
selbst  hat  in  Walter  Gay  und  Flora  Dombey  dem  Weibe  eine 
ähnliche  Uberlesenheit  eingeräumt.  —  Nur  dürfte  die  Schilde- 
rung  dieser  Überlegenheit  der  Frau  objektiver  ausfallen,  wenn 
der  Mann,  der  leidende  Teil,  die  Feder  ergreift,  und  Goethe, 
welcher  Frauencharaktere  gründlich  studiert  hatte,  scheint  in 
Dorothea  und  Hermann  das  Richtige  getroffen  zu  haben,  wenn 
er  die  Jungfrau  mit  Entschlossenheit,  Konsequenz  im  Handeln, 
einer  derben  Aufrichtigkeit  und  einer  gewissen  Berechnung  in 
der  Wahl  der  Mittel  ausrüstet,  während  er  dem  Jünglinge  ein 
schwankendes  Gemüt,  Grofsmut,  aber  Weichheit,  ja  etwas 
^^'eichlichkeit  zuerteilt. 

Da  aber  das  Weib  nur  diese  Überlegenheit  auf  dem  Ge- 
biete der  Liebe  entfaltet,  der  Mann  dagegen  in  der  Sturmflut 
des  Lebens  viel  sicherer  das  Steuerruder  führt,  begehen  die 
weiblichen  Autoren,  dem  männlichen  Geschlechte  gegenüber,  eine 
grofse  Ungerechtigkeit,    wenn    sie   sieh   nur   auf  die  Liebe,   auf 


352  Dickens  und  seine  llauptweike. 

ein  Gebiet  beschränken,  wo  die  Frau  als  Herzenskönigin,  der 
Mann  neben  ihr  als  Stümper  erscheinen  mufs.  Dickens'  Werke 
dagegen  zeigen  uns  Mann  und  Weib  auf  verschiedenen  Ge- 
bieten und  in  den  verschiedensten  Lagen  des  Lebens.  Auch 
darin  liegt  ein  Vorzug,  den  Taine  leider  zu  gering  anschlägt, 
wenn  er  bei  Gelegenheit  von  Emilys  Entführung  durch  Steer- 
forth  (in  Copperfield)  bemerkt,  Dickens  zeige  uns  nur  das  Elend 
und  die  Qual  der  Liebe;  er  verstehe  es  aber  nicht,  wie  G.  Sand 
das  Entstehen,  das  Wachsen  und  den  Höhepunkt  der  Leiden- 
schaft zu  zeichnen. 

Somit  verlangt  Taine  vom  Romanschriftsteller,  die  Liebe 
als  Leidenschaft  aufzufassen,  und  diese  Anforderung  wird  von 
dem  deutschen  Kunstjünger,  der  wie  keine  andere  Nation  in 
seiner  Kritik  auf  dem  Standpunkte  der  Ästhetik  steht,  nur  für 
gerecht  befunden  werden. 

Die  Frage,  ob  die  Liebe  als  Eigenschaft  oder  als  Tugend 
aufgefafst  werden  müsse,  ist  schon  oft  in  der  Litteratur  auf- 
getaucht, und  Bernardo  Tasso  hat  aufser  seinem  unsterblichen 
Sohne  der  litterarischen  Welt  noch  eine  tiefsinnige  xlbhandlung 
geschenkt,  welche  diese  Frage  erörterte.  Peter  Daniel  Huet, 
ein  geistreicher  französischer  Romankritiker,  hat  schon  vor 
Jahrhunderten  diesen  Punkt  nach  den  verschiedensten  Seiten 
hin  beleuchtet,  *  und  obgleich  er  die  deutsche  Litteratur  nur  in 
der  Wiege  sah,  sprach  er  die  Überzeugung  aus.  dafs  der 
Deutsche,  sein  ernsterer  Nachbar,  die  Liebe  einst  nur  als 
Tugend  auffassen  werde.  Grofs  dürfte  sein  Erstaunen  sein, 
hörte  er  Gretchens  an  Faust  gerichtete  Worte,  welche  seinem 
Besuch  in  der  Jungfrau  Kämmerlein  vorausgehen. 

Taine  hat  nun  allerdings  recht,  wenn  er  meint,  die  mo- 
derne, vom  Puritanismus  getränkte  englische  Litteratur  befasse 
eich  lieber  mit  der  Liebe  als  Tugend  ;  aber  Huet  täuschte  sich 
im  Deutschen,  wenn  er  glaubte,  die  Liebe  als  Leidenschaft 
werde  ihm  zuwider  sein.  Die  ästhetischen  Rücksichten  neben 
den  ethischen  zu  beachten  und  das  Schöne  neben  dem  Guten 
zu  i)flegen,  ist  ein  charakteristischer  Zug  unserer  Nation.  Es 
ist  daher  das  Ergebnis  einer  ernsteren  Untersuchung  und  nicht 


De  l'origine  des  Romans. 


Dickens  und  seine  Hauptwerke.  353 

Parteilichkeit  für  die  uns  so  verwandte  englische  Nation,  wenn 
wir  der  einsieht  sind,  der  Engländer  Dickens  habe  in  seiner 
Erotik  das  Richtige  getroffen.  Dafs  er  in  seinen  Romanen  die 
Liebe  nur  als  Tugend  und  nicht  als  Leidenschaft  auffassen 
konnte,  ero-iebt  sich  aus  folo-enden  Punkten. 

Ein  lokalisierender  Dichter  (Dickens)  wird  sich  besonders 
in  seiner  Erotik  von  dem  Kunstdichter  (Balzac  oder  G.  Sand) 
dadurch  unterscheiden,  dafs  er  die  Liebesscenen  so  darstellt, 
wie  sie  sich  seinem  beobachtenden  Au^-e  und  Ohre  im  eiire- 
nen  Lande  darbieten.  Mao-  Schillers  Wort,  dafs  in  einer  <re- 
wissen  Lebensperiode  „der  Knabe  sich  stolz  vom  Mädchen 
trenne",  um  später  auf  Umwegen  wieder  mit  ihr  zusammenzu- 
treffen, für  Deutschland  und  Frankreich  seine  Berechtio'un"; 
haben,  so  ist  diese  Erfahruno;  entschieden  auf  enorlische  Ver- 
hältnisse  nicht  anwendbar,  wo  das  Mädchen  am  Rande  des 
Spielplatzes  die  gefährlichen  Leibesübungen  des  knabenhaften 
Freundes  bewundert,  und  ihm  des  Sonnta":s  dadurch  eine  Geo^en- 
freude  erweist,  indem  es  seine  Begleitung  zur  Kirche  annimmt. 
Der  Übermut  des  Knaben  und  die  Schüchternheit  des  Mädchens 
müssen  bei  dieser  steten  Kameradschaft  allmählich  verschwin- 
den: die  aufkeimende  Zuneio;uno;  der  von  lästio-em  Zwanoe  be- 
freiten  Kinderpaare  entwickelt  sich  auf  dem  geweihten  Boden 
eines  puritanischen  Familienlebens  und  unter  dem  Schutze  der 
sorgsamen  Hausgötter  allmählich  zur  Liebe,  und  nun  treten 
zärtliche    Blicke,    herzlichere    Beo^rüfsunoen    bei    oreo-enseitioen 

'  OD  O     O  D 

Familienbesuchen,  auch  ein  hier  und  da  eino;estreuter  tändelnder 


') 


Liebesausdruck  an  Stelle  der  bei  anderen  Völkern  so  üblichen, 
so    orrofsartio-en    und    so    o-ewaltio;    erschütternden    Konflikte,    in 

O  O  D  D  J 

welche  die  beiden  Geschlechter  nach  langer  gewaltsamer  Tren- 
nung   notwendio-erweise    verfallen    müssen.      Als  Arabella  Allen 

D  O 

mit  ihrem  Geliebten  Winkle  (Pickwick)  beim  Tanze  erscheint, 
erwähnt  der  Novellist  nur  die  Rosette  am  kokett  vorwärts- 
gerichteten Damenschuh  und  das  liebliche  Rot  am  Wangen- 
grübcheuj  und  Dickens  möge  trotzdem  nicht  ein  oberflächlicher 
Beobachter  gescholten  werden:   denn  der  Geliebte  sogar  könnte 

D  O 

bei  der  lieblichen  Tochter  des  puritanischen  Volkes  ein  Mehr 
durch  Wort  und  Gebärde  kaum  entdecken.  Wenn  nun  Taine 
sagt,  dafs  Dickens'  Auffassungs weise  der  Liebe  als  Tugend  ein 

O    '  D  O 

Ardiiv  f.  11.  Suradioii.  LXXIII.  23 


354  Dickens  und  st-lne  Hauptwerke. 

Zugeständnis  an  die  mit  Puritanisinus  oetränlcten  Bewohner 
eeines  Landes  sei,  so  ist  dies  entschieden  daliin  abzuändern, 
dafs  die  Liebesscenen  unseres  lokaHsierenden  Dichters  nur  die 
kleinen  Sittenbiidchen  entfalten,  die  ihm  seine  Landsleute  selbst 
liefern  niufsten,  während  G.  Sands  Erotik  die  Konflikte  der 
Liebe  zum  Gegenstande  hat,  wie  sie  bei  ungewöhnlichen,  un- 
2:leich  gearteten  Paaren  bei  aufserordentlicher  Beo^abuno^  in  Ge- 
sinnunji,  Rede  und  Thatkraft  in  der  cfanzen  civilisierten  Welt 
möglich  sind. 

Da  unser  Schriftsteller  im  Gegensatz  zu  G.  Sand  wenisrer 
den  tendenziösen,  socialen  Roman,  sondern  mehr  den  tendenz- 
losen Familien-  und  Sittenroman  anbaut,  ist  es  stofFlicherseits 
crerechtfertiijt,  die  Liebe  entweder  in  der  Ehe  zu  schildern 
(Edith  Dombey  und  Mrs.  Strong),  oder  wenigstens  der  Liebe 
den  Zielpunkt  der  Ehe  zu  setzen  (Frank  Gay  und  Flora  Dombey). 

Die  Juncrfrauen  der  Dickensschen  Muse  sind  durch  die 
äufsere  Lebensstelluno^  und  durch  enoje  Verhältnisse  angewiesen, 
in  dem  ihnen  von  der  Vorsehung  ausersehenen  Geliebten  ihren 
Mitarbeiter  und  Beschützer  —  einen  anderen  Lohengrin  —  zu 
erblicken  (Mary  Graham  etc.). 

Aufser  diesen  äufseren  Verhältnissen  ist  es  auch  die  innere 
Gemütsbeschaffenheit  seiner  Jungfrauen-  und  Frauenorestalten, 
die  es  erlaubt,  ernsteren  Konflikten  in  der  Liebe  aus  dem  Wege 
zu  ofehen,  da  fast  alle  die  germanische  Eigenschaft  der  herz- 
innigen  weiblichen  Ergebenheit  besitzen,  die  in  Goethes  Marga- 
rethe  so  herrlich  verkörpert  wird.  Eine  Zusammenstellung- 
einiger  der  männlichen  Phantasie  entsprossenen  weiblichen  Ge- 
stalten zeigt  uns  so  recht,  dafs  des  Mannes  Ideal  von  einer 
Frau  wesentlich  von  den  räsonnierenden,  spitzfindig  disputie- 
renden und  körperlich  abgezehrten  Romanheldinnen  der  weib- 
lichen Autoren  verschieden  ist,  und  während  Jane  Austen  (in 
Pride  and  Prejudice)  unter  allen  Jungfrauen  in  der  klugen,  vor- 
sichtigen und  schlau  berechnenden  Elisabeth  eine  Type  weib- 
lichen Wesens  erblickt,  und  auf  dem  mageren  und  knochigen 
Körper  ihres  Lieblings  den  Blick  mit  W^ohlgefallen  ruhen  la fst, 
wird  der  männliche  Leser  der  älteren,  liebenswürdigeren  Schwester 
Jane  den  Liebesapfel  zuerkennen. 

Wenn  also  die  Liebe    in    den   Dickensschen  Romanen   sich 


I 


Dickens  und  seine  Hauptwerke.  355 

nur  in  Gefühl,  Gesinnung  und  Blick  kundgiebt,  also  mehr  einen 
lyrischen   Charakter  trägt,    mufs    man  den  Grund  darin  suchen, 
dafs  die  Liebenden   dem    mittleren   Bürgerstande   Englands    an- 
gehören.    Dem  deutschen  Novellisten   ist  es  allein  gegeben,  die 
Situationen    einer    bürgerlichen    Liebschaft    episch    zu    gestalten, 
indem  er    die  ihm  so  eio-ene  Sentimentalität  zu  Hilfe  ruft,    und 
wenn  Boz  in  der  zweiten  Brautwerbung  Copperfields  um  Agnes 
Wickfield  aus  dem  naiven  Tone  in  den  sentimentalen  umschlägt, 
merkt    der    Leser   zu    seinem  Bedauern,   dafs    dem    realistischen 
Engländer   in    diesem    ihm    fremden    Element    der    Boden    unter 
seinen  Füfsen  wankte.  —  Es  o-ehört  in  der  That  viel  Geschick 
und  eine  grofse  Kenntnis  des  Volkes  dazu,  die  so  hausbackenen 
Liebesscenen  des  mittleren  Bürgerstandes  anders  als  lyrisch  zu 
gestalten,  und  wenn  in  Sedaines  „Philosoph  ohne  es  zu  wissen" 
Victorine,    die  Tochter    eines  Hausverwalters    und  Geliebte    des 
Sohnes  des  Hauses,    ihre  Herzensunschuld  und  Naivität  in  rei- 
zenden dramatischen  Situationen    zum  Ausdruck    bringt,    so   ist 
der  Erfolg   nur    dem    Umstände    zuzuschreiben,    dafs    der   Ver- 
fasser  ein   Mann    des  Volkes    und    ein    sehr   geistreicher   Mann 
war.     Schiller  und  Goethe  verstanden  es  ebenfalls,   die  Liebes- 
scenen   einer    büro-erlichen    Junofrau    dramatisch    zu    orestalten, 
indem    sie    ihr  einen  hocho^estellten    oder   aber    oreistreichen  Ge- 
liebten    zuführen,    wodurch    sie    das    schlichte    Mädchen   in    eine 
Art  Schwärmerei  versetzen    und    dem    bis    zum  reinsten  Pathos 
gesteigerten    Selbstgefühle    Worte    entlocken,    die    das    Gefühls- 
leben des  weiblichen  Herzens  aufs  rührendste  blofslegen.  Weniger 
geistreiche  Schriftsteller  würden  sich  hier  dadurch  geholfen  haben, 
dafs  sie  dem  hocho^estellten    und  oreistreichen  Manne    ein    weib- 
liches  Wesen  zugeführt  hätten,  die  lieber  (zu)hört,  „wenn  kluge 
Männer  sprechen".  —  Noch  schwieriger  gestaltet  sich  die  Sache, 
wenn  der  Novellist  von  dem  gewöhnlichen  Verfahren    abweicht, 
der  bürgerlichen  Liebe    die  Ehe    als  Zielpunkt   zu  stecken,    wie 
das    bei    Emilys    Entführung     durch    Steerforth    der    Fall    ist 
(Copperfield).      Taines    Urteil,    dafs    Dickens    hier   weniger    das 
Wachsen    und    die  Krisis   der  Leidenschaft    gemalt    habe,    mufs 
jedoch  als  einseitig   zurückgewiesen  werden;    denn    des  jugend- 
lichen   schönen    und    reichen    Verführers    Kommen,    Sehen    und 
Sieo;en    ist    einer    einfachen    Fischerstochter    oreo^enüber    nur    zu 

O  OD 

23* 


3b6  Dickens  und  seine  Hauptwerke. 

walirsclieinlich.  Aufserdem  ist  des  Mädchens  plötzliches  Unter- 
liegen sehr  gut  durch  ihr  Temperament  und  durch  die  Verhält- 
nisse motiviert:  sie  kennt  den  schönen  Jüngling  durch  Copper- 
fields Schilderungen  schon  hinge  vor  seinem  persönlichen  Er- 
scheinen in  der  Fischerhütte,  und  die  Wirklichkeit  übertrifft 
noch  das  Spielbild  ihrer  Phantasie.  Eine  so  gründlich  moti- 
vierte Entführung  bedarf  nicht  noch  der  Erwähnung,  dafs  die 
ixetäuschte  Jungfrau  einer  Ehe  euto-ejrensieht.  In  dieser  letz- 
teren  ^Motivierung  müssen  wir  allerdings  ein  dem  englischen 
Puritanismus  unnÖtio-erweise  o-emachtes  Zuo-eständnis  erblicken, 
und  Emilys  umfangreiche  Briefe  an  ihre  Pflegeeltern  lassen 
eine  wahre  Befriedigunor  nicht  aufkommen. 

Möo^e  also  die  Schilderuno^  der  Liebe  als  Leidenschaft  für 
den  Kunstroman  einer  G.  Sand  g-anz  cjeeio-net  sein,  eine  Helena 
des  büro^erllchen  Familienromanes  dürfte  die  Kluft  vom  Er- 
habenen  zum  Lächerlichen  nur  zu  sehr  verringern :  die  Liebe 
kann  im  Sittenbilde  nur  Sehnsucht  und  Verlangen  nach  dem 
heimatlichen  Herde  sein,  und  dies  ist  eine  Auffassungsvveise, 
welche  nach  dem  Vorbilde  der  Odyssee,  des  antiken  Urromanes, 
ebenfalls  als  klassisch  bezeichnet  werden  mufs.  Möge  nun-  die 
den  Beschützer  des  Herdes  erwartende  Penelope  an  der  Seite 
der  üppigen  Helena  blafs  erscheinen,  eine  die  Liebe  als  Tugend 
betrachtende  Flora  (Dombey)  wird  neben  der  leidenschaftlich 
liebenden  Edmee  (in  ^lauprat)  auch  ihre  Bewunderer  finden; 
ja  selbst  der  klassische  Kunstjünger  dürfte  zuweilen  mit  Ver- 
o-nüoen  dem  sengenden  Sonnenstrahl  der  Leidenschaft  aus- 
weichen,  um  sich  an  dem  milderen  Mondesglanze  einer  büro;er- 
liehen  Liebe  zu  erfrischen. 

Schon  Taine  findet  E>ickens'  Naturschilderuno;  un2:ewöhn- 
lieh,  wenn  er  beispielsweise  sagt,  dafs  Blätter,  Blumen  und 
Wolken  an  der  Rolle  der  Figuren  teilnehmen.  Dazu  bemerkt 
Forster,  dafs  bei  der  Vortreflflichkeit  eines  Romans  der  Hinter- 
grund und  die  Naturscenerie  gar  nicht  so  sehr  in  Betracht 
komme,  sondern  etwas  Nebensächliches  sei.  Wenig^e  Kritiker 
dürften  Förster  in  diesem  Punkte  beistimmen;  denn  wie  der 
epische  Held  der  Ritterromane  mit  Rüstung,  Schwert  und  Rofs 
sich  eng  verbunden  fühlte,  und  noch  sterbend  mit  Wehmut  von 


Dii-kens  und  seine  Hauptwerke.  357 

diesen  Kampfesgenossen  Abschied  nahm,  ehe  er  dieselben  zer- 
trümmerte, 60  mufs  der  Roman,  das  Kind  des  Epos,  dem 
Hintergrunde,  der  Wohnstätte  nebst  Zubehör,  der  Ethnographie 
und  ganz  besonders  der  Naturscenerie,  einen  breiten  Raum  ge- 
statten. Dieselbe  Gegenständlichkeit  würde  der  Lyrik  schaden, 
und  das  Drama  ersetzt  die  Beschreibunor  des  Hintero-rundes 
durch  die  Dekoration.  Da  aber  die  o-röfste  Illusion  dem  Theater- 
publikum  oft  nicht  das  peinliche  Bewufstsein  erspart,  der  von 
bengalischer  Flamme  erleuchtete  Garten,  Wald  und  Park  be- 
stehe aus  geschnitztem  Pappwerk,  so  mufs  der  epische  oder 
Romandichter  hier  als  unumschränkter  Herrscher  im  Vorteil 
erscheinen ;  denn  nur  ihm  aliein  ist  es  gegeben,  den  Hinter- 
grund  durch  das  beschreibende  Wort  in  des  Lesers  Phantasie 
hineinzuzaubern ,  und  der  geschickte  Novellist  kann  hier  der 
inneren  Anschauung  ein  schöneres  Bild  nahe  bringen,  als  es  die 
Bühnendekoration  der  äufseren  Anschauung  gegenüber  vermag. 
Der  Londoner  Feuilletonist  zeigt  uns  die  Metropole  Eng- 
lands von  den  verschiedensten  und  nicht  immer  von  den 
interessantesten  Seiten.  Wenn  nun  der  realistische  Engländer 
in  den  Schilderungen  ihrer  Schattenseiten  oft  wenig  genug 
unsere  ästhetischen  Gefühle  berücksichtigt,  sondern  als  wahrer 
Detailzeichner  Rufs ,  Schutt  und  Müllhaufen  in  den  Kreis 
seiner  Betrachtungen  hineinzieht,  geschieht  es  nur  aus  Liebe 
zu  jenen  armen  Geschöpfen,  deren  sociales  Elend  dem  Ge- 
mütsmenschen zu  Herzen  ging,  und  Dickens  hat  in  dieser 
Hinsicht  nichts  mit  Eugen  Sue  und  Victor  Hugo  gemein, 
die  mit  wahrer  Schadenfreude  die  Kloaken  und  den  Schmutz 
ihrer  Hauptstadt  aufdecken.  Die  Schilderung  von  Golden 
xScjuare  (in  Nicholas  Nickleby)  dürfte  als  höchst  gelungen  be- 
zeichnet werden.  —  Da  Dickens  in  späteren  Jahren  reich  genug 
war,  den  Hintergrund  seiner  Romane  aus  eigener  Anschauung 
kennen  zu  lernen,  und  häufige  Reisen  nach  den  fremden  Län- 
dern unternahm,  die  den  Schauplatz  von  Episoden  seiner  Werke 
bilden,  so  lassen  seine  Schriften  an  ethnographischer  Treue 
wenig  zu  wünschen  übrig,  und  Nicklebys  und  Smikes  Fufs- 
reise  von  London  nach  Portsmouth,  Carkers  Flucht  von  Dijon 
über  Paris  nach  England  (Dombey),  sowie  die  Scenerie  vom 
Krähenhorst  und  die  Meeresküste  bei  den  Yarmoutlischen  Fischer- 


358  Dickens  und  seine  Hauptwerke. 

hütten  (Copperfield)  müsseu  als  Meisterwerke  der  Naturschilde- 
ruiic;  angesehen  werden.  Peggottys  Reisen  in  fremde  Länder 
da«J-eo'en,  sowie  seiner  entführten  Pflegetochter  Aufenthalt  in 
Italien  sind  so  flüclitig  gezeichnet,  dafs  man  aufhört,  an  die 
Erzählung  zu  glauben,  und  der  Umstand,  dafs  wir  hier  die 
Schilderung  aus  dem  Munde  des  unbeholfenen  Fischers  (Pe- 
«TOtty)  vernehmen,  ändert  nur  wenig  an  der  Sache. 

Die  fratzenhafte  Belebung  der  Natur,  das  Belebtwerden 
von  Thürklopfern,  und  das  Anfüllen  der  Luft  mit  allerhand 
abenteuerlichen  Gestalten  mufs  entschieden  als  krankhafter  Aus- 
wuchs einer  humoristischen  Phantasie  angesehen  werden,  und 
wir  finden  Taines  Verwunderung  darüber  sehr  am  Orte;  ja 
mit  Bedauern  müssen  wir  hier  unseren  Novellisten  einer  ge- 
wissen Effekthascherei  beschuldigen.  Es  möge  jedoch  einiger- 
mafsen  zu  Dickens'  Entschuldigung  dienen,  dafs  er  diese  krank- 
hafte Richtung  nicht  geschaflfen,  sondern  nur  nachgeahmt  hat. 
Der  Vorwurf,  den  ersten  Anstofs  zu  dieser  Unnatur  gegeben 
zu  haben,  trifft  Hoffmann,  dessen  Erfolgen  bei  den  nervösen 
Zeito-enossen  eines  nervösen  Jahrhunderts  es  zuzuschreiben  ist, 
dafs  zahlreiche  Schriftsteller  in  Frankreich  und  Amerika  und 
besonders  Dickens  bald  in  dieselbe  Unnatur  verfielen. 

Taine  weist  ganz  besonders  auf  die  Schilderung  der  Ab- 
reise des  Tom  Pinch  (Chuzzlewit)  hin,  und  Forster  meint,  dafs 
hier  der  französische  Litterarhistoriker  kaum  die  glücklichste 
Wahl  o-etrofFen  haben  dürfte.  Indem  wir  uns  Forsters  Meinunor 
anschliefsen,  bemerken  wir  noch,  dafs  die  Naturschilderung,  so 
schön  in  den  „drei  Schwestern  von  York",  einer  Episode  in 
Nicholas  Nickleby,  begonnen,  gerade  in  Chuzzlewit  wieder  fällt, 
um  in  Copperfield  und  ganz  besonders  in  Dombey  ihren  Höhe- 
punkt zu  erreichen.  Das  Naturbild,  welches  Carkers  Fhicht 
von  Dijon  nach  Paris  begleitet,  ist  episch,  und  wird  oft  dra- 
matisch belebt;  die  Personifikation  der  Natur,  das  Schwirren 
von  unheimlichen  Tönen  in  der  Luft,  sowie  die  Auffassungs- 
weise der  Lokomotive  als  Rächerin  sind  grofsartig.  Während 
wir  jedoch  sonst  das  Belebtwerden  der  toten  Natur  bei  gering- 
fücr'icren  Situationen  in  HoflTmann,  Novalis,  Brentano  als  Unnatur 
bezeichnen  müssen,  finden  wir  dieselben  hier  und  in  manchen 
anderen  Dickensschen  Scenen    bei   gehobenem   Seelenleben  ganz 


Dickens  und  seine  Hauptwerke.  359 

geeignet,  und  Carkers  Kämpfe  des  Gewissens  und  die  tolle  Un- 
ruhe eines  aufgeregten  Nervensystems  finden  einen  herrlichen 
Hintergrund. 

Ganz  im  Widerspruch  mit  Forster,  der  die  Naturscenerie 
als  etwas  Nebensächliches  ansieht,  möchte  man  fast  die  Be- 
hauptung wagen,  dafs  die  Naturauffassung  des  Schriftstellers 
hervorstechende  Eigenschaften  seines  Volkes  und  seines  Jahr- 
hunderts erkennen  lasse,  Shakespeares  „Wie  es  euch  gefällt^' 
ist  noch  echt  germanisch.  Es  zeiat  den  Menschen  im  Mittel- 
punkte  der  Natur;  die  Energie  der  Rasse  hat  noch  nicht  die 
Idylle  zerstört,  und  Fürsten  und  Prinzessinnen  erscheinen  im 
Schlafrocke  neben  LÖwen  und  Schlangen. 

Die  Naturschilderung  im  Vicar  von  Wakefield  ist  der  deut- 
schen Naturauffassung  noch  sehr  verwandt;  der  in  irischer 
Idylle  erzogene  Angelsachse  scheint  viel  von  einem  poetischen 
Naturvolke  oelernt  zu  haben,  und  doch  ist  die  Energie  der 
englischen  ßasse  schon  eine  gröfsere  geworden  und  hat  die 
Naturauffassung  verändert.  Ich  erwähne  nur  folgendes  Natur- 
bildchen in  Kapitel  III,  wo  zwei  Amseln  einander  von  zwei 
entgegengesetzten  Hecken  antworten.  Das  Naturbild  scheint 
den  lyrischen  Charakter  zu  entfalten,  den  der  Deutsche  mit 
Vorliebe  in  die  Naturscenerie  des  Romans  und  selbst  des  Dramas 
hineinlegt;  doch  schon  im  nächsten  Kapitel  hören  wir,  dafs  die 
eine  der  Amseln  tot  zu  den  Füfsen  der  erschreckten  Familie 
fällt,  getroffen  von  dem  Blei  des  bald  erscheinenden  Thornhill. 
Somit  hat  die  Natur  dem  Dichter  nur  als  Staffage  gedient,  und 
das  anfangs  lyrisch  scheinende  Bild  war  also  episch;  ja,  da  es 
sogar  den  spannenden  Moment  vor  der  Handlung  ausdrückt, 
wirkt  es  nun  fast  dramatisch :  das  singende  Vöglein  soll  nur 
Ollvias  späteren  Verführer  im  Weidmannsanzuge  als  den  Zer- 
störer einer  friedlichen  Schöpfung  ankündigen.  —  Der  Deutsche 
ist  zu  sehr  Liebhaber  der  Natur,  um  die  ganze  leblose  Schöpfung 
in  dieser  Weise  auf  sein  Kunstwerk  zu  beziehen ;  die  Wolfs- 
schluchtscene  (Im  Freischütz)  erfafst  Ihn  schon  lange  in  Ton 
und  Bild,  ehe  er  die  unheimlichen  Gestalten  erblickt.  Der  zweite 
Teil  des  Faust,  obwohl  ein  Lesedrama,  gestattet  epischen  Natur- 
bildern einen  breiten  Raum,  welche  dem  AVerke  einen  ruhigen, 
gielchmäfsig    epischen    Charakter    geben.      Dickens'    dramatisch 


360  Dickens  un'l  seine  Hauptwerke. 

spannende  Naturbilder  verwandeln  nur  zu  oft  den  epischen 
Strom  seiner  Romane  in  einen  wilden,  von  Stein  zu  Stein  stür- 
zenden Giefsbach  und  tragen  somit  auch  dazu  bei,  eine  dra- 
matisch-stofsweise  Wiikuni];:  hervorzubrin2:en.  Zuweilen  zerstört 
der  gewaltige  epische  Strom  der  Erzählung  das  niedliche  Gärt- 
chen  der  Idylle,  wie  wir  recht  deutlich  bei  Gelegenheit  der 
Schilderung  von  Squeers  Etablissement  in  Yorkshire  ersehen, 
wo  die  oranze  Landschaft  durch  den  Gifthauch  der  verbreche- 
rischen  Familie  verpestet  erscheint. 

Das  Ivrische  Naturbildchen  des  deutschen  Schriftstellers 
teilt  aber  nicht  nur  der  Erzählung  eine  gewisse  Ruhe  mit;  es 
erfüllt  noch  eine  andere  orrofsartioe  Auff^abe:  es  wird  der  herr- 
lichste  Kontrast  zwischen  der  friedlichen  Schöpfung  und  dem 
unsinnigen  Gebaren  des  Erdbewohners  geschaffen,  und  indem 
die  englische  Litteratur  seit  Shakespeare  die  Naturschilderung 
zu  sehr  von  dem  Thun  und  Treiben  des  Menschen  abhängig 
machte,  verlor  der  englische  Schriftsteller  die  günstige  Gelegen- 
heit allmählich  aus  den  Händen,  seinen  Lesern  darzuthun,  dafs, 
obwohl  er  an  dem  Menschen  verzweifle,  er  sich  noch  mit  der 
Natur  versöhnen  könne,  die  ihn  geschaffen.  Dieses  versöhnende 
Moment  in  der  Natur,  welches  uns  in  Shakespeares  Macbeth 
so  wohlthätig  berührt,  ist  somit  in  Englands  Litteratur  nach 
und  nach  dürftioer  geworden.  Bei  unserem  Schriftsteller  finden 
wir  noch  (verhältnismäfsig  wenige)  Beispiele  dieses  Gegensatzes 
in  Nicholas  NIckleby,  in  Bleak  House  und  in  Dombev  und  Sohn. 
In  einer  Episode  des  letztgenannten  Romanes,  zu  welcher  der 
epische  Strom  der  Erzählung  nur  wenig  Zugang  hat ,  findet 
sich  jedoch  ein  hübsches  lyrisches  Bildchen.  Es  ist  dies  die 
Schilderung  des  Besuches  der  heblicheri  Kaufmannstochter  bei 
der  Skettle  Familie.  Da  dieses  Naturbildchen  jedoch  nur  der 
Ausdruck  der  ruhlccen  Auffassungsweise  der  Heldin  ist,  bildet 
es  immer  noch  keinen  starken  Gesjensatz. 


Wir  erwähnten  schon  Taines  Mifsbilligung,  dafs  Dickens 
nicht  die  ewior  frültloren  Gesetze  der  Menschheit  zum  Ausdruck 
brintre,  wie  es  G.  Sand  o;ethan  habe.  Somit  verurteilt  er  die 
Tendenz,  das  Hinarbeiten  für  gewisse  Zwecke.  Nun  aber  ver- 
dient  G.  Sand  gerade  am  allerwenigsten,   Dickens  in  dieser  Be- 


Dickens  und  seine  Hauptwerke.  361 

ziebnno:  als  Muster  cnt<2jeo;ei)»i;eliaIten  zu  werden;  denn  ihre 
Romane  zeigen  eine  bedeutendere  tendenziöse  Färbung  als  die 
Schriften  unseres  Novellisten.  Dafs  Boz  als  lokalisierender 
Karikaturen  Zeichner  zuweilen  in  das  Tendenziöse  verfallen 
niufste,  ist  nicht  auffallend.  Dafs  das  Hinarbeiten  für  einen 
bestimmten  Zweck  jedoch  ein  Geistesprodukt  noch  nicht  ver- 
dirbt, sobald  die  Tendenz  nicht  zu  sehr  im  Vorderorunde  er- 
scheint,  sehen  wir  am  deutlichsten  an  Don  Quixote,  dem  zw^eiten 
Urroman.  Als  Cervantes  dieses  Werk  schrieb,  beabsichtigte 
er  zunächst  eine  Satire  "eo^en  den  tollcrewordenen  Idealismus ; 
die  Ausführung  dieser  zeitlichen  und  örtlichen  Aufgabe  jedoch 
ist  so  künstlerisch,  dafs  dieser  Roman  ein  ewio'  orültioes  Kunst- 
produkt  bleiben  wird.  Es  ist  also  weniger  die  Tendenz,  als 
die  Kunst  oder  die  Unbeholfenheit  des  Verfassers,  die  hier  in 
Frage  kommen.  Und  in  der  Kunst,  in  einem.  Geistesprodukte 
für  gewisse  Zwecke  hin  zu  arbeiten,  müssen  wir  allerdings 
G.  Sand  den  Preis  zuerkennen.  Dickens  kann  mit  ihr  in  dieser 
Beziehuno:  ijar  keinen  Veroleich  aushalten.  Das  Hirn  des 
rasch  denkenden  und  schnell  arbeitenden  Humoristen  ist  nicht 
kühl  genug,  den  Arger  über  Squeers  Schule  (Nicholas  Nickleby) 
oder  den  Zorn  über  den  heuchlerisch  schleichenden  Advokaten 
Heep  (Copperfield)  zurückzudrängen.  Auf  die  Romane  wie 
Nicholas  Nickleby  und  Copperfield  kann  man  in  der  That  Taines 
Ausspruch  anwenden,  dafs  Boz  zuweilen  zu  ärgerlich  w^erde, 
wenn  er  die  Laster  oder  die  Dummheiten  seiner  Landsleute 
geifselt,  oder,  wie  wir  lieber  sagen  würden,  wenn  er  tendenziöse 
Fragen  berührt.  —  Schule  und  Advokatenstand  hat  Dickens 
derb  mitgenommen ;  nur  ist  der  Gegenstand  seiner  Satire  weniger 
die  Schulanstalt  —  er  scheint  allerdings  Natur  und  Presse  die- 
selbe volksbildende  Kraft  zuzuerteilen  — ,  sondern  der  un- 
wissende, rohe  und  mechanisch  arbeitende  matter  of  fact  Mensch, 
den  er  in  der  Schulanstalt  aufsucht  und  in  einem  Lande  in 
Massen  finden  mufste ,  welches  zu  seiner  Zeit  weder  Semi- 
narien  (training  Colleges),  noch  Schulinspektoren  kannte,  und 
wo  noch  heute  trotz  namhafter  Verbesserungen  das  Privat- 
Schulwesen  wuchert.  Wie  abschreckend  nun  die  Institutsinhaber 
Squeer  und  Principal  Creakle  (Copperfield)  sein  mögen,  so 
haben    doch  diese  Karikaturen    mehr  Gutes    geschafi^en    als    die 


362  Dickens  und  seine  Hauptwerke. 

weito-eheiidöten  ministeriellen  Ermahnunofen  und  VerfüfJ^uno-en. 
Das  tendenziöse  Werk,  welches  das  Volk  mit  starken  Hebeln 
erfafst,  sollte  also  weniger  vom  Standpunkte  der  Ästhetik  als 
von  dem  der  Ethik  in  das  Auge  gefafst  werden;  das  künst- 
lerische Genie  der  G.  Sand  versteht  es  allerdings  besser  wie 
Dickens,  trotz  aller  Tendenz  den  Gesetzen  der  Schönheitslehre 
gerecht  zu  bleiben. 

Angriffe  gegen  den  Advokatenstand  finden  sich  besonders 
in  Copperfield  und  Bleak  House.  In  dem  ersteren  hat  dieser 
Stand  nicht  wenio;er  als  sieben  Vertreter,  und  in  der  ganzen 
Intrigue  des  letzten  Werkes  handelt  es  sich  (fortwährend)  um 
einen  Prozefs  und  um  ein  verloren  oeoano-enes  Testament. 
Trotzdem  müssen  wir  das  künstlerische  Geschick  des  tenden- 
ziösen Verfassers  in  Bleak  House  bewundernd  anerkennen,  und 
der  schon  älter  gewordene  und  kühler  denkende  Schriftsteller 
entfaltet  hier  im  Angriffe  eine  raffinierte  Geistesschärfe,  die  wir 
in  Copperfield  vergeblich  suchen.  Die  Übertreibung  im  Urias 
Heep  springt  dagegen  in  dem  von  Forster  als  Hauptwerk  be- 
zeichneten Roman  in  die  Augen,  und  dem  unreifen  und  naiv 
fragenden  Jüngling  Copperfield  werden  so  oft  Ausfälle  gegen 
den  Richterstand  in  den  Mund  gelegt,  dafs  die  Figur  oft  nur 
der  Sache  wegen  da  zu  sein  scheint. 

Taine  bemerkt,  dafs  Dickens  in  Hard  Times  alle  seine  An- 
sichten über  des  Volkes  Wohl  und  Wehe  kurz  zusammengefafst 
habe ;  Forster  jedoch  bestreitet  Taines  Behauptung  und  will  in 
diesem  letzteren  Romane  nicht  ein  Resume  der  in  früheren 
Werken  niedero^elegten  socialen  Anschauuno^en  anerkennen. 
Indem  wir  jedoch  Taine  hier  im  grofsen  Ganzen  zustimmen 
müssen,  erlauben  wir  uns  nur  eine  kleine  Berichtioruncr  seiner 
Ansicht,  dafs  Dickens  Fabriken  und  rauchende  Schornsteine 
als  eine  Gefahr  für  die  friedliche  und  natürliche  Entwickelung 
des  Volkes  und  als  eine  Quelle  aller  socialen  Übel  betrachte, 
indem  wir  auf  den  Kontrast  hinweisen,  welchen  in  Bleak  House 
der  Fabrikbesitzer  Rouncewell  und  sein  Fabrikort  in  Yorkshire 
mit  dem  patriarchalischen  Grofsgrundbesitzer  Sir  Leicester 
Dedlock  und  seinem  idyllischen  Dorfe  bildet.  Dickens  stellt 
sich  hier  entschieden  auf  die  Seite  des  vorwärts  strebenden 
Fabrikanten,  ,,dcs  Mannes  von  Eisen",  dem  in  Zukunft  die 
Welt  "gehören  soll.     Den  eno;en  Anschauunf>;skreis  des  feudalen 

D  DO 


Dickens  und  seine  Hauptwerke.  363 

Junkers  schildert  er  dagegen  in  humoristischer  Weise,  und  hier 
verwandelt  sich  oft  der  Humor  sehr  glückhch  zur  milden  Ironie. 

Der  Roman  ist  das  Kind  einer  prosaischen,  arbeitsreichen 
und  nüchternen  Zeit.  Kein  Wunder  daher,  dafs  er  sich  meist 
auf  die  Seite  der  vorwärts  strebenden  realistischen  Gesellschafts- 
klasse stellt;  ja  einige  und  namentlich  deutsche  Romanschrift- 
steller schleudern  die  heftigsten  Blitze  nach  der  ihnen  so  ver- 
hafsteu  Junkerwelt.  Die  gegnerische  Seite  kann  nur  eine  dürf- 
tio;e  Romanlitteratur  aufweisen,  und  als  der  aristokratische  Roman 
seine  Niederlage  voraussah,  nahm  er  zum  Künstlerroman  seine 
Zuflucht.  —  Wenn  wir  nun  vom  Roman  oesa^t  haben,  er  zeige 
sich  nur  da,  wo  wirklich  gearbeitet  wird,  können  wir  fast  das- 
selbe vom  Humor  behaupten;  denn  sein  Erscheinen  drückt  ße- 
friedio'uno;  an  dem  vollbrachten  Werke  aus.  Beim  Anblick  der 
gegnerischen  Junkerschaft  wird  dieser  Humor  allerdings  erst 
recht  zur  Geltung  gelangen;  als.  versöhnendes  Element  wird  er 
jedoch  die  Angriffe  mäfsigen ,  und  bei  mehreren  deutschen 
Romanschriftstellern  vermissen  wir  mit  Bedauern,  dem  Gegner 
gegenüber,  den  milden  versöhnenden  Humor  unseres  Novellisten, 
der  uns  namentlich  in  Bleak  House  so  wohlthätig  berührt. 

Dieser  Humor,  mit  welchem  der  Schriftsteller  die  Fort- 
schritte des  vorwärts  strebenden  Neuerers  (Rouncewell)  behan- 
delt, und  die  Ironie,  mit  der  er  das  Zurückgehen  der  gegne- 
rischen Verhältnisse  (Sir  Leicester  Dedlock)  beleuchtet,  ist  noch 
in  anderer  Weise  für  den  Roman,  für  England  sowie  für  unser 
Jahrhundert  charakteristisch ;  denn  Humor  wie  Ironie  zeigen 
an,  bei  welcher  Stufe  die  Streitfrage  der  beiden  Gegner  ange- 
kommen ist.  In  des  Cervantes  Werk  wird  Aristokratie  und 
Idealismus  durch  den  edlen  Junker  Don  Quixote  repräsentiert ; 
der  nüchterne  Alltagsverstand  jenes  Jahrhunderts  konnte  nur 
in  den  ungeschlachten  Zügen  eines  Sancho  Panza  verkörpert 
werden.  Da  der  letztere  jedoch  trotz  aller  Klarheit  von  dem 
aristokratischen  Idealismus  seiner  Zeit  ins  Schlepptau  genommen 
wird,  von  dem  er  sich  trotz  gemachter  Anstrengungen  nicht 
losmachen  kann ,  mufs  diese  geistige  Beschränktheit  seinem 
Schöpfer  Cervantes  nur  Gelegenheit  zur  Satire  geben,  und  der 
ungeschlachte  Repräsentant  des  Alltagsverstandes  konnte  den 
geistreichen  Spanier  nur  mit  derselben  Ironie  erfüllen,  mit  wel- 
cher   er    über    seinem    Idealen    Helden    schwebt.      Der    Humor 


3(34  Dickens  un;l  seine  Hauptwerke. 

unseres  Novellisten  ist  also  nicht  blofs  der  beste  Beletj  für 
unsere  Fortschritte,  soiiciern  auch  ein  Beweis  dafür,  dafs  die 
kämpfende,  vorwärts  ringende  Welt  in  unserer  Zeit  des  Sieges 
bereits  o^ewlfs  ist  und  dem  anderen  Laiier  (:reo-enüber  eine 
wenlirer  herausfordernde  Stelluno;  einnimmt. 

Der  Hinweis  auf  Cervantes  als  den  Schöpfer  des  modernen 
Romans  hat  uns  zugleich  erkennen  lassen,  dafs  es  Tendenz 
war,  die  sein  unsterbliches  Werk  ins  Leben  rief.  Der  Tendenz 
ist  es  besonders  zu  danken,  dafs  die  seit  Jahrhunderten  ange- 
wendeten Motive  wieder  neu  erscheinen.  Man  denke  beispiels- 
weise an  Emilys  Verführung  durch  Steerforth.  Seit  der  Iliade 
und  den  Ritterromanen  sind  Entführungen  fast  ein  Gemeinplatz 
von  Dichtungen  jeder  Art  gewesen;  „die  alte  Geschichte"  wurde 
aber  nur  dadurch  „neu",  Indem  in  .  den  Prosadichtungen  und 
selbst  im  Drama  unserer  Zeit  der  Mann  den  besseren  Ständen, 
die  eTuno-frau  einer  anderen  Gesellschaft5?klasse  ano^ehört.  Es 
w^ar  leider  die  Tendenz,  welche  den  Schriftsteller  so  oft  antrieb, 
den  Mädchenräuber  in  dem  Junkerstande  zu  suchen ;  und  die 
von  Dickens  geplante  Entführung  mufs  auch  hier  wieder  als 
mild  tendenziös  erscheinen,  da  er  den  Verführer  der  Fischer- 
tochter einer  Gesellschaftsklasse  entnimmt,  die  zwar  über  dem 
getäuschten  Mädchen  steht,  jedoch  Immer  noch  dem  besitzenden 
mittleren   Büro^erstande  anofehört. 

Da  unser  Humorist  im  Gegensatz  zur  klassischen  künst- 
lerischen  Schule  sich  instinktiv  den  ersten  Einorebuno-en  seiner 
Phantasie  hinoriebt,  mufs  sich  in  seinem  Stile  eine  o;ewisse 
Fülle  bemerkbar  machen.  Dieselbe  wird  uns  aber  bei  Dickens' 
gewandter  Feder  stets  wohlthätig  berühren  und  uns  den  pein- 
lichen Eindruck  ersparen,  den  der  umständlich  genaue  und 
schleppende  Stil  Walter  Scotts  so  oft  in  uns  hervorruft.  — 
Dickens'  Perioden  sind  meist  sehr  zusammengesetzt.  Der 
Lapidarstil,  welcher  nur  mit  nackten  oder  einfach  erweiterten 
Sätzen  baut,  die,  den  Quadersteinen  der  Pyramide  ähnlich,  dem 
Satzbau  und  der  Periode  Majestät  verleihen,  ist  in  unserer 
künstlichen  Zeit  überhaupt  seltener  geworden,  und  der  schnell 
arbeitenden  Feder  unseres  Novellisten  würde  sowohl  diese  Stil- 
art als  auch  Fleldnifrs  Raffinement  widerstreben,  durch  die  An- 
wendunsr     des    homerisch- vircrilianischen    Stiles    auf    komische 


Dickens  unJ  seine  Hauptwerke.  3G5 

Situationen  einen  Gegner  zu  persiflieren  (siehe  die  Kirchhofs- 
scene  in  Tom  Jones),  da  dergleichen  Finessen  ein  genaues 
Studium  des  Stiles  der  Alten  und  beständiges  Nachdenken  be- 
dingen. Die  Fülle,  welche  in  Dickens'  Stile  sich  kundgiebt, 
wird  durch  die  vielen  voneinander  abhUnoifien  und  rasch  auf- 
einander  folo:enden  Nebensätze,  aber  «jjanz  besonders  durch  die 
in  Gruppen  aufgehäuften  xVdjektive  bewirkt.  Dafs  sich  dies 
alles  nicht  auf  den  Dialog;  und  nur  auf  die  Beschreibunor  be- 
zieht,  wo  er  in  Person  zu  seinem  Leser  spricht,  ist  selbstver- 
ständlich: denn  wer  könnte  den  Dialos  wohl  natürlicher  oe_ 
stalten  als  unser  Volksfreund  und  Menschenkenner?  Bei  dieser 
Gelegenheit  müssen  wir  Lewes' Urteil,  die  Conversation  of  character 
seiner  Figuren  wäre  unnatürlich,  als  ungerecht  zurückweisen. 

Andere  Eigentümlichkeiten  des  Dickensschen  Stiles  müssen 
sich  aus  seiner  humoristischen  Beanlagung  ergeben,  welche  ihn 
den  Menschen  im  Affekt  zei^t.  Der  dem  Geo;enstande  näher- 
stehende  Humorist  kann  nicht  in  den  kalten  ironischen  Stil 
eines  Cervantes  verfallen,  —  der  Eino-ano-  zu  Bleak  IIou»e 
dürfte  jedoch  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  dem  kühlen,  wohl- 
überlegten Stile  in  Don  Quixote  haben  —  die  fieberhafte  Hitze 
des  Affektzeichners,  der  sich  selbst  in  der  Gefühlsbeweguno; 
zu  befinden  scheint,  wenn  er  die  Kämpfe  des  Gemüts  oder  Bill 
Sikes  und  J.  Chuzzlewits  Unruhe  nach  verübten  Verbrechen 
schildert,  treibt  ihn  zu  mystischer  Personifikation  lebloser  Wesen 
und  des  unpersönlichen  Fürwortes  „es"  (Bleak  House :  wenn 
er  von  dem  sich  schnell  verbreiteten  Gerücht  spricht),  oder  gar 
zu  ungewöhnlichen  Metaphern.  Und  gerade  durch  die  An- 
wendung dieser  letzteren  liedefigur  unterscheidet  sich  der  echte 
von  dem  unechten  Humor  oder  Scherz.  Man  lese  einige  Seiten 
aus  Holteys  „Vagabunden"  und  nach  ihm  Dickens,  und  man 
wird  finden,  wie  der  erstere  selbst  mit  der  Sprache  tändelt, 
während  der  den  Affekt  darstellende  Novellist  das  ohnmächtig 
gewordene  Wort  zuweilen  verwerfen  mufs,  um  zum  plastischer 
darstellenden  Bilde  zu  greifen. 

Die  auf  verschiedene  Lao-en  des  Lebens  an2;ew^endete  Vv^ieder- 
holung  gewisser  Stichvvorte,  komischer  oder  pathetischer  Rede- 
v/enduno;en  seiner  Personen  ist  eine  weitere  Eio^entümlichkeit 
des  Dickensschen  Stiles,  erklärt  sieh  aus  dem  Dichtungsgebiet 
des     lokalisierenden    Karikaturzeichners    und    findet    veru'andte 


;66 


Dickens  und  seine  Hauptwerke. 


Züge  in  der  Posse  und  in  dem  Refrain  der  Couplets.  Da  der 
Karikaturenzeichner  uns  seine  Figuren  nur  in  Umrissen  dar- 
stellt, die  wenigen  Züge  aber  mit  kräftigen  Linien  markiert, 
wirken  diese  Wiederholunoen  charakteristischer  Wendungen  so 
ausdrücklich  auf  den  Leser,  dafs  er  im  stände  ist,  das  Fehlende 
aus  der  Phantasie  selbst  zu  ergänzen.  Ahnlich  dem  Schla«:- 
werk  der  Repetieruhr,  die  uns  in  plötzlichen  und  unerwarteten 
Schlägen  überrascht,  wirken  beispielsweise  folgende  Ausdrücke: 
„Barkis  hat  Lust"  (Copperfield)  und  „Sein  einziger  Sohn" 
(Chuzzlewit).  —  Diese  Wiederholung  gewisser  Redewendungen 
tadelt  Taine  mit  Unrecht  als  einseitig ;  Forster  jedoch  unter- 
läfst  es  unbeo;reiflicherweise,  bei  Zurückweisuno;  des  Taineschen 
Angriffes  auf  Dickens'  Dichtungsgebiet  hinzuweisen,  welches 
diese  Schlagwörter  erheischt.  Der  Biograph  unseres  Novellisten 
zieht    es    dao;eo;en    vor,    zwei    von    Taine    mit    Recht    o-etadelte 

DO"  O 

Repetieruhren  dieser  Art  als  ausgezeichnete  Erzeugnisse  von 
Dickens'  komischer  Muse  hinzustellen,  nämlich  Micawber  (in 
Copperfield)  und  Frau  Gamp  (Chuzzlewit),  und  Lewes  hat  nur 
zu  recht,  wenn  er  vom  ersteren  sagt,  er  mache  ihm  den  Ein- 
druck eines  Frosches,  dem  das  Gehirn  ausgenommen  sei. 

Noch  ein  Wort  über  den  Dialekt  und  das  Kauderwelsch 
einiger  dem  Bauernstande  oder  der  Hefe  des  Volkes  ange- 
hörenden Figuren.  Der  Yorkshire  -  Dialekt  des  Kornhändlers 
John  ßrowdie  (Nicholas  Nickleby)  dürfte  am  besten  nachgeahmt 
sein.  —  In  diesem  Punkte  jedoch  erreicht  unser  Novellist  kaum 
Fielding,  dessen  Squire  Western  sich  nicht  nur  in  bäuerischen 
Redensarten  ergeht,  sondern  auch  seine  beschränkte  Denk-  und 
Anschauungsweise,  seine  politischen  Ansichten  und  sein  Tempe- 
rament erkennen  läfst.  Im  Detail  zeichnet  sich  Dickens  jedoch 
wieder  als  guter  Volkskenner  aus.  Leider  verfallen  die  bäue- 
rischen Typen  unseres  Novellisten  zu  oft  in  ihrer  Sprache  in 
eine  gewisse  Monotonie,  die  übrigens  Fielding  aufs  glücklichste 
dadurch  vermied,  dafs  er  von  Zeit  zu  Zeit  eine  plötzliche 
Abwechselung  in  der  Stimmung  des  Sprechenden  eintreten  liefs. 
Das  höchst  komisch  wirkende  Kauderwelsch  der  verworfenen 
Volksklassen  in  Oliver  Twist  ist  jedoch  Boz  wohlgelungen  und 
beweist,  dafs  er  die  Metropole  besser  kannte  als  die  ländliche 
Bevölkerunof, 

Wir  haben  schon  Dombey  und  Sohn  oft  in  anerkennender 


Dickens  und  seine  Hauptwerke.  367 

Weise  erwähnt;  auch  was  die  Spraclie  betrifft,  verdient  es  als 
Meisterwerk  hinoestellt  zu  werden.  Hier  weist  nämlich  der 
Stil  des  Dialoges  die  herrlichsten  Gegensätze  auf,  und  Toodle, 
der  Lokomotivführer,  Cuttle,  ein  früherer  Seemann,  Bagstock, 
der  pensionierte  indische  Major,  verraten  nur  zu  oft  durch  ihre 
Ausdrucksweise  das  Element,  in  dem  sie  sich  beweoen  oder 
beweo:t  haben.  Vor  allen  Dino-en  aber  brinjrt  die  Redeweise 
dreier  Hauptpersonen  eine  herrliche  Nüancierung  hervor,  und 
ein  grofsartiger  Kontrast  wird  schon  bezüglich  der  Sprache  ge- 
schaffen durch  das  eleo-ante  Eno:lisch  des  stolzen  Kaufmannes 
(Dombey),  durch  die  sophistischen  Redewendungen  Carkers, 
seines  Prokuristen,  welcher  geläufig  spricht,  ohne  jedoch  ins 
Geschwätzige  zu  verfallen,  und  durch  die  ungeschickte,  unbe- 
holfene Ausdrucksweise  der  wenig  sprechenden  stolzen  Edith, 
deren  Seelenleben  sich  jedoch  bei  der  schon  erwähnten  Ver- 
führuno-sscene  in  Diion  Carker  o^eo^enüber  zum  Pathos  steisiert, 
und  die  hier  eine  Beredsamkeit  entwickelt,  welche  uns  an  Percys 
Eloquenz  vor  Heinrich  IV".  erinnert.    (Heinr.  IV.  Teil  I,  Akt  I,  3.) 

Ein  Schriftsteller  drückt  dadurch  seinem  Genie  das  Sies^el 
auf,  dafs  er  „Schule  macht".  Zwar  kann  unser  nur  den  Familien- 
roman anbauende  Novellist  sich  nicht  eines  Einflusses  auf  die 
schreibende  Welt  erfreuen,  wie  Scott,  der  Begründer  des  histo- 
rischen Romanes ;  trotzdem  zählt  Boz  in  seinem  Vaterlande,  in 
Amerika,  ja  in  Deutschland  Anhänger,  die  getreu  den  von  ihm 
einoreschlaorenen   Weo;  verfolo^en. 

Schon  Sokrates  in  einer  uns  überlieferten  Unterredung  mit 
Plato  fand  es  für  wünschenswert,  das  Erhabene  und  das  Lächer- 
liche zu  verbinden.  Shakespeare  hat  diese  Verschmelzung  auf 
dem  dramatischen  Gebiete  am  olücklichsten  ofetroffen,  und  der 
in  der  Westminster  Abtei  Shakespeares  Büste  gegenüber  ruhende 
Dickens  scheint  auch  im  Leben  und  Schaffen  in  dieser  Ver- 
schmelzung der  beiden  Elemente  auf  epischem  Gebiete  das 
Vorbild,  des  sfröfsten  Komi-Trao-ikers  vor  Au2:en  o-ehabt  zu 
haben.  In  dieser  Komi-Tragik  auf  dem  Gebiete  der  Roman- 
litteratur,  in  welcher  Boz  bahnbrechend  wirkte,  dürfte  unser 
Schriftsteller  am  meisten  Einflufs  ausüben. 

Der  Bau  von  Boz'  Perioden,  deren  mannigfache  Neben- 
sätze   die   aus  zahlreichen  Röhren    sprudelnden  Fontänen   nach- 


368  Dickens  und  seine  Hauptwerke. 

ahmen,  und  vor  allen  Dingen  die  Masse  der  Beiwörter,  welche 
sich  um  das  Hauptwort  in  geordneter  Dreiteilung  lagern:  alle 
diese  Eigentümlichkeiten  werden  von  den  Jüngern  der  Dickens- 
sehen  Schule  aufd  sorgfältigste  beachtet. 

Aufser  diesen  Kleinio-keiten  ist  es  aber  ijanz  besonders  die 
Personenzeichnung,  welche  Boz  zum  Haupte  seiner  Schule  er- 
hebt, und  welche  noch  zahlreichere  Anhänger  gefunden  haben 
dürfte  als  die  Scottsciie  Methode.  Während  uns  Shakespeare 
die  Peripherie  und  alle  anderen  Teile  seiner  im  Selbstgefühl 
sprechenden  Figuren  dadurch  anschaulich  macht,  dafs  er  sein 
Wurfgeschofs  gleichsam  auf  den  von  allen  Teilen  der  Peripherie 
gleichweit  entfernten  Mittelpunkt  richtete;  während  Walter  Scott 
ein  körperlich  und  seelisch  genau  beschriebenes  und  ruhiges 
Porträt  in  plastischer  Fülle  uns  vor  die  Seele  führt,  rückt 
Dickens  seine  im  Affekt  aufo;enommenen  Fisfuren  durch  den 
Hinweis  auf  ihre  Umrisse  und  ihre  hervorragenden  Körper- 
winkel uns  vor  Augen.  Wollten  wir  Scotts  und  Dickens'  Me- 
thode durch  zwei  nebeneinanderstehende,  aus  dünnen  ßleistift- 
linien  gebildete  dreieckige  Figuren  veranschaulichen,  würden 
wir  jenes  —  Scotts  Verfahren  repräsentierende  —  Dreieck  gänz- 
lich durch  eine  einheitliche  Farbe  ausfüllen,  während  wir  für 
die  drei  Winkel  des  Dreiecks,  welches  Dickens'  Figurenzeich- 
nung veranschaulichen  soll,  drei  verschiedene  grelle  Farben 
wählen  würden,  die  mit  den  dünnen  Staffagelinien  der  Bleifeder 
aufs  grellste  kontrastieren,  die  jedoch,  selbst  wenn  die  dünnen 
Staftagelinlen  durch  die  Länge  der  Zeit  verwischt  sind,  immer 
noch  die  Figur  als  ein  Dreieck  erkennen  lassen,  da  sich  das 
Fehlende   leicht    aus  der  Phantasie  ergänzen  läfst. 

In  der  grofsen  Zahl  von  FeuIUetonlsten,  welche  namentlich 
Dickens'  Skizzen  (Sketches)  zum  Muster  gleichartiger  Aufsätze 
gemacht  haben,  steht  Sala  obenan.  —  Dafs  Ferdinand  Stolle 
Dickens  nachzuahmen  sucht,  beweist  der  Titel  seines  Werkes : 
„Die  deutschen  Pickwickier",  und  dafs  Freytag  unseren  Novel- 
listen genau  studiert  hat,  werden  die  Leser  beider  Novellisten 
schon  oft  herausgefunden  haben.  Kein  Schriftsteller  hat  jedoch 
Boz  so  viel  zu  verdanken  als  der  Amerikaner  Mark  Twain 
und  der  deutsche  Novellist  Hackländer.  Da  der  letztere  jedoch 
Dickens  weder  im  phantastisch-grotesken,  noch  im  pathetischen 


Dickens  und  seine  Hauptwerke.  369 

Humor  erreicht,  dürfte  der  Beiname  „der  deutsche  Boz"  nach 
einer  sorgfältio^en  Verojleichuno;  der  beiden  Schriftsteller  etwas 
orewaojt  erscheinen. 

Der  Gedankeno;anf][  der  Dickensschen  Romane  und  ver- 
wandter  Schöpfungen  könnte  leicht  durch  eine  Reise  veranschau- 
licht werden,  deren  Ausgangs-  und  Zielpunkt  durch  einen  breiten, 
unwirtlichen  und  bewaldeten  Berg  getrennt  sind.  In  der  Mitte 
des  Buches,  welches  die  gröfsten  Verwickelungen  enthält,  hat 
man  gleichsam  die  eine  Hälfte  des  Weges  zurückgelegt  und 
befindet  sich  so  zu  sagen  auf  der  Plattform  des  Berges,  der 
hier  die  gröfste  Wildnis  aufweist.  Doch  wie  sich  von  jetzt  ab 
die  Öde  der  Natur  verwandelt,  so  läfst  sich  auch  in  unserem 
Kunstwerk  ein  Wendepunkt  erkennen,  und  wie  der  durch  die 
Wildnis  erschreckte  Blick  allmählich  sich  beruhigt,  so  wird 
auch  die  Verwickelunor  des  Kunstwerkes  in  verschiedenen  Stadien 
beseitigt,  welche  die  Kritik  als  beruhigendes,  befreiendes,  ver- 
söhnendes oder  erlösendes  Moment  bezeichnet  hat. 

Das  erste  dieser  genannten  Momente  gilt  mehr  den  epischen 
Personen  und  tritt  zuweilen  schon  vor  dem  Wendepunkte  ein, 
um  sich  dann  oft  wieder  in  ein  beunruhigendes  Moment  zu 
verwandeln  und  die  Verwickelung  des  Knotens  zu  vergröfsern 
(Fieldings  Tom  Jones:  Besuch  seiner  Geliebten  und  Zurück- 
lassung ihres  Muffes);  das  zweite  der  Momente  erweitert  des 
Lesers  Blick,  und  auf  den  letzten  Stadien,  wo  wir  in  dem  Ge- 
schicke der  epischen  Personen  den  Willen  der  Vorsehung  er- 
kennen, wendet  sich  der  Schriftsteller  an  die  Welt  und  die 
Weltordnung.  Der  Künstler  wird  Priester;  der  Dichter  wird 
ein  Seher,  ein  Prophet. 

Doch  da  Dickens'  humoristische  Romane  das  Erhabene 
und  Lächerliche  schildern  und  somit  auch  dramatische  Elemente 
enthalten,  beobachten  wir  aufser  dem  Wendepunkte  des  Ge- 
schickes für  die  epischen  Personen,  der  Peripetie,  auch  eine 
oder  mehrere  Katastrophen  der  dramatischen  Figuren,  je  nach- 
dem das  Pathetische  oder  das  Komische  vorherrscht.  So  wird 
in  Oliver  Twist,  in  Nicholas  Nickleby,  Martin  Chuzzlewit,  in 
Copperfield  und  Bleak  House  die  schwül  gewordene  Atmosphäre 
durch  je  eine  Katastrophe  gereinigt,    während  der  stolze  Kauf- 

Archiv  f.  n.  Sprachen.  LXXIII.  24 


3/0  Dickens  und  seine  Hauptwerke. 

mann  Dombey  durch  drei  Katastrophen  in  unseren  Augen 
komisch  veinichtet  wird.  Da  sich  nun  die  Katastrophe  der 
komischen  Vernichtuns;  wenicjer  durch  die  Wucht  als  durch 
die  Wiederhohmix  der  Schläo:e  auszeichnen  soll,  so  erfüllt  Dombev 
und  Sohn  auch  in  dieser  Beziehung:  die  Anforderuno-  welche 
die  Kritik  an  ein  Kunst\yerk  der  ernsteren  Komik  stellt.  Wäh- 
rend also  die  einheitliche  und  Avuchtige  Katastrophe  der  Tra- 
gödie und  jener  Romane  dem  die  Luft  reinigenden  Blitzstrahl 
gleicht,  wirkt  die  komische  Vernichtung  eines  Dombey  oder 
eines  Pecksniff  wie  der  sich  wiederholende  Lichteffekt  des 
Wetterleuchtens. 

Da  nun  aber  Dickens'  humoristische  Romane  der  rein 
epischen  Gattung  angehören,  so  können  diese  natürlich  nicht 
mit  einer  Katastrophe  abschliefsen,  wie  dies  bei  der  Tragödie, 
bei  Zwitterepen  (Nibelungenlied)  und  Zwitterromanen  (Nanon  von 
Dumas)  der  Fall  ist.  AVer  verstünde  es  niin  besser  als  unser 
Novellist,  in  seinen  Werken  das  Geschick  der  dramatischen  und 
epischen  Figuren  zu  verflechten?  Während  der  epische  Held  die 
erste  Hälfte  seines  Weo-es  mit  Mühe  zurückle2:t,  um  sich  dann 
nach  der  Peripetie  (und  ganz  selten  vor  derselben)  beruhigender 
^lomente  zu  erfreuen,  tritt  an  demselben  Wendepunkte  die  Be- 
unruhigung der  dramatischen  Figur  ein,  und  vom  Geschick  be- 
zeichnet, treibt  die  letztere,  von  der  Peripetie  ab,  der  Katastrophe 
zu,  die  nun  gänzlich  die  Hemmnisse  des  epischen  Helden  be- 
seitigt, so  dafs  dieser  am  Zielpunkte  seiner  W'anderung  des 
Lesers  Glückwünsche  für  seine  Erfolge  empfängt. 

Nachdem  nämlich  fast  alle  Recensenten  Dickens'  in  dem 
einen  Punkte  übereinstimmten,  dafs  seine  Werke  ^egren  das 
Ende  abfallen,  hielten  wir  es  für  angezeigt,  auf  den  Grund 
dieser  Erscheinung,  nämlich  die  Technik  und  Architektonik 
seiner  Schöpfungen  hinzuweisen,  und  wen  könnte  es  nach  dem 
Gesagten  noch  wunder  nehmen,  dafs  Dickens'  Romane  zwischen 
der  Peripetie  und  der  Katastrophe  am  interessantesten  sind, 
und  dafs  nach  dem  Verschwinden  der  tragisch  oder  komisch 
vernichteten  Figuren  das  Schale  und  Fade  der  Gattung  mehr 
und  mehr  zum  Vorschein   kommen  mufs? 

Chemnitz.  A.   Ball. 


i 


Die   Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben. 


Von 

Hermann  Isaac. 


II.     Abfassungszeit    einiger    Dramen    der    Hamlet- 
Periode. 

Wenn  wir  auf  die  Entstehungszeit  des  Hamlet  Schlüsse 
ziehen  wollen  aus  den  Parallelismen,  welche  dieses  Drama  mit 
anderen  aufweist,  so  mufs  die  Abfassungszeit  der  letzteren  we- 
nigstens annähernd  feststehen.  Wenn  zwei  verschiedene  Re- 
daktionen des  Hanil.  nachgewiesen  werden  sollen,  die  eine  am 
Ende  des  16.,  die  andere  im  Beginn  des  17.  Jahrhunderts  ent- 
standen, so  kann  der  Nachweis  sich  nur  auf  Dramen  stützen, 
die  mit  einiger  Gewifsheit  entweder  in  jenem  oder  in  diesem 
Zeiträume  gedichtet  sind. 

Merch.y  1.  2  H.  /F.,  H.  V-,  und  auch  wohl  Wiv.  gehören 
ins  16.  eJahrhundert.  Ebenso  übereinstimmend  sind  die  Stücke 
Meas.,  Ci/mb.,  Mach.^  Lear,  Oth.,  Cor.  von  allen  Forschern  dem 
17.  Jahrhundert  zugewiesen  worden.  Dao-eoen  herrschen  ver- 
schiedene  Ansichten  über  das  Datum  von  Troil..,  As,  Ado,  Cces.^ 
die  bald  in  die  letzten  Neunziger,  bald  in  den  Beginn  des  neuen 
Jahrhunderts  verleojt  werden.  Da  sie  für  die  Entscheidungr  der 
Hamlet-Frage  wichtiges  Material  liefern,  müssen  wir  zunächst 
ihr  Alter  zu  bestimmen  versuchen. 

1.     Troilus  and  Cressida. 

Dieses  Drama  ist  nach  den  verschiedensten  Seiten  hin  eine 
Crux    der    Shakspere- Kritiker    gewesen,    nicht    zum    wenigsten 

24* 


372  nie  Ilamlet-Peiiode  In  Shaksperes  Leben. 

nach    der  chronolooischen,    wie    die    fül<i;ende  Zusanimeiistelluni]^ 
der  in  dieser  Beziehuno;  abweichenden  Ansichten  ersiebt. 

Nach  Fleay  ist  es  verfafst  stückweise     1594 — 1595/(j— 1607 

„      Stokes     ........  c.   1599-c.  1602* 

Chalmers 1600 

„      Drake lüOl 

„      Malone,  Skottowe     ....  1602 

„      Ulrici 1602,  überarbeitet  1008/9 

„      Hertzberg 1603 

„      Dowden        1603?  vielleicht  überarbeitet   1607 

„      V'erplanck,  Grant  White       .  1603,  überarbeitet  kurz  vor  1609 

„      Dehus c.  1608 

„      Gervinus 1608/9. 


Die  verschiedenen  Angaben  differieren  um  nicht  weniger  als 
fünfzehn  Jahre. 

a)  Das  späte  Datiuu  1607 — 1609  ist  angenommen  worden 
auf  Grund  des  Umstandes,  dafs  das  Drama  zuerst  im  Jahre 
1609  veröif entlicht  worden  ist,  und  zwar  in  zwei  nur  hin- 
sichtlich des  Titels  und  der  Vorrede  verschiedenen  Quartos,  in 
deren  erster  es  als  neues,  bisher  nicht  aufgeführtes  Stück  be- 
zeichnet wird.  Die  zweite  giebt  an,  dafs  es  auf  dem  Globe- 
Theater  von  His  Majesty'd  Servants,  Shaksperes  Gesellschaft, 
aufgeführt  worden  ist.  Die  Vorrede  der  ersten  Quart-Raubaus- 
gabe ist  durchaus  nicht  beweisend  dafür,  dafs  es  wirklich  ein 
neues  Stück  war;  die  Angabe  ist  vielmehr,  wie  weitere  Indizien 
zeigen  werden,  sicher  zu  Reklamezwecken  gemacht  worden.  Sie 
konnte  aber  wohl  nur  dann  gemacht  werden,  w'enn  das  Stück 
Jahre  hindurch  nicht  aufgeführt,  also  bei  dem  Publikum  in  Ver- 
sessenheit geraten  war. 

Ob  aber  im  Jahre  oder  für  das  Jahr  1609  nicht  blofs  eine 
Neuausstattung  von  seiten  der  Gesellschaft,  sondern  auch  eine 
Neubearbeitung  des  Dichters  stattfand,  ist  eine  Frage,  die  sich 
nicht  entscheiden  läfst. 

b)  Am    3.    Februar  1603    wurde    ein  Stück    „Troilus    and 

Cressida"  in    die  Buchhändlerregister  eingetragen,   als 

aufgeführt  von  den  Lord  Chamberlain'e  men  (damaliger  Namen 
der  Truppe  Shaksperes).  Das  Stück  sollte  also  gedruckt  wer- 
den, erschien  aber  nicht.     Wir    haben   nun  zwei  Fakta :    Shak- 


*  Auch  Furmval  zweifelt  nicht,   dals    das  Stück    aus  einem  älteren  und 
einem  jüngeren  Teile  bestehe. 


Die  Hamlet-Periode  in  Skakspcres  Leben.  37  3 

spere  hat  ein  Stück  „Troilus  and  Cressida"  geschi'Ieben  — 
Shaksperes  Truppe  hat  ein  Stück  „Troilus  and  Cressida"  auf- 
o-eführt.  Die  Möglichkeit  ist  allerdino-s  vorhanden,  dafs  das 
von  Shaksperes  Truppe  aufgeführte  Stück  nicht  von  Shakspere 
war,  sondern  vielleicht  von  Dekker  und  Chettle,  welche  nach 
Henslowes  Tagebuch  ein  anfangs  so,  später  „Agamemnon"  be- 
titeltes Drama  1599  verfafst  hatten.  Aber  die  allergröfste 
Wahrscheinlichkeit  liegt  doch  vor,  dafs  Shaksperes  „Troilus 
and  Cressida"  von  seiner  Truppe  vor  1603  aufgeführt,  d.  h. 
spätestens   1602  verfafst  worden  ist. 

c)  Diese  Annahme  wird  bekräftigt  durch  eine  unzweideutige 
Alispielling'  auf  einen  Vorgang  des  Shakspereschen  Dramas 
im  „Histriomastix,  or  the  Player  VVhipt",  welches  Stück  vor 
dem  Tode  der  Königin  Elisabeth  geschrieben  wurde,  da  sie 
darin  als  lebend  angeredet  wird: 

Troil.   Come,  Cressida,  my  cresset  light, 

Thy  face  doth  shine  both  day  and  night. 

Behold,  behold  thy  garter  blue. 

Thy  hiight  his  valiant  elbow  ivears, 

That  when  he  Shakes  his  furious  Speare, 

The  foe  in  shivering  fearful  sort 

May  lay  him  down  in  death  to  snort. 
Cress.    0  knight,  with  valour  in  thy  face, 

Here  take  my  skreene^  wear  it  for  grace ; 

Within  thy  helmet  put  the  same^ 

Therewith  to  make  thy  enemies  lame. 

Also  Shaksperes  Troil.  w^ar  vor  dem  Tode  der  Königin 
Elisabeth  (März   1603)  vorhanden. 

d)  Fleay  erkennt  in  Troil.  drei  verschiedene  Stilarten  und 
führt  zum  Beweise,  dafs  Shakspere  zu  verschiedenen  Zeiten  daran 
gearbeitet  habe,  zwei  allerdings  recht  auffallende  Erscheinungen 
an:  die  letzten  Worte  des  Stückes  vor  dem  Epilog,  von  Pan- 
darus  und  Troilus  gesprochen  (V,  10,  32 — 34),  kommen  in  der 
Fol.  noch  einmal  vor  am  Schlüsse  der  dritten  Scene  des  fünf- 
ten Aktes,  mit  der  die  Troilus-Cressida-Geschichte  beendigt 
wird.  Fleays  Annahme,  dafs  hier  der  ursprüngliche  Schlufs 
war,  und  dafs  die  folgenden  Scenen  später  gearbeitet  sind,  hat 
viel  für  sich.  —  Ferner:  in  der  zweiten  Scene  des  ersten  Aktes 
zieht    Hector    zum    Kampfe  aus    und    in   der    folgenden    ist    er 


374  Die  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben, 

,,oTown  rusty  in  the  long-continued  truce^^.  Sachliche  Wider- 
sprüche, besonders  Anachronismen  sind  bei  Shakspere  zwar 
nicht  selten.  Dieser  in  zwei  aufeinander  folgenden  Scenen  auf- 
tretende ist  aber  um  so  seltsamer,  als  zwischen  dem  Schlufs 
der  zweiten  Scene  des  ersten  und  der  zweiten  Scene  des  drit- 
ten Aktes,  welche  die  Troilus  -  Cressida  -  Handlung  fortsetzt, 
allerhöchstens  ein  paar  Tage  liegen  können.  —  Fleay  geht  in- 
dessen entschieden  zu  weit,  wenn  er  aus  inneren,  stilistischen 
Gründen  eine  Arbeit  von  1594  und  eine  andere  von  1595  oder 
1596  herausfinden  will;  auch  das  verschiedene  Reimverhähnis 
(Shakespeare  Manual  pag.  244)  kann  nicht  für  einen  Zwischen- 
raum von  ein  oder  zwei  Jahren  beweisend  sein,  wie  ein  Blick 
in  seine  eigene  Reim-Tabelle  lehrt.  Er  hat  sich  die  Möglich- 
keit einer  so  subtilen  Unterscheidung  nur  eingebildet,  in  Wirk- 
lichkeit aber  rein  äufserlich  die  Handlung  nach  ihren  drei 
Quellengebieten  {Chaucers  „Troilus  and  Creseide",  Caxtons  „Troy 
Book"  und  Chapmans  Homer-Übersetzung)  auseinandergelegt  in 
die  Troilus- Cressida-,  Hektor-  und  x4chilles- Thersites  -  Fabel. 
Ohne  Zweifel  hat  Shakspere  Chaucer  und  Caxton  gleichzeitig 
benutzt,  später  aber  möglicherweise  aus  Chapman  (1598)  den 
Zwiespalt  der  griechischen  Helden  hinzugefügt.  Zicei  verschie- 
dene Stile  sind  in  der  That  leicht  erkennbar:  die  tiefe  Welt- 
weisheit der  Reden  des  Ulysses  und  Nestor  findet  ihr  Pendant 
nur  in  Dramen  des  17.  Jahrhunderts,  während  die  Reden  der 
Liebenden  durchaus  der  italienischen  Richtung  der  Jugend- 
Dramen  und  der  Sonette  angehören.     So  hat  Stokes  recht,  eine 

„Liebes-  und  eine  Lager-Geschiclite/'  zu  unterscheiden. 

Fleay  geht  auch  darin  zu  weit,  dafs  er  einzelne  Scenen  in 
zwei,  drei  und  mehr  Teile  je  nach  ihrer  Abfassungszeit  zerlegt, 
und  mitunter  Stellen  von  zehn  Zeilen  als  spätere  Zuthat  aus 
ihrem  Kontexte  löst.  Die  Sicherheit,  die  er  auf  einem  so  un- 
sicheren Gebiete  zur  Schau  trägt,  ist  eine  komische,  da  sie 
auf  der  stillschweigenden  Voraussetzung  beruht,  dafs  man 
eine  Dichtung  mosaikartig  zusammensetzen  könnte.  Sobald 
der  Dichter  sich  zu  der  Erweiterung  einer  Komposition  ent- 
schliefst, kann  es  sich  eben  nicht  blofs  um  Zusätze  und  Ein- 
fügungen handeln,  sondern  um  Verschmelzung  des  alten  und 
des   neuen    Stofi^es,    d.  h.    um   eine    vollständige    Überarbeitung, 


Die  Hainlet-Pcrlude  in  Shukspcrcs  Leben.  375 

die  freilich  das  Zurückbleiben  einzelner  Ungereimtheiten  und 
Widersprüche  wie  die  eben  angeführten  nicht  ausschliefst.  Die 
Scenen ,  welche  stofflich  der  ersten  Fassunjj  ansfehürt  haben 
müssen,  werden  im  einzelnen  vielfache  Nachbesserungen  er- 
fahren haben,  und  manche  Stücke  aus  jenen  werden  in  neu- 
entstandene Scenen  eingefügt  worden  sein:  so  dafs  eine 
eventuelle  kritische  Scheidung  der  älteren  und  der  jüngeren 
Arbeit  immer  nur  unvollkommen  ausgeführt  werden  kann,  weil 
sie  eben  mehr  eine  stoffliche  als  eine  stilistische  ist.  Wenn 
ich  daher  im  Folgenden  eine  Scheidung  der  beiden  Redaktionen 
vornehme,  so  möchte  ich  sie  nur  als  eine  unirefähre  bezeichnen 
und  von  vornherein  zuo'eben,  dafs  in  den  als  ältere  Dichtunir 
bezeichneten  Scenen  (z.  B.  II,  2 ;  IV,  5 ;  V,  2)  mannigfache 
spätere  Zuthaten  enthalten  sind: 

Altere  Arbeit.  Jüngere  Arbeit. 


1, 1. 

IV,  1. 

V      ^ 

I,  3. 

V,  1. 

I,  2. 

IV,  2. 

V,     3. 

II,  1. 

V,  4. 

II,  2. 

IV,  3. 

V,     5. 

II,  3. 

V,  7. 

III,  1. 

IV,  4. 

V,     6. 

III,  3. 

V,  8. 

III,  2. 

IV,  5. 

V,  10. 

V, 

9. 

e)  Der  Monolog  der  Cressida  am  Schlufs  der  zweiten 
Scene  des  ersten  Aktes,  welcher  welter  nichts  als  eine  lyrische 
Einlage,  ein  Sonett  in  Reimpaaren  ist,  ist  ein  entschiedenes 
Kennzeichen  jugendlicher  Arbeit. 

f)  Die  Reiniprobe  ergiebt  einen  ziemlich  bedeutenden 
Unterschied  in  den  beiden  Teilen :  in  dem  früheren  kommen 
126  Reim-  auf  1318  Blank-Verse,  im  späteren  56  auf  801;  also 
unterscheidet  sich  der  Reimo-ebrauch  wie  1:10  und  1:14. 
Aber  ich  gebe  zu,  dafa  dieser  Unterschied  für  den  Zwischen- 
raum zwischen  den  beiden  Redaktionen  wenig  beweisend  ist : 
//.  F.  ist  sicher  später  geschrieben  als  H.  IV.,  hat  aber  dennoch 
mehr  Reime. 

g)  Ein  hübsches  Beweismittel  ist  das  von  Stokes  ge- 
brauchte-, der  die  Alispieluugen  auf  Troil.  in  den  übrigen 
Dramen  zusammengestellt  hat. 

1.  Lafeu.  I  ara  Cressid's  uncle 

That  dare  leave  two  together. 

All's  II,  1,  100. 


376  Die  Hamlet-Pcriodc  in  Shak^percs  Leben. 

2.  Clown.  I  would  play  Lord  Pandarus  of  Piirygia,  sir,  lo  bring 
a  Cressida  to  bis  Troihis.  Tiü.  III,  1,  58. 

(Anspielungen  auf  TroiL  III,  2.) 

3.  Troilus  bad  bis  brains  dasbed  out  Avitb  a  Grecian  club,  and 
yet  be  did  wbat  be  could  to  die  before,  and  he  is  one  of  tbe 
patterns  of  love.  As  IV,  1,  97. 

(In  dem  uns  vorliegenden  Drama  hat  Troil.  ein  solches  Ende 
nicht;  die  Anspielung  mufs  vor  der  endgültigen  Vollendung  des 
Dramas  gemacht  sein.) 

4.  Als  Cressida  das  Liebespfand    des  Troilus,    den  Ärmel, 
an  Diomed  fortgegeben  hat,  spricht  sie: 

O,  all  you  gods !   O  pretty,  pretty  pledge ! 

Tbv  master  now  bis  tbinkins:  in  bis  bed 

Of  tbee  and  me,  and  sigbs,  and  lakes  my  glove. 

And  gives  memorial  dainty  kisses  to  it, 

As  I  kiss  tbis.  Troil.  V,  2,  78. 

In    der  Liebes-    und    Mondschein-Scene   auf  Belmont    sagt 
Lorenzo: 

in  such  a  nigbt 
Troilus  metbinks  mounted  tbe  Trojan  walls, 
And  sigbed  bis  soul  toward  tbe  Grecian  tents, 
Wbere  Cressid  lay  tbat  night.  Merch.  V,  1,3. 

5.  Pistol.      And  from  tbe  powdering  tube  of  infamy 
Fetch  forth  tbe  larger  kite  of  Cressid's  kind. 

H.   Y.  II,  1,  79. 

6.  Bourh.      And  tbat  will  not  follow  Bourbon  now, 
Let  bim  go  bence,  and  with  bis  cap  in  band, 
Like  a  base  Pander^  hold  the  Chamber  door, 
Whilst  by  a  slave,  no  gentler  than  my  dog, 

His  fairest  daughter  is  contamincded. 

H.   V.  IV,  5,  14. 

7.  Ale  Pistol  den  Postillon  d'amour  zwischen  FalstafF  und 

Mrs.  Page  machen  soll,  verwahrt  er  sich  dagegen  in  folgenden 

Worten : 

Shall  I  Sir  Pandarus  of  Troy  become 

And  by  my  aide  wear  steel  ?  Then  Lueifer  take  all ! 

Wiv.  I,  3,  83. 

8.  Falstaff  sbonld  have  been  a  Pander  to  one  Mr.  Brook. 

Wiv.  V,  5,  176. 


Die  Ilanilet-Pcriodc  in  Sluiks(iercs  Leben.  377 

9.  Leander  the  good  swimmer,  Tidüus  llie  first  eniployer  of  pan- 
ders,  and  a  whole  bookful  of  tiiese  quondam  carpet-mongers, 
ivhose  names  yet  run  smoothly  in  the  even  road  of  a  blank  verse. 

Ado  V,  2,  30. 

10.  Thersites'  hody  is  as  good  as  Ajax 

When  neither  are  alive.  Cymb.  IV,  2,  252. 

11.  Kent  sagt  von  Oswald: 

None  of  these  rogues  and  cowards 
But  Ajax  is  tbeir  fooL  Lear  II,   2,  132. 

Diesen   Stellen  fü<j:e  ich  die  folgende  hinzu: 
11  a.   Volumnia   antwortet    ihrer    um    den  Gatten    besorgten 
Schwiegertochter  Virgilia : 

it  (blood)  more  becomes  a  man 
Than  gilt  bis  trophy  i  the  breasts  of  Hecuha, 
When  she  did  suckle  Hector,  looked  not  lovelier 
Than  Hector's  forehead  when  it  spit  forth  blood 
At  Grecian  stvord,  contemning.  Cor.  I,  3,  43. 

(Vergl.  auch  Cor.  I,  8,  11.) 

Es  ist  sicherlich  nicht  als  Zufall  zu  betrachten,  dafs  die 
Anspielungen  in  Stücken  des  16.  Jahrhunderts  sich  nur  auf  die 
Liebesgeschichte,  die  drei  Stellen  aus  Lear,  Cymh.  und  Cor.  sich 
auf  die  Lagergeschichte  beziehen.  —  Besonders  aufmerksam 
möchte  ich  auf  4.  machen,  wo  zwei  nicht  blofs  inhaltlich,  son- 
dern der  Stimmung  nach  identische  Stellen  angeführt  sind.  Es 
ist  zwar  nur  eine  Sache  des  Gefühls  und  kann  nicht  als  strik- 
ter Beweis  gelten,  aber  hohe  Wahrscheinlichkeit  hat  doch  die 
Annahme,  dafs  der  Dichter  die  Situation  im  Troil.  zuerst  durch- 
empfunden haben  mufste,  ehe  der  gefühlvolle  Nachklang  dersel- 
ben in  die  hochpoetische  Schlufsscene  von  Merch.  übergehen 
konnte.  —  In  Bezug  auf  9.  ist  zu  bemerken,  dafs  Shakspere 
zu  der  Zeit,  als  Ado  geschrieben  wurde  (s.  weiter  unten), 
schwerlich  auf  das  Drama  von  Dekker  und  Chettle  (1599), 
sondern  nur  auf  die  eigene  Leistung  anspielen  konnte.  —  11. 
dagegen  spielt  nicht  auf  die  homerische  Darstellung  an,  sondern 
genau  auf  das,  was  Shakspere  in  seiner  Lagergeschichte  aus 
ihr  gemacht  hatte.  —  Der  Eindruck,  welchen  diese  Anspielun- 
gen machen,  ist  offenbar  der,    dafs'  die  Liebesgeschichte  im   16., 


o 


die  Lagergeschichte    im   Beginn  des  17.  Jahrhunderts  geschrie- 
ben  wurde. 


378 


Die  Heimlet  Periode  in  Shaksperes  Leben. 


h)  Das  schwerst  wiegende  Bewelsmatcrial  für  eine  zwei- 
maliore  Arbeit  an  Troil.  bieten  die  Parallelstellen  mit  ande- 
ren  Dichtuna'en.  Zunächst  fiilh  Troil.  unter  den  Dramen  einer 
späteren  Periode  auf  durch  die  zahh*elchen  Anklänge  an  die 
eJuirend- Sonette,  besonders  die  Eifersuchts- Sonette,  welche  nach 
meiner  Kombination  (Shakspere-Jahrb.  XIX,  pg.  235)  etwa  ins 
Jahr   1592  gehören  (17—22). 

12.  Die  Stimme  der  Geliebten  wird  als  „Ji^^s/Ä;"  bezeichnet 
Troil.  III,  2,  142;  desgleichen  Soim.  8  und  128;  Rom.  II,  6, 
27;  Ven.  1077;  Err.  II,  2,  116;  Gentl.  IV,  3,  36;  freilich  auch 
B.   V.  V,  2,  263. 

13.  Die  Bezeichnung  des  geliebten  Gegenstandes  als  Götze 
uml  der  Liebe  als  Götzendienerei  ist  vorwiegend  jugendlich: 
Troil.  II,  2,  56;  Sonn.  105;  Ven.  212;  Mich.  I,  1,  109;  Rom. 
II,  2,  114;  LL.  IV,  3,  75;  Gentl.  II,  4,  144;  IV,  2,  129;  4, 
205;  AWs  I,  1,  108;  aber  auch  Ilaml.  II,  2,  109;  Tic.  III,  4, 
399. 

14.  Der  kurze  Monolog  des  Troilus  vor  seinem  ersten  Zu- 
sammensein mit  Cressida  findet  seinen  Widerhall  in  zwei  Reise- 
Uedern  und  Rom.: 

The  hnaginary  relish  is  so  sweet 

That  it  enchants  my  sense :  ivhat  will  it  he, 

When  that  the  laatery  pcdate  tastes  indeed 

Love's  tlirice  repured  nectar?  Troil.  III,  2,  20. 

Ah  nie !  hoio  sweet  is  love  itself  possessed, 
When  but  love's  shadows  are  so  rieh  in  joy ! 

Bom.'V,  1,  10. 

Then  thou,  whose  shadow  shadows  doth  make  bright, 
How  shoidd  thy  shadoius  form  form  happy  show  .... 
When  to  wnseeing  eyes  thy  shade  shines  so.  Sonn.  43. 

Ein  ähnliches    Bild    mit   Bezug    auf  die  Liebe    erscheint  in  der 

Stelle: 

Mine  eye  well  knows  what  witli  his  gust  is  'greeing, 

And  to  his  palate  doth  prepare  the  cup.  Sonn.  114. 

15.  No,  she'll  none  of  him,  they  two  are  twain. 

Troil.  III,  1,  110. 


Let  mc  confess  that  tue  two  must  he  twain. 


Sonn.  36. 


Die  Hamlet-Periode  in  Shak.'-pcres  Leben.  37  9 

Tliou  and  my  bosom   henceforth  i<hall  he  twain. 

Born.  III,  5,  240. 

16.  But  we  in  silence  hold  this  virtve  ivell, 
We'll  hut  commend  ivhat  ive  intend  to  seil. 

Troil.  IV,  1,  78. 

Let  them  say  more  that  like  of  hearsay  well; 

1  will  not  praise  that  purpose  not  to  seil.  Sonn.  21. 

17.  Nach  den  gegenseitigen  Liebesversicherungen  des  Troi- 
lus  und  der  Cressida  leitet  Pandnrus  sie  auf  dem  We2:e  der 
Liebe  weiter  mit  den  Worten  : 


o 


Go  to,  a  bargain  made ;  seal  it,  seal  it; 

ril  be  the  witness.  Troil.  III,  2,  200. 

Die  Küsse  als  Siegel  für  Liehes-Kontrahte  zu  betrachten,  ist 
ein  in  den  jugendlichen   Dichtungen  sehr  beliebtes  Bild: 

(Thy  Ups)  have  sealed  false  bonds  of  love  as  oft  as  mine. 

Sonn.  142. 


Pure  Ups,  sweet  seals  in  my  soft  lips  imprinted, 
What  bargain  may  1  make,  still  to  be  sealing? 
To  seil  niyself,  I  can  be  well  contented, 
So  thou  wilt  biiy,  and  pay,  and  use  good  dealing; 
Which  purchase  if  thou  make,  for  fear  of  lips 
Set  thy  seal-manual  on  my  wax-red  Ups.  Ven.  511. 

and  lips,  O  you, 
The  doors  of  breath,  seal  with  a  righteous  kiss 
A  dateless  bargain  to  engrossing  death. 


And  seal  the  bargain  with  a  holy  kiss. 


Rom.  V,  3,  113. 
Gentl.  II,  2,  7. 


Upon  thy  cheek  lay  I  tliis  zealous  kiss 
As  seal  to  this  indenture  of  my  love. 

John  11,  1,  20. 

Küsse    werden    aufserdem    „Siegel"    genannt:    Per.    II,    5,    85 
2  H.  VI.  III,  2,  343;  3  H.    VI.  V,  7,  28;  Shrew  III,  2,  123. 

18.  Die  Stelle 

-  Minds  swaj^ed  by  eyes  are  füll  of  turpitude 

Troil.  V,  2,  107 
giebt  den  Grundgedanken  des  137.  Sonettes  wieder. 

19.  Cressida.     I  have  a  kind  of  seif,  resides  with  you. 

Troil.  III,  2,  155. 


380  Die  Ilanilct-Periocle  in  JSliaki^iteres  Lcl)cn. 

Me  from  imjself  thy  cniel  eye  liatli  taken. 

Sonyi.  133. 

20.  Die  Liebe  wird  der  Vernunft  als  sich  oreorenseltior  aus- 
schlieft-end  in  iu<xendlichen  Dichtun2;en  öfters  iresenüberirestellt : 

to  he  lüise  and  love 
Exceeds  maii^s  might.  Troll.  III,   2,  163. 

My  reason,  the  physician  to  my  love^ 

Angry  that  his  prescriptions  are  not  kept, 

Hath  left  me.  Sonn.   147. 

0  appetite  ^  from  judgement  stand  aloof! 

The  one  a  palate  hath  that  needs  will  taste, 

Though  Reason  weep,  and  cry  „It  is  thy  last." 

Compl.  166. 

Reason  and  love  Jceep  little  Company  together  now-a-days. 

Mids.  III,  1,*^  147. 

Ask   me  no   reason    why  I   love   yoii ;    for   though   Love  nse 
Reason  for  his  physician,   he  adniits  him  not  for  Ins  coimsellor. 

Wiv.  II,  1,  4. 

{Falstaffs  Worte  in  seinem  Liebesbrief  an  Mr?.  Page,  der  nach 
allen  Regeln  der  von  Sliakspere  früher  selbst  geübten  Kunst 
verfafst  ist.) 

Auch    bei   Spenser,    einem  grofsen   Verehrer  Piatos,    kommt 
dieser  platonische  Gedanke  vor: 

To  be  wise  and  eke  to  love, 
Is  granted  scarce  to  gods  above. 

Sheplierd's  Calendar. 

21.  Das    Bild    von    einer    getrübten    Quelle    ist    in    Jugend- 
dichtungen beliebt : 

Ti'oil.    What   too  eurious  dreg  espies  my  sweet  lady  in  the 
fountain  of  our  love?  Troil.  III,  2,  70. 

(Von  hier  hinübergenommen  in  eine  wahrscheinlich  später  ge- 
arbeitete Scene : 

My  mind  is  troubled  like  a  fountain  stirred. 

[Achilles.]  Troil  IIL  3,  311.) 

Mud  not  the  fountain   that  gave  drink  to  thee. 

Lucr.  hll . 

(Lucrece  zu  Tarquin  in  Bezug  auf  die  ihm  gewährte  Gast- 
freundschaft.) 


Die  Hanilet-Perlude  in  Shaksperes  Leben.  381 

Why  should  the  worm  intjude  the  maiden  biid  ? 

Or  hateful  ouckoos  hatch  in  sparrows'  nests? 

Or  toads  infect  fair  founts  icith  venom  mud?        Lucr.  850. 

(Lucreces  Klage  nach  der  Entfernung  Tarquins.) 

No  more  be  grieved  at  that  which  thou  hast  done: 

Roses  have  thorns,  and  süver  fountains  mud.  Sonn.  35. 

(Shakspere  an  den  Freund,    den    er    im  Verdacht    hat,    ihn    mit 
der  Geliebten  verraten  zu  haben.) 

The  pnrest  spring  is  not  so  free  from  mud 
As  I  am  clear  froni  treason  to  mv  sovereign. 

(Gloucester.)  '     2  H.   VI.  III,   1,  101. 

Pool!    Sir  Pool!    lord! 
Ay,  kennel,  piiddle,  sink ;  whose  ülth  and  dirt 
Trouhles  the  silver  spring  where  England  drinks. 

(Kapitän  zu  Suffoik.)  IV,  1,  72. 

A  woman  moved  is  like  a  fountain  troubled, 
Mudly,  ill-seeming,  tliick,  bereft  of  beauty. 

(Katharina.)  jShrew  V,  2,  142. 

21  a.  In  jugendlichen  Dichtungen  werden    die  Seufzer    gern 
mit  dem    Winden  die   Thränen  mit  dem  Regen  verglichen: 

Pandarus  (bei  der  Trennung  von  Cressida).  Where  are  my 
tears?  rain,  to  lay  this  wind,  or  my  heart  will  be  blown  up 
by  the  root.  Troil.  IV,  4,  55. 

O  earth,  I  will  befriend  thee  more  with  rain, 
That  shall  distil  from  these  two  ancient  urns, 
Than  youthful  April  shall  with  all  bis  showers. 

Tit.  III,  1,  16. 

But  through  the  flood-gates  breaks  the  silver  rain. 

Yen.  959. 
Biit  like  a  stormy  day,  now  wind,  now  rain, 
Sighs  dry  her  cheeks,  tears  make  them  wet  again. 

Yen.  975. 

At  last  it  rains,  and  busy  winds  give  o'er: 

The  son  and  father  weep  ....  Lii.  1  790. 

'         "  (a  maid) 

Storming  her  world  with  sorrow's  wind  and  rain. 

Compl.  7. 

Lysander.  How  now,  my  love  !  why  is  your  cheek  so  pale  ? 
How  Chance  the  roses  there  do  fade  so  fast? 


382  Die  Hamlet-Ptriode  in  Shak?peres  Leben. 

Hermia.     Belike  for  want  of  rain,  -which  I  could  well 
Beteem  them  frora  the  tempest  of  my  eyes. 

Mids.  I,  1,  30. 

the  winds  thy  sighs.  Rom,  III,  5,  135. 

You  foolish  shepherd,  wherefore  do  you  foUow  her, 
Like  foggy  south  puffing  with  wind  and  rain  ? 

As  III,  5,  49. 

York  (zu  Queen  Margaret). 
ATouldst  have  nie  weep?  why,  now  thou  hast  thy  will: 
For  raging  wind  blows  up  incessant  showers, 
And  when  the  rage  allays  the  rain  begins. 

3  H.   VI.  1,  4,  145. 

Prince  (zu  dem  weinenden  Clarence). 
How  now  I    rain  within  doors,  and  none  abroad. 

2  IL  IV.  IV,  5,  9. 

We  cannot  call  her  winds  and  waters  sighs  and  tears. 

Ant.  I,  2,  153. 

22.  Der  Monoloof  Cressidas    am    Ende    der    zweiten    Scene 
des  ersten  Aktes  erinnert  lebhaft  an  das   129.   Sonett. 

Women  are  angels,  wooing: 
Things  ivon  are  done ;  joy^s  soul  lies  in  the  doing. 
That  she  beloved  knows  nought  that  knows  not  this: 
Men  prize  the  thing  ungaitied  more  than  it  is : 
That  she  was  neuer  yet  that  ever  knew 
Love  got  so  siveet  as  when  desire  did  sue.     Troll.  I,  2,  312. 

Qust  is) 
Enjoyed  no  sooner  but  despised  straight  ... 
Mad  in  pursuit  and  in  possession  so ; 
Had^  having,  and  in  quest  to  have,  extreme; 
A  Miss  in  proof,  and  proved,  a  very  woe ; 
Be/ore,  a  joy  proposed;  behind,  a  dream.  Sonn.  129. 

23.  Slie  is  as  far  high-soariag  d'er  thy  praises 
As  thou  unworthy  to  be  called  her  servant. 

Troil.  IV,  4,  126. 

Finding  thy  luorth  a  limit  past  my  praise.  Sonn,  82. 

Far  hehind  his  worth 

Come  all  the  praises  that  I  now  bestow. 

Genil.  II,  4,  71. 

24.  Als    Ausdruck    des    höchsten    Preises    finden    sich    die 
Worte : 


1 


Die  Hi.mlet-Periode  In  Sh;iksperes  Leben.  383 

Troüus  is  Troilus.  Troil.  I,  2,  70. 

Ebenso: 

You  alone  are  you.  Sonn.  84. 

Thou  art  thyself.  Born.  11,  2,  39. 

Would  you  praise  Coesar,  say^  Ccesar,  go  no  farther. 

Ant.  III,  2,  13. 

25.  My  rest  and  negligence  hefriends  tliee  noiv 

Troil.  Y,  G,  17 
sagt  Achilles  zu  Hector. 

Derselbe  Ausdruck  findet  sich  im  120.   Sonett: 

That  you  were  once  unkind,  hefriends  me  noiv. 

Aufser    den    bereits    anoeführten    finden     sich    noch    andere 
Ankliino-e  in  Born. 

26.  Troilus    sagt,    dafs    nach    ihm  Liebende    seinen    Namen 

zur  Bekräftigung    ihrer    Treue    brauchen    werden:    „As    true    as 

Troilus",  wie  sie  jetzt  sagen: 

As  true  as  steel ... 

As  iron  to  adamant,  as  earth  to  centre.      Tioil.  III,  2,  186. 

So  sagt  Romeo : 

Can  I  go  torward,  when  my  heart  is  here  ? 

Turn  back,  didl  earth  {Körper^,  and  find  thy  centre  out. 

Rom.  ir,  1,  2. 

26  a.   Wortspiel  zwischen  ^^note  auf  Noten  setzen^''  und  „Jcenn- 

:eichnciv^ : 

Any  man  may  sing  her,  if  he  can  take  her  cliff;  slies  noted. 

Troil.  V,  2,   11. 
An  you  re  us  and  fa  us,  you  note  us.        Born.  IV,  5,  122. 

27.  Teil  me  Apollo, 

What  Cressid  is,  what  Pandar,  and  what  w  e  ? 
Her  bed  is  India;  there  she  lies,  a  pearl: 
Between  our  Bium  and  where  she  resides, 
Lei  it  be  called  the  icitd  and  wandering  flood, 
Ourself  the  merchant,  and  this  sailing  Pandar 
Our  doubtful  hope,  our  convoy,  and  our  bark. 

Troil.  I,  1,   103. 
Ein  ähnliches   Bild  braucht  Romeo  zu  Juliet ; 

I  am  no  pilo ;  yet  wert  thou  as  far 

As  that  vast  shore  washed  luith  the  farthest  sea, 

I  would  adventure  for  such  a  merchandise. 

Born.  II,  2,  82. 


384  Oie  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben. 

27a.  Der   Wind  Avird  als  Symbol  der  Falschheit  gebraucht: 
Troil.  lir,  2,  199;  Rom.  1,  4,  100;   Wi7iL  I,  2,   132. 

27  b.  Das  Wortspiel  mit  follow^  followev  in  den  Bedeutun- 
gen „folgen^''  und  ^^dienen'"''  erscheint  dreimal; 

Pandarus.    Friend  !  .  . .  Do   not   you  follow  the  young  lord 
Paris? 

Servant.     Ay,  Sir,  when  he  goes  before  me. 

Troil.  III,  1,  2. 

Tyhalt.     Well,  peace  be  with  yon,  sir,  here  comes  iny  man 

(der  eintretende  Romeo). 
Mercutio.      But  VW  be  hanged,  sir,  if  he  wear  your  livery: 
Marry,  go  before  to  field,  he'll  be  your  foUoiver ; 
Your  worship  in  that  sense  may  call  liim  „man". 

Born.  II,  1,  Gl. 

Äfrs.  Page  (zu  Robin).    Nay,  keep  your  way,  little  gallant; 
you  were  wont  to  be  a  folloiver,  but  now  you  are  a  leader. 

Wiv.  III,  2,  2. 

27  c.  Das  gleiche   Wortspiel    findet   sich  in  Troil.  I,  1,  55: 

(Thou)  Handlest  in  thy  discourse,  0,  that  her  ha7id 

und   Tit.  III,  2,  29: 

O,  handle  not  the  therae,  to  talk  of  hands^ 
Lest  we  remember  still  that  vve  have  none. 

27  d.  Mit  date  in  den  Bedeutungen  ^^Dattel''^  und  „Dauer^^ 
wird  gespielt: 

Pandarus.     Is   not  birth,  beauty,   good  shape,  .  .  .  and   so 
forth,  the  spiee  and  salt  that  season  a  man? 

Cressida.     Ay,  a  minced  man :  and  then  to  be  baked  with 
no  dats  in  the  jrie^  —  for  then  the  man's  date  is  out. 

Troil.  I,  2,  281. 

Parolles  (zu  Helena).     Your  date  is  better  in  your  pie  and 
your  porridge  than  in  your  cheek.  AlFs  I,  1,  172. 

27  e.  ,,Dianas  icaiting-women^^  heifsen  die  Sterne  Troil.  V, 
2,  91,  so  wird  auch  in  Lu.  (787)  von  der  j,silver-shim?ig  queen^'- 
und  ^Jier  tirinJding  handmaids'"''  gesprochen. 

Auch  die  der  zu-eiten  Hälfte  der  Neunziger  zugewiesenen 
Sonette  bieten  naturö-emäfs  Parallelen. 


o 


28.        Cassandra.  let  us  pay  betimes 

A  raoiety  of  that  rnass  of  moan  to  come. 

Troil.  II,  2,  106. 


Die  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben,  385 

(1)  heavily  from  Tvoe  to  woe  teil  o'er 

The  sad  account  of  fore-bemoaned  moan, 

Which  I  new  pay  as  if  not  paid  before.  Sonn.  30. 

29.  Helena  wird  die  „mortal   Venus''  genannt. 

Troil.  III,  1,  34. 
So  heifst  die  Königin  Elisabeth 

,  the  mortal  moon  So7in.  107 

und  Cleopatra: 

terrene  moon  Ant.  III,  13,   153. 

Die  Parallelstellen  zwischen  der  LiehesgescJiiclite  von  Troil. 
und  den  Dramen  der  zweiten  Hälfte  der  Neunziger  sind  nicht 
so  zahlreich  wie  die  in  den  Jugendstücken  gefundenen ;  es  sind 
aufser  den  unter  13,  20,  27b  und  76  angeführten  die  folgenden: 

30.  Come,  draw  this  curtain,  and  Ißt's  see  your  picture. 

Troil.  III,  2,  48 

sagt  Pandarus  zu  seiner  verschleierten  Nichte,  als  Troilus  sich 
ihr  naht ;  dieselben  Worte  gebraucht  die  anfangs  verschleierte 
Olivia  zu  der  in  Männerkleidern  auftretenden   Viola: 

We  will  draiü  the  curtain  and  show  you  the  picture. 

Tiu.  I,  5,  251. 
(Eine  sehr  auffallende  Wiederholung.) 

31.  Das  Flügelpferd  des  Perseus  wird   an   drei  Stellen    zum 

Vergleiche  benutzt: 

I  have  Seen  thee, 
As  hot  as  Perseus,  spur  thy  Phrygian  steed. 

Troil.  IV,  5,  186. 
Der  Dauphin  nennt  sein  Pferd 

a  heast  for. Perseus:  he  is  pure  alr  and ßre. 

II.  V.  III,  7,  22. 

Und  in  der  Lagergeschichte  vergleicht  Nestor  ein  Schiff  im 
Sturme  damit : 

The  strong-ribbed  baik  through  liquid  mountains  cut, 

Bounding  between  the  two  moist  elements 

Lil:e  Perseus^  horse.  Troil.  I,  3,  42. 

32.  Der  Vergleich  des  Kampfes  zwischen  zwei  Personen 
mit  der  {Löiüen-)Jagd  findet  sich  zweimal  in  Troil.: 

Diomedes.    By  Jove,  I'U  play  the  hunter  for  thy  life 
With  all  niy  force,  pursuit  and  policy. 

AicLiv  f.  n.  Spiaclien.   LXXIIL  25 


386  Die  Hamlet-Perlode  In  Shaksperes  Leben. 

yEneas.     And  thou  shalt  liunt  a  Hon,  tliat  will  fly 
With  his  face  backward.  Troil.  IV,   1,17. 

Hektor  ruft  einem  Griechen  zu: 

wilt  thou  not,  beast,  abide? 
Wy,  then  fly  on,  I'U  hunt  thee  for  thy  lüde. 

Troil.  V,  6,  31. 

Heinrich   V.    läfst    den    Franzosen    vor     der    Schlacht    bei 
Aijincourt  durch  ihren  Absesandten  zurücksanken: 

Bid  them  achieve  nie,  and  then  seil  my  bones. 

Good  God  I  why  should  they  mock  poor  fellows  thus? 

The  man  that  once  did  seil  the  lions  slin 

While  the  beast  lived,  was  killed  tcith  himting  him. 

H,   V.  IV,  3,  94. 
Coriolan  sagt  von  Aufidius: 

he  is  a  lion 
That  I  am  proud  to  hunt.  Cor.  I,  1,  239. 

(Ob  die  Parallelstellen  von  Tio.  und  H.  V.  aus  der  ersten  Re- 
daktion in  diese  Stücke  oder  aus  diesen  Stücken  in  die  zweite 
Redaktion  übergegangen  sind,  ist  nicht  zu  entscheiden.) 

33.  Das  Bild    vom  Kolofs   von  Rhodus  kehrt   in  sehr  ähn- 
licher Verwendung  an  vier  Stellen  wieder: 

[Margarelon]  Stands  colossits-wise,  waving  his  beam^ 

lipon  the  pashed  corses  of  the  kings.  Troil.  V,  5,  9. 

Fal.     Hai,  if  thou  see  nie  down  in  the  battle  and  lestride 
me^  so;  'tis  a  point  of  friendship. 

Prince.    Nothing  but  a  colossus  can  do  thee  that  friendship. 

IL  IV.  V,  1,  122. 

Cces.    Why,  man,  he  (Caesar)  doth  bestride  the  narrow  ivorld 
Like  a  Colossus,  and  we  petty  men 
Walk  under  his  huge  legs  and  peep  about 
To  find  oiirselves  dishonourable  graves.         Cces.  I,  2,  135. 

His  legs  (Antonius')  bestrid  the  ocean.  Ant.Y^  2,  82. 

33  a.  With  a  bridegrooni's  fresh  alacrity, 

Let  US  address  to  tend  on  Hector's  heels. 

Troil.  IV,  4,  147. 

fresh  as  a  bridegroom.  1  H.  IV.  I,  3,  34. 

34.  Orlando  sagt  von  seinem  Bruder: 

report  speahs  goldenly  of  his  profit.  As  I,  1,  G. 


Die  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben.  387 

In  demselben  Sinne  —  „lobend"  —  spricht  Cressida  von 

Helen's  golden  tongue.  Troil.  I,  2,  114. 

So  sagt  auch  Macbeth  von  sich: 

I  have  bought 
Golden  opinions  from  all  sorts  of  people. 

Mach.  I,  7,  33. 

Wie  Bilder,  die  ursprünglich  offenbar  der  ersten  Redaktion 
(Liebesgeschichte)  angehörten  (24,  27  a,  29,  32,  34),  von  der 
zweiten  aus  ihren  Weg  auch  in  spätere  Stücke  nehmen  konnten, 
so  ist  es  leicht  erklärlich,  dafs  einzelne  Parallelen  zu  der  Lie- 
besgeschichte eich  in  späteren  Dichtungen  allein  finden:  ent- 
weder waren  sie  schon  in  der  ersten  Redaktion  vorhanden, 
pflanzten  sich  aber  erst  durch  die  zweite  fort;  oder  sie  w^aren 
Zuthaten,  welche  der  Dichter  der  Liebesgeschichte  in  der  zwei- 
ten Redaktion  hinzufügte: 

33.  Troil  US  spricht  von 

the  strong  base  and  huilding  of  Iris  love. 

Troil.  IV,  2,  109. 

So  sagt  auch  Shakspere  von  seiner  Liebe: 

it  was  hiiüded  far  from  accident.*  Sonn.  124. 

36.  Wenn  Shakspere  auf  den  von  Cressida  ausgesprochenen 
jugendlich-**platonischen***  Gedanken:  „to  be  wise  and  love 
exceeds  man's  might"  als  Antwort  die  gewichtigen  Worte  des 
Troilus  folgen  läfst: 

O  that  I  thought  it  could  be  in  a  woman  — 
As,  if  it  can,  I  will  presurae  in  you  — 
To  feed  for  aye  her  lamp  and  flames  of  love ; 
To  keep  her  constancy  in  plight  and  yoiith, 
Outliving  beauty^s  outward^  with  a  mind, 
That  doth  renew  swifter  than  blood  decays. 

Troil.  in,  2,  165, 

so    haben  wir    die   Empfindung,   als    ob  Troilus    aus    der  Rolle 
eines    unbesonnenen    Liebhabers    herausfiele;     auch    Shakspere 


*  Die   Sonette   124  und  116  gehören   sicherlich   zu  den  spätesten,   die 
Shakspere   geschrieben   hat,    d.  h.    ins    17.  Jahrhundert   (s.  Shakspere- Jahr- 
buch XIX,  pag.  255  f.). 
**  S.  20. 
***  Herrigs  Arthiv  Bd.  LXI,  pag.   191,  193. 

25* 


388  Die  Hamlet- Perlode  In  Shaksperes  Leben. 

scheint   sie  gehabt  zu  haben,    da  er  zur  Milderung   des  Wider- 
spruches die  Worte  einschiebt: 

As,  if  it  can,  1  will  presume  in  you. 
Dieser  Eindruck  wird    noch  verstärkt,    wenn    wir    des    Dichters 
Ansicht  über  wahre  Liebe   in  sehr  ähnhcher  Fassung   in  einem 
späteren  Sonett  wiederfinden: 

Luve's  not  Times  fool,  thoiigh  rosy  Ups  and  cheeks 
Within  liis  bejidmg  sickle^s  compass  come ; 
Love  alters  not  with  his  brief  hours  and  weeks, 
But  hears  it  out  even  to  the  end  of  dooni.  So)in.   116. 

37.  „Forked  gabelförmig  auseinandergehend  wie  Hörner'^  wird 
vom  Hornschmuck  betrogener  Ehemänner  gebraucht,  wie  in 
TroiL   I,  2,  178,  in  Olli.  III,  3,  276  und   Wint.  I,  2,  186. 

38.  Wasser  wird  als  Symbol  der  Falschheit  gebraucht. 
Troil.  III,  2,  199;  Oth.  V,  2,  134;  Tim.  III,  6,  99;  //.  VIIL 
II,  1,  30;   Wild.  I,  2,  132.  (S.  27  a.) 

3D.  Eine  Eigentümlichkeit  des  spätestens  Stiles  bei  Shak- 
spere  ist  die  Vorliebe  für  Fremdwörter  oder  Neubildungen  aus 
Fremdwörtern  (besonders  lateinischen),  die  etymologisch  mitunter 
recht  seltsam  sind:  Esperance  ist  niemals  ein  englisches  Wort 
gewesen;  Shakspere  gebraucht  es  zw^eimal  im  englischen  Kon- 
text, also  als  englisches  Wort:  Troil.  V,  2,  121;  Lear  IV,  1,  4. 

Das  sind  alle  Anklänge,  die  ich  zwischen  der  Liebes- 
geschichte  und  späteren  Dichtungen  habe  entdecken  können ; 
im  Vergleich  mit  den  unter  22 — 34  angeführten  Parallelismen 
mufs  man  sie  als  g-erinjjfüofiec  bezeichnen. 

Die  Lagergeschichte  hat  dementsprechend  die  meisten  Pa- 
rallelismen mit  den  späteren  Dramen. 

40.  Den  Gedanken,  dafs  es  ebenso  viel  wert  wäre  als  nicht 
tugendhaft  sein,  wenn  unsere  Tugenden  nicht  in  Handlungen 
aus  uns  herausträten,  finden  wir  an  zwei  Stellen  in  sehr  ähn- 
licher Form  ausgesprochen : 

That  man,  how  dearly  ever  parted, 
How  much  in  having,  er  wifhout  or  in, 
Cannot  make  boast  to  have  that  luhich  he  hathy 
Nor  feels  not  what  he  owes,  but  by  reflection; 
As  lühen  his  virtues  shining  upon  others 
Heat  them,  and  they  retort  that  heat  again 
To  the  first  giver.  Troil.  III,  3,  90. 


Die  Hamlet-Periode  in  Shakspcrcs  Leben.  389 

Heaven  doth  with  us  as  \ve  with  torches  do, 

Not  liglit  them  for  themselves ;  for  if  our  virtues 

Diel  not  go  forth  of  ics,  ^twere  all  alike 

As  if  we  had  them  not.  Meas.  I,  1,  34. 

41.  Die  Stelle: 

'Tis  certain,  greatness,  once  falCn  out  loith  fortune. 

Mit  st  fall  out  with  men  too:  what  the  declined  is 

He  shall  as  soon  read  in  the  eyes  of  others, 

As  feel  in  his  own  fall ;  for  men,  like  butterflies, 

Show  not  their  mealy  wings  but  to  the  sumrner, 

And  not  a  man,  for  being  simply  man, 

Hath  any  honour,  but  honour  for  those  honours 

That  are  without  him,  as  place,  riches^  favour, 

Prizes  of  accident  as  oft  as  merit ; 

Which  when  they  fall,  as  being  slippery  Standers, 

The  love  that  leaned  on  them,  as  slippery  too, 

Do  one  pluek  down  another  and  together 

Die  in  the  fall.  Troil.  III,  3,  75 

enthält  nur    eine  breitere  Ausführung  dessen,    was    im  124.  ^o- 
nett  knapper  und  poetisch  wirksamer  ausgesprochen  ist: 

(If  my  dear)  love  (were  but)  the  child  of  state, 

It  might,  for  Fortune's  bastard  be  unfathered, 

As  suhject  to  Time's  (  Welt^  love  or  to  Times  hate, 

Weeds  among  weeds,  as  flowers  with  flowers  gathered. 

No,  it  was  builded  far  from  accident; 

It  suffers  not  in  smiling  pomp,  nor  falls 

Under  the  blow  of  thralled  discontent .  . . 

Auch  das  25.  Sonett  führt  fast  denselben  Gedanken  aus. 

42.  Der  Wagen  der  Nachtgöttin  wird  von  geflügelten  Dra- 
chen gezogen: 

The  dragon  wing  of  night  overspreads  the  earth. 

Troil.  V,  8,  17. 

Swift,  swift,  you  dragons  of  the  night ^  that  dawning 

May  bare  (öffnen)  the  raven's  eye.  Cymb.  II,  2,  48. 

Aber  auch  Mids.  III,  2,  379: 

For  nighfs  swift  dragons  cut  the  clouds  füll  fast. 

43.  -Yond  towers,  whose  wanton  tops  do  buss  the  clouds, 
Must  kiss  their  own  feet.  Troil.  IV,  5,  221. 

Though  palaces  and  pyramids  do  slope 
Their  heads  to  their  foundations. 

Mach.  IV,  1,  57, 


390 


Die  Hamlet-Periode  in. Shaksperes  Leben, 


44.  Die  Welt  (Time)  ist 

A  great-sized  monster  of  ingrat'dudes. 

Troil.  HI,  3,  147. 

Monster  ingratitude.  Lear  I,  5,  43. 

Ingratitude  is  mo7isirous,  and  for  the  multitude  to  be  rmgrateful, 
were  to  make  a  monster  of  the  multitude.       Cor.  II,  3,  10. 

0,  see  the  monstrousness  of  man 
When  he  looks  out  in  an  ungrateful  shape! 

Tim.  III,  2,  79. 
Poet.  I  am  rapt  and  cannot  cover 

The  monstrous  bulk  of  this  ingratitude 
With  any  size  of  words.  Tim.  V,  1,  68. 

45.  But  let  the  riifßan  Boreas  once  enrage 
The  gentle  Thetis,  and  anon  behold 

The  strong-ribbed  hark  through  liquid  mountains  cid, 

Bounding  between  the  two  moist  elements, 

Like  Perseus'  horse.  Troil.  I,  3,   38. 

A  fuller  blast  ne'er  shook  our  battlements : 

If  it  hath  ruffianed  so  vpon  the  sea, 

What  ribs  of  oak,  when  mountains  melt  on  ihem, 

Can  hold  the  mortisef  Oth.  II,  1,   7. 

46.  Auf  Neapel  als    den  Ort,    von  dem   aus   die  Lustseuche 

sich     in    Europa    verbreitet    haben     soll,     wird    angespielt    von 

Thersites : 

The  vengeance  on  the  Avhole  camp!    or   rather   the  Neapoliian 
bone-ache.  Troil.  II,  3,  20 

(aber  nur  in  den  Quartos,  in  den  Folios  fehlt  „Neapolitan").    Des- 
gleichen in  der  folgenden  Stelle: 

Clown.     Why,    masters,    have   your   instruments    been    in 
Naples,  that  they  speak  i    the  nose  thus?         Oth.  III,  1,  4. 

47.  Derselbe  Gedanke,  mit  dem  gleichen  Bilde  verdeutlicht, 
findet  sich  an  folgenden  zwei  Stellen: 

Nestor.  In  the  reproof  of  chance 

Lies  the  true  proof  of  men :  the  sea  being  smooth, 
How  many  shallow  bauhle  boats  dare  sail 
Vpon  her  patient  breast,  making  their  way 
With  those  of  nobler  bulk.  Troil.  I,  3,  33. 

Coriolanus  (zur  Mutter).  you  were  used 

To  say  extremity  was  the  trier  of  spirits ; 
That  common  chances  common  men  could  bear: 


Die  Hanilet-Pcriode  in  Sliaksperes  Leben.  391 

That  when  the  sea  was  cahn,  all  hoats  alike 

Showed  mastership  in  floating.  Cor.  IV,  1,  4. 

Die  letzten  Verse  der  Stelle  im  Troil.  scheinen  eine  Re- 
miniscenz  an  ein  an  den  Freund  gerichtetes  Jugend-Sonett  zu 
enthalten: 

Biit  since  yonr  worth  wide  as  the  ocean  is, 

The  humble  as  the  proudest  sail  doth  bear, 

My  saucy  hark  inferior  far  to  liis 

On  your  broad  main  doth  ivilfidly  appear.  Sonn.  80. 

48.  Thersites  nennt  Achilles 

valiant  ignorance. 

Troil.  III,  3,  315. 

who  resist 
Are  mocked  for  valiant  ignorance. 

sagt  Cominius  von  denen,  welche  dem  heranziehenden  Coriolan 
widerstehen.  Cor.  IV,  6,  104. 

49.  ^.Fragment''''  als  Schimpfwort  gebraucht  Achilles  zu 
Thersites  (V,  1,  9)  und   Coriolan  zu  den  Plebejern  (I,  1,  226). 

49  a.  ^^Major^''  in  der  Bedeutung  ^.gröfser^'  hat  Shakspere 
nur  zweimal:  Troil.  V,   1,  49  und   Cor.  II,  1,  64. 

50.  Thersites  nennt  die  Kämpfenden  Menelaus  und  Paris 

the  ciickold  and  the  cuckold-maker. 

Troil.  V,  7,  9. 

Dieselbe  Wortverbindung  findet  sich  in  H.   VIII.  V,  4,  25: 

He  or  she,  cuckold  or  cuckold-maker. 

51.  Plötzlich  aufsteigende  Wünsche  werden  mit  den  mit- 
unter seltsamen  Gelüsten  Kranker  oder  schwangerer  Frauen 
verglichen : 

Achilles.  1  have  a  woman's  lo?iging, 

An  appetite  that  I  am  sick  withal, 
To  see  great  Hector  in  his  weeds  of  peace. 

Troil.  III,  3,  237. 

Camiilo.      I  shall  review  Sicilia,  for  whose  sight 
I  have  a  womans  longing, 

Wint.  IV,  4,  681. 

52.  Ahnliche  Ausdrücke:  Achilles  spricht  von  seinem 

half'Supped  sword,  Troil.  V,  8,  19, 


392  Die  Hiimlet-Periode  in  Shaksperes  Leben. 

Clown.    The   men   are   not   yet   cold   iinder  water,   nor  tlie 
bear  lialf-dined  on  the  gentleman:  he's  at  it  now. 

Wint.  III,  3,  10"8. 

-  Nach  den  principiellen  Erörterungen  der  Einleitung  und  auf 
])ag.  374  f.  darf  es  nicht  wunder  nehmen,  wenn  wir  in  diesem 
später  gearbeiteten  Teile  auch  einige  Anklänge  an  frühere  Dich- 
tunsfen  finden. 

52  a.  Wie  Thersites  den  Menelaus  (V,  1,  68),  so  vergleicht 
Mercutio  den    Romeo  mit    einem    „herring   without  his  roe"  (II, 

4.  39). 

53.  Die  Verse 

the  hoiinded  luaters 
Should  lift  iheir  hosoms  higher  than  the  shores 
And  make  a  sop  of  all  this  solid  globe.         Troil.  I,  3,  111 

erinnern  unzweifelhaft  an  das  64,   Sonett: 

When  I  have  seeii  the  hungry  ocean  gain 
Ädvantage  on  the  kingdom  of  the  shore  .  .  . 

Derselbe  Gedanke  kehrt  wieder  in  den  Worten  des  Königs 
Heinrich  IV.: 

O  God!  that  one  might  read  the  book  of  fate, 
And  see  the  revolution  of  the  times 
Make  mountains  level,  and  the  confment, 
Weary  of  solid  firmness,  melt  itself 
Into  the  seal  2  IL  IV.  III,  1,  47. 

54.  Thersites  zu  Ajax : 

The  plague   of  Greece  upon   thee,  thou   mongrel    beef-witted 
lord.  Troil.  II,  l',  14. 

Sir  Andrew.     ...  I  am  a  great  eater  of  heef  and  I  believe 
that  does  härm  to  my  ivit.  Tic.  I,  3,  90. 

Bei  diesen  beiden  Parallelstellen  darf  nicht  unbeachtet  blei- 
ben, dafs  2  H.  /F.,  Sonn.  64,  Tio.  jedenfalls  in  die  letzten  Neun- 
ziger gehören,  dafs  mithin  der  Übergang  dieser  Gedanken  in 
das  17.  Jahrhundert  nichts  Befremdendes  hat. 

Halten  wir  diese  Stellen  (zu  denen  noch  78  zu  vergleichen 
ist),  von  denen  nur  die  eine  (53)  eine  wirkliche  Bedeutung  hat, 
zusammen  mit  den  vorher  angeführten,  besonders  mit  40,  41, 
43,  45,  47,  48,  die  in  der  That  merkwürdige  Gedankenüberein- 
stimmungen   aufweisen :    erinnern    wir    uns    an    die    zahlreichen 


Die  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben.  393 

Parallelen,  welche  die  Liehesgeschichte  mit  den  jugeiidlichen 
Dichtungen  hatte,*  während  diese  für  den  Dichter  der  Lager- 
gescltichte  offenbar  in  Vergessenheit  geraten  sind;  erwägen  wir, 
dafs  die  Anspielunge?!.  auf  Troil.  in  den  Stücken  des  16.  und 
denen  des  17.  Jahrhunderts  irenau  der  Beschaffenheit  der  Pa- 
rallelstellen  entsprechen  (s.  pag.  375 — 377):  so  können  wir  nicht 
zweifeln, 

dafs  die  Liebesgescliiclite  in  den  Beginn  der  zwei- 
ten Dichtungsperiode  (1594  bis  1596),  die  Lager- 
geschichte  in  den  Beginn  des  17.  Jahrhunderts 
gehört.** 

i)  Nicht  zum  Beweise,  sondern  zur  ferneren  Stütze  des  er- 
brachten Beweises  möo;en  noch  folgende  Punkte  ano;eführt 
werden : 

Wenn  Shakspere  selbst  traurige  Erfahrungen  in  Bezug  auf 
die  Beständigkeit  des  weiblichen  Geschlechtes  oremacht  hat; 
wenn  er  ein  Drama  schreibt,  und  nur  eines,  das  die  Darstel- 
lung weiblichen  Wankelmutes  zum  Gegenstande  hat;  so  ist  es, 
auch  wenn  die  zahlreichen  Anklänge  des  Troil.  an  die  Liebes- 
Sonette  nicht    vorhanden    wären,    selbstverständlich,    dafs    seine 

persönliclien  Erfahrungen  für  die  Wahl  dieses  Stoffes 

mitbestimmend  gewesen  sind.  Seine  Erfahrungen  fallen  aber, 
wie  bemerkt,  ins  Jahr  1592,  vielleicht  etwas  später.  W^enn  er 
sie  objektivierte  und  dramatisch  gestaltete,  so  konnte  er  das 
nicht  thun  zu  der  Zeit,  wo  er  unter  ihrem  Drucke  lebte,  und 
wird  es  schwerlich  gethan  haben  ein  Jahrzehnt  später,  als  sie 
längst  verschmerzt  und  vergessen  waren.  —  Der  Bruch  mit 
dem  Freunde  erfolgte,  nicht  weil  Shakspere  wufste,  sondern 
weil  er  argicöhnte,  dafs  jener  ihn  mit  seiner  Geliebten  verraten 
habe  {Sonn.  144).  Die  an  den  Freund  gerichteten  Versöhnimgs- 
Sonette  (109—112,  117—120)    zeigen    deutlich,    dafs    sein  Arg- 


*  In  dieser  Hinsicht  steht  Troil.  unter  den  späteren  Dichtungen  geradezu 
einzig  da.  Kein  Drama  aus  der  zweiten  Hälfte  der  Neunziger  hat  eine  ähn- 
liche Menge  von  Anklängen  an  die  Jugenddichtungen  erhalten.  Dafs  Hie 
Liebesgeschichte  also  erst,  im  17.  Jahrhundert  verfafst  sein  sollte,  daran  ist 
nicht  zu  denken.  Sie  gehört  in  die  Mitte  zwischen  die  erste  und  zweite 
Periode. 

**  Später  anzuführende  Parallelen  mit  Dichtungen,  deren  Datum  noch 
zu  bestimmen  ist,  werden  diese  Behauptung  erhärten. 


;94 


Die  Hamlet- Periode  in  Sbak^peres  Leben. 


wohn  unberechtiot  o-ewesen  ist.  Kb  Ist  nicht  unwahrscheinlich, 
dafs  die  AbAissung  des  Troil.  vor  diese  Erkenntnis  fallt,  die 
er  etwa  im  Jahre  1595  (s.  Sh. -Jahrb.  XIX,  pag.  260)  gemacht 
haben   mufs. 

k)  Die  Gestaltung  gleiclier  oder  äluiliclier  Charaktere 

bietet  immerhin  einen,  wenn  auch  nicht  sicheren  Anhaltepunkt 
für  die  annähernde  Gleichzeitigkeit  zweier  Dichtungen.  Fleay 
macht  daher  mit  Recht  auf  die  grofse  Ähnlichkeit  der  Fissuren 
des  Pandarus  im  Troil.  und  der  Amme  im  Rom.  aufmerksam, 
dessen  zweite  Bearbeitung  etwa  um  die  ^Nlitte  der  Neunzio;er 
erfolgt  sein  mufs.  Diese  Ähnlichkeit  ist  um  so  beachtenswerter, 
als  Rom.  gerade  dasjenige  Drama  ist,  mit  dem  die  Liebes- 
gescliichte  von  Troil.  hinsichtlich  der  Parallelstellen  am  meisten 
zusammenh'änot. 

1)  Nicht  für  das  Abfassungsjahr,  aber  für  eine  frühere  Ab- 
fassungszeit beweisend  ist  die  Art  der  Darstellung  der  Liebe 
im  Troll.  Das  Charakteristische  der  Liebesverhältnisse  der 
frühesten  und  der  mittleren  Dramen,  selbst  des  glühend  leiden- 
schaftlichen im  Rom.,  ist  die  bis  zur  Unwahrheit  glänzende,  bis 
zur  Spitzfindigkeit  feine  Art  der  im  Dialog  zur  Geltung  ge- 
brachten Liebesdialektik.  Um  Liebe  zu  erringen,  dazu  orehört 
in  diesen  Dramen  mehr  als  in  den  spätesten,  mehr  als  tiefe, 
wahre  Neiguno;:  nämlich  Kenntnis  der  italienischen  Liebes- 
theorien,  Gewandtheit  im  Gebrauch  des  euphuistischen  Mode- 
tones (Antithese,  Konzept,  Wortspiel),  Witz  besonders  nach  der 
obscönen  Seite  hin.  Shakspere  scheint  sich  in  dieser  Zeit  sei- 
nes Lebens  einen  witzlosen  Liebhaber  nicht  vorstellen  zu  kön- 
nen. In  dieser  Hinsicht  unterscheiden  sich  die  Liebespaare  des 
16.  wesentlich  von  denen  des  17.  Jahrhunderts:  die  Valentine- 
Silvia,  Biron-Rosallne,  Benedick  -  Beatrice,  Orlando- Rosalind, 
Olivia-Viola,  Petruchio-Katharina,  Portla-Bassanio  (I,  2;  V,  1), 
Romeo-Juliet,  Hamlet-Ophelia  (s.  Schauspielscene),  Henry  V.- 
Katharine  von  den  Posthumus  -  Imogen,  Othello- Desdemona, 
Antony-Cleopatra,  Florizel-Perdita,  Ferdinand-Miranda.  Und 
es  ist  keine  Frage,  dafs  das  Verhältnis  von  Troilus  und  Cres- 
sida  auf  der  ersteren  Seite  und  dem  von  Romeo  und  Juliet 
am  nächsten  steht. 


Die  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben.  395 

2.     As  you  like  if. 

Nach  Capell  wurde  es  verf'al'st 1(^05 

„  Chalmers 1602 

„  Delius c.  1000 

„  Drake,  Fleay 1600 

„  Skottowe,  Malone,  Stokes,  Dowden     .      1599 

„  Gervinus 1598—1600 

„  Ulrici nach  1598 

„  Neils  Hypothese* vor  1592 

(Differenz   13  Jahre.) 

a)  Zuerst  erwähnt  wird  das  Drama  in  einem  Eintrage  in 

die  Register  der  Buchhändler- Gilde,  4.  August  1600. 

Es  eolhe  gedruckt  werden,  erschien  aber  nicht  (wie  Troil.);  es 
wurde  zum  erstenmal  in  der  Fol.  1623  o-edruckt.  Im  Jahre 
1600  existierte  also  das  Drama.  Dafs  es  auch  kurz  vorher  ver- 
fafst  sei,  ist  ein  vielfach  gezogener,  aber  vager  Schlufs,  der 
vor  der  Thatsache,  dafs  die  Dramen  Shaksperes  für  gewöhnlich 
erst  gedruckt  wurden,  wenn  sie  eine  o-ewisse  Beliebtheit  erlangt 
hatten,  also  schon  eine  Zeit  lang  aufgeführt  worden  waren,  ganz 
hinfällig  wird. 

b)  Das  Drama  ist  von  Meres  nicht  erwähnt;  deshalb 

soll  es  erst  nach  seiner  „Palladis  Tamia"  1598  entstanden  sein 
—  eine  ebenfalls  haltlose  Folgeruno:,  die  auf  der  unberechtigten 
Voraussetzung  beruht,  dafs  Meres,  als  er  die  bekannte  Lobprei- 
sung Shaksperes  niederschrieb,  eine  —  seiner  Zeit  sonst  ganz 
fremde  und  für  seinen  speciellen  Zweck  irrelevante  —  Verpflich- 
tung zu  wissenschaftlicher  Genauigkeit,  zu  litterarhistorischer 
Vollständigkeit  empfunden  habe.  Er  nannte  natürlich  nur  die- 
jenigen Dramen,  welche  ihm  besonders  gefielen  und  —  die  er 
kannte.  1,  2,  3  H.  VI.,  Shrew  scheint  er  entweder  nicht  ge- 
kannt oder  nicht  hochgestellt  zu  haben;  denn  er  nennt  auch  sie 
nicht. 

c)  Das  Stück  enthält  ein  Citat  aus   3IarloweS  Hero  and 
Leander  in  den  Versen: 

Dead  shepherd,  now  I  find  thy  saw  of  raight, 
„  TFAo  ever  loved,  that  loved  not  at  first  sight?'^ 

(III,  5,  82.) 


*  Der  auch  von  Elze  eine  gewisse  Berechtigung  zugestanden  wird. 


39(5 


Dil'  Hamlet-Periode  in  Sbakspires  Leben. 


Da  nun  das  Gedicht  erst  1598,  fünf  Jahre  nach  dem  Tode 
des  Verfassers,  veröffentlicht  wurde,  so  soll  das  Drama  auch 
erst  nach  1598  entstanden  sein.  —  Das  jianze  Drama?  —  doch 
wohl  nur  diese  Stelle  I  Wer  kann  denn  auch  nur  ahnen,  wie- 
viel Zusätze,  wieviel  Verbesserungen  Shakspere  im  Laufe  der 
Zeit  in  seinen  Bühnen-]\Ianuskripten  angebracht  haben  wird!  — 
Aber  selbst  die  Abfassungszeit  dieser  Stelle  (nach  1598)  ist 
nicht  verbürgt.  Der  Vers  steht  in  der  ersten  „Sestiad",  also 
in  demjenigen  Teile  des  Gedichtes,  der  von  Marioice  (f  16.  Juni 
1593)  selbst  und  nicht  von  seinem  Fortsetzer  Chapman  gedich- 
tet ist.  Shakspere  konnte  aber  Marlowes  Manuskript  ebenso 
wohl  gekannt  haben,  wie  Marlowe  Shaksperes  Prokreations- 
Sonette  und  Ven.  vor  ihrer  VeröfFentlichunfj  2;ekannt  und  für 
seine  ,.Hero'-''  ausgiebig  benutzt  hat  (Sh.-Jahrb,XIX,  pag.  248  ff.). 
Das  ist  soiT^ar  sehr  wahrscheinlich;  denn  im  78.  Sonette  beklagt 
er  sich,  dafs  seine  Gedichte  an  den  Freund  von  anderen  nach- 
geahmt werden;  und  es  ist  doch  niemand  aufser  Marlowe  be- 
kannt, der  sich  an  diesem  Eigentume  Shaksperes  vergriffen 
hätte.*  —  Die  Einführung  des  Citates  aber  —  ..Dead  shep- 
herd"  etc.  —  scheint  den  skandaUisen  Tod  des  berühmten  Dich- 
ters als  noch  frisch  in  aller  Gedächtnis  vorauszusetzen.  Die 
Stelle  kann  daher  sehr  wohl  aus  den  Jahren  1594  5  herrühren. 

d)   Die  Stelle  (IV,  1,  154): 
I  will  weep  for  nothing  like  Diana  in  tlie  fountain 

soll  auf  ein  Londoner  Brunnenbild  anspielen,  das  Stowe  in  sei- 
nem ..Survey  of  London"  1598  erwähnt  und  das  in  demselben 
Jahre  (Delius  giebt  1596)  in  Cheapside  errichtet  worden  sein 
soll.  Indessen  ist  die  Anspielung  nicht  ganz  sicher:  Stowe 
spricht  zwar  von  einem  „alabaster  image  of  Diana",  setzt  aber 
hinzu  ,.and  water  conveyed  from  the  Thames,  prilling  from  her 
naked  breast.^''  Sei  dem  wie  ihm  wolle;  jedenfalls  beweist  die 
Anspielung  nur  das  Entstehen  dieser  Stelle  nach  1598  (1596?). 
Überhaupt  ist  es  keineswegs  unwahrscheinlich,  dafs  Shakspere, 


*  Die  häufigen  Anspielungen  in  Jugenddramen  auf  die  Geschichte  und 
auf  ein  Gedicht  von  Hero  und  Leander  {M'uls.  V,  i,  WS;  Gentl.  /,  /,  22 \ 
TU,  1,  119;  Hom.  II,  4.  44;  As  IV.  1.  101,  106;  Ado  V,  2,  30)  machen 
eine  frühe  Bekanntschaft  Shakesperes  mit  dem  (Gedichte  Marlowes  fast  zur 
Gewifaheit. 


Die  Hamlet-Periode  In  Sliaksperes  Leben.  397 

als  das  Stück  gedruckt  werden  sollte,  mancherlei  Veränderun- 
gen daran  vorgenommen  haben  wird,  falls  er  es  schon  früher 
verfafst  hatte. 

e)  Die  Anspielung  auf  Gargantua   und  Pantagruel 

(II,  2,  238),  von  dem  1594  eine  Übersetzung  in  die  Buchhändler- 
Register  eingetrao-en  wurde,  ist  für  das  Aher  von  As  nicht  be- 
weisend,  da  schon  1575  eine  Übersetzung  erschienen  war  und 
nicht  die  geringste  Veranlassung  vorliegt,  an  Shaksperes  fran- 
zösischer Sprachkenntnis  zu  zweifeln.* 

f)  Es  scheint  kein  zufälliges  Zusammentreffen  zu  sein,  dafs 
Ehrenhändel  und  Stofsfechten  gerade  in  den  Stücken  der  letz- 
ten neunziger  Jahre  eine  Kolle  spielen.  Im  Jahre  1595 
erschien  ein  Buch  mit  folgendem  Titel:  „Vincentio  Saviolo 
hia  Practice.  In  two  Booke?.  The  first  intreating  of  the  use 
of  the  Rapier  and  Dagger.     The  second    of  Houor  and   lion- 

orable  Quarrels." 

Aus  dem  vierten  Kapitel  des  zweiten  Buches  hat  Shak- 
spere  in  As  eine  ziemlich  umfangreiche  Entlehnung  gemacht; 
es  handelt  von  der  Duell-Ursache  der  „conditional  lies",  welche 
folgendermafsen  erklärt  werden:  „Conditional  lies  be  such  as 
are  given  conditionally :  as  if  a  man  should  say  or  write  these 
words :  If  thou  hast  said  that  I  have  offered  my  Lord  abuse, 
thou  liest;  or  if  thou  sayest  so  hereafter,  thou  shalt  lie.  Of 
these  kind  of  lies  given  in  this  manner  often  arise  much  con- 
tention  in  words   whereof  no  sure  conclusion  can  arise." 

Der  Narr  Touchstonc  in  As  sagt  (55): 

I  have  had  four  quarreis,  and  like  to  have  fought  one  .  .  .  We 
met,  and  found  the  qnarrel  of  the  seventh  cause  .  .  .  npon  a  lie  seven 
times  removed.  I  did  dislike  the  cut  of  a  certain  courtier's  beard :  he 
sent  me  word,  if  I  said  his  beard  was  not  cut  well,  he  was  in  the 
niind  it  was:  this  is  called  the  Retort  Courteous.  It  I  sent  him  word 
Mgain  „it  was  not  well  cut",  he  would  send  me  word,  he  cut  it  to 
please  himself:  this  is  called  the  Quip  Modest.  If  again  „it  was  not 
well  cut",  he  disabled  my  judgement:  this  is  called  the  Reply  Chur- 
lish.  If  again  „it  was  not  well  cut",  he  would  answer,  I  spake  not 
true:  this  is  called  the  Reproof  Valiant.    If  again  „it  was  not  well  cut", 


*  Vergl.  H.    V.   llf,  4;    und  Dr.  Cajus  in    Wiv.     S.  dazu  Drale   (Paris 
1843)  pag.  26  f.,  Elze  pag.  433  11". 


398  Die  Haiulet-Perlode  in  Shaksperes  Leben. 

he  would  say,  I  lied:  this   is  called  the  CoLinterclieck  Quarrelsome :  and 
so  to  the  Lie  Circumstantial  and  the  Lie  Direct,  etc. 

As  V,  4,  48. 

Aus  dem  ersten  Buche  hat  Shakspere  wahrscheinlich  die 
in  mehreren  Stücken  wiederkehrenden  Fechterausdrücke  ent- 
nommen : 

Ai'mado  (in  Bezug  auf  Amor).  The  first  and  second  cause  will  not 
serve  mv  turn;  the  passado  he  respects  not,  the  duello  he  regards  not; 
his  disgrace  is  to  be  called  boy ;  but  his  glory  is  to  subdue  men. 

LL.  I,  2,  183. 

He  fights  as  you  sing  prick-song,  keeps  time,  distance,  and  pro- 
portion ;  rests  me  his  minim  rest,  one,  two,  and  the  third  in  your 
bosom  .  .  .  a  gentlenian  of  the  very  first  house,  of  the  first  and  second 
cause:  ah,  the  immortal  passado !  the  punto  reverso !  the  hau 

Rom.  II,  4,  21. 

To  see  thee  fight,  to  see  thee  foin,  to  see  thee  traverse;  to  see 
thee  here,  to  see  thee  there;  to  see  thee  pass  thy  punto,  thy  stock, 
thy  reveise,  thy  distance,  thy  montant.  Wiv.  II,  3,  24. 

Das  Beispiel  einer  solchen  albernen  Herausforderung  haben 
wir  im  dritten  Akte  von  Tw.  (Sir  Andrew  und  Viola).  Und 
die  Herausforderung  Benedicks  an  Claudio  {Ado)^  sowie  die 
Feohterscene  im  Haml.  verdanken  ihr  Vorhandensein  wahrschein- 
lich auch  der  Anreo^uncr  dieses  Buches. 

Die  Beziehung  von  As  auf  das  Saviolosche  Buch  ist  von 
gröfserem  Gewichte:  die  Verspottung  desselben  konnte  nur  dann 
einen  Sinn  haben,  wenn  es  kürzlich  erschienen  und  lebhaft  be- 
nutzt und  nicht  schon  altbekannt  war. 

g)  Ebenso  interessant  und  wichtig  sind  andere  Beziehun- 
gen auf  im  Jahre  1594  erschienene  Bücher. 

5().  Die  Stelle,  welche  das  siebente  Lebensalter  schildert 
als 

Sans  teeth,  saus  eves,  sans  taste,  sans  everything. 

As  II,  7,  166 

ist  wahrscheinlich   einer  Stelle    aus    Garniers  „Henriade"  (1594) 
nachgebildet: 

Sans  pieds,  sans  mains,  sans  nez,  sans  oreilles,  sans  yeux, 
Meurtri  de  toutes  parts. 

Der  Namen  „CgZia",  der  in  Shaksperes  Quelle,  der  Novelle 
von  Lodge   „Rosalynde,  Euphues*  Golden  Legacie",    nicht    vor- 


Die  Hamlet-Periode  In  Shaksperes  Leben.  399 

kommt,    Ist    wohl    veranlafst    durcli    den     1594    veröffentlichten 
Sonett-Cyklus  „Celia"  von    W.  Ferci/* 

h)  Die  Alexandriner -Probe  bringt  As  mit  Stücken  der 
ersten  Periode  zusammen ;  wenn  wir  die  mit  den  Jahren  stei- 
gende Zahl  der  Alexandriner  verfolgen,  so  erhält  es  folgende 
Stellung: 

In  2  H.  IV.  kommt  1    Alexandriner   auf  236  Blankverse 


„    2  H.  VI. 

» 

n 

55 

213 

55 

„    R.  III. 

n 

55 

55 

210 

55 

„    As 

J? 

55 

55 

183 

55 

„    Ado 

M 

55 

55 

160 

55 

„    Caßsar 

55 

55 

55 

140 

55 

„    Mereh. 

55 

55 

55 

135 

55 

„    1  H.  IV. 

55 

55 

55 

125 

55 

„    Tw. 

55 

55 

n 

76 

55 

„    H.V. 

55 

55 

55 

72 

55 

„    Cymb. 

55 

55 

55 

60 

55 

„    Haml. 

55 

15 

55 

53 

»5 

„    Meas. 

55 

55 

55 

33 

55 

i)  Die  Reim-Probe  erglebt  dasselbe  Resultat.     (Die  Reime 
nehmen  bekanntlich  mit  den  Jahren  ab.) 


*  Dals  Shakspere,  wie  Stukes  will,  für  die  Stelle 

Ami  tbou,   thrice-croioned  queen  of  night,   survey 
With  thy  chaste  eye,   from  thy  pale  sphere  above, 
Thy  buntress'  uame  that  my  füll  Ute  doth  swav. 

As  III,  2,  2 

Verse  aus  Cliapmans  „Hymns  in  Cynthiam"  (1591)  zum  Muster  genommen 
habe: 

Nature's  briglit   eye-sight,   and   the  Nigbt's  fair    soul, 

Tbat  with  thy  trlple  forehead  dost  control 

Earth,  seas,  and  hell. 

ist  unwahrscheinlich.  Die  dreifache  Königin  Shaksperes  ist  die  Mon'lgöttln, 
die  am  Himmel  als  Selene,  auf  der  Erde  als  Artemis,  in  der  Unterwelt  als 
Persephone  herrscht.  Das  „triple  forehead"  Chapmans  bezieht  sich  aber 
auf  die  dreigestaltige  Darstellung  der  Hekate,  deren  drei  Köpfe  den  Neu- 
mond, den  Halbmond  und  den  Vollmond  als  Symbole  tragen,  die  einerseits 
als  Mondgöttin  die  Erde  und  das  Meer  überblickt,  andererseits  ünterwelts- 
göttin  ist. 

Wenn  bei  derartigen  allgemein  bekannten  mythologischen  Anspielungen 
überhaupt,  an  Nachahmung  gedacht  werden  kann,  so  ist  es  viel  wahrschein- 
licher, dafs  Chapman  eine  Stelle  aus  dem  Mids.  in  Gedanken  gehabt  bat: 

And  we  fairies,  that  do  run 

By  the  ti^iple  Hecate's  team, 
From  the  presence  of  the  sun, 

Following  darkness  like  a  dream.  (V,   1,  391.) 


400  f^ie  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben. 

In  Troil.  (Lit^besgeschichte)  kommt  1  Reimvers  auf   10, 5    Blankverse 


n 

Gentl. 

« 

As 

?9 

John 

?J 

Ado 

n 

H.V. 

?5 

2  H.  IV. 

5? 

1  H.  IV. 

?5 

R.  III. 

»' 

Merch. 

« 

Meas. 

n 

Haml. 

n 

Cymb. 

n 

Cses. 

»? 

« 

55 

13 

55 

»? 

?? 

« 

13 

5? 

« 

« 

1? 

16 

55 

»? 

)) 

19 

16 

55 

»? 

« 

?1 

16,5 

5) 

»? 

»i 

5) 

19 

5? 

>? 

»? 

?? 

19.5 

n 

»? 

j? 

?? 

20 

J5 

»? 

?? 

1i 

20 

»5 

n 

w 

?9 

21 

n 

n 

19 

?? 

30 

?? 

n 

« 

55 

30 

55 

n 

5? 

»1 

66 

«« 

k)  Die  Double  Ellding -Probe  giebt  dem  Drama  eine 
spätere  Abfassungszeit.  Ich  lasse  eine  umfangreichere  Zusam- 
menstelhmg  der  Verhähniszahlen  folgen,  um  zugleich  eine  An- 
schauunsT  von  der  Unzuverlässio-keit  dieses  Beweismittels  zu 
geben  (s.  den  einleitenden  Artikel):  1  weiblicher  Versausgang 
kommt 

in  LL.  auf  188     Verse 


55 

1  H.  IV. 

55 

28 

55 

5? 

Rom. 

55 

22 

55 

55 

R.  II. 

55 

18 

55 

55 

Err. 

55 

11 

55 

55 

2  H.  VI. 

55 

10,5 

55 

5? 

3  H.  VI. 

55 

^,5 

>5 

55 

Shrew 

55 

^13 

55 

55 

Gentl. 

55 

8 

55 

55 

H.  V. 

55 

8 

«• 

55 

2  H.  IV. 

55 

7,5 

55 

55 

Merch. 

55 

7 

55 

in  AU's 

auf 

7  Verse 

„  R.  iir. 

55 

6,, 

55 

„  Ca^s. 

55 

6,0 

59 

,5  Tw. 

55 

6 

55 

55  As 

55 

^58 

5, 

„  Ado 

55 

^,6 

55 

„  Haml. 

55 

0,4 

55 

„  Troil. 

55 

5 

55 

„  Meas. 

55 

5 

55 

„  Oth. 

55 

4,3 

55 

„  Lear 

55 

4,2 

55 

1)  Auch  die  Light  Elldillg-Probe*  gewährt    nur  geringe 
Sicherheit ;   1   schwachbetontes  P^ndwort  kommt 

in  R.  II r.  auf  843  Blankverse  in  John      auf  343  Blankverse 

„  Ado  „     643  „  „   Troil.        „     337  „ 

„  R.  IL  „     527         „  „   IH.IV.  „     324 

„  As  „     462  „  „   Merch.      „316  „ 

„  Rom.  „     352  „  „   Tw.  „     254  „ 


*  Von    der   Weak    Ending-Probe    kann    für   diese   Zeit   nicht   die  Rede 
sein;  in  allen  Dramen  des   16.  Jahrhunderts  kommen  nur  neun  tonlose  Vers- 


» 


ausoanjre  vor. 


in  Haml. 

auf  253  Blankverse 

^     y^SQS, 

„  Meas. 

917 

Die  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben.  401 

in  LL.        auf  193  Blankverse 
„   AH's         „112 

Nach  dieser  Tabelle  würde  As  in  die  erste  Hälfte  der 
Neunziger  orehören. 

Um  die  bisherigen  Erörterungen  zusammenzufassen,  so  ist 
die  Abfassung  von  As  zu  einer  so  späten  Zeit  wie  1599/1600 
durch  nichts  erwiesen  (s.  a,  b,  c,  d);  dagegen  lassen  die  mehr 
oder  weniger  gewichtigen  Argumente  von  f,  g,  h,  i  ein  früheres 
Datum  vermuten,  welches  als  erwiesen  zu  erachten  ist,  wenn 

m)  die  Parallelstellen  sich  ebenfalls  dafür  aussprechen. 
Zunächst  durchsuchen   wir  die  Jusjenddichtuno-en. 

57.    Die  Verse 

Therefore  Heaven  Nature  charo^ed 

That  one  body  should  he  filled 
With  all  graces  wide-enlarged : 

Nature  presently  dislilled 
Helen' s  cheek,  but  not  her  heart, 

Cleopatra's  majesty  etc. 
J'hus  Rosalind  of  many  parts 

By  heavenly  synod  was  devised^ 
Of  many  faces,  eyes,  and  hearts^ 

To  Jiave  the  touches  dearest  prized. 

As  Iir,  2,  149 

müssen  geschrieben  worden  sein,  als  dem  Dichter  die  Gedanken 
eines  Jugend-Sonettes*  noch  der  Wiederholung  wert  erschienen: 

What  is  your  substance^  whereof  are  you  made, 

That  inülions  of  stränge  shadows  on  you  tend  ? 

Since  every  one  hath,  every  one,  one  shade, 

Änd  you^  but  one,  can  every  shadoiv  Und, 

Describe  Adonis,  and  the  counterfeit 

Is  poorly  imitated  after  you; 

On  Helenes  cheek  all  art  of  beauty  set, 

And  you  in  Grecian  tires  are  painted  new  .  . . 

And  you  in  every  blessed  shape  we  know. 
In  all  external  grace  you  have  some  pari, 
But  you  like  none,  none  you,  for  constant  heart. 

Sonn.  53. 


*  Die  Altersangaben  hinsichtlich  der  Sonette  gründen  sich  alle  auf  die 
öfters  angezogene  Arbeit  im  Sh.-Jahrb.  XIX,  auf  welche  ich  in  Zukunft 
nicht  mehr  verweisen  werde. 

Archiv  f.  n.  Siirachen.   LXXUI.  26 


402  Die  Hamlet-Perioile  In  Shakf^peres  Leben. 

58.  thou  might  join  her  hand  with  his 
"Whose  heart  within  his  bosom  is. 

As  V,  4,  120. 

(ilfy  heart)  in  thy  breast  doth  live^  as  thine  in  me. 

Sonn,  22. 
(Jier  heart) 
He  carries  thence  incaged  in  his  breast. 

Ven.  582. 
Hence  ever  then  mf/  heart  is  in  thy  breast. 

LL.  V,  2,  >^'2Q. 

Look,  how  this  ring  encompasseth  thy  finger, 
Even  so  thy  breast  incloseth  my  poor  heart. 

R.  III.  I,  2,  205. 

59.  Die  Zeit  „travels"  As  III,  2,  326  und  Sonn.  63. 

(50.    Als    Orlando    Kosalind     zum    erstenmal    gesehen    hat, 
spricht  er: 

What  passion  hangs  these  weights  upon  my  tongue? 
I  cannot  speak  to  her,  yet  she  urged  Conference. 

As  I,  2,  269. 

Ganz  dieselbe  Erfahriinfr  macht  an  sich  der  Liebhaber  des   23. 

Sonetts: 

So  I,  for  fear  of  trust,  forget  to  say 

The  perfect  cereniony  of  luve's  rite, 

And  in  mine  own  love's  strength  seem  to  decay 

Cercharged  with  bürden  of  mine  own  love's  might. 

und  Suflblk  Maro^aret  oreorenüber: 

Ay,  beaiity^s  princely  majesty  is  such, 

Confounds  the  tongue,  and  makes  the  senses  rough. 

1  H.   VI.  V,  3,  70. 

61.  Der  Vera 

Beauty  provokes  thieves  sooner  than  gold. 

As  I,  3,  112 

enthält  den  Grundo^edanken  des  48.   Sonetts. 

62.  Die  Worte  des   Schäfers  Silvius  zu  der  ihm  abgeneig- 
ten Phebe 

So  holy  and  so  perfect  is  my  love, 

And  I  in  such  a  poverty  of  grace, 

That  I  shall  think  it  a  niost  plenteous  crop 

To  glean  the  broken  ears  after  the  man 

That  the  main  harvest  reaps :  lose  now  and  then 

As  scattered  smile,  and  that  I'il  live  upon. 

As  m,  5,  99 


Die  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben.  403 


erinnern    an    eine    schwache    Stunde    in    des    Dichters    eigenem 
Leben,  in  der  er  das  143.  Liebes- /Sone^i  schrieb: 

So  runst  ihou  after  that  which  flies  from  thee^ 
Whilst  I,  thy  habe,  chase  thee  afar  behind; 
But  if  thou  catch  thy  hope^  tum  hack  to  me, 
And  play  the  mother's  part,  kiss  me,  be  kind. 

63.   Die  flehenden  Beschwörungen  desselben  Silviüs: 

/Siceet  Phebe,  do  not  scorn  me\  do  not,  Phebe; 

Say  that  you  love  me  not,  but  say  not  so 

In  bitterness.     The  common  executioner, 

Whose  heart  the  accustomed  sight  of  death  makes  hard, 

Falls  not  the  axe  upon  the  humbled  neck 

But  first  begs  pardon:  will  you  sterner  he 

Than  he  that  dies  and  lives  by  bloody  drops  ? 

As  III,  5,  1 

hatte  der  jugendliche,  verblendete  Dichter  einmal  an  die  eigene 

Geliebte  gerichtet: 

Wound  me  not  with  thine  eye  but  ivith  thy  tongue ; 
üse  power  with  power  and  slay  me  not  by  art,  • 
Teil  me  thou  lovest  elsewhere^  but  in  my  sight, 
Dear  heart,  forbear  to  glance  thine  eye  aside. 


Be  wise  as  thou  art  cruel;  do  not  press 

My  tongue-tied  patience  with  too  much  disdain. 


Sonn.  139. 


Sonn.  140. 


64.      Celia.  the  duke 

Hath  banished  me,  his  dauo^hter. 

Rosalind.  That  he  hath  not. 

Celia.     No,  hath  not?  Rosalind  lacks  then  the  love 
Which  teacheth  thee  that  thou  and  1  am  one. 

As  I,  3,  99. 
Rosalind  (zu  Celia).     .  . .  love  him  becaused  do. 

As  I,  3,  40. 
Shakspere  zum  Freunde: 

Thou  dost  love  her,  hecause  thou  hiow'st  I  love  her  . .  . 
But  here's  the  joy;  my  friend  and  I  am  one; 
Sweet  flattery!  then  she  loves  but  me  alone. 

Sonn.  42. 

65. -Wie  Rosalinde  sich  über  den  Liebesgott  beklagt: 

That  blind  rascally  boy  thcd  abuses  every  one's  eyes. 

As  IV,  1,  218, 


Genau  das  Verhältnis  von  Phebe  zu  Ganyined-Rosalind. 

26* 


4Ö4  Öie  Hamlet- Perloile  In  Shakspcres  Leben. 

SO  auch  Shakspere  selbst: 

Thou  blind  fool,  Love,  what  dost  tliou  to  ndne  eyes, 
That  they  behold,  and  see  not  ichat  tliey  see? 

Sonn.  137. 

66.  Für  die   \Vorte  Rosalinds  zu  Celia: 

be  not  proud:  thongh  all  the  world  could  see 
None  coidd  be  so  abused  in  sight  as  he. 

As  III,  5,  79 

kann  man  das   150.   Sonett  als  Erläuterung  benutzen: 

O,  from  what  power  hast  ihou  this  powerful  niight 

With  insnfficiency  my  heart  to  sway  ? 

To  make  me  give  the  lie  to  my  triie  sight, 

And  swear  that  brightness  doth  not  grace  the  day? 

As  nimmt  also  dieselbe  nahe  Stellung  zu  den  Eifersuchts-So- 
netten ein,  wie  sie  Iroil.  zum  Unterschiede  von  allen  späteren 
Dichtungen  hat. 

67.  Den  eigentümlichen  Ausdruck  „hack-frieiid'^  (ein  Freund, 
der  von  hinten  kommt,  sei  es  um  etwas  zu  erlauschen,  was 
nicht  für  ihn  bestimmt  ist,  oder  als  Konstabier  um  einen  zu 
verhaften,  ein  hinterlistiger  Freund,  der  keiner  ist)  gebraucht 
Shakspere  zweimal:  As  III,  2,  167  und  Err.  IV,  2,  37. 

68.  Bosalind  (zu  Or\-dnäo).    Pray  you,  no  niore  of  this,  it  is  like 
the  hoiuling  of  Irish  wolves  against  the  moon.     As  V,  2, 119. 

Puck.     Now  tbe  hungry  lion  roars, 
And  the  luolf  behowls  the  moon. 

Mids.  V,  1,  379. 

61).  Jaques  sieht  einen  verwundeten  Hirsch  an  den  Bach 
kommen,  in  dessen  Nähe  er  liegt : 

thus  the  hairy  fool, 
Much  marked  of  the  melancholy  Jaques, 
Stool  on  the  extremest  verge  of  the  swift  brook\ 
Augmenting  it  -with  tears. 

Duke.  But  what  said  Jaques? 

r3id  he  not  moralize  this  spectacle? 

Lord.         O,  yes,  into  a  thousand  similes. 
First  for  his  weeping  into  the  needless  stream ; 
„Poor  deer",  quooth  he,  „thou  makest  a  testaraent 
As  worldlings  do,  giving  thy  sum  of  more 
To  that  which  had  too  mueh.''^  As  II,  1,  41. 

Die  Situation   und    ihre   poetische  Darstelhmg    ist    dieselbe    wie 


Die  Hamlet-Periode  in  Shakspercs   Leben.  405 

in    Comp!.,    wo    ein    von    ihrem    Geliebten    verlassenes   Mädchen 

am  Flusse  sitzt: 

. .  .  a  river 
Upoii  luhose  weeping  margent  she  was  set; 
Like  usury,  applying  wet  to  wet, 
Or  monarchs  hands  that  let  not  hounty  fall 
Where  want  cries  out,  but  where  excess  begs  all. 

Compl.  39. 

Für  die  letzten  Verse  bietet  o  FL  VI.  eine  Parallele : 

Is't  meet  that  he   (the  pilot) 

Should  leave  the  hehn  and  like  a  fearful  lad 

With  tearful  eyes  add  luater  to  the  sea, 

And  give  more  strength  to  that  which  hath  too  much  ? 

3  H.  VI.  V,  4,  8. 

70.  Der  Ausdruck  „m  p^int,  wie  gedruckt,  wie  es  im 
Buche  steht,  wie  es  sein  mufs,  gehörig",  findet  sich  an  drei 
Stellen : 

Touchstone.     We  quarrel  inprint^  by  the  book.    (Vergl.  5o.) 

As  V,  2,  34. 

Speed.    All  this  I  speak  in  print,  for  in  print  I  found  its. 

GentL  II,  1,  175. 

Costard.    I  will  do  it,  sir,  m  jirint.        LL.  III,  1,  173. 

71.  Dasselbe  Wortspiel  mit  bear  begegnet  uns  an  folgenden 


Stell 


en 


Celia.    I  pray  you,  bear  with  me\  I  cannot  go  no  further. 
Touchstone.     For  my  part,  I  had  rat  her  bear  luith  you  than 
bear  you.  As  II,  4,  11. 

Prince.     üncle,  your  grace  knows  how  to  bear  with  him. 
York.    You  mean,  to  bear  me,  not  to  bear  with  me. 

E.  III.  III,  1,  128. 

72.  Das,  Avie  es  scheint,  bisher  unerklärte  Wort  ,,thrasom- 
cal-'  im  Sinne  von  „grofssprecherisch"  gebraucht  Shakspere 
zweimal:  As  V,  2,  34;  LL.  V,  1,  14. 

78.  ,,Point-device''  im  Sinne  von  „überfein,  geziert"  erscheint 
As  III, -2,  401  ;  LL.  V,  1,  21;   Tw.  II,  5,  176. 

74.  Die  Bezeichnung  der  Frau  als  .,^tlie  weaker  vessel'^  findet 
sich  As  II,  4,  6;  LL.  I,  1,  276;  Rom.  I,  1,  20;  2  H.  IV.  II, 
4,  66. 


406  Die  Hamlet-Periode  in  Shakspcres  Leben. 

75.  Rosalind.    I  pray  you,  what  is't  o'clock? 

Orlando.  You  sliould  ask  me  what  time  o'day :  there's  no 
clock  in  the  forest. 

Rosalind.  Then  there  is  no  true  lover  in  the  forest;  eise 
sighing  every  minute  and  groaning  every  hour  would  detect  the 
lazy  foot  of  Time  as  well  as  a  clock.  As  III,  2,  321. 

Zu  dieser  Stelle  existiert  eine  auffallende  Parallele: 
King  Richard, 

now  hath  time  made  me  his  numbering  clock: 
My  thoiights  are  minutes ;  and  with  sighs  they  jar 
Their  watches  on  unto  roine  eyes,  the  outward  watch, 
Whereto  my  finger,  like  a  dial's  point, 
Is  pointing  still,  in  cleansing  them  from  tears. 
Now,  sir,  the  sound  that  teils  luhat  hour  it  is 
Are  clamorous  groans^  which  striJce  lipon  my  heart^ 
Which  is  the  bell:  so  sighs  and  tears  and  groans 
Shoiv  minutes,  times,  and  hours.  R.  IL  V,  5,  51. 

76.  how  brief  the  life  of  man 
Runs  his  erring  pilgrimage, 
That  the  stretching  of  a  span 
Buckles  in  his  sum  of  age. 

As  III,  2,  139. 

Dasselbe  Bild  mit  anderer  Beziehung: 

Troilus.  .     will  you  (Hector)  with  counters  sum 

The  past  proportion  of  his  (Priam's)  infinite? 
And  buckle  in  a  waist  most  fathomless 
With  spans  and  inches  so  diminutive 
As  fears  and  reasons? 

Troil.  II,  2,  30  (Liebesgeschichte). 

S.  21a.    34. 

Die  Zahl  und  die  Bedeutung  der  Parallelismen  (57,  60, 
62,  63,  64,  69,  75)  bringt  As  in  so  nahen  geistigen  Konnex 
mit  den  Jugend-Dichtungen,  wie  ihn  aufser  Troil.  keines  der 
später  angesetzten  Dramen  aufzuweisen  hat.  As  unterscheidet 
sich  aber  von  der  Liebesgeschichte  in  Troil.  dadurch,  dafs  die 
Anzahl  der  Übereinstimmungen  mit  den  Dichtungen  der  zweiten 
Hälfte  der  Neunzio^er  eine  weit  bedeutendere  ist.  Die  zahl- 
reichsten  Anklänge  hat  es  (nächst   ITaml)  an  Ado : 

77.  This  is  the  very  false  gallop  of  verses 

sagt  Touchstone,    nachdem   er   zwölf  Verse   mit   dem    Reim  auf 


Die  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben.  -407 

„Rosalind"  zusammeiigestümpert  hat  (As  111,  2,  119).  Dasselbe 
Bild  wird  mit  Bezu«:  auf  die  Art  der  Rede  gebraucht: 

Beatrice.      What  pace  is  this  that  thy  tongue  keeps? 
Margaret.    Not  a  false  gallop.  Ado  III,  4,  94. 

Aber  vor  Shakspere  hatte  schon  Nash  in  seiner  „Apologie  for 
Pierce  Pennilesse"  (1593)  das  Bild  in  der  ersteren  Beziehung 
gebraucht: 

I  would  trot  a  false  gallop  through  the  rast  of  bis  ragged  verses. 

78.  Rosalind.      .  .  .  these   burs    (die  plötzlich  erwachte  Liebe  zu 

Orlando)  are  in  my  heart. 

Celia.     Hern  them  away! 

Rosalind.  T  would  try,  if  I  would  cri/  „//e??^"  and  have 
him  (wenn  ich  mit  einem  „hem"  mein  Herz  erleichtern  und 
ihn  gleichzeitig  bekommen  könnte).  As  I,  3,  19. 

Leonato.      If  such  a  one   (ein   so  schwer  gekränkter  Vater 
wie  er)  will  smile  and  stroke  his  beard^ 
Bid  sorrow  wag,  cry  ,,he7n!'^  when  he  should  groan, 
Patch  grief  with  proverbs  .  . . 

.  .  .  bring  hira  yet  to  me, 
And  I  of  him  will  gather  patience. 

Ado  V,  1,  16. 

Achilles  ruft  dem  Patroklus,  der  die  griechischen  Heerführer 
parodiert,  zu: 

Now  play  me  Nestor;  hem,  and  stroke  thy  beard, 
As  he  being  drest  to  sorae  oration. 

Troil.  I,  3,  165. 

79.  The  courtier's  hands  are  perfuraed  with  civet. 

As  III,  2,  66. 

So  wird  unter  den  äufseren  Anzeichen,  die  dafür  sprechen,  dafs 
Benedick  auf  Freiersfüfsen  geht,  angeführt: 

a*rubs  himself  with  civet. 

Ado  III,  2,  50. 

80.  0  knowledge  ill-inhabited,  worse  than  Jove  in  a  thatched  house ! 

As  IIT,  3,  11 

sagt  Jaques  mit  Bezug  auf  eine  klassische  Reminiscenz  Touch- 
stones.  Dieselbe  Anspielung  auf  Jupiters  Aufenthalt  unter 
Philemons  Strohdach  in  gleicher  bildlicher  Verwendung  enthält 
die  folgende  Stelle: 


i08  Die  Hamlet-Periode  in  Shakspercs  Leben. 

Don  Pedro.     My   visor  is  (meine  Maske  gleicht)  Phüemons 
voof\   lüithin  the  house  is  Jov  e. 

Hero.     Why,    then,   your   visor   should    be   thatched.     (Der 
Fürst  ist  kahlköpfig.)  Ado  II,  1,  99. 

81.  Der  verliebte  Orlando  wird  ,,Signior  Love^''  genannt 
(As  III,  2,  310),  Claudio  ..Monsieur  Love''  {Ado  II,  3,  38). 
(Vergl.  „Monsieur  Eemorse"  1  H.  IV.  I,  2,  125.) 

82.  Die  Stelle,  an  der  Rosalind  den  Entschlufs  fafst,  den 
Mann  zu  spielen,  hat  eine  grofse  Ähnlichkeit  mit  einer  Stelle 
in  Merch.: 

Were  it  not  better  .  .  . 
That  I  did  suit  me  all  points  like  a  man  ? 
A  gallant  curtle-axe  upon  my  thigh, 
A  boar-spear  in  my  band;  and  —  in  my  heart 
Lie  there  what  hidden  woman's  fear  there  will  — 
Well  have  a  swasliing  and  a  martial  outside^ 
As  many  other  mannish  cowards  have 
That  do  outface  it  ivith  their  semblanees.  As  II,  3,  118. 

In  den  folgenden   Versen  ist  die  Schilderunor  ausoreführter: 

Portia.     When  lue  are  hoth  accoutred  like  yoiing  7ne?i^ 
I'Il  prove  the  prettier  fellow  of  the  two, 
And  ivear  my  dagger  ivith  a  braver  grace, 

...  and  speak  of  frays 
Like  a  fine  hragging  youth  .  .  . 

/  have  within  my  mind 
A  thousand  raw  tricks  of  these  hragginq  Jacks^ 
l]liich  1  will  practise.  Merch.  III,  4,  63. 

83.  Jaques.  All  the  ivorkVs  a  stage, 
And  all  the  men  and  luomen  merely  player. 

As  ir,  7,  139. 

Antonio.    I  hold  the  world  but  as  the  ivorld,  Gratiano, 
A  stage  where  every  man  must  play  a  part. 

Merch.  I,  1,  78. 

(Diese  Parallelstelle  ergiebt  die  Berechtigungslosigkeit  der  Hy- 
pothese, dafs  die  Stelle  in  As  hervorgerufen  sein  soll  durch  die 
Aufschrift  des  gegen  Ende  1599  eröffneten  Globe-Theaters : 
„Totue  inundus  agit  histrionem"  (Stokes  pag.  78)  —  die  zu- 
gleich für  die  späte  Abfassungszeit  des  Dramas  ein  Gewicht  in 
die  Wagschale   werfen  soll.) 


Die  Hanilet-Perioile  in  Shaksperes  Leben.  409 

8].  Die  meist  satirischen  Auslassungen  über  die  Lehre  des 
Pythagoras  von  der  Seelenwanderung  erscheinen  nur  in  Stücken 
aus  dem  Ende  des   16.  Jahrhunderts: 

Rosalind.  I  was  never  so  berhymed  since  Pythagoras'  time, 
that  /  luas  an  Irish  rat,  whicb  I  can  bardly  remember. 

As  III,  2,  187. 

Gratiano  (zu  Shyloek): 
Thou  almost  makest  me  waver  in  my  faith 
To  hoid  opinion  witli  Pythagoras, 
That  souls  of  animals  infuse  theniselves 
Into  the  trunks  of  men  :  thy  currish  spirit 
Governed  a  wolf.  Merch.  IV,  1,  131. 

Cloiun.  What  is  the  opinion  of  Pythagoras  concerning 
Avild  fowl? 

Malvolio.  That  the  soul  of  our  grandam  miglit  haply  inhahit 
a  bird. 

Clown.     What  thinkest  thou  of  this  opinion? 

Malvolio.  I  think  nobly  of  the  soul,  and  no  way  approve 
his  opinion. 

Cloiim.  Fare  thee  well.  Remain  thou  still  in  darkness : 
thou  sbalt  hold  the  opinion  of  Pythagoras  ere  I  will  allow  of 
thy  wits,  and  fear  to  kill  a  woodcock,  lest  thou  dispossess  the 
soul  of  thy  grandam.  Tw.  IV,  2,  54. 

85.  Jaques  (mit   Bezug   auf  Touchstone).     This   is   the  motley- 
niinded  gentleman  that  I  have  so  often  met  in  the  forest. 

As  V,  4,  41. 

Clown.     I  wear  not  motley  in  my  hrain.         Tw.  I,  5,  63. 

86.  Wortspiel  mit  ^Jieart,  hart'"''. 

Celia.    He  (Orlando)  was  furnishpd  like  a  hunter. 
Rosalind.     O,  ominous !  he  comes  to  kill  my  heart. 

As  III,  2,  260. 

(Olivia    zu    Sebastian,    den  Sir  Toby    in    einen  Zweikampf  ver- 
wickelt hat:) 

He  Started  (aufjagen)  one  poor  heart  of  mine  in  thee. 

Tiv.  IV,  1,  63. 
(Antonius  an  der  Leiche  Cäsars :) 

O  World,  thou  wast  the  forest  for  this  haj't; 
•  And  this  indeed,  O  world,  the  heart  of  thee. 

Ca^s.  in,  1,  208. 

87.  Dem  ,,neiv-fallen  dignity'"''  in  As  V,  4,  182  entspricht 
ein   ,^new-fallen  right'^  in  1  H.  IV.  V,  1,  44. 


410  Die  Hamlet-Periode  iii  Shakt^peres  Leben. 

88.  Wortspiel     zwischen     „cross,     Münze"      und      „ctoss, 

Kreuz": 

I  should  bear   720  cross,  if  I  shoukl  bear  you  ;  for  I  think  you 
have  no  money  in  your  purse.  As  II,  4,   12. 

FaJstaf.     Will  your   lordship  lend  nie  a  thousand  pound  to 
furnish  me  forth  ? 

Chief  Justice.    Not  a  penny,   not  a  penny;  you  are  too  im- 
patient  to  bear  crosses.  2  //.  IV.  I,  2,  253, 

Ähnlich: 

Ärmado.    1  love  not  to  be  crossed. 

Moth.    He  speaks  the  mere  contrary;  crosses  love  not  him. 

LL.  I,  2,  36. 

89.  Jaques.  I  must  have  liberty 
Withal,  as  large  a  charter  as  the  wind^ 

To  blow  on  whom  I  please.  As  II,  7,  48. 

when  he  speaks, 
The  air,  a  chartered  libertine,  is  still, 
And  the  mute  wonder  lurketh  in  men's  ears. 

H.   V.  I,  1,  48. 

90.  Sweet  are  the  uses  of  adversity, 

Which,  like  the  toad,  ugly  and  venomous, 

Wears  yet  a  precious  jewel  in  his  heart.  As  II,  1,  12. 

There  is  some  soid  of  goodness  in  things  evil. 

H.  V.  IV,  1,  4. 
O  benefit  of  ill !  now  I  find  true 
That  better  is  by  evil  still  made  better.  Sonn.  119. 

91.  From  the  east  to  western  Ind, 

No  jewel  is  like  Rosalind.  As  III,  2,  93. 

In  materialistischer  Weise  verwendet  Falstaff  das  Bild: 

They  (Mrs.  Page  und  Mrs.  Ford)  shall  be  my  East  and  West 
Indies,  and  I  will  trade  to  them  both.  Wiv.  I,  3,  78. 

92.  Gleicher  Ausdruck: 

It  is  meat  and  drink  to  me  to  see  a  clown.       As  V,  1,  11. 

Slender.     That's  meat  and  drink  to  me  (to  see  the  bear  loose). 

Wiv.  I,  1,  306. 

Von  den  Sonetten  aus  dieser  Zeit  weisen  die    Versöhnungs- 
Sonette  (109 — 112;  117 — -120)  eine  Reihe  von  Anklängen  auf. 

93.  ,^Motley''    wird    in    der    Bedeutung    ,,Narr"    gebraucht 
As   III,  3,  79  und  Sonn.  110. 

94.  I  will  physic  your  rankness 


Die  liamlet-Periode  in  Shakspcies  Leben.  '  411 

ruft  Oliver  seineai  Bruder  Orlando  nach  (As  I,  1,  91);    ähnlich 
ist  die  Wendung  des  118.  Sonettes: 

a  healthful  State 
Which,  rank  of  goodness^  would  by  ill  be  cured, 

95.  Rosalind  (von  Orlando).    He  seeras  to  have  the  quotidian  of 
love  on  him.  As  III,  2,  383. 

Bald  darauf: 

Love  is  merely  a  madness.  420. 

Skakspere  selbst  nennt  seine  Liebe 

this  madding  fever.  Sonn.  119. 

96.  Thou  bitter  sky  .  .  . 
Thy  sting  is  not  so  sharp 

As  friend  remembered  not.  As  II,  7,  189. 

Dieser  Gedanke  ist  ausgeführt  im  120.  Sonett.    (Vergl.  auch  90.) 
Diesen    zum  Teil    auffallenden    Übereinstimmungen    gegen- 
über sind  die  Parallelisraen  mit  den  Dramen    des    17.  Jahrhun- 
derts verschwindender  Art. 

97.  Das  Wortspiel  mit  „rank"  in  den  Bedeutungen  „Rang" 
und   „rankness"  findet  sich  an  zwei  Stellen: 

Touchstone.    Nay,  if  I  keep  not  my  rank  — 
Rosalind.       Thou  losest  thy  old  smelL 

As  I,  2,  113. 

Cloten.      Would  he  had  been  of  my  rank! 
Lord  (Aside).    To  have  smelt  like  a  fool. 

Cymb.  II,  1,  17. 

98.  Phebe    schreibt    an    Ganymed-Rosalind :    (wenn    meine 
Liebe  keine  Erhörung  findet) 

then  ril  study  how  to  die.  As  IV,  3,  63. 

Ähnliche  Wendung: 

he  died, 
As  one  that  had  been  studied  in  his  death. 

Mach.  I,  4,  9. 
(Vergl.  auch  34.) 

99.  Wortspiel    zwischen    „medlar,    Mispel"    und    „meddler, 
Kuppler,  Zwischenträger" : 

Touchstone.     Truly,  the  tree  yields  bad  fruit. 
Rosalind.     I'll   graff  it  with  you,    and   then  I  shall  graff  it 
with  a  medlar :  then  it  will  be  the  earliest  fruit  i'  the  country ; 


412  •  Die  Ilamlct-Perlodc  in  Sliakspcres  Leben. 

for  vou'll  be  rotton  ere  you  be  half  ripe,  and  tbat's  tho  right 
virtue  of  the  medlar.  As  III,  2,  125. 

Apemantus.     Tliere's  a  medlar  for  thee,  eat  it. 

llmon.      On  Avhat  I  hate  I  feed  not. 

Apemantus.    Dost  hate  a  medlar? 

Timon.     Ay,  though  it  look  like  thee. 

Apemantus.  An  thou  hadst  hated  meddlers  sooner,  thou 
shouldst  have  loved  thyself  better  now.       Tim.  IV,  3,  305. 

100.   Let  US  sit  and  merk   the   good  housewife  Fortune   from  her 
wheel,  that  her  gifts  may  be  henceforth  bestowed  equally. 

As  I,  2,  34. 
Cleopatra.  let  me  rail  so  high, 

That  the  false  housewife  Fortune  break  her  wheel, 
Provoked  by  niy  offenee.  Ant.  IV,   15,  44. 

Ein  Drama,  das  um  1600  geschrieben  worden  wäre,  müfste 
bedeutend  zahlreichere  Übereinstimmungen  mit  den  späteren 
Dramen  aufweisen,  wie  ein  Vergleich  mit  H.  V.,  Wiv.,  Tw., 
Cces.,  Meas.  lehrt. 

Xeils  Hypothese,  dafs  sich  Greene  in  seinem  Vorwurf 
des  Plairiats  (Ende  1592)  u.  a.  auf  den  ensen  Anschlufs  dieses 
Dramas  an  seine  Quelle  (Lodge)  beziehe,  dafs  As  vor  1592 
verfafst  und  später  überarbeitet  sei,  hat  nichts  Ungereimtes. 
Die  Hinneisuno;  zu  den  Juoend-DichtunjTen  ist  aufserordentlich 
stark;  und  in  den  Scenen,  in  welchen  der  Herzog  und  Jaques 
die  Hauptrolle  spielen  (z.  B.  II,  1;  7:  IV,  3 ;  V,  4),  macht 
manches  den  Eindruck  einer  späteren  Zuthat.  Das  Drama  sieht 
in  stilistischer  Hinsicht  dem  LL.  auffallend  ähnlich;  einerseits 
tritt  die  iuo-endliche  Denk-  und  Darstelluns^sart  noch  entschieden 
hervor,  andererseits  sind  die  Spuren  einer  reiferen  Kraft  un- 
verkennbar vorhanden.  Wie  die  Hand  des  Überarbeiters  von 
LL.  keineswegs  bestrebt  war,  die  Kennzeichen  der  jugendlichen 
Schöpfung  zu  verwischen,  so  hat  auch  der  Verfasser  von  As 
die  Vorliebe  für  die  jugendlichen  Gedankenbahnen  und  Dar- 
stellungsformen noch  nicht  von  sich  abgestreift.  Die  oben  an- 
geführten Uufseren  und  auch  die  inneren  Indizien,  vorzugsweise 
aber  die  Parallelstellen 

verweisen  das  Drama  hinter  das  Jahr  1594,  in  die 
3Iitte   zwischen    die    erste    und    zweite   Dichtungs- 


JDie  Ilamlet-Peiiüde  iii  Sbaksperes  Leben.  4l3 

Periode,  resp.  in  den  Beginn  der  zweiten,  d.  h.  in 
die  Jahre  1595  oder  159G. 

n)  Mit  dieseiu  Datum^  in  Übereinstimmung  sind  auch  ge- 
wisse Ähnlichkeiten  der  Charakterzeichhunu,  die  »ich  zwischen 
As  und  anderen  etwa  (jleichzeitisen  Dramen  finden. 

Kosalind  hat  in  der  ausgiebigen  Entfahung  ihres  Witzes, 
besonders  auf  dem  Gebiete  verliebter  Neckerei,  offenbare  Ver- 
wandtschaft mit  Rosaline  —  ob  die  Ähnlichkeit  des  Namens 
nicht  auch  eine  symbolische  Bedeutung  hat?  —  und  Beatrice. 
In  ihrem  eigentlichen  Wesen  aber,  in  dem  tiefen  Gemüt,  das 
sich  unter  ihrer  heiteren  Aufsenseite  verbirgt,  in  der  Unmittel- 
barkeit und  Stärke  ihres  Gefühls,  in  der  Besonnenheit,  mit  der 
sie  ihre  Leidenschaft  dennoch  zu  beherrschen  versteht,  in  der 
Energie  und  dem  praktischen  Sinn,  die  sie  in  bedenklichen 
Lebenslagen  bewährt,  steht  sie  dem  höchsten  Bilde  des  Weibes, 
das  Shakspere  und  die  Poesie  überhaupt  zu  schaffen  ver- 
mocht hat,  näher.  Ich  möchte  Rosalind  die  Knospe  zu  der 
Blüte  Portia  nennen.     (Vergl.  82.) 

o)  Wie  die  Übereinstimmungen  mit  den  Eifersuchts-Sonet- 
ten (62 — 60)  zeigen,  hat  Shakspere  in  dem  Liebesverhältnis 
zwischen  Sihins  und  Phebe  ein  schattenhaftes  Abbild  seines 
eio-enen  o;ezeichnet.  Nicht  blofs  die  Gesinnun«:  Phebes  ihrem 
Liebhaber  gegenüber,  sondern  selbst  ihr  Aufj>eres  ist  dasselbe 
wie  das  in  den  Sonetten  127  und  132  geschilderte  der  ,.dark 
lady':  sie  hat  „inky  brows",  „black  silk  hair",  „bügle  eye- 
balls"  (III,  5,  46).  Was  indessen  in  der  Liebesgeechichte  von 
Troil.  Hauptgegenstand  der  Darstellung  ist,  tritt  hier  als  Episode 
auf.  Und  dafs  jede  pathologische  Nachwirkung  der  eigenen 
Erfahrungen  auf  den  Dichter  verschwunden  ist,  dafs  er  ihnen 
so  oleichmütio-  wie  einer  historischen  Thatsache  iJ^esrenübersteht, 
scheinen  die  Worte  uns  zu  sagen,  mit  denen  Rosalind  Silvius 
die  Thorheit  seiner  Liebe  begreiflich  macht : 

You  foolish  shepherd,  wherefore  de  vou  follow  her, 
Like  foggy  south  puffing  with  wind  and  rain  ? 
You  are  a  thousand  times  a  properer  man 

Than   she  a  woman  : 

'Tis  not  her  glass,  but  you,  thal  flauer  her. 

III,  5,  49. 


414  Die  Hamlet-Periode  in  Shaksperes  Leben. 

p)  Auf  die  Ähnlichkeit  der  Figur  des  „melancholischen" 
Jaques  mit  Hamlet  ist  wiederholt  hingewiesen  worden:  mit 
seiner  düsteren  Lebensanschauung,  seiner  Neigung  zu  philo- 
sophischer Betrachtung  der  Dinge  scheint  er  eine  Vorstudie  zu 
Hamlet  zu  sein. 

Diese  Erwägungen  sprechen  ebenfalls  für  eine  Stellung  des 
Stückes  zwischen  Troil.  (Liebesgeschichte)  einerseits  und  Merch. 
und  Hand,  andererseits. 


Sitzungen  der  Berliner  Gesellschaft 

für  das  Studium  der  neueren  Sprachen. 


Sitzung  vom   9.   September    1884. 

Der  Vorsitzende  gedenkt  in  warmen  Worten  des  verstorbenen  Pro- 
fessors Dr.  Püschel,  zu  dessen  Ehren  sich  die  Versammlung  von  den 
Sitzen  erhebt. 

Herr  Schmidt  bespricht  seinen  Plan  einer  englischen  Synonymik. 
Er  beabsichtigt  in  dem  Buche,  das  etwa  den  doppelten  Umfang  des  Dreser- 
schen  haben  soll,  die  Synonyma  in  gröfseren  Gruppen  zu  besprechen, 
als  dies  gewöhnlich  geschieht,  und  zwar  in  alphabetischer  Reihenfolge 
der  deutschen  Ausdrücke.  Nicht  sollen  die  sogenannten  Stümper- 
synonyma, wohl  aber  die  bei  Dreser  fehlenden  Concreta  berücksichtigt 
werden.  Die  Etymologie  der  Wörter  wird  nur  da  gegeben  werden, 
wo  sie  den  jetzigen  Sprachgebrauch  zu  präcisieren  dienlich  ist. 

Herr  Z  u  p  i  t  z  a  bespricht  die  Etymologie  von  loose,  dessen  me. 
Formen  mit  ou  und  au,  sowie  das  stimmlose  s  des  Ne.  nur  durch 
die  Annahme,  dafs  es  dem  Skandinavischen  (laus)  entlehnt  ist,  sich 
erklären. 

Derselbe  spricht  über  einen  Gebrauch  des  Konditionalis  im  Eng- 
lischen, den  man  als  den  eines  Futurum  Praäteriti  bezeichnen  kann  und 
der  sich  auch  im  Französischen  findet. 

Sitzung  vom    14.   Oktober    188  4. 

Herr  Vatke  hält  einen  Vortrag  über  Geld  und  Geldverhältnisse 
in  Shakespeares  England. 

Herr  Biltz  spricht  über  das  Wort  und  den  Begriff  „Posse". 
Er  leitet  das  Wort  her  von  den  an  den  Brunnen  angebrachten  komischen 
Figuren.  In  der  Bedeutung  „Komödie"  braucht  es  Gottsched  zuerst, 
dem  die  Posse  schon  als  eine  gemeine  Art  des  Dramas  gilt.  Wir 
pflegen  als  ihre  Kennzeichen  anzusehen,  dafs  sie  in  Übertreibungen 
verfällt   und  an  das  Gemeine  rührt.     Sie    führt   uns  Personen    vor,    die 


41 G  Sitzun<i('n  iler  Berliner  Gesellschaft 


o 


sich  in  übler  Lage  befinden,  die  jedoch  nicht  so  schlimm  ist,  dafs  wir 
sie  bemitleideten.  AVenn  Goethe  meint,  der  Hnmor  sei  das  Zeichen 
sinkender  Epochen,  so  giebt  uns  das  für  unsere  Zeit  zu  denken. 

Herr  Bourgeois  redet  eingehend  über  Charles  Nodier,  indem  er 
besonders  die  Jugendjahre  desselben  bis  zu  seinem  ersten  öffentlichen 
Auftreten  behandelt. 

Sitzuns^   vom    2  8.    Oktober    188  4. 

Herr  Ziipitza  redet  über  die  Etymologie  von  ne.  merry.  Der 
Umstand,  dafs  nach  dem  Ae.  *murgja  oder  *  murgi  als  Stamm  an- 
zusetzen ist,  liifst  die  ziemlich  allgemein  an":enommene  Entlehnung-  aus 
celtischem  mear  falsch  erscheinen.  Die  Verschiedenheit  der  Bedeutung 
hindert  nicht,  es  mit  got.  gamaurgjan,  ovrt^uveiv,  y.oloßovv  und  ahd. 
murg,  kurz,  zusammenzustellen.  Es  ist  1)  kurz,  2)  kurzweilig,  3)  er- 
iVeulich,  lustig.  Ein  ähnlicher  Übergang  der  Bedeutung  findet  sich,  in 
tin.  skemtan  von  skammr;  auch  braucht  Shakespeare  abridgment  in  der 
Bedeutung  „Kurzweil". 

Herr  Michaelis  bespricht  die  auf  die  Aussprache  bezüglichen 
Stellen  in  Otfrid  ad  Lintbertum,  indem  er  sie  vom  lautphysiologischen 
Standpunkte  aus  betrachtet. 

Herr  Hausknecht  zeigt  die  neueste  von  John  Koch  besorgte 
Auflage  der  englischen  Grammatik  von  Fölsing  an,  die  besonders  in 
der  jetzt  auf  die  Lautphysiologie  basierten  Aussprache  geändert  ist, 
oline  dafs  jedoch  das  System  genau  durchdacht  und  für  den  Schul- 
gebrauch geschickt  dargestellt  wäre.  Die  Aussprachebezeichnung  ist 
in  vielen  Fällen  irreleitend  und  in  einzelnen  sogar  geradezu  unrichtig 
oder  wenigstens  nicht  mustergültig.  Im  Anschlui's  daran  erklärt  Herr 
Zupitza,  dafs  er,  wie  Herr  Dr.  Koch  in  der  Vorrede  erwähnt,  aller- 
dings das  Manuskript  gesehen,  aber  einmal  nicht  die  erforderliche  Zeit 
gehabt  hatte,  um  jede  Einzelheit  zu  erwägen,  und  andererseits  es  natür- 
lich Herrn  Koch  überlassen  mufste,  wie  weit  dieser  Ausstellungen  als 
berechtigt  anerkennen  wollte,  so  dafs  er  nicht  in  der  Lage  sei,  irgend 
welche  Verantwortung  für  irgend  etwas  in  dem  Buche  zu  übernehmen. 

Sitzung  vom    11.   Ncvember    188  4. 

Herr  Bisch  off  berichtet  über  den  neuesten  Band  der  altfranzö- 
sischen Bibliothek  von  W.  Förster,  der  die  Orthographia  Gallica,  den 
ältesten  Traktat  über  französische  Aussprache  und  Orthographie,  ent- 
hält.    Die  Ausgabe  ist  nach  jeder  Richtung  hin  lobenswert. 

Herr  Vatke  kündigt  sein  demnächst  erscheinendes  Buch  über 
Realien  der  Zeit  Shakespeares  an  und  geht  des  näheren  auf  die  von 
ihm  benutzten  Quellen  ein. 

Herr  Wetzel   bespricht   die    französischen  Elementarbücher  von 


für  das  Studium  der  neueren  Sprachen.  417 

Brevmann.  In  dem  bisher  erschienenen  ersten  Teile  der  Giammatik 
sind  mit  wenigen  Ausnahmen  nur  die  Hauptregeln  gegeben.  Das 
ÜbunGfsbnch  brinoft  nach  dem  Grundsatze,  dafs  die  Lektüre  in  den 
Mittelpunkt  des  Unterrichts  zu  stellen  ist,  sehr  früh  zusammenhängende 
französische  Stücke,  die  jedoch  nur  zu  häufig  erkennen  lassen,  dafs  sie 
lediglich  für  die  Einübung  einer  grammatischen  Regel  bestimmt  sind 
(z.  B.  les  metaux).  Unter  den  Vokabeln  finden  sich  sehr  viele  seltene 
und  schwierige,  die  aus  dem  ersten  Jahreskursus  fernzuhalten  sind. 
Neu  war  dem  Ref.  die  Ableitung  des  Imperatif  aus  der  1.  Pers.  Sing, 
des  Present. 

Herr  Tob  1er  spricht  über  eine  Attraktion  im  Altfranzösischen, 
für  die  Mätzner  nur  Beispiele  giebt,  die  als  Anakoluth  anzusehen  sind. 
Das  Substantiv  wird  dabei  durch  das  Relativum  nicht  nur  so  beeinflufst, 
dafs  statt  des  Nominativs  der  Accusativ  steht,  sondern  auch  umgekehrt. 
Dieselbe  Art  der  Attraktion  findet  sich  auch  im  Italienischen  und  Spa- 
nischen, ohne  indes  von  den  Grammatikern  erwähnt  zu  werden. 

Herr  Werner  bespricht  En  AUemagne  von  Narjoun,  ein  ober- 
flächliches Werk,  das  nur  zu  dem  Zwecke,  Deutschland  zu  tadeln,  ge- 
schrieben zu  sein  scheint. 

Sitzung   vom   2  5.   November  188  5. 

Herr  Hoffory  berichtet  über  den  fünften  Band  von  Müllenhoffs 
Altertumskunde.  Der  erste  Teil  beschäftigt  sich  zunächst  mit  der 
Voluspa,  die  nach  einer  kritischen  Übersicht  über  Inhalt,  Alter  und 
Entstehuno-  derselben  als  das  wohlgegliederte  Werk  eines  Dichters  dar- 
gestellt  und  dem  Ende  des  achten  Jahrhunderts  zuerteilt  wird.  Mit 
vernichtender,  zuweilen  fast  zu  schroffer,  im  ganzen  aber  wohlverdienter 
Kritik  weiat  der  Verfasser  die  Ansichten  Bangs  und  Bugges  zurück. 
Es  folgt  eine  kritische  Ausgabe  der  Voluspa  mit  eingehendem  kritischem 
Apparat  und  Kommentar,  die  durch  Entfernung  der  späteren  Inter- 
polationen die  planvolle  Einheit  des  Gedichtes  herstellt.  Daran  schliefst 
sich  eine  kritische  Untersuchung  über  die  jüngere  Edda,  in  der  nach- 
gewiesen wird,  dafs  sich  das  Original  des  Codex  Upsaliensis  in  der 
zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  im  Besitz  eines  Neffen  des  Snorri 
Sturluson  befunden  haben  mufs,  also  Snorris  Handexemplar  gewesen 
sein  wird,  in  dem  jedoch  die  ursprüngliche  Reihenfolge  zerstört  ist. 
Der  zweite  Teil  handelt  zuerst  von  der  älteren  Edda,  die  der  Verfasser 
als  eine  üra  1250  abgeschlossene  Vereinigung  verschiedener  Lieder- 
bücher ansieht.  Den  Schlufs  bildet  eine  Analyse  der  Havamäl  mit 
Unterscheidung  der  einzelnen  Teile  dieses  Liederbuches,  das  dem  Ende 
des  neunten  Jahrhunderts  zugewiesen  wird.  Als  Probe  giebt  der  Redner 
aus  dem  Werke,  das  einen  Wendepunkt  für  die  Geschichte  der  nor- 
dischen Philologie  bezeichnet,  einen  Überblick  über  die  Voluspa. 

Herr  Zupitza   giebt  Proben   aus   einer   von  ihm  in  Oxford  ein- 

Aichiv  f.  n.  Ppvadien.    LXXlIf.  27 


418  Sitzungen  der  Berliner  Gesellschaft 


(Tesehenen  englischen  Liederhandschrift,  die  bei  der  Düiftigkeif  der  uns 
aus  dem  Mittelenglischen  erhaltenen  Lyrik,  speciell  der  Liebeslyrik, 
höchst  wichtig  erscheint.  Der  Redner  wird  die  Handschrift,  die  dem 
Anfange  des  16.  Jahrhunderts  angehört,  später  vollständig  herausgeben. 

Herr  Förster  spricht  über  den  zweiten  Teil  der  englisch-spa- 
nischen Grammatik  von  Knapp,  die  sprachlich  lehrreiche  und  mit  Ge- 
schmack ausgewählte  Stücke  bietet.  Dagegen  ist  die  im  Vokabularium, 
in  Vorrede  und  Anhang  behandelte  Etymologie  ein  wunder  Punkt  des 
Buches. 

Derselbe  bespricht  die  zweite  Auflage  der  spanischen  Grammatik 
von  Schilling,  deren  Verfasser  gegen  die  von  dem  Referenten  an  der 
ersten  Auflage  geübte  Kritik  brieflich  opponiert,  aber  seine  Ausstel- 
lunofen  unberücksichtigt  orelassen  hat. 

Der  Vorsitzende  bringt  unter  allgemeiner  Zustimmung  der  Ver- 
sammlung eine  würdige  Begehung  des  hundertjährigen  Geburtstages 
Jakob  Grimms  von  selten  des  Vereins  in  Anregung. 

Sitzung   vom    9.    Dezember    188  4. 

Herr  Risop  redet  über  die  Bedeutung  des  Namens  Florimont, 
der  nicht  ursprünglich,  sondern  eine  Übersetzung  von  Helenios  ist. 
Die  Pflanze  tltviov  (Inula)  w^ird  mit  Helena  in  Verbindung  gebracht, 
für  die  dann  durch  Verwechselung  Helenus  eingetreten  ist.  Den  ganzen 
Namen  versteht  der  Dichter  als  flos  mundi,  doch  hat  man  den  letzten 
Teil  auch  auf  mons  oder  das  Adjektivum  mundus  be/.ogen.  Die  ur- 
sprüngliche Form  des  Namens  der  Geliebten  Florimonts  wird  aus  ihrer 
eigenen  Deutung  desselben  als  Romadanaple  erkannt. 

Herr  Tanger  spricht  im  Anschlufs  an  einen  von  ihm  im  vorigen 
Jahre  gehaltenen  Vortrag  über  Weihnachtsbräuche  in  England,  indem 
er  auf  die  an  den  drei  Plaupttagen  der  festlichen  Zeit,  dem  Christmas 
Day,  dem  New  Year's  Day  und  dem  Twelfth  Day,  stattfindenden  Be- 
lustijjunsfen  des  näheren  einofeht. 

Herr  Bourgeois  giebt  eine  causerie  nach  Charles  Nodier  über 
Jean  Franf;ois  les  Basbleus. 

Die  Grimm-Feier  wird  auf  den  13.  Januar  1885  festgesetzt  und 
die  Anordnuno-en  dazu  einem  Komitee  übertrao^en. 

Sitzung   vom    13.   Januar    188  5. 

Die  erste  Sitzunor  im  neuen  Jahre  war  einer  sehr  zahlreich  be- 
suchten  nachträglichen  Feier  zum  Andenken  an  den  hundertjährigen 
Geburtstag  Jakob  Grimms  gewidmet,  welche  in  den  Sälen  des  Hotel 
Imperial  Unter  den  Linden  festlich  begangen  ward. 

Nachdem  die  Festgenossen  vor  der  mit  Lorbeer  bekränzten  Büste 
des  Gefeierten  Platz   genommen,    begrüfste   der  Vorsitzende   die  Gäste 


für  das  Studium  der  neueren  Sprachen.  419 

und  deutete  die  hohe  Bedeutung  an,   welche   die  Säkularfeier   ganz  be- 
sonders für  die  Freunde  der  neueren  Sprachwissenschaft  habe. 

Hierauf  hielt  Prof.  Dr.  Rödiger  die  eigentliche  Festrede,  in 
welcher  er  Jakob  Grimm  als  echt  deutschen  Philologen,  als  Freund  der 
gesamten  Nation  feierte  und  seine  Verdiensie  um  deutsche  Sprach- 
forschung darleo;te. 

Der  Vortragende  sieht  in  Jakob  Grimms  Liebe  zum  Volkstüm- 
lichen und  in  dem  Streben,  das  Wesen  des  deutschen  Volksgeistes  zu 
ergründen,  Quell  und  Ziel  aller  seiner  Arbeiten.  Goethe  und  die 
Romantiker,  namentlich  Tieck,  nährten  seine  Phantasie  und  führten 
ihn  zur  vergleichenden  Methode,  Savigny  lehrte  ihn  die  historische  Be- 
trachtung. In  der  Poesie  unterschätzt  er  anfänglich  den  ,,Kunst- 
dichter"  gegenüber  dem  volkstümlichen  Epos,  wirft  Minne-  und  Meister- 
sang zusammen  und  findet  beide  ermüdend  und  gezwungen.  Er  wendet 
sich  daher  der  Märchen-  und  Sagenforschung  zu,  wobei  er  fälschlich 
für  erstere  deutschen  und  mythischen  Ursprung  annimmt.  Dann  suchte 
er  das  Volkstümliche  im  Recht  auf  und  ging  endlich  zur  Grammatik 
über,  um  die  Sprache,  als  unmittelbarsten  Ausdruck  des  Seelenlebens 
eines  Volkes,  zu  durchforschen.  Daneben  beschäftigte  ihn  die  Tiersage, 
welche  er  gleich  den  Märchen  für  urdeutsch  hielt.  Auch  in  der  Mytho- 
loo^ie  täuschte  ihn  sein  Vertrauen  in  Wert  und  Zähigkeit  volkstümlicher 
Überlieferung.  Die  Bearbeitung  des  deutschen  Wörterbuches  war  eine 
ihm  von  aufsen  her  gestellte  Aufgabe,  wiewohl  sie  nicht  aufser  Zu- 
sammenhano;  mit  seinen  vorangesjans-enen  Studien  steht.  Doch  drückte 
ihn  diese  Arbeit,  und  er  hat  daneben  nur  noch  kleinere  Aufsätze  und 
die  zur  „Geschichte  der  deutschen  Sprache"  verbundenen  Einzelunter- 
suchuno-en  zu  stände  bringen  können.  Seiner  methodischen  Fehler  war 
er  sich  nicht  unbewufst,  aber  er  konnte  sie  nicht  überwinden  um  der 
Liebe  zu  seinem  Volke,  zu  dem  Volke  willen.  Und  als  Freund 
unserer  Nation  ist  er  auch  von  ihr  am  4.  Januar  gefeiert  worden. 

Der  Vortrag  ist  erschienen  im  Aprilheft  der  Westermannschen 
Monatshefte. 

Nach  einem  Schlufsworte  des  Vorsitzenden  wurde  ein  sehr  schätz- 
barer Aufsatz  über  Jakob  Grimm  von  Dr.  Löschhorn  unter  die  An- 
wesenden verteilt,  welcher  in  der  Gesellschaft  für  deutsche  Philologie 
zum  Vortrage  gekommen  war. 

Nach  Schlufs  der  Sitzung  schritt  man  zu  der  im  grofsen  Saale 
aufo-estellten  Festtafel.  Hier  brachte  Prof.  Herr  ig  den  ersten  Trink- 
Spruch  aus  auf  Se.  Majestät  den  Kaiser;  Prof.  Wilhelm  Sehe  rar 
sab  seiner  unbegrenzten  Verehrung  für  Jakob  und  Wilhelm  Grimm 
Ausdruck  in  einer  zündenden  Rede;  Prof.  Zupitza  begrüfste  die  an- 
wesenden Gäste,  und  weitere  Reden  thaten  das  Ihrige,  die  festliche 
Stimmung  zu  erhöhen,  so  ein  Trinkspruch  auf  den  anwesenden  Her- 
mann Grimm,  auf  den  altehrwürdigen  Meister  englischer  und  franzö- 
sischer  Studien,   Prof.  Mätzner,    sowie   eine   launige  Ansprache   dieses 

27* 


420  Sitzungen  der  Berliner  Gesellschaft 

letzteren  in  klassischem  Plattdeutsch,  welches  selbst  einem  Fritz  Reuter 
alle  Ehre  gemacht  haben  würde. 

Sitzung   vom    27.   Januar    1885. 

Herr  Feller  spiicht  über  den  Realismus,  den  jüngeren  Bruder 
der  Romantik,  der  die  berechtigte  Darstellun^sweise  der  zweiten  Hälfte 
unseres  Jahrhunderts  sei.  Da  das  Publikum  die  Schriftsteller  durch 
seine  Kritik  zwinge,  genau  zu  sein  und  auf  der  Höhe  wissenschaft- 
licher Forschung  zu  stehen,  da  es  selber  den  Geschmack  der  Schrift- 
steller mache,  so  dürfe  es  sich  über  zu  eingehende  Schilderungen  nicht 
beklagen.  Ein  richtiges  Bild  des  Bösen  wirke  durch  Abschreckung 
stärker,  als  die  Darstellunfj  des  Guten  zur  Nacheiferung;  anreize.  So 
sei  der  Realist,  der  die  Welt  schildere,  wie  sie  sei,  ohne  sich  um  den 
Erfolg  zu  kümmern,  wohl  im  stände  moralisch  zu  wirken.  (An  den 
Vortrag  schlofs  sich  eine  kurze  Diskussion  darüber,  welche  Bücher 
französischer  Realisten  Damen   in  die  Hand  gegeben  werden  könnten.) 

Herr  Geiger  hält  einen  Vortrag  über  den  Dialog  Julius  II.  Die 
in  der  ersten  bekannten  Auscrabe  von  1513  vorgedruckten  Initialen 
des  Verfassers  habe  man  wohl  fälschlich  mit  Fausti  Andreiini  Foro- 
iuliensis  aufgelöst,  da  die  Schrift  keinen  Zusammenhang  mit  seinen 
anderen  Weiken  habe  und  besonders  auch  in  viel  besserem  Latein  ge- 
schrieben sei.  Dagegen  könne  Desiderius  Erasmus,  in  dessen  Briefen 
sich  zwei  einander  widersprechende  Stellen  über  diesen  Punkt  finden, 
in  deren  einer  er  den  von  keinem  Zeitgenossen  aufgeworfenen  Ver- 
dacht  der  Autorschaft  ableugnet,  nach  Schicksalen  und  Anschauungen, 
nach  der  eleganten  Sprache  und  der  Menge  der  eingestreuten  S{)rich- 
wörter  sehr  wohl  der  Verfasser  gewesen  sein  und  dieselbe  etwa  im 
Auftrage  des  französischen  Hofes  geschrieben  haben,  ohne  dafs  man 
jedoch  ein  bestimmtes  Urteil  in  dieser  Sache  zu  fällen  schon  berech- 
tigt sei. 

Herr  Michaelis  bespricht  eine  von  Gomperz  zuerst  gelesene 
Inschrift  über  griechische  Tachygra[)hie,  in  der  die  nach  der  Klanghöhe 
geordneten  Vokale  so  zu  Trägern  der  Konsonanten  gemacht  worden, 
dafs  an  die  Vokale  kleine  Zeichen  angesetzt  werden,  um  vierzehn  Kon- 
sonanten,  Aspiration  etc.  auszudrücken.  Versuche  in  näher  liegender 
Weise  die  Konsonanten  zu  Trägern  der  Vokale  zu  machen,  waren 
wahrscheinlich  der  kühnen  Neuerung  vorausgegangen,  die  wohl  keinen 
Erfolg  gehabt  hat.  (Die  Fortsetzung,  die  ähnliche  Bestrebungen  in 
späterer  Zeit  behandeln  soll,  verspricht  der  Vortragende  für  eine  der 
nächsten  Sitzungen.) 

Sitzung    vom    10.   Februar    188  5. 

Herr  Michaelis  weist  in  Fortsetzung  seines  in  der  letzten 
Sitzung  gehaltenen  Vortrages  zunächst  darauf  hin,   dai's  die  tironischen 


für  das  Studium  der  neueren  Sprachen.  421 

Nuten  walir.scheinlicli  auf  griechische  Vorbikkr  zuriickgchcn.  Von 
erstei-en  ausgehend  und  sie  zu  vereinfachen  trachtend,  erfand  Joliann 
von  Tilbnry  (1114  — 1100)  ein  Schriftsystem,  zu  dessen  Zeichen  ihn 
wohl  die  tironischen  Noten  und  die  Runen  führten,  das  aber  unpraktisch 
und  für  Schnellschrift  unbrauchbar  ist.  An  Tilbury  knü[)fte  Bri»ht 
(1588)  an,  der  nur  die  Anfangsbuchstaben  der  Wörter  phonetisch  be- 
zeichnet. Das  erste  rein  alphabetische  System  der  englischen  Kurz- 
schrift stammt  von  Willis  (1602),  zu  dessen  Zeit  der  Ausdruck  vSteno- 
graphy  wohl  zuerst  vorkommt.  Von  ihm  an  rechnet  auch  der  Bischof 
Jokn  Wilkins,  der  selber  ein  System  der  Tachygraphie  aufstellte.  Das 
von  Gomperz  hochgepriesene  Buch  der  pseudonymen  Lady  Sophie  Scott 
(Wien  1831)  ist  völlig  wertlos.  So  wird  in  England  der  Faden  des 
Altertums  von  ältester  Zeit  an  bis  zu  Bell  und  Pitraan  ununterbrochen 
fortgesponnen. 

Herr  Förster  spricht  über  Morel-Fatio,  La  comedia  espagnole 
au  dix-septieme  siecle,  eine  Vorlesung,  die  er  bei  Antritt  seiner  Stel- 
lung als  Professor  der  südromanischen  Sprachen  und  Litteraturen  an 
Stelle  P.  Meyers  gehalten  hat.  Den  Inhalt  bildet  eine  klare  litteratur- 
geschichtliche  Skizze  des  Lopeschen  Theaters,  der  comedia,  d.  h.  des 
nationalen  Dramas  der  Spanier,  mit  besonderer  Be2^ründun<T  durch 
Lopes  Dramaturgie  in  seinem  „Arte  nuevo".  Aber  entschiedene  Ein- 
wendungen sind  zu  machen  gegen  den  Standpunkt  des  Verfassers,  der 
mit  Verkennung  des  echt  nationalen  Schauspiels  der  Spanier  o-eo-enüber 
dem  konventionellen  der  Franzosen  dem  einseitigen  Formalismus  des 
französischen  Dramas  den  Preis  zuerkennt,  eine  Mode,  die  noch  viel 
mehr  abgethan  ist  als  das  spanische  Schauspiel.  Der  Verfasser,  der 
zum  Teil  sich  selbst  Widersprechendes  giebt,  hat  im  Einzelnen  recht, 
nicht  aber  in  seiner  Gesamtbeurteilung. 

Herr  Schwan  bespricht  die  verschiedenen  in  betreff  der  Kantilenen 
und  der  Entstehung  des  französischen  Epos  aufgestellten  Theorien.  Die 
Eulalia  sei  ebensowenig  ein  Volkslied  wie  das  Ludwigslied,  wohl  aber 
das  in  der  Vita  Pharaonis  lateinisch  überlieferte  Lied.  Der  Vortrao^ende 
hat  eine  wortgetreue  Rückübersetzung  ins  Altfranzösische  versucht,  die 
ihm  zu  ergeben  scheint,  dals  das  Lied  in  zehnsilbigen  Versen  mit  einer 
Cäsur  nach  der  vierten  Silbe  abgefafst  gewesen  sei.  Das  Gedicht 
kann  nur  wenige  Strophen  enthalten  haben.  Das  Volkslied  schwoll 
dann  zum  Epos  an,  indem  es  aus  dem  Munde  des  Volkes  zu  den 
Jongleurs  überging. 

Sitzung   vom    2  4.  Februar    188  5. 

Herr  Biltz  giebt  lexikalische  Notizen  über  einige  wen io- creb rauch- 
liehe  oder  etymologisch  unklare  Wörter,  zunächst  aus  Luthers  Schrift 
,.an  den  christlichen  Adel  deutscher  Nation".  Öleötz  führt  der  Vor- 
tragende  mit  Zurückweisung  der  anderen  aufgestellten  Etvmoloaien  auf 


422 


Sitzunsen  der  Berliner  Gesellschaft 


die  häufige  Darstellung  der  am  Ölberge  schlafenden  Jünger  zurück, 
eine  Annahme,  die  durch  die  bei  Stieler  vorkommende  Form  Olberger 
(homo  stupidus)  gestützt  wird.  Muderei  ist  nicht  auf  müde  zurückzu- 
führen, sondern  in  dem  nhd.  Meuterei  erhalten  und  bedeutet  Zänkerei. 

In  der  ersten  Auflage  von  Schillers  Räubern  steht  „in  aller  Jast'', 
ein  Wort,  das  bei  Moscherosch  nur  als  Mask.  erscheint  und  auf  mhd. 
jesen,  gären,  zurückgeht.  Schiller  hat  in  den  späteren  Auflagen  dafür 
o-esetzt  „in  aller  Furie",  Körner  aber  aus  Mifsverständnis  nach  der 
ersten  Auflage  „in  aller  Hast"  gedruckt.  Auch  die  Ausdrücke  Ab- 
streich  und  Aufstreich  bei  Auktionen  werden  erörtert. 

Herr  Vatke  giebt  eine  Zusammenstellung  von  Zeugnissen  der 
Zeitgenossen  Shakespeares  über  Schule  und  Unterricht. 

Herr  I.  Schmidt  teilt  Proben  aus  seiner  demnächst  erschei- 
nenden kürzeren  Synonymik  mit.  Die  Gi'undsätze,  nach  welcher  die- 
selbe bearbeitet  ist,  hat  der  Vortragende  in  einer  früheren  Sitzung  des 
Vereins  besprochen. 


Sitzung   vom    10.    März    188  5. 

Herr  Risop  spricht  über  die  zweite  inchoative  Konjugation  im 
Französischen.  Die  Anwendung  des  Inchoativsuffixes  hat  im  Laufe 
der  Zeit  allerdings  immermehr  um  sich  gegriffen,  doch  ist  andererseits 
zu  beachten,  dafs  sich  der  Gebrauch  desselben  bei  einigen  Verben, 
z.  B.  couvrir  und  cueillir  wieder  verloren  hat. 

Herr  Rödiger  bespricht  G.  Curtius,  Zur  Kritik  der  neuesten 
Sprachforschung.  Im  ersten  Teil  wendet  sich  Curtius  gegen  den  Satz, 
dafs  die  Lautgesetze  ausnahmslos  seien,  und  hält  an  der  Unterscheidung 
von  konstantem  und  sporadischem  Lautwandel  fest.  Einzelne,  denen 
man  dann  nachahmte,  brächten  ihn  hervor.  So  mache  Curtius  zur 
Modesache,  was  innere  historische  Berechtigung  habe  und  aus  der 
Individualität  des  ganzen  Volkes  zu  erklären  sei.  Im  zweiten  Teile  sagt 
Curtius,  Analosfiebilduno^en  seien  überall  mög-lich,  aber  nirgends  notwen- 
dig,  womit  er,  wie  der  Vortragende  ausführt,  selber  zugestehe,  dafs  der 
Lautwandel  nach  Gesetzen  geschehe.  Es  könne  ja  in  jedem  Falle  noch 
ein  Gesetz  gefunden  werden,  das  die  Erklärung  aus  der  Analogie  un- 
nötig mache.  An  dritter  Stelle  behauptet  Curtius,  dafs  die  Vielheit  des 
griechischen  Vokalismus  das  Ursprüngliche  sei,  während  andere  meinen, 
dafs  e  und  o  schon  in  der  Grundsprache  vorhanden  gewesen  seien. 
Auch  hält  er  an  kurzvokaligen  Stämmen  und  Steigerung  fest,  während 
Neuere  starke  Stufe  im  Wurzelvokal  und  Kürzung  annehmen.  Letzteres 
empfiehlt  sich  nach  Ansicht  des  Vortragenden,  weil  unbetonte  Silben 
überall  leicht  gekürzt  werden  könnten  und  man  so  nie  zu  vokallosen 
Wurzeln  komme.  Im  vierten  Kapitel  stellt  Curtius  morphoganische 
Untersuch un Ofen  an.  Der  Redner  geht  hier  nur  auf  die  lateinischen 
Imperative  des  Futurs  ein,  die  nach  Curtius  augenblickliche  Ausführung 


\ 


für  das  Studium  der  neueren  Sprachen.  423 

heischende  Komniandovvorte  seien  und  nicht  futurische  Bedeutung  haben 
könnten,  während  doch  gerade  das  Heischen  auf  die  Zukunft  weise. 

In  der  sich  anschh'efsenden  Debatte  führt  Herr  Hoffory  ein  Bei- 
spiel aus  dem  Dänischen  an,  wo  man  in  neuerer  Zeit  mit  Willkür 
einen  Lautwandel  vollzogen  habe.  Herr  Rödiger  weist  dies  als  seine 
Behauptung  nicht  entkräftigend  zuiück,  da  es  nicht  auf  einer  Mode, 
sondern  auf  Patriotismus  beruhe.  Herr  Zupitza  macht  darauf  auf- 
merksam, dafs  man  die  Zeit  des  Lautwandels  sorgfältig  in  Betracht  zu 
ziehen  habe,  da  in  neuerer  Zeit  die  Schule  Willkürlichkeiten  der  Aus- 
sprache verbreite. 

Herr  Zupitza  spricht  über  die  Etymologie  von  bad.  Leo  hat 
es  mit  aengl.  b;i3dling  zusammengebracht,  doch  von  dem  gleichbedeu- 
tenden beeddel,  hermaphroditus  sei  es  herzuleiten.  Man  habe  die  Bedeu- 
tung allmählich  vergessen  und  das  Wort  als  Schimpfwort  angewendet. 
Solange  es  seine  eigentliche  Bedeutung  gehabt  habe,  sei  wenig  Ge- 
legenheit  zu  seiner  Verwendung  gewesen,  und  so  erkläre  es  sich,  dafs 
es  erst  um  1300  gebräuchlich  werde. 


o 


Sitzung   vom   24.   März    1885. 


o 


Herr  Rossi  hält  einen  Vorfrag  über  Marc  Monnier,  Un  aventurier 
Italien  du  siecle  dernier.  Das  interessante  Buch  behandelt  das  Leben 
des  vielgewanderten,  1819  in  Genf  gestorbenen  Grafen  Gorani,  der 
zu  fast  allen  hervorragenden  Persönlichkeiten  seiner  Zeit  in  freundlichen 
Beziehungen  gestanden  hat  und  sich  in  seinen  meist  noch  ungedruckten 
Schriften  durch  Kenntnisse,  Geist  und  Urteil  über  das  gewöhnliche 
Niveau  erhebt.  Sein  Bild  aber  hätte  in  dem  Buche  mit  mehr  Treue 
dargestellt  w^erden  sollen. 

Herr  Förster  bespricht  die  zweite  Auf  läge  von  Wiggers,  Gram- 
matik der  spanischen  Sprache,  die  im  Vergleich  zur  ersten  Auflage 
nur  w^enig  Verbesserungen  bringt,  aber  doch  wohl  die  beste  von  den 
Schulgrammatiken  des  Spanischen  ist.  Derselbe  empfiehlt  für  Anfänger 
Beckmann,  Kurzgefafstes  Lehrbuch  der  spanischen  Sprache,  und  Fese- 
mair,  Spanische  Bibliothek,  und  macht  dann  auf  den  bibliographischen 
Anzeiger  für  romanische  Sprachen  und  Litteraturen  von  Ehering  auf- 
merksam, den  er  in  Bezug  auf  das  Spanische  geprüft  und  sehr  voll- 
ständig gefunden  hat.  Schliefslich  weist  er  in  kurzen  Worten  auf  das 
anspruchslose  Werk  des  verstorbenen  Mitgliedes  der  Gesellschaft  Strack, 
Reiseberichte  aus  drei  Weltteilen,  hin. 

Herr  Michaelis  wendet  sich  gegen  Gomperz,  der  die  Vokale 
in  einer  Kreislinie  anordnet.  I  und  u  seien  die  Grenzpunkte,  aber 
auch  das  mittlere  a  nehme  eine  feste  Stelle  ein.  Unter  den  besonderen 
Kennzeichen  dieses  Lautes  hebt  der  Vortragende  heryor,  dafs  in  der 
Fräntzelschen  Station  der  hiesigen  Charite  auf  seine  Veranlassung  hin 
von  Dr.  Tronseg  angestellte    umfassende  Untersuchungen    seine    schon 


424  Sitzungen  der  Berliner  Gescllsohaft. 


& 


lange  gehegte  Ansicht  bestätigt  hätten,  dafs  die  von  den  unteren  Stimni- 
händern  gebildete  Stimmritze  bei  a  weniger  eng  geschlossen  ist  als  bei 
den  übrigen  Vokalen.  Das  Hallway-Chladnische  Dreieck  hat  auch  vor 
den  Anordnungen  in  einer  geradlinigen  Reihe  grofse  Vorzüge. 

Sitzung   vom    14.   April    188  5. 

Herr  I.  Schmidt  bespricht  Brinkmann,  Die  Syntax  des  Fran- 
zösischen und  Englischen,  ein  sehr  urnftingreiches,  zu  pädagogischen 
Zwecken  geschriebenes  Buch,  welches  nachzuweisen  versucht,  dafs  die 
Syntax  des  Englischen  keinen  specifisch  germanischen  Charakter  trage, 
sondern  der  der  romanischen  Sfirachen  sehr  nahe  stehe.  Es  ist  dabei 
aufser  acht  gelassen,  dal's  die  Formenlehre  auf  die  sich  von  selbst  ent- 
wickelnde Syntax  einen  Einflufs  ausüben  mufs.  Unhistorisch  ist  insofern 
verfahren,  als  beim  Französischen  bis  auf  das  1  6.  Jahrhundert  zurück- 
gegangen, während  beim  Englischen  nur  die  moderne  Sprache  berück- 
sichtigt wird.  Aus  dem  ersten  Kapitel  über  den  Artikel  werden  eine 
Reihe  von  Einzelheiten  von  dem  Vortragenden  hervoro-ehoben,  nach 
dessen  Meinung  eine  solche  Parallel isierung  dieser  beiden  Sprachen 
nicht  statthaft  sei. 

Herr  Zupitza  spricht  über  die  mittelenglische  Vorstufe  von 
Shakespeares  As  you  like  it,  die  in  mehreren  Handschriften  der  Canter- 
bury  Tales  überlieferte  Tale  of  Gamelyn,  welche  von  Skeat  1884  zu- 
letzt veröffentlicht  ist.  Die  Entstehung  des  Gedichtes  ist  um  1350  zu 
setzen.  Im  Gegensatze  zu  Skeat  meint  der  Vortragende  Gamelyn 
nicht  als  aus  Gameling  entstanden  erklären  zu  sollen,  sondern  sieht  in 
der  Endung  das  Deniinutivsuffix  in.  Die  oft  nur  in  der  Wahl  eines 
Ausdruckes  bestehenden  Ähnlichkeiten  zwischen  Shakespeare  und  un- 
serem Gedichte  sind  nach  der  Ansicht  des  Vortragenden  zu  klein  und 
zufällig,  als  dafs  man  meinen  könnte,  Shakespeare  habe  eine  Hand- 
schrift des  Gedichtes  gesehen;  derselbe  habe  seine  Kenntnis  der  Er- 
zählung vielmehr  lediglich  aus  Lodge  geschöpft. 

Sitzung   vom    5.   Mai   188  5. 

Herr  Friedrichs  sprach  über  neuproven9alische  Dichtung.  Die 
altproven^alische  Poesie  ging  mit  der  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  zu 
Grunde.  Von  da  an  finden  sich  wohl  noch  manche  lyrische  Produkte, 
diese  können  aber  nicht  mehr  wirkliche  Poesie  genannt  werden.  Diese 
Ode  in  der  proven^alischen  Poesie  dauerte  bis  in  unser  Jahrhundert 
hinein.  Neue  Bahnen  wurden  ihr  erst  durch  Jansemin  (1825),  Rou- 
manille,  Aubanel  und  vor  allen  durch  Frederi  Mistral  eröffnet.  Diesem 
letzteren  fiel  der  Hauptteil  des  Vortrages  zu.  Nach  einem  kurzen 
Überblick  über  Mistrals  Leben  (geb.  1830  in  Maillane  an  den  Bouches- 
du-RhöneJ  wurden  seine  Werke  eingehender  besprochen.    An  der  INIireio 


für  (las  Studium  der  neuer*  n  Spraclsen.  425 

(1859),  dem  Galendau  (1866),  an  der  Nerfo  (1884)  wurde  besonders 
die  ästhetische  Seite  hervorgehoben,  während  bei  den  Isclo  d'or  (1876) 
mehr  die  politische  in  den  Vordergrund  trat.  Mistrals  Hals  gegen  den 
Norden  Frankreichs,  der  sich  überall  in  diesen  Gedichten  selir  deutlich 
ausspricht,  ist  eng  verwachsen  mit  den  Gefühlen  der  ganzen  Südbevöl- 
keiung  Frankreichs.  Die  Geschichte  zeigt,  dafs  der  Süden  seit  seiner 
Vereinigung  mit  dem  Norden  (Ende  des  15.  Jahrhunderts)  eine  feind- 
liche Rolle  gegen  denselben  gespielt  hat.  Diese  Zornesausbrüche  finden 
sich  in  noch  stärkerem  Mal'se  bei  Mistrals  dichtenden  Kollegen,  den 
Felibres,  die  sogar  so  weit  gegangen  sind,  zu  einer  Vereinigung  mit 
den  stammesverwandten  Catalanen  und  zu  einer  Trennung  von  Frank- 
reich aufzufordern.  Jedoch  sind  derlei  Aufforderungen  nicht  immer 
wörtlich  zu  nehmen,  wie  sich  1870  ijezeiij^t,  wo  der  Süden  dem 
sonst  so  gehafsten  Norden  treu  beigestanden  hat.  Seit  1870  ist  über- 
haupt diese  ganze  Bewegung  eine  ruhigere;  einmal  sind  die  Führer 
älter  und  damit  bedächtiger  geworden;  sie  haben  eingesehen,  dafs 
weniijstens  für  den  Ausrenblick  die  Sache  noch  nicht  reif  ist ;  dann 
haben  sie  sich  aber  auch  anderen  Bestrebungen  zugewendet,  den  wessen- 
schaftlichen.  In  dieser  Hinsicht  sind  Werke  zu  nennen  wie  Mistrals 
Tresor  dou  Felibrige,  Übersetzungen,  historische  Arbeiten  u.  s.  w. 

Herr  Stadler  redete  über  die  Behandlung  des  Zeitwortes  in  der 
neueren  französischen  Schulgrammatik,  indem  er  die  seit  1870  erschie- 
nenen Abhandlungen  und  Grammatiken  in  den  Kreis  seiner  Betrach- 
tung zog  und  zunächst  zeigte,  wie  verschiedene  Auffassungen  über  den 
Begriff  der  regelraäfsigen  Verba  und  der  Einteilung  derselben  in  Klassen 
herrschen. 

Herr  Zermelo  teilte  aus  G.  Brandes,  Berlin  som  Tvsk  Riks- 
hovestad,  das  Kapitel  mit,  in  welchem  der  Verfasser  das  Berliner  Ge- 
sellschaftsleben  bespricht. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 


1)  Internationale    Zeitschrift   für   allgemeine   Sprachwissenschaft, 

herausgegeben  von  F.  Techmer.  Band  I,  Heft  1.  (Mit 
über  80  Holzschnittfiguren  und  7  lithographierten  Tafeln.) 
Leipzig  1884.     Verlag  von  Joh.   Arnbr.  Barth. 

2)  Die  Sprachlaute  im  allgemeinen  und  die  Laute  des  Englischen, 

Französischen  und  Deutschen  im  besonderen.  Von  Dr. 
Moritz  Trautmann,  Professor  an  der  Universität  Bonn. 
Erste  Hälfte.     Leipzig,   Verlag  von  Gustav  Fock,  1884. 

Der  jungen,  frisch  aufstrebenden  Phonetik  ist  in  Techniers  Zeitschrift 
ein  internationales  Centralorgan  geschaffen  worden.  Hervorragende  Gelehrte 
des  In-  und  Auslandes,  wie  Pott  und  Max  Müller,  Leskien  und  Whit- 
ney, \\ .  Scher  er  und  H.  Steinthal,  zieren  dasselbe  durch  ihre  Mit- 
arbeiterschaf't.  Ein  glänzendes  Verdienst  erwirbt  sich  die  Verlagsbuchhand- 
lung: wer  zum  erstenmale  ein  Heft  der  Internationalen  Zeitschrift  in  die 
Hand  bekommt,  wird  freudig  überrascht  sein  über  die  ganz  aufserordentlich 
prächtige  Ausstattung  des  Werkes,  welche  die  Behauptung  rechtfertigt,  dafs 
wir  auf  diesem  Gebiete  nunmehr  die  Engländer  überflügelt  haben.  Möge 
der  äufsere  Erfolg  dem  N'erdienste  entsprechen. 

Die  beiden  nach  Umfang  und  Inhalt  bedeutendsten  Arbeiten,  welche  im 
ersten  Hefte  der  Internationalen  Zeitschrift  veröffentlicht  werden,  sind  die 
„Einleitung  in  die  allgemeine  Sprachwissenschaff^  aus  der  Feder  A.  F. 
Potts  (68  Seiten  umfassend)  und  des  Herausgebers  „Naturwissenschaftliche 
Analyse  und  Synthese  der  hörbaren  Sprache"  (auf  102  Seiten).  An  kleinen 
Irrtümern  im  einzelnen,  wie  deren  die  Abhandlung  Potts  nach  des  Refe- 
renten Meinunof  allerdlncrs  etliche  enthält,  herumzunörgreln.  würde  wenig 
taktvoll  sein.  Eine  objektive  Reproduktion  kann  aber  unmöglich  Zweck 
dieser  Anzeige  sein;  wer  die  dargebotene  reiche  Belehrung  sich  zu  eigen 
machen  will,  abonniere  auf  die  Zeitschrift.  Ich  begnüge  mich  also  damit, 
die  übrigen  in  dem  Hefte  enthaltenen  Abhandlungen  anzuführen  und  ge- 
statte mir  nur  jiesren  eine  derselben  eine  Polemik,  welche  ich  unterdrücken 
würde,  wenn  sie  nur  F^inzellieiten  der  betreffenden  Arbeit  anginge,  während 
sie  sich  so  gegen  die  Grundthese  derselben  richtet. 

Ein  zweiter  Aufsatz  des  Herausgebers  beschäftigt  sich  mit  der  Trans- 
skription  (mittels  der  lateinischen  Kursivschrift)  und  enthält  einen  Vorschlag 
zum  möglichst  einheitlichen  Gebrauch   in    der  Internationalen  Zeitschrift.   — 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  427 

Garrick  Mallery  bespricht  Sign  language.  —  Die  Frage:  „Sind  die  Laut- 
gesetze Naturgesetze?"  beantwortet  Friedrich  Müller  (S.  211—214)  in 
verneinendem  Sinne,  und  zwar  sucht  er  zu  beweisen,  dafs  (Jie  Lautgesetze 
nicht,  wie  die  Naturgesetze,  ewig  sind,  sondern  entstehen  und  vergehen. 
Den  Ausführungen  F.  Müllers  liegt  nach  meinem  Dafürhalten  ein  Mifs- 
verständnis  in  betreff"  des  Begriffes  „Gesetz"  selbst  zu  Grunde.  Gesetz  nen- 
nen wir  den  Ausdruck  der  Bedingungen,  unter  welchen  eine  bestimmte 
Erscheinung  jederzeit  eintritt ;  es  darf,  wenn  es  richtig  sein  soll,  diese  Be- 
dingungen weder  zu  eng  noch  zu  weit  fassen.  Je  zahlreicher  und  genauer 
die  Bedingungen  sind,  um  so  mehr  verliert  der  Satz  den  Charakter  eines 
allgemeinen  Gesetzes,  und  zuletzt  würde  er  zum  Ausdruck  des  individuellen 
P' alles,  des  Phänomens  herabsinken,  '\^'enn  nun  Müller  das  altslovenische 
Gesetz  erwähnt,  dafs  vor  den  e-  und  i-Lauten  vorangehende  Gutturale  zu 
Palatalen  (ts  u.  s.  w.)  resp.  Lingualen  (ts  u.  s.  w.)  umgewandelt  werden, 
und  dieses  Gesetz  in  den  neueren  slavischen  Dialekten,  welche  oft  genug 
e-  und  i-laute  hinter  Gutturalen  zeigen,  erloschen  glaubt,  so  hat  er  über- 
sehen, d«fs  in  dem  auftiestellten  Gesetze  der  Ausdruck  „im  Altslovenischen" 
einen  notwendigen  Teil  der  gesetzlichen  Bedingungen  enthält,  an  welche 
das  Phänomen  geknüpft  wird.  Die  Lautgesetze  der  einzelsprachlichen  Gram- 
matik setzen  ja  jederzeit  den  gesamten  Charakter  der  bestimmten  Sprache, 
und  zwar  zu  einer  bestimmten  Zeit  als  gegeben  voraus,  und  sind  daher  ver- 
hältnismäfsig  schon  recht  specielle  Gesetze.  Der  Zusatz  „im  Altslovenischen" 
giebt  dem  angeführten  Gesetze  eine  Specialisierung,  analog  den  näheren 
(Zahlen-  u.  s,  w.)  Bestimmungen,  welche  an  den  Schüler  gestellte  Aufgaben 
aus  der  Physik  oder  Mechanik  zu  enthalten  pflegen.  Hier  würde,  wenn  man 
den  Lösungssatz  als  allgemeingültig,  nicht  an  die  bestimmten  Bedingungen 
geknüpft  hinstellen  wollte,  der  Lösungssatz  falsch,  weil  zu  weit,  sein.  Es 
ist  mit  dem  von  Müller  angezogenen  slavischen  Lautgesetz  gerade  so. 
Dasselbe  gilt  eben  nur  im  Altslavischcn,  und  dafür,  dafs  es  nur  hier  gilt 
und  nicht  auch  in  anderen  Sprachen  bei  anscheinend  gleichen  phonetischen 
Bedingungen,  mufs  die  beson<lere  Konstitution  des  Altslavischen  natürlich 
den  Grund  enthalten.  Und  so  ist  der  Vergleich  überall  durchzuführen. 
Einem  ganz  allgemeinen  physikalischen  Gesetze  wie  dem  der  Schwere  liefse 
sich  etwa  das  allgemeine  Lautgesetz  gegenüberstellen:  Jeder  Sprachlaut  ist 
in  seiner  Artikulation  an  ein  körperliches  Organ  geknüpft;  mit  den  Angaben 
der  Chemie  über  die  Verbindungsgewichte  der  Elemente  lassen  sich  Sätze 
wie  folgender  vergleichen:    „a  und  u  verschmelzen,    wenn  in  einer  Silbe  als 

äu  artikuliert,  dem  akustischen  Effekte  nach  zu  einem  neuen  Laute,  während 

bei  uä  beide  Komponenten  getrennt  hörbar  bleiben."  Aus  dem  Gesagten 
ergiebt  sich  auch  die  Antwort  auf  folgende  Frage  Müllers:  „Können  wir 
den  Lautgesetzen  der  Sprache  das  Prädikat  der  Ewigkeit  zugestehen,  kön- 
nen wir  annehmen,  dafs  dieses  oder  jenes  Lautgesetz  z.  B.  zur  Zeit  Homers 
ebenso  gewirkt  habe,  wie  es  heutzutage  wirkt?  Müssen  wir  nicht,  wenn 
wir  die  Lautgesetze  für  Naturgesetze  erklären,  dann  konsequent  auch  inner- 
halb der  Sprache  jede  Entwickelung  leugnen?  Nach  dem  strengen  Natur- 
gesetze ist  z.  B.  k  immer  k  und  kann  nie  zu  ts  werden;  letzteres  wäre 
eine  völlige  Aufhebung  des  Naturgesetzes."  Allerdings  kann  k  niemals  zu 
ts  werden  ohne  einen  bestimmten,  aufserhalb  der  allgemeinen  und  notwendi- 
gen Natur  des  k  liegenden  Einflufs,  ganz  so  wie  blufser  Wasserstoff"  nicht 
Wasser  ergiebt  oder  eine  Oxydation  ohne  Sauerstoff"  unmöglich  ist.  Worin 
aber  sollte  die  Nötigung  liegen,  jede  Entwickelung  zu  leugnen?  Ist  denn 
in  der  Natur  Stillstand?  herrscht  in  ihr  nicht  auch  Werden  und  Vergehen? 
Und  auch  in  der  Sprache  erfafst  dieses  Werden  und  \'ergehen  keineswegs 
die  Gesetze  selbst ;  dies  scheint  nur,  wenn  man  den  Fehler  begangen  hat, 
ein  Gesetz  zu  weit  zu  stecken.  —  Ein  Aufsatz  Max  Müllers  aus  dem 
Gebiete   der  vergleichenden  Mythologie  ist  „Zephyros    und  Gähusha"  über- 


428  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

schrieben.  —  Lucien  Adam  spricht  über  die  „oategorie  du  genre".  — 
A.  H.  Sayce  erörtert:  „The  person-endings  of  ihe  Indo-European  verb."  — 
K.  Brugniann  endlich  behandelt  die  „Frage  nach  den  Verwandtschafts- 
verhaltnissen der  indogermanischen  Sprachen". 

So  vieles  bietet  die  Zeitschrift  gleich  in  ihrem  ersten  Hefte.  Fürwahr, 
hier  lobt  das  Werk  den  Meister.  Die  anderen  brauchen  nicht  zu  loben;  ihr 
Teil  ist  zu  lesen,  zu  lernen  und  sich  zu  freuen. 

Von  Trautmanns  Werk  ist  bis  jetzt  nur  die  erste  Hälfte  (Bogen 
1  — 10)  erschienen,  jedoch  soll  die  zweite  bahi  nachfolgen.  Diese  erste  Hälfte 
enthalt  den  ersten  Teil:  Die  Sprachlaute  im  allgemeinen,  von  S.  1 — 134, 
und  den  Anfang  des  zweiten:  Die  Laute  des  Englischen,  Französischen  und 
Deutschen  im  besonderen  (S.  135 — 160).  Ich  bespreche  vorläuög  den  ersten 
Teil.^ 

Von  Trautmanns  schon  vor  längerer  Zeit  angekündigten  ,.Sprach- 
lauten"  versprach  man  sich  recht  viel  nach  der  bedeutenden  Förderung, 
welche  die  junge  Phonetik  schon  durch  seine  früheren  Arbeiten  empfangen 
hatte.  So  viel  aber,  wie  das  Buch  bietet,  hat  gewifs  keiner  erwartet.  Nach 
drei  Richtungen  hin  verdient  das  Werk  vor  allem  Lob.  Zuerst:  es  hebt 
im  Gegensatze  zu  der  englischen  Phonetik  das  Wesen  des  Sprachlautes  als 
Klanges  hervor,  der  erst  in  zweiter  Linie  durch  eine  Artikulation  her- 
vorgebracht wird.  Sodann  giebt  es  bei  einer  ganzen  Reihe  wichtiger  laut- 
physiologischer Fragen  eine  genaue  geschichtliche  Darstellung  der  früheren 
einschlägigen  Theorien  und  Ansichten,  wobei  die  ausgezeichnet  gerechte 
sachliche  Würdigung  der  Vorgänger  anerkannt  werden  mufs.  Drittens  end- 
lich belehrt  uns  der  Verfasser  durch  Neues,  Eigenes  auf  jeder  Seite:  in 
allem  hat  er  selbständig  geforscht,  die  Untersuchungen  der  Vorgänger  kon- 
trolliert.    Stets  aber  ist  seine  Polemik  gegen  diese  urban. 

Die  Einleitung  behandelt  in  zwei  Abschnitten  (S.  1 — 23)  die  (physika- 
lische) Lehre  vom  Schall  und  den  (physiologischen)  Bau  des  Sprechorgans, 
sowie  das  letztere  in  seiner  Thätigkeit.  In  diesen  Abschnitten  werden  statt 
der  bisher  üblichen  einige  neue  Termini  gebraucht.  So  „(der)  Giel"  für 
die  Mundhöhle  nebst  Rachenhöhle  und  oberem  Kehlkopfraum;  mhd.  hatte 
giel  freilich  eine  etwas  allgemeinere  Bedeutung  (=i  Maul,  Rachen,  Schlund), 
allein:  „es  wird  niemanden  stören,  dafs  das  mittelhochdeutsche  Wort  die 
besondere  ihm  hier  zugewiesene  Bedeutung  nicht  hatte",  bemerkt  Traut- 
mann sehr  gut;  in  sohhen  Verschiebungen,  \  erengungen  und  Verallgemei- 
nerungen der  Bedeutung  der  \\  örter  zeigte  sich  ja  zu  allen  Zeiten  das 
Leben  der  Sprache.*)  „Klapper"  für  „Explosiva"  und  „Schleifer"  für  „Fri- 
kativa"  gebrauchte  Trautmann  schon  früher.  Das  mifsverständlicbe  „Ac- 
cent"  (HaupttonJ  wird  durch  „Treff"  ersetzt.  Für  „Zäpfchen"  heifst  es  auch 
„Heuch".  „(Der)  Galm"  —  zu  „gellen"  gehörig,  vergleiche  auch  „Nachti- 
gall" —  für  ..Vokal"  und  „(der)  Diefs"  —  mhd.  diez  =  Schall,  Geräusch  — 
fiir  „Konsonant"  werden  wenigstens  vorgeschlagen  und  in  den  folgenden 
Überschriften  in  Klammern  hinter  die  herkömmlichen  Benennungen  gesetzt. 
Die  Einbürgerung  neuer,  klarerer  und  bequemerer  Ausdrücke,  oder  deut- 
.scher  für  fremder,  ist  ja  auf  bestimmten  wissenschaftlichen,  technischen  oder 
Verwaltungsgebieten,  wo  die  Zahl  der  Gebrauchenden  eine  verhältnismäfsig 
kleine  ist,  recht  wohl  möglich ;  das  wissen  wir  aus  der  Erfahrung  z.  B.  I>ei 
der  Post.     Es  kommt  also  nur  noch  darauf  an,  ob  die  gewählten  Ausdrücke 


*  Kühne  Sprachneuerungen  finden  wir  auch  sonst  bei  Trau t mann ,  z.  B.  Öfter 
Konstruktionen  wie:' „Die  sechs  letzten  Systeme,  und  vielleicht  auch  Rapp  seins, 
sind  als  Versuche  anzusehen"  u.  s.  w.  Warum  sollten  auch  -solche  in  der  besten 
gesprochenen  Sprache  ganz  üblichen  Konstruktionen  von  der  Schriftsprache  ängstlich 
ferngehalten  werden,  auch  abgesehen  davon,  dafs  gerade  diese  besondere  Änderung 
den  Wohlklang  erhöht? 


Beurteilungen  und  kurze  Anzelj^en.  429 

sachlich  zutreflen.  Tn  dieser  Hinsicht  wlifste  ich  gegen  Trautmanns  Vor- 
schlage nichts  einzuwenden. 

Bei  den  Vokalen  (Galmen)  erklärt  Trautmann  kurz  und  präcis  Wesen 
und  Entstehung  und  bespricht  dann  eingehend  die  früheren  Auffassungen 
über  die  lauten  und  geilüsterten  Vokale.  Der  Verfasser  widerspricht  der 
Lehre  Helmholtzens,  dafs  die  lauten  Vokale  Klänge  seien,  in  denen  einer 
der  harmonischen  übertöne  vorwöge;  seiner  eigenen  Meinung  kam  von 
den  Vorgängern  Willis  trotz  mehrerer  Irrtümer  noch  am  nächsten. —  Das 
nun  folgende  Trautm  ann  sehe  „System  der  V.©kale"  ist  das  in  dieser 
Zeitschrift  schon  besprochene,  Band' LXX,  8.  73  ff",  von  Michaelis  und 
Band  LXXI,  S.  97  11".  vom  Referenten.  (,Dafs  Trautmann  dem  englischen 
u  in  but  trotz  seiner  richtigen  Bestimmung  dieses  Lautes  irrig  die  letzte 
Stelle  in  der  Reihe  statt  der  zweiten  —  von  a  aus  gerechnet  —  angewiesen 
habe,  hatte  Referent,  welchem  damals  Anglia  Bd.  IV  nicht  zugängli«  h  war, 
UHch  dem  undeutlichen  Referate  von  Michaelis  angenommen.  Traut- 
mann hatte  gedachte  Fehler  nicht  begangen.)  Der  Rechtfertigung  des 
Systems  reicht  sich  eine,  wieder  durch  genaueste  Kenntnis  und  unparteiische 
Kiitik  der  betreibenden  Litteratur  ausgezeichnete  Darstellung  der  „Systeme 
anderer"  an  (S.  57  —  72).  Recht  schlecht  kommen  hierbei  die  Engländer 
weg,  und  Referent  freut  sich,  dafs  seine  Stellungnahme,  Archiv,  Bd.  LXXI, 
S.  69 — 70,  g«^'gen  das  englische  System  von  einem  viel  kompetenteren  Ge- 
lehrten geteilt  wird.  Die  Behauptung,  dafs  von  den  deutschen  Forschern 
keine  Rücksicht  auf  die  Mundstellung  genommen  werde,  wird  abgewiesen; 
in  erster  Linie  aber  müfsten  Vokale  wie  Konsonanten  allerdings  nach  ihrem 
Klange  bestimmt  werden;  die  Abschätzung  nach  der  Mundstellung  sei  viel 
subjektiver  als  die  Abschätzung  nach  der  akustischen  Ähnlichkeit.  Um  eine 
willkürliche  Abschätzung,  nicht  um  eine  objektive  Bestimmung  handelt  es 
sich  ja  bei  den  mehr  als  70  \  okalen  Beils.  Mit  der  blofsen  Angabe  der 
Mundstellungen  ist  nicht  viel  zu  machen.  So  sagt  Kräuter:  „Wem  z.  B. 
unser  ü-Laut  nicht  geläufig  ist,  wird  es  nichts  nutzen,  wenn  er  die  Zunge  wie 
bei  i,  die  Lippen  wie  bei  u  stellen  soll;  er  wird  eben  ein  i  hervorbringen. ~  So 
kann  ich  mir  auch  nach  der  Beschreibuno;:  u-Stellunfr  der  Zunge  und  i-Stel- 
lung  der  Lippen  keinen  Begriff"  von  dem  polnischen  y  machen."  Für  ganz 
unannehmbar  erkläit  Trautmann  die  Unterscheidung  von  „engen"  und 
„weiten"  Vokalen,  deren  Schwierigkeit,  deren  subjektiven  und  zweifelhaften 
Charakter  die  Vertreter  des  Systems  selbst  einräumen. 

Die  Einteilung  des  über  die  Konsonanten  (Diefse)  handelnden  Abschnit- 
tes ist  der  bei  den  Galmen  analog:  Wesen  und  Entstehung,  System,  Recht- 
fertigung des  Systems,  Systeme  anderer.  Die  Gruppen  „Klapper"  und 
„Schleifer"  decken  sich  nicht  mit  der  gewöhnliehen  „Explosive"  und  „Fri- 
kative";  denn  die  Traut  mann  sehe  Unterscheidung  gründet  sich  auf  den 
Klangunterschied  zwischen  Schlag-  und  Reibegeräuschen,  und  danach  sind 
1  r  m  n  ng  Klapper.  Man  erkennt,  dafs  die  Scheidung  nach  akustischem 
Princip  so  eine  ganz  durchgreifende  und  saubere  wird.  Haben  sich  doch 
diejenigen  Phonetiker,  welche  ausschlief>lich  die  Artikulation  zum  Eintei- 
lungsprincip  machten,  über  die  Stellung,  welche  den  genannten  Lauten  an- 
zuweisen ist,  ganz  und  gar  nicht  zu  verständigen  gewufst.  Sievers  z.  B. 
rechnete  Licjuidä  und  Nasalen  zu  den  Stimmlauten.  Dagegen  zählt  Lep- 
sius  m  n  ng  sogar  zu  den  Explosivlauten  und  Traut  mann  sagt  über  diese 
Anordnung:  „Die  m-,  n-  und  ng-Laute  sind  (von  Lepsius)  richtig  als  Klap- 
per erkannt."  Deuten  aber  Lepsius'  Termini  „explosivae  or  dividu^e"  und 
„fricativge  or  Continus"  etwa  darauf  hin,  dafs  er  den  Klang  der  Laute  hätte 
charakterisieren  wollen?  Wir  werden  doch  „Klapper"  und  „Explosiva", 
„Schleifer"  und  „Frikativa"  nicht  völlig  identifizieren  dürfen.  An  Stelle  des 
blofsen  Gradunterschiedes  von  scharfen  und  sanften  Konsonanten  will  Traut- 
m  ann  den  Artunterschied  von  stimmlosen  und  stimmhaften  gesetzt  wissen. 
Gewifs  ist  der  Artuntei schied  der  bedeutendere  und  wichtigere;    allein  der 


4o0  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 


o^ 


andere  ist  auch  nicht  zu  ignorieren,  weder  lautwissenschaftlich  —  wo  will 
man  sonst  die  süddeutschen  stimmlosen  Lenes  unterbringen? — noch  sprach- 
geschichtlich. Mit  einigen  Ausführungen  im  letzten  Abschnitte  des  ersten 
Teiles  („Kiniges  über  die  Sprachlaute  im  "Wort  und  im  Satze")  bin  ich  nicht 
einverstanden.  So  wird  der  französische  Satz  ]1  avait  en  effet  un  esprit 
sceptique  et  un  coeur  afTectueux  nicht  in  Sprechsilben  abgeteilt:  I  la  vai  te 
ne  tJ'et  u  nes  prit  scep  ti  quet  un  coeu  ra  ffec  tueux,  sondern :  I  la  vai  te 
ne  ffet  u  ne  sprit  sce  p  ti  quet  un  coeu  ra  ffe  k  tu  eux.  Und  was  S.  133 
von  Dauerunterschieden  gesagt  ist,  beruht,  meine  ich,  auf  dem  Unterschiede 
zwischen  energischem  und  mattem  Silbenaccent,  wenn  auch  freilich  zwischen 
diesem  und  der  vokalischen  Dauer  Beziehungen  bestehen.  Im  Rheinlande 
—  Traut  mann  führt  die  recht  bezeichnenden  jelaach  jemaach  in  Bonner 
Aussprache  an  —  ist  der  Unterschied  zwischen  mattem  und  energischem 
Silbenaccent  besonders  scharf  ausgeprägt,  während  er  in  Norddeutschland 
vielfach  verschwunden  ist.  In  einer  rheinischen  Volksschule  würde  ein  Schü- 
ler, welcher  „Zahn"  mit  energischem,  oder  umgekehrt  „Thran"  mit  mattem 
Silbenaccent  spräche,  sicher  auffällig  werden.  —  Indessen  gestehe  ich  gerne, 
auch  aus  diesem  Abschtiitte  recht  vieles  gelernt  zu  haben;  derselbe  enthält 
ül>er  die  noch  am  wenigsten  angebauten  Gebiete  der  Lautwissenschaft  eine 
reiche  Fülle  des  Belehrenden,  trotz  der  bescheidenen  Überschrift:  „Einiges 
über  ..." 

Möge  aus  meiner  Anzeige  zur  Genüge  hervorgegangen  sein,  dafs  Traut- 
manns „Sprachlaute"  nicht  nur  für  die  Entwickelung  der  Phonetik  sehr 
beiieutsam  sein  müssen  —  dafs  das  Werk  vielmehr  das  beste  ist,  was  wir 
in  unserer  Wissenschaft  besitzen. 

Spanische  Grammatik  mit  Berücksichtigung  des  gesellschaftlichen 
und  geschäftlichen  Verkehrs.  Von  J.  Schilling,  Lehrer  der 
:^panischen  Sprache  am  Kaufmännischen  Verein  Zürich. 
2.  Aufl.     Leipzig,  G.  A.  Glöckner,   1884.     (350  S.) 

Portugiesische  Grammatik  mit  Berücksichtisuno-  des  gresellschaft- 
liehen  und  geschäftlichen  Verkehrs.  Von  F.  J.  Schmitz, 
konigl.  Reallehrer  für  neuere  Sprachen  an  der  Realschule 
AschafFenburg.     Leipzig,   G.  A.  Glöckner,   1885.     (250  S.) 

Beide  Bücher  sind  recht  anerkennenswerte  und  tüchtige  Leistungen, 
praktisch  brauchbare  Schulbücher  vor  allem.  Und  zwar  eignen  sie  sich 
keineswegs  nur  für  kaufmännische  Lehranstalten,  denn  die  Rücksicht  auf 
den  geschäftlichen  V^erkehr  herrscht  nicht  vor,  sondern  tritt  hinter  der  Ten- 
denz, dem  allgemein  gesellschafdichen  Verkehr  zu  dienen,  mit  anderem 
Worte  die  gesprochene  Sprache  zur  Anschauung  zu  bringen,  zurück,  wie 
sie  denn  auch  auf  dem  Titel  beider  Bücher  richtig  hinter  dieser  angegeben 
wird.  Dafs  aber  in  der  Grammatik,  bezw.  im  Übungsbuch  (obige  Bücher 
sind  beides  zugleich)  die  gesprochene  Sprache  mindestens  gleichmäfsig  mit 
der  Schrift-  und  Litteratursprache  berücksichtigt  ist,  entspricht  dem  gegen- 
wärtig in  allgemeineren  Kreisen  eingenommenen  pädagogischen  Standpunkt, 
welchem  auch  neuere  Lehrbücher  des  Französischen  und  Englischen  (z.  B. 
Deutschbein)  Rechnung  tragen.  Wem  es  freilich  nur  darauf  ankommt, 
Cervantes  und  Camoens  lesen  zu  können,  oder  wer  nur,  zum  Nutzen  seines 
allgemeinen  romanischen  Sprachstudiums,  sich  einen  Einblick  in  den  Laut- 
und  Formenbestand  der  südwesthchen  Sprachen  verschallen  will,  mag  auf 
ein  Buch  dieser  Art  verzichten,  dafür  bleibt  aber  seine  Kenntnis  der  Sprache 
auch  eine  mangelhafte.  Stellte  ich  nun  den  vorliegenden  Lehrbüchern  im 
ganzen  obiges  lobende  Zeugnis  aus,  so  ward   dabei   immerhin   mit   erwogen, 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  431 

(lafs  die  grammatische  Boliandlung  einer  Sprache  nur  alhnählich  fortschreitet 
und  dal's  manche  niethodiscl)e  und  selbst  inhaltliche  JMän<^el  oder  auch  po- 
sitive Irrtümer  in  einem  gegenwärtig  erscheinenden  Lehrbuche  des  Spani- 
schen und  noch  mehr  des  Portugiesischen  eigentlich  unausbleiblich  sind. 
Wenn  dem  aber  so  ist,  so  hat  der  Kritiker  nicht  nur  die  subjektive  Ffliclit, 
das  von  ihm  abgegebene  Urteil  zu  begründen,  sondern  auch  die  objektive, 
an  seinem  Teile  zu  solchem  Fortschritte  grammatischer  Erkenntnis  und  Dar- 
stellung beizutragen.  Gehen  wir  daher  zu  einer  Betraciitung  im  einzelnen 
über. 

Über  die  Aussprache  giebt  Schilling  nur  einige  allfremeine  Bemer- 
kungen, und  in  diesen  ist  noch  einiges  unrichtig.  So  soll  c  vor  a,  o,  u 
und  den  Konsonanten  dem  deutschen  gg  in  „Egge"  entsj)rechen,  während 
es  k  ist.  Von  j,  sowie  g  vor  e  und  i  wird  gesagt,  es  habe  den  Laut  des 
süddeutschen  ch  in  „machen,  Bach".  Das  ist  nun  allerdings  vollkommen 
richtig,  aber  nur  für  die  Wenigen  verständlich,  welche  das  „hintere  guttu- 
rale" ch  süddeutscher  Mundarten  von  dem  gewöhnlichen,  dem  vorderen 
gutluralen  ch  zu  unterscheiden  (nicht  etwa:  fähig  sind,  sondern)  schon  vor- 
her gelernt  haben.  1^1,  il  werden  sehr  ungenau  als  „Ij,  nj"  bestimmt;  es 
ist  schwach  mouilliertes  1,  n  mit  nachlolgendem.  in  Bezug  auf  das  Silben- 
ganze hier  als  Konsonant  fungierendem  i.  „P  lautet  etwas  weicher  als  im 
Deutschen,  ungefähr  wie  bb  in  „Ebbe",  z.  B.  padre."  Die  Behauptung, 
dafs  spanisches  p  weicher  als  deutsches  p  sei,  ist  willkürlich  oder  mindestens 
subjektiv,  wie  der  Gradunterschied  zwischen  harten  und  weichen  (oder  schar- 
fen und  sanften)  Lauten  überhaupt  besser  dem  Artunterschiede  von  stimm- 
losen und  stimmhaften  Lauten  Platz  machte  (d.  h.  da,  wo  beide  parallel 
gehen  und  sich  ni(ht  etwa  kreuzen);  und  sicher  ist  deutsches  (schrift- 
geminiertes)  bb  in  „Ebbe"  gleich  einfachem  b.  Bei  der  dritten  Fortis  unter 
den  Verschlufslauten,  dem  t,  kehrt  die  Behauptung  gröfserer  Weichheit  (als 
im  Deutschen)  nochmals  wieder.  Bei  dem  Worte  reloj  liemerkt  Schilling: 
„j  am  Ende  des  Wortes  ist  kaum  hörbar."  Ich  weifs  nicht,  ob  und  wo 
eiwa  eine  derartige  Aussprache  des  Wortes  üblich  ist,  weifs  aber,  dafs  die 
gewöhnliche  die  mit  tiefem  ach-Laut  ist  (daneben  erwähnt  die  GrHmmatik 
von  Keil  die  Aussprache  relös).  Die  dürftige  Behandlung  der  Aussprache 
ist  um  so  mehr  zu  bedauern,  als  der  Verfasser,  wie  ich  aus  dem  Vorworte 
der  ersten  Auflage  ersehe,  sich  fünfzehn  Jahre  in  Spanien  aufgehalten  hat 
und  daher  wohl  befähigt  sein  dürfte,  uns  über  spanische  Aussprache  gründ- 
lich zu  belehren.  (AA'enigstens  widerspricht  dem  das  \'orhandensein  der 
obigen  Irrtümer  noch  nicht;  es  lug  diesen  nicht  sowohl  mangelhafte  Beob- 
achtung, als  vielmehr  eine  unrichtige  theoretische  Auffassung  zu  Grunde, 
die  der  Kundige  schon  zu  korrigieren  wissen  wird.)  Einer  solchen  Beleh- 
rung bedürfen  wir  sehr.  Hat  doch  auch  Paul  Förster  manches,  so  be- 
sonders die  spanistihen  Diphthongen  so  gut  wie  ausschliefslich  auf  Grund 
der  metrischen  Messung  behandelt ;  was  aber  z.  B.  metrisch  als  einsilbig 
gilt,  braucht  es  darum  nicht  der  physiologischen  Artikulation  nach  zu  sein. 
(Referent  gedenkt  den  kommenden  Sommer  in  Spanien  zuzubringen  und 
verspricht  für  diesen  Fall  Mitteilung  seiner  phonetischen  Beobachtungen. 
Mit  der  Veröffentlichung  einer  im  wesentlichen  bereits  ausgearbeiteten  Ab- 
handlung über  spanischen  V'ersbau  will  er  gleichfalls  bis  dahin  warten,  weil 
er  sowohl  seine  Ansichten  über  die  physiologischen  Grundlagen  der  Metrik 
erst  prüfen,  als  auch  Lesung  und  Vortrag  spanischer  Verse  von  den  Natio- 
nalen selbst  hören  will.)  Bei  Schmitz  ist  die  Behandlung  der  Aussprache 
zwar  etv^'as  umfänglicher,  dafür  aber  auch  um  so  fehlerjiafter.  Von  den 
nasalen  einfachen  Vokalen  ist  nur  a  erwähnt  (aufserdem  die  nasalen  Diph- 
thongen). Ein  o  mit  dem  accento  agudo  soll  gleich  offenem  o,  wie  in  dem 
deutschen  Worte  „Pol",  lauten,  z.  B.  nd  Knoten;  statt  des  deutschen  „Pol", 
dessen  o  geschlossen  ist,  hätte  franz.  „mort"  als  Beispiel  »gewählt  werden 
sollen:  jedoch  ist  der  port.  Laut,  wenn  er  betont  ist,  noch  ein  wenig  offener. 


432  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

(S.  darüber  R  Goncalves  Vianna,  Etüde  de  phonologie  porlugaise.  in  Rom. 
XII,  S.  33.)  c  vor  e,  i  soll  wie  s  lauten.  Es  hat  aber  natürlich  den 
stimmlosen  Laut  (und  zwar  ist  es,  wie  Vianna,  1.  c.  6.  53,  bemerkt,  nicht 
völlig  gleich  frz.  c  vor  e,  i,  y,  sondern  „produit  plus  en  arriere  par  le  dos 
de  l;i  lauiiue,  non  pas  avec  son  extremlte").  Man  soll  ac9ao  sowohl  aks — 
(soll  heifsen  akfs— )  als  auch  afs —  lauten  können,  die  erstere  Aussprache 
ist  indessen  falsch,  g  in  geral  mit  ..sch"  zu  bezeichnen,  ist  unrichtig. 
Digno  wird  nach  Schmitz  wie  dingnu  gesprochen,  aber  unser  deutscher 
ng-Laut  existiert  im  Portugiesischen  gar  nicht.  Dafs  Ih,  nh  =  Ij,  nj  lauten, 
ist  ungenau.  Die  Aussprache-Notierung  cujo  für  das  Wort  cujo  (S.  6)  be- 
ruht wohl  blofs  auf  einem  Druckfehler.  —  Etwas  mehr  Belehrung  über 
portugiesische  Aus.-äprache  giebt  uns  nun  allerdings  ein  *weit  hinten,  am 
Sclduls  der  Formenlehre  angefügtes  Kapitel  (Lekt.  31),  welches  „Allgemeine 
Bemerkungen"  überschrieben  ist  und  zunächst  eine  Anzahl  Homonymen,  so- 
dann einige  in  der  Betonung  verschiedene  und  endlich  solche  Wörter  auf- 
führt, von  welchen  je  zwei  gleichlautend  sind  bis  auf  die  das  eine  Mal  offene, 
das  andere  Mal  geschlossene  Aussprache  des  betonten  Vokals.  (Es  folgen 
dann  noch  Bemerkungen  über  einige  durch  den  Wohllaut  bedingte  Flexions- 
erscheinungen und  Angaben  über  spanische  Titel  und  Anreden.)  Als  Ho- 
monymen werden  richtig  bezeichnet  z.  B.  acto  (der  Akt)  und  aro  (ich  ver- 
binde), welche  beide  =  atu  lauten;  fato  (Kleidungsstücke)  und  facto  (That- 
sache),  beide  =  fatu.  Wenn  dagegen  pello  (Haar)  und  pelo  (durch  den) 
als  Homonyme  angeführt  werden,  so  ist  dazu  doch  zu  bemerken,  dafs  e  in 
pelo  meist  reduziert  ist;  sonst  hat  es  allerdings  den  geschlossenen  Laut. 
Nös  (wir)  und  noz  (Nufs),  sowie  vös  (ihr)  und  voz  (Stimme)  sind  nur  in 
Tras-os-Montes  homonym  (auch  wohl  nur  in  einem  Teile  von  Träs-os-Mon- 
tes),  sonst  aber  geschieden.  In  Träs-os-Montes  wird  allerdings  die  Sonora 
im  Wortauslaute  zur  Surda.  (Vianna,  a.  a.  O.  S.  53.)  Im  ganzen  um- 
gangen sind  in  der  S  chmitz  sehen  Liste  die  Wörter,  welche  in  der  Flexion 
einen  Wechsel  zwischen  offenem  und  gesclilossenera  Laute  zeigen;  so  devo 
(mit  e),  di've;  formoso,  formosa;  como  comes  come.  Der  Aufzählung  schickt 
der  Verfasser  die  Erklärung  voran:  „Unter  homonymen  \\örtern  versteht 
man  im  Gegensatz  zu  den  synonymen  solche,  die  bei  gleicher  Aussprache 
verschiedene  Bedeutung  haben."  Synonyme  und  Homonyme  bilden  doch 
keinen  Gegensatz!  Der  Ausdruck  „gleiches  ürthograph"  für  „gleiche  Or- 
thographie, Schreibweise"  ist  undeutsch.  ^^'as  weiterhin  die  Zusammen- 
sitllung  von  Wörtern  betrifl't,  welche,  im  übrigen  gleichlautend,  sich  durch 
die  Lautnüance  des  Tonvokals  voneinander  unterscheiden,  so  würde  die- 
selbe recht  verdienstlich  sein,  wenn  die  Lautqualität  auch  dabei  angegeben 
wäre.  Es  handelt  sich  ausschliefslich  um  Wörter  mit  den  Tonvokalen  e 
und  o,  und  wir  erfahren,  dafs  der  accentuierte  Vokal  immer  in  dem  einen 
Worte  geschlossen  und  in  dem  auiieren  offen  ist.  Aber  es  wird  uns  nicht 
mitgeteilt,  in  welchem  er  offen,  in  welchem  er  geschlossen  ist.  Auch  ist 
die  Anordnung  nicht  einmal  so,  dafs  alle  Wörter  mit  offenem  Tonvokal  in 
der  einen,  alle  mit  geschlossenem  in  der  anderen  Spalte  ständen.  So  stehen 
rechts  zwar  meist  Wörter  mit  offenem  Vokal,  aber  auch  pör  (setzen)  und 
se  (sei)  mit  geschlossenem  o  bezw.  e.  Und  was  die  daneben  gestellten  .por 
(durch ;  und  se  (wenn)  angeht,  so  dürfte  letzteres  doch  wohl  mit  se  homo- 
nym sein,  p^T  aber  hat  u.  Richtig  ist,  dafs  olho  (ich  sehe)  o,  ölho  (Auge) 
dagegen  (.)  hat,  dagegen  erscheint  in  dem  Plural  des  letztgenannten  Wortes 
wieder  o.  Medo  (Medien)  und  medo  Furcht  werden  unterschieden,  in  der 
That  hat  letzteres  e,  trotz  lat.  e  (span.  regelrecht  ie),  wie  umgekehrt  lat. 
metam  ein  moda  ergeben  hat.  Es  liätten  auch  noch  gegenübergestellt  wer- 
den können  forma  (mit  o)  als  volkstümliches  und  f(|rma  als  gelehrtes  Wort 
(\'iaima,  a.  a.  0.,  S.  97).  Neben  do,  dem  Genetiv  des  Artikels,  und  do 
(Kummer)  wäre  noch  dou  (gebe)  zu  setzen  gewesen,  das  =  do  ist.  Der 
Diphthong  ou  ist  nämlich,   bis  auf  den  Norden,    zu  geschlossenem   o  verein- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  433 

facht.  So  belehrt  uns  Vianna  (a.  a.  O.,  S.  61),  welcher  hinzufügt:  „II 
est  generalement  indifferent,  surtout  devant  r,  de  prononcer  et  d'ecrire  ou 
ou  oi  (6  ou  Ol)."  In  dem  sich  an  die  Ausspracheregeln  anschliefsenden  Kapitel 
über  den  prosodischen  Accent  ist  die  Kegel  1.  f:  „Auf  der  drittletzten 
Silbe  haben  den  Accent  die  meisten  aus  dem  Lateinischen,  Griechischen 
oder  Arabischen  herkommenden  Wörter,  z.  B.  carnivoro,  syndnimo,  alfän- 
dega"  in  dieser  Allgemeinheit  natürlich  unrichtig. 

Was  nun  den  eigentlichen  grammatischen  Teil  anlangt,  so  ist  dessen 
Behandlung  in  den  beiden  Büchern  insofern  gleichartig,  als  zuerst  die  Wort- 
arten (ungenau  heifst  es  dafür  in  der  Vorrede  Schillings  „Redeteile") 
der  Reihe  nach  erörtert  werden  und  hieran  sich  eine  kurzgefafste  Darstel- 
lung der  Syntax  schliefst.  Nur  sind  bei  Schmitz  die  Klassen:  Adjektiva 
(OS  adjectivos),  Numeralia  (os  numeraes)  und  Pronoraina  (os  pronomes)  von 
vornherein  durchaus  getrennt,  während  Schilling  dieselben  —  jedoch  von 
den  Pronominen  natürlich  nur  die  adjektivischen  —  als  adjetivos  zusammen- 
fafst  und  diese  sodann  in  adjetivos  determinativos  und  adjetivos  calificativos 
scheidet,  eine  Einleitung  und  Terminologie,  welche  ja  der  spanischen,  wie 
auch  der  französischen  Grammatik  geläufig  ist;  zu  den  ersteren  (den  adje 
tivos  determinativos)  gehöien  nun  auch  die  Zahlwörter,  adjetivos  numerales. 
Dieser  Abschnitt,  sowie  auch  der  über  das  Substantiv,  ist  bei  Schilling 
recht  gut;  der  Inhalt  ist  richtig  und  ziemlich  vollständig,  die  Darstellung 
klar,  so  dafs  wenig  Ausstellungen  zu  machen  sind.  Die  Bedeutung  von  todo, 
a  in  'todo  un  raes,  todos  los  dias'  ist  doch  nicht  „adverbial",  wie  S.  42 
(Lekt.  10,  §  2)  gesagt  wird.  Von  mismo  —  das  Schmitz  zu  den  Demon- 
strativen rechnet,  während  andere  es  (jedenfalls  weniger  richtig)  als  ein 
Indefinitum  ansehen,  Wiggers  ihm  als  „präcisierendem  Fürwort"  eine  be- 
sondere Stelle  anweist  —  heifst  es  S.  32  (Lekt.  8,  §  4):  „Steht  jedoch 
mismo  etc.  nach  einem  Haupt-  oder  Fürwort,  so  bedeutet  es  selbst, 
sogar."  Bekanntlich  steht  aber  mismo  in  der  Bedeutung  „sogar"  zwischen 
Artikel  und  Substantiv  (Las  mismas  mujeres  fueron  raatadas).  Nach  den 
Beispielen  zu  schliefsen  (Yo  mistno  he  visto  al  jardinero  ich  selbst  oder 
sogar  habe  den  Gärtner  gesehen),  begeht  Schilling  den  Fehler  nicht  in 
der  Anwendung  des  spanischen  Wortes,  sondern  in  der  des  deutschen 
„sogar",  das  er  für  „selbst",  als  Gegensatz  zu  dem  Begriffe  des  „anderen", 
gebraucht.  „Uhrchen"  (S.  29  im  Tema)  ist  wohl  nicht  deutsch.  —  Bei 
Schmitz  sind  einige  der  Genusregeln  so  allgemein  gefafst,  dafs  die  Zahl 
der  Ausnahmen  unübersehbar  ist  und  also  die  Regeln  ziemlich  wertlos  wer- 
den. Die  Ablativtheorie  spukt  auch  in  diesem  Buche:  a  caridade,  a  virtude, 
heifat  es  S.  12  (Lekt.  4),  sind  von  den  lateinischen  Ablativen  auf  täte  und 
Ute  abgeleitet.  Vermutlich  ist  dies  allerdings  nicht  im  Sinne  derd'Ovidio- 
schen  Theorie  gesagt,  sondern  lediglich  auf  die  äufserliche  Gleichheit  der 
lateinischen  Ablativ^  und  der  portugiesischen  Endung  gestützt.  S.  33  (Lekt. 
1 1):  „Will  man  genau  den  Accusativ  vom  Nominativ  unterscheiden,  so  setzt 
man  dem  Fürwort  noch  den  bestimmten  Artikel  vor;  z.  B.  o  meu  filho, 
meinen  Sohn.  Dasselbe  geschieht  auch  häufig  im  Nominativ."  Und  doch 
sollen  durch  den  Gebrauch  oder  Nichtgebrauch  des  Artikels  die  Kasus 
unterschieden  werden?  Die  Regel;  „Folgt  ein  Zahlwort  auf  einen  Kompara- 
tiv, so  wird  analog  dem  Französischen  „als"  nicht  mit  que,  sondern  mit  de 
übersetzt",  bedarf  derselben  genaueren  Fassung  wie  im  Französischen.  O 
que  in  dem  Satze:  „Recebeu  algumas  feridas,  o  que  (e  isto)  foi  causa  da 
sua  morte"  ist  (S.  38,  Lekt.  13,  a)  richtig  erklärt,  aber  die  Übersetzung 
(„er  empfing  einige  Wunden,  welche  die  Ursache  seines  Todes  waren")  ist 
unrichtig,  wenn  auch  bei  dem  vorliegenden  Beispiel  inhaltlich  kein  Unter- 
schied ist.  —  Auch  die  Behandlung  des  Verbums  ist  bei  beiden  Verfassern 
im  ganzen  durchaus  zu  loben.  Schmitz  hat  sich  in  solchen  Fällen  bei  den 
unregelmäfsigen  Verben,  wo  die  Formen  noch  miteinander  ringen,  meist, 
wie  es  scheint,  an  den  (Trammatiker  de  Oliveira  gehalten;  eine  Belehrung 

Archiv  f.  n.  Sprachen.    LXXIII.  28 


434  Beurteilunoren  und  kurze  Anzeigen. 


jgV,..  V...V.  ..VA.^V.  .......    .jg. 


darüber,  dafs  u  und  o  in  den  Infinitiven  acudir,  bnllr  (bolir)  tiissir  ftossir"», 
cobrir  lautlich  identisch  i?ind  und  die  Verschiedenheit  der  herkömmlichen 
^Schreibung  nur  in  der  Etymologie  ihren  Grund  hat,  werden  wir  natürlich 
bei  der  geringen  Aufmerksamkeit,  mit  welcher  die  Aussprache  gleich  in  dem 
ihr  besonders  gewidmeten  Kapitel  behandelt  ist,  gar  nicht  erwarten.  Eine 
genaue  Aussprache- Angabe  (acudir.  acudo,  acodes,  acode)  wäre  aber  doch 
recht  wünschenswert  gewesen.  —  Verhalt nismäfsig  am  meisten  giebt  bei 
Schilling  zu  Ausstellungen  Anlafs  das  Kapitel  über  die  substantivi- 
schen Pronomina  (Lekt.  23  und  24),  welches  —  wie  mir  scheint,  etwas  un- 
zweckmäfsig  —  zwischen  die  regelmäfsigen  und  unregelmäfsigen  Verba  ein- 
geschoben ist.  Wenn  es  S.  138  heifj.t,  die  Kelativ-Pronomen  (sie)  „dekli- 
nieren alle  mit  de  und  li",  so  ist  diese  intransitive  Anwendung  des  Verbums 
„deklinieren"  im  Deutschen  doch  wohl  zu  verwerfen.  Auf  der  nändichen 
Seite  (Lekt.  23,  §  2)  wird  von  quien,  quienes  gesagt:  „Bezieht  es  sich  auf 
ein  vorangehendes,  hinweisendes  Fürwort,  so  wird  letzteres  stets  weggelas- 
sen; el  quien,  la  quien  etc.  sind  im  Spanischen  nicht  gebräuchlich."  Das 
Demonstrativpronomen  wird  weggelassen;  und  doch  geht  es  voran?  §  4 
wird  die  Kegel  aufgestellt:  „Unser  deutsches  Relativum  „was",  wenn  es 
sich  auf  einen  vorangehenden  Satz  bezieht,  wird  im  Spanischen  mit  lo  que 
oder  mit  cuanto  gegeben."  Was  soll  hier  cuanto?  Und  von  den  drei  Bei- 
spielen, welche  Schilling  giebt,  pafst  kein  einziges  hierher.  Dieselben 
lauten  nämlich :  Juan  no  sabe  lo  que  quiere.  —  Deseamos  ä  veces  lo  que 
menos  falta  nos  hace.  —  No  creo  nada  de  todo  (lo  que  oder)  cuanto  Pedro 
nos  ha  dicho.  In  §  7  ist  der  spanische  Satz:  Achi  estä  el  pobre  de  quien 
te  quejaste  tanto  —  übersetzt:  „Dort  ist  der  Arme,  dessen  (über  den)  du 
dich  so  sehr  beklagtest."  Der  falsche  Genetiv  „dessen"  steht  hier  deswegen, 
weil  die  Regel,  zu  der  der  Satz  ein  Beleg  sein  soll,  lautet:  „Dessen  ohne 
darauffolgendes  Hauptwort  heifst  de  que  oder  bei  Personen  de  quien." 
Die  erste  Hegel  in  Lekt.  24  enthält  einen  leider  immer  mehr  einreifsenden 
deutschen  .Sprachfehler  (der  aber  eben  deswegen  um  so  mehr  getadelt  wer- 
den mufs),  nämlich  eine  Inversion  nach  „und".  Eine  sehr  schlechte  Aus- 
drucksweise fallt  mir  auch  S.  178  (in  der  ersten  Anmerkung)  auf:  „Das 
französische  forcer  zwingen,  heifst  obligar."  Etwas  komisch  wird  S.  187 
(Lekt.  30,  erste  Anmerkung)  gesagt:  „So  oft  in  der  Kortjugation  der  V'er- 
ben  desleir,  engreir,  freir,  reir  etc.  zwei  i  zusammentreffen,  wird,  laut  Be- 
schlufs  der  spanischen  Akademie,  eines  derselben  elidiert  und  zwar 
des  Wohlklanges  wegen."  S.  184:  „Durch  Weglassen  des  persönlichen 
.^ccusativs  (in  dem  Satze:  Yo  aborrezsco  tanto  un  hombre  .  .  .)  wird  noch 
mehr  Mifsachtung  ausge<lrückt."  (Ebenso  schon  S.  138:  „Der  persönliche 
Accusativ  fällt  bei  dem  Relativpronomen  que  auch  aus.")  Es  fallt  doch 
nicht  der  persönliche  Accusativ  aus,  sondern  nur  die  zu  seiner  Bildung  die- 
nende Präposition  ä  Und  ähnliche  Unrichtigkeiten  und  Ungenauigkeiten 
im  deutschen  Ausdruck  wären  noch  manche  zu  rügen.  ^^  Auf  die  unregel- 
mäfsigen und  mangelhaften  Verba  folgt  ein  Kapitel:  „Übersetzung  einiger 
dt-utschen  Hilfsverben."  Dort  heifst  es  auf  S.  234  (Lekt.  37,  §  4):  „Sollen 
kann  auch  mit  querer  übersetzt  werden;  z.  B.  ^Que  quiere  decir  esto?  — 
f,Quiere  Vd.  que  se  lo  diga  otra  vez?  —  ^;Quieres  que  me  vaya?"  In  dem 
zweiten  und  dritten  Satze  ist  der  Gebrauch  von  querer  offenbar  ein  ganz 
anderer  als  in  dem  ersten,  urld  nur  in  diesem  (dem  ersten)  ist  sollen  „mit 
querer  übersetzt".  Unmittelbar  nachher:  „Sollen,  müssen  wird  jedoch 
gewöhnlich  mit  deber  gegeben,  oder  durch  das  Futuro,  besonders  im 
Dekalog  (I)  und  überhaupt,  wo  es  eine  moralische  Pflicht  ausdjrückt."  Dafs 
„lassen"  durch  „ser"  gegeben  werden  könne,  wie  in  §  7  b  der  nämlichen 
Lektion  gelehrt  wird,  versteht  man  nicht  recht;  gemeint  ist:  es  de  (z.  B. 
prever)  es  läfst  sich  (voraussehen).  —  Lekt.  38  behandelt  die  Adverbien. 
Zu  dem  Satze:  Juan  es  mas  hombre  que  su  hermano,  wird  (S.  241)  bemerkt: 
„Das  Wort  hombre  ist  im  letzten  Beispiel  adjektivisch  gebraucht",   was  un- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  435 

richtig  ist.  Das  Wort  deribado  (abgeleitet)  ist  S.  241  —  2-1:3  eigentümlicher- 
weise dreimal  mit  doppeltem  r  gedruckt.  S.  242:  „Folgen  sich  nun  meh- 
rere solcher  Adverbien  [nämlich  auf  mente],  so  wird  nur  dem  letzten  der- 
selben die  Silbe  mente  [mente  sind  übrigens  zwei  Silben]  angehängt;  die 
auf  a  endigenden  Formen  werden  meist  vorangestellt,  und  dadurch  der  Üt'er- 
gang  ins  Adverb  ausgedrückt,  was  auch  den  Wohlklang  bedeutend  erhöht." 
VV^elch  ungeschickte  AusiJrucksweise!  Die  grammatische  Beziehung  des 
„was"  ist  eine  ganz  verkehrte.  S.  244  (§  10):  „Die  deutschen  Adverbien 
„sogar,  selbst"  werden  auch  mit  hasta  gegeben."  In  den  beiden  angeführ- 
ten Belegsätzen  steht  aber  nicht  einfaches  hasta,  sondern  hasta  el  mismo. 

Es  bleibt  noch  der  syntaktische  Teil  zu  besprechen.  Bei  Schilling 
wird  die  Syntax  ziemlich  kurz  behandelt.  Die  Lehre  von  den  Temporibus  und 
Modis  umfafst  zwar  23  von  den  51  im  ganzen  der  Syntax  gewidmeten  Seiten, 
ist  jedoch  lange  nicht  so  reichhaltig  und  umständlich  wie  z.  B.  bei  Wig- 
gers.  Denn  während  sie  bei  diesem  volle  46  Seiten  füllt,  kommen  von 
den  23  bei  Schilling  noch  stark  10  in  Abzug,  welche  Vokabeln,  Über- 
setzungs-  und  Konversationsstoflf"  enthalten,  —  eine  Partie  des  Buches,  von 
welcher  wir  weiter  unten  noch  besonders  reden  müssen.  Natürlich  hängt 
dies  mit  der  Verschiedenheit  der  Zwecke  beider  Bücher  zusammen:  Wig- 
gers  will  eine  Spracherkenntnis  vermitteln,  zwar  keine  geschichtliche,  son- 
dern blofs  eine  rationelle;  unserem  Verfasser  ist  es  hauptsächlich  um  ein 
praktis(;hes  Ziel  zu  thun.  Diesem  Zwecke  entspricht  die  Behandlung  durch- 
aus. Allerdings  hätte  beim  Gerundium  mit  en  (S.  280,  Lekt.  42,  §  9)  hin- 
zugefügt werden  sollen,  dafs  dasselbe  im  Unterschiede  vom  reinen  Gerun- 
dium nur  zeitliche,  nicht  kausale  Bedeutung  hat.  Auch  ist  das  absolute 
Particip  ungenügend  erklärt,  wenn  es  (ebendort  §  11)  heifst :  „Das  Particip 
steht  oft  vereinzelt,  jedoch  nur  scheinbar,  da  man  sich  die  Gerundien  siendo, 
estando  oder  habiendo  sido  dabei  denken  mufs;  z.  B.  Sembrados  los  trigos 
podemos  hacer  un  viaje.  (Siendo  sembrados.)"  Die  richtige  Erklärung 
würde  schwerlich  mehr  Kaum  in  Anspruch  genommen  haben.  Das  Plusquam- 
perfekt soll  die  „Längstvergangenheit"  ausdrücken  (S.  291,  Lekt.  43,  §  11), 
wofür  es  natürlich  „Vorvergangenheit"  heifsen  mufs.  —  Ziemlich  vollständig 
ist  die  Lehre  vom  Gebrauch  des  Artikels.  —  An  den  Abrifs  der  Syntax 
schliefsen  sich  ein  recht  praktisches  Kapitel  über  die  Phraseologie  einiger 
Zeitwörter,  und  ein  recht  überflüssiges  über  spanischen  Satzbau. 

Ausführlicher  und  im  ganzen  recht  hübsch  ist  die  Darstellung  der  Syn- 
tax bei  Schmitz.  Wenn  das  Buch  auch  vorwiegend  dem  gesellschaft- 
lichen und  geschäftlichen  \  erkehr  zu  dienen  beabsichtigt,  so  ist  doch  gerade 
diese  Partie  auch  denjenigen  sehr  zu  empfehlen,  welche  mit  dem  Studium 
des  Portugiesischen  litterarische  Zwecke  verfolgen.  Wenigstens  besitzen 
wir  eine  bessere  Darstellung  der  portugiesischen  Syntax  meines  Wissens 
nicht.  (Die  des  Herrn  von  Bei  n  har  d  s  tö  ttner  z.  B.  ist  entschieden 
schwächer.)  —  S.  164:  „Andere  Adjektiva  haben  nur  komparativische  Be- 
deutung und  können  nicht  durch  mais  gesteigert  werden,  wie  exterior,  in- 
terior,  anterior,  posterior,  superior,  inferior;  nur  im  Geschäftsleben  sagt  man 
zuweilen :  esta  fazenda  e  muito  superior,  diese  Ware  ist  von  viel  besserer 
Qualität."  Die  genannten  Adjektiva  lassen  keine  weitere  Komparierung  zu, 
aber  doch  eine  Verstärkung  z.  B.  durch  muito,  und  keineswegs  ist  diese  auf 
den  Geschäftsstil  beschränkt.  Ebendaselbst  wird  der  Grund,  warum  Adjek- 
tiva wie  portuguez,  corporeo,  vencedor,  matador  nicht  kompariert  werden, 
in  deren  Ableitung  von  Substantiven,  resp.  Verben  gesucht  (und  peccador 
sündhaft  mit  dem  Komparativ  mais  peccador  als  Ausnahme  erwähnt),  wäh- 
rend offenbar  die  Bedeutung  den  Grund  enthält.  „Aufserdem  können  die- 
jenigen Adjektiva  nicht  gesteigert  werden,  die  einen  Zustand  ausdrücken, 
wie  morto  tot,  nascido  geboren,  casado  verheiratet,  desterrado  verbannt." 
Diese  Adjektiva  gehören  mit  den  ersterwähnten  zusammen;  die  Fassung: 
„die   einen  Zustand   ausdrücken"    ist    aber   einerseits   zu    weit   (vergl.    triste, 

28* 


436 


BeurteIluno;en  und  kurze  Anzeigen. 


feliz),  andererseits  zu  eng  (vergl.  portuguez).  In  linguas  meii)  barbara«:, 
hat  meio  nicht  adjektivische,  sondern  adverbialische  Funktion.  S.  176  findet 
sich  der  Satz:  „Nds  näo  o  tinbamos  avisado  wir  hatten  ihn  nicht  benach- 
richtigt", während  o  auf  S.  174  (und  auch  schon  S.  80)  als  blofs  sächliche 
Form  angerührt  worden  ist.  S.  177  :  „Statt  seu,  sua,  gebraucht  man  mei- 
stens die  Umschreibung  de  X'm.^^e  oder  do  Snr  oder  da  Snra."  Dafs  dies 
nur  von  der  zweiten  Person  gilt,  ersieht  man  zwar  sofort,  dennoch  mufste 
es  gesagt  werden.  S.  179:  „Nach  den  Ausdrücken  eis-aqui  hier  ist,  und 
eis-ali  da  ist,  hat  quem  eine  verallgemeinernde  (?)  Bedeutung;  z.  B.  eis- 
aqui  quem  vos  dini  a  verdade,  hier  ist  jemand,  der  auch  die  Wahrheit  sagen 
wird."  „Das,  was  drückt  der  Portugiese  durch  o  que  oder  durch  aquillo 
aus";  es  mufs  heifsen:  aquillo  que.  S.  185,  Z.  7  v.  o.  soll  es  statt  quem 
näo  sabe  wohl  heifsen:  quem  nada  sabe.  S.  187:  quem  muito  embarca, 
pouco  aperta  (entsprechend  dem  französischen:  qui  trop  embrasse,  mal 
etreint)  ist  doch  nicht,  wie  es  an  dieser  Stelle  sein  soll,  ein  Beispiel  für  die 
Veränderlichk(M*t  von  muito  und  pouco.  Die  sonderbare  Regel:  „Folgt  auf 
mehr  oder  weniger  ein  als,  so  setzt  man  gewönlich  de  mais,  de  menos" 
wird  erst  verständlich  durch  die  Beispiele :  eile  tem  dez  annos  de  mais  que 
tu;  tens  dois  contos  de  menos  que  eu.  S.  195:  anda  lendo  und  anda  a  1er, 
werden  unrichtig  als  bedeutungsgleich  hingestellt.  S.  200  wird  angegeben, 
dafs  bei  nem  . .  nem  das  Prädikat  „im  Singular  oder  Plural"  stehen  könne; 
soweit  meine  Kenntnis  reicht,  ist  (bei  singularischem  Subjekt)  der  Plural 
wenig  gut.  S.  204  ist  die  Regel  ül3er  den  Konjunktiv  nach  Konjunktionen 
(und  dem  Relativpronomen)  augenscheinlich  viel  zu  allgemein  gefafst. 
S.  211:  „Die  [Adverbial-]Endung  mente  kann  in  verschiedener  Weise  er- 
klärt werden:  erstens  als  Ablativus  des  lateinischen  mens,  mentis  Absicht; 
zweitens  leitet  man  es  her  von  dem  keltischen  Substantiv  ment,  welches 
Weise  bedeutet."  Die  zweite  Erklärung  möge  der  Verfasser  getrost  strei- 
chen. —  Ein  Anhang  giebt  einiges  aus  der  portugiesischen  Lautlehre  (wobei 
die  verschiedenen  Entwickelungen  des  nämlichen  Lautes  der  Grundsprache 
rein  äufserlich  und  anscheinend  als  gleichberechtigt  nebeneinander  gestellt 
sind)  und  die  hauptsächlichen  Daten  der  Litteraturgeschichte. 

Wenn  wir  zum  Schlufs  noch  etwas  iiber  die  mit  der  Grammatik  ver- 
bundenen Übersetzungs-  und  sonstigen  Übungsstoffe,  welche  ebenfalls  in 
den  beiden  Büchern  ganz  gleichartig  sind,  sagen  sollen,  so  sind  auch  diese 
im  ganzen  recht  praktisch;  um  sie  im  einzelnen  beurteilen  zu  können, 
müfste  man  die  beiden  Lehrbücher  einmal  dem  Unterrichte  zu  Grunde  ge- 
legt haben.  Hierzu  fehlte  dem  Referenten  die  Gelegenheit.  Die  Exercicios 
(spanisch-deutsche  Übersetzungsstoffe)  und  Temas  (deutsch-spanische)  bezw. 
Exercicios  und  Temas  führen  recht  gut  in  die  Umgangs-  und  Schriftsprache 
ein,  wenn  sich  auch,  hauptsächlich  im  Anfange,  hier  und  da  eine  Plattheit 
;i  la  Ollendorff'  einschleicht.  Es  folgt  meist  ein  Abschnitt:  Conversacion 
(Conversacao)  —  hinter  einem  zusammenhängenden  Stücke  auch  wohl  als 
Rekapitulacion  sich  über  deren  Inhalt  erstreckend  —  welcher  sich  sehr  zum 
Auswendiglernen  eignen  dürfte. 

Im  ganzen  sind  die  spanische  Grammatik  von  Schilling  und  die 
portugiesische  Grammatik  von  Schmitz  trotz  einiger  Mängel  für  die  prak- 
tischen Zwecke  unter  allen  mir  bekannten  Lehrbüchern  die  besten. 

Dr.  Franz  Lütgenau. 


Franz    Hirsch,    Geschichte    der  Deutschen    von   ihren  Anfängen 
bis  auf  die  neueste  Zeit.    Leipzig  u.  Berlin,    W.  Friedrich. 

Deutsche  Litteraturgeschichten  giebt  es  wie  Sand  am  Meere  Die 
wenigsten  davon  sind  indessen  wirklich  lesbar.  Der  eine  Verfasser  ist  zu 
gelehrt,  der  andere  zu  oberflächlich.    Dieser  begnügt  sich  mit  weitschicbtigen 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  437 

biblio<;raphischen  Nachweisungen,  jener  erdrückt  sein  Werk  mit  kritischen 
Ausführungen,  welche  das  Bild  des  Dichters  und  Schriftstellers  gleichsam 
verdecken.  Und  doch  sollte  letzteres  die  Hauptsache  sein.  Denn  aus  einer 
Litteraturgeschichte  will  man  doch  eben  die  Dichter  und  Schriftsteller  selber 
kennen  lernen,  nicht  nur  die  Meinungen  des  Verfassers.  Sie  sollen  seine 
Schilderungen  fest  und  deutlich  zeichnen,  dafs  wir  eine  Vorstellung  von 
ihren  Werken  und  ihrem  \\irken  bekommen.  Nur  eine  solche  Darstellung 
wird  zugleich  anregend  genug  sein,  dafs  wir  uns  von  der  Geschichte  zu  den 
Thaten,  d.  h.  zu  den  Büchern  wenden.  Die  meisten  Litterarhistoriker  wollen 
eine  solche  Anregung  g.'ir  nicht  geben.  Sie  kommen  der  Neigung  des  deut- 
schen Publikums  entgegen,  welches  bekanntlich  lieber  über  die  Bücher,  als 
diese  selbst  liest.  Fragt  man  sich  scbUefslich,  was  man  aus  einem  solchen 
Werke  erfahren  hat,  so  beschränkt  es  sich  besten  Falles  darauf,  dafs  der 
Autor  ein  geistreicher  Mann  ist. 

Die  Geschichte  der  deutschen  Litteratur  von  Franz  Hirsch  macht 
in  dieser  Beziehung  eine  rühmliche  Ausnahme.  Sie  verrät  gründliches 
Wissen,  ist  aber  trotzdem  leicht  und  volkstümlich  geschrieben.  Überall 
tritt  uns  eine  eigene  Meinung  entgegen,  aber  der  Stoff  kommt  darüber  nicht 
zu  kurz.  Man  mag  mit  Hirsch  nicht  immer  übereinstimmen,  stets  hat  man 
das  erfreuliche  Gefühl,  dafs  er  bei  der  Sache  ist,  dafs  ihn  echte  Begeiste- 
rung führt  und  er  diese  auch  im  Leser  zu  erwecken  bestrebt  ist. 

Davon  legt  schon  die  Schilderung  der  mittelalterlichen  Poesie  Zeugnis 
ab.  Hier  ist  nichts  von  Voreingenommenheit  gegen  das  ritterliche  Zeitalter 
des  Glaubens  zu  spüren;  selbst  den  beiden  grofsen  Gegensätzen,  Wolfram 
von  Eschenbach  und  Gottfried  von  Strafsburg,  wird  Hirsch  in  objektivster 
Weise  gerecht.  Interessant  ist  seine  Stellung  zu  der  Roswitha-  und  Nibe- 
lungen-Frage. Unter  dem  Namen  der  gelehrten  Nonne  Roswitha  von  Gan- 
dersheim  besitzen  wir  bekanntlich  eine  Anzahl  lateinischer  Komödien,  welche 
Heiligenlegenden  behandeln.  Vor  einigen  Jahren  hat  nun  ein  Wiener  Ge- 
lehrter. Aschbach,  nachzuweisen  versucht,  dafs  diese  Komödien  eine  grofs- 
artige  Fälschung  sind,  und  ihr  eigentlicher  Verfasser  der  berühmte  Humanist 
Konrad  Geltes  ist.  Hirsch  tritt  dieser  Hypothese  in  vollstem  Umfange  bei, 
die  Aschbach  vornehmlich  auf  stilistische  und  sprachliche  Gründe  gestützt 
hat.  Man  braucht  in  der  That  nur  die  Inhaltsangabe  jener,  trotz  der  darin 
auftretenden  Heiligen,  höchst  bedenklichen  Komödien  zu  lesen,  um  sich  zu 
sagen,  dafs  in  diesem  Tone  allenfalls  ein  Humanist  der  Renaissance,  nicht 
aber  eine  Nonne  im  alten  Sachsenland  zur  Zeit  Kaiser  Ottos  I.  dichten 
konnte.  Allerdings  bat  man  gerade  deshalb  oft  ein  Langes  und  Breites 
über  Roswithas  Naivetät  und  die  Unbefangenheit  jener  frühen  Zeiten  ge- 
schrieben, allein  das  sind  im  Grunde  doch  nur  Phrasen,  die  das  Unerklär- 
liche erklären  sollen. 

Eignet  sich  Hirsch  hier  die  scharfe  moderne  Kritik  an,  so  macht  er 
beim  Nibelungenliede  dagegen  Front  und  tritt  der  Lachmannschen  An- 
schauung, als  sei  das  grofse  Epos  wie  durch  ein  Wunder  aus  allerhand 
Volksballaden  zusammengewachsen,  entschieden  entgegen.  Lachmanns  Ver- 
such hatte  bekanntlich  den  vornehmsten  Zweck,  der  berühmten  Theorie 
F.  A.  Wolffs  über  die  Entstehung  der  homerischen  Epen  etwas  Gleich- 
wertiges an  die  Seite  zu  setzen.  Müllenhoff,  der  Schüler  Lacbmanns,  hat 
dann  dasselbe  für  die  Gudrun  unternommen.  Schade,  dafs  nicht  noch  ein 
Epos  vorhanden  war,  an  dem  man  seine  Kunst  hätte  üben  können.  Unsere 
grofsen  Dichter  wollten  schon  von  Wolffs  Ansichten  nichts  wissen.  Wir 
meinen,  dafs  ein  Dichter  in  dieser  Beziehung  doch  noch  mehr  versteht  als 
ein  Kritiker.  So  gut  wie  man  bei  Homer  und  den  Nibelungen  den  indivi- 
duellen Dichter  wegdisputiert,  könnte  man  auch  Firdusi  in  die  Mythologie 
verweisen.  Sehr  richtig  macht  Hirsch  darauf  aufmerksam,  wie,  wenn  es 
genügte,  Widersprüche  und  stilistische  Ungleichheiten  aufzufinden,  ein 
l^achmann    der    Zukunft    vielleicht    noch    zu    dem    Schlüsse    kommen    wird. 


438  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

Schillers  Wallenstein  und  Goethes  Faust  seien  gleichfalls  nicht  das  Werk 
eines  einzelnen.  Übrigens  vergleiche  man  einmal  das  Nibelungenlied,  oder 
besser  noch:  die  von  Lachmann  ausgesonderten  angeblichen  Urlieder  mit 
denjenigen  Liedern  der  Edda,  welche  die  Siegfried- Sage  behandeln.  Hier 
alles  ballailenartige  Konzentration,  die  in  dramatischer  Abgeschlossenheit 
vor  uns  steht,  dort  nichts  Selbständiges,  alles  nur  aus  dem  Ganzen  ver- 
ständlich. Halten  wir  deshalb  daran  fest,  einen  Dichter  der  Nibelungen  zu 
verehren  und  lassen  wir  den  „dichtenden  \'olksgeist"  beiseite,  der  eine  Ab- 
straktion ist,  und  auch  das  kleinste  Lied  noch  nicht  zu  stände  gebracht  hat. 
Oder  glaubt  man  wirklich,  dafs  sich  allgemeine  Gedanken  in  der  Luft  plötz- 
lich zu  Versen  „verdichten",  etwa  wie   Wasserdämpfe  zu  Wolken? 

Der  erste  Teil  des  vorliegenden  Werkes  geht  bis  zum  Ausgange  des 
Mittelalters,  der  zweite  bis  Lessings  Tod.  Von  hervorragendem  Werte  sind 
hier  die  Kapitel  über  Luther  und  Hans  Sachs.  Der  Verfasser  gehört  nicht 
zu  jenen  Principienreitern,  die  um  der  religiösen  Bedeutung  der  Reforma- 
tion willen  die  vielen  moralischen  und  politischen  Schattenseiten  jener  Pe- 
riode bemänteln.  Er  schildert  zudem  Luther  weniger  vom  Standpunkte  des 
Theologen,  mehr  als  Sprachbildner,  Dichter  und  gemütstiefen  echt  deutschen 
Mann.  "  Ebenso  mit  dem  Herzen  ist  die  Würdigung  Hans  Sachsens  ge- 
schrieben. Hirsch  meint,  Sachs  nähme  in  der  damaligen  deutschen  Littera- 
tur  eine  ähnliche  centrale  Stellung  ein  wie  Shakespeare  in  der  englischen. 
Was  bei  dem  einen  die  Universalität  der  dichterischen  Fähigkeit,  ist  bei 
deni^  anderen  die  Universalität  in  der  Anhäufung  des  Stoffes.  Als  Poet 
kann  man  ja  unseren  wackeren  Schuster  nicht  neben  Shakespeare  stellen, 
aber  beide  sind  bezeichnend  für  die  Nation,  der  sie  angehören.  Wer  nicht 
zu  den  Shakespearomanen  gehört,  die  den  grofsen  Briten  mit  einem  musel- 
männischen poetischen  Monotheismus  verehren,  der  wird  das  begreifen,  und 
es  auch  nicht  belächeln,  wenn  wir  sagen,  dafs  Goethe  mit  seiner  Vielseitig- 
keit, seiner  Neigung  zur  ruhigen  Beschaulichkeit  und  echten  \'olksmäfsig- 
keit  gleichsam  ein  verklärt  wiedergeborener  Hans  Sachs  war.  Hier,  wie  bei 
jedem  Dichter,  fuhrt  Hirsch  übrigens  charakteristische  Proben  an.  Im 
Mittelalter  meist  eine  Übersetzung,  bisweilen  auch  den  Urtext.  Letzteres 
können  wir  nur  billigen,  dagegen  finden  wir  die  Manier,  die  Dichter  des 
Reformationszeitalters  in  ihrer  schaudervollen,  systemlosen  ürorthographie 
abzudrucken,  unpraktisch,  obschon  es  heutzutage  zum  litterarhistorischen 
guten  Ton  gehört.  Es  wird  uns  dadurch  unnötigerweise  das  Verständnis 
erschwert.  Das  ist  doch  so,  als  wollte  man  an  einem  silbernen  Becher  aus 
alter  Zeit  Rost  und  Schmutz  sitzen  lassen.  Gehören  diese  zum  Kunstwerk? 
Nein!  Dagegen  haben  wir  die  Kapitel  über  Gottsched  und  die  Schweizer, 
Gottsched  und  Lessing  wieder  mit  grofsem  Genufs  und  aufrichtigem  Beifall 
gelesen.  Auch  Lessing  gegenüber  bewahrt  sich  Hirsch  seine  Ruhe.  Treff- 
lich ist,  wie  er  an  der  Unfähigkeit  Lessings,  den  aufstrebenden  Goethe  zu 
verstehen,  die  Grenzen  seines  Geistes  aufzeigt.  Wer  dem  Verfasser  bis 
hierher  gefolgt  ist,  der  wird  jedenfalls  wünschen,  dafs  derselbe  seine  Arbeit 
recht  bald  zu  einem  glücklichen  Ende  führen  möge.  H.  H. 


Geschichte  der  deutschen  Volkspoesie  seit  dem  Ausgange  des 
Mittelahers  bis  auf  die  Gesienwart.  Von  Dr.  T.  H.  Otto 
Weddigeu.     München,  Verlag  von  Georg  Callvvej,  1884. 

A'erfasser  behandelt  im  vorliegenden  Werke  das  kirchliche,  das  histori- 
sche, das  erotische,  das  sociale  Volkslied;  ferner  Volksballaden  und  Roman- 
zen, didaktische  Volkspoesie  (Satire,  Pasquill,  Epigramm,  Priamel),  Fabeln, 
Sprichwörter,  Volkssagen,  Volksmärchen,  Volksbücher,  Schwanke,  poetische 
Erzählungen,  Volksromane  und  Volksschauspiele. 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  439 

Er  ist  der  "erste,  welcher  —  abgesehen  von  den  in  kein  System  gebrach- 
ten Forschungen  Uhlands  u.  s.  w.  —  uns  das  ganze  Gebiet  der  Volks- 
poesie,  dieses  ewig  frischen  Quells,  worin  die  Kunstpoesie,  wenn  sie  altert, 
sich  wieder  kraftigen  und  verjüngen  kann,  mit  Gründlichkeit  und  Liebe  uns 
vor  Augen  führt.  An  Litteraturgeschichten  haben  wir  keinen  Mangel;  aber 
eine  „Geschichte  der  deutschen  Volkspoesie"  fehlte  uns  bisher  völlig.  Wed- 
digen,  durch  seine  zahlreichen  Schriften  vorteilhaft  bekannt,  hat  überall 
mit  dem  Auge  des  Forschers  und  Dichters  gesehen,  und  so  hat  er  uns  in 
seinem  neuesten  Werke  eine  Leistung  gereicht,  welche  uneingeschränktes 
Lob  verdient.  Gewifs  sagt  er  selbst,  dafs  die  bessernde  Hand  und  nachfol- 
gende Forscher , noch  manches  nachtragen  werden,  denn  das  Gebiet  ist  fast 
unerschöpflich,  aber  man  hat  eben  zu  bedenken,  dafs  vorliegendes  Buch  der 
erste  \'ersuch  ist.  Abgesehen  davon  ist  die  Diktion,  die  Begeisterung 
für  den  Gegenstand  an  dem  Werke  so  wohlthuend,  dafs  wir  es  aufrichtig 
allen  Schul-  und  Privatbibliotheken  empfehlen  können.  Es  bildet  ein  not- 
wendiges Supplement  zu  jeder  Litteraturgeschichte,  Dr.  A. 


Elementarbuch  der  italienischen  Sprache  für  den  Schul-  und 
Privatunterricht.  Von  Sophie  Heim,  Lehrerin  des  Italieni- 
schen an  der  höheren  Töchterschule  in  Zürich.  Zweite 
durchgesehene  und  mit  einem  Wörterverzeichnis  versehene 
Auflage.    Zürich  1884.     284  Seiten. 

S.  Heims  Elementarbuch  des  Italienischen  mufs  jeder  begierig  sein  ken- 
nen zu  lernen,  der  ihre  so  anziehenden  Lesestücke  aus  neueren  italienischen 
Schriftstellern  gesehen  hat.  Die  Erwartung  wird  auch  nicht  getäuscht,  die 
gute  Bekanntschaft  mit  dem  heutigen  Gebrauche  zeigt  sich  auch  hier  in 
manchem  kleinen  Zuge,  und  macht  dem  Kenner  Vergnügen.  Dem  Titel 
entsprechend  ist  das  Buch  vorwiegend  sehr  stark  mit  Übungsbeispielen  ge- 
sättigt, so  dafs  man  u.  a.  hier  das  ganze  Einmaleins  bis  zu  24  mal  24  hinab 
in  Zahlen  gedruckt  findet,  damit  man  es  italienisch  ablese,  und  wer  im 
Rechnen  zurückgeblieben  ist,  kann  es  hier  zugleich  noch  lernen.  Bis  S  174 
reicht  die  Formenlehre,  sie  ist  einfach,  klar,  nicht  oberflächlich.  Selten  ist 
etwas  zu  erinnern.  Die  Accentlehre  ist  dürftig,  und  signör  Orazio  ist  in 
signor  Oiäzio  zu  verbessern,  wie  ich  hier  schon  zu  vielen  Grammatiken  an- 
gemerkt habe,  vgl.  meine  Sprachlehre  S.  31.  Die  Syntax  ist  in  starker  An- 
lehnung an  Fornasiari,  Sintassi  italiana  dell'  uso  moderno  nicht  ohne  Ge- 
schick abgefafst.  Eine  tiefer  gehende  Richtung,  Betrachtung  der  älteren 
Sprache  gehört  wenig  zu  der  Aufgabe  des  Buches,  und  darf  man  sie  nicht 
eigentlich  darin  suchen.  Das  Deutsche  in  dem  Buche  ist  nur  zuweilen  etwas 
ungewöhnlich;  am  meisten  ist  mir  aufgefallen,  dafs  „statt"  und  „wegen" 
immer  den  dritten  statt  des  zweiten  Falles  nach  sich  haben. 

Fr.  Müller,  Grundrifs  der  Sprachwissenschaft,  III.  Band:  Die 
Sprachen  der  lockenhaarigen  Rassen;  II.  Abteilung:  Die 
Sprachen  der  mittelländischen  Kasse,  I.Hälfte.  „Fortsetzung 
und  Schlufs  des  ganzen  Werkes  (Bogen  15  ff.,  Seite  225  ff.) 
werden  im  Laufe  des  nächsten  Jahres  erscheinen."  Wien 
1885.     224  Seiten. 

Die  in  dem  vorliegenden  Stücke  von  Fr.  Müllers  Werke  behandelten 
Sprachen  sind  die  Sprache  der  Basken  und  die  Sprachen  des  Kaukasus. 
Die  Behandlung  des  Baskischen  auf  S.  1—4  7  ist  eingehend,  mehr  als  man 
auf  dem  kleinen  Räume  erwarten  sollte,  klar  und  hübsch,  von  der  Art,  dafs 


440  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 

sie  zu  einer  genauen  Bekanntschaft  mit  dieser  Sprache  vollständig  hinrei- 
chen würde,  wenn  man  nicht  eine  etwas  stärkere  Auseinanderhaltung  und 
Schilderung  der  Mundarten,  sowie  einige  poetische  Sprachproben  vermifste. 
Mit  Recht  ist  hier  wesentlich  die  Grammaire  comparee  des  dialectes  basques 
des  \&n  Eys  zu  Grunde  gelegt  worden.  Einige  vergleichende  Blicke  auf 
amerikanische,  früher  in  diesem  Werke  behandelte  Sprachen  sind  anziehend, 
doch  bleibt  wohl  hier  noch  manches  zu  bemerken  übrig:  so  scheint  mir, 
würde  eine  Vergleichung  des  Ungarischen  und  der  vtn'wandten  Sprachen 
hier  nicht  unrichtig,  auf  vielen  Punkten  beruhend  sein  und  sich  fast  von 
selbst  aufdrängen.  "  Ich  mache  nur  auf  die  Formen  des  ungarischen  Zeit- 
wortes aufmerksam,  welche  das  Objekt  gleich  in  sich  enthalten.  Auch  wun- 
dert mich,  in  einem  Werke  wie  das  vorliegende  gar  nicht  einmal  ein  Wort 
über  die  in  so  vielen  zum  Teil  weit  auseinander  stehenden  Sprachen  sich 
begegnenden  Formen  für  die  Zahl  sechs  zu  trefien:  auch  hier  heilst  s6i  sechs. 
Van  Eys  schreibt  übrigens  nur  sei,  erwähnt  aber  nach  Larramendis  Wörter- 
buch hierzu  Pluralformen  seyac  und  seyrac,  so  dafs  es,  wie  er,  Van  Eys, 
nicht  übel  bemerkt,  wohl  eigentlich  seir,  nicht  nur  sei  geheifsen  haben  mufs. 
Auf  das  Pluralzeichen  k  im  Ungarischen  und  Finnischen  wie  im  Baskischen 
weist  schon  Van  Eys  hin:  es  ist  auffällig  genug.  Die  kaukasischen  Spra- 
chen werden  in  zwei  Familien,  die  nordkaukasische  und  die  südkaukasische 
eingeteilt.  Die  erstere  umfafst  neun  Sprachen:  die  der  Abchasen  (Aapbsua), 
die  der  Awaren,  die  der  Kasikumüken  (Lak),  die  der  Artschi,  die  der  Hür- 
kanen,  die  der  Kürinen,  die  der  Uden,  die  der  Tschetschenzen  (Na/tsuoi)  und 
die  der  khistischen  Thuschethier  (Batsa),  Hauptquelle  sind  hier  wohl  Scbief- 
ners  Arbeiten;  auf  die  Schrift  des  Schora-Bekmursin-Nogmow:  Die  Sagen 
und  Lieder  des  Tscherkessenvolkes,  bearbeitet  von  Berge,  das  freilich  mehr 
die  \'ölkerschaften  als  deren  Sprachen  betrifft,  scheint  nicht  geachtet  zu 
sein.  Die  Nachrichten  gehen  hier  sehr  ins  Einzelne:  man  beachte  nur,  dafs 
die  Sprache  der  Artschi  einem  Volke  von  etwa  500  Individuen  angehört. 
Die  südkaukasischen  Sprachen,  welche  hier  betrachtet  werden,  sind:  Geor- 
gisch, Mingrelisch,  Lazisch,  Suanisch.  Das  Georgische  ist  durch  Brosset, 
Elements  de  la  langue  georgienne,  Paris  1837,  allgemein  zugänglich  gewor- 
den. Ihm  schliefsen  sich  Älingrelisch  und  Lazisch  ziemlich  eng  an,  wäh- 
rend das  Suanische  etwas  mehr  für  sich  steht.  Grofs  aber  ist  der  Gegen- 
satz zwischen  der  nordkaukasischen  und  der  südkaukasischen  Gruppe,  so 
dafs  der  Verfasser  oft  Mühe  hat,  überhaupt  noch  Berührungspunkte  zwischen 
beiden  herauszufinden.  H.  Buchholtz. 


Martin  Hartmann,  Chronologisch  geordnete  Auswahl  der  Ge- 
dichte Victor  Huo^os,  Heft  2  und  3.  Leipzig,  Teubner, 
1884.     IV  u.  115rbezw.  IV  u.  128  S.     Preis  Mk.  1,20. 

Die  hohen  Erwartungen,  die  das  erste  Heft  der  Hartmannschen  Aus- 
wahl aus  Hugo  (vergl.  Archiv,  Bd.  LXXII,  p.  107  ff.)  bei  den  Freunden 
des  Dichters  erregt  hatte,  sind  vom  Herausgeber  nicht  getäuscht  worden. 
Wie  das  \\'erk  vollendet  daliegt,  kann  ihm  eine  hervorragende  Bedeutung 
für  den  neusprachlichen  Unterricht  beigemessen  werden.  Man  darf  Victor 
Huoo  infolge  des  Erscheinens  dieser  Auswahl  als  zum  Kanon  der  franzö- 
sischen Lektüre   gehörig   betrachten. 

Gewifs  hat  es  manchem  Kollegen  nicht  an  der  Absicht  gefehlt,  sich 
mit  Victor  Hugo  vertrauter  zu  machen,  um  den  allzu  engen  Kreis  der 
poetischen  Schullektüre  zu  erweitern  und  unseren  Jungen  diese  kraftvolle 
edle  Poesie  näher  zu  bringen.  Aber  bei  der  Absicht  dürfte  es  in  den 
meisten  Fällen  geblieben  sein.  Denn  man  wird  selbst  von  strebsamen  Leh- 
rern nicht  erwarten  wollen,  dafs  sie  durch  die  siebzehn  Bände  Lyrik  und 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  441 

Epik  der  Edition  definitive  sich  durchlesen,  wo  manches  Minderwertige  mit 
aufgenommen  ist,  was  die  Wogen  der  Zeit  doch  spurlos  hinwegspülen 
werden.  Schon  aus  diesem  Grunde  ist  das  Unternehmen  Martin  Hartmanns 
zeitgemafs.  Eine  vernünftige  Auswahl  aus  der  gewaltigen  Masse  derHugo- 
schen  Dichtungen,  eine  geschmackvolle  Blütenlese  des  Edelsten  und  wahr- 
haft Unvergänglichen,  in  welcher  aber  auch  alle  Seiten  des  vielseitigsten 
aller  neueren  Lyriker  würdig  vertreten  waren,  von  den  duftigsten  lyrischen 
Blüten  bis  zu  den  zornsprühenden,  geharnischten  Dichtungen  hinauf,  —  ein 
solches  Buch  hätte  dem  Dichter  viele  Freunde  zugeführt.  Jetzt  liegt  ein 
Blumenstraufs  von  136  Dichtungen  da,  mit  feinem  Geschmack  und 
pädagogischem  Takte  ausgesucht  und  gruppiert. 

Referent  beschäftigt  sich  seit  Anfang  seiner  Studienzeit  mit  Victor  Huj^o 
und  kann  sich  rühmen,  den  Dichter  gründlich  zu  kennen.  Noch  nie  aber 
ist  die  ehrwürdige  Gestalt  des  Dichtergreises  ihm  so  leibhaftig  entgegen- 
getreten wie  nach  dem  Lesen  der  136  von  Hartmann  ausgewählten  Dichtun- 
gen. Hier  entwickelt  sich  der  Jüngling  vom  Jahre  1820  vor  unseren  Augen. 
Zuerst  singt  er  von  seinem  heldenmütigen  Vater,  von  Königtum  und  Vater- 
land, von  Gott  dem  Allmächtigen  und  dem  Helden  Napoleon.  Er  ist  dann 
der  stets  gütige  Kinderfreund,  der  seine  eigene  Familie  vergöttert.  Der 
Tod  der  geliebten  Tochter  bringt  ihn  dem  Wahnsinn  nahe,  und  mutig  rafft 
er  sieh  auf.  Der  Staatsstreich  vom  2.  Dezember  raubt  ihm  die  Heimat, 
zwanzig  Jahre  harrt  er  blutenden  Herzens  im  Auslande  aus,  bis  mit  dem 
Tage  von  Sedan  „ZViowme",  sein  Todfeind,  in  den  Staub  zurücksinkt.  Und 
noch  ertönt  sein  Schlachtruf,  denn  sein  Gewissen  ist  lauter  und  rein,  er 
hat  stets  nach  Wahrheit  gestrebt  und  nie  ein  unsittliches  Wort  ausge- 
sprochen: 

Je  combattis  pour  la  pensee, 

Pour  le  devoir,  pour  Dieu  nie, 

Pour  la  grande  France  ^clipse'e, 

Pour  le  soleil  calomnie, 

Je  combattis  l'ombre  et  l'envie 

Sans  peur,  sans  tache  a  mon  e'cu ; 

Puis  11  se  trouva  —  c'est  la  vie  — 

Qu'ayant  lutte',  je  fus  vaincu. 

(Quatre  Vents,  Livre  lyrique  Nr.   15.) 

J'ai  des  pleurs  a  mon  oeil  qui  pense, 
Des  trous  ä  ma  robe  en  lambeau ; 
Je  nai  rien  a  la  conscience : 
Ouvre,  tombeau ! 

(Contempl.   VI,  24.) 

Der  tadellosen  Auswahl*  entsprechen  die  Anmerkungen.  Hartmann 
giebt  meist  sachliches  Material  und  hat  hier  Gelegenheit,  mit  einer  weit- 
umfassenden  Belesenheit  und  äufserst  eingehenden  Detailkenntnis**  alles 
dessen  zu  glänzen,  was  nur  irgendwie  mit  Victor  Hugo  zusammenhängt. 
Man  vergleiche  z.  B.  die  Bemerkungen  zum  Gedichte  au  Statuaire 
David,  ferner  die  scharfsinnigen  Beobachtungen  des  Sprachgebrauchs, 
über  Chiasmus  von  Adjektiv  und  Substantiv,  über  Wiederkehr  einzelner  Aus- 


*  Aufser  den  beiden  Distichen  Nr.   98  und  131    könnte  am  ehesten  la  Rose 
de  l'Infante  (Nr.   115)  wegen  seiner  Länge  fehlen  (247   Verse). 

**  Die  Vermutung,  dals  Nr.  27  und  35  dem  Maler  Louis  Boulanger  gewidmet  sind, 
ist  zutreffend.  Viele  andere  Gedichte,  so  Ballade  8  und  13,  sind  gleichfalls  an  ihn 
gerichtet;  Mazeppa  (Orient.  20)  wurde  durch  das  im  „Salon"  vielbewunderte 
Bild  Boulangers  angeregt.  Ferner  hat  Hugo  seinem  treuen  Freunde  Feuilles  d'automne 
Nr.   27   und  28,  sowie  die  meisten  Briefe  aus  der  Rheinreise  gewidmet. 


442  ßeurteilungeu  und  kurze  Anzeigen. 

drücke,  wie  Vombre,  in  den  Dichtungen  der  späteren  Perloile  etc.  etc.  Nach 
dieser  Seite  hin  hatte  vielleicht  der  Kommentar  erweitert  werden  dürfen: 
so  hatte  auf  den  stehenden  Ausdruck  saigner  statt  soutfrir,  auf  die  häufige 
^^'iederkehr  der  Worte  (/otißre,  ahlme  etc.  und  ganz  besonders  auf  das 
immer  häufiger  werdende  Epitheton  apre  hingewiesen  werden  können.  Wir 
notieren  aufs  Geratewohl  aus  Heft  3 :  apre  exil,  apre  c.hemin,  apre  foret, 
espace  apre  et  silencieux,  apre  escaipement,  apre  fleur  des  dioies,  leiir  sovffre 
apre  et  chaiid,  seid  dans  cette  apre  ;??///,  avec  un  apre  accent  etc.  etc. 

Andererseits  hätte  der  Wegfall  blofser  Worterklärungen,  wie  chaiime 
(Nr.  37,  4),  faire  im  reve  (Nr.  29,  9  und  51,  l),  traits  (97,  24),  mon  pays 
(101,11),  Kaum  für  notwendigere  Erläuterungen  geschaffen,  z.  B.  zu  Ze  cräne 
fjeant  des  Aschylos  in  Nr.  32.  Hier  liegt  die  Anspielung  auf  fiie  thörichte 
Fabel  von  Aschylos'  Tod  (cf.  Welcker,  Alte  Dkm.  II,  341)  und  das  Orakel 
ovoartov  oe  ße).05  xnraxTarsY  nicht  für  jedermann  nahe. 

Ferner  ist  mante  Nr.  119,  VI,  19  unrichtig  mit  „Bettdecke"  wieder- 
gegeben ;  das  Richtige  geben  trotz  Littre  die  voraufgehenden  Worte  eile 
prend  sa  lanterne  et  sa  cape  (119,  V,  1).  Die  Stelle  aus  rExpiation 
(90,  VII,  25):     , 

Ils  trainent  sur  Paris  qui  les  voit  s'etaler. 
Des  sabres  qu'au  besoin  iU  sauraient  avahr 

scheint  uns  durch  die  Anmerkunor  nicht  genügend  erklärt.  Der  wahre  Sinn 
geht  aus  dem  bitter  höhnenden  Tone  des  ganzen  Gedichtes  und  dem  \'er- 
gleich  der  napoleonischen  Bande  mit  einer  Kunstreitertruppe  klar  hervor. 
N'orgl.  Bonaparte,  ecuyer  du  cirque  Beauharuais  (22);  et  du  champ  de  ba- 
taille  il  tombe  au  champ  de  faire  C25');  on  quete  des  liards  dans  le  petit 
chapeau  (45) ;  toi  spectre  imperial,  tu  bats  la  grosse  caisse  (72). 

So  korrekt  der  Druck  auch  im  Verhältnis  zu  anderen  Ausgaben  ist,  es 
sind  immerhin  in  den  beiden  Heften  Accents-,  Tirets-  und  ähnliche  Ver- 
sehen etwa  zehn,  andere  Druckfehler*  ebenso  viele  im  Verzeichnis  unberück- 
sichtigt geblieben. 

Das  am  Schlufs  beigegebene  „\'erzeichnis  der  in  Frage  kommenden 
Litteratur"  giebt  nicht  weniger  als  dreiundsiebzig  gröfsere  oder  kleinere 
Werke,  die  manchmal  nur  nebenbei  mit  Victor  Hugo  sich  beschäftigen.  Hier 
ruht  viel  Unbedeutendes  neben  altberühmten  Werken  in  gemütlichster  Ein- 
tracht, so  Sarrazins  kleiner  Vortrag  über  das  franz.  Drama  des  19.  Jahr- 
hunderts  neben  Sainte-Beu  ves  epochemachenden  Kritiken.  Vollständig 
soll  ein  derartiges  Verzeichnis  natürlich  nicht  sein;  doch  hätten  folgende 
allgemein  zugänglichen  Schriften  ebenfalls  Aufnahme  verdient: 

1)  Schmidt- Weifsenfeis,  Frankreichs  moderne  Litteratur  seit  der 
Restauration.     Berlin  1856.     2  Bde. 

2)  P.  Stapf  er,  Etudes  sur  la  litt,  franc  moderne  et  contemporaine. 
Paris  1881. 

3)  Maxime  du  Camp,  Souvenirs  litteraires.     Paris  1882.     2  Bde. 

4)  P.  Paris,  Apologie  du  Romantisme.  Paris  1824  (dem  Ref.  nicht 
zur  Hand  und  nur  aus  dem  Bericht  über  die  Sitzung  vom  17.  Nov.  1882 
der  Acad.  des  Inscr.  im  „Temps"  bekannt). 

5)  Rob.  Prölfs,  Das  neuere  Drama  in  Frankreich.  Leipzig  1881 
(II,  1  der  Geschichte  des  neueren  Dramas). 


*  Fehlende  Tirets  Nr.  27,  115;  82,  77;  Accents  und  dergl.  Nr.  52,  154; 
54,  82;  111,  53;  113,  52;  114,  154;  118,  12;  120,28.  —  Druckfehler:  Nr.  51, 
V,  3  sour-  Nr.  113,  59,  133,  41  fehlt  jeweils  ein  e  an  sir,  noir;  Nr.  135,  29 
u  statt  n;  104,  8  c  statt  e;  53,  151  qui  statt  qu  ;  Nr.  127  ist  das  nous  aus 
"Vers  27  nacli  31  {gerückt  woiden  Geringere  in  der  Anmerkung  zu  31,  T,  1  und 
88,  19,   51,  in,  31. 


Beurteilungen   und  kurze  Anzeigen.  413 

6)  H.  Born,  Die  romantische  Schule  in  Deutschland  und  Frankreich. 
Heidelberg  1879   (Vortrag  II,  4  der  Frommelt^chen  Sammlung). 

7)  Ludw.  Spach,  Zur  Gesch.  der  mod.  franz.  Litt.     Strafsb.  1877. 

8)  Beumelberg,   Über    den  Versbau    in   den  Dramen   \  ictor  Hugos. 
Oldenburg  1S83  (Progr.  der  Cäcilienschule). 

9)  Serre,  Le  sublime  Goethe  et  Victor  Hugo.     Paris  1881. 

10)  Leffondrey,    V.  Hugo   le  pi-tit.     Paris  1872    (elendes  Pamphlet). 

11)  Zola,  Mes  Haines  und  Le  Komnn  experimental. 

12)  Archiv  f.  d.  Stnd.  etc.  I,  37  5;  V,  (Jl;  XXXII,  1;  XXXV IT,  166 
und  öfter. 

Andere  werden  sicherlich  noch  mehr  nachtragen  können,  denn  die 
Hugo-Litteratur  ist  eine  unübersehbare.  Mit  Parodien  allein  —  auch  diese 
gehören  zur  allseitigen  Kenntnis  des  Dichters  —  könnte  man  eine  Bibliothek 
füllen.  * 

Wir  können  diese  Besprechung  nicht  abschlief^■en,  ohne  an  die  hoch- 
verdiente Verlagshandlung  die  Mahnung  zu  richten,  sie  möge  von  Hart- 
manns vorzüglicher  Auswahl  auch  für  das  grolse  Publikum  eine  Ausgabe  in 
einem  Bande  in  entsprechender  Ausstattung  veranstalten..  Ohne  Zweifel 
würde  dieselbe  gerade  jetzt  kurz  nach  des  Meisters  Tod  als  „Festgeschenk" 
die  weiteste  Verbreitung  finden  und  auf  das  oberflächlich  absprechende 
Urteil  der  sogenannten  Gebildeten  über  französische  Lyrik  einen  iiberaus 
wohlthätigen  Einflufs  üben.  Denn  noch  kein  Urteilsfähiger  hat  von  Hugos 
unvergänglichen  Werken  Kenntnis  genommen,  ohne  die  seit  1870  bei  aller 
Welt   gangbar   gewordene  Ansicht   über   den  Dichter  über  Bord  zu  werfen. 

G.  Strien,  Choix  de  Poesies  fran^aises  ä  l'usage  des  ^coles 
secondaires.  Halle  1884,  Eug.  Strien.  VI  und  57  Seiten, 
Preis   2:eb.  1  Mk. 

Seitdem  die  Lektüre  ganzer  AVerke  französischer  Autoren  den  Kern- 
punkt des  Unterrichts  bildet  und  die  Chrestomathie  von  Tertia  ab  verbannt 
ist,  hat  wohl  mehr  als  ein  Kollege  den  Mangel  einer  solchen  empfunden, 
wenn  es  sich  darum  handelte,  etwas  Abwechselung  in  die  Einförmigkeit  der 
historischen  oder  tragischen  Lektüre  zu  bringen,  wie  sie  semesterlang  ge- 
trieben wird.  Es  ist  allerdings  sehr  schön,  wenn  ein  Primaner  beim  Ver- 
lassen des  Gymnasiums  vier  bis  fünf  Historiker,  drei  bis  vier  Stücke  von 
Corneille,  Racine  und  Moliere  und  allenfalls  noch  Mirabeaus  Heden  gelesen 
hat,  aber  von  der  überreichen  Lyrik  der  Franzosen  hat  er  keinen  Begriff 
und  wird  im  späteren  Leben  die  alltäglichen  Urteile  der  „Gebildeten"  ge- 
treulich nachbeten,  wenn  er  nicht  gerade  neuere  Sprachen  zum  Fachstudium 
wählt.  Schon  darum  ist  eine  Anthologie  wenigstens  für  Sekunda  und  Prima 
neben  den  Schulausg,aben  unentbehrlich. 

Diese  Lücke  will  G.  Strien  durch  vorliegende  Sammlung  von  dreifsig 
Gedichten  ausfüllen :  Der  Schüler  soll  sie  von  Tertia  bis  Prima  mitführen 
und  alljährlich  fünf  Gedichte  auswendig  lernen,  so  dafs  er  beim  Ver- 
lassen des  Gymnasiums  einen  hübschen  Vorrat  französischer  Dichtung  mit 
ins  Leben  nimmt.  Mit  der  hohen  Meinung  Striens  vom  Werte  des  Aus- 
wendiglernens ist  Referent  ganz  und  gar  einverstanden  und  hat  besonders 
in  der  Mittelstufe  ihn  genügend  kennen  gelernt.  Es  fragt  sich  nur,  ob 
eine  Gedichtsammlung  schon  die  Tertia  berücksichtigen  mufs,  da  auf  dieser 


*  Paul  Albert  erwähnt  pag.  36:  Harnali,  ou  la  contrainte  par  cor.  — 
Antoine,  Aper9us  etc.  p.  134:  Les  Hures  graves,  Parodie  zu  den  Burgraves 
von  Clairville;  Baumgarten,  La  France  qui  rit,  p.  151  — 169:  Les  Boules 
graves  oder  les  Burgs  inriniment  trop  graves  von  Philipon  (vergl.  auch  Max. 
du  Camp  a.  a.  O.  I,  236). 


444  Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen 


j^V^U         WtlV^        «.V..-.V.        ...^..-.V..j5V 


Stufe  nocli  die  Chrestomathie  goniigenden  Memorierstoff  bietet.  Ferner  ist 
es  fraglicli,  ob  Abschnitte  aus  den  sogen,  klassischen  Dichtern  in  die  Ge- 
dichtsammlung aufzunehmen  sind;  denn  die  Tragiker  werden  in  IIa  und  I 
ohneliin  gelesen,  so  dafs  der  Lehrer  ciiizehie  Al)sohiiitte  bei  Gelegenheit 
auswendig  lernen  lassen  kann.  Dem  Ref.  schwebte  vielmehr  als  Muster  eine 
für  II  und  I  berechnete  Auswahl  der  neueren  Lyrik  vor. 

Sieht  man  aber  von  diesen  rein  principiellen  Bedenken  ab  und  prüft 
den  relativen  Wert  von  Striens  Choix  de  I'oesies,  so  kann  man  dem  Buche 
sowohl  hinsichtlich  der  geschmackvollen  Auswahl  als  auch  der  vorgeschla- 
genen* Reihenfolge  nur  die  wärmste  Anerkennung  zollen  und  ihm  eine  mög- 
lichst groCse  Verbreitung  wünschen.  Zudem  ist  die  Ausstattung  mustergültig, 
ähnlich  der  der  Rengerschen  Schulbibliothek,  und  der  Preis  sehr  mäfsig. 

Karl  Foth,  ßonaparte  en  Egypte,  aus  Thiers,  Hist.  de  la  Rev. 
franc^.  und  Hist.  du  Cons.  et  de  l'Enipire.  —  Leipzig, 
Rensfersche  Buchhdlof.,  1885.  XII  und  116  S.  mit  drei 
Karten.     In  Leinw.  geb.  Mk.  1,40. 

Von  Thiers'  weitschichtigem  Nationalwerk  dürfte  der  Abschnitt  über 
den  abenteuerlichen  Feldzug  nach  Ägypten  in  deutschen  Schulen  der  be- 
kannteste sein,  einmal  weil  der  einseitige  Lobredner  des  Schlachtenkaisers 
hier  keine  empfindlichen  Patrioten  verletzen  kann,  und  dann  weil  diese  Partie 
leicht  aus  dem  Zusammenhang  sich  reifsen  lafst  und  somit  gerade  für  ein 
Semester  passenden  LesestofI  bildet.  Wer  in  Obersekunda  oder  Unterprima 
unterrichtet,  wird  sie  nicht  ignorieren  dürfen. 

Foths  Ausgabe  darf  ihrem  inneren  Werte  wie  ihrer  äufseren  Beschaffen- 
heit nach  als  vortreft'lich  bezeichnet  werden.  Der  Text  ist  in  neunzehn 
Kapitel  eingeteilt,  was  den  raschen  Überblick  sehr  fördert.  Indessen  no- 
tieren wir  auf  S.  2 — 24  fünf  Accentsfehler  und  auf  S.  5 — 82  ebenso  viele 
Versehen,  während  die  anderen  Bogen  absolut  korrekt  sind.  Die  sprach- 
lichen Anmerkungen  sind,  den  Grundsätzen  der  Rengerschen  Schulbibliothek 
entsprechend,  sehr  spärlich,  etwa  25  in  den  acht  Bogen  Text.  So  sehr  diese 
Sparsamkeit  im  Interesse  der  Selbständigkeit  des  Schülers  geraten/-  er- 
scheint, wir  hätten  doch  hin  und  wieder  bei  Ausdrücken  wie  un  feu  plon- 
geant  et  meurtrier,  oder  la  turhulence  envahlssante  de  la  France  die  ent- 
sprechende deutsche  Übersetzung  gewünscht. 

Reiche  Belehrung  bietet  der  mit  drei  Kartenskizzen  bereicherte  sach- 
liche Anhang.  Die  knappen  und  inhaltreichen  Einleitungen  sind  gleichfalls 
zweckentsprechend.  Nur  will  dem  Ref  der  biedere  Carnot,  der  organi- 
sateur  de  la  victoire,  nicht  recht  als  .,royalistisch  gesinnt"  erscheinen.  Ferner 
hätte  vielleicht  die  eine  oder  die  andere  kritische  Bemerkung  Thiers'  par- 
teiische   Angaben    richtigstellen     dürfen :    so    ist    z.    ß.    die    Verdächtigung 


*  III b:  Le  Corbeau  et  le  Renard  (La  Font.);  le  Lab.  ti  ses  Enfanis  (id.); 
T Enfani  aiine  du  »Sei^wew  (Racine)  ;  les  Hü'07idL-Ues  (Beranger)  ;  la  C/ocÄe  fLamart.). — 
III  a:  le  Chene  et  le  Roseaa  und  les  Animaux  mal.  de  la  peste  (La  F.);  h  Meimier 
.SV/res-6'o«cj  (Andrieux) ;  le  Montag nard  emigre  (Ch.at&^\i\)r\&ndi);  Charlottembcmrg  (id.).  — 
IIb:  Adieux  de  Marie  Stuart  (Ber);  la  Chu/e  des  Feuilles  (Millevoye) ;  la  Grand! - 
mere,  Extase  und  Pour  les  Pauvres  (V.  Hugo).  —  IIa:  Victoire  du  Cid  und 
Auguste  et  Cinna  (Com);  Man  Habit  und  le  Tailleur  et  la  Fee  (Be'r.)  ;  V Automne 
(Lamart.),  —  Ib:  Mort  d Hiiipol.  und  Louanges  de  Dien  (Racine):  Mort  de  Colignr/ 
(Volt.);  la  Jeune  Captive  (Chenier) :  le  Cor  (Yigny).  —  la:  Misanthrope  (}>lol.);  Apo- 
logie de  la  Satire  (Boileau;  ein  schauerlich  langweiliges  Stück,  das  einzige  der  Samm- 
lung, was  nicht  glücklich  gewählt  ist!);  Originea  de  la  poesie  franq.  (Boileau);  Mort 
de  Jeanne  d^ Are  (Delavigne);   Qu'est-ce  que  la  Poesie  (Musset). 


1 


Heui'teiluiigen  und  kurze  Anzeigen.  445 

Po  u  ssiel  gu  es,  wie  aus  dem  1845  VL'iüflTentlichten  Aktenniaterial  ersicht- 
lich (Protokoll  des  Kriegsrats  vom  1.  Pluv.  \'I1I,  Berichte  Klebers  und 
Desaix',  Korresp.  mit  dem  Grofsvezier),  nicht  ganz  gerechtfertigt.  Indessen 
wollen  viele  Schulmänner  die  historische  Kritik  aus  der  Schule  verbannt 
wissen:  also  —  habeat  sibi. 

Die  Ausstattung  der  Fothschen  Ausgabe  ist  tadellos,  der  Preis  für  das 
elegant  in  Leinen  gebundene  Büchlein  sehr  mäfsig.  Somit  wird  dasselbe 
rasch  in  den  höheren  Schulen  Eingang  finden. 

Baden-Baden.  Joseph  Sarrazin. 


Petry,  Die  wichtigsten  Eigentümlichkeiten  der  englischen  Syntax. 
4.  Auflage.     Remscheid,  H.  Krumm. 

Infolge  der  warmen  Empfehlung,  welche  Dr.  Lüttge  den  beiden  ersten 
Ausgaben  dieses  trefflichen  Büchleins  in  dem  Archiv  gewidmet  hatte,  machte 
Ref.  einen  praktischen  Versuch  mit  demselben  bei  seinem  Unterrichte  in 
der  Schule,  und  er  kann  jetzt  nach  seiner  Erfahrung  nur  bestätigen,  was 
der  frühere  Recensent  dem  Buche  nachrühmte.  Es  ist  das  Notwendige  in 
vollkommen  hinreichender  Weise  hier  gegeben,  und  der  Verf.  leidet  nicht 
an  der  in  den  neueren  grammatischen  Hilfsbüchern  so  häufig  sich  kund- 
gebenden Manie  der  Vollständigkeit.  Die  Regeln  sind  einfach,  klar,  präcis, 
und  die  Wahl  der  Übungsbeispiele  ist  ganz  vortrefflich;  überdies  hat  Ref. 
an  verschiedenen  Stellen  dieser  neuesten  Ausgabe  die  verbessernde  Hand 
des  aufmerksamen  Verfassers  mit  Dank  bemerkt. 


Zeitschriftenschau. 
Fiämuri  Arberit,  La  Bandiera  dell'  Albania. 

Anno  1,  Corigliano  Calabro,  30  Aprile   1884,  Num.  7. 

S.  I — V  bringt  die  Fortsetzung  des  Berichts  über  die  albanische  Schule 
in  Italien;  Anerkennung  und  Unterstützung  vom  Papste.  S.  V  einige  Verse 
von  Giuseppe  de  Rada.  S.  V  — Vllf.  Über  den  Palast  Adriano  von  Ga- 
briele Cav.  Dara:  handelt  von  Albaniern  auf  Sicilien;  noch  dort  vertretene 
Namen  von  Albaniern  werden  genannt,  darunter  auch  der  des  Verfassers, 
dem  sein  Vater  eine  von  ihm  verfafste  Schilderung  albanischer  Sitten,  sowie 
auch  ein  albanisch-italienisches  und  italienisch-albanisclies  Wörterbuch 
hinterliefs,  welches  alle  bisher  gedruckten  übertrifft.  Der  Palazzo  Adriano, 
noch  heute  ein  Besitz  des  Königs,  wird  von  Albaniern  und  Italienern  be- 
wohnt, treff"liclien  Leuten,  die  öfter  durch  Gaben  an  den  König  verhinderten, 
dafs  derselbe  verkauft  wurde. 

Anno  T,  Corigliano  Calabro,  .SO  Maggio   1884,  Num.  8. 

S.  I.  Nachrichten  von  Albanien.  S.  II  — IV.  Programm  der  Radikalen 
in  Ungarn  :  dieselben  sind  Freunde  der  Albanier  und  im  Wesentlichen  mit 
des  Herausgebers  Schrift  „Quanto  di  libertä  e  di  ottimo  vivere  sia  nei  go- 
verni  rappresentativi,  Napoli  1882"  einverstanden.  S.  IV — VI.  Ein  Lobgesang 
auf  den  Mond,  von  P.  Fra  Antonio  Santori :  der  Herausgeber  merkt  zwei- 
mal an. "wie  die  Sprache  durch  den  Reim  leide.  S.  VI— VII.  Wieder  ein 
Stückchen:  achten  wir  auf  das  Leben  ehe  es  untergeht.  S.  VTI — VIII.  Über 
die  albanischen  Wörter  at  Vater,  eem  Mutter,  sis  Muttermilch,  Mutterbrust. 
Es  sind  noch  echte,  alte,  pelasgische.  Von  dem  ersten  bekamen  die  Ru- 
mänier  und  Italiener  tata,  \'ater,  vom  zweiten  die  Italiener  mamma,  meine 
^Mutter.     S.   VIII.  Neueste  Nachricht:    Athen,    den  10.  Juni.   Vorgestern  hat 


446 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen. 


sich   im  Philologisclien   Institut,    <ler  Parnaf?,    für  Griechenland  die  Verbin- 
dung „Die  albanischen  Brüder"   gegründet,    zur  Pflege   albanischer  Sprache. 

Anno  I,  Corigliano  Calabro,  30  Giugno  1884,  Num.  9. 

S.  I IV.     "Wollen    sie  uns  also  blenden?     Die   Pforte   hat   die  Einfüh- 

runf'  der  vorliegnnden  albanischen  Zeitschrift  in  Albanien  verboten  und 
zeigt  damit,  dafs  sie  nun  nach  400  Jahren  Albanien  nicht  für  einen  Teil 
von  sich,  sondern  für  eine  Beute  hält,  die  es  nach  Belieben  verzehren  kann. 
S.  IV— VI.  Die  Stunde  ist  gekommen.  Durch  den  Aufruf  des  Anastasios 
Koluriotis  vereinigen  sieb  die  albanischen  Städte  Griechenlands,  alle  Alba- 
nier  in  Griechenland.  Der  Verfasser  jauchzt,  bemerkt,  ein  Viertel  der  Be- 
völkerunfT  des  Königreichs  Griechenland  sind  Albanier:  es  ist  jetzt  einmal 
Zfit  zu  antworten,  ob  sie  Ankömmlinge  sind  oder  vielmehr  ein  Rest  der 
ersten  pelasgischen  Lagerung,  welche  sich  nach  Benloews  Annahme  vom 
Adriatischen  Meere  bis  zum  Halys  erstreckte.  S.  VI — VIII.  Über  Kirizza 
oder  Corcia  in  der  Toscheria. 

Anno  I,  Corigliano  Calabro,  30  Luglio   1884,  Num.  10. 

S.  I — III.  Achten  wir  auf  das  Leben,  ehe  es  untergeht.  S.  II— VI. 
Der  Aufsatz  von  der  albanischen  Schule  in  Italien,  G.  de  Rada  unterzeich- 
net, wird  beschlossen.  S.  VII— VIII  beschliefst  den  Aufsatz  über  Korizza, 
Eutimio  Nitko  unterzeichnet. 

Anno  I,  Corigliano  Calabro,  30  Settembre  1884,  Num.  11. 
S.  I — V.  Der  Herausgeber  spricht,  wohl  im  Anschlufs  an  sein  vorhin 
angeführtes  Buch,  vom  Realen  und  Idealen  in  den  Vertretungen  der  Welt. 
Soll  noch  fortgesetzt  werden.  S.  \'.  Vorurteile  des  oberen  Albaniens. 
S.  V  — VII.  Ein  Bernardo  Bilotta  unterzeichneter  Brief  aus  Frascineto,  über 
diesen  Ort.  S.  VII— VIII.  Einige  Verse  des  Giuseppe  de  Rada  und  von 
Dochi  von  Scutari  an  die  Witwe  ebendesselben. 

Anno  I,  Corigliano  Calabro,  30  Ottohre  1884,  Num.   12. 

S.  I— IT.  In  Konstantinopel  erscheint  ebenfalls  eine  albanische  Zeit- 
sciirift  —  ein  Beweis  der  guten  Gesinnung  des  Sultans,  zu  welcher  er  auch 
(^rund  hat.  S.  III — IV.  Fortsetzung  des  Aufsatzes  vom  Realen  und  Idealen. 
S.  V.  Ein  Brief  aus  Scutari  warnt  vor  Bestrebungen  der  Griechen,  Albanien 
mit  ihrem  Reiche  zu  vereinigen.  S.  V — VIII.  Plana  de'  Greci  auf  Sizilien 
von  aus  Scutari  gekommenen  Albaniern  erbaut.  Heute  hat  es  10  000  Ein- 
wohner, ist  die  gröfste  albanische  Kolonie  Siziliens. 

Wir  überschauen  nun  noch  den  je  zweiten  Bogen  dt-r  hier  vorgeführten 
sechs  Hefte.  S.  48—58.  Die  Lieder  von  den  Thaten  der  Helden  werden  bis 
zum  Ende  des  ersten  Buches  geführt.  S.  59—73.  Das  zweite  Buch  von  den 
Thaten  der  Helden ;  15  Lieder,  das  erste  enthält  18.  S.  74  —  83.  Das  dritte 
Buch  der  Volkslieder.  S.  84  —  93.  Eine  Satire  an  die  Ehrenmänner  von 
S.  Demetrio  Corone  des  Costa  Bellocci,  doch  hat  der  Herausgeber  einige 
Stücke  als  zu  üppig  weggelassen.  S.  94—96.  Vorrede  und  Anfang  des  nun 
folgenden  Wörterbuches  für  die  vorhergehenden  Lieder,  welche  manches 
Altertümliche  und  Schwierige  enthalten. 


Seguito  (lel  Glornale  di  Filologla  Romanza.  Studj  di  Filologia 
Komanza  pubblicati  da  Ernesto  Monaci,  Fasel,  Roma  1884. 
192  pp. 

Das  ganze  erste  Heft  von  Monacis  Studj  di  Filologia  Romanza  wird 
von  einer  einzigen  Arbeit  eingenommen,  diese  ist  von  N.  Zingarelli  und 
führt  den  Titel  Parole  e  forme  della  Divina  commedia  aliene  dal  dialetto 
fiorentino  (Dedicato  al  Prof.  d'Ovidio).  Sagt  d"Ovidio  in  seinen  Saggi 
Critici  533,  es  seien  einmal  alle  Latinismen,  Gallicismen  urid  mundartlichen 
Formen  der  Commedia  zusammenzustellen,  so  übernimmt  dies  hier  der  Ver- 


Beurteilungen  und  kurze  Anzeigen.  447 

fasser.     Zunächst  wird  einMtend  von   d«'n    IIss.    des    Ge(]Ichtcs    geredet,    es 
sollen  fünf  als    die   ältesten  beachtet  werden :  der  Palatino  178,  der  sog.  des 
Fil.   \illani,  der  Gaddiano  Laur.  XC,  8up.   125,  der  Laurenziano  XL,  22  — 
zu    diesen   vieren    in    Florenz    noch    der  Vaticano    3199.     Der  erste  Haupt- 
abschnitt vom  lateinischen  Elemente  reicht  von  S.   13—108.     Es  kann  nicht 
fehlen,  dafs  hier  öfters   zu  viel    vorgeführt   wird.     Z.  B.    die   soll   dies   sein, 
aber  man  hat   doch  di    und  niezzodi,   und    kennt    diese  toskani>>che  Art,  das 
üxytonon   zu   meiden;    dolve  soll  doluit  sein,   zumal  es  \  irgil   sage  (Inf.  II, 
51);  aber  wenn  Fr.  Sacchetti  Nov.  164  a  molti  si  dolfe  (s.  meine  Grammatik 
S.   70)  sogar  mit  f  hat,   in  Prosa,   so  ist   es  wohl    erwiesen,    dafs    dies  Über- 
eilung heifsen  mufs.     Face  =:  facit  ist  möglicherweise  lateinisch,    aber  sicher 
doch   nicht,  da  (las  ^^'ol•t  italienisch    Formen  vom  reinen  und  vom  verstärk- 
ten Stamm  bildet  und  solche  wie  diese  auch  volkstümlich  sein  konnten:  der 
Verfasser  gesteht  diese  Möglichkeit   zu,    aber   er  hätte   sich  weiter   erkundi- 
gen sollen.     Den  Schlufs    dieses  Abschnittes    bildet  ein  Rückblick:    im  gan- 
zen etwa    511    Latinismen,   teils  im  Klange,    teils  in  der  Bedeutung,    teils  in 
lexikalischer  Art,  das  Paradies  stellt  die  meisten.    Der  zweite  Hauptabschnitt 
S.   109—143  behandelt  die  Gallicismen.     Gasparys   Buch    wird    oft   mit  Ehr- 
erbietung angeführt,  und  so  unternimmt  Verf.  hier  wohl  diesem  zu  Gefallen 
auch  einen  Ausfall  auf  Nannucci,  den  er  nachher  mit  einer  Verbeugung  wie- 
der gut  macht.    Es  ist  unzweifelhaft,  dafs  Nannucci  hier  wie  auch  in  anderen 
seiner  Bestrebungen  zu  weit  ging,  ist  richtig  und  begreiflich,  aber  ihm  gegen- 
über sich  aufs  hohe  Pferd  zu  setzen,  er  besafs  keines  der  criteri  glottologici 
moilerni  heifst  es  hier,  wiederhole  ich  auch  hier,  steht  keinem  wohl  an.    Dafs 
in   dem   Zusammenfallen    von    con   mit   come   bei  Dante   und   anderen   Alten 
nichts  Proven^alisches  ist,   hat  der  Verfasser  recht:    er  bleibt    aber   die  Er- 
klärung schuldig.     Noch  mehrere   alte  Belegstellen   und    die  wie   ich  glaube 
festzuhaltende  Erklärung,    dafs  come  nicht  von  quomodo,   sondern  mit  latei- 
nischem quem    und    cum   verwandt,    mit   der   Präposition    con    wahrhaft   eins 
ist,  s.  in  meiner  Grammatik  S.  139.      Der   dritte  Hauptabschnitt  von  S.  144 
bis  163  umfafst  das  Mundartliche.    Auch  hier  zeigt  es  sich,  dafs  der  Verfasser 
sich  nicht  genug  nach  Belegen  umsieht.    Cionca  =  monca,  mutilata  Inf,  IX, 
18  im  Reime  gehört  südlichen  Mundarten  an,  aber,  heifst  es  weiter,  wir  haben 
zunächst  noch  keinen  historischen  oder  phonologischen  Btweis,  um  das  VA'ort 
dem   Florentinischen   abzusprechen  —  und    nichts  weiter,    keine  Erwähnung 
auch  nur  eines  \'ersuches,  es  irgendwo  an  der  P>age  nicht   zu  fernem  Orte 
zu   finden.      Einige    allgemeine  Bemerkungen    über   Dantes  Schrift :    De  vul- 
gari  eloquentia,   über  die  Sprachen  der  Seelen,  über  den  Reim,  beschliefsen 
das  Buch.  H.  Buchholtz. 


P  r  o  g  r  a  m  m  e  n  s  c  h  a  u. 


Über  Wolframs  Willehalni.  Von  Prof.  Jos.  Seeber.  Programm 
des  k.  k.  Privatgymnasiums  am  Seminarium  Vincentinum 
zu  Brunn  1884.     34  S.  ^r.  8. 


o 


Mit  der  reichen  Litteratur  über  Wolframs  Willehalm  wohl  vertraut  (nur 
<las  Prognimm  von  Saltzmann,  Pillau  1882,  über  die  französische  Quelle 
scheint  ihm  unbekannt  geblieben  zu  sein)  bringt  der  Verf.  einen  sehr  wert- 
vollen Beitrag  zum  Thema.  Was  für  die  eine,  was  für  die  andere  Ansicht 
spricht,  genau  abwägenf),  kommt  er  zuerst  zum  Ergebnis,  dafs  der  Anfang 
der  Dichtung  in  das  Jahr  1214,  das  Ende  des  fünften  Buches  in  1216,  das 
achte  Buch  vor  1220  zu  setzen  sei.  Der  zweite  Teil  nennt  die  Handschriften, 
Bruchstücke  und  Ergänzer  vollständig.  Im  dritten  Teil,  über  die  Quellen, 
wird  als  alleinige  Quelle  La  bataiile  d'Aleschans,  zuerst  1834  von  Jonckbloet 
herausgegeben,    genannt;    der    \'erf.    hebt    namentlich    die    Verdienste    Jan 

•  •  •  »IT  '1 

Mastes  hervor.  Der  deutsche  Dichter,  wird  weiter  eingehend  ausemander- 
gesetzt,  überragt  vielfach  sein  französisches  Vorbild  an  feinem  Gefühl  und 
künstlerischer  Mäfsigung;  die  reichen  Züge  der  Roheit,  die  sich  bei  dem 
Franzosen  finden,  mildert  er  oft,  besonders  wenn  es  sich  um  Streitscenen 
zwischen  N'erwandten  handelt,  und  ist  bestrebt,  das  natürliche  Gefühl  zu 
schonen.  Je  mehr  er  zum  Schlufs  kommt,  desto  mehr  entfernt  er  sich  von 
seinem  Vorbilde,  er  zeigt  auch  hier  wieder  seine  Stärke  in  der  Charakter- 
schilderung. Wie  er  den  Parzival  allmählich  sich  läutern  läfst,  so  wird  auch 
der  anfangs  thörichte  Rennwart  nach  und  nach  ein  anderer,  feiner  Mensch. 
Er  hat  so  das  lose  Gewiir  der  französischen  Dichtung  harmonisch  umge- 
staltet, den  Stoff  vertieft.  War  früher  der  Willehalm  immer  als  Fragment 
angesehen,  so  haben  neuerdings  San  Marte  und  Claws  zu  beweisen  gesucht, 
dafs  Wolfram  sein  Gedicht  vollendet  und  hinterlassen  habe.  Der  Verfasser 
beweist,  dafs  diese  Ansicht  irrig,  der  Willehalm  nicht  vollendet  sei.  Schon 
die  Angabe  des  Dichters,  dafs  er  Anfang  und  Ende  der  ihm  vorliegenden 
Erzählung  dem  Leser  vorführen  wolle,  dafs  aber  das  Ende  fehlt,  beweist 
gegen  San  Marte;  der  Schlufs  der  Bataiile  d'Aleschans  sollte  nach  des 
Dichters  Plane  bis  zu  Rennewarts  Vermählung  mit  Alyze  umgestaltet  werden. 
An  der  Vollendung,  so  nimmt  der  Verf.  mit  Wackernagel  an,  ist  er  alh-in 
durch  seinen  Tod  gehindert  worden:  in  den  Beginn  des  Jahres  1220  fallt 
die  Abfassung  des  neunten  Buches,  und  dies  Jahr  hat  er  kaum  überlebt. 
Wie  nun  der  Schlufs  des  Gedichtes  etwa  gewesen  sein  mlifste,  können  wir 
vermuten,  wenn  wir  genau  den  Ideengang  des  erhaltenen  Gedichtes  ver- 
folgen; diesen  legt  schliefslich  der  Verf.  anschaulich  vor. 


i 


Prügrammenschau.  449 

Dreizehnlieder.  Von  F.  W.  Weber.  Inhalt  und  Bemerkungen 
von  Dir.  Dr.  ß.  Werneke.  Programm  des  Gymnasiums 
zu  Montabaur  1884.     18  S.  4. 

Die  Abhandlung  bringt  eine  Inhaltsangabe  des  bekannten  Gedichtes, 
sowie  einen  Abrifs  des  Planes  desselben.  Der  Zweck  des  Verf.  ist,  dadurch 
zu  beweisen,  dafs  das  Gedicht  nicht  blofs  reich  sei  an  dichterischen  Schön- 
heiten, sondern  auch  das  treueste  Bild  des  Lebens  und  Treibens  unserer 
Vorfahren,  dafs  es  deshalb  wie  wenig  andere  Dichterwerke  sich  zur  Klassen- 
lektüre im  oberen  Gymnasium  eigne.  Ob  sich  dazu  neben  anderen  Ge- 
dichten, welche  doch  mehr  darauf  Anspruch  machen  dürften,  Zeit  finden 
mag,  bleibt  zweifelhaft.  Was  die  Schönheit  des  Gedichtes  betrifft,  so  hat 
wohl  ziemlich  einstimmig  die  Kritik  ein  günstiges  Urteil  gefällt;  vielfach 
ist  nur  die  Einwendung  gemacht,  dafs  es  einen  etwas  süfslichen  Charakter 
habe  und  an  den  überwundenen  Standpunkt  der  Romantik  erinnere. 


Oidipus  und  Lear.  Eine  Studie  zur  Vergleichung  Shakespeares 
mit  Sophokles.  Von  Prof.  Dr.  J.  J.  Richter.  I.  Teil. 
Programm  des  Gymnasiums  zu  Lörrach  1884.    18  S.  4. 

Der  Verf.  teilt  zuerst  die  ursprüngliche  Gestalt  der  Sage  vom  Oidipus 
mit,  nach  dem  Vorbilde  der  bekannten  Abhandlung  von  Schneidewin,  und 
bezeichnet  die  beiden  Punkte,  welche  sich  in  der  alten  Sage  nicht  fanden, 
das  die  Geburt  des  Oidipus  betreffende  Orakel  und  die  hierin  begründete 
Aussetzung  des  Kindes,  als  dramatische  Erfindung,  wodurch  erst  die  Ver- 
gangenheit mit  der  Zukunft  verknüpft,  der  Wille  der  Götter  als  der  be- 
stimmende Faktor  hingestellt  wurde.  Da  die  Handlungen  des  Oidipus  nicht 
aus  seinem  Charakter  hervorgehen,  so  mufsten  die  unerhörten  Frevel  der 
Mittelpunkt  des  dramatischen  Interesses  bleiben.  Die  Tragödie  führt  uns 
nur  die  gänzliche  ^  ernichtung  des  Glückes  des  Königs  vor.  Dann  ist  ferner 
merkwürdig  der  fortwährende  Widerspruch  zwischen  der  \'erblendung  des 
Oidipus  und  dem  klaren  Bewufstsein  des  Zuschauers  über  den  endlichen 
Ausgang,  endlich  der  Eintritt  der  Peripetie  durch  die  Erkennung  seiner 
selbst  durch  den  Helden  der  Tragödie.  Der  Verf.  giebt  hiernach  einen 
Überblick  über  den  Gang  des  Dramas,  wobei  er  gut  entwickelt,  wie  Oidipus 
auf  seinen  Verdacht  und  seinen  Eifer  gegen  Kreon  und  Teiresias  gekommen 
ist.  Inwiefern  von  einer  tragischen  Schuld  des  Oidipus  die  Rede  sein  kann, 
auf  diese  Frage  geht  der  \  erf.  hier  nicht  ein.  Er  wendet  sich  vielmehr 
gleich  zum  Lear.  Er  erzählt  die  alte  Sage  von  Lear,  über  welche  wir  be- 
kanntlich eine  besondere  Schrift  von  Eidam  haben,  und  bezeichnet  als  Ab- 
weichungen Shakespeares  das  unglückliche  Ende  Lears  und  der  Cordelia 
und  die  Verknüpfung  ihrer  Schicksale  mit  denen  der  Familie  Glosters.  Er 
giebt  dann  eine  Übersicht  über  den  Gang  der  Tragödie,  um  schliefslich 
den  Untergang  Glosters,  Lears  und  Cordelias  zu  motivieren.  Wie  oft  ist 
schon  die  Frage,  ob  Cordelia  schuldig  oder  nicht  schuldig  sei,  erörtert 
worden!  Ob  der  Verf.  den  Aufsatz  von  Ohlmann  im  zweiten  Bande  des 
Jahrbuches  der  deutschen  Shakespeare-Gesellschaft  kennt,  erhellt  nicht.  Er 
legt  sich  die  Sache  so  zurecht,  dafs  doch  die  gröfsten  Bösewichter  unter- 
gehen rnufsten,  dafs  aber,  wenn  Cordelias  Partei  die  Schlacht  nicht  verlor 
und  Cordelia  selbst  nicht  umkam,  der  Zweikampf  Edgars  mit  Edmund  un- 
möglich gewesen  sei,  Edmund  und  Goneril  ihre  Strafe  nicht  gefunden  hätten, 
ohne  Cordelias  Untergang  der  Krieg  nicht  aufgehört  hätte.  Gegen  diese 
Lösung  ist  aber  doch  noch  mancherlei  zu  erinnern.  Der  zweite  Teil  der 
Abhandlung  ist  dem  Ref.  noch  nicht  zugegangen. 

Archiv  f.D.  Spraclien.    LXXm.  29 


450  Programmenschau 


ö' 


Der  Lanzelot  des  Ulrich  von  Zatzikhoven.  (Schlufs.)  Von 
AI.  Neumaier.  Programm  des  Gymnasiums  zu  Troppau 
1884.     26  S.  gr.  8. 

Der  vorjährigen  ersten  Abteilung  hat  der  Verf.  hier  die  zweite  und 
letzte  folgen  lassen,  welche  die  Beziehungen  des  Lanzelot  zu  den  Werken 
llartmanns  von  Aue  behandelt.  Das  Resultat  der  eingehenden  Untersuchung 
ist,  dafs  der  Lanzelot  jünger  ist  als  Hartmanns  Erec,  dafs  Ulrich  bei- seinem 
Gedicht  den  Erec  als  nachzuahmendes  Muster  vor  sich  gehabt  habe,  wie 
sich  aus  vielen  sprachlichen  und  stofTlichen  Beziehungen  ergiebt;  ferner  hat 
Ulrich  viele  unhöfische  Ausdrücke,  woraus  ihm  aber  kein  Vorwurf  zu  machen 
ist,  vieles  auch  hat  er  mit  der  V^olkspoesie  gemein;  aus  seiner  Genauigkeit 
in  der  Behandlung  der  Metra  ist  zu  schliefsen,  dafs  er  kein  geringer  Dichter, 
kein  Anfänger  war,  sowie  auch  dafs  der  Lanzelot  nicht  als  sein  erstes  Werk 
anzusehen  ist  Die  Vorwürfe,  welche  einige  Kritiker  dem  Lanzelot  gemacht 
haben,  treffen  alle  zeitgenössischen  Dichter,  unserem  Geschmack  erscheint 
bei  allem  manches  fremdartig.  Aufser  Erec  sind  alle  übrigen  Gedichte 
Hartmanns  jünger  als  der  Lanzelot.  Im  Gebrauch  der  Fremdwörter  über- 
triff*t  der  Lanzelot  noch  den  Erec;  manche  vulgäre  Ausdrücke  kommen  nur 
in  unserem  Gedichte  vor  und  sind  schwer  zu  erklären.  Zu  seinen  Vorzügen 
gehört  sein  Geschmack  in  der  Anwendung  poetischer  Hilfsmittel,  z.  B,  der 
Tropen,  rhetorischen  Redewendungen.  Mit  ziemlicher  Gewifsheit  ist  der 
Lanzelot  in  die  Jahre  1196 — 1200  zu  setzen. 

Ein  Beitrag  zur  Kenntnis  des  Sprachgebrauchs  Klopstocks. 
Von  Christ.  Würfl.  (Forts.)  Programm  des  zweiten  deut- 
schen Gymnasiums  zu  Brunn  1884.     56  S.  gr.  8. 

Wie  die  im  Archiv  angezeigte  erste  Abteilung  der  Abhandlung,  so  ver- 
dient die  vorliegende  zweite,  welche  noch  umfangreicher  ist  und  von  dem 
Verbum  Gallicismen  bis  zum  Subst.  Urteilssprecher  reicht,  wegen  der  grofsen 
Sorgfalt  mit  Lob  hervorgehoben  zu  werden.  Auch  aus  dieser  Abteilung 
werden  die  deutschen  Wörterbücher  ohne  Ausnahme  einen  ungemein  reichen 
Stoff"  schöpfen  können;  hier  erst  erkennen  wir,  wie  sehr  viele  Wörter  oder 
doch  deren  Gebrauchsweise  auch  im  Grimmschen  Wörterbuche  fehlen.  Dafs 
sie  fehlen,  ist  freilich  ein  Beweis,  dafs  sie  sich  nicht  haben  einbürgern 
können ;  aber  sie  geben  uns  doch  das  deutlichste  Zeugnis  von  der  sprach- 
schöpferischen Kraft  Klopstocks.  die  vor  keiner  Kühnheit  bangte.  Die 
alphabetische  Ordnung  erleichtert  die  Übersicht  über  die  Neuerungen  Klop- 
stocks; es  sind  somit  die  beiden  Programme  eine  willkommene  Ergänzung 
zu  des  Verf.  umfangreichen  Aufsätzen  über  die  poetische  Sprache  Klop- 
stocks im  G4.  und  6.ö.  Bande  des  Archivs.  Um  den  Reichtum  des  Stoffes 
klar  zu  machen,  würcle  es  nötig  sein,  den  gröfsten  Teil  des  Programms 
.  wiederzugeben ;  ein  Bild  mag  ein  Auszug  aus  den  ersten  Blättern  liefern. 
Ks  fehlen  also  im  deutschen  Wörterbuche  u.  a.  folgende  Klopstocksche 
Wörter:  „mich  gallicismet,  Galliatte  =  französ.  Sprache,  Garbengefilde, 
Gebärerinangst,  geheindeckend,  Geberin.  Part,  geglaubt,  geheimnisverhüllend, 
Geierklaue,  Geiferbifs,  halbgeheitert,  halbkreiseml,  halbnnkenntlich,  halb- 
zürnend, Hallelujagesang,  Harfenlaut,  Harfentonsname,  Heerchen  =  kleine 
Heere,  heilerfullt,  Heilgeber,  heiliggefaltet,  Heilmeer,  Heiltag,  Heilungskraut, 
heifsgefaltet,  herabgaff*en,  herabschmettern,  herabschreien,  herabstammeln, 
herabstrahlen,  heraWtönen,  herabwanken,  herabwehen,  Heralde,  heraufarbeiten, 
heraufbeben,  heraufbrausen,  heraufglühen,  heraufgrenzen,  herauf  klagen, 
Heraufkunft,  heraufrücken,  heraufrufen,  heraufsingen,  heraufstrahlen,  herauf- 
tönen, heraufwandeln,  heraufwanken,  heraufwehen,  heraushelfen,  herbeiolasen, 
herherrschen,  herketten,  herlahmen  u.  s.  w."    Es   ^ind  nicht  blofs  Komposita, 


Projrramnienschau.  451 


c 


in  deren  Bildung  Klopstock  unerschöpflich  war,  die  hier  als  in  den  Wörter- 
büchern fehlend  zusammengestellt  sind,  überall  mit  allen  Belegstellen;  auch 
in  Bezug  auf  eigentümlichen  (lebrauch  bietet  die  Abhandlung  reichen  Stoffi 
und  endlich  auch  bei  den  längst  aufgenommenen  Wörtern  ist  doch  die 
Autorität  Klopstocks  so  wichtig,  dafs  auf  ihn  mehr  als  bisher  geschehen 
Rücksicht  genommen  werden  muffte.  Die  Abhandlungen  des  Verf.  ver- 
dienen daher  für  die  Zukunft  wohl  beachtet  zu  werden. 

Lessings  Hamburgische  Dramaturgie  als  Schullektüre.  Von 
Dr.  Schmitz.  Programm  des  Gymnasiums  zu  Wehlau 
1884.     24  S.  4. 

Um  die  Hamburgische  Dramaturgie  dem  Schüler  näher  zu  bringen,  dafs 
er  von  ihr  aus  die  unzulänglichen  dramatischen  Versuche  der  früheren  Zeiten 
wie  die  Meisterwerke  der  folgenden  Generation  richtig  würdigen  lerne,  dazu 
hat  der  Verf.  den  vorliegenden  Versuch  gemacht.  P>  teilt  seinen  Stoff  in 
drei  Teile,  im  ersten  führt  er  den  Entwickelungsgang  des  deutschen  Dramas 
bis  auf  Lessing,  mit  besonderer  Berücksichtigung  Gottscheds,  vor.  Dieser 
Teil  hätte  aber  fehlen  können;  was  da  gesagt  ist,  weifs  doch  nicht  blofs 
jeder  Lehrer,  sondern  es  ist  Gemeingut  der  gebildeten  Welt.  Der  zweite 
Teil  will  Lessing  als  dramatischen  Dichter  und  dramaturgischen  Schrift- 
steller schildern  und  seine  Verdienste  um  das  Drama  in  das  rechte  Licht 
setzen ;  nachher  be^eicllnet  der  Verf.  richtiger  den  Inhalt  als  Lessings  dra- 
matische und  dramaturgische  Thätigkeit  bis  zur  Dramaturgie.  Da  der  Lehrer 
auch  hier  nichts  Neues  findet,  der  Schüler  aber  schwerlich  die  Citate  aus 
Lessings  Briefen  nach  der  Maltzahnschen  Ausgabe  nachsehen  wird,  so  wäre, 
um  Raum  zu  gewinnen,  auch  wohl  dieser  Teil  besser  weggeblieben.  Der 
dritte  Teil  endlich  betitelt  sich:  Versuch,  den  Gesamtinhalt  der  Dramaturgie 
nach  bestimmten  Gesichtspunkten  zusammenzustellen,  oder,  wie  es  vorher 
heifst,  den  überreichen  Inhalt  derselben  in  den  Rahmen  einer  schematischen 
Disposition  zu  bringen.  Auf  diese  Weise  soll  eine  vollständige  Übersicht 
über  die  Schrift  gewonnen  werden.  Die  Aufgabe  ist  nicht  leicht.  Der 
Verf.  legt  sich  die  Lösung  so  zurecht,  dafs  er  als  Grundthema  bezeichnet 
die  Klarstellung  des  Wesens  des  echten  Dramas  im  Anschlufs  an  Aristoteles, 
demnach  seien  die  zwei  Teile:  Nachweis  der  bisherigen  Regeln  als  irriger, 
und  Darlegung  der  Regeln  des  Aristoteles.  Daraus  sollen  sich  ergeben  als 
Unterabteilungen  für  den  negativen  Teil:  deutsches  und  französisches  Theater, 
für  den  positiven  einerseits  die  Gegensätze  Tragödie  und  Komödie,  anderer- 
seits Definition  der  Tragödie  und  Hauptbestandteile,  woran  sich  schliefsen 
Einzelheiten  das  Drama  betreffend  und  Zusammenstellung  der  auf  Shake- 
speare bezüglichen  Stellen.  In  dieser  Weise  hat  nun  der  Verf.  den  reichen 
Stoff"  zu  ordnen  gestrebt,  und  man  mufs  einräumen,  dafs  das  innerlich  Ver- 
wandte mit  Fleifs  herausgesucht  und  aneinandergereiht  ist.  Überblicken 
wir  aber  die  ganze  Zusammenstellung,  welche  die  starke  Hälfte  der  Arbeit 
ausmacht,  so  vermissen  wir  trotzdem  diesen  und  jenen  Punkt  der  Drama- 
turgie, den  Lessing  keineswegs  für  ganz  unbedeutend  ansieht;  andererseits 
ist  die  Disposition  keineswegs  leieht  übersichtlich  und  einleuchtend.  Der 
erste  negative  Teil  z.  B.  soll  nachweisen,  dafs  die  französische  Tragödie 
nicht  die  gerühmte  Vollendung  besitze,  da  sie  auf  unrichtigen,  den  Aristo- 
teles mifsverstehenden  Principien  beruhe,  also  keine  wahre  Komödie  im 
Sinne  des  Aristoteles  sei.  Da  wird  man  doch  zunächst  eine  Bekanntschaft 
mit  den  Grundsätzen  des  Aristoteles  erwarten.  Hier  aber  lautet  die  Dispo- 
sition: a)  das  deutsche  Theater,  es  ist  verderbt,  die  Dichter  sind  unreif, 
die  Kritiker  Schwätzer,  das  Publikum  urteilslos,  die  Schauspieler  zu  empfind- 
lich; Kritik  deutscher  Originaldramen,  wie  Cronegks  Olint,  Weifses  Richard  III. 
Da  ist  also  weder  von  Aristoteles  noch   von  der  französischen  Tragödie  die 

29* 


452  Programmenscliau 


ö' 


Rede;  dieser  erste  Punkt  konnte  also  nicht  mit  Fuji  als  erste  Unterabteilunfr 
des  ersten  Hauptteiles  aufgeführt  werden.  Ahnliche  logische  Bedenken 
lassen  sich  öfters  gegen  das  Folgende  erheben.  Nirht  sowohl  als  eine 
Disposition  möchte  demnach  die  Arbeit  bezeichnet  werden,  als  vielmehr  als 
ein  Index,  der  freilich  nicht  ganz  vollständig  ist;  als  solcher  hat  er  seinen 
^Vert.  In  der  Einleitung  s:iirt  mit  vollem  Kecht  der  Verf.  von  der  Drama- 
turjrie.  dafs  erst  durch  sie  über  d;is  Wesen  und  das  Ziel  des  Dramas  für 
rille  Zeiten  unumstöfsliche  Normen  aufgestellt  seien,  dafs  erst  durch  sie  die 
i'ranzösischen  Regeln  ihre  richtige  Beurteilung  gefunden  haben,  die  groben 
Mängel  der  französischen  Tragödie  nachgewiesen  seien.  Nachher  aber  scheint 
er  durch  Autoritäten  sich  haben  bestechen  zu  lassen  und  will  Lessings  strenges 
Urteil  darum  eingeschränkt  wissen,  weil,  wenn  die  französische  Tragik  in 
^Vahrheit  Unnatur  und  Künstelei  wäre,  es  unmöglich  sein  würde,  dafs  auch 
heute,  nach  einem  Jahrhundert  der  gewaltigsten  staatlichen  und  gesell- 
.»'chaftlichen  Umwiüzungen,  Corneille  und  Racine  im  Herzen  eines  grofsen 
gebildeten  Volkes  noch  immer  ihre  ungeschmälerte  Geltung  behaupten.  Ist 
dies  Faktum  ein  Gegenbeweis?  Dann  würde  auch  zu  folgern  sein,  dafs 
X'ictor  Hugos  neueste  Ergüsse,  welche  das  grofse  gebihlete  Volk  als  höchste 
Poesie  anstaunt,  mit  Unrecht  tolle  Exklamntionen  genannt  werden.  Und 
bedingen  die  grofsen  politischen  Umwälzungen  Vertiefung  des  feinen  Ge- 
schmacks? Ja,  den  ganzen  Wert  der  Hamburger  Dramaturgie  reduziert 
in  der  Note  der  Verf.  auf  ein  Minimum,  indem  er  erklärt:  „Die  französische 
Tragö<lie  ist  nach  Lessing  keine  Tragödie  im  Sinne  des  Aristoteles, 
und  darum  keine  wahre  Tragödie."  Dann  ist  die  Hamburger  Dramaturgie 
nichts  als  ein  Kommentar  zum  Aristoteles,  Lessing  ein  gewöhnlicher  Scholiast, 
und  es  ist  wieder  zweifelhaft,  ob  überhaupt  auf  Aristoteles  etwas  zu 
geben  ist. 

Die  Lektüre  der  Hamburo^Ischen  Dramaturcrie  Lessino^s  In  der 
Oberprima.  Von  Prof.  L.  Zück.  I.  Teil.  Programm  des 
Gymnasiums  zu  Rastatt  1884.     26  S.  4. 

Die  zweite  Hälfte  dieses  Programms  enthält  die  praktische  Anwendung 
der  Auseinandersetzung  der  ersten  Hälfte ,  nämlich  die  Darstellung  der 
Lessingschen  Kritik  des  Trauerspiels  Olint  und  Sophrome  von  Cronegk  und 
seine  Aufführung,  oder  einen  Lehrgang,  oder  eine  Lehrstunde  über  St.  1 — 7, 
oder  vielmehr  nur  den  ersten  Teil  der  Besprechung,  nämlich  der  Kritik  des 
Trauerspiels;  Raummangel  bedingte  den  Abbruch  mitten  im  Thema,  die 
Fortsetzung  soll  das  nächste  Programm  bringen.  Man  kann  über  diesen 
und  jenen  Punkt  anderer  Ansicht  sein  als  der  \'erf.,  z.  B.  über  das  bei- 
läufig erwähnte  innerliche  Verhältnis  der  Emilia  Galotti  zu  dem  Prinzen, 
über  die  sehr  ausgedehnte  Heranziehung  der  Schriftsteller,  welche  Lessing 
in  seiner  Kritik  erwähnt,  insofern  dadurch  sehr  viel  Zeit  beansprucht  wird; 
aber  das  mufs  man  zugeben,  dafs  durch  die  Art  der  Behandlung,  welche 
hier  vorliegt,  unzweifelhaft  die  Aufklärung  und  Bildung  des  Schülers  sehr 
gefördert  wird.  Diese  Methode,  alles  genau  anzusehen,  überall  zu  fragen, 
diß  Begriffe  allmählich  zu  klären,  endlich  systematisch  zusammenzufassen, 
mufs  Frucht  tragen.  L'nd  auch  wenn  man  dies  und  das  kürzer  fassen,  hier 
und  da,  um  schneller  voranzukommen,  den  Lehrer  vortragen  lassen  will, 
statt  den  Schüler  zu  fragen,  mufs  man  sagen,  dafs,  wenn  dieser  erste  Teil 
der  Dramaturgie,  diese  erste  Kritik  in  dieser  Weise  durchgemacht  ist,  der 
Schüler  so  viel  reifer  im  Selbstdenken,  so  viel  reicher  an  wohlverstandenen 
Begriffen  geworden  ist,  dafs  das  \'erständnis  des  Folgenden  ihm  wenig 
Schwierigkeiten  mehr  bereiten  wird,  die  Lektüre  viel  rascher  vorangehen 
kann.  Reifst  man  die  Fragen  aus  dem  Zusammenhange,  welche  der  Verf. 
stellt   und  beantwortet  wissen    will,    dann    mögen    sie   schwierig    erscheinen; 


Programmenschau.  453 

aber  der  Zusammenhang  lehrt,  dafs  sie  (ler  Schüler  beantworten  kann  und 
in  seinem  Denken  lobenswerte  Fortschritte  gemacht,  z.  B.  unter  welchen 
Bedingungen  darf  der  dramatische  Dichter  als  Genie  bezeichnet  werden? 
Wann  kann  die  Handlung  wahrscheinlich  genannt  werden?  AVas  sind  Leiden- 
schaften? Welches  ist  der  Unterschied  in  der  Thätigkeit  des  Genies  und 
des  Talents?  Auf  welchen  Gebieten  äufsert  sich  das  Genie?  Hier  kommen 
wir  zu  vortreft'lichen  Dispositionsübungen.  Die  Gefahren  des  Genies,  die 
Notwendigkeit  der  Beschränkung,  der  Regeln,  alles  kommt  dem  Schüler  zum 
Bewufstsein.  Weiter:  Was  heifst  romantisch?  Wann  werden  \  erstöfse 
gegen  die  historische  Wahrheit  in  der  Dichtung  zu  Fehlern?  Erörterung 
des  Begriffs  der  Schwärmerei  an  einzelnen  Charakteren,  Welches  ist  der 
Unterschied  zwischen  einem  falschen  und  einem  wahren  Märtyrer?  In- 
wiefern will  das  Trauerspiel  angenehme  Thränen  erwecken  ?  Was  sind 
moralische  Wunder?  warum  sind  sie  im  Trauerspiel  nicht  zulässig?  Mora- 
lischer Endzweck  der  Tragödie?  Was  ist  ein  christliches  Trauerspiel?  ist 
es  überhaupt  möglich? 

Im  ersten  Teile  seiner  Abhandlung  giebt  der  \  erf.  die  Stücke  der 
Hamburgischen  Dramaturgie  an,  die  zu  lesen  seien;  man  kann  der  Auswahl 
nur  zustimmen.  Er  setzt  aber  voraus,  dafs  der  Schüler  mit  den  Dramen, 
welche  Lessing  kritisiert,  bekannt  sei ;  sei  das  nicht  der  F'all,  so  bringe  (h'e 
Lektüre  der  Hamburgischen  Dramaturgie  für  die  Schüler  mehr  Nachteile 
als  Vorteile,  Nachteile  nämlich  für  den  Charakter,  sie  lernten  über  Dinge 
reden,  die  sie  nicht  aus  eigener  Anschauung  kennen ;  es  müfsten  daher  schon 
in  der  Obersekunda  französische  Dramen  gelesen  werden,  Voltaires  Semi- 
ramis,  Merope  und  Zaire,  Corneilles  Rodogune  gehörten  in  den  Kanon  der 
französischen  Schullektüre.  Ist  das  wirklich  notwendig?  Unsere  an  der 
griechischen  und  deutschen  Poesie  genährte  Jugend  kann  doch  wenig  Ge- 
schmack finden  an  dem  klassischen  Drama  der  Franzosen.  Und  sodann 
durch  die  Lessingsche  Polemik  und  Kritik  hindurch,  deren  Wahiheit  sich 
ihr  von  selbst  aufdrängt,  gelangt  sie  zu  positiven  Besultaten,  welche  für 
sie  die  wichtigste  Frucht  der  Dramaturgie  sind;  die  Objekte,  durch  deren 
Sektion  die  Wahrheit  gefunden  ist,  sind  für  sie  bedeutungslos.  Der  Ernst 
der  Lessinjischen  Kritik  imponiert  ihr;  wenn  sie  auch  blindlings  jetzt  auf 
Lessrng  schwört,  wird  sie  nicht  damit  zu  leichtfertigem  Aburteilen  gebracht; 
die  Gefahr,  welche  der  Charakter  laufen  soll,  ist  doch  wohl  nur  erträumt. 
Dafs  der  Verf  auch  sprachliche  Eigentümlichkeiten,  Satzbildung  u.  s.  w. 
beachtet  wissen  will,  ist  zu  loben;  auch  auf  die  stilistische  Bildung  soll  die 
Dramaturgie  wirken,  und  das  ist  nur  möglich,  wenn  auf  die  präcise  Schlufs- 
folgerung,  auf  treffende  Metaphern,  prägnante  Ausdrücke  aufmerksam  ge- 
macht wird.  Auch  hier  in  dem  ersten  Teile  erwähnt  der  Verf.  die  Emilia 
Galotti  als  eine  Charaktertragödie,  in  welcher  der  tragische  Ausgang  der  Emilia 
nicht  ganz  unverschuldet,  sondern  die  naturnotwendige  Folge  eine  tragische 
Schuld  und  damit  in  ihrem  Charakter  begründet  sei;  diese  Auffassung  ist 
bekanntlich  heutiges  Tages  nicht  mehr  allgemein  angenommen.  Viele  schöne 
Aufgaben,  die  im  Anschlufs  an  die  Hamburger  Dramaturgie  der  Schüler 
mündlich  oder  schriftlich  behandeln  kann,  sind  hier  und  da  vom  Verf.  an- 
gegeben. Kein  Lehrer  des  Deutschen  in  den  oberen  Klassen  möge  die  Ab- 
handlung unbeachtet  lassen. 

Zu  Lessings  Laokoon.  Bemerkuno-en  zu  BUimners  Laokoon- 
Studien.  Heft  II:  über  den  fruchtbarsten  Moment.  Von 
Oberlehrer  Dr.  H.  Fischer.  Programm  des  Gymnasiums 
zu  Greifswald  1884.     24  S.  4. 

Die    Abhandlung    gehört    zwar    grofsenteils    in    das    Fach    der    Kunst- 
geschichte,   sie    darf   aber    nicht    ganz    im   Archiv    übergangen    werden ;    es 


454  Proorammenschau 


o* 


handelt  sich  um  die  AUgemeingültigkeit  eines  Lessingschen  Satzes.  Der 
fruchtbars^te  Moment,  sagt  bekttnntlich  Lessing,  ist  derjenige,  welcher  der 
Einbildungskraft  das  freieste  Spiel  läfst ;  die  höchste  Stafl'el  eines  Affektes 
bietet  diesen  Vorteil  nicht,  folglich  darf  diesen  Punkt  der  Künstler  nicht 
wählen.  Blümner  hat  nun  nachweisen  wollen,  dafs  eine  grofse  Zahl,  viel- 
leicht die  Mehrzahl  der  als  vollendet  angesehenen  Kunstwerke  die  äufserste 
Stufe  des  Affekts  zeigten,  wonach  dann  Lessings  Satz  nicht  zum  allgemeinen 
Princip  erhoben  werden  dürfte.  \'on  einzelnen  dieser  von  Blümner  vor- 
geführten Werke  beweist  nun  aber  der  Verf.,  dafs  der  dargestellte  Moment 
keineswejis  die  höchste  Staffel  des  Affekts  bezeichne.  Von  der  Laokoon- 
pruppe  giebt  er  zu,  dnfs  sie  zur  Erhärtung  des  Lessingschen  Satzes  wenig 
geeifinet  erscheine,  aber  bemerkt,  dafs  sie  mindestens  ebenso  wenig  zu 
seiner  Widerlegung  geeignet  sei.  Mit  liecht  habe  dagegen  Blümner  gesagt, 
dafs  die  Grenzen  dessen,  was  mit  dem  Schönheitsbegriff"  der  Griechen  ver- 
einbar war,  viel  weiter  waren  als  Lessing  sieh  habe  träumen  lassen.  Auch 
giebt  er  Blümner  zu,  dafs  die  christliche  Malerei  des  Mittelalters  vor  der 
Darstelluns:  von  Gegrenständen  des  äufsersten  Affekts  oder  des  höchsten 
Punktes  der  Handlung  keineswegs  zurückgeschreckt  sei ;  diese  Kunst  habe 
ja  mehr  im  Dienste  der  Keligion  als  der  Schönheit  gestanden.  Einzelne 
grofse  Meister  der  modernen  Kunst  führt  dann  der  Verf.  vor,  um  an  ihnen 
Blümners  Widerspruch  zu  prüfen.  Da  sehen  wir  denn,  dafs  selbst  der 
kühnste  von  allen,  Michelangelo,  nur  in  wenigen  Werken  den  Höhepunkt 
der  Handlung  gewählt  hat,  sonst  immer  einen  dem  Gipfel  der  Handlung 
bald  vorangehenden,  bald  nachfolgenden  Augenblick.  Die  weiteren  Aus- 
einandersetzungen des  Verf.  über  Rafael,  Correggio,  Tizian,  Dürer,  Rubens, 
die  Maler  der  Gegenwart  müssen  hier  übergangen  werden ;  wir  empfehlen 
sie  allen  denjenigen,  welche  sich  für  die  Kunst  und  die  Afterkritik  inter- 
essieren, die  letztere  bekommt  manches  verdiente  Wort  zu  hören.  Der 
Verf.  schliefst  damit,  dafs  er  Blümners  Einwendungen  gegen  den  Lessing- 
schen Satz  als  im  wesentlichen  unbewiesen  erklärt,  dafs  zu  allen  Zeiten 
wahre  Künstler  bei  Darstellunor  von  Handlungen,  welche  mit  hoher  Steige- 
rung  des  Affekts  verbunden  sind,  es  vermieden  haben,  den  höchsten  Punkt 
der  Handlung  zu  wählen,  dafs  es  aber  auch  ^Verke  giebt,  bei  denen  es  dem 
Künstler  gar  nicht  darauf  ankommt,  die  Phantasie  anzuregen,  sondern  eben 
nur  den  dargestellten  Moment  zu  zeigen.  Somit  bleibt  es  bei  der  Gültig- 
keit des  Lessingschen  Satzes  als  eines  allgemeinen  Kunstgesetzes. 

Goethe  als  Student  in  Leipzig.  Von  Prof.  L.  Blume.  Pro- 
gramm des  akademischen  Gymnasiums  in  Wien  1884. 
19  8.  gr.  8. 

Der  noch  verbreiteten  Meinung  gegenüber,  als  ob  Goethes  Lebensweg 
so  glatt  und  geradlinig  gewesen,  dafs  ihm  jeder  Umweg  und  jede  Ver- 
irrung  auf  demselben  erspart  geblieben  sei,  will  der  Verf.  nachweisen,  dafs 
auch  in  Leipzig  Goethe  mancherlei  Wandlungen  innerlich  durchgemacht 
habe.  Die  Beweise  dafür  sind  richtig  beigebracht;  sie  lagen  aber  schon 
in  der  bisherigen  Litteratur  über  diese  Periode  vor;  wer  mit  dieser  bekannt 
ist,  findet  hier  neue  Aufschlüsse  nicht-vor;  eine  geschickte  Zusammenstellung 
des  Bekannten  ist  jedoch  der  Arbeit  nicht  abzusprechen. 

Zu  Goethes  Gedichten.  Von  Karl  Rieofer.  Programm  -des 
Franz-eToseph-Gymnasiums  zu   Wien  1884.   16  S.  gr.  8. 

Der  Verf.  setzt  das  Gedicht  „Beherzigung"  in  das  Jahr  1775  nach  der 
Rückkehr  von  der  Schweizerreise,  wo  Goethe  doch  nicht  wufste,  ob  er 
bleiben  solle;    in    dem   Gefühl   der  Unruhe   gebe   sich    der  Dichter   den  Be- 


Programmenschau.  455 


scheid,  dafs  jeder  nach  seinem  Triebe  handeln,  aber  sich  treu  bleiben  müsse. 
Gleichzeitig,  dieselbe  Situation  darstellend  ist  dem  Verf.  das  Gedicht  „Er- 
innerung". Von  der  Kantate  „Rinaldo",  welche  1811  entstanden,  giebt  der 
Verf.  eine  Einzelerklärung.  Er  giebt  die  vielfachen  Anklänge  an  das  dem 
Dichter  von  Jugend  an  bekannte  Gedicht  Tassos  an,  sowie  aber  auch  die 
darin  sich  aussprechende  Stimmung  Goethes;  damals  habe  derselbe  bei  der 
Arbeit  an  seiner  Autobiographie  in  der  Erinnerung  sich  wieder  ganz  in  die 
Jugendzeit  versenkt,  und  sein  innerliches  Verhältnis  zu  Lili  klinge  noch 
einmal  wieder  aus  diesem  Gedichte  uns  entgegen.  Die  Erklärung  hat  viel 
für  sich, 

Goethes  Iphigenie  auf  Tauris,  nach  den  vier  überlieferten 
Fassungen.  \^on  M.  Reckling.  Programm  des  Gym- 
nasiums zu  Buchsweiler  1884.     32  S.  4. 

Die  Arbeit  weist  mit  minutiösem  Fleifse  nach,  wie,  je  mehr  sich  die 
Gestalt  der  Heldin  dem  Dichter  verklärte,  er  um  so  mehr  strebte,  dieser 
Gestalt  die  reinsten  Farben  zu  geben,  und  mit  welcher  minutiösen  Sorgfalt 
er  dabei  zu  Werke  ging,  bis  er  endlich  seiner  Dichtung  diesen  bezaubernden 
Wohllaut  der  Sprache  verliehen  hatte.  Die  vier  Bearbeitungen  sind  1883 
von  Bächtold  herausgegeben,  es  sind  die  erste  Prosafassung  von  1779  (A), 
die  Fassung  in  freien  lamben  von  1780  (B),  die  dritte  Prosabearbeitung 
von  1781  (C),  endlich  die  letzte  Bearbeitung  in  fünffüfsigen  lamben  (D). 
Dazu  kommt  noch  die  sogen.  Strafsburger  Fassung,  welche  Bächtold  vor  B, 
dagegen  der  Verf.  wegen  der  hier  aufgezählten  Abweichungen  von  A  und  B 
nach  B  setzt.  Über  die  Entstehung  und  Weiterbildung  der  Jphigenie  hat 
Düntzer  die  Beweisstellen  gesammelt,  aus  denen  der  Verf.  einen  Auszug 
giebt.  Die  sowohl  Motivierung  als  Stil  berücksichtigende  stete  Vervoll- 
kommnung des  Gedichtes  tritt  uns  erst  bei  einer  sorgfaltigen  Vergleichung 
der  verschiedenen  Fassungen  entgegen,  und  der  Verf.  der  Abhandlung  hat 
sich  das  grofse  Verdienst  erworben,  diese  aufs  genaueste  vorgenommen  und 
die  Änderungen  nach  bestimmten  Gesichtspunkten  geordnet  zu  haben,  und 
zwar  vergleicht  er  zuerst  die  drei  Bearbeitungen  A,B,C  und  zuerst  in  Stil 
und  Ausdruck;  demnach  sind  die  Änderungen  in  C  mehr  dem  Charakter  der 
redenden  Person  angepafst,  so  dafs  der  Ausdruck  edler  wird,  im  Einzelnen 
findet  sich  gröfsere  Präcision,  unnötige  Worte  sind  gestrichen,  aber  es  werden 
auch  fehlende  Zwischengedanken  ergänzt,  Sätze  zu  besserer  Verbindung 
umgestellt.  Zweitens  verwendet  der  Dichter  in  C  verschiedene  Mittel,  um 
einen  gewissen  poetischen  Rhythmus  zu  schaffen.  Sodann  werden  ausführ- 
licher C  und  D  verglichen ;  die  Änderungen  sind  ungemein  zahlreich  und 
legen  so  recht  klar  die  wachsende  Vertiefung  des  Dichters  in  sein  Werk 
dar,  da  zeigen  sich  die  vielen  Änderungen  in  Bezug  auf  den  Ausdruck  und 
Stil,  die  der  Situation  und  den  Charakteren  mehr  entsprechen,  den  Ausdruck 
veredeln,  verdeutlichen.  Unnötiges  und  Unpassendes  entfernen,  fehlende 
Zwischengedanken  ergänzen,  epische  Fülle  erstreben,  durch  Personifikationen 
die  Diktion  poetischer  machen.  Dazu  sind  natürlich  die  Änderungen  aus 
metrischen  Rücksichten  sehr  zahlreich,  welche  wiederum  von  dem  Verf. 
nach  verschiedenen  Gesichtspunkten  wohl  geordnet  sind,  ^^'ie  es  nun  kam, 
dafs  das  Gedicht  in  seiner  neuesten,  uns  so  fesselnden  Gestalt  ohne  Be- 
geisterung von  den  Zeitgenossen  aufgenommen  wurde,  wird  erklärt  dadurch, 
dafs  man  die  alte  Form  gewöhnt  war;  so  erklärt  sich  Goethe  selbst  das 
Auffallende.  Der  Verf.  findet  den  Grund  aber  darin,  dafs  damals  noch  die 
ästhetische  Urteilskraft  nicht  gebildet  genug  war,  um  die  neuen  Schönheiten 
zu  fassen,  dafs  damals  noch  die  Sturm-  und  Drangperiöde  nichf  vorüber 
war,  das  Publikum  noch  für  Schillers  erste  dramatische  Kraftdichtungen 
schwärmte.  Gerade  Schiller  aber  war  es,  der  damals  die  neue  Iphigenie 
viel  vollkommener  als  die  frühere  nannte. 


456  Programmenschau. 

Die  Schicksalsidee  in  Schillers  ^Yallensteiu.  Von  Dr.  F.  G. 
Hann.  Programm  des  Gymnasiums  zu  Klagenfurt  1884. 
17   S.  gr.  8. 

Der  Wallenstein,  sagt  der  Verf.,  ist  eine  rechte  Schicksalstragödie  im 
antiken  Sinne.  Die  Schicksalsmacht  tritt  auf  in  der  Form  des  Gestirn- 
glaubens, der  Gestirnglaube  und  folglich  die  Schicksalsidee  ist  die  wirkende 
und  stürzende  Macht,  der  Lebensnerv  des  dramatischen  Werkes;  diese  Schick- 
salsidee in  Schillers  Wallenstein  sei  bisher  zu  wenig  gewürdigt.  Der  astro- 
logische "Wahn  Wallcnsteins?  Doch  wohl  nicht.  Aber  kämpft  denn  AV alien- 
stein gegen  diesen  Gestirnglauben,  der  doch  das  Schicksal  sein  soll,  an? 
Kann  da  von  einer  Schicksalstragödie  die  Rede  sein?  Der  Verf.  wird  sich 
düoh  wohl  mit  der  vulgären  Ansicht  vertragen  können.  Es  ist  eine  Fort- 
setzung der  Arbeit  versprochen ;  möge  diese  nicht  mit  so  zahllosen  Druck- 
fehlern überladen  sein,  wie  dieser  erste  Teil;  der  ärgste  ist  S.  5:  „die  ent- 
scheidende Tat,  der  vßgig  welcher  mit  Notwendigkeit  des  Helden  Unter- 
gang herbeiführt,  ist  getan." 

Herford.  Hölscher. 


M  i  s  c  e  1 1  e  n. 


Faust    und    Proserpina. 

Goethe  schrieb  am  23.  September  1800  an  Schiller:  „Meine  Helena  ist 
die  Zeit  auch  etwas  vorwärts  gerückt;  die  Hauptmomente  des  Plans  sind  in 
Ordnung  u.  s.  w.  Das  sehe  ich  schon,  dafs  von  diesem  Gipfel  aus  sich 
erst  die  rechte  Aussicht  über  das  Ganze  zeigen  wird",  worauf  Schiller  er- 
gänzend antwortete:  „Dieser  Gipfel,  wie  Sie  ihn  selbst  nennen,  mufs  von 
allen  Punkten  des  Ganzen  gesehen  werden  und  nach  allen  hinsehen." 

Am  5.  Juli  1827  äufserte  Goethe  zu  Eckermann:  „Ich  hatte  den  Schlufs 
(der  Helena)  früher  ganz  anders  im  Sinne,  ich  hatte  ihn  mir  auf  verschie- 
dene Weise  ausgebildet  und  einmal  auch  recht  gut;  aber  ich  will  es  euch 
nicht  verraten.  Dann  brachte  mir  die  Zeit  dieses  mit  Lord  Byron  und 
Missolunghi,  und  ich  liefs  gern  alles  Übrige  fahren."  Am  15.  Januar  1827 
hatte  er  zu  demselben  folgende  Aufserung  gethan:  „Fausts  Rede  an  die 
Proserpina,  um  diese  zu  bewegen,  dafs  sie  die  Helena  herausgiebt  —  was 
mufs  das  nicht  für  eine  Rede  sein,  da  die  Proserpina  selbst  zu  Thränen 
davon  gerührt  wird!" 

Dies  sind  die  bedeutsamsten  Bemerkungen  Goethes  über  seine  Helena- 
Schöpfung  —  wenig  genug,  um  ein  völlig  sicheres  Bild  zu  bekommen ;  nur 
soviel  erhellt,  dafs  die  Ausführung  wesentlich  anders  geworden  ist,  als  ur- 
sprünglich beabsichtigt.  Auf  jenen  Bemerkungen,  sowie  auf  einer  gründ- 
lichen Erwägung  des  überlieferten  Helena-Textes  fufsend,  äufsert  der  scharf- 
sinnige Goethefoi scher  Wilhelm  Scherer*  sich  in  sehr  einleuchtender,  ein- 
dringlicher Weise  über  die  Art  und  Weise,  wie  der  Altmeister  vermutlich, 
ja  höchst  wahrscheinlich,  seine  Helena  anfanglich  im  Sinne  gehabt  hatte. 
So  auch  nimmt  er  bestimmt  an,  dafs  zwischen  dem  zweiten  und  dritten  Akte 
eine  Lücke  ist,  wie  schon  aus  obigem  Gespräch  mit  Eckermann  ersichtlich, 
indem  an  fraglicher  Stelle  Fausts  Eintritt  in  die  Unterwelt  und  die  Erwei- 
chung der  Proserpina  behandelt  werden  sollte.  Ich  stimme  dieser  Ansicht 
Scherers  vollständig  bei,  wenngleich  v.  Loeper  (in  seiner  zweiten  Faust- 
Ausgabe)  dagegen  spricht:  „Goethe  hatte  die  Absicht,  die  Scene  in  der 
Unterwelt  auszuführen,  wie  Faust,  ein  anderer  Orpheus,  die  Helena  durch 
seine  rührenden  Bitten  der  Proserpina  abgewinnt;  nicht  blofs  die  Schwierig- 
keit, sondern  wohl  noch  mehr  die  Einsicht,  dafs  sie  dramatisch  entbehrlich 
sei.  wird  den  Dichter  von  der  Ausführung  abgehalten  haben."  Ich  bedaure, 
dafs  wir  die  unentbehrliche  und  wirksame  Scene  nicht  von  Goethes  Meister- 
hand   besitzen,    und    habe   nun   den    Versuch    gewagt,    unter   Anlehnung   an 


*  Deutsche  Rundschau  1883/84. 


458  Miscellen. 

Goethes  Sprachweise  und  Gedankenrichtung  die  Lücke  zu  füllen  —  ein 
gewaltif^es  Wagnis,  um  so  mehr  als  von  dem  Altmeister  selber  sonst  nicht  das 
mindeste  Stoffliche  vorliegt.  Dabei  hege  ich  nichts  weniger  als  den  Gedan- 
ken, irgendwie  Goethes  Geistestiefe  und  Formgewandtheit  nur  einigermafseii 
erreicht  zu  haben.  Immerhin  sei  meinem  \'ersuche  eine  freun<11iche  Auf- 
nahme entgegengebracht. 


Zauberhafte  matt  erhellte  hühlenartisre  Hnlle  mit  natürlichen  rohen  Pfeilern  von  glitzerndem 
Gesteine.  Der  bekränzte  Thron  der  Proserpina  in  Mitte  der  Mittelbiihne.  Rechts  vom  Zu- 
schauer: die  12  Eumeniden  —  mit  braunen,  langwallenden  Gewändern,  weit  herabliängen- 
dem.  schwarzlockigem  Haar,  kurzen,  zurückgeschlagenen,  hellgrauen  Sehleiern  und  Fackeln  in 
den  Händen.  Links:  die  12  Erinnyen  —  mit  dunkelgrauen,  kurzgehaltenen  Gewändern, 
schwarzem,  dicksträhnigem  Haar,  Schlangengeifsehi  in  den  Händen. 

Semna  (Eumenide,  zu  den  Erinnyen). 

Wilde  Schwestern,  zögert  nicht  lange  — 
Auf!  hinab  in  den  Tartarus! 
Wenn  euch  die  Königin  säumig  findet, 
Schilt  sie  mit  Recht  und  straft  euch  hart. 

Alekto   (Erinnye). 

Schwestern  nennst  du  uns,  böse  Semna? 
Gönnst  uns  den  Raum  nicht  am  Herrscher  thron! 
Ob  wir  Erinnyen,  ihr  Eumeniden  — 
Sind  —  bei  Styx!  —  nicht  geringer  als  ihr! 

Semna. 

Ei,  Alekto,  willst  du  mich  lehren, 
Tochter  der  Nacht,  wie  Proserpina  denkt? 
Sanft  ist  das  liebliche  Kind  der  Ceres  — 
Sie  verachtet  euer  Geschlecht. 
Schlangenhaarige,  Geifseltragende, 
Dolch-  und  Giftgerüstete,  weicht! 
Horcht  —  ich  höre  der  Königin  Nahen  — 
Eilt,  ihr  Schwesterlein!  flink  davon! 
(Leiser  Donner.) 

Hekate  (Eumenide). 

Friede,   Schwestern  zur  Rechten  und  Linken, 

Heiliger  Friede  walte  hier, 

In  der  Proserpina  würdigen  Hallen, 

Bis  an  die  Ufer  der  Lethe  und  Styx! 

Alekto   (gegen  Semna). 

Bitter  ist,  verschmäht  sich  sehen !  — 

Dienerinnen  der  Herrscherin 

Sind  wir  wie  ihr!  und  doch  verachtet  —  « 

Heuchlerinnen  durch  euer  Spiel!   — 

Komm,  Tisiphone!  komm,   Megära !   — 

Gleisnerinnen,  gedenkt  des  Worts: 

Büfsen  sollt  ihr  uns  eure  Ränke 

Ohne  Gnade  —  Rache  ist  süfs! 

Semna. 

Eilt,  dem  finstern  Pluto  zu  schmeicheln! 
Lafst  uns  unsere  Königin ! 
Euch  ist  der  Tartarus  angewiesen  — 
Zögert  nicht  länger  —   Proserpina  naht ! 


Miöcellen.  459 

Alekto. 

Schwestern,  kommt,  dem  Pluto  zu  klagen, 
Und  der  Rache  zu  denken  —  fort! 

(Die  Erinnyen  stürzen  nach  links  ab.) 

Semn  a. 

Rüstet  euch,  rüstet  euch,  liebe  Schwestern ! 
Fackeln  hoch !  Die  Königin  ! 

(Pause.  Proserpina  —  mit  langem  hellblauem  Faltenkleid,  lang  hcrabwallendem  Schleier, 
Stimreif,  myitengeschmückt,  einen  Stab  in  der  Hand  haltend  —  kommt  auf  einem  prächtigen 
Wagen,  mit  zwei  schwarzen  Stieren  bespannt,  von  rechts  ans^efahren.  Der  Donner  verhallt,  der 
Wagen  hält.  Sie  steigt  ab,  der  wagenlenkende  Knabe  fährt  nach  links  weiter.  Die  Eumeniden 
verbeugen  sich  und  gruppieren  sich  um  den  Thron,  zwei  Fackeln  werden  zu  Seiten  desselben 
aufgestellt.) 

Proserpina   (auf  dem  Tluonsitze  sich  niederlassend.) 

Ich  sah :   soeben  wichen  die  Erinnyen. 

Sie  scheun  mit  Recht  mein  Auge,  denn  ich  hasse  sie! 

Auf  des  Olympus  sel'gen  Höhen  weilte  ich 

Und  auf  des  Erdenrundes  friedlichem  Gefild, 

Wo  ich  die  Mutter  kos'te.     Nun  zurückgekehrt, 

Ist  mir  das  grause  Nachtgezücht  des  Tartarus 

Noch  ekler  und  verhafster  als  zuvor.     Doch  euch, 

Ihr  Wohlgesinnten,   biete  ich  den   Willkommgrufs ! 

Euch  bin  ich  immer  eine  gnäd'ge  Königin. 

Semna, 

Wir  wissen  es,  erhabne  Herrscherin,  dir  Dank 
Und  harren  der  Befehle,  dir  zum  Dienst  bereit. 

Proserpina. 

Geh,  Hekate,  dem  König  mich  zu  melden.     Sag : 

Ich  habe  mich  gerissen  von  der  Mutter  Brust, 

Es  drängt  mich  zur  Umarmung  meines  Gatten  nun. 

Hekate. 
Ich   eile,  Herrliche.  (Nach  links  ab.) 

Proserpina. 

Du,  Semna,  gehst  zum  Strand 
Der  Styx,  um  mir  Granaten  abzubrechen,  dann  — 
Merk  auf  —  zum  Lethestaden,  pflück  mir  milden  Mohn, 
Mein  armes  Herz  zu  trösten  nach  der  Trennung  Weh. 
Und  ihr,  Geliebte,  bleibet  nahe.     Kora,  komm 
Und  lehn  den  Kopf  an  meine  Kniee,      Glaub  mir,  Kind: 
Die  Erde  ist  doch  herrlich,   schöner  als  Olymp. 
Mit  stiller  Rührung  denke  ich  vergangner  Zeit, 
Da  ich  als  zarte  Jungfrau  noch  auf  Bluraenaun 
Lustwandeln  ging,   Narcissenkränze  windend  —   ach  I  — 
Weit  glücklicher  als  jetzo  hier,  obgleich  man  mich 
Als  mächt'ge  Fürstin  dieses  gröfsten  Reichs  verehrt. 
Noch   fühl  ich,  wie  der  jähe  Schreck  mein   Herz  durchfuhr, 
Als  plötzlich  aus  dem  finstern  Schlund  des  Feuerbergs 
Sich  Pluto  stürzte,  einem  wilden  Geier  gleich, 
Der  auf  das  Lamm  schiefst,  gierig  mich  nun  an  sich  rifs 
Und  in  dies  ewig-nächt'ge  Reich  hinuuterzog. 
Wohl  liebt  des  Schattenlandes  stolzer  Herrscher  mich   — 
Erschlofs  er  doch  die  unterird'schen  Schätze  mir, 
Freigieb'ger  Hand  zu  bieten  sie  der  Oberwelt  — , 


460  Miscellen. 

Erkennen  lernt  ich  Plutos  reiches  Herz  und  ihn 
Verehren,  ja:   ihn  lieben.     Aber  nimmer  kann   — 
Nach  Schluls  des  finstern  Schicksals  —  nimmer  kann 
Ich  Kinderglück  ihm   schenken.   —  Ewig  unfruchtbar 
Vertraure  ich  die  lange,  lange  Götterzeit. 
(Sie  verhüllt  ihr  Gesicht.     Pause.) 

Hekate   (zurückkehrend). 

Der  König  beut  dir  seinen  Gruls;  er  werde  bald 
Sich  deinem  Throne  nahen,  dich  ans  Herz  zu   ziehn  — 
Was  hast  du,   Edle,  Hohe?  —  Soll  Gesang  und  Tanz 
Das  Auge  dir  erheitern?  Sprich,  Proserpina! 

Proserpina   (wie  träumend). 

Ich  sah  auf  Erden  manches  glückbeseelte  Paar  — 
Und  Kinder,   Kinder  ungezählt.      Warum  nur  ich 
So  arm  und  freudlos?  Wehe! 

Sem  na   (zurükkehrend,  eine  Schale  tragend). 

Edle  Königin, 
Hier  ist,   was   du  begehrtest:   sanfter  Mohn,  und  hier  — 
Hier  sind  Granaten,  schönre  hast  du  kaum  gesehn. 
Wie,  Fürstin?  so  ergriffen  plötzlich?  —  Kora,  red! 

Proserpina. 

0  hätte  nie  mein  Auge  die  Granaten frucht 

Geschaut  und  lüstern  schmeichelnd  mir  zum  Mund  gelockt! 

Ich  weilte  heut  noch  unterm  Licht  der  Sonne !  . .  . 

Semna. 

Dich  trifft  der  Tadel,  Kora,  unerfahrnes  Kind : 
Nicht  hast  du  ihr,  wie  deine   Pflicht  gebot,   gedient; 
Sonst  hättest  du  die  Grillen  munter  weggescheucht. 
Ihr   auch,  ihr  habt  nicht  wohlgethan  — 

Prosperina. 

Gieb,   Semna,  schnell! 
Gieb  Mohn,  mein  wundes,  wildes  Herz  zu  sanften!  gieb! 
Und  reich  mir  von  der  gleifsend  roten  Frucht,  dafs  ich 
Erstarke,  Liebe,  ehe  mein  Gemahl  mich  sieht. 

Hekate. 

Mich  dünkt :   ich  höre  seinen  eil'gen  Schritt.     Es  hallt 
Dumpf  dröhnend  durch  die  Hallen  und  die  Höhlen  hin. 
Und  hört  ihr  nicht  den  heisern  Ruf  des  Cerberus? 

Semna. 

Nein,  nein   —    ha!   wer  ist  der? 

Faust   (von  rechts  heranstürmend). 

Wo  ist  sie?  wo  ist  meine  Helena?  — 
Und  wer  ist  diese?     Du  Proserpina?! 

(Sinkt  vor  dem  Throne  nieder.) 

Proserpina. 

Wer  bist  du,   sonderbarer  Fremdling?  sag  geschwind! 
Fürwahr,  mit  höchstem  Staunen  schaue  ich  dich  an: 
Die  Locke  ist  dir  unverschnitten,  und  dein  Blut 
Durchschiefst  die  Adern  heftig      Wie  dein  Auge  blitzt! 
Du  hast  die  glühen  Scheitern  nicht  durchschritten. 


MIscellen.  461 

S  emna   (zu  Hekate) 

Schau : 
Die  schlimmen  Lamien  haben  dem  das  Hirn  uniAvölkt! 

Faust. 
Zu  Füfsen  dir,   erhabne  Königin, 
Lafs  mich  die  eine,  einz'ge  Bitte  thun : 
O  gieb  mir  sie,  gieb  Helena  mir  hin, 
An  ihrem   sül'sen  Busen   lal's  mich  ruhn, 

Proserpina. 

Er  will  —  habt  ihr  vernommen?  —  will  der  Leda  Kind 

Zu  seiner  Lust  gewinnen  aus  der  Unterwelt ! 

Sprich,  INIann:  wie  trug  dein  kecker  Ful's  dich  her?  Sprich,  sprich! 

Faust. 

Nein,  Fürstin,  lenk  nicht  ab.     Erfüll  mein  Flehen, 
Mein  dringend  Flehen!  Ach,  ich  weils:  es  ist 
Ein  Kleines  dir,  so  ist  das  Werk  geschehen  — 
Ein  Wink!   —  und  sie  ist  mein  zu  dieser  Frist! 

Proserpina. 

Ihr  treuen  Eumeniden,  ist's  nicht  unerhört? 

Wie  kam  der  stolze  Erdensohn  in  unser  Reich  ? 

Ist  denn  nicht  mehr  verschlossen  diese  Unterwelt 

Jedwedem,   welcher  zugeeignet  uns  nicht  ist? 

Und  rauschen  nicht  die   Ströme  wild  um   unser  Land, 

Versperrend  jedem  Lebenden  den  Eintritt  hier? 

So  müssen  wir  uns   sorgen  unsrer  Sicherheit ! 

Erinnyen  !  wo  weilen  nun  die  Säumigen? 

Geh,  Hekate  —  die  Grimmen  sollen  gleich  —  Nein,  bleib  — 

(Zu  Faust.) 
Du  kühner  Mensch,  erbleichen  mufst  du  bei  dem  Wort 
Erinnyen  !  und  denken  an  die  schnellste  Flucht  — 
Wenn  du  dein  Leben  wahren  willst,   so  fleuch  geschwind ! 

Faust   (sich  stolz  bewufst  erhebend). 

Erinnyen?  Was  soll  es?  Nein,  du  schaust 
Mich  ruhig,      Wifs,   dafs  denen  nimmer  Macht 
Gegeben  über  mich.     Denn  ich  bin  Faust 
Und  spotte  solchen  Hirngespinsts  der  Nacht! 

Proserpina. 

Ist  das  dir  nicht  genügend,  eitler  Erdenwicht, 

So  beb  vor  Plutos  Antlitz ;   denn  er  selber  komnot 

Sogleich  hierher,  der  mächt'ge  Herr  des  Schattenreichs. 

Faust.    ' 

Er  komme  nur;  ich  hege  festen  Sinn. 
Gewalt'ger,  spräche  ich  mit  freiem  Wort, 
Gewalt'ger,   gieb   schön'   Helena  mir  hin, 
Lais  mich  sie  ziehn  aus  diesem  Schauerort ! 

Proserpina. 

Hört,   hört !   noch  hab  ich  solchen  Menschen  nie  gesehn. 
Der  wagt,  zu  spotten  also  unsres  Reiches  Macht! 

(Zu  Faust.) 
Ich  halt's  für  Pflicht,   zu   mahnen,   dafs  du  deines  Heils 
Gedenkest,  Thor  mit  deinem  überkecken  Sinn. 


462 


Miscellen. 


Faust.  ' 

Lafs  Helena  mit  freiem  Willen  ziehen  — 

Sonst  zwing  ich  dich !     Mir  ist  die  Kraft  verliehen. 

Proserpina  (drohend  den  Stab  erhebend). 

Geduld,  Geduld!   Ich  lache  deines  tollen  Muts, 

Und  wollte  ich,  so  lägest  du  entseelt  vor  mir. 

Doch  will  ich  nicht.     Ich  hoffe:  friedlich  scheiden  wir. 

(Für  sich.) 

Der  Fremdling  rührt  mit  seiner  stolzen  Zuversicht 

Mich  schier  und  der  Erscheinung  Anmut,     "Wahrlich  —  schön 

Ist  dieser  Jüngling  .  . . 

(Zu  Faust.) 

Jede  Feindung  sei  uns  fern. 
Nimm  dessen  zum  Beweise  diese  Frucht  von  mir. 
Ich  weifs:  sie  wird  dir  herrlich  munden  —  Frisch  versucht! 
Und  du  wirst  mehr  begehren  dieser  seltnen  Kost. 

Sem  na. 

Ei,  wie  listig  die  Herrin  ist ! 

Fesseln  möchte  sie  diesen  Fremden 

Sich  zur  Labe  in  ihrem  Reich. 

Ob  er  die  gleisnische  Frucht  wird  naschen? 

Hekate. 

Ja,  er  stutzt  —   er  schaut  die  Frucht, 
Schaut  der  Fürstin  fragend  ins  Auge. 

S  e  m  n  a. 

Nein,   er  lächelt,   als  ahne  er, 
Was  die  Stolze  im  Busen  erwäget. 

Proserpina. 

Du  zögerst?  Die  Granate  nimm  aus  meiner  Hand! 

Was  Sterblichen  sonst  unvergönnt,  das  beut  sich  dir. 

So  nimm!  Noch  immer  zweifelnd?  Nimm  die  Frucht,  mein  Freund! 

Faust. 

Nein,  Herrin,  nein  !   entschuld'ge  mich !      Viel  Dank  ! 

Geschworen  habe  ich  den  festen  Eid, 

Zu  kosten  weder  Speise,  noch  auch  Trank, 

Bevor  gehoben  ist  mein  Herzeleid, 

Und  du  die  schöne  Helena  ins  Leben 

Zurückgegeben  und  für  mich  gegeben  ! 

(Er  blickt  Proserpina  bittend  an.     Da  sie  schweigt,  fährt  er  leidenschaftlicher  fort:) 

Heg  Mitleid !   —  Als  Aurora  schon  erschien 

Die  Holde  oft  vor  meinen  trunknen  Sinnen, 

Und  jetzo  sollte  sie  mich  schnöde  fliehn? 

Nein,  nein  —  ich  mufs,  ich  mufs  sie  mir  gewinnen  I 

Mich  dünkt :  ich  fühle  sie  mir  nah,  so  nah  — 

Ach,   Helena!   wo  weilst  du?   —   Ha! 

(Proserpina  hat  leise  mit  den  F^umeniden  gesprochen  und  dann  eine  beschwörende  Hand- 
bewegun?  gemacht  Helena  als  Schatten  schreitet  langsam,  gedankenlos  von  links  über  die 
Bühne      Faust  sinkt  in  wildem  Entzücken  ihr  zu  Füfsen:) 

Du  bist's!      Ich  habe  dich  herbeigezogen 

Mit  meines   festen  Willens  Zauberkraft, 

Ich  sehe,  dafs  mein  Glaube  nicht  gelogen. 

Da,  Helena,  bist  meines  Daseins  Haft ! 

(Sie  schreitet  weiter.     Faust  springt  auf.) 


Miscellen.  463 

Nun  zögre,  Göttin,  Einz'ge  zögre,  weil'. 
Und  Minnewonne  werde  mir  zu  teil! 
(Sie  entweicht  seinen  Armen  nacli  dem  Hintergrunde  zu.) 
Was  ist  das?  Heifse  Sehnsucht  der  Umarmung 
Ergreift  mich  —  Sie  entschwindet  meinen  Händen ! 
Erbarmung,   o  Proserpina,   Erbarmung ! 
Mach  Ernst  und  lafs  dies  Gaukelspiel  sich  enden! 
(Helena  verschwindet  im  Hintergründe.     Faust  ihr  nachstrebend:) 
Halt!  halt! 

Proserpina. 

Geraach,  mein  Freund,  gemach! 

Faust. 
0  Helena! 

(Verzweiflungsvoll  zurücktaumelnd :) 

Sie  ist  entschwunden  —  ach ! 

Pro. s  erpin a. 

Ein  Schatten  nur  ist  Helena;   als  solcher  weilt 

In  unserm  Reich  Jahrtausende  sie  schon.     So  ist's 

Das  Schicksal  aller  Sterblichen,  wann  sie  verblüht 

Den  Scheitern  übergeben  werden:  die  Gewalt 

Der  Lohe  zehrt  der  Sehnen  Bindekraft  gar  schnell, 

Zehrt  Fleisch  und  Bein.    Ein  Schatten  bleibt  die  Seele  nur, 

Ein  luft'ges  Traumbild  einst'gen  Erdenseins  zurück, 

Und  so  entschwebte  Helena  dir  aus  dem  Arm. 

Faust   (der  Proserpina  zu  Füfsen  fallend). 

Gewalt'ge  Herrscherin  im  Schattenreich, 

Der  grofse  Faust  liegt  vor  dir  —  zagend,  bleich  — , 

Erflehend,  was  er  zu  ertrotzen  wagte. 

Als  ich  vermefsnen  Thuns  „ich  will  es!"  sagte, 

Da  zeigt  ich  mich  als  Thor  ohn  Überlegung. 

So  mögst  du  nun  aus  sanften  Mitleids  Regung 

Mir  gönnen  meines  Lebens  einzig  Ziel, 

Das  grofse  Ziel  des  Sehnens  und  des  Stiebens. 

Sie  mir  gewähren,   ist  für  dich  ein   Spiel   — 

Ich  weifs  es,  und  ich  bitte  nicht  vergebens. 

Ich  fühle,  wie  des  Schicksals  Stimme  spricht: 

Ja,  Faust,   der  Sieg  erblüht  der  Zuversicht! 

Proserpina,   so  sei  mir  gnädig,  neig  mir 

In  Hulden  deine  edle  Königstirn, 

Gewährung  lächelnd  meinem   Wunsch,   und  zeig  mir, 

Dafs  nicht  der  Tollheit  Raub  dies  Menschenhirn. 

Altäre  will  ich  dir  zum  Dank  errichten, 

All  andre  Götterhuldigung  vernichten  — 

Sei  gnädig,  Fürstin,   mir   —   Proserpina 

Ist  ewig  meine  Losung  ganz  allein. 

Nur  sprich  zum  Trost  das  grofse  Wort  mir:  Ja, 

Die  holde  Helena  soll  dein  sein,  dein! 

Pros  erp  ina. 

Wer  einmal  meinem  Reiche  angehöret,  kehrt 
Nie  auf  die  lichte  Oberwelt,  ins  Leben  heim. 

Faust. 

Nein,  halt,  erhabne  Herrin,  daf<  ich  dich 
Gemahne  alter,  längst  vergangner  Zeit, 


46-4  Miscellen. 

Als  jener  grolse  Sänger,  weit  und  breit 

Berühmt,   der  edle  Sänger  Orpheus  sich 

Aus  Harm  entschlofs  zum  düstern  Niedergang 

Und  mit  dem  wonniglichen  Saitenschlage, 

Mit  seiner  rührungvollen  Sangesklage 

Dem  strengen  Pluto  in  die  Seele  drang 

Und  ihn  erweichte,   dafs  er  ihm  die  treue 

Geliebte  Gattin  gab  aufs  neue  .  .  . 

0,  war  ich  Orpheus!     Aber  nimmer  habe 

Ich  eine  gleiche,  wirkungstarke  Gabe. 

Proserpina. 

Wohl  war  das  eine  grofse  That,  doch  sicherte 

Sie  nicht  des  neuen  Lebens  Frist  Eur\'dicen ; 

Noch  an   der  Schranke   beider  Welten  wies  sich's  schon. 

Urfest  ist,  was  das   Schicksal  sinnt:  Jedweder  ^lensch. 

Der  einmal  unser  eigen  ist,  verläfst  nicht  mehr 

Das  stille  Land  der  Schatten,  und  die  Rückkehr  in 

Des  Lebens  muntern  Reigen  ist  verschlossen  ihm. 

Fau  s  t. 

Ach,  war  es  nur  ein  kurzer  Augenblick, 
Den  mir  in  Huld  vergönnte  das  Geschick, 
Zu  ruhen  in  der  schönen  Griechin  Armen ! 
Dann  wollte  ich  mich  gern  dem  Tode  weihn 
Und  ewig,  ewig  euer  sein  — 
Proserpina,  Erbarmen ! 

Proserpina. 
(Ihr  Gesicht  verhüllend  und  mit  der  Hand  abwehrend.) 
Lafs  ab,   mein  Freund,  lafs  ab! 

S  emna. 

O  Fürstin,   sieh  uns  bittend  vor  dir  stehn  —  Gewähr 
Des  Edlen  Bitte. 

Proserpina. 

Selber  bin  ich  tief  gerührt  — 
Die  Thräuen  netzen  meine  Wange  —  unerhört! 
Und  bin  ich  doch  die  Herrscherin  der  Unterwelt! 
Ich   dürfte  nicht  —  und  dennoch  mufs  ich  wollen  —  Auf, 
Es   sei!   —   Erheb  dich,   Heldenjüngling,  welcher  du 
Die  Unterwelt  durch  deines  Willens  Macht  besiegt. 

(Sie  ergreift  seine  Hand.     Faust  steht  auf.) 
Jedoch  zuvor  erfahren  mufst  du  den   Beding, 
An  den  sich  die  Erlangung  deines  Wunsches  knüpft. 
Nur  als  des  Lebens  Schattenbild  kehrt  Helena 
Zurück  auf  eure  Oberwelt,   wenngleich  das  Blut 
Die  Adern  neu  belebend  ihr  durchrieseln  wird. 
Es  ist  nur  halbe  Wirklichkeit,   ein  Schein   des   Seins. 
Dafs  einmal  sie  dem  Lichte  schon   entrissen,  hier 
In  meinem   Reich  geraume  Frist  geweilt  hat,   soll 
Aus  dem  Gedächtnis  ihr  entrückt  sein,  alles  auch. 
Was  seit  dem   Falle  Trojas  sich   begeben  hat. 
Doch   wohl  bedacht,   du  Kühner,  wohl   bedacht: 
Wird  die   Erinnrung  des  Vergangnen  ihr  geweckt, 
Und  ziehet  je  das  Bild  des  eignen  Todes  ihr 
Ins  dämmernde  Gedächtnis  ein,  ihr  sagend,  dafs 


Miscellen.  465 

Sie  mein  war,  in  des  Orkus  Dunkel  schon  geweilt, 
So  schwindet  ihr  des  Lebens  Schein  aufs  neue,  und 
Sie  kehrt  zurück  auf  ewig  zu  den  Schatten. 

Faust. 

Es  sei!     Ich  habe  Wort  für  "Wort  geschrieben 

In  meine  Brust  und  hefte  die  Erringuno- 

Des  heifsen  Wunsches  ganz  an  die  Bedingung, 

Die  du  gestellt.     Mir  blüht  ein  stolzes  Lieben! 

Wo  weilt  sie  noch?    Nicht  länger  lafs   mich  schmachten!. 

Komm,  Helena,   an  deines  Helden  Brust; 

Wir  wollen  auf  das  höchste  Dasein  trachten, 

Dafs  selbst  die  Götter  neiden  unsre  Lust. 

Pros  erpin a. 
Gemach,  mein  Freund!  Es  nahet  leicht  einmal  die  Zeit 
W^o  alle  Lust  des  höchsten  Daseins  dir  verraucht. 
Für  jetzt  ist  Helena  dein  eigen.     Steig  hinauf. 
Um  nur  zurückzukehren,  wenn  des  Lebens  Frist 
Dich  unserm  Reiche  eignet.     Steig  hinauf  —  bei  Styx! 
Mein  W^ort  ist  fest,  vertrauen  mufst  du.     Helena 
W^ird  in  dem  Licht  der  Sonne  dein  sein,  wird  sich  bald 
Dir  einen  zu  der  schönsten  Minne.     Nun  leb  wohl! 
Auf  Wiedersehen  an  dem  Eand  der  Zeit ! 

Faust. 

Mit  dankerfülltem,  vollem  Herzen  scheid  ich, 

Proserpina,  und  nicht  den  Himmel  neid  ich! 
(Er  eilt  rechts  ab.) 
Proserpina. 
Wohlan,  so  geb  ich  Helena  der  Bande  los. 
Nun  schnell  zur  Arbeit!  schlachtet  mir  ein  schwarzes  Rind, 
Dafs  sich  die  Schöne  labe  an  dem  frischen  Blut 
Und  neu  empfänglich  werde  für  das  Licht  der  Welt. 
Lafst  auch  der  Dienerinnen  Schar  erquicken  sich, 
Gefangene  Trojanerinnen  schmuck  und  traut, 
Dafs  sie  getreu  ihr  folgen  auf  dem  Erdenstieg. 
Doch  sorgt,  dafs  ihnen  allen  erst  im  Oberland 
Zurückkehrt  das  Bewufstsein  ihres  Daseins,  und 
Sich  der  Erinnrung  Faden  knüpft  an  Trojas  Fall. 
Die  grofse  Lücke  jeuer  langen  Zwischenzeit 
Sei  mit  dem  Schleier  finstrer  Nacht  verhüllt.     Genug, 
Ihr  wackern  Eumeniden !  an  die  Arbeit  jetzt! 
(Einige  ab  in  den  Hintergrund.) 

Hekate. 

Horch,   der  Herr  und  Gebieter  nahet! 
Sieh,  wie  verlangend  sein  Auge  leuchtet, 
Schöne  Königin ! 

Proserpina. 

Mein  Gatte  —  ja !     Entgegen  eil  ich  ihm  vom  Thron, 
Das  Herz  ihm  zu  erfreuen  durch  der  Neigung  Blick. 
(Sie  geht  nach  linlis  ab.     Einige  mit  Fackeln  folgen.) 

S  emna. 

Eines  las  ich  im  Auge  der  Fürstin : 
Wenn  auch  Helena  uns  entrückt  wird 
Auf  die  Oberwelt  — 
Archiv  f.  n.  Sprachen.    LXXIIT.  30 


466  Miscellen. 

Nicht  zerrissen  sind  die   Bande, 
AV'ieder  kehret  sie  hierzuhmde! 
Schwestern,   an  das  Werk ! 
(Indem  sie  mit  den  übrigen  in  den  Hintergrund  abgeht,  fällt  der  Vorhang.) 

Adalbert   Rudolf. 


Ein  Verdeutschungs- Wörterbuch. 

Der  hochverdiente  Professor  ür.  Daniel  Sanders  in  Alt-Strelitz  beab- 
sichtigt die  Herausgabe  eines  Verdeutschungs- Wörterbuchs,  über  dessen  Plan 
er  nachstehende  Mitteilungen  macht: 

Es  soll  und  wird  die  Mitte  halten  zwischen  meinem  „Fremdwörterbuch" 
und  meinem  „Deutschen  Sprachschatz".  Das  erstgennnnte  Werk  ist  haupt- 
sächlich für  alle  die  bestimmt,  welche  über  ihnen  aufstofsende  Fremdwörter 
Belehrung  suchen,  sei  es  über  die  Bedeutung,  die  Aussprache,  die  Abwand- 
lung, die  Fügung  im  Satze  etc.,  oder  welche,  wo  es  sich  um  seltene  Aus- 
drücke handelt,  Belege  für  das  Vorkommen  zu  haben  wünschen.  Für  alles 
dies  glaube  ich  zur  Genüge  in  meinem  „Fremdwörterbuch"  gesorgt  zu  haben, 
in  welchem  ich  eine  möglichst  erschöpfende  V^oUständigkeit  erstrebt  habe. 

Als  hauptsächliche  Benutzer  dagegen  des  beabsichtigten  „\  erdeutschungs- 
Wörterbuches"  denke  ich  mir  namentlich  Leute,  denen  sich  im  gegebenen 
Falle  ein  ihnen  nach  allen  Beziehungen  bekanntes  und  geläufiges  Fremd- 
wort zunächst  in  den  Gedanken  und  in  die  Feder  drängt  und  die  doch  von 
dem  Wunsche  beseelt  sind,  diese  die  Einheitlichkeit  und  Reinheit  des  deut- 
schen Stils  entstellenden  Aufdringlinge  durch  einen  gutdeutschen  vollgültigen 
Ersatz  zu  beseitigen,  ohne  sofort  einen  solchen  finden  zu  können.  In  sol- 
chen Verlegenheiten  soll  das  zu  Rate  gezogene  „Verdeutschungs-Wörterbuch" 
rasche  Aushilfe  gewähren,  indem  es  für  die  überhaupt  überflüssigen  oder 
wenigstens  in  gewissen  Fällen  entbehrlichen  Fremdwörter  eine  Verdeut- 
schung oder  meistens  eine  Anzahl  von  Verdeutschungen  bietet,  unter  denen 
man  leicht  die  für  den  vorliegenden  Fall  zutreffendste  wird  auswählen  kön- 
nen. Hier  schliefst  sich,  wie  gesagt,  das  „Verdeutschungs-Wörterbuche  an 
meinen  „Deutschen  Sprachschatz"  an,  der,  „nach  Begriffen  geordnet",  „zur 
Auffindung  und  Auswahl  des  passenden  Ausdrucks"  bestimmt,  aber  natürlich 
nicht  auf  den  blofsen  Ersatz  von  Fremdwörtern  beschränkt  ist. 

Mein  umfassender  „Deutscher  Sprachschatz"  sowohl  wie  mein  nach 
möglichst  erschöpfender  Vollständigkeit  strebendes  „Fremdwörterbuch"  sind 
beides  un)fangreiche  Werke,  jedes  zwei  starke  Bände  bildend,  dagegen  wird 
seiner  Bestimmung  gemäfs  mein  „Verdeuti<chungs- Wörterbuch"  nur  ein  wenig 
umfangreiches,  handliches  Büchlein  bilden,  da  in  dasselbe  mit  guter  Absicht 
nur  allgemein  übliche  Fremdwörter  aufgenommen  sind,  für  die  ein  allge- 
mein anerkannter  oder  doch  empfehlenswerter  Ersatz  dargeboten  werden 
kann.  Belege  werden  nur  angeführt,  wo  sie  in  aller  Kürze  als  Beispiel 
einer  glücklichen  Verdeutschung  aus  mustergültigen  oder  guten  Schriften 
gegeben  werden  können.  Wo  der  Nachschlagende  einen  in  meinem  „Fremd- 
wörterbuch" sich  findenden  Ausdruck  in  das  „Verdeutschungs- Wörterbuch" 
nicht  aufgenommen  sieht,  darf  er  annehmen,  dafs  mir  unter  den  mir  be- 
kannt gewordenen  dafür  vorgeschlagenen  Verdeutschungen  keiner  unbedingt 
empfehlenswert  erschienen  ist.  Ich  möchte  aber  auch  ausdrücklich  hervor- 
heben, dafs  unter  den  fortgelassenen  Fremdwörtern  mir  viele  einer  \'er- 
deutschung  nicht  bedürftig  erscheinen.  „Es  versteht  sich"  —  habe  ich  in 
in  meinen  „Deutschen  Sprachbriefen"  gesagt  —  «von  selbst,  dafs  bei 
der  Besprechung  ausländischer,  von  unseren  deutschen  abweichender  Ver- 
hältnisse die  genaue  fremdländische  Bezeichnung  nicht  aus  thörichter 
Deutschtümelei  durch  ungenaue  oder  gar  durch  falsche  und  schiefe  Ver- 
deutschungen   ersetzt    werden    dürfe,    wie    denn    z.    B.    auch    die    über    die 


Miscellen.  467 

Gleicliaitigkeit  un»i  Reinheit  ihrer  Sprache  so  eifersüchtig  wachenden 
Franzosen  in  solchen  Fallen  naturgemäfs  und  unbedenklich  die  fremden 
Bezeichnungen  anwenden,  und  ich  wiederhole,  was  ich  schon  oben  gelegent- 
lieh ausgesprochen,  dafs  für  die  fachmäfsige  und  wissenschaftliche  Behand- 
lung die  allen  Bildungsvölkern  gemeinsamen  und  allgemein  anerkannten 
Kunst-  und  Fachausdrücke  auch  im  Deutschen  beizubehalten  sind.  Mögen 
in  einem  volkstümlichen  Vortrage  die  gelegentlich  vorkommenden  Bezeich- 
nungen „Mathematik"  und  „Chemie"  durch  „Gröfsenlehre  und  „Scheide- 
kunst" erklärt  oder  ersetzt  werden  in  mathematischen  und  chemischen  Lehr- 
büchern :  diese  Verdeutschuncien  ein-  und  durchführen,  oder  gar  die  den 
Mathematikern  und  Chemikern  aller  Völker  gleichmäfsig  bekannten  und  in 
ihren  Bedeutungen  scharf  bestimmten  Kunstausdrücke  durch  langatmige, 
ungefügte  und  nicht  einmal  in  Deutschland  allgemein  bekannte,  noch  weni- 
ger anerkannte  Umschreibungen  im  Deutschen  verdrängen  zu  wollen,  wäre 
ein  ebenso  thörichtes  Unterfangen,  wie  etwa  der  Vorschlag,  für  Deutschland 
die  kurzen  chemischen  und  mathematischen  Formeln  und  Zeichen  abzuschaf- 
fen. So  wird  man  auch  in  einer  für  den  Volksunterricht  bestimmten  Sprach- 
lehre jedem  fremden  Kunstausdruck,  wo  er  zum  erstenmal  auftritt,  eine 
genaue  und  bestimmte  Erklärung  und,  wo  möglich,  eine  treffende  Verdeut- 
schung beifügen,  aber  im  weiteren  ^'erlauf  erscheint  dann  die  Verwendung 
des  genügend  erklärten  und  eingeprägten  fremden  Kunstworts  selbst  für  die 
Volksschule  nicht  nur  unbedenklich,  sondern  —  mit  Rücksicht  auf  die  spä- 
tere Erlernung  anderer  Sprachen  —  sogar  empfehlenswert.  Allerdings 
würde  es  gar  zu  altfränkisch  steif  klingen,  wenn  man  in  der  deutschen 
Sprachlehre  von  der  Constructio  des  Accusativi  cum  Infinitivo  sprechen 
wollte;  aber  wie  lautet  das,  was  das  Campesche  Verdeutschungs-Wörterbuch 
dafür  als  Ersatz  bietet?  „Die  Wortfolge  des  vierten  Falls  mit  der  unbe- 
stimmten (oder  abgezogenen)  Weise  (oder  Form)."  Wer  würde  sich  zu 
einem  solchen  Ersatz  entschliefsen  können  oder  mögen?  Freilich  bieten 
sich  dem  Nachdenkenden  leicht  bessere  Verdeutschungen  dazu:  „Die  Fü- 
gung (oder  ^"erbindung)  des  vierten  F'alls  mit  der  Nennform  des  Zeitworts", 
aber  auch  diese  Verdeutschung  möchte  ich  doch  nur  bei  der  ersten  Einfüh- 
rung des  Kunstausdrucks  oder  späterhin  etwa  hier  und  da  zur  Abwechse- 
lung empfehlen:  im  allgemeinen  wird  man  nach  genügender  Vorbereitung 
und  hinreichender  Erklärung  und  Einübung  auch  in  der  Volksschule  un- 
bedenklich von  der  „Fügung"  (oder  „Verbindung")  „des  Accusativs  mit  dem 
Infinitiv"  oder  kürzer  von  dem  „Accusativ  mit  dem  Infinitiv"  sprechen  dür- 
fen, ohne  zu  befürchten,  daf;^  durch  solcherlei  Kunstausdrücke  die  Reinheit 
des  deutschen  Stils  geschädigt  werde. 

Ich  glaube  hiermit  zur  Genüge  ausgesprochen  oder  doch  angedeutet  zu 
haben,  in  welchem  Umfange  ein  „Verdeutschungs-Wörterbuch"  den  Freun- 
den eines  möglichst  reindeutschen  Ausdrucks  zu  dienen  bestimmt  ist  und 
hoffentlich  gute  Dienste  leisten  wird. 

Zum  Schlufs  möchte  ich  noch  denen,  die  mich  durch  gütige  Beiträge 
zu  unterstützen  geneigt  und  bereit  sind,  aussprechen,  dafs  ich "  mit  Dank 
jede  zweckmäfsige  Einsendung  nach  bester  Einsicht  zu  verwenden  bestrebt 
sein  werde,  dafs  mir  aber  namentlich  Nachweise  aus  guten  Schriften  will- 
kommen sein  werden,  in  denen  an  der  Stelle  eines  üblichen  und  schwer 
ersetzbaren  Fremdwortes  sich  ein  glücklich  gefundener  und  für  die  weitere 
Verbreitung  empfehlenswerter  Ersatz  darbietet. 

Und  hiermit  schliefse  ich  diesen  Aufsatz,  ihn  und  schon  im  voraus  das 
darin  angekündigte  Buch  der  freundlichen  Beachtung  und  Unterstützung 
aller  Freunde  unserer  Muttersprache  empfehlend.  Namentlich  möchte  ich 
auch  die  mit  meinen  Ansichten  einverstandenen  Leiter  von  Zeitungen  und 
Zeitschriften  freundlichst  um  Weiterverbreitung  dieses  Aufsatzes  durch  Ab- 
druck bitten. 

30* 


468  Mlscellen. 

Dunkle  Stellen? 

In  der  „Zeltschr.  für  weibliche  Bildung"  wünschte  Direktor  Dr.  Kaiser 
eine  Erklärung  der  „dunklen"  Stelle  in  Dickens' Christnias  Carol:  „unlike  the 
celebrated  herd  in  the  poeni.  they  were  not  forty  children  conducting  them- 
selves  like  one,  but  every  child  was  conducting  itself  like  forty."  In  einer 
späteren  Nummer  der  Zeitschrift  wurde  die  von  einem  Kollegen,  eingegan- 
gene p]rklärung  mitgeteilt.  Dafs  die  Stelle  eine  Anspielung  auf  ein  Gedicht 
von  Wordsworth  ist,  war  indessen  längst  bekannt:  Prof.  Dr.  I.  Schmidt 
giebt  schon  die  richtige  Erklärung  in  seiner  1876  erschienenen  vortrefflichen 
Ausgabe  des  Christmas  Carol,  und  seit  1881  findet  sich  das  Wordsworth- 
sche  Gedicht  in  den  neueren  Auflagen  meines  englischen  Lesebuches. 

Nachstehend  gebe  ich  die  Erläuterung  zu  zwei  Anspielungen,  die  eher 
,, dunkel"  scheinen  können;  wenigstens  zeigten  mir  wiederholte  Anfragen, 
dafs  die  erstere  vielfach  nicht  erkannt  wurde,  und  bei  der  zweiten  gelangte 
ich  erst  nach  vielen  vergeblichen  Anfragen  bei  erfahrenen  Fachgenossen  auf 
die  richtige  Spur. 

1.  A.  Daudet  sagt  in  „La  mort  de  Chauvin",  einem  Kabinetstück  der 
Charakterschilderung,  das  ich  in  mein  französisches  Lesebuch  aufgenommen 
habe:  „Je  le  (d.  h.  Chauvin)  retrouvai  ä  l'Opera,  debout  dans  la  löge  de 
Girardin,  demandant  le  Rhin  allemand,  et  criant  aux  chanteurs  qui  ne 
le  savaient  pas  encore:  II  faudra  donc  plus  de  temps  pour  l'apprendre  que 
pour  le  prendre."  Das  folgende  nicht  uninteressante  Citat,  das  ich  in  der 
neuen  Auflage  meines  Lesebuches  mitgeteilt  habe,  liefert  die  Erklärung:  — 

Le  mercredi  qui  preceda  la  declaration  de  guerre  (1870),  ä  l'Opera,  on 
demanda  la  Marseillaise;  Forchestre  se  preparait  a  la  jouer,  lorsqu'on  re- 
clame  le  Rhin  allemand.  Les  musiciens  semblerent  hesiter  et  le  regis- 
seur  s'avancant  pres  de  la  rampe  declare  qu'on  ne  pouvait  chanter  la  poesie 
de  Musset,  parce  qu'on  n'avait  pas  eu  le  temps  de  l'apprendre.  Alors  Emile 
de  Girardin  se  leva  dans  sa  löge  et  s"ecria:  „II  est  donc  plus  long  ä  ap- 
prendre  qu'ä  prendre!"  Toute  la  salle  applaudit.  Deux  jours  apres  un  ac- 
teur  revetu  d'un  uniforme  de  capitaine  de  la  garde  nationale  mobile  chan- 
tait  le  Rhin  allemand  et  recevait  une  ovation. 

(Maxime  du  Camp,  Souvenirs  litteraires,  Paris  1883.) 

2.  Arago  sagt  in  seiner  Biographie  von  James  AVatt  (vgl.  meine  Aus- 
gabe S.  89,  Berlin,  AVeidmann):  „On  va  jusqu'ä  en  rire,  comme  de  Tex- 
plication  de  la  dent  d'or."  Über  diese  Anspielung  gelangte  ich  nach 
langem  Suchen  zu  folgender  Aufklärung:  Im  Jahre  1594  verbreitete  sich 
die  Nachricht,  dafs  man  bei  dem  siebenjährigen  Sohne  des  Bauern  Christoph 
Müller  zu  Weigelsdorf  in  Schlesien  einen  goldenen  Zahn  entdeckt  habe. 
Die  Nachricht  von  diesem  Wunder  erregte  in  Deutschland  und  bald  auch 
bei  den  Gelehrten  des  Auslandes  grofses  Aufsehen.  Dr.  Horst  veröffent- 
lichte 1595  eine  lateinische  Untersuchung  darüber;  er  meint  u.  a.,  der  gol- 
dene Zahn  dieses  Kindes,  bei  dessen  Geburt  die  Sonne  in  Verbindung  mit 
Saturn  im  Zeichen  des  Widders  gestanden  habe,  sei  der  X'orlaufer  des  gol- 
denen Zeitalters,  in  welchem  der  Kaiser  die  Türken  aus  der  Christenheit 
verjagen  und  den  Grund  zu  einem  Reiche  legen  würde,  das  tausend  Jahre 
dauern  solle,  worauf  ganz  deutlich  der  Prophet  Daniel  anspiele,  wenn  er 
von  einem  Bilde  mit  goldenem  Kopfe  spreche.  Das  angebliche  Wunder 
wurde  zwar  als  Betrug  erkannt,  fand  aber  noch  in  weiten  Kreisen  Glauben 
und  gab  bis  ins  18.  Jahrhundert  Veranlassung  zu  zahlreichen  Streitschriften 
für  und  wider.  Vergl.  Rulandi  Demonstratio  judicii  de  aureo  dente  pueri 
Silesiaci,  Erfurt!  1596;  Ingolstetteri  responsio  ad  Judicium  Rulandi,  Lipsiae 
1596;  Etliche  Sendbriefe  zum  Zeugnis  dafs  der  güldene  Zahn  noch  heutigen 
Tages  gülden,  Breslau  1596;  Liddelii  Ars  medica,  cum  tractatu  de  aureo  dente, 
Hamburgi  1628  etc.  S.  auch  Schles.  Provinzialblätter  N.  F.  II,  728;  Buckle, 
History  of  Civilization,  I,  eh.   6. 

Brieg,  1884.  Dr.  Wershoven. 


I 


Miscellen.  469 

Zur  „Umstellung"'  der  Präposition  im  Englischen. 

Bekanntlich  gestattet  das  Englische  in  gewissen  Fällen  die  Präposition 
von  dem  Nomen,  zu  dem  sie  unserer  Anschauung  nach  gehört,  zu  trennen 
und  —  wie  die  Schulgramniatik  zu  sagen  ptlegt  —  ans  Ende  zu  stellen. 

Die  Falle  finden  sich  bei  Mätzner  II,  1,  S.  518  il\  unter  der  Bezeich- 
nung „Umstellung  der  Präposition"  geordnet.  Die  Schulgrammatik  pflegt 
die  Erscheinung  bei  Gelegenheit  des  Fragesatzes,  des  Relativsatzes  und  der 
Passivbildung  zu  besprechen,  und  in  der  That  lassen  sich  darunter  alle  bei 
Alätzner  unterscbiedenen  Fälle  aufser  dem  ersten,  dem  Typus  that  1  i/isist 
on  — ,  ohne  Gewaltsamkeit  einordnen  oder  doch  daran  anknüpfen. 

Immerhin  wird  der  Schüler  an  drei  verschiedenen  Punkten  damit  be- 
schäftigt, während  es  doch  eine  einheitliche,  aus  einem  Princip  fliefsendo 
Erscheinung  ist. 

Ein  zweites  Moment  kommt  dazu,  um  im  didaktischen  Interesse  eine 
befriedigendere  Behandln ngsweise  dringend  wünschenswert  zu  machen. 

Der  so  auffallende  Gebrauch  wir<l  nach  altem  Herkommen  als  eine 
blofse  Abweichung  von  der  äufseren  Anordnung  der  Satzteile  hingestellt ; 
und  doch  müfste  ein  ganz  wundersamer  psychologischer  Vorgang  angenom- 
men werden,  wenn  für  Mitteilung  und  Verständnis  die  Präposition  fungie- 
rend gedacht  werden  müfste  an  einer  Stelle,  wo  sie  gar  nicht  steht. 

Es  mufs,  um  na<h  beiden  Seiten  Abhilfe  zu  schaffen,  ein  Weg  gefun- 
den werden,  der  nicht  nur  alle  betreflenden  Fälle  unter  einem  Gesichtspunkt 
zu  betrachten,  sondern  auch  die  ganze  Erscheinung  heyreif  lieh  zu  finden  ge- 
stattet; und  das  ist  nicht  schwer. 

Offenbar  liegt  das  Eigentümlichem  der  Erscheinung  darin,  dafs  der  Eng- 
länder ebenso  geneigt  ist,  in  seiner  Vorstellung  die  Präposition  als  begrifi- 
liche  Bestimmung  des  Werks  wie  als  Zeichen  für  die  Beziehung  zu  empfin- 
den, in  welcher  das  Nomen,  bezw.  sein  Begriffsinhalt  zu  denken  ist;  mit 
anderen  Worten,  die  Präposition  geht  für  ihn  ebenso  gut  eine  begrifl'Iiche 
Verbindung  mit  dem  vorhergehenden  V^erb  als  mit  dem  folgenden  Nomen  ein. 
Es  läfst  sich  dies  durch  Vergleichung  mit  dem  Deutschen  unmittelbar 
veranschaulichen. 

Wir  drücken  genau  denselben  Begriffsinhalt  aus  mit 

Er  schwamm  durch  den  Teich 
wie  mit 

Er  durchschwamm  den  Teich; 
auch  die  gebrauchten  Sprachmittel  sind  dieselben  —  nur  dafs  im  ersten  Fall 
die  Präposition  mit  dem  Nomen,    im  zweiten   mit  dem  N'erb    in  engere  \'er- 
bindung  getreten  erscheint. 

Beide  Auffassungen  dürfen  wir  im 

He  swam  through  the  pond 
ausgedrückt  finden,  je  nachdem  wir  verstehen 

He  swam  |  through  the  pond, 
wo  die  Präposition  zum  Nomen,  oder 

He  swam  through  |  the  pond, 
wo  sie  zum  Verb   eine   innigere   Beziehung  eingeht,   während    dann   das  No- 
men, entsprechend  dem  deutschen,  als  direktes  Objekt  übrig  bleibt. 
Danach  wäre  aufzustellen : 

Im  Englischen  Jcann  jedes  Verb,  welches  eine  präpositionale  Ergätizung 
verlangt,  auch  als  mit  der  Präposition  zusammengesetztes  Verb  mit  transitiver 
Beziehung  aufgefofst  und  konstruiert  iverden.  Der  Unterschied  von  dem  an- 
geführten deutschen  Gebrauch  liegt  nur  darin,  dafs  die  Präposition  dem 
Verb  folgt,  und  nicht  mit  ihm  ein  Wort  bildet. 

So  ergeben  sich  aus  I  never  thought  of  that  ganz  folgerichtig 

that  I  never  thought  of 
a  matter  which  I  never  thought  of 


470  Miscellen, 

a  matter  never  to  be  thoujjht  of 
what  did  he  think  of 
that  was  never  thoujiht  of  etc. 
Ein  schlagender  Beweis  für  diese  Auffassung  dürfte  darin  gefunden  werden, 
daß  hei  passiver  Konstruktion  das  JXoynen    in   der  That   fjar  iiicht  als  von 
der  Präposition  berührt,  sondern  als  Subjekt  empfunden  wird  (he  was  never 
thought  of),  während  es  bei  aktiver  Konstruktion  Accusativ  bleibt,  der  aber 
eben  unter  dieser  Beleuchtung   sich   unabweisbar   als   Objektskasus,   nicht  als 
Kasus  der  Präposition  aufdrängt. 

Im  weiteren  Verfolg  kann  es  kaum  noch  auffallen,  wenn  da,  wo  das 
Verb  zunächst  durch  ein  direktes  Objekt  und  dann  durch  ein  präpositionales 
Nomen  ergänzt  ist,  wie  in 

I  never  had  any  intercourse  with  this  man, 
ebenfalls  zwischen  der  Präposition   und  ihrem  Nomen   ein  loseres  Verhältnis 
als   zwischen    der   Präposition    und  dem  Verbalbegriff"  mit   seiner  Ergänzung 
empfunden  wird,  so  dafs  die  Konstruktionen 

This  man  I  never  had  any  intercourse  with 
a  man  whom  I  never  had  a.  i.  w. 
u.  s.  w.,    entsprechend   den    oben    entwickelten    Beispielen    sich    folgerichtig 
ergeben. 

Barmen.  H.  Breusing. 

Wieder  einmal  Hephästophilus. 
Eine  Entgegnung. 

Nachdem  ich  bereits  längere  Zeit  die  Deutung  Mephistopheles  =  He- 
phästophikis  bei  mir  herum  getragen  hatte,  gab  ich  sie  der  Öffentlichkeit 
zuerst  im  Jahre  1880  anheim,  indem  ich  sie  Dr.  L.  Geiger  für  das  Goethe- 
Jahrbuch  1  zur  Verfügung  stellte.  Nächstdem  erweiterte  ich  den  Gedanken 
zu  einigen  Aufsätzen,  welche  in  dieser  Zeitschrift,  sowie  in  dem  Deutschen 
Dichterheim  zum  Abdrucke  gelangten.  Ich  erhielt  auf  Grund  tlessen  viel- 
fache Zuschriften  von  Faustfreunden  und  -Kennern,  welche  sich  mehr  oder 
weniger  meiner  Ansicht  anschlössen.  J.  Bode  und  K.  Engel  versicherten 
mich  ihrer  vollständigen  Zustimmung,  Dr.  G.  v.  Loeper  sprach  meiner  Deu- 
tung die  gröfste  Wahrscheinlichkeit  zu,  während  Prof  Dr.  K.  J.  Schröer, 
Dr.  E.  Sabell  u.  a.  sich  zurückhaltender  ausdrückten.  Einige  Jahre  lang 
ruhte  meine  Hepbästophilus-Angelepenheit  für  mich  im  Staube  vorläufiger 
Erledigung,  bis  ich  neuerdings  zufällig  durt-h  das  grofsarlige  Werk  von 
K.  Engel  über  die  Faustlitteratur*  auf  einen  seinerzeit  in  dieser  Zeitschrift 
erschienenen  Aufsatz  von  G.  Hauff,  „Vorstudien  zu  Goethes  Faust.  1.  Über 
den  Ursprung  des  Namens  Mephistopheles;  II.  Über  den  Erdgeist  in  lexi- 
kalischer Hinsicht"  gelenkt  ward.  Bei  Bekanntmachung  mit  dem  Inhalte 
ersah  ich  denn,  dafs  der  erste  Teil  vorzugsweise  eine  Entgegnung  auf  meine 
bezüglichen  Aufsätze  ist.  Obwohl  seitdem  einige  Zeit  verstrichen  ist,  und 
die  Sache  als  verjährt  angesehen  werden  könnte,  so  glaube  ich  dennoch  der 
Entgegnung  eine  Entgegnung  folgen  lassen  zu  müssen. 

Hauff"  sagt  von  vorn  herein  kurzweg  aburteilend,  dafs  er  mir  „leider" 
nicht  beistimmen  könne:  dies  bedauernde  „leider"  als  lindernder  Balsam 
ist  wirklich  rührend.  Nunmehr  werde  ich  auf  die  einzelnen  Punkte  ein- 
gehen : 

Allerdings  habe  ich  Hephästus  als  frühchristlichen  Höllenfürsten  nicht 
mit  völliger  Bestimmtheit  beweisen,  sondern  nur  auf  Grund  der  vergleichen- 


*  „Zusammenstellung    der   Faustschriften."      Oldenburg,    Schulzesche     Ilofbuch- 
handlung.     Ein  äufserst  gediegenes,  sehr  empfehlenswertes  Werk! 


Miscellen.  471 

(Jen  Mytholotiie  als  höchst  wahrscheinlich  hinstellen  können.  Die  Möglich- 
keit, dafs  Hephästus  für  Teufel  genommen  werden  konnte,  wird  auch 
von  Schröer  zugestanden.  Nun  aber  bemerkt  Hauff'  in  schroffer  Weise: 
„Rudolf  selbst  giebt  zu:  willkürlieh  und  unbewiesen  sei  die  Annahme  etc." 
Das  könnte  scheinen  machen,  als  ob  ich  diese  Worte  „willkürlich  und  un- 
bewiesen" gebraucht  habe,  ist  aber  durchaus  nicht  der  Fall,  wie  ein  Nach- 
schlagen seitens  der  unparteiischen  Leser  sofort  ergeben  wird.  Überhaupt 
empfehle  ich  jedem,  welcher  die  Hauff'sche  Entgegnung  fernerhin  durchzu- 
lesen gedenkt,  meine  Aufsätze  behufs  \ergleichung  entgegenzuhalten  und 
nicht  die  Behauptungen  Hauffs  ohne  weiteres  als  bare  iMünze  nehmen  zu 
wollen. 

Ich  habe  durchaus  nicht  behauptet,  Jafs  die  alte  Teufelsage  nach  Jahr- 
hunderten unter  dem  Namen  Lucifer  zuerst  wieder  im  Volksbuche  von  Dr. 
Faust  zur  Anschauung  gelange,  sondern  ich  habe  nur  die  ausgeprägte, 
charakteristische  Fassung  der  Sage  im  Volksbuche  als  Beleg  angeführt  und 
um  weitere  Betrachtungen  anzuknüpfen ;  frühere  Spuren  des  Namens  Lucifer 
und  der  Sage  nachzuweisen,  hielt  ich  zum  Zwecke  n)einer  Abhandlung  nicht 
für  wesentlich,  weil  ich  nur  in  grofsen  Zügen  den  Hauptgedanken  verfolgen 
wollte.  Das  hätte  Hauff'  sich  von  selber  sagen  können,  indem  ich,  wie  er 
auch  anführt,  in  einem  anderen  ausführlicheren  Aufsatze  die  Spur  des  Na- 
mens Lucifers  bis  nachweislich  um  1300  zurückversetze.  —  Die  von  Hauff" 
angeführten  Belegstellen  für  den  Namen  Lucifer  sind  sachlich  und  lehrreich, 
und  ich  mufs  dankbar  anerkennen,  dafs  auch  ich  daraus  gelernt  habe;  viel- 
leicht wäre  Hauff"  auf  Grund  seiner  Stellung  in  der  Lage  gewesen,  noch 
näher  darauf  einzugehen,  wie  die  lateinische  Bibelübersetzung  bei  Gelegen- 
heit der  Stelle  des  Jesaja  gerade  auf  den  Namen  Lucifer  gekommen  ist. 

„Die  Römer  und  Griechen  sodann  kannten  keinen  Teufel,  ihre  Religion 
war  nicht  dualistisch."  Ich  bin  ganz  derselben  Ansicht,  und  ich  habe  auch 
nirgend  eine  andere  Behauptung  aufgestellt;  man  blättere  nur  in  meinen 
Aufsätzen.  Die  Sache  ist  thatsächlich  so:  Der  Dualismus  ist  ein  ursprüng- 
licher indogermanischer  Glaubenszug,  welcher  sich  bei  den  Indern  und  noch 
mehr  bei  den  Persern  in  schroffer  Weise  ausgebildet  hat.  Dieser  Gedanke 
ist  bei  den  Griechen  un<i  Römern  gänzlich  verloren  gegangen,  oder  minde- 
stens fast  bis  zur  Unkenntlichkeit  getrübt;  nur  schwache  Spuren  zur  Deu- 
tung der  widerstrebenden  Naturgewalten  sind  nachweisbar  in  den  Kämpfen 
gegen  Giganten  und  Titanen  und  sogar  in  der  gegenseitigen  Anfeindung  der 
Gottheiten,  Das  deutsche  Heidentum  war  jenem  Gedanken  treuer  geblie- 
beri,  oder  trat  ihm  unter  anderen  Einflüssen  in  der  neuen  Heimat  allmählich 
wieder  näher,  bis  der  Gipfel  erreicht  war  mit  der  Gestalt  des  Locho  (Loki), 
welcher  schon  dem  späteren  Teufel  auffallend  ähnelt.  Aber  erst  mit  der 
Ausbildung  des  Christentums  ward  die  persisch-jüdische  Sagenrichtung  in 
schärfster  Weise  entwickelt.  Man  beliebte  den  neuen  Anschauungen  ein 
altes  Aufsere  zu  geben,  und  der  Gedanke  liegt  nahe,  dafs  bei  der  Latini- 
sierung der  Kirche  auch  die  neue  christliche  Sage  samt  dem  Teufelnamen 
ein  Mäntelchen  altrömischen  Schnittes  erhielt.  Das  ist  meine  Hypothese, 
deren  Unmöglichkeit  zu  beweisen  schwer  fallen  dürfte. 

„Der  Name  Hephästus  ist  also  nicht  im  Laufe  der  Zeit  verloren  gegan- 
gen, sondern  er  ist  im  Sinne  von  Teufel  nie  dagewesen."  Das  ist  eine 
scharfe,  kühne  Behauptung,  welche  in  etwas  vorsichtigerer  Form  hätte  ge- 
geben werden  können,  etwa:  „Der  Name  Hephästus  ist  im  Sinne  von  Teufel 
nicht  .nachgewiesen,  könnte  aber  vielleicht  im  Laufe  der  Zeit  verloren  ge- 
gangen sein."  Wenn  mir  auch  dar  sichere  Beweis  fehlt,  so  glaube  ich 
doch,  wie  bemerkt,  die  \\'ahrscheinlichkeit  meines  Gedankens  hinlänglich 
nachgewiesen  zu  haben. 

„Zudem  hätte  sich  gewifs  nicht  der  griechische,  sondern  der  römische 
Name  erhalten."  Warum?  In  den  letzten  Zeiten  des  Römertuins  hatte  die 
Hellenisierung  so  riesige  Fortschritte  gemacht,  dafs  thatsächlich  die  griechi- 


472  Miscellen. 

sehe  Sprache  dieselbe  Rolle  einnahm,  welche  lange  Zeit  von  der  französi- 
schen Sprache  behauptet  ward.  Aufserdem  hatte  eine  vollständige  Ver- 
schmelzung der  hauptsächlichsten  Glaubensansichten  der  verschiedensten 
Völker  zu  einer  neuen  internationalen  Religion  stattgefunden;  denn: 

Allen  Göttern  der  Welt  boten  sie  Wohnungen  an, 

Habe  sie  schwarz  und  streng  aus  altem  Basal  der  Ägypter, 

Oder  ein  Grieche  sie  weils,  reizend,  aus  Marmor  geformt. 

Das  das  Griechentum  hierbei  einen  bedeutenden  Einflufs  auf  die  im  Grunde 
durchaus  nicht  völlig  gleichartigen  Gottheiten  des  Römertums  ausübte,  ist 
bekannt.  Her  Römer  lernte  die  griechischen  Göttornamen,  manchmal  mit 
geringer  JMundrechtniachung,  den  seinigen  beizufiigen,  und  Hephästus  war 
ihm  so  geläufig  wie  Vulcanus.  Meine  Hypothese  dürfte  demnach  doch  nicht 
so  ganz  unsinnig  sein;  aufserdem  ist  sehr  wohl  einleuchtend,  dafs  bei  der 
Namengebung  des  Teufels  Zufällinkeiten  obgewaltet  haben  können,  und 
nicht  immer  nach  einer  schroff-linealen  Logik  gegattert  zu  werden  braucht. 

Wenn  Hauff  nun  weiter  sagt:  „Endlich  verwickelt  sich  Rudolf  in  einen 
Widerspruch  mit  sich  selbst,  wenn  er  das  eine  Mal  behauptet:  für  den  ge- 
fallenen Engel  sei  im  Mittelalter  der  Name  Hephästus  üblich  gewesen,  und 
dann  wieder :  bis  zum  Auftauchen  des  Namens  Lucifer  finde  sich  überhaupt 
kein  Name  für  den  gefallenen  Engel",  so  heifst  das:  mir  die  Worte  im 
Munde  verdrehen!  Ich  sage  nämlich  so:  „Dabei  mufs  allerdings  erwähnt 
werden,  dafs  der  Name  (Hephästus)  in  diesem  Sinne  thatsächlich  nirgend 
angeführt  wird,  dafs  vielmehr  bis  zum  Auftauchen  des  Lucifer-Namens  über- 
haupt kein  Name  für  den  gefallenen  Engel  vorkommt  u,  s.  w.";  daraus  zu 
folgern,  dafs  ich  mir  den  volkstutalich-lebendigen  Teufel  auch  nur  zeitweilig 
namenlos  denken  könne,  ist  stark.  —  Ich  bestreite  entschieden,  dafs  es 
Hauff'  mit  den  bisherigen  Widerlegungen  gelungen  ist,  die  Möglichkeit  des 
Höllenfürsten  Hephästus  und  mit  dem  Oberteufel  den  ünterteufel  Hephä- 
stophilus  zu  beseitigen. 

Wenn  ich  anfänglich  noch  dem  Gedanken  huldigte,  dafs  der  Buch- 
drucker Fust  der  Faustus  senior  sein  könne,  so  habe  ich  (loch  längst  diesen 
Gedanken  fahren  lassen,  wie  er  überhaupt  kaum  noch  Anhänger  finden  wird, 
habe  mich  auch  dieserhalben  Archiv  LXVHI,  S.  255  ff",  deutlich  ausgespro- 
chen. Ich  bin  eher  geneigt,  wie  ich  daselbst  auseinandergesetzt  habe,  als 
Faustus  senior  den  Eutycbianos,  Diener  und  Schüler  des  Pfaffen  Theophilus, 
anzunehmen,  will  aber,  um  Weitschweifigkeiten  vorzubeugen,  sofort  bestimmt 
bekennen,  dafs  ich  auch  für  diesen  kühnen  Gedanken  keinen  Beweis  habe, 
sondern  nur  die  Möglichkeit  dürftig  aus  Vergleichen  ziehe.  Ich  sage  mit 
Bezug  auf  diesen  Eutycbianos  —  Faustus  senior :  Vielleicht  haben  hier  die 
entgegengesetzten  Geister  Theophilus  und  Hephästophilus  (verstümmelt  in 
Mephistopheles)  ihren  Ursprung  —  jener  (Gottesfreund)  der  warnende 
Geist  seines  frommen  väterlichen  Freundes  und  nunmehr  verklärten  Beraters, 
dieser  (^Teufelsfreund)  der  Verführer,  ein  Unterteufel  des  Höllenherrschers 
Hephästus  =  Lucifer.  Mit  diesem  Gedanken  würde  auch  Hauffs  Skrupel, 
dafs  im  Gegensatze  zu  dem  ünterteufel  Hephästophilus  unser  Theophilus 
einen  Engel  bedeuten  müsse,  beseitigt  werden  können. 

Hauff"  bestreitet,  dafs  es  eine  Zeit  gegeben  habe,  in  welcher  die  Theo- 
philus-Sage  ganz  mundgerecht  gewesen  sei,  und  doch  liegt  dieser  Gedanke 
so  nahe,  wenn  man  die  vielen  Bearbeitungen  der  Kirchensage  bis  auf  die 
niederdeutschen  Mysterien  ins  Auge  fafst.  Warum  soll  man  auf  so  off"enbar 
volkstümlicher  Grundlage  nicht  fufsen  können. 

Hauff"  meint:  Die  ältere  Form  ist  bekanntlich  Mephostophiles!  Das 
heifst  in  ein  Wespennest  stechen!  Allerdings  lautet  die  ältest  überlieferte 
Form  Mephostophiles;  ob  dies  aber  wirklich  die  ältere  und  vor  allem  rich- 
tige Form  ist,  mufs  sehr  zweifelhaft  erscheinen.  Die  erste  englische  Be- 
arbeitung des  deutschen  X'olksbuches  von  Faust,  ohne  Jahrzahl,  aber  höchst 


Miscellen.  473 

wahrscheinlich  schon  etwa  1590  erschienen,  hat  den  Namen  Meph/stophiles, 
und  Marlowe,  welcher  seinen  Faust  allerspätestens  1592,  aber  eher  einige 
Jahre  früher  geschrieben  hat,  bietet  die  Namenform  MephtstophiU's,  wäh- 
rend allerdings  Shakespeare  (Fr.  Bacon?)  in  seinen  etwa  1600  erschienenen 
„Lustigen  Weibern"  wiederum  Mepho^tophilws  hat.  Kann  man  so  ohne 
weiteres  die  Form  des  englischen  Volksbuches  und  Marlowes  unbeachtet 
lassen  uml  die  Abweichung  als  ganz  zufällig  oder  willkürlich  hinstellen  ? 
Wer  sagt  uns  denn,  woher  der  Freund  des  Buchdruckers  Spies  den  Stoff 
zu  seinem  Volksbuche  geschöpft  hat?  Dafs  er  ihn  nicht  geradezu  aus  der 
Luft  gegriffen  hat,  bedarf  keiner  Erörterung.  Ob  nicht  ältere  Fassungen 
der  Sage  vorgelegen  haben,  welche  vielleicht  noch  einmal  bekannt  werden, 
wie  ja  schon  so  manches  verloren  geglaubte  Buch  an  das  Tageslicht  gekom- 
men ist?  Der  Freund  von  Spies  wird  der  Überarbeiter  der  überlieferten 
Sage  oder  mehrer  einschlägigen  Sagen  zu  der  Form  des  jetzigen  Volks- 
buches gewesen  sein.  —  Die  älteste  englische  Ausgabe  des  Volksbuches  mit 
dem  Namen  Meph?"stophiles  ist  1827  von  W.  J.  Thoms  mit  gröfster  Pein- 
lichkeit wieder  abgedruckt  worden.  Als  ein  Beispiel  der  Befangenheit  des 
Urteiles  stehe  hier  Düntzers  Bemerkung:  „Höchst  seltsam  ist  es,  dafs  hier 
im  Abdrucke  von  Thoms  der  Geist  des  Faust  schon  Meph/stophiles  heifst, 
was  ein  Versehen  des  Abdruckes  sein  mufs,  da  viel  später  sich  die  Form 
Mephostophiles  erhalten  hat."  Ein  Rätsel  ist  allerdings  vorläufig  noch,  wie 
die  Abweichung  des  deutschen  und  englischen  Volksbuches  in  dem  Teufel- 
namen zu  deuten  ist;  dies  zu  lösen,  spüre  man  nach. 

Ich  gebe  zu,  dafs  die  Formen  Meph/s-Dophulus  in  der  Handschrift  von 
1509  (?)  und  Meve-,  Meph/stophilus  in  den  Steyrischen  V^olksliedern,  sowie 
andere  ähnliche  als  unwesentlich  zu  erachten  sind.  Dennoch  halte  ich  an 
Meph/stophiles  als  echterer  Form  und  Hephästophilus  als  Urform  fest,  wenn 
auch  Hauff"  von  „verzweifelten  Ausflüchten"  spricht,  und  ich  werde  erfreut 
sein,  noch  einmal  meine  Ansicht  bestätigt  zu  sehen.  Dafs,  worauf  Hauff" 
besonderes  Gewicht  legt,  die  als  wahrscheinlich  anzunehmende  Form  He- 
phästophilus von  der  thatsächlich  überlieferten  Mephostophiles  verdrängt 
worden  ist,  kann  leichtlich  eine  blofse  Zufälligkeit  sein,  welche  sich  hoffent- 
lich später  einmal  aufhellen  wird. 

Nunmehr  geht  Hauff*  zu  seiner  eigenen  Ansicht  über  den  Teufelnamen 
über.  Er  giebt  keine  eigenthch  neue  Deutung,  sondern  er  knüpft  an  Sabell 
an,  indem  er  an  die  Verwandtschaft  des  Namens  Mephistopheles  mit  Stoffel 
denkt,  wie  Kasperle  in  den  Puppenspielen  den  Geist  zu  nennen  pflegt.  Ich 
mufs  gestehen,  dafs  ich  diesen  Gedanken  schon  Jahre  lang  vor  Bekannt- 
gebung meines  Hephästophilus  gehegt,  aber  später  als  höchst  unwahrschein- 
lich wieder  fallen  gelassen  habe;  auf  eine  nähere  Erörterung  meiner  Beweg- 
gründe will  ich  hier  nicht  eingehen.  Hauff'  bringt,  ebenso  wie  Sabell,  den 
Namen  Mephistophiles  als  Mephistophel,  Mephistoffel  in  Gegensatz  zu  dem 
heiligen  Christophorus,  Christoffel  und  erwähnt  noch  unter  einer  Menge  an- 
derer höchst  willkürlicher  Wortbildungen  zur  Bezeichnung  von  Teufeln  der 
Namen  Mepistophiel  und  Mefiafractus.  Zur  Deutung  von  Mepho  oder 
Mephi  bleibe  ungewifs,  ob  an  das  Hebräische  (z.  B.  in  Mephiboseth)  oder 
an  Mephitis  (muffig,  müftig?)  zu  denken  sei.  In  beiden  Fällen  wäre  dann 
Meph/stophiles  trotzdem  wieder  die  echtere  Form!  Woher  aber  die  Form 
Mephostophiles  in  den  ältesten  deutschen  Volksbüchern  gekommen  sei? 
Hauff'  meint:  von  der  Erinnerung  an  das  doppelte  o  in  Christophorus,  be- 
merkt aber  dazu:  „Dann  müfste  der  Name  lauten:  Mephistopholus",  und 
kommt  dann  zu  dem  Schlüsse,  dafs  die  Form  Mephostophiles  am  wahr- 
scheinlichsten deshalb  werde  gewählt  worden  sein,  weil  sie  voller  und  run- 
der klinge  als  das  „abgeschüff'enere  und  pfiffigere"  (?)  Mephistopheles  oder 
-philes  u.  s.  w. 

Ich   kann    nur    hinwiederum    entgegenhalten:    Verzweifelte    Ausflüchte! 
Hauff'  selber  giebt   zu,  die  Kichtigkeit   seiner  Behauptung  nicht  beweisen  zu 


474  Miscellen. 

können ;  aber  desto  kecker  verneint  er  meine  Deutung  und  „glaubt  deren 
Unrichtigkeit  bewiesen  zu  haben".  Ich  kann  nur  ein  grofses  Fragezeichen 
hinter  dieses  dreiste  Wort  setzen.  Hypothese  steht  gegen  Hypothese!  Ich 
will  es  ähnlich  machen  wie  Hauff,  wenn  auch  etwas  bescheidener.  Ich  habe 
allerdings  meine  Deutung  des  Namens  Mtphistopheles  nicht  vollkrättig  be- 
weisen, sondern  nur  ihre  Wahrscheinlichkeit  hinstellen  können ;  aber  ich 
behaupte  die  gröfste  Unwahrscheinlichkeit,  wenn  nicht  Unmöglichkeit  der 
Erklärung  Haußs.  Jedoch  will  ich  dadurch  beileibe  nicht  Herrn  Gustav 
Hauff  den  Geschmack  an  seinem  „muffigen  Stoffel"  verleiden;  denn: 

Hat  doch  der  Walfisch  seine  Laus,  , 
Mufs  ich  auch  meine  haben ! 

Dafür  werde  aber  auch  ich,  solange  ich  nicht  mit  besseren  Entgegnungen 
geschlagen  werde,  unentwegt  und  beharrlich  festhalten  an  meinem  Teufel- 
freunde Hephästophilus!  Adalbert  Rudolf. 


Berichtigungen: 

Lies  „sechs"  statt  „fünf". 
Lies  „der  Dichter"  statt  „er". 
Lies  „den"  statt  „der". 

Lies    „die    eingehende    Schilderung    der    Zer- 
störung," 
Lies  „die"  statt  „den". 
Lies  „Tautre"  statt  „lautre". 


Bd.  LXXHI, 

s. 

129,  Z. 

1 

n 

s. 

152,  Z. 

6 

if 

s. 

152,  Z. 

13 

» 

s. 

152,  Z. 

30 

» 

s. 

153,  Z. 

5 

» 

s. 

154,  Z. 

24 

Verein   für   Lateinschrift. 

Rundschreiben. 

Die  Unterzeichneten  bezwecken,  den  ausschliefslichen  Gebrauch  der 
Lateinschrift,  welche  bekanntlich  die  urdeutsche  ist,  zu  befördern,  und  auf 
diese  Weise  die  für  Schule  und  Verkehr  so  lästige  Doppelschreibung  ab- 
zustellen. Die  Gründe,  welche  dafür  sprechen,  haben  wir  in  dem  Nach- 
stehenden angegeben. 

Sollten  unsere  Bestrebungen  Ihren  Beifall  finden,  so  richten  wir  die 
ergebene  Bitte  an  Sie,  dieselben  durch  Ihren  Beitritt  gütigst  zu  unterstützen, 
und,  wenn  es  thunlich  ist,  aus  Ihrem  Bekanntenkreise  einen  Zweigverein  zu 
bilden. 

Jeder  Zweigverein  wählt  einen  Schriftführer,  welcher  mit  dem  Vorstand 
des  Ge?amtvereins  dadurch  in  Verbindung  tritt,  dafs  er  ihm  die  Namen  der 
Mitglieder  meldet,  und  jährlich  mitteilt,  ob  und  wie  sich  die  Anzahl  dersel- 
ben verändert  hat. 

Da  fast  alle  deutschen  Regierungen  der  Lateinschrift  geneigt  sind,  aber 
den  ausschliefslichen  Gebrauch  derselben  nicht  eher  anordnen  werden,  als 
bis  sich  der  Wunsch  danach  im  \'olke  allgemeiner  ausspricht,  sind  auch 
solche  Mitglieder  von  Belang,  welche  ohne  aktiv  mitwirken  zu  wollen  O'fer 
zu  können,  durch  ihren  Beitritt  die  Einfuhrung  der  einheitlichen  Schreibung 
für  wünschenswert  erklären. 

Geldbeiträge  haben  die  Mitglieder  nicht  zu  entrichten. 

Der  provisorische  N'orstand  besteht  aus  folgenden  Herren :  Realschuldir. 
Prof.  Dr.  Buderus,  Kassel:  Dir.  A.  Diederichs,  Bonn;  Rektor  R.  Dietlein, 
Schafstädt;  Amisrichter  R.  Dilthey,  Aachen;  Rektor  F".  W.  Fricke,  Schrift- 


Miscellen.  475 

führ  er,  Wiesbaden;  Prof.  Dr.  L.  Herrig,  Berlin;  Prof.  Dr.  \V.  Ihne,  Hei- 
delberg; Schuldirektor  j\l.  Kleinert,  Dresden;  Dr.  Eduard  Lolimeyer,  Schrift- 
führer, AVehlheiden  bei  Kassel;  Realschuldir.  Dr.  F.  Möller,  Friedberg; 
Kealschuldir.  Prof.  Dr.  Schwalbe,  Berlin;  Kealschuldir.  Dr.  Krumme,  Braun- 
schweig; Prof  Dr.  U.  Vietor,  Marburg;  Realschuldir.  Dr.  \N  ittich,  Kassel. 
—  En)pfohlen  und  unterstützt  werden  unsere  Bestrebungen  durch  die  Her- 
ren: Prof.  Dr.  C.  Beyer,  Stuttgart;  Prof.  Dr.  H.  L.  Cohn,  Breslau;  Gym- 
nasialdir.  Dr.  Duden,  Hersfeld :  Geheimer  Hofrat  Prof.  Dr.  Finkelnburg, 
Bonn;  Prof.  Dr.  Michaelis,  Berlin;  Prof.  Dr.  Trautmann,  Bonn;  F.  Sön- 
necken,  Bonn;  Prof.  Dr.  Wilmanns,  Bonn;  u.  a. 

Vorzüge  der  Lateinschrift. 

1)  Die  Lateinschrift  ist  zur  Weltschrift  geworden.  Alle  Kulturvölker 
der  Erde  bedienen  sich  derselben  oder  kennen  sie  doch.  Sie  erleichtert 
also  den  geistigen  wie  den    geschäftlichen  Verkehr. 

2)  Sie  ist,  abgesehen  von  den  nie  allgemein  angewandten  Runen  und 
Vulfilas  gotischem  Alphabet,  die  älteste  deutsche  Schrift.  Aus  ihrer  ur- 
sprünglichen runden  Form,  in  welcher  sie  unsere  Altvorderen,  wie  die  übri- 
gen Völker  Europas,  von  den  Römern  erhielten,  wurde  sie  im  Laufe  des 
Mittelalters  durch  Brechen  und  Verschnörkeln  mehr  und  mehr  in  eine 
Eckenschrift  verwandelt.  Dies  war  aber  durchaus  nicht  eine  auf  Deutsch- 
land beschränkte  Eigentümlichkeit,  sondern  geschah  ebensowohl  in  Italien, 
Spanien,  Frankreich  u.  s.  w.  In  den  genannten  Ländern  kehrte  man  bei 
steigender  Geschmacksbildung  zu  dem  ausschliefslichen  Gebrauch  der  ur- 
sprünglichen  einfachen  Schriftzüge  zurück,  während  man  denselben  in 
Deutschland  zwar  auch  die  Wiederanerkennung  nicht  mehr  versagen  konnte, 
dabei  aber  das  bisher  getragene  Übel  der  Eckenschrift  ini  weitesten  Um- 
fange bestehen  liefs,  und  somit  freiwillig  das  weitere  Übel  einer  durch 
nichts  gerechtfertigten  graphischen   Doppelwährung  auf  sich  nahm. 

3)  Der  Lese-,  und  besonders  der  jetzt  so  ungebührlich  zeitraubende 
Schreibunterricht    wird   durch    das  Aufgeben    der  Eckenschrift    aufser- 

,  ordentlich  vereinfacht.  Bisher  hatten  und  haben  die  deutschen  Schüler 
acht  Alphabete  zu  lernen  (ein  grofses  und  ein  kleines,  je  in  lateinischer 
und  in  deutscher  Schrift,  und  diese  vier  wiederum  im  Druck)  anstatt,  wie  in 
den  meisten  übrigen  europäischen  Ländern,  nur  vier. 

4)  Die  Handschrift  wird  besser,  wenn  nur  eine  Schriftgattung  im 
Gebrauch  bleibt.  Beim  Schreibunterricht  wirkt  das  Einüben  der  spitzwinke- 
ligen deutschen  Schrift  dem  Aneignen  der  gerundeten  lateinischen  unver- 
meidlich entgegen,  und  umgekehrt.  Daher  gelangen  deutsche  Schüler  — 
abgesehen  von  der  auf  zweierlei  Schriften  zu  verwendenden  doppelten  Lern- 
zeit —  viel  später,  ja  oft  überhaupt  nicht  in  den  Besitz  einer  festen  Hand- 
schrift, als  es  der  Fall  sein  würde,  wenn  sie  nur  eine  der  beiden  so  ver- 
schiedenen Schriften  zu  üben  brauchten. 

5)  Die  gerundeten  und  dadurch  weiten  und  lichten  Formen  der  La- 
teinschrift sind  anerkannt  schöner  als  die  eckigen,  verschnörkelten  und 
dadurch  verdunkelten  Formen  der  deutschen  Buchstaben. 

6)  Sie  sind  deutlicher,  können  demzufolge  in  viel  kleinerer  Gestalt 
lesbar  hergestellt  werden  und  finden  aus  diesem  Grunde  bereits  allgemein 
Anwendung,  wo  es  auf  Deutlichkeit  und  aufserdem  auf  Feinheit  ankommt, 
z.  B.  bei  Personen-  und  Ortsnamen,  bei  Inschriften,  auf  Schildern,  Münzen, 
Stempeln,  Landkarten  u.  s.  w.  Genauen  Messungen  zufolge  vermag  ein  ge- 
sundes Auge  die  Lateinschrift  auf  durchschnittlich  143  cm  Entfernung  zu 
entziffern  und  auf  115  cm  deutlich  zu  lesen,  während  dazu  bei  gleich 
grofser  deutscher  Schrift  eine  Entfernung  von  115  und  90  cm  kaum 
ausreicht. 

7)  Die  allgemeine  Einführung   der  Lateinschritt  stöfst    auf  keine  er- 


47G  Miscellen. 

beblichen  ScViwierijikeiten ,  da  diese  Schrift  jedem  Deutschen  durch  den 
Schulunterricht  laugst  bekannt  ist. 

8)  Die  Kleinheit  der  Grundbuchstaben  der  deutschen  Schreibschrift 
und  deren  entsprechende  Feinheit  wirkt  schädlich  auf  die  Sehkraft  ein, 
was  ohne  Zweifel  wesentlich  dazu  beiträgt,  dafs  die  Kurzsichtigkeit  hei  den 
Deutschen  häufiger  angetroffen  wird  als  bei  irgend  einem  anderen  Volke, 

*J)  Sollte  man  später,  dem  obersten  Grundsatze  der  Rechtschreibung 
entsprechend,  einlautige  Buchstaben  Verbindungen,  wie  ss,  ch,  seh 
und  die  unbequemen  betüpfelten  Umlaute  (ä,  ö,  ü)  durch  einfache  Zeichen 
ersetzen  wollen,  so  werden  sich  diese  leichter  durch  Merkmale  an  den 
gröfseren  und  einfacheren  Lateinbuchstaben  herstellen  lassen  als  durch 
weitere  Verzwickuns:  der  kleinen  und  verschnörkelten  deutschen  Schriftfor- 
men.  Auch  sind  die  ersteren  besser  geeignet,  Accent  und  Quantitätszeichen 
aufzunehmen. 

10)  Fast  alle  deutschen  Regierungen  zeigen  sich  der  Lateinschrift  ge- 
neigt. Die  amtliche  Berliner  Konferenz  von  1876  nahm  den  Satz:  ..Der 
Übergang  von  dem  deutschen  zu  dem  von  fast  allen  Kulturvölkern  ange- 
wandten lateinischen  Alphabet  ist  zu  empfehlen",  mit  10  gegen  3  Stimmen 
an,  und  die  Festsetzungen  dieser  Konferenz  bildeten  bekanntlich  die  Grund- 
lage zu  den  187  9,  1880  u.  s.  w.  erschienenen  preuf^ischen,  bayerischen, 
sachsischen,  österreichischen  Regelbüchern.  Auch  in  dieser  Rücksicht  steht 
also  unseren  Bestrebungen  kein  Bedenken  entgegen.  Die  Hindernisse  be- 
schränken sich  lediglich  auf  einen  mifsverstandenen  Patriotismus  und  auf 
die  Macht  der  Gewohnheit.  Indes  jener  kann  berichtigt  diese  bekämpft 
werden.  Beginnen  wir  nur  I  Bei  jedem  Unternehmen  erweist  sich  das 
Zaudern  als  gefährlichster  Feind.  Wer  alles  von  der  Zeit  erwartet, 
erreicht  nichts. 


Bibliographischer  Anzeiger. 


Allgemeines. 

W.  Canitz,  Gehör  und  Lautsprache.     (Progr.  des  Gymn.  zu  Bautzen.) 

A.  ßosenstein.  Die  psychologischen  Bedingungen  des  Bedeutungsvvechsels 
der  Wörter.     (Leipzig,  Dissert.) 

F.  Frosch,  Die  Grammatik  als  Gegenstand  des  deutschen  und  philosophisch- 
propädeutischen  Unterrichts.     (Wien,  Holder.)  1  Mk.  90  Pf. 

Joh.  Storm,  Englische  Philologie.  Anleitung  zum  wissenschaftlichen  Stu- 
dium der  englischen  Sprache.  L  Die  lebende  Sprache.  (Heilbronn,  Hen- 
ninger.) ..  10  Mk.  50  Ff. 

R.  Hirsch,  Die  schriftlichen  Übungen  beim  Unterricht  in  den  fremden 
Sprachen.     (Berfin,  Gärtner.)  1  Mk. 

H.    ßeichhardt,     The    Ornaments    of    language.      (Berlin,     Weidmann.) 

1  Mk.  20  Ff. 

W.  Rolfs,  Über  die  Gründung  eines  Instituts  für  deutsche  Philologen  zum 
Studium  des  Englischen  in  London.     (Berlin,  Weidmann.)  1  Mk. 

Grammatik. 

J.  Schneider,  Über  einige  neuere  Forschungen  auf  dem  phonetischen 
Gebiete.     (Progr.  Altenburg.) 

E.  Bernhardt,  Kurzgefafste   gotische    Grammatik.     (Halle,  Waisenhaus.) 

1  Mk. 
R.    Pape,    Die    Wortstellung    in    der    proven9alischen    Prosalitteralur    des 

12.  und  13.  Jahrhunderts.     (Jena,  Dissert.) 
O.  Riecke,  Die  Nebensätze  im  Oxforder  Text  des  altfranzösischen  Rolands- 

liedes.     (Münster,  Dissert.) 
Raumair,    Über    die   Syntax    des   Robert   von   Clary.     (Erlangen,  Deichert.) 

.1  Mk.  80  Pf. 
C.  Wolff,   Futur   und   Konditional   H  im   Altproven9alischen.      (Marburg, 

Dissert.) 
S.  Greifenberg,  Beiträge  zur  französischen  Syntax  des  16.  Jahrhunderts. 

(Erlangen,  Deichert.)  _  1   Mk.  50  Pf. 

F.  Klemenz,  Der  syntaktische  Gebrauch  des  Farticipiums  Prassentis  und 
des -Gerundiums  im 'Altfranzösischen.     (Breslau,  Dissert.) 

E.  Mackel,  Die  g:ermanischen  Elemente  in  der  altfranzösischen  und  alt- 
proven(;alischen  Sprache.     (Berlin,  Mayer.)  1  Mk.  20  Pf. 

Th.  Engwer,  Über  die  Anwendung  der  Tempora  perfectae  statt  der  Tem- 
pora imperfectte  actionis   im  Altfranzösischen.     (Berlin,  Mayer  &  Müller.) 

1  Mk.  20  Ff. 


478  Blbliograpliischer  Anzeiger. 

F.   N'idal,    Etivie   sur    les    analogies    linguistiques    du    roumain    et    du   pro- 

vencal.     (Aix  eu  Prov.,  Uly  et  Brun.) 
F.  H.  S  trat  mann,  Mittelenglische  Grammatik.  (Krefeld,  Pläschke.)  2  Mk. 

Lexikographie. 

Mittelniederdeutsches  Handwörterbuch  von  A.  Lübben  und  C.  H.  F. 
Walther.    Erste  Hälfte.     (Norden,  Soltau.)  4  Mk.  40  Ff. 

L.  Diefenbach  und  E,  Wülcker,  Hoch-  und  niederdeutsches  Wörter- 
buch der  mittleren  und  neueren  Zeit.    Schluf>lieferung.    (Basel,  Schwabe.) 

3  Mk. 

F.  C.  Woodford e,  An  etymological  index  to  Shakespeare's  Play  of  the 
Tempest.     (London,  Simpkin.)  4  d. 

A.  Scheler,  Etüde  lexicoiogique  sur  les  poesies  de  Gillon  le  Muisit. 
(Bruxelles,  Muquardt.)  3  fr. 

B.  Po  lisch,    Die  Patoisformen   in   Molieres   Lustspielen.     (Halle,  Dissert.) 

1  Mk.  20  Pf. 

Litteratur. 

Neidhardt,  Über  Freidanks  Bescheidenheit.    (Berlin,  Wiegandt  &  Grieben.) 

1  Mk. 
O.  Fritsch,    Martin    Opitzens    Buch    von    der    deutschen    Poeterei.      Ein 

kritischer  \'ersuch.     (Halle,  Dissert.) 
R.  Froning,    Zur  Geschiclite    und  Beurteilung   der   geistlichen    Spiele    des 

Mittelalters.     (Frankfurt  a.  M.,  Jügel.)  75  Pf. 

F.  Hansen,  Die  KampfschiMerungen  bei  Hartmann  v.  Aue  und  Wirnt 
V.   Gravenberg.     (Halle,  Dissert.) 

E.  W.  Thamhayn,  Über  den  Stil  des  deutschen  Rolandsliedes  nach  seiner 

forn)alen  Seite.     (Halle,  Dissert.) 
.].  Meisner,  Goethe  als  Jurist.     (Berlin,  Kortkampf.)  1  Mk.  20  Pf. 

M.  Rec kling,  Goethes  Iphigenie    auf  Tauris   nach   den   vier   überlieferten 

Fassungen.     (Strafsburg,  Dissert.) 

G.  Hepp,  Schillers  Leben  und  Dichten.    (Leipzig,  Bibl.  Institut.)    5  Mk. 
O.    Born  er,    Raoul    de    Houdenc.      Stilistische    Untersuchung    über    seine 

Werke    und    seine    Identität    mit    dem    Verfasser    des    Messire    Gauvain. 

(Leipzig,  Foik.)  2  Mk.  40  Pf. 

E.  Pfeiffer,   Über   die    Handschriften   des    altfranz.    Romans    Partenopeus 

de  Blois.     (Marburg,  Dissert.) 
A.  Rudolph,  Über  die  Vengeance  Fromondin,    die   allein  in  Hs.  M  erhal- 
tene Fortsetzung  der  Chanson  (jirbert  de  Mez,     (Marburg,  Dissert.) 
R.  Oesten,    Die    \' erfassen   der   altfranz.  chanson  de  geste  Aye  d'Avignon. 

(Marburg,  Dissert.) 
H.    Marseille.    Über   die    Handschriftengruppe   E, M,P,X    der   Geste   des 

Loherains.     (Marburg,   Dissert.) 
^^'.  Heuser,    Über  die  Teile,  in  welche  die  Lothringer  Geste  sich  zerlegen 

läfst.     (Marburg,  Dissert  ) 

E.  Suchier,  Über  provencalische  Bearbeitungen  der  Kindheit  Jesu.  (Halle, 
Dissert.) 

F.  Heinrich,  Über  den  Stil  von  Gulllaume  de  Lorris  und  Jean  de  Meung. 
(Marburg,  Dissert.) 

G.  Schwarz,  Rabelais  und  Fischart.  Vergleich  des  Gargantua  und  der 
Geschichtsklitterung.     (Halle,  Niemeyer.)  2  Mk 

G.  Bierendempf el,  Descartes  als  Gegner  des  Sensualismus  und  Materia- 
lismus.    (Jena,  Dissert.) 
E.    Deschanel,     Pascal,     La    Rochefoucauld,     Bossuet,       (Paris,     Levy.) 

3  fr.  50  c. 
K.  War  bürg,  Meliere.     (Stockholm,  Seligmann.)  Kr.  2,50. 


Bibliographischer  Anzeiger.  479 

A.Anseline,  Victor  Hugo  intime.  Mdinnire.s,  correspondanccs,  documents 
inedits.     (Paris,  Marpon.)  10  (y, 

Victor  Hugo,  par  P.  de  Saint- Victor.     (Paris,  Ldvy.)  7  fr.  ÖO  c. 

G.  Knauf,  Studien  über  Sir  David  Lyndsay.     (Berlin,  Dissert.) 

A.  Krüger,  Sprache  und  Dialekt  der  mittelenglischen  Homilien.  (Erlangen, 
Deichert.)  2  Mk. 

G.  Chaucers  Werke,  übersetzt  von  A.  Du  ring.  2.  Bd.:  Canterbury  Er- 
zählungen.    (Strafsburg,  Trühner.)  3  Mk. 

Shakespeare's  Tragedie  of  Hamlet  Piincc  of  Denmarko.  A  Study  by 
George    Mac   Donald.     (London,  Longmans.)  12  s.  c' d. 

M.  Koch,  Shakespeare.  Supplement  zu  den  Werken  des  Dichters.  (Stutt- 
gart, Cotta.) 

G.    Sarrazin,     Poctes    modernes     de    l'Angleterre.      (Paris,    Ollendorfl'.) 

3  fr.  fiO  c. 

Th.    Bentzon,     Les     nouveaux     romanciers     americain.s.      (Paris,    Levy.) 

3  fr.  50  c. 

G.  Giordano,  Studio  sulla  Divina  Comraedia.     T.     (Napoli.) 

Hilfsbücher. 

O.  Rocca,  Schülerbuch  der  deutschen  Sprache.  Für  einfache  Schulverhidt- 
nisse  bearbeitet.     (Hannover,  Feesche.)  3.')  Pf. 

F.  VV.  Fricke,  Abrifs  der  vereinfachten  Volksorthographie.  (Leipzig, 
Robolsky.)  40  Pf. 

Lehrbuch  für  die  mittleren  Klassen  höherer  Lehranstalten.  (Freiburg  i.  Br., 
Herder.)  :{  Mk. 

Evsenbachs  Grammatik  der  deutschen  Sprache  für  Engländer  von  AL  v. 
"Blomberg.     (Leipzig,  Wigand.)  1    Mk.  20  Pf. 

Gudrun  für  den  Schulgebrauch  ins  Neuhochdeutsche  übersetzt  und  mit  Ein- 
leitung versehen  von  Paul  Vogt.     (Leipzig,   ^^  igand.)  2  Mk. 

Das  Nibelungenlied,  übersetzt  und  zum  Gebrauch  für  höhere  Töchtcrschtdi'n 
eingerichtet  von  L.  Frey  tag.    (Berlin,  Friedberg  &  Mode.)  2  Mk.  jO  l*f 

A.  Kemnitz,  Französische  Schulgramraatik.     L  Teil.     (Leipzig,  Neumaiu-i.) 

3   Mk.  50  Pf. 
E.  Ritter,  Recueil  de  morceaux  choisis  en  vieux  fran9ais.    (Basel,  Georg.; 

2  Mk. 
La    chanson    de    Roland.      Traduction    nouvelle     ä    l'usage    des    dcoles    par 

E.  Rce brich.     (Paris.  Fischbacher.)  3  fr. 

H.   Lange,   Leitfaden   für  den    Unterricht  in    der  Geschichte    der   französ. 

Litteratur  für  höhere  Mädchenschulen  und  Lehrerinnenseminare.     (Berlin, 

Oehmigke.)  1   Mk    10  Pf. 

H.  Breyniann,  Französische  Grammatik  für  den  Schulgebrauch.    (München, 

Oldenbourg.)  1   Mk. 

O.  Boehm,    Französisches    Übungsbuch    für   Quinta.      (Wismar,    Hinstorff.) 

1   Mk. 

B.  Sonnen  bürg.  Wie  sind  die  französischen  Verse  zu  lesen?  (Berlin, 
Springer.)  80  Pf. 

Rieh.  Hülsen,  Andre  Cheoier.  Die  Überlieferung  seiner  (Euvres  poeliques. 
(Berlin,  Gärtner.)  ,      _  1  Mk. 

Fr.  Arago,  Notices  biographiques  choisies.  H.  Bd.:  Histoire  de  ma  jeu- 
nesse.  Erklärt  von  A.  Dronken  und  F.  W.  Röhl.  (Berlin,  Weid- 
mann.) ^  ^^  ^^■ 

Boileau,  L'art  poetique.  Für  den  Schulgebrauch  erklärt  von  G.  Lubarsch. 
(Leipzig,  Teubner.)  1   ^'k. 

W.  Petersen,  Kleine  englische  Grammatik.    (Halle,  Waisenhaus.)   r,0  Pf. 

Th.  Müller,  Methodisches  Lehrbuch  der  englischen  Sprache  für  Real- 
gymnasien.    I.  Teil.     (Braunschweig,   Viewe^.)  2  Mk.  50  Pf. 


480  Bibliographischer  Anzeiger. 

L.   Herr  ig,  Aufgaben  zum  Übersetzen    aus    dem  Deutschen   ins  Englische. 

Nebst    einer    Anleitung    zu    freien    schriftlichen    Arbeiten.      13.    Auflage. 

(Iserlohn,  ßädeker.)  2  Mk.  50  Pf. 

L.    Herr  ig.    Englisches    Vokabular    und    Hamiltons    Reise    nach    London. 

Praktische  Anleitung  zum  mündlichen  Gebrauche  der  englischen  Sprache. 

4.  Auflage.     (Iserlohn,  Bädeker.)  1  Mk.  20  Pf. 

O.  Speyer,   Tales    from  the  bistorv   of  England.     (Leipzig,  Baumgärtner.) 

90  Pf. 
Shakespeares  Coriolan.     Für   den  Schulgebrauch  bearb.  von  O.  Pritsche. 

(Leipzig,  Wigand.)  1  Mk.  80  Pf. 


PB  Archiv  für  das  Studium 

3  der  neueren  Sprachen 

A5 
Bd.73 


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